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SOMMERFELD/ FRIEDRICH NICOLAI
FRIEDRICH NICOLAI
UND DER
STURM UND DRANG
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE
DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG
VON
DR. PHIL. MARTIN SOMMERFELD
MIT EINEM ANHANG: BRIEFE AUS NICOLAIS NACHLASS
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HALLE AN DER SAALE
VERLAG VON MAX NIEMEYER
19 2 1
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Oaraniit^
MEINER FRAU
HELENE
ZU EIGEN
VORBEMERKUNG
Die vorliegende Arbeit war zu einem vorläufigen Abschluß ge?
bracht, als sie im Sommer 1916 der philosophischen Fakultät der
Münchner Universität vorlag; ihr einleitender Teil wurde damals als
Doktor*Dissertation gedruckt. Seither haben mannigfache Umstände
allgemeiner und persönlicher Art ihren endgültigen Abschluß und ihr
Erscheinen verzögern lassen. Nicht der geringste Umstand war das
Gefühl der Unfertigkeit, das ich sowohl gegenüber der Fülle des ge?
druckten und ungedruckten Materials — es genügt, auf die hundert
Bände der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und die etwa 15 000
zum größten Teil ungedruckten Briefe im Nicolaischen Nachlaß hin*
zuweisen — wie der eigentlichen Lösung des vielverzweigten Problems
empfand. Daß dies Gefühl jetzt — nachdem ich das damals Vorhan?
dene einer eingehenden Umarbeitung unterzogen habe, die überall
neues Material verwertete, und der wie ich hoffe, auch gereiftere Ein*
sieht zugute gekommen ist, — ganz getilgt wäre, möchte ich nicht be*
haupten. Ich gedenke hier insbesondere der Schwierigkeiten, die noch
aus der Konzeption der Arbeit herrührten: ursprünglich lediglich als
Darstellung der spezifisch aufklärerischen Position Nicolais gedacht,
stellte sie sich erst allmählich das äußere und innere Verhältnis zur
Gegenseite, zum Sturm und Drang insbesondere, zur Aufgabe; und
eigentlich erst als ich an die Ausarbeitung gehen wollte, gewann ich
die Einsicht, daß der systematische Gegensatz nur unter dem Gesichts*
punkt der Entwicklung faßbar werden konnte, wie er sich einst als
Ergebnis eines subjektiven und objektiven Entwicklungsprozesses kri*
stallisierte; damit waren aber viele Gesichtspunkte der ersten Studien
— z. B. die Bearbeitung des Feldzuges gegen Kant und die Kantianer —
für die eigentliche Darstellung unbrauchbar geworden, andere mußten
in nochmaliger Arbeit neu gewonnen werden.
Wenn ich aber allen diesen Schwierigkeiten aus Gründen der Selbst*
erziehung eher dankbar bin, so hat sich von einer andern Seite, der des
eigentlichen Objekts her, ein immer empfindlicher werdender Wider«
VII
stand bemerkbar gemacht: ich meine die Persönlichkeit Nicolais. Ist
ihm auch vielfach — übrigens doch weniger von eigentlichen Zeit*
genossen, das Fichtesche Pasquill ausgenommen, als von Historikern
der späteren Zeit — Unrecht getan worden: er vermag nicht durch
Wärme, Lebendigkeit und Eigenart zu bezwingen; die Probleme, die
ihm entgegentreten, verlieren in seiner Behandlung an Weite und
Tiefe, ja bisweilen überhaupt ihre Geistigkeit. Das gilt nicht nur für
den ästhetischen und philosophischen Kritiker, sondern auch für den
Romanschreiber, den Historiker und Kulturhistoriker, den Theologen
und Physiognomen, den Nationalökonomen und Statistiker Nicolai.
Hätte ich die Umgestaltung meiner Arbeit fortgesetzt, so wäre die auf*
klärerische Position immer mehr statt durch Zeugnisse Nicolais, durch
solche Lessings, Mendelssohns, Garves und Lichtenbergs gezeichnet,
und der eigentliche Rahmen der Arbeit gesprengt worden; bei der
vorliegenden Arbeit hoffe ich die Heranziehung solcher Zeugnisse zur
Kennzeichnung der speziell Nicolaischen Position noch rechtfertigen
zu können, umsomehr übrigens, als ich von vorneherein einen scharfen
Trennungsstrich zwischen Lessing und seinem Trabanten Nicolai in
Werk und Wesen zu ziehen mich bemühte. War also schon im allgemein
nen Entsagung notwendig, so wurde sie es in einzelnen Fällen ganz be?
sonders: so z. B. bei dem kümmerlichen, auch für die Erfassung seiner
eigenen Gesamtanschauung durchaus unbefriedigenden Nicolaischen
Urteil über Herders »Kritische Wälder«; wenn Nicolai gegenüber den
dramatischen Erzeugnissen der Jungen sich in diesem Sinne ungenü*
gend äußerte, so hat das noch seine besonderen Gründe, die ich in
der Arbeit darzustellen hoffe; allein hier, wo ihm die Problemlage des
Werkes zugänglich war, ist der Mangel einer wirklichen Stellungnahme
Nicolais tief unbefriedigend, und ich hoffe nur, daß man mich nicht
für solche Lücken büßen lassen wird.
Bei dieser Einstellung zu der Persönlichkeit Nicolais verzichtete ich
unschwer auf solche Partien meiner Darstellung, die, ohne allgemeinere
Aufschlüsse zu geben, nur biographische Bezüge haben: ich opferte
also — auch schon mit Rücksicht auf den Umfang des Buches — ins?
besondere zahlreiche Belegnotizen von Parallelstellen aus den Schriften
Nicolais da, wo eine Stelle genug zu besagen schien; ich verzichtete
darauf, die Seitentriebe der Geniebewegung in die Untersuchung ein*
zubeziehen, und das Verhältnis zu einzelnen Persönlichkeiten darzu*
stellen, die mir für die Entwicklung der Gegensätze von untergeordneter
Bedeutung schienen, wie Sprickmann, Miller, der Göttinger Gramer,
Hahn, Brückner u. a. m.; ich versagte mir eine Darstellung dort, wo das
VIII
Nicolaische Urteil zur Kennzeichnung der Gegensätze völlig belanglos
war, kaum anekdotischen Wert besitzt oder gar indirekt hätte CTf
schlössen werden müssen, wenn sich hier zu meinem Bedauern auch
die Namen Fr. L. Stollberg, Hölty, Heinse, Leisewitz finden. Die Ein*
heitlichkeit der Darstellung unter dem Gesichtspunkt durchgehender,
freilich erst in der Entwicklung hervortretender Gegensätze schien mir
das oberste Gebot; ich habe ihm jedoch nur Material — und zwar
geringwertiges — geopfert; das Prinzipielle sollte dadurch nicht be*
rührt, die Darstellung nicht willkürlich werden.
Ich hätte meine Arbeit nicht zum Abschluß bringen können, hätte
ich nicht an einigen trefflichen Schriften, die an gehöriger Stelle nam#
haft gemacht sind, Führer gefunden; allen voran an dem Werk Rudolf
Ungers »Hamann und die Aufklärung« (Jena 1911). Wieviel ich von
ihm zu lernen mich bemühte, wird der Kenner seines Buches unschwer
teststellen. Daß ich dem Verfasser, Herrn Professor Dr. Rudolf Unger
in Halle, auch für andere seiner Schriften und vor allem für das was
seine persönliche Belehrung mir gab, zu tiefem Dank verpflichtet bin,
möchte ich auch an dieser Stelle aussprechen.
Meinem Lehrer, Herrn Geheimrat Professor Dr. Franz Muncker in
München, verdanke ich die Anregung zu dieser Arbeit; er war deren
unermüdlicher Fürsorger, an den ich mich stets um Rat und Auskunft
wenden durfte, dessen subtile Forschungsweise mir vorbildlich war. Bei
der Umarbeitung meines Buches kam mir indirekt auch die Belehrung
zugute ,die ich von Herrn Professor Dr. Fritz Strich in München erfuhr;
auch ihm sei hier mein Dank ausgesprochen.
Den Bibliotheksverwaltungen, die meine Arbeit unterstützten, ins*
besondere der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek
zu Berlin und dem Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt — hier
besonders Herrn Archivar Dr. Hering — , der Staatsbibliothek und
Universitätsbibliothek zu München und der Stadtbibliothek Frank?
fürt a. M. spreche ich meinen aufrichtigen Dank aus.
Frankfurt a. M., Ostern 1920
Dr. Martin Sommerfeld
IX
INHALTSVERZEICHNIS
Erster Teil: Grundlagen
Seite
Allgemeines und Grundsätzliches; Nicolai in der Wissenschaft«
liehen Literatur; Problemsteilung 3
Zu Nicolais Welt* und Lebensansicht 9
Zu Nicolais Kunstansrchauung 22
Stellung zur systematischen Ästhetik überhaupt S. 22. Nicolais ästhes
tische Gedankenwelt S.25. Illusionstheorie S.26. Folgerungen: gegen
Naturalismus S. 27; gegen »imaginative« Kunst S. 28. Stellung zw'u
sehen den Extremen S. 29. Kunst und Moral S. 31. Der Künstler und
sein Werk S. 33. Geniegedanke S. 34. Originalgedanke S. 37. Dichtung
und Literatur S.41. Literatur vom nationalen Gesichtspunkt betrach*
tet S. 42. Entwicklungsgedanke S. 44. Organisation der literarischen
Produktion: Zentralisationsgedanke S. 46. — Die Poesie und »die
Wissenschaft vom Menschen« S. 51.
Nicolai als Kritiker 53
Nicolai über das Wesen der Kritik S. 53, über ihre Aufgaben S. 54,
Forderungen an den Kritiker S. 55. Formale Züge seines kritischen
Verfahrens S. 56. Äußere Trennung von Werk und Autor S. 60, ver«
bunden mit psychologischer Fragestellung S. 61.
Zweiter Teil: Entwicklungsmäßige Darstellung von der
Begründung der Allgemeinen Deutschen Bibliothek
(1765) bis etwa 1780
Erstes Kapitel: Versuch zum Kompromiß mit der gegensätz*
liehen Geistesrichtung
^ Seite
I. Nicolai und Klopstock .. .. 69
Der jugendliche Nicolai als Kritiker Klopstocks S. 70. Widerstand
gegen die religiöse Stimmung der Klopstockschen Dichtung S. 73.
Widerstand gegen die mythologischen Elemente der Klopstockschen
XI
Seite
Dichtung S. 76. Gelehrtenrepublik S. 80. Gegensätzliches auf dem
Gebiet der Prosodie S. 82. Allgemeine Charakterisierung des Nicos
laischen Standpunktes S. 85. Späteres Verhältnis zu Klopstock S. 88.
Klopstock den Romantikern entgegengestellt S. 89.
II. Klopstock und die »Kiopstockianer« 90
J. A. Gramer, K. F. v. Moser, Zachariae und die Barden*
dichtung unter dem Gesichtspunkt der Abhängigkeit
von Klopstock 91
III. Nicolai und Gerstenberg 94
Charakterisierung ihrer freundschaftlichen Korrespondenz S. 95.
Gegensätzliches S. 97. »Gedicht eines Skalden« S. 100.
Zusammenfassendes 101
Zweites Kapitel: Absagen an Nicolai
Nicolais »Sebaldus Nothanker« und seine Aufnahme S. 103. Rück»
Wirkungen auf Nicolai S. 105.
I. Nicolai und Hamann 109
Erste Anknüpfung S. 110. Mendelssohns Kritik der »Sokratischen
Denkwürdigkeiten« S. 1 10. Hamanns »Wolken« und »Schriftsteller
und Kunstrichter« S. 112. Mendelssohns Kritik von Rousseaus Neu«
velle Heloise S. 114 und Hamanns »Abälardus Virbius« S. 116. Men*
delssohns Antwort und Nicolais Anmerkung dazu S. 119. Korre«
spondenz S. 120. Stimmungsänderung der »Berliner« gegen Hamann
S. 125. Mendelssohns Rezension der »Kreuzzüge« S. 127. Hamanns
Stellung dazu S. 129. »Mitauisches Intermezzo« S. 130. Hamann in
Berlin S. 131. Nicolais Widerstand gegen Hamanns literarische Per»
sönlichkeit S. 131. Hamanns »Selbstgespräch eines Autors« S. 136.
Nicolais »An den Magum im Norden« S. 137. Hamanns »An die
Hexe zu Kadmonbor« S. 141. Beurteilung des Sebaldus Nothanker
durch Hamann S. 142. (Nicolai^Eberhards?) Rezension fünf Ha^
mannscher Schriften S. 144. Hamann als Chorführer des Sturms und
Drangs S. 146. Abschließendes und Späteres S. 147.
II. Jung Stillings Streitschriften gegen den Sebaldus Noth«
anker und Nicolais Verhältnis zu Jung Stilling 150
Fr. H. Jacobis Ablehnung des Nothanker 154
III. Nicolai und Herder 158
Literaturbriefe und Fragmente S. 159. Anknüpfung und Befestigung
des Verhältnisses: Nicolais »Ehrengedächtnis« für Thomas Abbt und
XII
Seite
Herders »Torso« S. 163. Klotz S. 166. Persönliches S. 167. Erste Re«
zensionstätigkeit Herders für die A. D. Bibl. S. 168. Gegensätzliches
S. 169. Äußere und innere Lockerung des Verhältnisses S. 175. Her«
ders Polemik gegen Abbts »Freundschaftliche Korrespondenz« S. 176,
Herders Rezensionstätigkeit für die A. D. Bibl. S. 178. Gegensatz«
liches über Klopstock S. 179, über Hamann S. 181. Nicolais Polemik
gegen Herders Stil S. 183, Frankf. Gel. Anz. S. 186. »Von deutscher
Art und Kunst« S. 189. Nicolais »Sebaldus Nothanker« und Herders
»Alteste Urkunde« S. 192. Herders Absage an Nicolai S. 195. End«
gültiger Bruch S. 202. Nachhall S. 206 (Provinzialblätter. Vom Er« '
kennen und Empfinden .. . usw.). Herder als Zeuge gegen die Roman«
tiker S. 209.
Drittes Kapitel: Nicolai im Kampf gegen den Sturm und
Drang
I. Nicolai und Lavater 211
Einheitliche Beurteilung Lavaters schon sehr früh S. 211. Schweizer«
lieder, Lavater als Dichter S. 213. Die »Aussichten in die Ewigkeit«
und Lamberts Rezension S. 214. Das »Geheime Tagebuch« und seine
Beurteilung in der A. D. Bibl. S. 216. Kritik der literarischen Person«
lichkeit Lavaters : Bekehrungsstreit S. 220 ; »Vermischte Gedanken«
S. 222. Charakter des Briefwechsels Lavater«Nicolai S. 224. — Die
Physiognomik: Nicolais Ansätze zu eigenem System und deren SteU
lung zu Lavaters Physiognomik S. 226. Nicolais Rezensionen der
Lavaterschen Physiognomik S. 231. — Der Zusammenhang Lavaters
mit der Geniebewegung: die Allg. D. Bibl. über »Schwärmerei und
Enthusiasmus« S. 236. Ausblicke S. 239.
II. Der junge Goethe und sein Kreis 240
»Von deutscher Art und Kunst« S. 242. Frankf. Gel. Anz. S. 243.
Götz von Berlichingen S. 244. Farcen S. 245.
Werthers Leiden und Werthers Freuden : Nicolais ästhetische Werther«
kritik S. 248. Das Wertherproblem, absolut genommen S. 252. Garves
Wertherrezension und Nicolais entsprechende Stellungnahme S. 253.
Satire als Mittel gegen Schwärmerei S. 262. Wirkung der Freuden
auf Goethe S. 264, auf Lenz S. 267, auf die anderen Jungen S. 268,
auf die Alten S. 270.
Späteres Verhältnis zu Goethe S. 271, Stella, Clavigo S. 272. Weimar
S. 273. Nicolais Wilhelm Meister«Kritik und das Wertherproblem
S. 274.
Nicolai und die »Goetheaner«: Allgemeines S. 275. Lenz S. 276.
Klinger, H. L. Wagner usw. S. 279. Abschließendes S. 281.
XIII
Seite
III. Nicolais »Feyner kleiner Älmähach« gegen Volkspoesie.
(Nicolai und Bürger) 282
Popularität und Naturalismus, vom Sebaldus Nothanker aus gesehen
S. 283. Bürgers Kundgebung für Volkspoesie S. 285. Verhältnis zu
Herders Ossianaufsatz S. 287. Aufnahme in der A. D. Bibl. S. 289.
Nicolais Almanach : die polemische und die positive Tendenz S. 290.
Dichtung als Funktion der Gesellschaft S. 294. Wirkung der Polemik
auf Herder S. 298, auf Bürger S. 299, auf Nicolai S. 300, Späteres
, S. 301.
IV. J. H. Voß' »Verhöre« gegen Nicolai 302
Nicolais Situation S. 302. Stimmung der Göttinger gegen Nicolai
S. 303. Voß gegen Nicolai: Tendenzen S. 306. Polemik S. 308. Äußere
Wirkung der Polemik: Nicolais Isolierung S. 310. Wirkung auf die
psychische Disposition von Nicolais Spätzeit S. 311.
Nachwort 313
Anhang: Briefe aus Nicolais Nachlaß (von Boie, Eberhard,
Lavater, Nicolai, Schlözer, Uz) 319
Register 395
XIV
ABKÜRZUNGEN
Br. itz. Zust. = -»Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissens
Schäften in Deutschland« Berlin 1755 (von Nicolai); zitiert
nach dem Neudruck von Georg Ellinger ^^ Berliner Neus
drucke III, 2.
Bibl. d. sch.Wiss. = »Bibliothek der schönenWissenschaften und freyen Künste«
Berlin 1757 ff.
Litbr. 166 usw. = 166*" der »Briefe die neueste Literatur betreffend« Berlin
1759 ff.
AD Bibl. = Allgemeine Deutsche Bibliothek, Berlin 1766ff. (in Wirb
lichkeit 1765 fif. erschienen!).
Seb. Noth. == »Das Leben und die Meinungen des Hrn. Magister Sebal=
dus Nothanker« 3 Bde. Berlin u. Stettin 1773ff.
F. kl. Alman. = Eyn feyner kleiner Almanach usw. Berlin u. Stettin 1777/8.
Zitiert nach dem Neudruck von Georg Ellinger = Berliner
Neudrucke I, 1.
Reisebeschrbg. = Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die
Schweiz . . . Berlin u. Stettin 1783 ff. 10 Bde.
Vertr. Briefe ^ Vertraute Briefe von Adelheid B. an ihre Freundin Julie
S. Berlin u. Stettin 1799.
Parthey = (Gustav Parthey), »Die Mitarbeiter an Fr. Nicolais Allgem.
Deutscher Bibl.« Berlin 1842 (sehr wenig zureichend und
nicht immer zuverlässig!).
Wagner I, II, III = Karl Wagner, »Briefe an Joh. H. Merck« Darmstadt 1835.
»Briefe an u. von Joh. H. Merck« Darmstadt
1838.
»Briefe aus dem Freundeskreise . . .« Leipzig
1847.
Die ungedruckten Briefe aus dem in der Preuß. Staatsbiblio*
thek zu Berlin befindlichen Nachlaß Nicolais sind durch
NN. gekennzeichnet.
XV
ERSTER TEIL:
GRUNDLAGEN
Friedrich Nicolai, erkennt sein jüngster Biograph\ kommt für
die wissenschaftliche Forschung »als Quelle wie als Gegenstand«
in Betracht. Auch diese Untersuchung möchte sich nach beiden
Seiten hin orientieren. Der Mann, der einst mit Lessing, ja in man*
eher Beziehung vor ihm, bahnbrechend für die Entwicklung der
deutschen Literatur gewirkt hat, und der nach einer Zeit der all*
gemeinen Hochschätzung und Verehrung, nach einer Zeit des
ungewöhnlich starken Einflusses auf die literarische Produktion
und Kritik, der Verachtung und dem Spott anheimfiel, und heute
ohne weiteres als bornierter Vertreter philiströsen Banausentums
gilt, ist wie wenige literarische Persönlichkeiten auf eine unvor*
eingenommene und eingehende Beurteilung angewiesen. Darüber
hinaus aber möchte die vorliegende Untersuchung, indem sie die
in Nicolais geistiger Existenz sich ausdrückenden, zeitlich be*
dingten und zeitbedingenden allgemeinen geistigen Kräfte zu er*
fassen bemüht ist, Friedrich Nicolai als Quelle — oder als Scheide*
punkt der durch das 18. Jahrhundert durchgehenden Strömungen
erkennen.
Die Forderung Aners, Nicolai zum Gegenstande Wissenschaft*
lieber Forschung zu machen, erscheint trotz des Vorhandenseins
zahlreicher Einzeldarstellungen nicht unberechtigt. Allerdings ist
Nicolai oft Gegenstand der Forschung gewesen; aber in den mei*
sten Fällen wurde er von vornherein nur unter einem bestimmten
Gesichtspunkt gefaßt, etwa von Erich Schmidt als Schüler und
Interpret Lessings^ — wobei er denn allerdings recht schlecht fort*
kommen mußte — oder von Ludwig Geiger^ seiner lokalen Zu*
gehörigkeit nach, oder von Gustav Rümelin* in seiner kultur*
historischen Bedeutung. Andere Darstellungen aber lieferten ein*
fach »zu der Zeichnung der Xenien und Fichtes das Kolorit,« wie
Karl Aner von Jakob Minors Biographie^ urteilt®; Adolf Lassons
Darstellung von Nicolais Verhältnis zur idealistischen Philoso*
' Karl Aner, Der Aufklärer Friedrich Nicolai, Gießen 1912, S. 5.
- Erich Schmidt, »Lessing«, 3. Aufl. 1909.
' Ludwig Geiger, »Berlin 1688-1840«. Bd. 2. Berlin 1895.
* Gustav Rümelin, Reden und Aufsätze N. F. Freiburg 1881. 407 ff.
' Jakob Minor in »Lessings Jugendfreunde« = Kürschners Deutsche National*
literatur, Bd. 72.
' Karl Aner, a. a. O. S. 4.
phie^ beispielsweise wiederholt einfach die Anwürfe der Fichteschen
Streitschrift, jenes gröbsten Pasquills, das die deutsche Literatur,
vielleicht nur von Schwabes »Volleingeschanktem Tintenfässl« ab*
gesehen, überhaupt kennt. Daß auf der anderen Seite kritiklose
Darstellungen von Freundeshand, wie diejenigen Göckingks" oder
Partheys -^ nicht der berechtigten Forderung wissenschaftlicher, un*
voreingenommener Forschung entsprechen können, liegt auf der
Hand. Auf solchen Darstellungen fußend, im Urteil durch die man«
nigfachen Äußerungen des Hasses beeinflußt, mit dem fast alle be*
deutenderen Geister der deutschen Literatur seit den siebziger Jahren
des 18. Jahrhunderts Nicolai in steigendem Maße verfolgten, dürfen
auch die zahlreichen Äußerungen über Nicolai in den Werken, in
denen die Beziehungen der verschiedensten Dichter und Schrift*
steller zu Nicolai erörtert werden, kaum volle Gültigkeit für sich
in Anspruch nehmen, wie wir an verschiedenen Stellen dieser Unter*
suchung im einzelnen erweisen werden. Ja selbst kritisch*historische
Monographien über einzelne Nicolaische Werke, wie Karl Cleves*
und Georg Ellingers^ Schriften über Nicolais »feynen kleinen AI*
manach« u. a. sind überraschend oft vom allgemeinen Urteil ab*
hängig: es wiederholt sich hier dieselbe Erscheinung, die Ludwig
Goldstein in seiner Schrift über Moses Mendelssohns Bedeutung
für die deutsche Ästhetik beklagt^. Einzig die Monographien von
Georg Ellinger über Nicolais »Briefe über den itzigen Zustand der
schönen Wissenschaften«', von Adolf Schach über »Nicolais Be*
mühungen um die deutsche Sprache«^ — diese letztere allerdings,
wie der Verfasser selbst zugibt, auf unzulängliches Material ge*
stützt — , und insbesondere die treffliche Untersuchung Richard
^ Adolf Lasson, »Fr. Nicolai im Kampfe gegen den Idealismus« = Herrigs Archiv
32, 257 ff.
^ F. L. V. Göckingk, »Fr. Nicolais Leben und literarischer Nachlaß« Berlin 1820.
' Gustav Farthey, Jugenderinnerungen. Hrsgb. v. E. Friedel 1907, I.
* Karl Cleve, »Nicolais feyner kleyner Almanach« Frogr. Schwedt 1895.
" Georg Ellinger, Einlage zum Neudruck des »feynen kleynen Almanachs« =
Berliner Neudruck 1, 1.
* Ludwig Goldstein, »Moses Mendelssohn und die deutsche Ästhetik« Königs*
berg 1904, S. 2f.
'' Einleitung zum Neudruck derselben = Berliner Neudrucke III, 2.
" Gießener Diss. 1913.
Schwingers über Nicolais Roman »Sebaldus Nothanker«^ haben
sich von der landläufigen Urteilsweise frei zu machen bemüht, wie
sie denn überhaupt, insbesondere Schwinger, über ihre eigentliche
Aufgabe hinaus zu einer wissenschaftlichen Anforderungen gerecht
werdenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit Nicolais beizu^
tragen versucht haben"". Diesen Versuch hat auch Karl Aner gemacht,
der gleichfalls ein spezielleres Gebiet von Nicolais Wirken, seine
religiös^theologische Stellung, sich zur eigentlichen Aufgabe seiner
Schrift bestimmt hat; er gibt in einem einleitenden Teil eine allge#
meine Würdigung von Nicolais Persönlichkeit. Diesen Ausfüh*
rungen aber, die auf eine »Rettung« Nicolais hinauslaufen, vermag
ich weder in methodologischer noch in inhaltlicher Beziehung bei*
zupflichten. Wohl erkennt Aner sehr richtig, daß es »billige Weis*
heit« sei, zu konstatieren, »Nicolai habe mit den Besten seiner Zeit
in Fehde gelebt. Erst da setzt die Wissenschaft ein, wo man dies
merkwürdige Phänomen aus einem Grundprinzip zu erklären sucht,
das die Opposition jenes Mannes nach den verschiedensten Rieh*
tungen hin verursacht hat^«. Dieses Grundprinzip, das in der geisti*
gen Organisation Nicolais liegen muß, kann freilich nur durch syste*
matische Analyse derselben aufgedeckt werden, und wird durch
die Aufzeigung sympathischer und .Erklärung' antipathischer Züge
nur verwischt; in Aners Darstellung aber überwiegt eine Aner*
kennung, eine Bejahung, die nicht Ergebnis seiner Untersuchungen
ist, sondern seine Charakterisierung stützt und überhaupt erst er*
möglicht. So konnte die hier vorliegende Untersuchung sich auch
mit der Anerschen Darstellung nicht benügen, sondern mußte selbst
eine systematische Analyse der geistigen Organisation Nicolais ver*
suchen. Denn gerade für diese Untersuchung wird die von Aner
aufgestellte Forderung von höchster Wichtigkeit; sie wird es um so
mehr, als Nicolai hier nicht nur Gegenstand, sondern auch Quelle ist.
' R. Schwinger, »Fr. Nicolais Roman Sebaldus Nothanker«. Ein Beitrag zur Ge«
schichte der Aufklärung. Weimar 1897 = Literarhistorische Forschungen hrsgb.
V. Jos. Schick u. M. v. Waldberg, II.
' Neuerdings hat Wolfgang Stammler (»Mathias Claudius« Halle 1915, S. 56f.)
auf die Einseitigkeit des allgemeinen Urteils über Nicolai hingewiesen, und auf
die Summe von »wahrhaftem Ernst« und »beständigem Eifer« aufmerksam ge=
macht, die in der unveröffentlichten Korrespondenz Nicolais verborgen liegt.
' K. Aner, a. a. O. S. 30.
Diese Untersuchung von Friedrich Nicolais Verhältnis zum Sturm
und Drang will über die Frage nach dem einmalig historischen Pro*
zeß hinaus zu der Frage nach den Kräften selbst dringen, die jenem
Prozeß die entscheidende Wendung geben. Der Kampf, den hier
zwei Generationen — die jungen Stürmer und der auf der Höhe des
Schaffens stehende Nicolai — austragen, ist zugleich der Kampf
zweier Weltanschauungen. Was man als »Sturm und Drang« zu be*
zeichnen sich gewöhnt hat, ist nur der überaus charakteristische,
durch die vitale Gegensätzlichkeit der Jugend zum Alter noch ver*
stärkte und darum sich mit ungehemmter Kraft gebende Teilaus*
druck einer Gesamtbewegung, die man vom literarischen Gesichts*
punkt als »Geniebewegung« bezeichnen kann, und die, in den fünf*
ziger Jahren des 18. Jahrhunderts Wurzel fassend, aller Widerstände
und Umbiegungen ungeachtet, durch das Jahrhundert fortdauert,
um in der älteren Romantik einen neuen Höhepunkt zu erleben.
Niemand ist für die Einheitlichkeit dieser Bewegung ein beredterer
Zeuge als eben Friedrich Nicolai: er hat sich nicht nur allen Äuße*
rungen dieser Bewegung von Hamann bis zu Friedrich Schlegel,
von Lavater bis Mesmer, von Friedrich Jacobi bis Schleiermacher
einheitlich widersetzt, sondern auch bewußt die Zusammenhänge
zwischen Sturm und Drang und Romantik erkannt \
Minder eindeutig freilich ist die Gegenseite. Schon die Tatsache,
daß Nicolai im Streit mit Herder über den Tempelherrnorden den
wahrhaft historischen, Herder den ungeschichtlichen Standpunkt
vertritt^, die Tatsache, daß Nicolai gegen den Rationalismus der
Frühromantiker heftig ankämpft^, daß er den Rigorismus der Kant*
sehen Ethik ablehnt, aber gegen eudaimonistische Morallehren einen
sozial gefärbten Pflichtbegriff geltend macht; daß er Kants System
als dogmatisch ablehnt, aber doch den »anmaßenden« Subjektivis*
mus Fichtes weit schärfer bekämpft — all das gebietet Vorsicht bei
der Charakterisierung wenigstens seiner subjektiven Position. Wie
auf die Feststellung, daß er allem »Neuen und Großen« feindselig
' In der Schrift gegen Buhle (1806) z. B. stellt er (S. 17) die Romantiker als Kraft=
genies »zweiter Potenz« dar. Ähnlich a. m. O.
' Vgl. K.Aner a.a.O. S. 159.
' Etwa in der Vorrede zu den »Gesprächen Christian Wolffs mit einem Kantianer«
(von Schwab, Berlin 1798) und in den »Vertrauten Briefen« an zahlreichen Stellen.
gegenüberstand, unter jenem Aspekt einer gegensätzlichen Gesamt*
Bewegung — die übrigens vom Gesichtspunkt Nicolais aus die
Klassik und die Kantische Philosophie einschloß und einschließen
mußte — ein merkwürdiges Licht fällt, so wird eine genauere und
eindringendere Betrachtung seiner eigentlichen Position, eine Er*
Fassung der aufklärerischen Gegenseite gleichfalls zum Verständnis
jener Opposition beitragen. Rudolph Unger hat in seinem Werk
»Hamann und die Aufklärung« jene tiefe Spaltung dargestellt, die
zwischen dem »rationalistischen« und dem »sensualistischen «Zweig
der Aufklärung besteht.Von hier aus versteht man die »mannigfache
Verworrenheit, zwiespältige Gegensätzlichkeit, gestaltlose Unaus*
geglichenheit und widerspruchsvolle Problematik«, die nach Ungers
UrteiP das deutsche Geistesleben um die Mitte des 18. Jahrhunderts
kennzeichnen; der rationalistische Zweig, seit Descartes in Frank*
reich besonders ausgebildet, und der sensualistische Zweig, in Eng*
land insbesondere seit Bacon und Hobbes zumal von Lockes Philo*
Sophie stark genährt, treffen in der aufklärerischen Geisteswelt
Deutschlands im 18. Jahrhundert zusammen, und bestehen durch
zwei Jahrzehnte, wenn auch nicht, friedlich, so doch ohne tiefere
Auseinandersetzung, nebeneinander. Zumal die Männer, in deren
Kreis unsere Untersuchung eigentlich führt, die »Berliner« sind,
Einflüssen der Christian Wolffschen Schule wie solchen aus der eng*
lischen Philosophie — insbesondere Shaftesburys — hingegeben,
weniger die Vermittler als die Empfänger der beiden Strömungen.
Es erklärt sich, daß auch Nicolais objektive Position viel weniger
eindeutig und entschieden ist als die der Gegenseite. In der Tat hat
er sich erst nach einer Zeit des äußeren Schwankens, zum mindesten
der äußeren Nachgiebigkeit, erst nach der schroffen Ablehnung, die
er von selten der jungen Generation erfuhr, entschieden zum Kampf
gegen dieselbe bekannt. Dieser Aufklärer wurzelt eben in jener Zeit
der objektiv*zwiespältigen Gegensätzlichkeit und gestaltlosen Un*
ausgeglichenheit, so stark auch seine subjektive Sicherheit sein
mochte; diese unsichere Stellung hat ihn dem Kompromiß geneigter
gemacht als die Jungen, die, einer einseitiger gerichteten, aber durch
ihre Intensität zu größerer Fruchtbarkeit befähigten Geistigkeit ent*
stammend, mit der äußersten Entschiedenheit ihr Ich und ihre Lei*
' a. a.O. S. 55.
stungen auch nach außen hin betonten, nicht bereit, auch nur einen
Schritt nachzugeben. FreiUch ist ihre Sicherheit sich selbst gegen?
über oft durch schmerzvolle Zusammenbrüche in Zweifel gezogen
worden, aber auch in ihrer selbstquälerischen Problematik drückte
sich Entschiedenheit gegen das eigene überwundene oder zu über«
windende Ich aus — eine Entschiedenheit, die zum Selbstmord oder
zum Wahnsinn führen konnte. Nicolai aber war es versagt, so viel
Probleme er auch erwog, sich selbst zum Problem zu werden. Seiner
individuellen Organisation nach — wie wir noch sehen werden —
ganz auf kritische Stellungnahme angewi^en, aber in einer Geistig*
keit unentschiedenen Schwankens wurzelnd und daher nie der
letzten Erschütterung, nie des freudigsten Bejahens seines Ich fähig
— in diesem Widerspruch liegt die Tragik seines geistigen Lebens
beschlossen, die Tragik einer Generation zugleich, die säen durfte,
aber nicht ernten.
ZUR WELT=: UND LEBENSANSICHT
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier ein vollständiges Bild
Nicolais zu entwerfen; der eklektische Charakter seines Denkens
macht eine systematische Darstellung desselben unmöglich, und
der besondere Zweck dieses Teils der Untersuchung weist auf die
Notwendigkeit hin, einzig diejenigen Elemente zunächst von Nico«
laisWelt^» und Lebensanschauung aufzuzeigen, die in seiner Stellung*
nähme zum Sturm und Drang wirklich bestimmend mitwirkten.
Aber auch diesem Unternehmen stehen mannigfache Schwierig*
keiten im Wege. Das Band, das alle diese Elemente zusammenhält,
die ursprüngliche, ganz individuelle Umbiegung, der alles objektiv
Gegebene in dem Bannkreis einer Persönlichkeit unterliegt, das,
was uns bei jeder originalen Individualität mitunter blitzartig aus
einem leicht hingeworfenen Wort, einer Geste entgegenspringt, ist
bei Nicolai schwer erreichbar. Unmittelbare Äußerungen von
Nicolais Lebensgefühl sind fast gar nicht vorhanden. Was uns an
Solchen überliefert ist, wie besonders von Gustav Parthey in seinen
»Jugenderinnerungen,« kann uns kaum als Material dienen, einmal
wegen der Voreingenommenheit insbesondere Partheys, anderer*
seits weil diese Erinnerungen sich fast ausschließlich auf Nicolais
letzte Lebenszeit beziehen; dasjenige, was Nicolai in seinen Selbst*
darstellungen berichtet, ist schon irgendwie durch reflektierende
Momente gefärbt; der Briefschreiber Nicolai aber ist Literat, Rat*
geber oder gar Geschäftsmann, so daß auch in der ungeheuren uns
erhaltenen Nicolaischen Korrespondenz kaum irgendwelche wert*
volleren unmittelbaren Lebensäußerungen vorhanden sind. Das
Material aber, das Karl Aner^ Partheys Aufzeichnungen entnimmt,
' Karl Aner, Der Aufklärer F. Nicolai, S. 16, S. 44 u. a. m. O. Aner benutzt dort
die Tatsache, daß Nicolai im hohen Alter von dem Vortrage eines Mozartschen
Flötensolos so entzückt war, daß er den Vortragenden umarmte und küßte, zum
Nachweis seines Kunstenthusiasmus, und die Tatsache, daß Nicolai auf dem
Brocken »beim Anblick eines Gewitters in Tränen ausgebrochen« sei, — die
übrigens durch Reisebeschreibung VI, 465 erhärtet wird — zum Nachweise eines
lebendigen Naturgefühls. Eher spräche schon die von Aner (S. 8 f.) gerühmte
»enthusiastische« Beschäftigung mit Homer für seinen Kunstenthusiasmus; doch
ist auch dieses Moment in unserem Zusammenhang ohne Bedeutung.
um entgegen der Minorschen Darstellung^ die Grenzen von Nico*
lais Lebensgefühl zu erweitern, ist nicht beweiskräftig, und sein
Verfahren ist methodisch anfechtbar; es kommt nicht darauf an,
Nicolai die Fähigkeit zu jeder möglichen Lebensäußerung zuzu«
weisen, sondern die ihm natürlichsten und notwendigsten zu be*
stimmen. — Wir müssen also dies elementare Grundverhalten aus
den reflektierten Äußerungen, aus der objektiven Gebundenheit
zu erschließen suchen.
Erich Schmidt gibt einmal eine bündige Charakteristik Nicolais:
»Friedrich Nicolai war ein Berliner Autodidakt, und der Beroli*
nismus nahm dem Autodidakten das unsichere Tasten, das ihm
sonst wohl anhaftet. So fühlte Nicolai statt eines Autoritätsbedürf*
nisses sich immer mehr als maßgebende Autorität...«^ So unzu*
länglich es scheint, mit diesem Satz ein abschließendes Urteil über
Nicolai fällen zu wollen, so ist doch hier eines der wesentlichsten
Momente nicht nur seines Bildungsganges, sondern seines ganzen
menschlichen Charakters treffend hervorgehoben. Allerdings war
Nicolai Autodidakt und so tief im Innersten, daß jede strenge
Schulzucht, jede systematische Schulung ihm zeitlebens zuwider
blieb. Wie der Geist des Knaben in dem harten Zwang der Halli*
sehen Schule zu ersticken drohte, so hat der Mann später gegen
jeden schulmäßigen Zwang in Kunst und Philosophie geeifert: der
Gottschedischen, der Kantischen, der Romantischen »Schule« hat
er gleich scharf den Krieg erklärt und manch bitteres Wort gegen
die gelehrten Treibhausanstalten gesprochen, die ihm die Univer«
sitäten. zu sein schienen. Wie der Lerneifer und der Geist des Kna«
ben erst in der Heckerschen Berliner »Realschule« erwacht, wo er
mit dem Wissen zugleich auch die Dinge sieht, die er wissen solP,
so konnte auch der Mann das Winckelmannsche Schönheitsideal
erst begreifen, als er eine derb realistische Studie Frischs gegen den
Antinous hielt und durch den Vergleich eine erste Vorstellung der
' in DNL 72.
- »Lessing,« I S. 302 3.
^ Daß einzig die Methode, nicht die dargebotene Stofflichkeit — wie Minor be=
hauptet: die Bevorzugung der naturwissenschaftHchen Fächer statt der in Halle
einzig gelehrten humanistischen — Nicolais Geist hier befruchtet hat, legt K. Aner
insbesondere S. 10 treffend dar.
10
»Begriffe von Schönheit und Ideal« erhielt ^ Und wie er die Schule
verwarf, die ihren Zögling als Objekt behandelt, ohne eine Gemein*
Schaft von Lehrendem und Lernendem zu sein — so bekämpfte er
jede geistige Gesellschaftsform, in der ein überragender Geist andere
vorbehaltlos in seinen Bann zwang. So eiferte er gegen die »Klop=
stockianer,« wie gegen die »Goetheaner« und »Kantianer«; so pole*
misierte er gegen den Hainbund, wie gegen die »Bureaux d'esprit«
und schuf im »Sempronius Gundibert« die Karikatur eines gesetz*
gebenden philosophischen Reichstags; so lehnte eres heftig ab, das
Haupt einer »Berliner« Partei zu sein^, und schrieb in vollem Be*
wußtsein dieser ihn durchs ganze Leben begleitenden Tendenz in
der Schrift, in der er aus äußerem Anlaß mit seinem Bildungs*
streben abrechnete, den Satz nieder^: »Ich bin nie von einer Partei
gewesen . . . und werde nie von einer andern Partei sein, als von
der Partei der Wahrheit, so wie ich sie einsehe . . .« —
Es läßt sich aber auch nach einer anderen Seite hin eine psycho*
logische Folgerung aus diesem Bildungsgange ziehen, bedeutsam
gerade für sein Verhalten zur Geniebewegung, Goethe urteilt von
Nicolais Antipoden, dem Autodidakten Klinger: »Wie nun gegen
neue Männer, Ansichten, Systeme, so erklären sich solche Männer
auch gegen neue Ereignisse, hervortretende, bedeutende Menschen,
welche große Veränderungen ankündigen oder bewirken: ein Ver*
fahren, das ihnen keineswegs so zu verargen ist, weil sie dasjenige
von Grund aus gefährdet sehen, dem sie ihr eigenes Dasein und
Bildung schuldig geworden.« (Dichtg. u. Wahrht. XIV.) Nicolai
hat seit dem Ende der siebziger Jahre, nicht zum mindesten durch
die feindselige Haltung der jungen Generation veranlaßt, im wesent*
liehen seine Position verteidigt, Bildung und Dasein, die innere,
wie die äußere Existenz. Denn auch die äußere Existenz galt es
gegen die Jungen zu verteidigen, die mit Werther auf die hommes
d'affaires schimpften, die aber auch gern den sozialen Typ des
Literaten, — und Nicolai war so gut homme d'affaires, wie er nach
dem großen Vorbild Lessings Literat sein wollte — für das tinten*
klecksende Säculum verantwortlich machten. Er ist auf seinen Beruf
' Göckingk S. 145.
- An F. Jacobi, ed. Zoeppritz I, 37 und Deutsches Museum 1787, März, S. 292.
' »Gelehrte Bildung« S. 78 9.
11
stolz, der es ihm ermöglicht, die persönliche Freiheit und Unab^«
hängigkeit zu bewahren; wie der verfolgte Sebaldus Nothanker bei
dem Buchhändler Hieronymus geborgen ist, und dieser ihm mit
Stolz erklärt, daß ihn hier keiner seiner Feinde stören könne, da
»weder der Präsident, noch der Superintendent im Buchladen etwas
zu tun haben« ^ so fühlte sich Nicolai in seinem Wirkungskreis vor
jedem unrechtmäßigen Eingriff der weltlichen und kirchlichen Ge*
walt geschützt. Im Bewußtsein dieser Unabhängigkeit schreibt er
an den Konsistorialrat Boysen in Quedlinburg, der ihm, durch eine
abfällige Rezension seines »Auszuges der Weltgeschichte« gekränkt
mit der Beschwerde bei der obersten Kirchenbehörde gedroht hatte:
»Ich suche weder ein Amt, noch will ich mich gegen Nebenbuhler
verwahren, ich suche weder Projekte durchzusetzen, noch habe ich
einen gelehrten Ruhm zu erhalten, dessen Verlust mir im Weltleben
schädlich sein könnte«^; deshalb brauche und suche er niemanden,
und habe niemanden zu fürchten. Und im Gegensatz zu der üb*
liehen Darstellungsweise, daß er sich »an Lessings Rockschöße ge*
hängt« habe, mag hier darauf hingewiesen werden, daß er es freudig
begrüßt, als Lessing — im zweiten Teil der »Antiquarischen Briefe«
— öffentlich erklärt, daß er an der Allg. Dtsch. Bibl. keinen Anteil
habe^. Wie er selbst frei und unabhängig — in geistiger wie sozialer
Hinsicht — sein will, so möchte er auch seine Freunde so gestellt
wissen; daher rät er, um nur ein Beispiel zu nennen, Thomas Abbt
dringend, sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Grafen
von Lippe zu begeben oder doch auf die Wahrung der persönlichen
Würde streng zu achten*.
Ein tätiger und selbständiger Geist mußte es sein, der nach der
Freiheit vom Zwang jeder geistigen und gesellschaftlichen Autori*
' Sebaldus Nothanker I, 7, S. 71.
' 10. VI. 71.N. N.
^ Nicolai an Lessing 29. VIII. 69 = Lachmann^Muncker 19, 314. Bemerkenswert
ist in diesem Zusammenhang auch, daß Nicolai es im Streit mit Wieland über
den Bunkel ablehnte, ein ihm bekannt gewordenes Lessingsches Zeugnis zu=
gunsten des angegriffenen Romans öffentlich zu verwerten, mit der Begründung,
er wolle nicht ein »iudicium auctoritatis etablieren« : vgl. R. Hering, J . C. Höpfner
usw. = Jhb. d. Fr. Dtsch. Hochstifts, Frkft. 1911, 329.
* 25. XI. 65 = Abbts Verm. Werke (1780) 3, 383 ff. u. 5, 1817. (Die Datierung vom
23. XI. ist Druckfehler, vgl. Moses Mendelss. Sämtl. Schriften 5, 355.)
12
tat verlangte. Ist Nicolai auch in den Erzeugnissen seines Geistes
überall durchaus abhängig — in welchem Maße, wird sich noch oft
im Laufe dieser Untersuchung zeigen — so konnte er doch überall
den guten Glauben für sich in Anspruch nehmen, Eigenes gegeben
zu haben. So viel Anregungen er auch empfing, oder besser, so viel
Anregungen sein unermüdlicher Geist auch suchte, überall ergriff
er mit starker Aktivität das Dargebotene und formte es den Be#
dürfnissen seines Geistes gemäß um. Ein solches Verfahren setzt
einen seiner selbst gewissen, stets bewußten Geist voraus; nicht
einen Geist, der über festen Grund verfügt, aber einen, der ohne
starke Schwankungen seinen Weg geht; keine Natur, die einer
starken Entwicklung fähig ist, aber eine unablässig entwickelnde;
eine Natur, die geistige Widerstände nur auf dem Wege der kri*
tischen Auseinandersetzung zu überwinden, nicht durch das Er*
lebnis für das eigene Schaffen fruchtbar zu machen vermag. Sich
selbst gegenüber kritisch \ und doch stets bereit und fähig zu Selbst*
darstellungen, die sein Wesen und Wirken rechtfertigen sollen, und
die er denn auch recht oft wiederholt hat; mit seinem Schicksal oft
unzufrieden-, und doch stolz auf die Bedingungen und Leistungen
seines Lebens, wenn er sie objektiv mißt; äußerlich frei und seine
Unabhängigkeit betonend, und innerlich vielfältig gebunden und
abhängig — in diesen Widersprüchen, die ihn doch nie zum Pro*
blematiker des subjektiven oder objektiven geistigen Lebens mach*
ten, ist die Statik seines Lebensgefühles gewährleistet.
Das gleiche gesetzmäßige feste Beharren auf dem eigenen Stand*
ort zeigt auch die objektiv verfestigte Lebensanschauung Ni*
colais: Der Sinn und Wert des Lebens liegt für ihn in einem engen
Bezirk, aus dem nur spärliche Fäden nach den Polen laufen, von
denen her das empirische Leben bestürmt wird. Metaphysische
Fragen, starke religiöse Zweifel, die Ansprüche überschäumender
eigener Kraft auf hemmungslose Auswirkung haben ihn nie gequält.
' Beachte seine öfters bezeugte Unzufriedenheit mit eigenen Werken, so z. B.
über die »Briefe über den itzigen Zustand« an Hagedorn (N. N. 16. VIII. 58) und
ähnliches.
' So schreibt er am 7. V. 93 an Eschenburg: »Es scheint, ich bin vom Schicksal
verurteilt, immer das tun zu müssen, was ich nicht gern wollte, das nicht tun zu
können, was ich gern möchte, und niemals zur Ruhe zu kommen.« (Bei O. v.
Heinemann, Zur Erinnerung an G. E. Lessing, Leipzig 1870, S. 171.)
13
Wohl ist seine Religiosität, wie Karl Aner dargetan hat\ nicht rein
intellektualistisch gefärbt; wohl hat er, besonders in den »Philo*
sophischen Abhandlungen«, auch zu metaphysischen Fragen Stel*
lung genommen, aber nirgends sind diese Fragen in einer tieferen
Schicht fruchtbar geworden. Wie sich bei den Nachfolgern und
Schülern Christian Wolffs im allgemeinen das Bestreben geltend
macht, die philosophische Vernunftwissenschaft einzig auf den tat*
sächlichen Befund des einzelmenschlichen Lebens anzuwenden^, so
tritt auch NicolaisWeltanschauung in der spezifischen Färbung einer
Lebensanschauung auf. »Das Philosophieren in concreto« ist die
Philosophie, der er sich zuwenden will\- und was er gegen Rein*
hold einmal scherzhaft äußert — »meine Philosophie ist nur so fürs
Haus«* — , läßt sich auch in einem weiteren Sinn über seine ge*
samten theoretischen Anschauungen vom Sinn und Wert des Lebens
sagen.
»Die Welt ist so groß und die Menschheit ist so perfektibel . . .;
um so mehr muß es jedes kleine, einzelne Ich sein«, sagt Adelheid,
die Sprecherin Nicolais, in den »Vertrauten Briefen« ^, Diese Per*
fektibilität des Ich wird aber nach Nicolais Anschauung nicht durch
das eigene, sich selbst befördernde Stre'ben erreicht, sondern nur in
der ständigen Wechselwirkung mit der menschlichen Gesellschaft.
»Im Müßiggange vegetieren und im inneren Ich Grillen fangen
ohne Tätigkeit, . . . heißt nicht leben. Leben ist, in und für die
menschliche Gesellschaft tätig wirken, wäre es auch nur im kleinsten
und unbedeutendsten Wirkungskreise^,« So setzt es auch ein Spre*
eher Nicolais im »Sempronius Gundibert« auseinander' ; nicht über
das Leben spekulieren, sondern leben müsse der Mensch; »leben
aber ist: mit Wohlwollen gegen andere tätig, nach vernünftiger
' K. Aner S. 47 ff.
* Vgl. R. Unger, »Hamann und die Aufklärung« S. 53 ff.
" Einl. zu den »Philosophischen Abhandlungen« S. VIII.
* An K. L. Reinhold 20. X. 90 (= Reinholds Leben ed. E. Reinhold Jena 1825,
S. 354).
' S. 47. Vgl. auch Nicolai an Lavater 19. II. 74; NN.: »Daß Sie mir Perfekt
tibilität zutrauen, halte ich für ein größeres Lob, als Sic vielleicht intendiert
haben.«
* »Über meine gelehrte Bildung« S. 39.
^S. 313f.
14
Überlegung mit sich zufrieden sein,« nach dem Maßstab von Pflich==
ten und Rechten alles Gute und Angenehme genießen. Und wenn
auch die Anschauung hier mir Rücksicht auf den Charakter des
junkerlichen Sprechers ganz quietistisch gefaßt ist, so hat Nicolai
den Grundgedanken seiner Lebensanschauung, die nur gegenüber
den letzten Fragen sich quietistisch verhält, den Gedanken, daß der
Sinn des Lebens sich in der sozialen Eingliederung erschöpft, wieder*
holt ausgesprochen. »Ich lebe, weil ich leben muß und tue das Beste,
was ich im Leben tun kann; weiß, daß ich einmal sterben muß,«
bekennt er einmal ^ »Ich prüfe einen Menschen, der sich seiner
Weisheit rühmt, ob er für seine Nebenmenschen etwas empfindet,
oder vielmehr, ob er etwas für sie tut; ist dies nicht, so besteht seine
Weisheit bloß aus schönen Worten . . .■^«. — In diesem Satz deutet
er an, daß auch der Wert des menschlichen Lebens in dem sozialen
Wirken wie in dem Grad der sozialen Bedingtheit zu suchen ist.
Die Arbeit, auch die unscheinbarste, ob sie nun äußerlich oder
innerlich pflichtmäßig geschieht, ist die Verwirklichungsmöglich*
keit der sozialen Beziehungen, die den Menschen ursprünglich und
natürlich zum Menschen gesellen. Mit wohltuender Einfachheit
faßt die Grabinschrift für den »Pflanzer« Joachim Heinrich Campe ^
diese für die deutsche Aufklärung so bezeichnende Richtung ihrer
Lebensanschauung; ein solcher »Pflanzer« war auch Nicolai. Die
Allgemeine Deutsche Bibliothek ist durch mehr als drei Jahrzehnte
hindurch der Ort dieser seiner Wirksamkeit gewesen. An diesem
größten seiner Werke betrachtet er sich als die »Hebamme«; »man
hat gut der Hebamme sagen: ,sei fruchtbar!' wenn sie alle Nächte
ausgehen muß, die Geburten anderer zu befördern und zum Emp*
fangen entweder aus Arbeitsamkeit nicht Zeit oder aus Müdigkeit
nicht Lust haben kann;« es habe ihn die ganze Zeit seines Lebens
genug Verleugnung gekostet, das nicht tun zu können, was er gern
getan hätte*. In der Tat beanspruchte dieses Werk, das, wie dessen
' Göckingk S. 151.
^ Vertraute Briefe S. 62. Vgl. von hier aus seine Invektive gegen die »schönen
Geister« in Weimar, die, zumal Herder als Generalsuperintendent, für Musäus
nichts taten; »wahr ist es indessen, Herder hielt ihm eine schöne Leichenrede«.
(Göckingk S. 122.)
' J. Leyser, Jo. H. Campe, Braunschweig 1877 1, S. 88.
* »Schreiben an den Herrn Professor Lichtenberg in Göttingen« = Lessings
15
Mitarbeiter Unzer einmal an Nicolai schreibtS »ein halbes Dutzend
fleißiger Buchhändler allein beschäftigen könnte,« mehr und mehr
seine ganzen Kräfte. Aber wie er die Untätigkeit und Faulheit
haßte-, so ermöglichte ihm die rege Arbeitsamkeit das Hinweg*
kommen über schwere Stunden^ und das Bewußtsein, der Sache
der Menschheit durch die Beförderung der Wissenschaften zu
dienen, half ihm über aufkommende Unlustgefühle bald wieder
hinweg*; und als ihm Joh. Baptist Alxinger, über arge Enttäu*
schungen verdrossen, einmal schreibt^, man möchte bisweilen die
Mühe bereuen, die man auf die Wissenschaften wende, bemerkt
Nicolai am Rande: »Ja wohl, wenn's nicht wäre, daß man selbst
dadurch besser würde und andere besser machte.« Denn für eine
Beschäftigung mit den Wissenschaften um ihrer selbst willen hat er
wenig übrig, wie er von Lessings Sich* Vertiefen in die Archäologie
und historische Theologie befürchtet, daß sie ihn vom Gemein*
nützigen ableite^. Weil Nicolai das aber von aller einseitigen und
abseitigen Arbeit befürchtet, wünscht er, daß die deutschen Ge*
lehrten nicht nur an ihrem Schreibtisch, sondern in der Welt hei*
misch seien; so rühmt er, daß Thomas Abbt die Professur mit der
Stelle eines Regierungsrates ausgetauscht habe', rühmt er anJ.J.
Engel, daß er stets bemüht gewesen sei, Welt und Menschen kennen
zu lernen und ihnen zu dienen*. Denn Nicolais Streben ist überall
auf Verwirklichung gerichtet; wie man in den Mittelpunkt seiner
Polemik gegen Kant die Frage stellen muß, die er zum Titel einer
Abhandlung macht, ob Kants Moralprinzip »bei der Ausübung . .
hinreichend« sei, so hat er stets nur solche Lebensanschauungen
Sämtliche Schriften, herausgegebeij von ... F. Nicolai Bd. 26 (1794), S. XVI ; ähn^
lieh an Denis 20. VI. 70 = Aus Denis Nachlaß, Wien 1802, S. 161.
* N. N. 3.XII.71.
- Vgl. »Anhang zu Fr. Schillers Musenalmanach« S. 144 und an L. Tieck 19. XII.
97 = Briefe an Tieck ed. Holtei S. 59.
" Vgl. an Eschenburg 6. VIII. 1803 = Z. f. d. Phil. 12, 221 und an v. Halem 24.
V.99 = ed. Strackerjan, Oldenburg 1840, II, 168.
* Vgl. an Lessing 8. VIII. 71 = Lachmann*Muncker 20, 24.
* N. N.8.XII. 87.
* An Herder 17. VI. 71 ; in gleichem Sinn auch wiederholt an Lessing.
■^ Ehrengedächtnis für Thomas Abbt S. 14.
* Ehrengedächtnis für J. J. Engel S. 6 f.
16
gelten lassen, die sich in der Verwirklichung bewährten^; nicht in
der richtigen Maxime des Handelns, sondern in der richtigen Hand*
lung selbst will er den Wert sehen. —
Von diesem sozialen Pflicht* und Wertbegriff aus fällt einiges
Licht auf den Toleranzbegriff der deutschen Aufklärer. In diesem
Zusammenhange wird zugleich deutlich, weshalb der Toleranz*
begriff ihnen nicht das Fortschreiten zum Individualismusgedanken
der Genieperiode gestattete, sie sogar denselben bekämpfen ließ,
obgleich der Toleranzgedanke, der jedem Individuum das Recht
auf die Verwirklichung des Ich zugesteht, wennschon er diese nicht
fordert, dem Individualismusgedanken eng verwandt ist. Denn wie
etwa Moses Mendelssohn in einer Abhandlung, die aus Nicolais
Nachlaß, mit Anmerkungen von Nicolai versehen, von Göckingk
veröffentlicht wurde-, erst die Toleranzforderung »jeder hat seinen
eigenen Geschmack« und »über Sachen des Geschmacks läßt sich
nicht streiten« psychologisch und objektiv*ästhetisch begründet, um
dann doch zu dem Schluß zu gelangen, unter allen Arten des Ge*
schmacks müsse ein einziger »der Vollkommenheit und Glückselig*
keit der Menschen am zuträglichsten sein«, so hat auch Nicolai den
Toleranzgedanken überall da aufgegeben, wo ein extremer Indivi*
dualismus seine Ansprüche mit Hinweis auf die Toleranzforderung
geltend zu machen schien. Der Nicolaische Toleranzbegriff ist nun
von vorneherein so gefärbt, daß er nur eine Trennung des Menschen
von der gegensätzlichen Anschauung oder Leistung bedeutet; wo
sich die Toleranz auf eine gegensätzliche Anschauung bezieht,
werden wir sie noch als ein äußeres Kompromiß zu kennzeichnen
Gelegenheit haben. Wohl erkennt er also beispielsweise an, daß
nicht alle Orthodoxen intolerant und herrschsüchtig sind^, oder er
bezeugt Denis seine unverminderte Hochachtung, obwohl er weiß,
daß Denis mit ihm nicht in allen Anschauungen übereinstimmt;
allein indem er hier hinzusetzt*: »Verständige und ehrliche Leute
gehören zusammen ohne Rücksicht auf Stand, auf Religion und
' Vgl. das Schlußkapitel seines »Dicken Mann«, II, 237 ff.
'■' Göckingk S. 184ff. : »Zufällige Gedanken über die Harmonie der inneren und
äußeren Schönheit«; die zitierte Stelle S. 193 f.
■■' Sebaldus Nothanker III, 1, S. 12 f.
* An Denis 18.V. 83 a.a.O. S. 165f.; vgl. auch ebenda S. 167, und Reisebeschreibg.il.
2 Sommerfeld, Friedrii.h Nicolai 1 /
auf andere Nebensachen(l)« und sich vorbehält, soweit Denis ihm
hierin gegensätzHch erscheine, ihn anzugreifen und zu bekämpfen,
zeigt er schon den wahren Charakter seiner Toleranz, der sich völlig
erweist, wenn er in dem Schreiben an Biester Ȇber a priori und
Kants Sittengesetz« ^ sagt: »Ich halte jede Philosophie sowie jede
Theologie für um so schlechter, je intoleranter sie ihrer Natur
nach ist.« Mußte ihm nicht jedes System, das andere ausschließt,
ja jede ganz individuell gefärbte Leistung »intolerant« erscheinen,
mußte er sie nicht schlecht finden und demgemäß bekämpfen, wie
er es tatsächlich getan hat?
Der ausgesprochene Elektizismus, der mit einem Toleranzbegriff
dieser Art Hand in Hand geht, die System* und Dogmenfeindschaft,
bestimmt auch seinen Wahrheitsbegriff. Wahr kann nur sein, was
einer Vielheit von Gesichtspunkten standhält — er »widerlegt« gern,
indem er die andern »Augenpunkte« einer Sache zeigt; Wahrheit
kann nur gewonnen werden durch Entwicklung der Gedanken im
Für und Wider, niemals intuitiv, axiomatisch oder kritisch im Sinne
Kants; Prüfstein und Korrektiv jeder Wahrheit ist das Leben. Das
Bedürfnis nach Wahrheit ist weniger intellektuell als moralisch be*
dingt; es ist der Grundzug der moralischen Natur, und »der Wert
eines Menschen beruht auf seiner Wahrheit« ^ Es ist das Gebot, das
er insbesondere seiner literarischen Persönlichkeit vorschrieb, und
er hat es nicht übertreten. »Es ist mein Schicksal schon von meiner
ersten Jugend an gewesen, öffentlich importune Wahrheiten zu
sagen, und am Ende meiner Laufbahn scheint es noch eben dasselbe
zu sein,« klagt er^. Auch von hier aus war die selbst gesteckte Grenze
der Toleranz zu eng gezogen. Von seiner kleinen Erstlingsschrift an,
der »Untersuchung, ob Milton sein verlorenes Paradies aus latei*
nischen Schriftstellern ausgeschrieben habe« (1753), bis zur Schrift
gegen Buhle (1806) nimmt fast jeder seiner Schriften, die Romane
eingeschlossen, für oder gegen etwas Stellung. Hinter dieser stän*
digen Bereitschaft zur Auflehnung und Ablehnung steckt eine
kämpferische Natur, deren Streitlust sich freilich rationell beschränkt.
Lessing ruft er zu: »Gehen Sie in ein Gefecht, wo man mit Schwer*
' Philosophische Abhandlungen I, 6, 235.
- Vertraute Briefe S. 114.
^ Vorrede zur Reisebeschreibung 1,S. XV. Ähnlich an ßlankenburg 18. X. 86. NN.
18
tern um sich hauet, oder wo man sich mit Knütteln prügelt und
mit Fäusten schlägt«; nur ein Gefecht mit Sändsäcken heimtücki*
scher Gegner sei weder rühmlich noch angenehm^. Aber es ist auch
hier ein kaum auszumessender Gegensatz der Naturen: in Lessings
kämpferischer Natur liegt ein faustischer Grundzug, die Einsamkeit
des Alternden gehört zu ihr und ein »ergreifender Mangel an Glück«
(Dilthey). Zu Nicolais kämpferischer Natur bildet das natürliche
Korrelat eine ausgesprochene Lebensfreude, die sich in freundlichem
Behagen Genüge tut, und ein Bedürfnis nach umgänglicher Freund*
Schaft. In der Figur des Buchhändlers Hieronymus im »Sebaldus
Nothanker« hat Nicolai sich gezeichnet: Hieronymus »pflegte auf
Reisen die Pistolen für seine Feinde und den Wein für seine Freunde
bei sich zu führen«^. Nicolai konnte auch ein Freund sein, an dem
die Freunde durch Jahrzehnte einen Halt und eine Stütze fanden.
Lessing darf man freilich hier nicht nennen. Aber der Freundschafts*
bund mit Moses Mendelssohn war auf beiden Seiten echt und ganz,
und die Freundschaft mit Männern wie Eschenburg und Eberhard,
mit Thomas Abbt und Meinhard, mit Spalding, Biester, Göckingk
und Voß, mit Johannes v. Müller, Campe und v. Rochow — um nur
diese zu nennen — zeigt wenigstens, daß er auch geben konnte. —
Alle diese hier gezeichneten Züge, im Lebensgefühl wie in der
objektiven Lebensauffassung Nicolais zeigen schon bei flüchtiger
Vergegenwärtigung die Gegensätzlichkeit zum Sturm und Drang.
Dabei wird man jenen höchst begabten, lebendigen, zur Tiefe stre*
benden Individuen Nicolai nur als Typ gegenüberzustellen haben,
der auch bei ungleich reicherer Beanlagung, als Nicolai sie hatte,
genug Gegensätzlichkeit aufgewiesen hätte. Zeigt Nicolais Lebens*
gefühl auch in seiner Jugend eine gewisse Festigkeit und subjektive
Sicherheit, so ist für die Stürmer die tiefgehende Problematik ihrer
Existenz, der rasche Ablauf ihrer ekstatischen Lebenserhöhungen,
das ziellose Umherschweifen, die unbedenklich sich bindende und
trennende Schnellkraft, die planlosen Begegnungen mit Welt und
Leben charakteristisch. Zeigt sich in der objektiven Lebensauffassung
Nicolais eine soziale, verpflichtende, eingliedernde Tendenz, so ver*
herrlichen die Stürmer den Rausch der Verbrüderung, die prome*
' An Lessing 10. XI. 70 = Lachmann^Muncker 19, 399.
- Sebaldus Nothanker I, 6. S. 68.
2* 19
theische Geste stürmischen Aufwallens, fühlen sie den Zusammen*
bruch der von Schmerz, Haß und Hohn Zerquälten nach. Es gibt
kaum einen größeren Unterschied als etwa Goethes Art, durch das
Elsaß zu streifen oder Herders Reisetagebuch aus Frankreich, und
Nicolais Frucht seiner einzigen größeren Reise: die zwölf bändige
»Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz.
Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und
Sitten«. VC^ährend die Stürmer von einer Frau zur andern flattern,
spielt in Nicolais geistigem Leben nicht einmal die eine Frau eine
Rolle, an deren Seite er dreißig Jahre glücklich dahinlebte; der
Briefwechsel mit jener geistreichen Rokokodame aber, den der
Sechzigjährige führte, und der sich in reichlich sentimentalen Er*
güssen ergeht, liegt in Nicolais Nachlaß wohl eingeordnet zwischen
Geschäftsbriefen und gelehrten Korrespondenzen mit der Auf*
Schrift »Madame Augspurg«. Man vergegenwärtige sich ferner die
Darmstädter »Gemeinschaft der Heiligen« — und das männliche
Triumvirat Lessings, Mendelssohns und Nicolais; die Gespenster*
Stimmung des Göttinger Kreises — etwa Bürgers Verkehr mit der
gespenstergläubigen Hofrätin Listn^ und die Wirkung der »Le*
nore« auf den jüngeren Stolberg — , und Nicolais Brief an Iselin"^,
in dem er schreibt, daß auch er bisweilen »einen lebhaften Fluß
von Vorstellungen ohne Ordnung und Beziehung« empfinde, den
er durch ein »niederschlagend Pulver« zu beruhigen suche. Bürgers
Lebensgang, der einige äußere Umstände mit demjenigen Nicolais
gemeinsam hat, verdeutlicht vollends den Unterschied des Lebens*
gefühles und der Lebensauffassung Nicolais von derjenigen der
Genieperiode. Auch Bürger wird auf dem Pädagogium zu Halle
vorgebildet, ohne indessen unter dem pietistischen Zwang so zu
leiden wie Nicolai; auch Bürger wird, wie Nicolai, kaum daß er
sich den Wissenschaften ganz hingegeben hat, herausgerissen, und
in eine fremde Sphäre versetzt; aber während Nicolai ohne Murren
sich in den veränderten Pflichtenkreis fügt, und, die Hoffnung auf
ein Gelehrtenleben begrabend, Buchhändler wird, seufzt Bürger
unter dem Druck der x\scherslebener Verhältnisse und klagt, daß
er »wie von Furien entflammet einhergetrieben werde«, da er ge*
' Vgl. A. Sauer, »Gottfried August Bürgers Gedichte«, DNL 49.50, S.\1II f.
^' 26. XI. 68 NN.
20
zwungen sei, »die Blüte seiner Jugend in solch einem Nest zu ver#
geuden« und auf der begonnenen Laufbahn still zu stehen^; aber
kaum aus dieser Lage befreit, stürzt er sich in Göttingen in tausend
Zerstreuungen und vergißt die Qual, die begonnene Laufbahn
nicht vollenden zu dürfen. Und während Nicolai die ungeheure
Last der Geschäfte geduldig trägt und eine Korrespondenz, die an
Umfang vielleicht nur noch von derjenigen Lavaters übertroffen
wird, mit größter Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit erledigt,
seufzt Bürger als Amtmann von Altengleichen »unter der Last seiner
Geschäfte wie ein Galeerensklave in seinen Handschellen«; die
dringendsten Angelegenheiten müssen, wenn er seine üblen Tage
hat. Tage und Wochen lang der Erledigung harren; Briefe und
Papiere liegen »wie Kraut und Rüben« auf seinem Tische^ ; in keiner
strengen Arbeitsweise vermag er Befriedigung zu finden. — Und
alle diese Gegensätze gelten, mit gewissen Abwandlungen, auch
für die Lenz, Klinger und Wagner, ja für Hamann, den jungen
Herder und den jungen Goethe im Verhältnis zu Nicolais Vitalität.
Gegenpoliges Lebensgefühl, gegensätzliche Lebensanschauung
haben vielfache Widerstände auf beiden Seiten geweckt und genährt.
' Zitiert nach Sauer a. a. O. S. IX.
' Ebenda S. XXIII.
21
ZUR KUNSTANSCHAUUNG NICOLAIS
Was wir bei der Darlegung der wichtigsten Elemente von Nicolais
Welts und Lebensanschauung erkannten, daß es vergeblich sei,
mehr als den Rahmen zu zeigen, in den sich das Bild einspannen
läßt, muß bei der Erörterung von Nicolais Kunstanschauung noch
schärfer betont werden. Nicolai hat die verschiedensten Ansätze
gemacht, seine Kunstanschauungen in systematischer Form vorzu*
bringen, nirgends aber schließt sich der Kreis seiner Gedanken zum
System, und nur wenige dieser Gedankenkomplexe sind in seiner
Stellungnahme zu literarischen Erscheinungen — und diese bildet
ja den eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung — wirklich
fruchtbar geworden. Was Ludwig Goldstein in seiner Untersuchung
über Moses Mendelssohns Ästhetik^ erkennt, daß Mendelssohn
durch krasse Widersprüche in seinen Schriften oft in Verlegenheit
setze, und daß nicht überall ein Fortschritt zu tieferer Erkenntnis
zu verzeichnen ist, gilt in weit höherem Maße von Nicolais ästhe«
tischen Anschauungen. Besteht doch nicht einmal Gewißheit dar*
über, inwieweit Nicolai Systematiker sein wollte! Zwar hat er —
abgesehen von der einzigen systematischen Äußerung, die er abge*
schlössen hat, der »Abhandlung vom Trauerspiel«^ — wiederholt
Ansätze zu solchen gemacht; so beabsichtigte er, der Abhandlung
vom Trauerspiel eine besondere über das bürgerliche Trauerspiel
folgen zu lassen^ und für das fünfte Stück der Bibl. d.sch.Wiss.
eine Abhandlung »Von den Quellen der Künste«* fertig zu machen ;
»den deutschen Liebhabern der schönen Künste« wollte er, wie er
an Chr. L. v. Hagedorn schreibt^ ein »Lehrbuch« in die Hand ge*
ben, das ihnen zum Leitfaden dienen könnte, — aber diese Pläne
^ a. a. O. S. 19.
- 1757. Zuerst in Bibl. d. sch.Wiss. erschienen; abgedruckt bei Minor, DNL 72,
S. 327 ff., hier zitiert nach letzterem.
' An Lessing 31. VIII 1756 und am Schluß der »Abhandlung«.
* Brief an Lessing 7. IX. 57 = Lachmann «Muncker 19, 111. Vgl. den Titel der
Mendelssohnschen Abhandlung: »Betrachtungen über die Quellen und Verbind
düngen der schönen Künste und Wissenschaften« = Bibl. d. seh. Wiss. I, 2.
' Nicolai an Hagedorn 20. IV. 58. NN. = Torkel Baden, Briefe über die Kunst
an Hagedorn [Leipzig 1797], S. 240.
22
zerschlugen sich. Zwar setzt Nicolai in der »Vorläufigen Nach*
rieht« vor dem ersten Stück des ersten Bandes der Bibl. d. seh.
Wiss. auseinander, daß zur »Genauigkeit des Geschmacks,« welche
ihm, »die höchste Staffel der Blüte der schönen Wissenschaften«
ist, theoretische Grundlegung derselben notwendig sei; indessen
läßt der programmatische Charakter der »Nachricht« diese Äuße*
rung als in ihrem Werte zweifelhaft erscheinen, um so mehr, als er
der theoretischen Grundlegung hier nicht das eigentlich kritische
Urteil gegenüberstellt, sondern das instinktmäßige, das ihm jedoch
sehr fern lag, so daß der hier aufgestellte Gegensatz kein für sein
Denken eigentlich fruchtbarer sein konnte. Wichtiger wäre schon
etwa seine Polemik gegen Sulzers Satz^, daß man, um ein Kunst*
werk beurteilen zu können, nicht in der Theorie der Kunst unter*
richtet zu sein brauche, wie es bei der Beurteilung Wissenschaft*
lieber Werke der Fall sei: »Dies ist,« sagt Nicolai, »eine Folge aus
dem falschen Satze, daß alles in den schönen Künsten auf die Emp*
findung ankomme«; er will die Anschauung, die Sulzer nur auf die
Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen angewandt wissen will,
auch auf die Kunst beziehen: »Es ist eine sehr große Torheit, wenn
man durch einen Blick alles umwerfen will, was nicht anders als
durch eine Menge miteinander verbundener Ideen hat können zur
Wirklichkeit gebracht werden.« — Indessen stehen solchen die
Notwendigkeit ästhetischer^Fundamentierung behauptenden Sätzen
andere entgegen, die aller systematischen Grundlegung des kriti*
sehen Urteils widersprechen. So verteidigt er die lose Form seiner
»Briefe über den itzigen Zustand« gegen den Einwurf der mangeln*
den systematischen Ordnung der vorgetragenen Gedanken, und
spöttelt über die Zumutung, »ein artig metaphysisch*ästhetisches
Tractätgen« zu schreiben, »worinnen doch wenigstens jeder Ab*
schnitt in seine Paragraphen eingeteilet wäre^;« ja er sagt ausdrück*
lieh, daß seine Absicht nicht war, ein »Lehrgebäude« zu liefern,
sondern »bloß Gelegenheit zur Bestreitung gewisser allgemeiner
Vorurteile zu geben«. Und gerade gegen Sulzer wendet er ein, daß
er »die Künste einem theoretischen System unterwerfen« wolle: »so
' In Sulzers »Pensees sur l'origine et les emplois des sciences et de beaux arts«,
die Nicolai Bibl. d. seh. Wiss. I, 2, 388 bespricht.
- Briefe itz. Zust. S. 6.
23
soll man niemals verfahren, sondern vielmehr Aestetiken allemal
a posteriori aus praktischen Bemerkungen zusammensetzen'«.
Oder er bemerkt, Shaftesbury'sche Folgerungen aus ästhetischen
Grundsätzen als »ziemlich seicht« tadelnd : »es gehet sehr leicht also,
wann ein Philosoph aus der Theorie allzuweit schließen will-.« Er
macht sich darüber lustig, daß ein Franzose, der Professor Cacault,
in den wiederholten Gesprächen mit Nicolai immer wieder auf die
obersten Prinzipien des kritischen Urteils — allerdings die dogmati»
sehen des französischen Klassizismus — zurückgehen will \ wie er im
Alter über die intellektuelle, zum System strebende Ästhetik ins*
besondere Friedrich Schlegels, spottet*. So tadelt er »die Erforscher
der Ursachen, was rühren, gefallen oder mißfallen könne,« weil sie
für die Begründung der Prinzipien ihrer Ästhetik »die Menschen
alle zusammen in eine Klasse zwingen«^; und in logischer Konse*
quenz dieses Standpunktes, der sich gegen die abstrahierende, nor«
mierende Ästhetik verwahrt, will er höchstens eine induktiv empi?
risch gewonnene Kunsttheorie^. »Wenn man die Gedichte der be*
rühmtesten (!) Meister untersuchte, und entwickeln wollte, wie sie es
angefangen, um uns zu gefallen, und zugleich mit Genauigkeit zu be*
stimmen suchte, was in unserer Seele vorgeht, wenn uns ein komisches
Heldengedicht von dieser und jener Art gefällt, so würde man zu
einer sicherenTheorie dieser Art von Gedichten gelangen können''.«
So ist denn auch sein einziger systematischer Beitrag zur x\sthetik,
die Abhandlung vom Trauerspiel, stark psychologisch gerichtet.
' An Chr. L. v. Hagedorn 19. I. 60 = Torkel Baden S. 262.
- In s. Anmerkung zu s. Übersetzung der Betrachtungen Shaftesburys »Über das
Gemälde vom Urteil des Hercules« ^= Bibl. d. sch.Wiss. II, 1, S. 37.
^ Nicolai an Lessing: »Febr. 1773« = LachmannsMuncker 20, 243.
* »Hohe Ästhetik, so nennt er — Gustav, das .Genie' — das Ding, womit er
über den Wert der Maler und Dichter en dernier ressort entscheidet, und uns
belehrt, was uns ausschließlich gefallen soll, und sonst nichts bei Strafe zu mil^=
fallen.« Vertraute Briefe S. 55. — Vgl. auch seinen Spott gegen die kritisch;ästhe=
tischen Philosophen im »Sempronius Gundibert« (S. 175), die in dem philo«
sophischen Reichstag »ohne Rücksicht auf die empirischen Poeten« »jede urs
sprüngliche Dichtart in ihre ewigen Grenzen feststellen wollten«.
° Nicolai im — gemeinsam mit Th. Abbt verfaßten — 205 ten Literaturbrief.
* Dieselbe Forderung erhebt Mendelssohn gegenüber Baumgartens Methode
Bibl. d. sch.Wiss. III, 1. vgl. Braitmaier II, S. 144.
■ Bibl. d. sch.Wiss. IV, 1, 539.
24
Wenn trotz dieses schwankenden Verhaltens Nicolais gegenüber
systematischer Begründung seiner ästhetischen Urteile dennoch
hier der Versuch gemacht wird, die ästhetischen Urteile einer tiefer
liegenden, umfassenderen Schicht seiner Gedankenwelt zuzuführen,
so läßt sich dieses Verfahren methodisch rechtfertigen. Moses
Mendelssohns ästhetische Anschauungen bilden hier eine will*
kommene Stütze, da seine ästhetischen Urteile durchweg mit den?
jenigen Nicolais in Übereinstimmung sind; man muß aber freilich
Nicolais Elektizismus gerecht werden und kann, auf die Systemati*
sierung seiner Kunstanschauungen verzichtend, nur seine Stellung*
nähme zu einigen allerdings entscheidenden ästhetischen Problemen
darlegen, die durch seine ganze geistige Entwicklung durchgehen,
wobei man ihre Betontheit und Wirksamkeit in Nicolais einzelnen
ästhetischen Urteilen berücksichtigen muß.
Die ästhetische Gedankenwelt Nicolais ist durch die Namen
Boileau, Batteux, Brumoy und Dubos, Shaftesbury und Burke,
Breitinger, Baumgarten, Sulzer und Moses Mendelssohn abgesteckt.
Eine philosophische Begründung der Kunst hat er nirgends auch
nur andeutungsweise versucht. Kunst wird von ihm schlechthin
vorausgesetzt; da, wo er ein wenig tiefer gräbt, handelt es sich für
ihn um psychologische Fragen. Batteux' Nachahmungstheorie
bildet die Grundlage seiner Kunstanschauungen; der fundamentale
Grundsatz lautet: Die Kunst ist Nachahmung der Natur, aber nicht
die Natur selbst^. Demnach würde die theoretische Bestimmung
dieser Differenz zwischen Urbild und Abbild die Theorie der Kunst
bedeuten; statt dieser theoretischen Bestimmung indessen tritt bei
Mendelssohn, und noch mehr bei Nicolai, die psychologische Frage*
Stellung ein, die auf den Grund des Vergnügens an künstlerischen
Werken gerichtet ist und einzig die psychische Differenz zwischen
der Reaktion auf das »natürliche« Urbild und derjenigen auf das
künstlerische Abbild zu ermitteln strebt. Hier ist Mendelssohns
Illusionstheorie, deren Bedeutung für die Mendelssohnsche
' Auf dem Boden dieses Grundsatzes steht Nicolai mit voller Bewußtheit z. B.
in der Polemik am Beginn des 239. Literaturbriefes. Ergibt dort dem anerkannten
BatteuxschenSatz die Mendelssohnsche Fassung, daß es sich bei der Nachahmung
nicht um »schöne Gegenstände in der Natur«, sondern um schöne Nachahmung
handele.
25
Ästhetik zuerst Ludwig Goldstein erkannt hatS eine Lösung, der
sich auch Nicolai angeschlossen hat, ja anschließen mußte. In einer
seiner ausführlichen Anmerkungen, die Nicolai seiner Übersetzung
der Shaftesburyschen Abhandlung »Über das Gemälde vom Urteil
des Hercules« beigefügt hat^, verteidigt er die Verwendung der
Allegorie in Gemälden gegen Shaftesbury mit dem Nachweis, daß
die »Illusion der Malerei«, die Shaftesbury gefordert hatte, durch
Allegorien nicht gestört werde, und daß sie daher dem Kunstwerk
als solchem nicht schädlich seien; und nur, wenn er sich auf den
Boden der Mendelssohnschen Illusionstheorie stellte, konnte Ni*
colai das Problem des spezifischen Kunstgenusses lösen: denn ist
die Erhöhung des Realitätsbewußtseins durch Affekte, die Erregung
der Leidenschaften an sich, ohne Hinblick auf die Wirkungen dieser
Erregung, die er in seiner »Abhandlung vom Trau erspiel «^ als Sinn
der Kunst (d, h. hier der Tragödie) hinstellte, nicht in höherem
Maße auch als Reaktion auf Naturobjekte oder *begebenheiten
denkbar? Einzig, wenn die Erregung der Leidenschaften von den
oberen Seelenkräften ^ als ästhetische Illusion erkannt wird*, ist eine
besondere Kunstwirkung von der Wirkung , natürlicher* Eindrücke
unterscheidbar — und an der Tatsache dieser besonderen Wirkung
hing, wie wir uns vergegenwärtigten, Nicolais Begründung der
Kunst überhaupt. — Stand aber Nicolai auf dem Boden der Mendels*
* L. Goldstein a. a. O. S. 124 ff. Auch R. Petsch in seiner Einleitung zu Bd. 121
der Philosophischen Bibliothek sieht in der Illusionsästhetik Mendelssohns den
Kern seiner ästhetischen Anschauungen.
- Bibliothek der schönen Wissenschaften II, 1, 44; den Plan einer vollständigen
Shaftesbury=Übersetzung in Verbindung mit Mendelssohn, mit ausführlichen Er^
läuterungen und Zusätzen bezeugt Nicolai im Brief an Gerstenberg vom 21.111.
67 = Z. f. d. Phil. 23, 52 und im Ehrengedächtnis für Th. Abbt, S. 16.
* Nicolai akzeptiert diese ihm zum mindesten durch Mendelssohn geläufige
Unterscheidung zwischen den unteren und oberen Seelenkräften: Bibliothek
der schönen Wissenschaften 1, 2, 388 (gelegentlich der Rezension von Sulzers
Pensees sur l'origine et les emplois . . .).
* Vgl. § 12 der »Herrschaft über die Neigungen«. Schriften ed. G. B. Mendels*
söhn IV, 1, S. 39 ff. Zuerst aus Nicolais Nachlaß, mit Anmerkungen von Nicolais
Hand versehen, von Göckingk fS. 175 ff.) veröffentlicht. »Soll eine Nachahmung
schön sein, so muß sie uns ästhetisch illudieren, die oberen Seelenkräfte aber
müssen überzeugt sein, daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst
sei.«
26
sohnschen Illusionstheorie, so ergibt sich daraus nach zwei Seiten
hin eine eigentümliche formale Beschaffenheit seiner Kunstanschau=
ungen. Einmal die Behauptung und folgerechte Vertretung eines
Realismus, der zwischen den Ansprüchen des Naturalismus und
phantastischer, oder im Ausdruck der Zeit, , imaginativer' Kunst
nicht vermittelnd, sondern nach beiden Richtungen abwehrend, die
Mitte hielt; andererseits die Begründung einer Auffassung, die das
Kunstwerk nicht als fertiges, unabänderliches, auf sich beruhendes
Gebilde hinnehmen will, sondern als etwas Unverbindliches, leicht
in fremde Beziehungen zu Versetzendes; die das Bestimmbare, das
Genetische des Kunstwerks ins Auge faßte und sich vom Werk zum
Künstler wandte. Mendelssohn hat selbst diese Folgerungen aus
seiner Illusionstheorie gezogen; diese letztere im 13. Paragraphen
der »Herrschaft über die Neigungen« \ wo er folgert, daß nicht die
Nachahmung an sich uns vergnüge, sondern »die Geschicklichkeit
des Künstlers, der sie zu treffen gewußt hat«; jene erstere hat Lud=
wig Goldstein nach Sätzen der Mendelssohnschen »Rhapsodie«-
treffend zusammengefaßt: »Alle Kunst, welche die Natur nachahmt,
soll das möglichst getreu tun, dabei aber doch die ihr gesteckten
Grenzen nie überschreiten, vielmehr den Schein materieller Wesen*
heit, den ihre Werke hervorrufen, auch selbst aufrichtig zerstören.
Ästhetische Illusion ist ihm nicht grobe Sinnestäuschung, die Nach*
ahmung als Natur vorspiegelt, sondern . . . die intuitive Überzeugung
von der größtmöglichen Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Abbild,
ohne daß zur Erreichung dieses einen Zieles der nachahmenden
Kunst andere Mittel angewandt worden wären, als die ihr eigentüm*
liehen und erlaubten.« —
Mendelssohn wehrt sich überall, wo er die Nachahmungstheorie
vertritt, entschieden gegen die Ansprüche des Naturalismus.
X'C'enn er in dem Aufsatz »Über die Hauptgrundsätze der schönen
Künste und Wissenschaften« »das Wesen der schönen Künste und
Wissenschaften« als »künstliche sinnlich vollkommene Vorstellung«
oder als eine »durch die Kunst vorgestellte sinnliche Vollkommen*
heit« definiert, so bemerkt er gleich ausdrücklich: »Die Vorstellung
' Schriften IW^.
- »Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen« 1761 ers
schienen. L. Goldstein S. 133.
27
durch die Kunst kann sinnlich vollkommen sein, wenn auch der
Gegenstand derselben in der Natur weder gut, noch schön sein
würde ;« und in der für seine (wie für Nicolais) ästhetischen Grund*
sätze so außerordentlich wichtigen Besprechung von Rousseaus
»Nouvelle Heloise« (im 166.70. Literaturbrief) sagt er noch aus*
drücklicher: »In der Natur kann vieles sein, das in der Nachahmung
unnatürlich ist.« Diese Abwehr des Naturalismus ist auch ein we=
sentliches Kennzeichen der Nicolaischen Kunstanschauung, die ja
gleichfalls auf dem Boden der Nachahmungstheorie steht. Er unter*
scheidet, wiederum in einer seiner Anmerkungen zu der Shaftes*
bury*Übersetzung-, ausdrücklich eine poetische Wahrscheinlichkeit
im Gegensatz zur »historischen«, d. h. ereignismäßig*natürlichen.
So tadelt er die Reiseerzählung »Hercynia« von Zachariae, weil
darin die dargestellte Reise »so historisch erzählet wird, als sie
vorgegangen sein mag, fast ohne die geringste poetische Anlage«^.
Und in der — gemeinschaftlich mit Mendelssohn verfaßten —
ausführlichen Besprechung von Jacobis »Winterreise« wird der
Naturalismus zwar nicht theoretisch abgewehrt, aber seine charak*
teristischen Ausprägungen als unkünstlerisch dargestellt in dem
Satze*: »Der Mann von reifer Vernunft und tiefer Kenntnis des
menschlichen Herzens wird die Natur nehmen wie sie ist, in
ihrer großen Vermischung von Gutem und Bösem, von Schö*
nem und Häßlichem; aber er wird in die Tiefe des menschlichen
Herzens eindringen und die sanften Empfindungen der Menschlich«
keit aus den geheimsten Winkeln hervorsuchen, wo sie zuweilen
unter dem Scheine des Niedrigen und Unanständigen verborgen
liegt.«
Die Abwehr nach der anderen Seite, der phantastischen, ,imagi*
nativen' Kunst, die ihre Berechtigung ebenfalls aus der Illusions*
theorie herleiten könnte, in dem sie die Imagination als entschei*
dendes objektives wie subjektives Unterscheidungsmerkmal der
Nachahmung von der nachgeahmten Natur setzt, ist für Nicolai
ebenso notwendig. »Der Poet ist niemals berechtigt, dem Hange
' Zuerst erschienen: Bibl. d. sch.Wiss. II, 1.
• ^ Bibl.d. sch.Wiss. II, 1. S. 38.
■'• A D Bibl. IV, 1, 218.
' A D Bibl. XI, 2, S. 16 17.
28
einer wilden Hitze zu folgen,« sagt Nicolai im 7. der »Briefe über
den itzigen Zustand . . .«^; »die ganze Natur ist reich und uner*
schöpflich genug (den Künstlern) Stoff zu ihrer Erfindung zu ge*
ben; wozu ist es denn nötig, eine Sache mit lauter Hirngespinsten
zu verzieren?« fragt er im 47. Literaturbrief; es ist der Standpunkt,
den Lessing mit psychologischer Wendung im 8. Literaturbrief
formuliert hat: »Sind Ausschweifungen der Einbildungskraft Emp*
findungen? Wo diese so geschäftig ist, da ist ganz gewiß das Herz
leer, kalt.« So verurteilt Nicolai die »Schöpfung der Hölle« von
Zachariae, weil sie reine Imagination sein wolle"-; so wendet er sich
im 184. Literaturbrief dagegen, daß Dichter, ihrem religiösen Ge*
fühl freien Lauf lassend, aus reiner Phantasie »auf Gottes Rech*
nung Sachen erdichten«. Und in Überlegungen über die Imagi*
nation, die Göckingk aus Nicolais Nachlaß veröffentlicht hat^, er*
kennt er, »daß die menschliche Imagination überaus dürftig ist,
wenn sie nicht von Gegenständen der wirklichen Natur ausgeht«;
und der Satz »man weiß, was für Sprünge die Einbildungskraft
tut, wenn sie einmal anfängt, mit dem Verstände davon zu laufen*,«
ergänzt diese Betrachtung nach der anderen Seite. Diese Abwehr
verschärft sich mit zunehmendem Alter, bis er an Tieck schreiben
kann: »Das Reich der exzentrischen Imagination ist einförmiger
als es dem Faulen scheint, der gern selbstgefäUig darin herum*
spazieret; das Reich der Natur ist höchst mannigfaltig, aber es ist
nicht so leicht zu erforschen; wer es aber zu erforschen und inte*
ressant (1) darzustellen weiß, findet Wahrheit und Leben, da jener
bloß Träume findet^.«
Zwischen diesen beiden Extremen, der imaginativen Kunst und
dem Naturalismus, liegt das eigentliche Feld von Nicolais Kunst*
anschauungen ; er sucht jedoch nicht bewußt zu vermitteln, sondern
betrachtet vielmehr seine Anschauungsweise als den Ausgangs*
punkt, von dem aus durch vernunftwidrige Übertreibung jene Ex*
treme erreicht werden können. Wie Theokies im dritten der Men*
' S. 66.
' Litbrief 184/5.
' Göckingk S. 111.
^ ADBibl. 26, 1,272.
' An Tieck 19. IL 97, ed. Holtei S. 59.
29
delssohnschen »Briefe über die Empfindungen« (1755)^ ausein*
andersetzt, daß weder ein völlig deutlicher, noch ein völlig dunkler
Begriff sich mit dem Gefühl der Schönheit verträgt, und daß zwi*
sehen den Grenzen der Klarheit also alle Begriffe der Schönheit
eingeschlossen sein müssen, so hat auch Nicolais Kunstanschauung
sich einzig zwischen diesen Grenzen bewegt. »Meine Art zu den*
ken,« heißt es in den »Briefen über den itzigen Zustand« (Nr. 13)
»ist nicht sowohl Mittelmäßigkeit, als vielmehr die Mittelstraße
zwischen den Ausschweifungen, die zum Schwulst und Unsinn
leiten, und der Furchtsamkeit, die uns niemals erlaubet, uns über
unsere alten Vorurteile zu erheben.« Die richtige Beobachtung des
empirischen Lebens führt diese Mittelstraße. Eine solche Beobach*
tung aber verlangt er vom Dichter; die Wahl des Stoffes, wie die
Darstellungsweise soll diesem Grundsatz entsprechen. Denn die
Poetik der Aufklärung verbindet, wenn sie die Nachahmung der
Natur fordert, mit dem Begriff »Natur« keine sinnlich* plastische
Vorstellung, sondern die abstrakte Vorstellung des »Natürlichen'-;
das subjektiv Natürliche mit dem objektiven Naturleben zu ver»
binden, war der Sinn ihrer Forderungen an den Künstler, Diese
Forderung erhielt bei Nicolai eine spezielle Färbung dadurch, daß
er den Deutschen eine allgemeine UnvoUkommenheit in der Beob* •
achtung, ja in der Kenntnis des objektiven Naturlebens vorwerfen
muß. Immer wieder weist er darauf hin, daß die deutschen Dichter
»aus dem Innern ihres Kabinetts« schreiben. »\X^lr Deutsche sind
Buchmenschen, eine schreibende Nation,« klagt er einmaP; »alle
Empfindungen gehen für uns verloren oder werden nur mangelhaft
ausgedrückt, die nicht können gelesen werden.« »Weder unsere
Wissenschaft . . . noch unsere Poesie entspricht unserer Welt.«
Demgegenüber betont er, seit dem 7. seiner »Briefe über den itzigen
Zustand« die Notwendigkeit, das reale Leben zur Grundlage des
dichterischen Ausdrucks zu machen, die »Kenntnis der Welt und
des menschlichen Herzens« als Vorbedingung für alles ersprieß*
^ Auf die »vortrefflichen Briefe über die Empfindungen« beruft sich Nicolai
wiederholt in der »Abhandlung vom Trauerspiel«.
- Vgl. Erwin Kircher, »Volkslied und Volkspoesie in der Sturm= und Drangzeit
= Zeitschrift für deutsche Wortforschung (1903) 4, S. 14 u. S. 17.
' Göckingk S. 128 f.
30
liehe dichterische Schaffen \ zumal wenn der Dichter originale Ge*
stalten prägen wolle ■'. Dementsprechend soll auch die Darstellungs«
weise realistisch sein, d. h. sich nur solcher Mittel bedienen, die
durch den StofiF gerechtfertigt sind'^. —
An der Stellungnahme zu einem besonderen Problem, der Frage
nach dem Verhältnis von Kunst und Moral, die innerhalb der
Nicolaischen Kunstanschauung besonders einheitlich gelöst wor*
den ist, erweist sich dieser Realismus wirkungsvoll.
Nicolais Stellungnahme ist auch in dieser Frage von derjenigen
Moses Mendelssohns stark abhängig. Zwar scheint es, als ob er in
der »Abhandlung vom Trauerspiel« gegen Mendelssohns in den
»Briefen über die Empfindungen« geäußerte Ansichten über das
Verhältnis von Kunst und Moral polemisiere; in Wahrheit sucht
er dort nur den Anschluß an Mendelssohns Ansichten: Mendels*
sohns Dualismus der Moralität des Lebens und der Bühne, — daß
das moralisch Gute nicht ohne weiteres auch theatralisch gut sei —
wird von Nicolai hier seiner Allgemeingültigkeit entkleidet und
im übrigen dahin erläutert, daß die der wahren Sittlichkeit wider*
streitenden theatralischen Handlungen gewissermaßen durch »die
starke Bewegung, worin sich die handelnde Person befindet, ent*
schuldigt werden«. Gehöre es auch nicht zum Zweck der Tragödie,
»die Tugend als belohnt und das Laster als bestraft« darzustellen,
so werde doch ihr eigentlicher Zweck, die Erregung der Leiden*
Schäften, nur unvollkommen erreicht, wenn ein Widerspruch zwi«
sehen unserer Anteilnahme und der erhofften Rührung bestünde,
vvas z. B. der Fall wäre, wenn der Tugendhafte unterginge usw.
Zwar ist also der eigentliche Zweck der Tragödie, den Nicolai mit
größtem Nachdruck betont, einzig die Erregung der Leidenschaften
an sich, ohne die Bewirkung einer irgendwie verstandenen »Reini*
gung« von den vorgestellten Leidenschaften — es sei nun die Reini*
gung^n den dargestellten Personen oder im Zuschauer; indessen
setzt er die Übereinstimmung dieses wahren Zweckes der Tragödie
mit den Ansprüchen der wahren Sittlichkeit voraus; denn die Wir*
kung, welche die Erregung der Leidenschaften hervorbringen soll,
■ AD Bibl. ]4, 1,214.
- Vgl. d. 224. Literaturbrief.
' Vgl. Briefe itz. Zust. Nr. 7, S. 58 u. S. 66.
31
die Erhöhung unseres ReaHtätsbewußtseins, wird durch den Wider*
streit von poetischer und wahrer Sittlichkeit aufgehob(5n oder doch
erhebHch beeinträchtigt. Auch hier also eine Stellungnahme, die
zwei Extremen die Mitte hält: den Ansprüchen einer Kunst, die
den Menschen einzig als leidenschaftlich bewegten oder leiden*
schaftlichen Beweger sieht, — wie es die Dramen des Sturms und
Drangs tun — und den rein rationalistischen Forderungen gegen*
über, welche die Leidenschaften des Menschen durch die Gesetze
der Moral besiegt sehen wollen, — wie etwa Sulzer, dessen Betrach*
tungsweise er im 14. seiner »Briefe über den itzigen Zustand« ab*
lehnt — vertritt Nicolai einen »realistischen« Standpunkt; das Kunst*
werk, das er meint, bedeutet eine, durch die Kunst des Dichters^
herbeigeführte Ausgleichung zwischen dem leidenschaftlichen
Drang des Menschen und seiner Unterwerfung unter die Moral.
In diesem Kunstwerk fallen Kunst und Moral zusammen: »Unter
dem Moralischen verstehen wir alle vernünftige Schilderungen
der menschlichen Leidenschaften,« konnte der Übersetzer mit
Shaftesbury sagen ^, dieses Kunstwerk erreicht den Zweck der un*
getrübten Erregung der Leidenschaften am vollkommensten, da
hier, um mit Mendelssohn zu sprechen, die Empfindungen der
oberen und der niederen Seelenvermögen zusammenfallen. So ist
für Nicolai die Schaubühne keine moralische Anstalt — aber auch
keine um die Moral ganz unbekümmerte. »Die Grille, daß die
Schaubühne eine Sittenschule sei,« sagt er im 201. Literaturbrief,
»wird alle Tage durch die Erfahrung widerlegt; wann sie es wäre,
so müßten die Stücke, welche sehr moralisch sind, auch die besten
Stücke sein. Es ist wahr, man fordert mit Recht von der Schaubühne,
daß sie gesittet sei; das ist, daß sie den guten Sitten nicht hinder*
lieh sei, sondern vielmehr dieselben, wo es die Gelegenheit zulasset,
befördere; sonst beruhet die Anordnung eines Schauspiels auf Re*
geln, die mit der Sittenlehre nicht das geringste gemein haben ^.
' Das betont auch Thomas Abbt im 231. Literaturbrief (S. 258).
- Nicolais Übersetzung von Shaftesbury erwähnter Abhandlung. Bibl. d. seh.
Wiss. II, 1, S.42.
■' Vgl. hierzu Briefe über den itzigen Zustand Nr. 15, S. 119, und s. Brief an
Lessing v. 7. IV. 72 (= Lachmann^Muncker 20, 157 f.), wo er sich darüber lustig
macht, daß einige Kunstrichter sich beschweren, in der »Emilia Galotti« sei
32
Noch klarer formuliert er seinen Standpunkt Herder gegenüber^:
»Wenn in unsern zivilisierten und durch systematische Wissen*
Schäften aufgeklärten Zeiten die Poesie nur bloß eine erlaubte Er?
götzung ist, so verliert sie dennoch nicht allen moralischen Nutzen,
wenn sie auch nicht geradezu die Moral predigt. Jede Entwick*
lung von Geisteskräften, jede Zurückrufung von rauhern
und kindischen Vergnügungen zu solchen, die einer senti*
mentalen Wendung fähig sein (sie), jede vermehrte Emp*
findsamkeit, hat einen moralischen Nutzen.« Hier zeigt
sich deutlich, daß er keine moralische, sondern eine gesittete Kunst
wünscht; daß die Erregung der Leidenschaften weder Selbstzweck
ist, noch zur unmittelbaren Hervorbringung moralischerWirkungen
dienen soll; vielmehr dient sie einer Bereicherung, Erweiterung und
Veredlung des geistigen Lebens. —
Es wurde oben schon angedeutet, daß aus dem Standpunkt der
Illusionsästhetik, gemäß Mendelssohns eigener Folgerung, sich noch
nach einer anderen Seite hin ein bestimmter formaler Zug der Nico*
laischen Kunstanschauung logisch herleiten läßt; ein kausaler Zu*
sammenhang läßt sich freilich auch hier nicht nachweisen. Es handelt
sich hier um diejenige Richtung seiner prinzipiellen Anschauungen
über die Kunst, die Mendelssohn dahin aussprach, daß nicht die
Nachahmung an sich uns vergnüge, sondern die Geschicklichkeit
des Künstlers, der sie zu treffen weiß. So wird der Schwerpunkt des
Anschauungskernes vom Kunstwerk fortgerückt; überall wird das
Bestimmbare, das Genetische ins Auge gefaßt, nicht das Ruhende,
Fertige, Abgeschlossene. Nicht das Werk an sich, sondern ,der
Künstler und sein Werk' ist das Thema von Nicolais Überlegungen
über die Theorie der Kunst. Es handelt sich für den Theoretiker
Nicolai nicht mehr wie etwa für Gottsched um die Maßstäbe, mit
denen mehr oder minder schematisch die Grenzen der Kunst ge«
messen werden können, sondern um die Theorie der dichterischen
Produktion. Mit dieser Wendung seiner Ästhetik stand Nicolai frei*
lieh nicht allein; sie erscheint vielmehr als das eigentliche, bezeich*
nendste Moment der Zeitströmung im engeren Sinne, die Nicolai
die poetische Gerechtigkeit zu kurz gekommen, weil Marinelh nicht be=
straft sei.
1 Nicolai an Herder 21. III. 72 = O. Hoflfmann S. 74.
3 Sommer Feld, Friedlich Nicolai 33
vertrat; das Erbe der Schweizer, Baumgartens und J.E.Schlegels,
wird von Mendelssohn und Nicolai höchst fruchtbringend ver«
waltet^.
Bestimmte Gedankenkomplexe, durch die öffentliche Diskussion
mit dem — gerade auf die stark journalistisch veranlagten »Berliner«
einwirkenden — Reiz der Aktualität ausgestattet, haben diese Wen»
düng zudem verstärkt. Sie traten losgelöst aus einer umfassenden
Kunstlehre als selbständige Probleme an den unsystematischen Ni=
colai heran. Der Originalgedanke und der Geniegedanke,
durch Youngs Cbnjectures on Original Composition (1759)^ in ein
neues, in Zukunft fruchttragendes Stadium getreten, wurde bald
allgemein aufgegriffen, und die Auseinandersetzung mit diesen Ge*
danken hat Nicolai so sehr in Anspruch genommen, daß alle anderen
Blickrichtungen für ihn zeitweilig verdeckt waren.
Die Auseinandersetzung Nicolais mit diesen Gedanken mußte
um so intensiver sein, als er selbst in den »Briefen über den itzigen
Zustand« sie mit achtungswertem Verdienst vier Jahre vor Young
vertreten hatte. »Könnten Leute, die nur einen Funken des göttlichen
Feuers haben, das in einem Dichter lodern soll, so viel matte und
prosengleiche Reime, so viel kalte und nichts bedeutende Prose her*
fürbringen, als wir von allen Seiten her um uns sehen ? DasGenie,
die vivida vis animi, ist die einzige Tür zu dem Vortrefflichen
in den schönen Wissenschaften; Gelehrsamkeit und x\rbeitsamkeit,
mit der unsere schlechten Schriftsteller dasselbe ersetzen wollen,
dienen nur den Mangel desselben zu verraten;«^ in diesem Satze ist
das Problem des Geniegedankens ausgesprochen und anscheinend
im Sinne Youngs gelöst: Das Genie wird als die ursprüngliche An*
läge gesetzt, deren der große Künstler bedürfe, und ohne die er trotz
aller Bemühungen nur Mittelmäßiges leisten wird. In einem anschau*
liehen Bilde umschreibt er die Bedeutung einer ursprünglichen na*
türlichen Anlage: »Es gehet dem Herrn Prof. (Gottsched) mit den
Deutschen, wie der Flenne, die junge Entchen ausgebrütet hatte;
^ Vgl. E. Braitmaier I, 35 und II, 188. Diese psychologische Wendung in der
Kunsttheorie der Zeit hebt auch R. Unger, Hamann und die Aufklärung, S. 95ff.,
insbesondere S. 100 hervor.
' Vgl. Literaturbrief 172.
' Brief, itz. Zust. Nr. 18. S. 146.
34
sie fliehen der Stiefmutter*Stimme . . . und wagen sich ohne Bedenken
in die Wellen, zwischen denen der Herr Prof. zu ertrinken befürchtet;
nun kann er sich nicht enthalten, aus patriotischem Eifer wider diese
Kühnheit zu rufen — und dieser Eifer verhindert ihn zu bemerken,
daß die Natur diesen Wagehälsen das verliehen hat, was
sie ihm zu versagen für gut befunden hat\« Indessen stehen
diese Sätze allein, und sind von Nicolai später sehr eingeschränkt
worden ; die Gegenprobe, daß das Genie allein, ohne jede Schulung
den Künstler zu großen Leistungen begäbe, vertrugen sie wohl
nicht. Diese Ergänzung ist es besonders, die Dubos in den von
Nicolai in der »Bibliothek der schönen Wissenschaften« - übersetzten
»Reflexions sur la Poesie et sur la Peinture« betont. »Das Genie
gleichet einer Pflanze, welche sozusagen von selbst hervorkeimet;
soll sie aber gute und viele Früchte tragen, so muß sie sorgfältig
gewartet werden. Das glücklichste Genie kann nicht anders als durch
eine vieljährige Bemühung vollkommen werden,« heißt es da; das
Genie müsse sich am Stoffe bilden; freilich könne nur das Genie
sich des Stoffes eben auf die Weise bemächtigen, die es zu vortreff=
liehen Leistungen befähige. Es ist also eine Wechselwirkung von
natürlicher Anlage und schulmäßiger Bildung notwendig. Aber wie
eng erscheintDubos' Geniebegriff gegenüber dem Hamann^Herder*
sehen, von wie ganz anderer Art, da er im Menschen nicht als wir*
kende Kraft auftritt, sondern nur als eine Fähigkeit, die demgemäß
auch nur auf ein Gebiet beschränkt bleibt! Wie viel fruchtbringen*
der war deren philosophisch^religiöse Begründung als Dubos' phy*
siologische! Nicolai aber scheint seinen Geniebegriff an Dubos re*
vidiert zu haben, oder die oben erwähnte Bezeichnung des Genies
als der »vivida vis animi« war eben nur eine Floskel — eine innere
Wandlung ist hier kaum anzunehmen ; denn nun vertritt er einen
Standpunkt, der wohl praktisch gelegentlich weitherziger ist als der*
jenige Dubos', aber stets in dessen Geist die Wechselwirkung von
' In Brief, itz. Zust. Nr. 2, S. 11. Vgl. auch Sempronius Gundibert S. 323: »Mit
der Philosophie ist es ebenso beschaffen, wie mit der Poesie. Man muß dazu
geboren sein, und ein mittelmäl^iger Philosoph ist gar kein Philosoph, so wie
ein mittelmäßiger Poet gar kein Poet ist.«
^ Bibliothek der schönen Wissenschaften 111, 1. Bes. Abschnitt 5—7: »von der
Beschaffenheit des Genies einiger Dichter und Maler«,
5' 35
natürlicher Anlage und schulmäßiger Bildung betont. Auf Dubos'
Standpunkt zeigt ihn der einschränkende Satz: »Ein Genie, das sich
außer seinen Zirkel macht, sollte bedenken, wie leicht es in solchen
Fällen ist, bei allen übrigen Talenten wenig Ehre einzulegen^«; oder
wenn er den Satz eines Ästhetikers »die gelehrten Theoreten ver*
derben die besten Genies« höhnisch glossiert'-. Zwar erkennt er:
»Was einmal in der ersten Anlage verfehlet worden, pflegt selten
zur gänzlichen Vollkommenheit zu gedeihen,^« aber er entscheidet
sich doch, wenn er die Entwicklung des Künstlers ins Auge faßt,
dahin: »Niemand wird auf einmal ganz vollkommen; jedermann
muß erst Lehrlingsstücke machen, und selbst die größten Geister
sind hiervon gar nicht ausgenommen.« Und wenn Lessing, auf
Shakespeare hinweisend, erkennt, daß »ein Genie nur von einem
Genie entzündet werden kann, und am leichtesten von so einem,
das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheint und durch die
mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket«, so hebt
Nicolai diesen Satz auf, wenn er sagt^: »weil Shakespeare mehr
Genie hat, ist aus ihm mehr zu lernen«. Hier wird das »Genie«
Shakespeare nicht als etwas Beglückendes, wegen seiner unmittel*
baren Wirkung auf den Leser oder Zuschauer empfunden wie von
Herder und Goethe, sondern als ein Vorbild — für die Nachahmer!
Und in dem von Nicolai gemeinsam mit Abbt verfaßten 204. Lite*
raturbrief wird zwar erkannt, daß »nichts schädlicher ist als Regeln,
die das Genie einschränken und es so zu sagen, hindern auf seine
eigenen Füße zu treten«, aber Youngs Satz: »Die Regeln sind
Krücken, welche nur der Kranke gebraucht, der Gesunde hingegen
wegwirft,« wird »als nicht völlig richtig« angezweifelt; und der un*
mittelbar folgende Satz — »nirgend sind solche Regeln häufiger als
in Systemen, die Leute von seichter Einsicht bauen« — spricht nur
die schon dargestellte Ablehnung systematischer Ästhetik aus und
setzt zudem den möglichen Fall, daß ein Mensch von vollkommener,
tiefer Einsicht solche Regeln aufstellen könnte, die auch das Genie
nicht einschränken. Es zieht sich durch die ganzen Erörterungen
' Im 278. Literaturbrief.
- A D Bibliothek 12, 2, 95. Rezension von »Theoretischen Abhandlungen über
die Mahlerey und Zeichnung«, Frankfurt und Leipzig 1769.
' AD Bibliothek V, 1, 295.
36
dieses Literaturbriefes das Bestreben, die Mitte zu halten zwischen
der Anschauung, die dem Genie alle Rechte zugestehen will, und
derjenigen, die es in strenge Grenzen gebannt wissen will — wenn
auch die Anerkennung einer ursprünglichen, natürlichen Veran*
lagung des »Genies« bestehen bleibt. Vergegenwärtigt man sich
außerdem, daß Nicolai — Ramler ein »Genie« nennt S daß er auch
Geßner^, Iselin und Wieland'' diese Bezeichnung gibt; bemerkt man,
daß er mit Dubos* meint, der gute Dichter könne seine vorzüg«
lichsten Leistungen erst im mittleren Lebensalter hervorbringen^,
so wird man den Wert des Nicolaischen Geniebegriffes für seine
Kunstanschauungen gewiß nicht zu hoch veranschlagen können;
auf jeden Fall zeigt sich, daß er im Geist weit entfernt ist von dem«
jenigen des Sturms und Drangs; doch soll das Vorhandensein ge*
wisser Ansätze, zumal bei dem jugendlichen Nicolai, nicht ge*
leugnet werden, um so weniger, als es die scharfe Ablehnung der
Genielehre des Sturms und Drangs durch den älteren Nicolai psy*
chologisch erklärt^.
Mit dem Geniegedanken eng verwandt ist der Originalgedanke.
Entscheidet der Geniegedanke in dem Verhältnis von Kraft und
Stoff, Organischem und Unorganischem in der dichterischen Pro*
duktion zugunsten der organischen Kraft, so fordert der Original*
^ Literaturbrief 333.
- Literaturbrief 278.
' Nicolai an Iselin 20. X. 67. NN. »Das Urteil eines Genies (Iselins) von dem
anderen (Wieland) ist mir eine gewiß erwartenswürdige Sache.« (Er erwartet eine
Wieland=Rezension von Iselin.)
* In der Übersetzung von Dubos' »Reflexions« = Bibliothek der schönen Wissen^
Schäften IV, 1, S. 426.
" Göckingk S. 134. Nach Göckingks Angabe zwischen 1755—60 geschrieben; ähn=
lieh »Leben Justus Mosers« ed. Abeken S. 16: »Die Zeit zwischen dreißig und
vierzig Jahren — das Alter, wo gewöhnlich die Bildung eines Schriftstellers
Festigkeit zu bekommen pflegt.«
' Worte des alten Nicolai, wie diejenigen im »Anhang zu Fr. Schillers Musen«
almanach« (S. 136), Werke des echten Genius schienen »von einer mehr als
menschlichen Schöpfungskraft hervorgebracht«, oder »das echte Genie gleicht
Gott« scheinen — abgesehen davon, daß sie zeitlich jenseits unseres Gebietes
liegen — kaum irgendwie von Bedeutung für Nicolais Geniebegriff, soweit er
für seine Stellungnahme fruchtbar wurde (und nur solche Äußerungen wurden
hier angeführt); sie sind zudem in polemischer Form ausgesprochen, und der
letztere Satz zeigt deutlich die Abhängigkeit von Shaftesbury.
37
gedanke, gewissermaßen den Blickpunkt vom Dichter auf den Lite*
raten im Dichter verschiebend, die freie Entfaltung dieser Kraft.
Fallen beide Gedankenkomplexe für den Sturm und Drang, wie
schon bei Hamann, zusammen ~ was sich schon an der Bezeich?
nung »Originalgenies« zeigt — so handelt es sich für Nicolai um
getrennte Erwägungen; der Geniegedanke behandelt das Wie? der
dichterischen Produktion, der Originalgedanke das Was? V^erbürgt
das Genie eine graduelle Stufe der dichterischen Leistung, so er*
möglicht das Original sie überhaupt erst. Für ihn, der auf dem
Boden der Nachahmungstheorie steht, gewinnt der Originalgedanke
die Bedeutung eines klärenden, regulativen Prinzips: denn wer die
Natur nachahmen soll, muß sie selbst zum Vorwurf nehmen, nicht
ihr schon geformtes Abbild; er muß bis zu einem gewissen Grade
selbst von den Formen der ihm bekannten Abbilder unabhängig
sein. Dementsprechend ist die Stellungnahme zum Originalgedan*
ken stärker bejahend als zum Geniegedanken. Er bekennt, daß er
lieber ganz schlechte als mittelmäßige Schriftsteller läse, denn »ein
ganz schlechter Schriftsteller hat öfters eine gewisse Gattung von
Originalwesen; ... er entwickelt seinen ganzen eigenen Geist«;
der mittelmäßige Schriftsteller habe große Vorbilder, werde aber
»aus Mangel an Genie« zum »Nachahmer«. »Daher kommt die
ekelhafte Einförmigkeit, das wässerige Wesen, der unertragHche
Gernwitz, kurz, daher stammt es, daß jedermann von einem solchen
Buche sagt, es sei abgeschmackt, ohne daß man recht weiß, wie
man es beweisen solP.« »Die Begierde nachzuahmen, zeigt unwider*
sprechlich den Mangel eines eigentümlichen Genies« heißt es ein
anderes Mal". Er verlangt aber nicht nachgeahmte, ordnungsmäßige
Kunstwerke, sondern solche, die aus einer tieferen Einsicht in das
einzige Vorbild des Dichters, die Natur, entsprungen sind. »Was
soll man solchen Leuten entgegensetzen? Sie steifen sich immer
darauf, daß ihre Stücke regelmäßig sind . . . aber sie können nicht
begreifen, daß ein Werk des Witzes regelmäßig schlecht sein kann«
lieißt es in den »Briefen über den itzigen Zustand«^; wenn die
' Im — nicht unterzeichneten — 121. Literaturbrief, der aber nach E. Ahenkrügers
Nachweis (»Fr. Nicolais Jugendschriften«, Berlin 1894) von Nicolai ist.
- Literaturbrief 266.
" Br. itz. Zust. Nr. 11, S. 84.
38
meisten deutschen Dichter eine tiefere Einsicht in die Charaktere
der darzustellenden Personen hätten, diese Notwendigkeit als die
oberste erkennten, so »würden wir nicht Gefahr laufen, nach allen
Regeln des Aristoteles eingeschläfert zu werden« ^ »Oh, — wenn
doch kein Dichter Empfindungen ausdrücken wollte, die ihm fremd
sind!« schließt er den 59. Literaturbrief; so fordert er auch, daß
jeder Dichter nur die ihm eigenen Stoffe in die ihm eigenen For*
men gieße, und will es Uz ebensowenig anrechnen, daß er statt
Oden bisweilen Lehrgedichte schreibe, wie Klopstock, daß er bis*
weilen Lieder statt Oden dichte"^. Aber wie weit sieht er seine For*
derungen von der Wirklichkeit entfernt: »Deutschland hat wirk*
lieh Originalköpfe; aber es sind derselben so wenige, daß man bei
der allgemeinen Wut nachzuahmen — unsern mittelmäßigen Köp*
fen wirklich wünschen möchte, daß sie besser nachahmen lernten.«
Zum mindesten aber wünscht er originale Nachahmung^. Das Ur*
bild des originalen Dichters ist ihm Shakespeare, der seine Pläne
»original imaginiere«, und »nach eigener Art« ausführe*; und er
scheint dieses Original denen empfehlen zu wollen, die einen Be*
griff von originaler Dichtung zu erhalten wünschen.
Aber auch hier möchte Nicolai das Extrem vermeiden. »Viel*
leicht ist es gefährlich für den Dichter, überlegt er ^, allzusehr original
zu sein, wenn alles allzu unbekannt ist. Vielleicht findet man, daß
gewisse Regeln ja sogar gewisse willkürlich angenommene Conve*
nienzen, auch ihren Nutzen haben. Zur Ersteigung eines hohen
Berges ist ein gebahnter Weg und ein Stab sehr nützlich, obgleich
derjenige nie einen hohen Berg ersteigen wird, welcher nur an einem
Stabe gehen, oder nur auf einem gebahnten Wege fortkommen
kann.« Zum mindesten aber hält er daran fest: »Regeln, die nicht
aus Convenienz, sondern aus der Natur der Sache entstehen, rächen
sich an dem Schriftsteller, der sich über sie hinwegsetzt^.« Schon
' Brief, itz. Zust. Nr. 11, S. 86.
' Literaturbrief 140.
' Br. itz. Zust. Nr. 7, S. 56 insbes.
' An Gerstenberg 21. III. 67.
' GöckingkS. 111.
* Nicolai gibt diese seine Äußerung, die er in einer Unterredung mit Lessing
über die Emilia Galotti Lessing entgegengehalten habe, als Lessing sich in bezug
auf den Vorwurf mangelnder Motivierung der Orsina mit dem Wort »heraus
39
in den »Briefen über den itzigen Zustand« nennt er es, »auf das
gelindeste zu sprechen, eine große Unvorsichtigkeit, wenn ein
Schriftsteller affectiret, alle seine Vorwürfe aus einem besonderen
Augpunkte anzusehen, und wann er das Publikum nicht allein
zwingen will, alle Sachen aus eben diesem Augpunkte zu betrach*
ten, sondern es zu überreden sucht, daß dies der einzig richtige
Augpunkt sei . . .^« Und er befürchtet, daß das Streben nach Ori*
ginalität dadurch unmöglich gemacht werden könnte, das sich »ge«
wisse Formen der Schönheit« erschöpfen könnten. »In der Baukunst
ist es durch die Erfahrung ausgemacht, schreibt er an Herder^, daß
es nur wenige Proportionen sind, die dem Auge gefallen, die zu*
gleich Festigkeit und Annehmlichkeit haben. Die Griechen haben
diese Proportionen erschöpft, und wir folgen ihnen.« Als ab*
schreckendes Beispiel originaler Kunst führt er hier die Gotische
Baukunst an. Er befürchtet auch von einer allzusehr auf das Recht
der Originalität pochenden Kunst, daß ihr niemand folgen kann,
der nicht ebenso original wie sie sei; und dann »richten unsere
Autoren bloß für die Köche und gar nicht für die Gäste an«^. So
stark er also auch das Recht, ja die Pflicht des Dichters betont, den
eigenen Fähigkeiten gemäß den Vorwurf zu wählen und ihn original
zu gestalten, so möchte er doch verhindern, daß der Dichter den
Anspruch auf eigene Formengebung und Stoffwahl auf Kosten des
Lesers zu weit ausdehnt, gemäß seiner Stellungnahme gegen eine
zu stark .imaginative' Kunst. Die Konsequenz des Originalgedan*
kens nach dieser Seite hin hat er also abgelehnt, und zwar gerade
in der Zeit, in der diese Konsequenz nicht mehr theoretisch be*
gründet wurde, sondern sich in den Dichtungen des Sturms und
Drangs darstellte.
Nicolais Kritik ist aber zu dieser Zeit — und das begründet die
in der vorangegangenen Darstellung erstrebte Zurückhaltung —
nicht ein einfaches Ergebnis seiner theoretischen Kunstanschau*
helfen« wollte, er habe sich nun einmal über die Regeln hinwegsetzen wollen,
in einer Anmerkung z. s. Briefe an Lessing v. 7. IV. 72 (= Lessings Werke hrsgb.
V. ... F. Nicolai, Berlin 1794, S. 335 ff.) wieder.
' Briefe itz. Zust. Nr. 7, S. 51.
= An Herder 19. XI. 71 = O. Hoffmann S. 66.
' An Herder 24: VIII. 72 = O. Hoffmann S. 81.
40
ungen. Es tritt vielmehr eine Umsetzung ein. Das Objekt der Ni*
colaischen Kritik ist nicht die Dichtung, sondern die Literatur. Und
diese Umsetzung wird mit der Vollendung seiner Entwicklung und
mit zunehmendem Alter immer sichtbarer. Der jugendliche Nicolai
steht, wie er das im Alter selbst einmal ausgesprochen hatS dem
spezifisch Literarischen gegenüber sehr kühl und ziemlich hilflos
gegenüber. Er sieht Streit um Dinge, die er gegenüber ernsteren,
tieferen Kunstfragen für belanglos hält. Die »Briefe über den itzigen
Zustand« zeigen ihn zwar schon als gewandten literarischen Kämp#
fer, indessen weisen sie doch noch auf jene erste Position zurück,
die sich durch den Verkehr mit Mendelssohn insbesondere, aber
auch mit Lessing, wieder verstärkte; die Beiträge in der Bibliothek
der schönen Wissenschaft bezeichnen ihren Höhepunkt, wie sie
auch den Höhepunkt seiner kunsttheoretischen Bemühungen bil*
den. Von da ab, sicherlich nicht unbeeinflußt durch die Übernahme
des väterlichen Verlages, wird nicht die Dichtung, sondern die
Literatur in steigendem Maße Gegenstand seiner theoretisch*
kritischen Bemühungen, und zumal seit der Gründung der All*
gemeinen Deutschen Bibliothek ist sie der einzige, so daß die
Poesie nur mehr als »eine bloß erlaubte Ergötzung« ^ gilt, und bis
er an Joh. Müller, den Plan seiner Allgemeinen Deutschen Biblio*
thek verteidigend, am 12. VL 72 schreiben kann^: »Der schlechte
Teil unserer Literatur gehört aber so gut dazu, als der gute; sich
über jenen zu ärgern ist zur Verbesserung (!) der Literatur vielleicht
ebenso notwendig, als sich über den guten Teil zu freuen«; die
Journale müßten die Chronik sein, aus der die Nachwelt die Ge*
schichte der gegenwärtigen Literatur schöpfen werde; »wenn der
Chronikenschreiber allzusehr die Fakta auswählen will, so bekömmt
der künftige Geschichtsschreiber allzuwenig Stoff.« Wenn Nicolai
selbst einmal, die literarische Entwicklung im 18. Jahrhundert über*
schauend^, zwei Perioden unterscheidet — eine frühere, in der »die
Literatur bloß an den Universitäten hing«, und eine spätere, in der
^ »Schreiben an den Herrn Hofrat Lichtenberg« = Lessings Ges. Werke hersgb.
V. ... F. Nicolai 26, S. XX.
' An Herder 21. III. 72 = Hoffmann S. 74.
' Briefe an Joh. v. Müller, Schaffhausen 1840, 4, S. lOf.
* Göckingk S. 47. Die zitierte Stelle stammt aus dem Jahre 1810.
41
sich »durch Klopstock, Wieland, Goethe und Schiller Poesie bil*
dete« — so gehört er selbst der ersteren Periode an; bezeichnend
genug fährt er ja auch an dieser Stelle mit den Worten fort: »und
nun tat die deutsche Literatur einen starken Fortschritt«.
Der Gesichtspunkt, unter dem diese Umsetzung sich bei Nicolai
am frühesten bemerkbar macht, ist der nationale. Das Vorhanden*
sein eines Nationalgedankens in der deutschen Aufklärung, ja das
Wirken derselben für die Entwicklung des deutschen National*
gedankens kann nach Friedrich Meineckes Forschungen^ nicht mehr
abgeleugnet werden. »Der Universalismus des 18. Jahrhunderts«,
erkennt Meinecke, »war zugleich kräftiger Nationalismus;« er hat
sich unter den Zeitgenossen Lessings auf eine doppelte Art ge*
äußert: in einer das Ganze der deutschen Welt umfassenden leb*
haften Empfindung und in einer bestimmten praktischen Tätigkeit".
Diese warme und lebhafte Empfindung ließ ihn die Dichtung als
Angelegenheit des deutschen Geistes, als deutsche Nationalliteratur
sehen, und die praktische Tätigkeit galt deren Förderung. Schon
der Jugendliche sieht mit Verdruß die dichterischen Leistungen der
Deutschen hinter denen der Franzosen zurückstehen, erkennt, daß
Bouhours Urteil, der Deutsche könne kein bel*esprit sein^, und
demgemäß nur schwache künstlerische Leistungen hervorbringen,
noch nicht durch Taten widerlegt ist, wenn er sich auch bemüht, in
allen Gattungen solche namhaft zu machen, die sich den anerkann*
ten, auch von ihm bewunderten französischen Meisterwerken an
die Seite stellen ließen*. Mit Schmerz muß er erkennen, dal^ Gott*
sched mit seinen Sammlungen die wahrhaft patriotischen Bemüh*
ungen um die Nationalliteratur in den Augen der Franzosen eher
lächerlich gemacht, als ihre Anerkennung gefördert habe^. So sehr
er aber die Überlegenheit der Franzosen empfindet, hat er doch stets
' Friedrich Meinecke, \X'eItbürgertum und Nationalstaat, 3. Auflage, München
1911. — Ich glaube, hier auch auf die Darstellung verweisen zu dürfen, die ich
selbst nach Qiaellenstudien im Literat. Echo 1915 (X\TI), 22 gegeben habe.
- Vgl. Hermann Baumgart, Ges. bist, und politische Aufsätze. Straßburg 94.
»War Lessing ein Patriot?« S. 230.
' Das von Nicolai noch AD Bibliothek 9, 1, 207 höhnisch zurückgewiesen wird.
* Vgl. den 77. Brief in der »Sammlung freundschaftlicher Briefe« von J. S. Patzke
(Frankfurt und Leipzig 1754), der bei Altenkrüger S. 38 ff. mitgeteilt ist.
' Briefe über d. itz. Zust., insbesondere Nr. 11.
42
das richtige Gefühl dafür, daß ihre Kunstwerke nur vollkommener
Ausdruck ihres Geistes sind, die von den Deutschen nicht ohne
weiteres nachgeahmt, sondern nur als Vorbilder des Grades der
V^ollkommenheit betrachtet werden dürfen; und mit aller Schärfe
tritt er dagegen auf \ daß französische Schriftsteller die Führer» und
Richterrolle in literarischen Fragen ohne weiteres in Anspruch
nehmen-. Mit Vergnügen ergreift er daher die Gelegenheit, dem
M. de FremontvaP gegen die Überschätzung des französischen Ge*
schmacks, der französischen Dichtung und Sprache besonders durch
den deutschen Adel zu sekundieren*, wie denn auch die Gestalt der
Frau von Hohenauf in seinem »Sebaldus Nothanker« eine kräftige,
recht gut gelungene Satire gegen diese übergroße Vorliebe für fran*
zösisches Gesellschaftswesen und französischen Geschmack ist. So
brandmarkt er das Verfahren vieler Verleger, die reine Übersetzungs*
manufakturen haben ^. Er wünscht edlere, freie Formen der Gesellig*
keit, in denen sich der Deutsche natürlich bewegen lernt, damit die
deutsche, gesellige, leichtgeschürzte Dichtung die Großen fessele,
wie es in Frankreich und England der Fall sei^; so sollen auch die
deutschen Gelehrten statt verknöcherter Pedanten Männer werden,
die den Sinn aufs Ganze richten, wie es die französischen und eng?
liehen Gelehrten zum Wohle des Ansehns ihrer Wissenschaft tun'';
er will keine Streitereien deutscher Literaten vor dem Ausland^, er
will nicht, daß die mühsam um ihre Anerkennung ringende deutsche
Literatur vor Friedrich dem Großen durch Hamanns »Au Salomon
du Prusse«, wie er fürchtet, blamiert werde^. Aber nicht um das
' Briefe über d. itz. Zust. Nr. 4 und 16.
■ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß er zur Verherrlichung des
Sieges bei Roßbach selbst eine Denkmünze entwarf, die aber nicht geprägt
wurde (an Chr. L. v. Hagedorn 20. IV. 58 = ed. Torkel Baden [1797], S. 231).
' »Preservativ contre la corruption de la Langue Fran^ois ... et dans les Pays ou
eile est le plus en usage . . .« etc. 1756.
* 125. Literaturbrief.
* »Sebaldus Nothanker« II, S. 80 ff.
* Brief itz. Zust. insbesondere Nr. 8.
" Göckingk S. 131.
* So sagt er in der »Nachricht« Allg. Dtsch. Bibliothek 37, 1. 312 mit Bezug auf
seinen Streit mit Wieland, er sei im Interesse des Ansehens der deutschen Literatur
»äußerstgeneigt«,die»partiehonteuse«derselben»nachMöglichkeit zu verdecken«.
" An Herder 2. III. 73.
43
äußere Ansehen allein ist es ihm zu tun. Wie er von den Deutschen
Kenntnis ihres Landes und ihrer Verfassung fordert, und durch seine
»Reisebeschreibung« für die Beförderung dieser Kenntnis sorgen
will; wie er urteilt, daß der gebildete Deutsche, der sich schäme, die
Kunstschätze des Palais de Luxembourg oder des Palais Royal nicht
zu kennen, sich viel mehr schämen müsse, wenn ihm die Kunst*
schätze der Dresdner Galerie und überhaupt des deutschen Vater*
landes unbekannt seien, so ist sein Bestreben überhaupt auf die
Festigung des Bewußtseins von der eigenen Art und den eigenen
Aufgaben gerichtet. An einem besonderen Gegenstand seiner Be#
mühungen, der Sprache als dem vorzüglichsten Werkzeug des
Dichters, läßt sich dieses Bestreben deutlich erkennend
Mit dem Nationalgedanken in engem Zusammenhang steht ein
zweiter Komplex, der die Umsetzung der Dichtung zur Literatur
beförderte : der Entwicklungsgedanke ; er bestätigt zugleich den oben
dargestellten formalen Zug der Nicolaischen Kunstanschauung, der
ihn auf das Bestimmbare und Genetische des Kunstwerkes weist.
Der jugendliche Nicolai deutet die Verbindung von National*
gedanken und Entwicklungsgedanken an: »Wir müssen itztpatrio*
tisch denken und für die Nachwelt schreiben, und wenn wir den
schlechten Schriftstellern forthelfen wollen, was sollen wir denn mit
den mittelmäßigen machen?^« Das Mittelmäßige wird als Feind des
Guten erkannt — so ist also eine Entwicklung zum Guten voraus*
gesetzt; und schon der nationale Ehrgeiz sollte Ansporn zur Ver*
vollkommnung sein. Nicolai erkennt aber sogar, daß durch das
Mittelmäßige der Geschmack »weit zuverlässiger« verdorben wird,
als durch das ganz Schlechte'^; er will dieser »schimpf liehen Mittel*
mäßigkeit«* entgehen, und die ihm vorschwebende höchste »Staffel
'■ Hier sei auf Adolf Schachs Darstellung verwiesen, insbesondere den Abschnitt,
in dem als einer der Hauptbestandteile der Nicolaischen Sprachbemühungen
»die Ausbreitung der deutschen Sprache gegenüber der französischen« erkannt
wird.
^ Sammlung Freundschaftlicher Briefe von S. J. Patzke Nr. 38 = Altenkrüger
S.38ff.
'AD Bibliothek 10, 1, S. 298 (gelegentlich der Rezension der Wochenschrift
»Der Glückselige«).
' Briefe itz. Zust. S. 133, Nr. 17, Vgl. auch s. Brief v. 31.VI11. 1756 an Lessing
(= LachmannsMuncker 19, 43): »Es ist nichts besonderes Gutes neu heraus^
44
der Feinigkeit, der Richtigkeit des guten Geschmacks ersteigen«.
Er glaubt an eine Entwicklung des Geschmacks, wie er an die Ab*
hängigkeit der Dichtkunst von dem Zeitalter glaubt, in dem der
Dichter lebt^; Picanders Scherzgedichte, sagt er in einer Rezension
des neu auferlegten »Deutsch*Franzos«^, die einst mit Recht beliebt
sein mochten, könnten jetzt nur noch vom Pöbel gelesen werden:
»doch wir befürchten, in allen Provinzen Ober* und Nieder*
deutschlands gibt es noch sehr viel Leute, die jetzt noch immer ums
Jahr 1736 leben.« Und an anderer Stelle freut er sich der Vervoll*
kommnung der deutschen Literatur in den letzten 20 Jahren : »Unsere
Sprache«, sagt er da^, »hat seit 20 Jahren ungemein viel Revolutionen
erlitten, wir haben seit 1741 spruchreiche, einbildungsvolle, kühne,
ja auch seltsame Dichter erhalten; dies hat unserer Sprache eine
ganz neue Bildung gegeben, die zwar noch nicht völlig geendigt ist,
aiber die wenigstens anfängt, unsern Schriften einen Originalcharakter
zu geben.« So verlangt er auch von dem einzelnen Dichter, daß er
unablässig an sich arbeite, und tadelt beispielsweise Zachariae, daß
dieser in der Vorrede zu seinen gesammelten »Poetischen Schriften«*
verspricht, weiter keine Veränderungen zu machen. — Die Ent*
Wicklungsmöglichkeit, die er so erkennt, will er durch eigene Tätig*
keit zum besten der deutschen Literatur verwerten; ja seine ganze
literarische Tätigkeit ist eigentlich daraufgerichtet, die Entwicklung
der Literatur zu befördern. So erkennt auch Lessing an^, daß Ni*
colais Hauptsatz in der »Abhandlung vom Trauerspiel«, die Tra*
gödie solle Leidenschaft erregen, ohne daß sie ihre Reinigung zu
bewirken braucht, der geeignetste sei, um gute Trauerspiele hervor*
bringen zu helfen, geeigneter jedenfalls, als der von Nicolai ver*
worfene, das Trauerspiel solle die Leidenschaften reinigen. Erüh hat
gekommen; darüber könnte ich mich trösten. Aber es ist viel Mittelmäßiges
herausgekommen, das man als etwas besonderes anpreist; und das ärgert
mich.«
' Joh. Chr. Günther, sagt er A D Bibliothek 3, 1, 253, wäre »in erleuchteteren
Zeiten«, wo die Ansprüche höher sind, unzweifelhaft ein guter Dichter geworden.
- Nürnberg 1772. Nicolais Rezension: A D Bibliothek 23, 1, 306.
'AD Bibliothek 10, 1, S. 301, gelegentlich der Rezension der Wochenschrift
»Der Eremit«; darin war eine Probe aus dem Jahre 1741 gegeben.
* 9 Bände; ohne Jahr und Ort. Nicolais Rezension: A D Bibliothek 4, 1, 217.
' Lessing an Nicolai 13. XI. 56 = Lachmann^Muncker 17, 64.
45
er die Kritik als Mittel zur Beförderung der Literatur erkannt^
Durch das bekannte Preisausschreiben im Frühjahr 1756, das er mit
der Ankündigung der »Bibliothek der schönen Wissenschaften«
verband", suchte er das Drama zu fördern: ein Unternehmen, das
mittelbar und unmittelbar bedeutenden Nutzen stiftete, so äußer*
lieh auch das hier angewandte Mittel war. Die Entwicklung der
deutschen Literatur sollten auch die Literaturbriefe befördern, deren
eigentlicher Urheber Nicolai war^, wenn sie auch ihre fruchtbare
Wirkung nur durch Lessings Mitarbeit ausüben konnten, wie auch
die Allgemeine Deutsche Bibliothek diesem Zwecke dienen sollte,
auf die er »den besten Teil seines Lebens« verwandt hat*.
Auf das vorzüglichste Mittel zur Förderung der Entwicklung
der deutschen Literatur weisen fortgesetzte theoretische Über*
legungen hin, die als ein drittes Moment der Umsetzung der Dich*
tung zur Literatur gleichfalls schon sehr früh in Nicolai rege wer*
den. Die zielbewußte Entwicklung der Literatur setzt ihre Organi*
sation voraus; und das Prinzip der Organisation, das Nicolai in
der französischen, aber auch in der englischen Literatur wirken
sieht, heißt Zentralisation^. Es gilt, eine Zentralstätte zu schaffen,
deren Geschmack tonangebend ist, deren Wünsche an den entle*
genen Stätten, ohne Rücksicht auf die landschaftliche und Stammes*
eigenart erfüllt werden. Sehr mißverständlich ist es darum zum
mindesten, wenn Hermann Hettner^ die Aufklärer und Populär*
Philosophen mit den Kleinhändlern vergleicht, auf die sich das
eigentlich geschäftliche Leben gründe; Nicolai war, wie alle Auf*
klärer', um im Bilde zu bleiben, durchaus Großkaufmann, am lieb*
'■ Briefe über d. itz. Zust., Nr. 17.
- Über dieses Preisausschreiben vgl. Minors »Vorwort« zu »Lessings Jugend;
freunde« DNL 72, S. If.
' Vgl. seine Darstellung im »Schreiben an den Herrn Professor Lichtenberg«.
* A D Bibliothek 32, 1, 293. »Nachricht.«
^ Es ist in diesem Zusammenhange besonders bemerkenswert, daß Frau v. Stael
in ihrem Buche »De l'Allemagne« an zahlreichen Stellen (bes. im 2. Kap.) eben*
falls die mangelnde Zentralisation als Grund des trotz hoher Einzelwerke ver*
hältnismäßig niedrigen Gesamtstandes der deutschen Literatur erkennt.
* Hettner 5. Aufl. II. 552; das Bild des Großhändlers braucht Gervinus, Gesch.
d. dtsch. Dichtg. 4. Aufl. 1853, IV, 372.
' Dementsprechend erwarteten ihre volkswirtschaftlichen Theorien die Förde*
rung des Handels von der Vereinigung der Kapitalien; vgl. über Joseph v. Son*
46
sten wäre er Trustmagnat gewesen. Der Ausspruch, den sein Freund
Biester bei einer scherzhaften Gelegenheit über ihn tat, daß er »für
den Club geboren« sei\ läßt sich auf den Herausgeber der »Allge*
meinen Deutschen Bibliothek« auch ernsthaft anwenden. Schon
die »Briefe über den itzigen Zustand« sind voll beweglicher Klagen
über den Mangel an Zentralisation der deutschen Literatur, wie des
geistigen Lebens überhaupt. »Wir vermissen vielleicht nirgends so
sehr den Mangel einer Hauptstadt, deren Geschmack den allge*
meinen Geschmack der übrigen bildet, als in den Umständen, die
die theatralische Dichtkunst angehen«, heißt es im H. der Briefe '^
»Aus Mangel einer Hauptstadt,« überlegt er später ^ »kann unsere
Komödie niemals vollkommener werden«. Der Zentralisations*
gedanke spielt auch in die Vorschläge hinein, die er hinsichtlich
eines deutschen Wörterbuches im 12. der »Briefe über den itzigen
Zustand« macht; er will das Wörterbuch nach dem Vorbild des
Dictionnaire der Academie Fran^aise eingerichtet, und deshalb
Provinzialwörter ausgeschaltet wissen, wie er sich auch im 125. Lite*
raturbrief gegen die Aufnahme von Provinzialidiotismen in ein
deutsches Wörterbuch ausspricht; und so schreibt er an Iselin*,
wenn er dessen Schriften in Verlag nehmen sollte, würden sich
kleine Änderungen in der Schreibart nötig erweisen, die am besten
im Verlagsort Berlin vorgenommen würden, was sich, da er den
Stil Iselins im selben Brief rühmt, nur auf die Beseitigung von
Dialektworten und ^Formen beziehen kann. Mit Recht erkennt
man daher als Ziel der Nicolaischen Sprachbemühungen die Fort==
führung der Gottschedischen Bestrebungen um die Einheitssprache,
die Reinigung von den mundartlichen Elementen, die Förderung
einer nicht nur geschriebenen, sondern auch gesprochenen hoch*
deutschen Sprache^. Dieselben Zentralisationsbestrebungen Nico*
lais bemerken wir dem »gelehrten Leben« gegenüber. Die »deut*
sehen Gesellschaften«, nach dem Vorbild der Leipziger, der Gott*
nenfels' »Grundsätze der Handlungswissenschaften«, der diese Theorie nacht
drücklich vertritt, Franz Kopetzky »Jos. u. Franz. v. Sonnenfels« S. 152 ff.
' Göckingk S. 77.
^ Br. itz. Zust. Nr. II S. 85.
' Göckingk S. 134; ähnlich S. 135 ebenda.
* 19. III. 67. NN.
^ Dies ist auch das Ergebnis der Untersuchung von A. Schach a a. O.
47
scheds überragende Stellung neuen Glanz gegeben hatte, bald an
zahlreichen, auch kleineren Orten gegründet, sind Gegenstand
seines Hohnes, da ihr kleinstädtischer Provinzialismus der um*
fassenden Zentralisation einen wesentlichen Widerstand entgegen
zu setzen schien; so striegelt er sie denn an den verschiedensten
Stellend Daneben sind es die Universitäten in den kleinen Städten
der Provinz, die er für Hindernisse der Zentralisation hält, und
die er deshalb bespöttelt. »Der größte Teil (sc. der Gelehrten),«
klagt er einmaP, »sitzt in kleinen Städten auf Universitäten . . . hat
nur einseitige Ideen, und die er eifrig fortzupflanzen sucht, weil sie
die paar Leute, die um ihn sind, ausschließend billigen. Er kann
also gar nicht begreifen, daß jemand anders denke . . . Lebten diese
Männer in einer großen Stadt zusammen, wo sie mehrerlei Ideen
bekämen und öftern Widerspruch erführen, so würden sie weniger
entscheiden können und leichter andere Ideen auffassen.« Die Klein*
Stadt, der enge Kreis einer Provinzialuniversität mache einseitig und
unfruchtbar^. »Warum sollte denn notwendig der Ton der Gelehr*
ten in Weimar oder in Hamburg auch in Köln gelten müssen?«
fragt er ironisch. »Köln ist groß genug und der Rhein ist wohl die
Elbe oder die Um wert; also darf auch Köln seinen eigenen gelehr*
ten Ton haben*.« Der Überwindung dieses Provinzialismus dient
in erster Linie seine Reisebeschreibung; die Deutschen sollen sich
kennen lernen, alsdann wird es möglich sein, eine Zentralstätte zu
schaffen; so verweilt er denn auch in seiner Reisebeschreibung mit
Vorliebe an den großen Zentren des geistigen und wirtschaftlichen
Lebens^. Das wichtigste Mittel der Zentralisation des deutschen
geistigen Lebens ist sein Lebenswerk, die Allgemeine Deutsche
' Briefe üb. d. itz. Zust. Nr. 12; 257., 288. und 299. Literaturbrief; Vorrede zum
2. Teil des »Vademecum für lustige Leute« (1766) ; Sebaldus Nothanker I, 16 und
II, 116 und 148, u. a. m. O.
- Göckingk S. 131.
^ Vgl. Litbr. 200. »Ein Mensch, der sich auf die geringe Anzahl von Ideen ein;
schränken will, die eine Universität oder eine Provinzialstadt darbieten, »könne
unmöglich Kunstwerke hervorbringen.
* Dicker Mann II, 28, S. 92.
" Vgl. Boie an Bürger 6. X. 81 = Strodtmann III, 62: »Für den deutschen Dich*
ter ist noch in keiner einzigen Stadt die Welt, die er kennen muß; sie ist durch
ganz Deutschland zerstreut;«- er ermuntert Bürger zu Reisen.
Bibliothek. Schon am Titel zeigt sich das. Herder gegenüber betont
er^ diese Tendenz als dasjenige, was sie von den Literaturbriefen
unterscheiden soll: der Zweck der Bibliothek ist, wie er zu wieder*
holten Malen in den Ankündigungen, »Vorreden« und »Nach*
richten« betont, eine Stätte zu schaffen, an der die deutsche Literatur
in ihrer Gesamtheit übersehen werden kann, die den Gelehrten in
den Ostseeprovinzen die Neuerscheinungen in der Schweiz, den
Westfalen die in Österreich vermittelt. Dabei ist, obgleich die Re*
zensenten »durch nichts als durch die Liebe zur Wahrheit« ver*
bunden sind", die Einheit dennoch gewährleistet, weniger durch
Nicolais Einfluß, da er ja immer wieder die Beeinflussung der Re*
zensenten ablehnt, ja zu wiederholten Malen — eine oft, z. B. von
Schach übersehene Tatsache, — betont, daß er nicht einmal alle
Rezensionen im Manuskripte läse^, als vielmehr durch die Einheit
der kritischen Methode, wie sie in den Literaturbriefen zum ersten*
mal vorbildlich erschienen war*. Wohl kann es auf diese Weise
geschehen, daß der Bock zum Gärtner gemacht wird, wie durch
die Mitarbeit von Klotz oder später von v. Wöllner; doch zeigt die
Mitarbeit späterer Widersacher recht deutlich das starke Vorherr*
sehen des Zentralisationsgedankens. Die Allgemeine Deutsche
Bibliothek sollte die Hauptstadt vertreten; sie sollte im geistigen
Leben Deutschlands die Rolle spielen, die Paris und London im
französischen und englischen spielten^. »In einem Reiche, wo eine
Hauptstadt ist,« sagt Nicolai einmal^, »wird einem Dichter gleich*
• An Herder 19. XI. 66 =- Hoffmann S. 2.
- Nicolais Vorrede zum 2.- Stück des 4. Bandes der A D Bibl.
' An Herder 24. XII. 68 = O. Hofifmann, S. 28; an Wieland 5. V. 75 = A D Bibl.
37, 1 »Nachricht«. S. 307. Vorrede zum ersten Band des Anhanges zu Band 1 — 12
der A D Bibl.; A D Bibl. 55, 1, 290 u. a. m. O.
* Vgl. die beiGöckingk S.35 mitgeteilten zeitgenössischen Urteile über die »Einheit
des Strebens« in der Allg. Dtsch. Bibl. — In diesem Sinne ist auch Mercks Urteil auf*
zufassen, Nicolai habe sich seine Rezensenten selbst erzogen (an Nicolai 7. XI. 72).
° Vgl. Weiße an Klotz 14. VI. 68 = Hagen, Briefe dtscher. Gel. an Klotz I, 71 : er
habe Nicolai vorhergesagt, daß, so lange es in Deutschland keine Hauptstadt wie
Paris oder London gebe, ein Unternehmen wie die Allg. Dtsch. Bibl. zu kühn
wäre; Nicolai habe ihm nicht geglaubt — daher jetzt die Schwierigkeiten in der
Gewinnung von Mitarbeitern. — Nicolais ungedruckter Briefwechsel mit Hopf*
ner gibt ein sehr anschauliches Bild dieser Schwierigkeiten.
' Göckingk S. 135.
4 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 49
sam ein Stempel aufgedrückt, wodurch er überall für gut erkannt
wird. In Deutschland hat jede Provinz ihren Nebenpoeten, den sie
für gut und berühmt hält«. Die »Nebenpoeten« in ihrer Unzuläng*
lichkeit darzustellen und den guten Dichtern den Stempel der An*
erkennung durch den hauptstädtischen Geschmack aufzudrücken,
ist mit zvmehmendem Alter in steigendem Maße die Tendenz des
Kritikers Nicolai gewesen.
Diese drei Momente der Umsetzung sind es denn auch gewesen,
die seine kritische Stellungnahme recht eigentlich beeinflußt haben;
an ihnen entzündet sich derWiderstand gegen den Sturm und Drang.
Er schien Nicolai die mühsamen Errungenschaften der literarischen
Entwicklung in Frage zu stellen, da er auf eine folgerechte Weiter?
entwicklung verzichtend, ja eine solche bekämpfend, es unternahm,
das geistige Leben der Deutschen von Grund aus umzubilden; und
während er sich bemühte, zu organisieren und zu zentralisieren,
schienen ihm die Stürmer durch enge brüderliche, aber ausschlies*
sende Gemeinschaften, bald in Straßburg, bald in Wetzlar, Frank*
fürt, in Darmstadt und in Göttingen, jedenfalls in provinzieller Ab*
seitigkeit, das erschaffene Gefüge zu verwirren und abzubauen:
»Jeder (von den Originalgenies) geht seinen Weg und keiner von
diesen Wegen stößt zusammen«, bemerkt er tadelnd zu Herder \
Wertvolle Gedanken, bei denen die Mitte alles war, und das Ex*
trem unvernünftige Übertreibung, wie den Genie* und Original*
gedanken, schienen sie ihm durch einseitige Betonung überhaupt
in Frage zu stellen. Daß die Gegensätze nicht sofort in aller
Schärfe aufeinanderprallten, sondern wie der zweite Teil der Unter*
suchung erweisen wird, sich erst im Lauf einiger Jahre herausstell*
ten, muß zunächst bei der kämpferischen Art Nicolais, der ständigen
Bewegtheit seines Geistes, die alles Feindselige und Fremde sofort
als solches erfaßt und stets das Bedürfnis hat, sich mit allen neuen,
bedeutenden Erscheinungen kritisch auseinanderzusetzen, sonder*
bar erscheinen. Indessen erklärt es sich aus einer Tatsache seiner
geistigen Entwicklung, die ein letztes Moment jenes oben darge*
stellten Umsetzungsprozesses bedeutet, und, so sehr sie auch ob*
jektiv den Gegensatz verschärfen konnte, Nicolai zunächst den
Blick auf diese neuen Erscheinungen entzog. Denn gerade in der
1 Nicolai an Herder 19. XI. 71.
50
Periode der ersten Äußerungen des Sturms und Drangs vom Ende
der sechziger bis zum Anfang der siebziger Jahre, verlor die Be*
schäftigung mit der Kunst in Nicolais Geist die Stellung, die sie
bis dahin innegehabt hatte.
Am 3. November 1771 schreibt Nicolai an den Baron v. Gebiert-
»Seit mehreren Jahren nehmen weitläufige Handlungsgeschäfte den
besten und größten Teil meiner Zeit weg, und seitdem noch dazu
die weitläufige und mühsame zur Allgemeinen Deutschen Biblio*
thek gehörige Korrespondenz gekommen, finde ich täglich mehr
Ursachen, meine Lectur einzuschränken und sie mir nutzbar zu
machen. Seit dieser Zeit habe ich die schönen Wissenschaften und
Künste . . . fast gänzlich verlassen, und mich auf Studien einschrän*
ken müssen, die den Menschen noch näher angehen.« Ganz ähnlich
schreibt er zwei Jahre später an Herder^, daß er seine Studien auf
diejenigen einschränken müsse, »die den Menschen und die Mensch*
heit betreffen«, und daß daher ein gewisser Teil der Poesie »inso*
fern sie die Geisteskräfte und die Gesellschaft nicht unmittelbar
verbessert oder verschlimmert«, »außer seinem Wege« liege; und
auch eine briefliche Äußerung an Denis ^ aus dieser Zeit hat den*
selben Sinn. Diese Wendung hat sich schon lange vorbereitet. In
Fragmenten, die nach Göckingks Angabe zwischen 1755—60 ent*
standen sind, erkennt er, der sich kurz zuvor noch mit aller Kraft
für die Schaffung einer deutschen Nationalbühne eingesetzt hat:
»Das Theater ist ein Werk des Luxus«, und mit weiterer Perspek*
tive: »Diejenigen, die die Erde bebauen, beschreiben sie
nicht«*. Wie sich schon bei den Nachfolgern Christian Wolffs das
Bestreben zeigt, »nicht mehr das Weltganze und die Gesamtheit
der Dinge, sondern den Menschen mit seinem tatsächlichen see*
lischen Befinden, seinen Aufgaben und Zielen als vornehmsten
Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses« zu setzen ^ so hat
» An Gebier 3. XI. 71 = R. M.Werner, »A. d. Josephin. Wien« Berlin
' An Herder 18.111.73.
' An Denis 28. XII. 72 = Denis" Nachlaß S. 164.
* Göckingk S. 133. Eine Umkehrung und Fortsetzung dieses Satzes, im Sinne
von: »Diejenigen die die Erde beschreiben, sollten sie auch einmal bebauen«,
findet sich Sempronius Gundibert S. 25: »Wer weiß, ob es nicht gut wäre, wenn
manche, die (Ordens=)Bänder tragen, auch Bänder webten«.
^ R. Unger, Hamann und die Aufklärung S. 54 insbes. Vgl. auch die Schrift von
4* 51
auch Nicolai, Schüler Chr. Wolffs und Baumgartens \ sich immer
mehr zum Anhänger des Popeschen Satzes: »Das eigentliche Stu*
dium der Menschheit ist der Mensch« bekannt. Diese Anhänger*
Schaft führt ihn aber nicht wie den jungen Goethe, der diesen Satz
ebenfalls tief ins Herz gegraben hatte, zum liebevollen Erfassen des
Menschen in seinem prometheischen Drang und seinem Leid, nicht
zu exakt naturwissenschaftlichen Studien, sondern zu dem Ideal
einer streng wissenschaftlichen Physiognomik, die, wie im zweiten
Teil der Untersuchung gezeigt werden wird, im Gegensatz zur La«
vater*Goethischen steht; und nicht zur Geschichtsauffassung des
Sturms und Drangs, die sich in sympathetischem Lebensgefühl dem
Großen in der Geschichte verwandt fühlt, oder dankbar der Quelle
des eigenen Seins in der Vergangenheit nachspürt, sondern zu exakt
kulturhistorischen Studien'-; nicht zu religiösen, sondern zu theolo*
gischen Kämpfen.
Auch aus dieser »Einstellung auf den Menschen«, der die Dich*
tung und die Literatur aus seinem Gesichtskreis verdrängt, ergibt
sich ein Gegensatz zum Sturm und Drang. Denn diese Entwicklung
fand ihren glücklichen — wenn auch nicht vom ästhetischen Stand*
punkt glücklichen — Ausdruck in seinem 1773 erschienenen Roman
»Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Noth*
anker«; und die Ablehnung dieses Romans durch die Geniebewe*
gung ist ein wesentHches Moment in seinem Kampf gegen den Sturm
und Drang.
Felix Guenther, »Die Wissenschaft vom Menschen« (in Lamprechts Gesch. Unter*
suchungen. V.), bes. S. 23ff.
' Vgl. »Über meine gelehrte Bildung« S. 10 ff".
- Für das erwachende kulturhistorische Interesse vgl. den 152. und 219. Lite*
raturbrief.
52
NICOLAI ALS KRITIKER
Die Darstellung der Grundlagen, die Nicolais Verhältnis zum
Sturm und Drang bestimmen, vervollständigt sich durch die Frage
nach dem Kritiker Nicolai; wurde im vorangegangenen Abschnitt
versucht, das Objekt seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem
Sturm und Drang näher zu bestimmen, so handelt es sich jetzt um
die Methode derselben. Einer Untersuchung der kritischen Tätig*
keit Nicolais, die gemäß der Absicht dieses Teils der Darstellung
sich einzig auf die formalen Züge des kritischen Verfahrens richten
kann, hat voranzugehen eine Bestimmung ihres Maßstabes; und
dieser Maßstab liegt in den Anschauungen Nicolais über das Wesen
und die Aufgaben der Kritik und seinen dementsprechenden Forde*
rungen an den Kritiker.
Eine irgendwie tiefere Begründung der Kritik hat Nicolai nirgends
gegeben; er erläutert nur eine vorhandene Institution. Die öffent«
liehe Kritik ist »die einzige gelehrte Kommunikation, die einzige
Art, wie der Verfasser (eines Buches) die Meinung der Leser er*
fahren kann«^; der Kritiker unterscheide sich vom Leser, sagt er an
anderer Stelle ^ einzig durch die öffentliche Bekanntgabe seines Ur*
teils, das an sich jedem Leser zustehe. Die gelehrte Republik sei eine
vollkommene Demokratie ; jeder Bürger habe das Recht zu sprechen,
aber nicht alle wollen und können sprechen. Es werfen sich daher
einige zu Sprechern auf, solche, die am begabtesten sind, oder die
an einem Orte stehen, wo man sie gut hören kann, oder solche, die
sich am unverschämtesten vordrängen. So gebe es gute und schlechte
Kritiker, ohne daß die schlechten ein Einwand gegen die Institution
der Kritik wären. So sehr auch »das viele Geschwätze und Gestreite
öfters beschwerlich wird, so ist es dem Wachstum der menschlichen
Kenntnis doch noch vorteilhafter als eine tote Stille«, wie die Ge*
Seilschaft fördernder sei als die Einsamkeit; der Kritiker aber ist
nichts anderes als »ein Gesellschafter, der sich mit mir über neue
Werke unterhalten und mich zu fernerer Untersuchung auffrischen
will«. Halte man demnach aber die kritische Tätigkeit für unter*
' Göckingk S. 130.
-AD Bibliothek 10, 2, 103 ff. gelegentlich der Rezension eines »Anticriticus«.
53
geordnet, glaube man, daß der Kritiker als bloß reproduktiv und
unschöpterisch unter dem Kritisierten stehe, so müsse man sich ver*
gegenwärtigen, daß eine gute Beurteilung eines schlechten Buches
besser sei als das schlechte Buch selber; eine gute Beurteilung aber
ist ihm eine solche, die »Anlaß gibt, besser zu verstehen, richtiger
zu empfinden«, die in jeder Beziehung »weitere Aussicht öffnet«.
Man sieht, daß er den prinzipiellen Kern der Frage nach der Be*
rechtigung öffentlicher Kritik kaum berührt; Erörterungen, wie sie
etwa in Hamanns »Schriftsteller und Kunstrichter« und »Leser und
Kunstrichter« angestellt werden, wird man bei Nicolai vergeblich
suchen. Etwas weiter reichen schon seine Gedanken über die x\uf*
gaben der Kritik. Die öffentliche Kritik ist ihm das Mittel, den all*
gemeinen Geschmack zu heben. »Die Kritik ist es ganz allein, die
unseren Geschmack läutern und ihm die Feinheit und die Sicher*
heit geben kann, durch die er sogleich die Schönheiten und die
Fehler eines Werkes einsieht; und ein feiner Geschmack ist nichts
anderes, als eine Fertigkeit, die Kritik jederzeit auf die beste Art an*
zuwenden ;« das instinktive Geschmacksurteil müsse jederzeit durch
die Gründe der Kritik bestätigt werden können^; daher sei es »eine
ebenso würdige Beschäftigung der Kritik, feine Fehler zu entdecken
als feine Schönheiten zu entwickeln«"-. Die Hebung des allgemeinen
Geschmacks, die zur Beförderung der schönen Wissenschaften in
Deutschland notwendig ist, wird durch die Kritik erreicht; ihre
zweite, nicht minder wichtige Aufgabe in Hinsicht auf dieses Ziel
ist die Aufdeckung und Bloßstellung dünkelhafter Unzulänglich*
keit und »poetischer Kabale«; auf diese beiden Aufgaben weist der
17. seiner »Briefe über den itzigen Zustand« die deutschen Kri*
tiker, wie auch die »Vorläufige Nachricht« vor dem ersten Band
der »Bibliothek der schönen Wissenschaften«.
Diesen Aufgaben der Kritik entsprechen auch seine Forderungen
an den Kritiker. Ist Kritik nichts als eine »gelehrte Kommunikation«,
so muß ihr jede Überheblichkeit fern sein. Wie er sich in der »Nach*
rieht« vor seinen »Briefen über den itzigen Zustand« dagegen ver*
wahrt^, »im Ton eines Gesetzgebers« zu sprechen, da er von »einem
' Bibliothek der schönen Wissenschaften I, 1, S. 3.
- Ebenda IV, 1, 592.
'■" Briefe itz. Zust. S. 2.
54
so hohen Grad des Eigendünkels weit entfernt sei«, so betont er
auch, daß die Rezensenten der Allgemeinen Deutschen Bibliothek
sich nicht unterfangen, den Ton anzugeben, in dem das Publikum
urteilen soll, da es nicht geraten sei, den Lesern »Staub in die Augen
zu streuen«'. Da die Kritik »weitere Aussichten« eröffnen soll,
fordert er, daß der Kunstrichter »den ganzen Umfang der schönen
Wissenschaften einsehen« soll'"'; als er einen Mitarbeiter der All«
gemeinen Deutschen Bibliothek, Ebeling, bittet, ihm einen Rezen*
senten für das Fach der schönen Wissenschaften zu empfehlen,
fordert er einen »philosophischen Geist« ^; und an Schlözer, der
ihm Johannes Müller empfohlen hatte, schreibt er*, das Feuer und
der jugendliche Überschwang desselben seien ihm als Rezensenten
sicher hinderlich, denn ein Kritiker müsse »ein gesetztes, kalt*
blutiges Geschöpf sein«, wie er ja auch in den »Briefen über
den itzigen Zustand« dem Kritiker vorschreibt: »Man untersuche
gründlich und nicht in einer Art von Enthusiasmus, der dem Leser
keine Zeit lassen will zu überdenken, ob man ihm Wahrheiten oder
Gaukelwerke vorlege®.« Der gründlich Untersuchende wird freilich
strengere Maßstäbe anlegen als der durch ein »geblendetes Staunen«**
Eingenommene; so erkennt Nicolai im Namen der Verfasser der
Literaturbriefe es als Pflicht, eine Schrift »nach dem vollkommensten
Grad« abzumessen, »dessen sie fähig sein könnte«"^. Die Summe
seiner Forderungen an den Kritiker zieht Nicolai in einer Rezension^,
in der er gegen eine ungerechte und mangelhafte Beurteilung Vol*
taires polemisiert; der Kritiker müsse sich die folgenden Fragen vor*
legen: »Was darf man von den Talenten dieses Schriftstellers den*
ken ? Wie groß ist der Einfluß seiner Werke auf seine Nation, fremde '
Nationen und auf die deutsche Nation? Was hat er für Verdienste
um den edlen Zeitvertreib seiner Leser, um ihren Geschmack, um
ihre Verfeinerung? Was hat er der Religion und den Sitten geholfen
' Allg. Dtsch. Bibliothek. Vorrede z. 2. Stck. d. 8. Bds. S. 6.
' Briefe itz. Zust. Nr. 3, S. 14.
" Wie aus der Antwort Ebelings an Nicolai v. 29. IX. 71 hervorgeht. NN.
* Kopie an Schlözer 23. XL 71. NN.
» Briefe itz. Zust. Nr. 7. S. 55.
« Ebenda Nr. 5, S. 43.
' Literaturbrief 243.
« A D Bibliothek 21. 2. 367.
55
oder geschadet?« Erst nach Beantwortung dieser Fragen, müssen
wir in Nicolais Sinn ergänzen, kann eine speziell ästhetische Kritik
Platz finden.
Denn Nicolai als Kritiker steht weit über den von ihm objektiv
gesetzten Grenzen; seine kritische Tätigkeit, um das vorweg zu
nehmen, ist reicher und geht tiefer, als er es im allgemeinen fordert.
Aus dieser Tatsache ergibt es sich, was schon oben, im ersten Ab*
schnitt, angedeutet wurde, mit voller Deutlichkeit, daß sein kri*
tisches Bedürfnis aus seinem ursprünglichen, tiefsten Wesen, nicht
aus abgeleiteten Erwägungen erwuchs, so daß ihm erst kritische
Auseinandersetzung ein Verhältnis zu geistigen Dingen ermöglichte.
Wenn man in Lessing mit Recht den geborenen Kritiker erkennt,
den kritischen Menschen im weitesten Sinne, so läßt sich das auch
von Nicolai sagen; in um so höherem Maße vielleicht, als seine rein
schöpferischen Kräfte weit weniger stark und mannigfaltig sind als
diejenigen Lessings. Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, sein
Verhältnis zum Sturm und Drang auch an der Beschaffenheit seines
allgemeinen kritischenVerfahrens, seinen Zielen und seinen Grenzen,
der Verwirklichung seines kritischen Ideals zu untersuchen; denn
Nicolai will, gemäß seinem ganzen auf Verwirklichung abzielenden
Denken, auch in der Kunsttheorie beinahe noch mehr Wert auf die
Richtigkeit ihrer Anwendung als auf die absolute Richtigkeit ge«
legt wissend
Es mag zunächst gestattet sein, einige äußere Züge seines kriti*
sehen Verfahrens zu zeichnen, schon um das allgemeine Bild Nico*
lais an diesen Stellen zu berichtigen. Minor insbesondere hat es so
dargestellt, als ob Nicolais Kritik des Sturms und Drangs die leicht*
fertige Arbeit eines Besserwissers sei. Demgegenüber muß hier die
große Gewissenhaftigkeit des Kritikers Nicolai hervorgehoben
werden. Von mehreren Werken berichtet Nicolai, daß er sie zu
wiederholten Malen durchgelesen habe, ehe er sich kritisch geäu*
ßert habe; so hat er Joh. Jak. Duschs »Tempel der Liebe« »mehr
als dreimal« durchgelesen, um den Faden der Erzählung fassen zu
können^; Gerstenbergs »Gedicht eines Skalden« hat er etwa fünf*
' A D Bibliothek 26, 2, 478; gelegentlich der Rezension von C.L.Junkers »Grunde
Sätzen der Malerei«.
» Bibl.d.sch.Wiss. III. 2, 365.
56
mal durchgelesen, ehe er die Rezension desselben niederschrieb';
Lavaters Physiognomik hat er für seine Rezension derselben vier*
mal durchstudiert^. Wie er genau und sorgfältig liest, will er auch
so schreiben, »daß sich der Leser von dem ganzen Werke selbst!
aus der Rezension einen Begriff machen kann«''. Und wie er gemäß
seiner schon zitierten Äußerung an Johannes Müller* aus gewisser?
maßen literarhistorischem Gesichtspunkt auch den schlechten Teil
der Literatur in seiner Bibliothek behandeln will, damit die Leser
ein richtiges Bild von dem Gesamtstand der Literatur erhalten
sollen, so möchte er auch dem einzelnen Schriftsteller gegenüber
nicht ohne weiteres absprechend verfahren. »Bodmer«, schreibt er
an Herder^, dem er eine Bodmerrezension aufträgt, »ob er wohl
freilich nicht zu lesen ist, kann doch nicht ganz kurz abgefertigt
werden, weil unter seinem Mist doch hin und wieder ein Gold*
körnchen liegt«. Und während etwa der Herausgeber des »Teut*
sehen Mercur« an Merck schreibt®: »In einem solchen Artikel ist
alles gut, wenn's nur mit Witz oder Laune, oder etwas philosophi*
schem Teufelsdreck assaisoniert ist,« und ihn auffordert, sich »alle
Abend vor Schlafengehn ein Viertelstündchen hinzusetzen und auf
ein Fetzchen Papier einen Artikel »hinzuwerfen«, in dem Rezen*
sionen mit selbständigen Einfällen vermischt sein könnten, äußert
sich Nicolai, als Blankenburg ihn um eine Rezension seiner Theorie
des Romans gebeten hatte'': »Um ein ... nützliches, ausführliches
Urteil zu fällen, zumahl über eine Materie, von der noch so wenig
gesagt ist, würde in der That mehr Zeit erfordert werden, als ich
leider habe. Beym aufmerksamen Lesen, beym vielfachen Über*
legen und beym Aufschreiben und Ordnen der Gedanken, gehet
leicht ein Monat weg.«
Die Gewissenhaftigkeit des Lesens und Schreibens ist Voraus*
Setzung eines Kritikers, der sein Urteil von äuf^eren Rücksichten
' AD Bibl.V. 1,210.
- An Lavater 30. IV. 76 s. u. Anhang; vgl. s. Brief an Merck v. 8. X. 75 = Wagner II,
S. 74, nachdem er das Lavatersche Werk »schon zweimal gelesen hatte«.
' »V'orbericht« zum 1. Bd. der Allg. Dtsch. Bibl.
' Vgl. oben S. 41 Anm. 3.
^ An Herder 2. V. 67.
«2.111.1781.
■ Konzept eines Briefes an Blankenburg, Jan. 1775. NN.
57
reif abgeben will. Wie der Mensch, so will aber auch der Kritiker
Nicolai frei sein, nicht eingeengt durch die Rücksichten auf »poe*
tische Kabale«; und hierin besteht, wie alle Beurteiler einmütig zu*
geben, seine literarische Großtat. In einer Zeit, da dem lobenden
Kritiker im allgemeinen mehr zu mißtrauen war als dem tadelnden,
weil dieser »nur« durch persönliche Abneigung, jener aber durch
Sold oder indirekte materielle Abhängigkeit zu seinem Urteil be*
stimmt war; in der Zeit, da der Streit der Schweizer und Leipziger
von den kleineren Geistern als Kampf um die literarische Macht
geführt wurde, trat Nicolai mit seinen »Briefen über den itzigen
Zustand« hervor und erregte das größte Aufsehen dadurch, daß
er es noch deutlicher und entschiedener als Lessing im »Neuesten«
wagte, sich zu keiner der beiden Parteien zu bekennen. Das Recht
unvoreingenommener Kritik hat er stets vertreten, wie er nur den
als Kritiker gelten ließ, und insbesondere an der Allgemeinen Deut*
sehen Bibliothek nur solche Rezensenten duldete, deren unpartei*
ischer Urteilsweise er gewiß war. Die materielle Unbestechlichkeit
des Kritikers Nicolai ist nie, auch von den Zeitgenossen nicht, an*
gezweifelt worden; wer, wie ein Wiener Schriftsteller, den Versuch
machte, durch Bestechung Nicolais Urteil zu beeinflussen, wurde
von Nicolai sogleich öffentlich, wenn auch unter Verschweigung
des Namens gebrandmarkt ^ Ebensowenig darf auch seine geistige
Unbestechlichkeit angezweifelt werden. So bittet er Herder, dem
er die Rezension der in seinem Verlage erschienenen »Romantischen
Briefe« (von Leonhard Meister) aufträgt, obwohl er selbst, wie
Herder, Mendelssohn und Iselin sehr günstig über sie dachten, mit
' Vgl. Allg. Dtsch. Bibl. 43, 2, 616. Nicolai ließ die ihm zugedachte Bestechungs=
summe Spalding für die Armen überweisen; die Quittung Spaldings liegt im
Nicolaischen Nachlaß unter Spaldings Briefen. — Hier sei auch erwähnt, daß
er es ablehnte, Bücher in seinem Verlage erscheinen zu lassen, in denen ihm
selbst Ruhmeskränze geflochten werden sollten; als z. B. Prof. Baidinger aus
Marburg ihm in einem ungedruckten Brief aus dem Jahre 1792 ein Buch zum
Verlage anbietet, in dem die vorzüglichsten Männer des Zeitalters, darunter auch
Nicolai Ehrendenkmäler erhalten sollten, schreibt Nicolai an den Rand: »Ich
würde das Buch schon deshalb nicht verlegen, weil etwas von mir darin vor*
kömmt.« Demgemäß hat er auch in dem Gelehrtenverzeichnis, das er seiner
»Beschreibung der Kgl. Residenzstädte Berlin und Potsdam« (1779) im dritten
Anhang beifügte, sich selbst übergangen — zu Unrecht, wie der Rezensent der*
selben, v. Schmidt:=Phiseldeck, A D Bibl. 39, 2, 545 meint.
58
dem Lobe eher zu sparsam als zu häufig umzugehen: »ich mag auch
gern den allergeringsten Schein vermeiden, daß ein Buch gelobt
werde, weil es in meinem Verlage gedruckt ist« ^ Und wenn er auch
gelegentlich eines seiner Werke (ohne Namensunterschrift) selbst
anzeigt^, so geschieht das mit ganz objektiven Wendungen, jeden*
falls ist er vorsichtiger und zurückhaltender als etwa Lessing in der
Selbstanzeige seiner Ausgabe von Logaus Sinngedichten und seiner
Fabeln^; und wir dürfen es ihm wohl glauben, wenn er etwa in
seiner Auseinandersetzung mit Wieland schreibt*: »Was mich an=
betrifft, so bin ich mir wohl bewußt, daß ich, wenn ich Bücher an?
zeige, . . . keine andere Absicht habe, als meine Meinung davon frei
heraus zu sagen. Dies darf ich, so wie Sie es dürfen und jeder Ge*
lehrte es darf. Ich kann sehr wohl geschehen lassen, daß man sage,
ich habe geirrt; aber niemals werde ich stillschweigen, wenn man
mich beschuldigt, daß ich hämisch und parteiisch gewesen^.«
Wie er das kritische Urteil unabhängig machen will von der lite*
' An Herder 11. IV. 69.
' Wie das »Vademecum für lustige Leute«, zu dem er die Vorreden geschrieben
hat (Allg. Dtsch. Bibl., 1, 1, 298 9), sein »Ehrengedächtnis« für Thomas Abbt
(AUg. Dtsch. Bibl. VI, 2, 254) und den 3. Teil seines »Sebaldus Nothanker« A D
Bibl., Anhang zum 25.-36. Band 2, 878, wo er sagt: Ȇber den Wert desselben
weiter nichts zu sagen haben wir gegründete Ursachen, die der Leser leicht er=
raten wird;« ebenda S. 883 zeigt er die Übersetzung seiner »Freuden Werthers«
ins Holländische an als »eine Übersetzung eines in Deutschland genug bekannt
ten Werkchens«.
' Im 43., 44. und 70. Literaturbrief.
' A D Bibl. 57, 1, »Nachricht« S. 306.
" Mit einem Beispiel mag der Vorwurf der parteiischen Voreingenommenheit,
der gleichwohl gelegentlich gegen Nicolai erhoben wird, entkräftet werden.
Franz Kopetzky wirft in seinemWerk über »Joseph und Franz Sonnenfels« (S. 164)
Nicolai vor, daß sein Urteil gegen Sonnenfels unsachlich war: »Daß die strenge
Objektivität bei der Besprechung der verschiedenen Werke nicht selten der sub=
jektiven Voreingenommenheit weichen mußte, darf an Buchhändlerjournalen
nicht auffallen«; Nicolai habe anfänglich günstige Urteile über Sonnenfels ge^
fällt, dann, als der freundschaftliche Briefwechsel mit Sonnenfels aufhörte, un?
günstige; »Sonnenfels fand es daher an der Zeit, Nicolais Freundschaft wieder
aufzufrischen, weshalb er sich mit demselben in eine Korrespondenz einließ; die
Wirkung dieses Briefwechsels trat bald zutage« (nämlich in einer günstigen Re?
zension von Sonnenfels »Grundsätzen der Polizeiwissenschaft«) (S. 175). Abge=
sehen von der zweifachen Unrichtigkeit, daß erstens Nicolai mit den Rezen=
senten der Allg. Dtsch. Bibl. von Kopetzky ohne weiteres identifiziert wird, und
59
rarpolitischen Konstellation, so will er den Menschen nicht die Lei*
stungen des Dichters oder des Philosophen entgelten lassen, so will
er überhaupt Leistung und Person trennen. »Was geht es mich wohl
an, wer ein Blättchen geschrieben hat, wann ich nur weiß, ob eine
Wahrheit oder Falschheit darauf geschrieben stehet,« sagt er im
76. Literaturbrief. In seinem Brief an Wieland \ in dem er sich gegen
dessen »persönlichen Ausfall« (gelegentlich der Besprechung von
Nicolais »Freuden Werthers« ^) verteidigt, fügt er die »clausula sa*
lutaris« hinzu: »Es geschehe was wolle, so wird dadurch in der
großen Hochachtung gegen Ihre Talente nichts verändert werden . . .«;
das aber verübelte Wieland ihm gerade und antwortet\ es sei
schlimm für Nicolai, wenn er, ungeachtet ob Wieland nun nach
Nicolais Meinung als ein »ehrlicher Kerl zur gesagten Wahrheit
halte«, oder »wie ein Schurke rekantiere«, dennoch seine Talente
hochachten wollte; Wieland polemisiert also dagegen, daß Nicolai
den Dichter vom Menschen trennen will, Nicolai aber hält an seiner
Ansicht fest*. Lavater verlangt — eine für den Sturm und Drang
charakteristische Forderung — in bezug auf seinen »Pontius Pila*
tus«: »Es ist Abdruck meines Geistes und Herzens, Schimmer oder
Dämmerung von mir, allemal von Individualität und ohne das Me*
dium meiner selbst eine im ganzen ungenießbare Speise. Wer dieses
Buch haßt, muß mich hassen; wer dieses Buch liebt, muß mich
lieben . . . Wem es durchaus gefällt, der muß ein Herzensfreund
von mir sein«^; Nicolai aber scheidet da, wo er anerkannten Wer*
ken aus innerer Gegensätzlichkeit widersprechen muß, das Werk
vom Autor und will, wo er ein Buch angreift, ja parodiert, dem
zweitens, daß es Nicolai war, der den Briefwechsel beendet hatte, nicht, wie
Kopetzky annimmt, Sonnenfels, — war hier nicht eher Sonnenfels der Vorwurf
einer Unredlichkeit, als Nicolai derjenige der Voreingenommenheit zu machen,
um so mehr, als Kopetzky zugibt, daß Sonnenfels, »als ihm die Unterstützung
der Literatur schon entbehrlich schien«, Nicolais Reisebeschreibung öffentlich
hart verurteilt habe?
1 5. V. 75 = Allg. Dtsch. Bibl. 37, 1308.
- Im »Teutschen Mercur« März 1775.
3 8. V. 75 =- Allg. Dtsch. Bibl. 37, 1, 309.
^ An Wieland 16.V.75 = Allg. Dtsch. Bibl. 37, 1, 311.
■^ Sauer, D N L 79; vgl. Hamann an Herder (3. IV. 74 = Roth V, 62) über Merck:
»Ich merkte gleich Unrat, da er mir dreimal mit seiner verfluchten Distinc =
tion zwischen Mensch und Autor ins Gesicht schlug.«
60
Autor die Hochachtung und Bewunderung seiner Talente nicht
versagen. Diese Tendenz, die sich schon früh zeigt, mußte natür#
Hch um so stärker hervortreten, je mehr sich, wie das oben ange=
deutet wurde, das reine Interesse für die Poesie speziell wissen?
schaftlichen Interessen unterordnete, und je mehr sich Nicolai in
eine Abwehrstellung gedrängt fühlte.
Diese Kennzeichnung des kritischen Verfahrens Nicolais bedarf
indessen noch einer Berichtigung. Die Sachlichkeit, die ihm ermög*
licht, die innere Abneigung gegen ein Werk mit der Anerkennung
eines Autors zu vereinen, den Menschen vom Schriftsteller zu tren*
nen, wird ergänzt durch ein psychologisch gerichtetes Verfahren,
das ein Werk auf den Urheber, eine Anschauungsweise auf die sub#
jektiven Bedingungen derselben zurückführen will. Es handelt sich
dabei für Nicolai aber nicht um einen Widerspruch, sondern um
zwei verschiedene Stufen, Jene erste Trennung ermöglicht ihm in
den literarischen Fehden — und an welches bedeutende Werk jener
Zeit knüpften sich nicht unfehlbar gleich nach seinem Bekannt*
werden solche an? — sein Urteil vor der Trübung zu bewahren, die
aus dem Ruf, der einem Schriftsteller voranging, sich auch für selb*
ständigere Geister ergab. Dieses Verfahren aber erlaubt ihm eine
nicht mehr äußerliche Sachlichkeit, die, um das Werk in seiner
Ganzheit erfassen und es von der ihm eigenen Grundlage aus kriti*
sieren zu können, den Dichter als Maßstab der Dichtung, den Men*
sehen als Maßstab der Anschauung setzt, ohne daß freilich der
Dichter oder der Mensch an sich Objekt seiner Kritik wird. Steht
doch im Mittelpunkt seiner Kunstanschauungen, wie wir erkannten,
ni^ht das Werk, sondern »der Künstler und sein Werk«, ohne daß
er den Künstler an sich irgendwie in dogmatische Fesseln einengen
will; es kommt ihm einzig auf die Erkenntnis des Zusammenhanges
zwischen subjektiven Bedingungen und objektiver Gegebenheit an,
nicht auf dieses oder jenes gesondert. Nicolai besaß ein gutes Organ
für psychologische Zusammenhänge, das sich zumal seit der Zeit,
da die »Wissenschaft vom Menschen« immer stärker sein Interesse
in Anspruch nahm, natürlich innerhalb der durch die Tempera*
mentspsychologie seiner Zeit abgesteckten Grenzen, betätigte. Man
könnte seine Romane wegen des starken Hervortretens der seeli*
sehen Bedingungen zu jeder Handlung seiner Personen psycho*
61
logische nennen; freilich reicht sein dichterisches Vermögen nicht
aus, um sie zu gestalten, er räsonniert vielmehr über die psycholo*
gischen Faktoren der Handlungen seiner Helden. Umständlich,
aber mit dem richtigen Gefühl für die Notwendigkeit der Begrün?
düng einer wichtigen Handlung aus der seelischen Zuständlichkeit
entwickelt er z. B. den Entschluß Sophiens im »Dicken Mann«,
ihren Jugendfreund, der sie einst verschmäht hat, zu heiratend Ja
in der ganzen Anlage dieses Romans zeigt sich das Bestreben, die
Schicksale des Helden — und damit der heruntergekommenen philo*
sophischen Gecken Kantischer Schule — aus dem »Milieu«, der Er*
ziehung, den äußeren Lebensumständen seiner Jugendjahre, dem
Charakter der Eltern usw. psychologisch zu erklären. Besonders
stark spricht sich dieses Bemühen in den »Vertrauten Briefen« aus,
doch zeigt es sich auch im »Sempronius Gundibert« und im »Se*
baldus Nothanker«, hier besonders in den Charakteren Säuglings
und Marianes. Dieses Organ für die psychologischen Zusammen*
hänge hat sich denn auch in seinem kritischen Verfahren funktionell
betätigt. So verlangt Nicolai etwa von Herder^ daß er bei der ihm
aufgetragenen Bodmerrezension »untersuchen« solle, »woher es
kommt«, daß diese Gedichte so »unwohlklingend und so unlesbar
sind. Die harte Prosodie und die närrischen Epithete u. dgl. sind
freilich eine von den Ursachen mit, aber selbst in den Gedanken
liegt, wie mich dünkt, nicht die Hauptursache. Bodmers Einbil*
dungskraft ist kalt und er sucht durch locos communes seine Ge*
dichte aufzustutzen.« Und im allgemeinen Überblick über die zeit*
genössische Literatur, den der Magister Matthesius im Gespräch
mit Sebaldus Nothanker gibt^, erklärt er sich im Sinne Nicolais:
»Wir wollen uns die Fehler unserer Literatur und unserer Gelehr*
ten nicht verhehlen, aber wir wollen auch das entschuldigen, was,
ohne die Schuld unserer Gelehrten, nicht anders sein kann.« »Was
wäre Kant geworden«, urteilt er demgemäß*, »wenn er wie Hume
hätte schreiben können. Und er würde so geschrieben haben, wenn
er, wie Hume, hätte Menschen kennen lernen, statt daß er bloß
1 Dicker Mann II,41.233f.
- An Herder 2. V. 67 = Hoffmann S. 9.
^ Sebaldus Nothanker II, S. 106.
' Göckingk S. 130.
62
Studierstube und Katheder kannte«. So leitet er den Subjektivismus
der Fichteschen Ich*Philosophie aus dem engen klösterHchen Leben
des Tübinger Stifts ab, die spekulative Hypertrophie der Kantianer
aus der übertriebenen rationalistisch*dogmatischen Jugendbildung
in theologicis^ Scheint es nicht geradezu eine Umkehr aller Begriffe,
wenn er Friedrich Schlegel, der allerdings damals in der Periode
seiner konstruierenden »Objektivitätswut« sich befand, die Worte
entgegenruft ■*: »Lessings Werke wollen, so wie die Werke aller
guten Schriftsteller, in dem eigenen Geiste des Verfassers
gelesen sein; der fremde, besonders der rein vonvornige dunkel*
volle, nach eigenem Bedürfnisse postulierende Geist unterdrückt
jeden Geist, der in den Schriften eines vorzüglichen Verfassers zu
Hause ist«^. Und er fordert dieses kritische Verfahren nicht nur,
sondern wendet es auch an. So ist z. B. in der Zeit seines Kampfes
gegen den Sturm und Drang die Bezeichnung »schielend« ein
typischer Ausdruck seines Tadels, der uns oft begegnen wird.
So sucht er sich Thomas Abbts Stil, dem er ablehnend gegenüber*
steht, psychologisch zu erklären. Je mehr er es überlege, schreibt
er an Justus Moser*, scheine ihm Abbts Stil »aus einer mißlungenen
Nachahmung des Tacitus« entstanden zu sein; er wollte wichtige
Sentenzen in wenig Worten ausdrücken; zuweilen seien aber seine
Gedanken entweder noch nicht reif genug gewesen, oder er habe
nicht Geduld genug gehabt, sie so zu wenden, daß sie sich natürlich
ausdrücken ließen, und habe dann der deutschen Sprache die Schuld
gegeben, deren vorhandene Mittel ihm als unzureichend galten,
und die er durch eigene Wortfügungen und Metaphern ersetzte;
bald habe er sich indessen so an diese willkürliche Schreibart ge*
wohnt, daß er sie auch verwandte, »wenn die Ursachen, die sie zu*
erst veranlaßten, nicht da waren«. — So hebt er auch hervor, daß
' Reisebeschreibung XI, 103ff. u. 120ff., gelegentlich s. Darstellung des Tübinger
Stifts.
- Vorrede zu den »Gesprächen Chr. Wolfts mit einem Kantianer«, S.65; im Hin=
bhck auf Schlegels Emilia Galotti=Kritik.
■' Vgl. »Vertraute Briefe« S. 118: »Der wahre Kenner schätzt jedes Geisteswerk in
seiner Art; wer alles willGoethisch und Shakespearisch haben, ist genau so klein.
lieh und einseitig, als die Franzosen, welche meinen: que le bon goüt ne se
trouve qu'en France«.
* 19. III. 67 = Mosers Werke, ed. Abeken 10, 146.
63
der Dichter nur da Vollkommenes leisten könne, wo er seinen eigen*
sten Bedingungen folgt, und wie er es Uz so wenig anrechnen will,
wenn er statt Liedern bisweilen Lehrgedichte macht, als Klopstock,
wenn dieser statt Oden Lieder dichtet, so bemerkt er beispielsweise
von der Karschin, daß sie nur da Vollkommenes leiste, wo sie »in
der Hitze der Einbildungskraft«, — die sie sich selbst als eigentliches
Produktionsmittel in der Vorrede zu ihren gesammelten Gedichten
zugewiesen hatte, — nicht aber »aus Vorsatz und mit ruhiger Über*
legung« dichtet; ihre dichterische Stärke beruhe in der Improvisa*
tion, nicht aber in der — von Nicolai einzig geschätzten — Verbin*
düng planvollerÜberlegung und ursprünglicher dichterischerKraft^
Dieses Eingehen auf die psychologischen Grundbedingungen ist
so stark, so sehr nimmt er in dem zu kritisierenden Werk Platz, daß
er mitunter die Selbständigkeit seines Urteils aufgibt und sich ganz
an das zu Beurteilende verliert. —
Auch an der Art des kritischen Verfahrens Nicolais haben sich
die Widerstände gegen den Sturm und Drang entzündet. Die
gegenpoligen Anschauungen über das Wesen der Kritik haben
sich in Nicolais Auseinandersetzung mit Gerst2nberg und Hamann
recht früh geäußert, wie sie später im Streit mit Voß hervortraten;
die Gegensätze des kritischen Verfahrens, die vorhin schon an
einer Stelle durch die Erwähnung der Lavaterschen Äußerung
über seinen »Pontius Pilatus« angedeutet wurden, haben sich in
seinem Briefwechsel mit Herder und Lavater bemerkbar gemacht.
Die gekennzeichnete Sachlichkeit des Kritikers Nicolai im Verein
mit seinem psychologischen Verfahren hat wiederholt die Ablehnung
und den Spott der Stürmer erfahren. Der junge Goethe stellt ein*
maP als die beiden Arten des Kunstbetrachters den »Kenner« und
den »Enthusiasten« gegenüber; das kritische Ideal der Stürmer ver*
körpert der Enthusiast; Nicolai war und galt mit Recht als »Ken*
ner«. Aber mehr: Nicolais individuelle Organisation mußte da ver*
sagen, wo — wie bei den Werken und Versuchen der jungen Gene*
ration — bei aller Abgewogenheit des Urteils eine unbegrenzte
Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit, bei ausgesprochener
' Nicolai im 276. Literaturbrief, der von Mendelssohn herrührt, dem Nicolai je^
doch nach Altenkrügers Angabe (S. 100) die hier zitierten Stellen eingefügt hat.
' Weimarer Ausgabe. I. Bd. II, 187 f.
64
Richtung auf das Monumentalische der Sinn für Detail und Kolo*
rit, für das Vereinzelte, ja Fragmentarische gefordert war — eine
Kritik, die durch Zutat und Beiwerk hindurch die Ganzheit erfaßte,
mit einer Schnellkraft und Intensität, die der »Sphäre des Genius«
(Gerstenberg) gleichzukommen suchte. Merck schreibt, über Lenz'
Liebesgedichte, die er in Gemeinschaft mit Goethe gelesen hatte ^:
»Sie waren dem äußeren Schnitt nachMenantisch,Talandrisch,Gott*
schedisch, dafür hätte sie gewiß Ramler gebrandmarkt. Aber in«
nen wehte der große Wind heraus, der uns mitschaudern
machte.« So urteilt der berufene Kritiker der Jungen. Nicolai hat
den »großen Wind« nur bei einem Werk der jungen Generation
gespürt: bei Goethes Werther — aber mit diesem Werk ist sein
Name als Kritiker auf eine unrühmliche Weise verbunden.
' An Lenz 8. III. 76 = Briefe an Lenz ed. FreyesStammler I, 193.
5 Sommerfeld, Friedrich Nicolai <5
ZWEITER TEIL:
ENTWICKLUNGSMÄSSIGE DAR=
STELLUNG VON ETWA 1765 BIS 1780
ERSTES KAPITEL
Wenn die außerordentliche Stellung berechtigt ist, die man Klop*
Stocks Messias in der Entwicklung der deutschen Literatur des
18. Jahrhunderts zuweist, so verdient Lessings kritische Auseinander*
Setzung mit dem Messias, gemäß der engen, gesetzmäßigen Verbin=
düng von Kritik und dichterischer Produktion in jener Zeit, eine
gleichfalls hervorragende Beachtung. Es ist weniger der Wert dieser
kritischen Auseinandersetzung an sich, nicht die Aufdeckung neuer,
fruchtbarer Prinzipien,wie später in den Literaturbriefen, im Laokoon
und der Hamburgischen Dramaturgie, was ihr diese Bedeutung zu*
kommen läßt, als vielmehr das an dieser Stelle deutlich erkennbare
Hervortreten zweier verschiedener geistiger Strömungen, die das
Jahrhundert hindurch im Kampfe lagen und beide die vornehmsten
Früchte desselben gezeitigt haben. Der bürgerliche Realismus, der
streng rationalistischen Schulzucht schon entwachsen, der seit den
dreißiger Jahren des Jahrhunderts sich deutlich offenbart, um in
Lessing und den »Berlinern« seinen eigentlichen und bedeutungs*
vollen Ausdruck zu erlangen, und der hier in Klopstocks Messias
zur großartigen Ausprägung gekommene, den Individualismus der
Genieperiode vorbereitende Pietismus, die hier einzig religiös orien*
tierte Gefühlsbetontheit stehen sich hier an entscheidender Stelle
gegenüber, und in der nicht gerade starken Leistung des jüngeren
Kritikers Lessing gegenüber dem großen Werk des älteren Klop*
stock deutet sich das Schicksal einer Generation an, die »frühen
Ruhm mit herbem Altersgeschick bezahlen mußte« \ seigt sich das
starke Unbehagen, das eine mächtig aufstrebende Jugend gegenüber
den unbestreitbar großen Leistungen der Zeitgenossen empfand, die
einer anderen Geistigkeit entstammten.
Denn allerdings ist Lessings erste Stellungnahme zu Klopstock
stark von diesem Unbehagen beeinflußt. »Der junge Lessing«, er*
kennt Erich Schmidt^, »machte bei den vornehmen neuen Denk*
' R. Unger, »Hamann und die Aufklärung« S. 10. Für diese ganzen Zusammen^
hänge: vgl. ebenda, Kap. 2 und 6, und Franz Muncker, »Klopstock, Geschichte
seines Lebens und seiner Schriften,« Stuttgart 1888, S. 178 f.
^ Erich Schmidt, »Lessing« I, S. 96.
69
mälern didaktischen Tiefsinns und erhabener Begeisterung mit sehr
gemischten Gefühlen Halt. Der Schalk in ihm spöttelte über so viel
Gedanken* und Gefühlsaufwand, aber die rasche Erkenntnis, daß
diese Poesien Hallers und Klopstocks Zukunft atmeten, und das
leidenschaftliche Verlangen, mit ihnen zur Unsterblichkeit empor*
zusteigen, schrie solche kritischen Regungen nieder.« War so ein auf
reines Nachempfinden gegründetes Urteil für Lessing unmöglich,
so traten andere Gesichtspunkte ein, um die nun einmal objektiv
feststehende Größe Klopstocks zu begründen; der getrübte Blick
des Kritikers stellte sich literarpolitisch ein: »Lessing betrachtete
Klopstock unter historischen Gesichtspunkten, die hier mit den
patriotischen zusammenfielen,« urteilt Franz Muncker^ Es ist daher
bei Lessings geistiger Organisation nicht verwunderlich, daß er,
wenn der persönliche Antrieb zu solcher Stellungnahme fortfiel, das
Unzulängliche derselben einsah, und etwa gegen die seiner Kritik
verwandten, ja von ihr abhängigen kritischen Äußerungen Nicolais
gegen Klopstock, sein Mißfallen bezeugte^.
In der Tat sind die ersten kritischen Äußerungen Nicolais im
Geist den Lessingschen verwandt, was nicht nur aus der starken
äußeren Abhängigkeit von Lessing zu erklären ist. Man muß aller*
dings betonen, daß Nicolai im Gegensatz zu Lessing ein gewisses
ursprüngliches positives Verhältnis zu Klopstock gehabt hat. Zwar
darf das Lobgedicht des vierzehnjährigen Schülers auf Klopstock,
auf das zuerst E. Altenkrüger hinweisen konnte \ ein fades, trocken*
lehrhaftes Elaborat, in dieser Hinsicht nicht überschätzt werden;
aber die außerordentliche Bedeutung, die die ersten Bände der
Bremer Beiträge in seinem Bildungsgange als erste und fruchtbarste
literarische Anregung besitzen*, und der von Nicolai später ge*
rühmte starke Eindruck, den Miltons »Verlorenes Paradies« auf
den heranwachsenden Jüngling als »Muster moderner Poesie«
' Franz Muncker, »Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klop;
stock« S. 74.
- Vgl. Lessing an Nicolai 3. VlI. 57 = Lachmann^Muncker, XVII. 111 und im
18. Literaturbrief, wo er sagt, er habe gegen wenig Rezensionen in der Biblio*
thek der schönen Wissenschaften so viel einzuwenden, wie gegen die des Messias
(von Nicolai).
' F. Nicolais Jugendschriften S. 28 f.
* Vgl. Göckingk S. 10.
70 . '
machte \ lassen auch seine ursprüngHche Stellung zu Klopstocks
Messias als positiv erschließen. Wenngleich auch damals schon
gegenüber der vom Pietismus stark genährten Empfindungswelt
des Messias leise Bedenken aufgestiegen sein werden, da der Knabe
den Pietismus in Halle hassen gelernt hatte, so vermochte er wahr*
scheinlich den dichterischen Ausdruck rein und gesondert von den
pietistischen Elementen zu genießen. Dieses frühe Verhältnis muß
man heranziehen, wenn man Nicolais erste größere kritische Äuße*
rung gegen Klopstock richtig beurteilen soll.
Nicolais Rezension der Klopstockschen »Abhandlung von der
Nachahmung des griechischen Silbenmaßes« und des achten bis
zehnten Gesanges der Messiade erschien im zweiten Stück des ersten
Bandes der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen
Künste«-. Im ersten, der »Abhandlung« gewidmeten Abschnitt tritt
Nicolai dem Klopstockschen Satz entgegen, der dem epischen
Dichter nur die Prosa oder den Hexameter gestatten will. Nicolai
findet diese Forderung nicht notwendig, nicht im Wesen des Epos
begründet; doch vermeidet er es, offenbar aus Rücksicht auf Klop#
Stocks Autorität, seinem Widerspruch weitergehenden Nachdruck
zu geben. Vielmehr setzt er hier die Verwendung des Hexameters
voraus, da Klopstock sich nun einmal dafür entschieden habe und
sich »nebst dem Herrn von Kleist« des deutschen Hexameters »am
besten zu bedienen und ihm den meisten Wohlklang zu geben ge*
wüßt habe«. Der zweite Teil der Rezension ist ebenso zurückhaltend
im Urteil, nicht nur wegen des oben hervorgehobenen Ursprung*
liehen Verhältnisses zur Klopstockschen Dichtung, sondern auch
weil es, wie Nicolai sagt, schwer sei, ohne Kenntnis des ganzen
Planes, die nur der Dichter habe, zu urteilen, weshalb er seinen
kritischen Anmerkungen hinzufügt, er hoffe, daß Klopstock sie »ge«
neigt aufnehmen« werde. Demgemäß besteht die Nicolaische Kritik,
nächst einer Wiedergabe des Inhalts der drei Gesänge, aus einer
Anzahl untereinander nicht zusammenhängender, sehr vorsichtiger
Einzelbemerkungen; so meint er, daß die Einführung Satans und
^ »Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, welchen gewaltigen Eindruck die gigan^
tischen Bilder dieses Gedichts auf meine jugendHche Einbildungskraft machte,«
heißt's in der Schrift »Über meine gelehrte Bildung«. S. 19.
- 1757, S. 297 bis 331.
71
Adramelechs (im 8. Gesang) hätte vorbereitet werden müssen, da
»der Dichter lange von ihnen geschwiegen hat und uns den Faden
ihrer Geschichte beinahe hat verHeren lassen« (S. 311) ; es wäre aber
nicht nur Gelegenheit gewesen, sie vorher zu erwähnen, sondern es
hätte auch die dichterische Wirkung unzweifelhaft erhöht, wenn sie
»als unmittelbare Werkzeuge der schrecklichen Taten, welche in den
vorigen Gesängen vorgegangen sind« — z. B. bei der Geißelung und
Krönung des Heilands — dargestellt worden wären ; denn die Er*
niedrigung des Erlösers würde uns dadurch noch stärker gerührt
haben. Ein zweiter Einwand Nicolais richtet sich dagegen, daß
Eloa, nicht der Messias selbst, beide vertreibt; es würde ein stär*
kerer Beweis für die Erfüllung der Weissagung: »Du sollst der
Schlange den Kopf zertreten« sein, wenn der Messias nicht die Tat
des Seraphs mit einem Blick verstärkte, sondern sie selbst voll«
brächte. Den Mangel an Handlung im achten und neunten Gesang
findet Nicolai dem epischen Charakter widersprechend; jedoch will
er nicht entscheiden, ob dieser Mangel »aus der Beschaffenheit der
Geschichte selbst oder aus einem Fehler im Plan des Dichters her«
rühre«. Er vermochte also die tieferen Gründe nicht zu fassen, aus
denen der Messias eigentlich epischen Charakter entbehren mußte,
aus denen seine Handlung nur eine scheinbare sein konnte; denn die
Feinde des Messias, die ihm den Tod wünschen, befördern nur seine
x\bsicht, für die Menschen zu sterben; Klopstock als Epiker hätte
die Handlung auf den Boden der Geschichte stellen müssen, was
eine menschliche Darstellung des Erlösers bedingt hätte; und
dies eben wollte Klopstock vermeidend Besonderes Lob spendet
Nicolai — wohl nach Lessings Vorgang — den Gleichnissen Klop*
Stocks, in denen er eine Stärke besitze, »die bloß mit dem Homer
verglichen werden kann«; das Lied im zehnten Gesang, das Simeon
und Johannes der Täufer »gegeneinander singen«, sei »im ächten Ge*
schmack der alten hebräischen Poesie, ein Meisterstück der Einfalt
und Hoheit«, »das allein schon Klopstock zum großen Dichter
machen würde«. (S. 322.) Ohne Klopstock »heruntersetzen« zu
wollen, wagt er es, »noch einige Anmerkungen über einige Fehler in
der Schreibart« herzusetzen, wie er sagt »Sommersprossen in einem
vollkommen schönen Gesicht«. Er tadelt die Verwendung unnötiger
' Vgl. Muncker, Klopstock S. 89 ff.
72
oder falscher Beiwörter, den häufigen Gebrauch metaphorischer
Wendungen (»die endHch unbestimmt und dunkel werden«); und
schließHch,die schwerwiegendste und in der Folgezeit für Nicolais
Verhältnis zu Klopstock fruchtbarste Anmerkung, daß der Dichter
»öfters Empfindungen auszudrücken sucht, wo keine sind, und dann
ins Süße und Spielende verfalle« — eine Behauptung, für die Nicolai
hier allerdings sehr wenig beweiskräftige Beispiele anführt.
Es ist kein Grund vorhanden, den Ton ehrfürchtiger Bewunde*
rung des Dichters, die aus dieser Nicolaischen Rezension spricht,
als unecht und unglaubwürdig anzuzweifeln; aber es läßt sich auch
nicht verkennen, daß dem bewunderten Dichter nicht eigenthch
die Liebe des Kritikers gehört. Hat Nicolai auch nicht, wie Lessing,
sich die Bewunderung Klopstocks abgerungen, so war sie doch
auch bei ihm nicht ungetrübt; und die tieferliegende, Nicolai zu*
nächst vielleicht gar nicht bewußte Fremdheit gegenüber der Klop=
stockschen Dichtkunst hat sich, wie bei Lessing, in nüchterner Er«
wägung von Licht und Schatten in der im ganzen bewunderten
Dichtung niedergeschlagen. Es ist nun schon oben darauf hinge*
wiesen worden, wie die Entwicklung Nicolais in der Bewußt*
machung tieferliegender und zunächst nicht im Geist wirkender
Inhalte bestand. In seinem Verhältnis zu Klopstock können wir
diesen Weg recht deutlich verfolgen; denn jene letzte Fremdheit
gegen die Klopstocksche Dichtung findet schrittweise bei Nicolai
bewußtere Begründung, bis sie alle anderen Momente seiner Stel*
lungnahme zu Klopstock verdrängt und das einzige wird. Im
173. Literaturbrief noch hält er Zachariaes mißlungener Milton*
Übersetzung die formale Vollendung der Messiade entgegen. Im
299. Literaturbrief fragt er gelegentlich seiner Besprechung von
C. F. V. Mosers »Geistlichen Gedichten«: »Was hat denn die Reli*
gion von mittelmäßigen poetischen Versuchen für Nutzen, und
können sie ihr nicht mit der am besten gemeinten Absicht wirklich
schaden?« Milton, Young und Klopstock sollten allerdings von
seinem Tadel nicht betroffen werden; sie dienten der Dichtkunst
und der Religion. — Allein die Frage war einmal gestellt, und
mußte da, wo die dem Messias zugrundeliegende religiöse Stim*
mung einen besonders starken Ausdruck erlangte, eine Antwort er*
fahren, die jene Fremdheit stark betonte. Einen solchen Ausdruck
73
fremder, ja Nicolai widerwärtiger religiöser Stimmung sah er in den
»Fragmenten aus dem 20. Gesang des Messias« \ über die er sich
denn auch sogleich in einem verloren gegangenen Briefe abfällig
gegen Gerstenberg äußerte, und zwar, wie aus dessen Antwort-
ersichtlich ist, in ziemlich deutlicher Weise. »Sie beschuldigen Klop*
stock«, schreibt Gerstenberg da, »daß er sich allmählich mehr zum
Abenteuerlichen und zur Schwärmerei lenke . . . Sie befürchten,
wenn gewisse Hymnen, die Sie gesehen haben, wirklich in den
letzten Gesang des Messias kommen sollten, daß die Kritik sich
allenthalben in Deutschland laut hören lassen werde . . .«; er be*
schuldigt hingegen Nicolai, daß er »Urteile über detachierte Stücke«
fälle, ohne den Plan des Ganzen zu kennen, und ohne zu bedenken,
daß Klopstock Ursachen gehabt haben werde, diese Töne anzu*
schlagen. Nicolai repliziert^, er habe nicht geglaubt, daß Klopstock
»ohne alle Ursachen sich entschlossen habe, Hymnen in den Mes>
sias zu setzen«; es frage sich aber, ob diese Gründe zwingend ge*
nug seien — was er bestreiten müsse. »Das schlimmste,« fährt er
sodann fort, »ist, daß in den Hymnen selbst so viel Fanaticismus
(sie!) herrscht, daß ich aufrichtig gestehen muß, daß ich zuweilen
wirklich Widerwillen beim Lesen empfunden habe«. Er wisse, daß
Klopstock im Leben nicht der Schwärmer sei, wie hier in diesen
Hymnen, »aber was bringt ihn dazu, solche innerliche Aufwallun*
gen zu dichten«? Wir sehen, wie seine Kritik der religiösen Gesin*
nung des Messias^Dichters hier schon zu einer Kritik der Dich*
tung Klopstocks überhaupt wird. Und wenn er auch bemerkt, daß
er, je freier er jetzt mit seinem Urteil dem Freunde gegenüber ge*
wesen sei, um so behutsamer sein werde, »wenn das ganze Werk
herausgekommen sei«, und er sein Urteil öffentlich sagen sollte,
und seine Äußerungen so zu entkräften sucht; wenn er auch
Gerstenbergs Verteidigung Klopstocks und seinen Hinweis darauf,
daß Klopstock »seinen Glückseligen Denkart und Begeisterung
beilegt, wie er glaubt, daß sie ihnen natürlich sind«, seinen
Hinweis darauf, daß diese religiöse Stimmung normierender Ein*
rede sich entziehe, anscheinend nicht beantwortet hat, so hat er
' Vgl. Muncker, »Klopstock« S. 485.
- Gerstenberg an Nicolai 31. 1. 67 = Z. f. d. Phil. 23, 47.
' Nicolai an Gerstenberg 21. III. 67 = ebenda S. 50.
74
doch einige Jahre später Herder gegenüber seine Antwort auf diese
Gerstenbergschen Behauptungen in aller Schärfe geltend gemacht.
Es sei dem Dichter zwar leicht, unsere Aufmerksamkeit von den
Mängeln des Stoffes auf die Vollkommenheiten des dichterischen
Ausdrucks zu richten; »was hilft aber alle Kunst Klopstocks, wenn
ein philosophischer Kopf den Begriff Gottmensch für eine Contra*
dictio in adiecto, den Begriff einer blutigen Genugtuung für dem
höchsten Wesen unanständig hält? Hier kommt Vernunft beständig
in Kollision mit Empfindung, wodurch diese gewiß geschwächt
wird ^ I« Schon ein Jahr vor dieser Äußerung hatte er ebenfalls Her*
der gegenüber die Gegensätzlichkeit ihrer religiös* theologischen
Gedankenwelt als Grund der Entfremdung von Klopstock ange*
geben: »Vielleicht sind mir viele geistliche Oden des Hrn. Klop*
Stocks darum nicht angenehm, weil ich das theologische System,
worauf sie sich gründen, nicht verdauen kann^.« So sind ihm denn
auch die biblischen Dramen Klopstocks verschlossen: »Der Tod
Adams von Hrn. Klopstock ist unter uns sattsam bekannt«, be*
ginnt eine kurze Anzeige der Gleimschen Versifizierung des Klop*
stockschen Dramas, die sich dahin ausspricht, daß Klopstocks
Drama noch das wenige Gute in der Gleimschen Bearbeitung ver*
liere^. Den schärfsten Ausdruck aber findet das Bewußtsein dieser
Gegensätzlichkeit in einer brieflichen Äußerung an Höpfner aus
dem Jahre 1775*. Höpfner hatte ihm mitgeteilt", daß Klopstock
(dessen Simplizität im Gegensatz zu seiner schwärmerischen Dich*
tungsart Höpfner bei dieser Gelegenheit rühmt) ihm gegenüber
bei einem Besuch seine Unzufriedenheit mit der Allgemeinen
Deutschen Bibliothek bezeugt habe. Nicolai erwidert: »Herrn
Klopstock verehre ich sehr, obgleich ein großer Teil seiner Schrif*
ten für meine Lektüre nicht ist. Daß er im ganzen mit der Biblio*
thek nicht kann zufrieden sein, begreife ich auch. Bei ihm hat das
gangbare theologische System eine poetische Wahrheit, und wenn
die Verbesserung der Theologie, die die Bibliothek verlangt, immer
' Nicolai an Herder 24. VIII. 72.
- Nicolai an Herder 19. XI. 71.
' AD Bibl. 10,2, S. 238 ff.
* Nicolai an Höpfner 17.V111. 75 == K.Wagner »Briefe aus dem Freundeskreis«.
Höpfner an Nicolai NN. »Empf. 12. VIII. 75.«
75
weiter geht, so verliert sein Messias den größten Teil seines Inter*
esses.« Denn inzwischen hat sich für Nicolai die zweifelnde Frage,
die er, wie oben erwähnt, im Anschluß an v. Mosers »Geistliche
Gedichte« erhob: was die Religion von der Poesie für einen
Nutzen haben könne, zu der Fragestellung verändert, die in der
Rezension der Klopstockschen Gelehrtenrepublik in die Worte ge*
kleidet ist: »Was kann die Aufklärung der Religion von dem
Dichter als Dichter erwarten?'« Und da er der Meinung ist, daß
den Dichtern »die öffentliche Glaubenslehre als Mythologie ein
ganz gutes Ding sei, wobei es aber gar nicht auf Richtigkeit und
Aufklärung der Begriffe ankomme«, daß sie vielmehr glaubten,
der Volksglaube könne »nicht dunkel und verwirrt genug erhalten
werden«, so ist es nicht verwunderlich, daß seine Antwort gegen
die Dichter ausfällt, die aus religiöser Stimmung heraus, unbe*
kümmert um die Einwände gegen die rationale Anfechtbarkeit ihres
Vorwurfs gestalten.
Die religiös*theologische Gegensätzlichkeit, die mit der zuneh*
menden Bewußtwerdung Nicolai sich immer weiter von der Klop*
stockschen Dichtkunst entfernen läßt, wird nun durch ein anderes
Moment der Gegensätzlichkeit, das aus dem zuletzt zitierten Urteil
schon recht deutlich sprach, noch ergänzt. Der Kampf um die My*
thologie, der sich durch das 18. und 19. Jahrhundert hindurch»
zieht, scheidet die geistigen Strömungen bald als bewegendes Mo*
ment, bald nur als akzidentelles Unterscheidungsmerkmal^. Nir*
gends ist aber die Gegensätzlichkeit in der Stellung zur Mytho*
logie stärker als in dem Verhältnis der Aufklärung und des Sturms
und Drangs. Die Genieperiode beginnt recht eigentlich mit dem
Kampf um die Mythologie. Handelt es sich für die Vorläufer der
Genieperiode um das Wie? der Mythologie, um den Streit zwischen
griechich^römischer, alttestamentarischer, orientalischer und altger*
manisch^keltischer Mythologie, so ist für Nicolai die Mythologie
überhaupt zunächst Gegenstand seiner Fragen und, wie gleich hin=
zugefügt werden soll, seiner Beantwortung im negativen Sinn;
' Allg. Dtsch. Bibl. 28, 1, 117. Ich nehme die Rezension der Gelehrtenrepublik
für Nicolai in Anspruch, vgl. S. 81 Anm. 3 dieses Kapitels.
= Vgl. Fritz Strich, »Die Mythologie von Klopstock bis Wagner«, 2 Bde. Halle 1910,
bes. I, 92.
76
auch hier findet seine Stellungnahme eine Parallele zu derjenigen
Moses Mendelssohns'. Von dieser tiefwurzelnden Abneigung aus
hat er diejenigen Dichtungen Klopstocks abgelehnt, in denen die
mythologischen Intentionen poetischen Ausdruck erhielten: seine
Bardiete und Oden. Diese Gegensätzlichkeit spricht sich, da hier
kein ursprünglich positives Verhältnis besteht, fast ohne Über*
gangsstufen gleich mit aller Schärfe aus. Zwar in der lobprei*
senden Rezension von Gerstenbergs »Gedicht eines Skalden« -
nimmt er die Möglichkeit eines »nordischen Arioste« an, eines
großen Dichters, dessen Stärke die »wilde Imagination« ist; aber
er gesteht hier höchstens ein Stoffgebiet zu, und die Entmateriali*
sierung der Mythologie zur .Imagination', die Ersetzung der von
bestimmter Stofflichkeit erfüllten Phantasie durch die dichterische
Funktion läßt dieses Zugeständnis als rein äußerliches in seinem
Wert sinken. Schon in dem Ausdruck spricht sich der geringe Wert
dieses Zugeständnisses aus: »Die Imagination in diesem Gedichte
ist so sonderbar als die Versart . . . inzwischen hat uns dieses Son*
derbare an beiden eben nicht mißfallen. Es hat uns vielmehr, da
wir dieses Gedicht das vierte und fünftemal durchlasen, immer mehr
gefallen.« Und er faßt seine, aus diesem Satz sprechenden ersten
Bedenken nochmals deutlich: »Vielleicht wenn die nordische My#
thologie in Gedichten öfter gebraucht würde, würde sie bei den
Lesern mehr Wirkung tun können, weil sie derselben gewohnter
wären.« Indessen, wenn er das Stoffgebiet auch äußerlich zugesteht,
innerlich ist er unbeteiligt; und vor allem ist ihm der Gebrauch,
den Klopstock und die Bardendichtung davon machen, in höchstem
Maße zuwider. Was zunächst Klopstocks Bardiete anbetrifft, so hat
er sich über sie nicht nur wegen ihrer Form^ sondern vor allem
wegen des mythologischen Elementes höchst abfällig geäußert. »Ich
habe Hermanns Schlacht bewundert, kann sie aber nicht lieben«,
schreibt er an Lessing^. Eingehender und für sein wahres Empfinden
' Vgl. F. Braitmaiers kurze aber treffende Darstellung : Geschichte der poetischen
Theorie und Kritik, II, S. 227f.
' Allg. dtsch. Bibl. 5. l,210flF.
' Außer in dem noch zu erwähnenden Brief an Uz (s. S. 78 Anm. 1) im Briefe
von Gerstenberg v. 31. I. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 50. es sei ihm unmöglich »sie
mehr als einmal durchzulesen«, was er auch öffentlich gestehen wolle.
* Nicolai an Lessing 12. II. 71 = Lachmann*Muncker 20, 15.
77
zutreffender hat er sich vorher gegen Uz geäußert: »Was sagen Sie
von Klopstocks Hermannsschlacht? Fast möchte ich davon sagen,
was jener von der Pucelle sagte: Cela est bien beau, mais cela est
bien ennuyant. Ich meine es aber in einem anderen Verstände. Das
Stück istw^irklich sehr schön, doch kann man es nicht zum zweiten
oder dritten Male lesen, man kann nicht Teil daran nehmen. Solche
Gesinnungen, wie darin herrschen, wünsche ich unseren Zeiten
nicht'«. Daß aber die Verbindung zwischen der Verwendung alt*
germanischer Mythologie und einer dem gegenwärtigen Zeitemp*
finden widersprechenden Gesinnung nach Nicolais Meinung nicht
zufällig ist, darauf deuten seine Äußerungen an Herder, die zugleich
auch ganz deutlich seine endgültige Stellung zur Mythologie wider*
geben. »Ich halte nichts von Schönheiten«, schreibt er da^ die sich
bloß auf die Mythologie gründen, es sei nordische oder griechische.
Inzwischen, da freilich die Mythologie in der Hand des Odendich*
ters ein Werkzeug ist, das er nicht wohl entbehren kann, so wünschte
ich lieber, daß er die griechische Mythologie wählte, die wir bei
Lesung unserer Meister, der Alten, schon lernen, und die uns durch
die bildenden Künste täglich wieder für die Augen gebracht wird.«
Zudem könne er »die Nationalempfindung, die in der nordischen
Mythologie liegen soll, noch nicht nachempfinden.« »Die alten Kel*
ten, wohnten auf dem Flecke wo wir wohnen (!); aber sie waren
nomadische oder gar barbarische Völker, an die (siel) ich wahrhaftig
weniger Anteil nehmen kann, als an Athen und Sparta.« Noch
schärfer hatte er einige Monate vorher sich ebenfalls an Herder
über das Widersinnige der Barden*Mythologie geäußert. »Ich ge«
stehe, mir scheint er (der Bardengeschmack) eine poetische Üppig»
keit zu sein. Er fordert Gesinnungen, die weder unserer Regierungs*
form, noch unserer Lebensart, unsern philosophischen Begriffen und
unseren Empfindungen entspricht. Wir wohnen in Palästen, tragen
goldene und seidene Kleider, essen gewürzte Speisen und trinken
feine Weine, und unsere Poeten sollten alle ihre Beschreibungen
und Gleichnisse von Eichenwäldern, von Felsen von Morgennebeln
hernehmen. Wir suchen menschenfreundliche Gesinnungen fort*
zupflanzen, und unsere Gedichte sollten wie Hermanns Schlacht eine
' Nicolai an Uz 8. X. 69 NN.
' Nicolai an Herder 19. XI. 71.
78
kriegerische Tapferkeit respirieren, die selbst für unsere itzige Sol*
daten zu rauh ist'«. Wenn diese Sätze auch mehr gegen die sog.
Bardendichter gerichtet sind, wenn Nicolai auch in den unmittelbar
folgenden Worten Herder auffordert, sich durch diese Einreden in
seinem Urteil nicht beeinflussen zu lassen: die Schärfe der Gegen*
sätzlichkeit der Gesinnungen bleibt bestehen, und die Gegensatz*
lichkeit bezieht sich ebenso wie auf die Bardendichter auf Klop*
stock^. In den kritischen Äußerungen gegen seine Oden können
wir diese Stellungnahme gegen die dem Zeitempfinden widerstre*
bende Gesinnung der altgermanischen Mythologie bemerken. Denn
Einwände gegen den dichterischen Ausdruck hatte er nicht. Hatte er
doch selbst im 140. Literaturbrief eine Ode getadelt, weil ihr »der
kühne Flug der Muse fehlt, die ,sich wirrt, doch nie verirret'«; warf
er doch der Karschin vor^, daß ihre Oden nur historische Erzäh*
lungen in Stanzen seien, da ihr die erhabene Imagination fehle und
eine schöne, poetische Sprache allein für den Odendichter nicht aus*
reiche. Wenn er dennoch an Herder schreiben konnte : »Solche Oden
(sc. wie die Klopstockschen) scheinen mir entweder Ungeheuer —
oder Meisterstücke einer neuen Art zu sein, welche gehörig zu emp*
finden, ich noch entweder nicht Kenntnis noch Geschmack genug
habe*«, so ist dieses Urteil einzig aus dem Nicolai bewußt gewor*
denen Gegensatz zu Klopstocks Mythologie zu verstehen; weist er
selbst doch, in einem anderen Briefe an Herder^, darauf hin, daß
' Nicolai an Herder 15. VI. 71.
- Die Tatsache dieser Beziehung erhellt besonders aus der noch unten eingehen;
der zu betrachtenden Rezension, die Nicolai in seinem Exemplar der Klopstocks
sehen Oden nnch 1787 auf den leeren Blättern niederschrieb (vgl. Franz Muncker,
Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 208) : »Über
die abgeschmackte Mythologie des Herrn Klopstock ist wohl kaum nötig ein
Wort zu verlieren.« Die Mythologie eines rohen Volkes passe nicht für die »fei*
ner und besser gebildeten Enkel.« »Die griechisch*römische Mythologie (die doch
ungleich mehr Reize für die Phantasie hat) wird uns schon im Ramler zum Ekel ;
wie viel mehr denn nicht die rohe ungebildete, ganz den Stempel des unkulti^
vierten, phantasiearmen Bewohners rauher Gegenden (sc. tragende), dessen An*
denken längst verloschen und nur durch die Affektation einer zu weit getriebe*
nen Vaterlandsliebe erweckt worden ist.«
' Allg.Dtsch.Bibl.lv, 1,271.
' Nicolai an Herder 2. III. 73.
' Nicolai an Herder 24. VIII. 72.
79
»die Neigung zum Raisonnement« ihn vielleicht »gegen die Schön*
heiten der Poesie, besonders der hohen Ode, weniger empfindlich«
gemacht habe: mußte er da nicht um so stärker gegen die gegen*
sätzliche Gesinnung in einer so wichtigen Frage, bei dem allgemeinen
Für und Wider um die Mythologie, reagieren, zumal, wie wir sahen,
diese Gegensätzlichkeit noch durch die religiös^theologische ver*
stärkt wurde?
Das ursprüngliche positive Verhältnis des jugendlichen Nicolai
zu dem Messiasdichter wurde aber noch von einer dritten Seite her
erschüttert, durch eine dritte Gegensätzlichkeit, die einen Haupt*
bestandteil des allgemeinen Gegensatzes zwischen Aufklärung und
Sturm und Drang bildete: die Auffassung von den Rechten und
Freiheiten des Dichters, wie sie Klopstock in seiner Person und
seinem Werk, und im einzelnen in der »Gelehrtenrepublik« vertrat,
erregten NicolaisWiderspruch ; es ist hauptsächlich derWiderspruch
gegen den Originalgedanken, wie ihn der Sturm und Drang auf*
faßte. Schon in seinem Brief an Gerstenberg vom 21. III. 67 be*
dauert Nicolai, daß Klopstocks Dichtungen oft über seine Fassungs*
kraft gingen, und wirft die Frage auf, ob der Dichter berechtigt sei,
solche »raffinierten Empfindungen« in der Dichtung auszudrücken.
Gerstenberg antwortet höchst nachdrücklich': »Ein großes Genie
kann und muß seinem eigenen Urteil folgen;« die Leser (und Kri*
tiker) müßten sich fragen, ob »die Sphäre ihrer Einsicht der Sphäre
des Genius gleich« sei. Trotz dieser Abwehr Gerstenbergs wieder*
holt Nicolai seine Ansicht einige Jahre später Herder gegenüber.
»Einem Originalkopf wie Klopstock kann niemand folgen, der nicht
eben so original, als er ist. Zuletzt richten unsere Autoren bloß für
die Köche, und gar nicht für die Gäste an^;« und er legt Herder
bekümmert die Frage vor, »ob bei dem allgemeinen Gange aller
unserer großen Köpfe, neueWege zusuchen, um Original zu werden,
es nicht endlich mit unserer allgemeinen Lectur, und selbst mit dem
Ruhme unserer Originalgenies mißlich aussehen werde«. Hatte
schon der jüngere Nicolai sich über manche allzukühnen Wort*
fügungen und Satzkonstruktionen Klopstocks geärgert, so empfand
er jetzt die gegensätzliche Denkungsart unangenehm, aus der eine
' Gerstenberg an Nicolai 6. IV. 67.
- Nicolai an Herder 24. VIII. 72.
80
um das Verständnis des Lesers unbekümmerte, nur sich selbst ver*
antwortliche und nur das eigene Urteil zum Maßstab nehmende
Dichtungsweise wie die Klopstocksche erwuchs. Die unangenehme
Empfindung gewann an Schärfe, als Klopstock seine Auffassung
von der Stellung des Dichters und den Aufgaben der Kritik in der
»Gelehrtenrepublik« theoretisch begründete, diesem mit Spannung
erwarteten Werke, das bei den Jungen, zumal im Göttinger Freund?
Schaftskreis, einen Sturm des Enthusiasmus hervorrief; nannte es
doch Voß ein Werk, das der ganzen Nation, je nach dem Grad ihrer
Anteilnahme, »Ehre oder ewig Schande machen wird'«; und der
junge Goethe, dem es »neues Leben in die Adern gegossen«, pries es
als »die Einzige Poetik aller Zeiten und Völker«^. Aber schon die
Fundamente der Gelehrtenrepublik erregen Nicolais Widerspruch.
Gegenüber der innungsmäßigen, überall verpflichtenden und eigen*
mächtig richtenden, intolerant ausschließenden Art der Klopstock*
sehen Gelehrtenrepublik macht Nicolai^ gemäß seiner schon zitierten
i.\nschauung: »Die gelehrte Republik ist eine vollkommene Demo*
kratie*«, mit Nachdruck geltend, daß die Gelehrtenrepublik eine
freie Einrichtung sein müsse, deren Richterden Bürgern der Repu*
blik verantwortlich sein müßten; er will in seiner Rezension »ein
Denkmal der Freiheit« errichten helfen. Nicolais Ideal ist der keinem
Innungszwang unterliegende freie Schriftsteller, für dessen Ermög*
lichung er sein Leben lang gekämpft hat^; er befürchtet, der deutschen
' \'oß an Brückner 13. VI. 73 = Briefe ed. Abraham Voß I, 140. Die abfällige
Aufnahme der Gelehrtenrepublik durch die ältere Göttinger Generation (Feder,
Meiners, Kästner) bezeugen die Briefe des jüngeren Boie = H. Uhde, »In Göt^
tingen vor hundert Jahren«, Im neuen Reich, 1875, S. 283. Vgl. auch Voß anErne;
stine 12. VI. 74 = Briefe I, 247.
• An Schoenborn 10. VII. 74 = Weimar. Ausg. Br. II, 175.
' Diese — nicht signierte — Rezension der »Gelehrtenrepublik« A D Bibl. 28,
102 ff. scheint von Nicolai herzurühren; Stil und Inhalt machen Nicolais Autor?
Schaft wahrscheinlich ; ein Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme konnte nicht
gefunden werden, aber auch nichts, was gegen die Richtigkeit spräche. Da Nicolais
Autorschaft jedoch immerhin angezweifelt werden kann, ist auf die in der Rezen*
sion zutage tretenden Anschauungen an keiner andern Stelle dieser Arbeit zu=
rückgegriffen worden.
* A D Bibliothek 10, 2, 104.
■ So steht er auch Klopstocks Plan mit der Unterstützung Josephs II. inWiea
eine Akademie zu gründen, sehr skeptisch gegenüber. Später [in »Lessings Wer*
6 Sommerfeld , Friedrich Nicolai 81
Gelehrtennation bei der Annahme der Klopstockschen »Vorschläge'
nicht nur äußere Abhängigkeit und Unfreiheit, sondern auch »Rotten
und Tyrannei« weissagen zu müssen. Die Stellung, die Nicolai sich
selbst in der Klopstockschen Gelehrtenrepublik zuweist, ist die eines
»Altfranken« \ »Wir Altfranken verstehen freilich die Sprache der
Zünfte nicht,« schreibt Nicolai an Herder^ und bezeichnet sich da*
mit ganz deutlich als außerhalb der »Gelehrtenrepublik« stehend. —
Noch von einem anderen Punkte aus, der zwar ganz abseits von
den allgemeinen Gegensätzen zwischen Nicolai und dem Sturm
und Drang liegt, indessen hier im speziellen die Entfremdung Ni*
colais von Klopstock beförderte, und der deshalb hier erwähnt
werden möge, ist das Bewußtsein des Gegensatzes zu Klopstock
verstärkt worden. Klopstock galt als Autorität auf dem Gebiete
der Prosodie, zumal der antiken; nicht nur in der einzigartigen Be*
wältigung antiker Versmaße im »Messias« und in den Oden, son*
dern auch in theoretischen Abhandlungen aus diesem Gebiet war
seine Kennerschaft zutage getreten und gefeiert worden. Nicolai
hielt sich, in verzeihlicher Schwäche, ebenfalls für einen hervor*
ragenden Kenner, nicht weil er irgendwelche Leistungen aufzu*
weisen gehabt hätte, aber weil er auf die^ wie er glaubte, seltene^
ken« hrsgb. v. . . Fr. Nicolai, Berlin 1794, Bd. 27, S. 242 ff.] gibt er allerdings an,
daß er Klopstocks Pläne nicht für realisierbar gehalten habe; jedoch blickt auch
dort noch, wie hier in der Rezension, insbesondere S. 108, durch, dal^ er ihnen
ablehnend gegenüber gestanden hat.
' In der Gelehrtenrepublik (Ausg. Göschen 1817 S. 64) sind Altfranken »diej.
Deutschen, die nicht zu der Republik gehören«. »Die Benennung Altfranken
drückt auf keine Weise Geringschätzung aus.« Die Benennung komme daher,
weil die Franken nicht die Wissenschaften gepflegt hätten. Daher werden die?
jenigen damit gemeint, »die uns nur in Absicht auf die Wissenschaften nicht an=
gehören«. »Wir schätzen die Altfranken: denn man kann Verdienste haben, ohne
mit den Wissenschaften bekannt zu sein, aber wir verachten sie auch von ganzem
Herzen, sobald sie es sich herausnehmen, deswegen, weil sie unwissend sind,
mit Stolz auf uns herabsehen zu wollen. Und hier schützet sie nichts gegen uns.«
" Nicolai an Herder 13. VI. 74. Vgl. auch Nicolais Anmerkung zu Diez' Rezen-
sion des »Enzyklopäd. Journ.« 1774: A D Bibliothek 24, 1, 297. »Man sehe Klop^
Stocks Gelehrtenrepublik, aus welcher alle, die die Wissenschaften im gemeinen
Leben anwenden, ohne eigentlich Schriftsteller zu sein(l), Leute, die man in Eng=
land . . für den schätzenswertesten Teil der Nation hält, unter der Benennung
Altfranken ausgeschlossen werden.«
" Nicolai an Herder, 24; VIII. 72: Nicolai schreibt dort, er fürchte, seine Ab*
82
Verbindung von literarischer und musikalischer^ Bildung stolz sein
zu dürfen meinte. Demgemäß hat Nicolai auch die verschiedensten
Ansätze zu eigenen Abhandlungen über die Zusammenhänge von
Rhythmik und Musik der Alten und der Neueren, über Prosodie
und Metrik gemacht. Es läßt sich freilich weder aus Göckingks
Andeutungen'^ noch aus den Briefstellen, in denen diese Pläne er*
wähnt werden, der Sinn seiner Bemühungen ganz deutlich erkennen ;
und auch über die Bedeutung, die diesen Plänen innerhalb der
Nicolaischen Kunstanschauung zukommt, läßt sich nichts aus?
machen. Sicher ist, daß die Nicolaischen Gedanken von vornherein
im Gegensatz zu Klopstocks Anschauungen entstanden sind. Schon
über die 1764 als Manuskript gedruckten »Lyrischen Silbenmaße« '^
äußerte sich Nicolai in einem nicht erhaltenen Briefe, wie aus
Gerstenbergs Antwort* ersichtlich ist, dahin, daß »das Publikum
über sie die Achseln zucken« werde. In einem weiteren, ebenfalls
verlorenen Briefe an Gerstenberg deutete Nicolai sodann seine Ge*
danken über die griechische Musik in Vergleichung mit der neueren
an. Gerstenberg hebt in seinem Antwortsbriefe ^ die Unterschiede
der Nicolaischen, im Zusammenhang damit entwickelten Gedanken
über die alte und neue Metrik von denjenigen Klopstocks hervor,
wahrscheinlich durch eine Nicolaische Andeutung über diesen
Gegensatz angeregt. Danach stimme Nicolai mit Klopstock darin
überein, daß die Alten unter Arsis und Thesis etwas anderes ver*
standen hätten, »als unsere heutigen Musikgelehrten«; Nicolai
schiene sich schon über die eigentliche Bedeutung dieser Worte
klar geworden zu sein, Klopstock habe in seiner »Abhandlung vom
Silbenmaße ^« »anderthalb Seiten von Fragen über gewisse zweifei*
Handlung würde nicht verstanden werden; denn verstehen könnte sie nur, »wer
mit dem Innern der Musik sowohl als der Poesie vertraut ist, also in Deutschs
land vielleicht zwanzig Personen . . .«
' Über seine musikalische Bildung vgl. Göckingk S. 95; ferner die objektive
Nachprüfung von Georg Ellinger in seiner Einleitung zum Neudruck der Briefe
über den itzigen Zustand, S. IV.
- Göckingk, S. 48.
' Vgl. Muncker, Klopstock S. 485.
* Gerstenberg an Nicolai, 31. I. 67 = Z. f. d. Phil. 23, 47.
' Gerstenberg an Nicolai, 5. XII. 67 = Z. f. d. Phil. 23, 56ff.
• Dazu bemerkt Gerstenberg, daß diese Abhandlung demnächst »in Hrn.Lessings
6* 83
hafte Stellen in den Schriften der Alten beigefügt«. Nicolai unter*
scheide sich von Klopstock in den Ansichten über die alten Silben*
maße; er brauche eine andere Methode, da er Beobachtungen über
das Schema eines Verses anstelle; Klopstock aber scheine durch
seine Einteilung in »Wortfüße« und »Versfragmente« »auf ein viel
fruchtbareres Feld geraten zu sein«. In seinem nächsten Briefe^
bemerkt Gerstenberg jedoch, er müsse sich undeutlich ausgedrückt
haben, da Nicolai vermute, Klopstock habe nicht bei den ersten
Elementen des Verses angefangen. Ob er nun nur weitere Mißver*
Ständnisse fürchtete, oder ob er eine weitere Diskussion mit Nicolai
über dieses Thema für unfruchtbar hielt, da das von Nicolai Vor*
getragene ihn vielleicht zu dilettantisch dünkte, — er schloß jeden*
falls die Unterredung mit Nicolai über dieses Thema, indem er
Nicolai auf das baldige Erscheinen des Klopstockschen Aufsatzes
vertröstete. Einige Jahre später äußert sich Nicolai gegen Herder
über dieses Thema. Er nimmt eine Äußerung Herders"- über die
gewissermaßen innere Musik der Klopstockschen Oden auf und
erklärt sich^, da er Herders Worte »ganz dunkel findet«, dahin
deutlicher, daß eine Musik der Verse in der gegenwärtigen Dich*
tung, im Gegensatz zu derjenigen der Alten, überflüssig sei, da »die
alten griechischen rhythmischen Gebäude der Musik zu Gefallen
erdacht sind und mit ihr verbunden werden sollten«; die moderne
Dichtung solle nicht neue, den alten rhythmisch ähnliche Vers*
gebäude »ausdenken«, »da teils unsere Sprache bei weitem nicht
so bestimmt in der Quantität ist, und auf ganz andere Art bestimmt
wird, teils da unsere Versgebäude nicht mit Musik, am wenigsten
mit griechischer Musik sollen begleitet werden«. Aber auch hier
war eine weitere Diskussion unmöglich*, da Nicolai erkannte'':
»Übrigens können meine Gedanken vom Rhythmus den Ihrigen
bisher weder entsprechen noch widersprechen, denn ich gehe ganz
von der Musik aus« (sc. Herder nachfühlend von der Rhythmik
periodischer Schrift« erscheinen werde, womit er das von Lessing und Bode ge=
plante Deutsche Museum meint. \'gl. Muncker, Klopstock S. 388.
' Gerstenberg an Nicolai, 27. IV. 68 = Z. f. d. Phil. 25, 61.
- Herder an Nicolai 2. VII. 72.
^ Nicolai an Herder 24.\1II. 72.
* Vgl. Nicolai an Herder 24. MII. 72 mit Herder an Nicolai 23. XI. 72.
^ Nicolai an Herder 2. III. 73.
84
der Klopstockschen Oden). Kurze Zeit darauf setzte Nicolai dem
Philologen Heyne seine Ansichten und den Plan seiner Abhand*
lung auseinander. Heyne erwiderte zwar^: »Auf die Abhandlung
über die Musik und Rhythmik der Alten bin ich sehr begierig«;
aber auch er mochte die Äußerungen Nicolais über dieses Thema
für dilettantisch halten, da er der Bemerkung, daß er vorläufig »die
Sache im Ganzen« noch nicht einsehe, das Anerbieten hinzufügte,
Nicolai mit Material zu versehen. Immerhin pflichtete er Nicolai
in seiner Wendung gegen Klopstock bei: »Sie finden Klopstock in
seinen Abhandlungen vom Silbenmaß dunkel; so ist es mir lieb,
daß ich nicht allein so schwach an Fassungskraft bin.« Die Tatsache
steht also fest, wenn sie auch mangels geeigneten Materials nicht
näher umschrieben werden kann, daß Nicolai gegen Klopstocks
theoretische Stellungnahme zur Prosodie sich ablehnend verhalten
und auch, wie insbesondere aus der erwähnten Briefstelle an Herder
hervorgeht, den Klopstockschen Oden die innere Notwendigkeit
der rhythmischen Form abgesprochen hat. —
Die Entfremdung Nicolais von Klopstock, der Widerspruch
gegen einzelne dichterische oder schriftstellerische Äußerungen,
die starke Abneigung gegen den Geist seiner Dichtungen — aus*
gehend von der religiös=theologischen, der mythologischen und
der Gegensätzlichkeit in den Anschauungen über die Stellung des
Dichters — stellt die erste Stufe in dem Verhältnis Friedrich Nicolais
zum Sturm und Drang dar. Es ist nun notwendig, diese Stufe ge=
nauer zu begrenzen und deshalb die Frage nach dem Charakter
dieser Ablehnung zu erheben.
Der Ausdruck, den Nicolai dieser ihm zu Ende der sechziger und
und zu Beginn der siebziger Jahre des Jahrhunderts bewußt ge*
wordenen Gegensätzlichkeit lieh, war völlig bestimmt durch das
Bestreben, den eigenen, abbiegenden Weg zu sichern. So schreibt
er über die Klopstockschen Oden, die ihm nicht »schmecken« wol*
len, an Herder^: »Zuweilen, wenn ich solche Stücke in der Zeitung
so sehr gelobt sehe, so schäme ich mich zuweilen, zuweilen glaube
ich, ich muß allen Geschmack an der Poesie verloren (haben). Ich
glaube, dies ist sehr leicht möglich, wenn man älter wird, und seine
* Heyne an Nicolai 15. II. 74 NN. Nicolais Brief ist verloren.
-■ Nicolai an Herder 19. XI. 74.
85
Vernunft mehr übt als seine Einbildungskraft. Aber ich merke doch,
daß ich manche andere Gedichte mit Vergnügen lese, und also muß
es noch an etwas anderes (sicl) liegen«; er führt sodann die schon
oben dargestellten, religiös «theologischen und mythologischen
Gegensätze an und fährt fort: »doch ist (dies) nur meine Meinung,
womit freilich alle meine hiesige Freunde, die ich für Kenner halte,
übereinstimmen; doch sage ich dies nicht laut, vestigia enim me
terrent.« Kaum ein Jahr später bezeugt er in einem Brief an Herder^
abermals sein Mißtrauen gegen den eigenen Geschmack Klopstocks
Oden gegenüber und bemerkt, daß ihm diejenigen Oden am meisten
gefielen, »die eine sentimentale und philosophische Wendung ha*
ben« (wie Ramlers Ode an die Könige, an den Frieden und Klop*
stofks »Welchen König der Gott über die Könige«-), er setzt jedoch
gleich hinzu: »Ich begreife, daß andern, andere Gedichte mit Recht
gefallen können, eben deshalb mag ich meinen besonderen Ge*
schmack, in einer Rezension nicht als allgemein ausgeben. Ich lasse
jedem Dichter seine Manier, und jedem Leser seinen Geschmack.«
Es besteht kein Grund, die subjektive Wahrhaftigkeit dieser Äuße*
rungen in Zweifel zu ziehen; aber es kann nicht geleugnet werden,
daß sie in schroffem Widerspruch zu der von Nicolai geübten Pra*
xis, dem sicheren, selbstbewußten Richten seiner Rezensionen —
aus früherer, gleicher und späterer Zeit — stehen. Die Erklärung
diesesWiderspruches ist darin zu suchen, daß Nicolai sich der völlig
gegensätzlichen Organisation Klopstocks bewußt geworden ist und
seine geniale Begabung anerkennt, daß er aber zur gleichen Zeit, in
der sich diese Bewußtwerdung vollzog, auch sich selbst, wie schon
oben angedeutet, eigene Aufgaben und Verwirklichungsmöglich*
keiten zugewiesen hat. Sein eigenes Zeugnis weist auf diese Erklä*
rungsmöglichkeit hin. »Ich will allenfalls lieber«, schreibt er an
Herder^, »daß ein Mann wie Klopstock, der so sehr große Talente
hat, in der Bibliothek nach den Empfindungen eines Mannes, der
ihn nachempfunden hat, zu sehr gelobt als nach den Grundsätzen
eines andern, der ihn nicht hat nachempfinden können, allzufrüh*
' Nicolai an Herder 24. VIII. 72.
-^ Gemeint ist die 1750 entstandene Ode »Friedrich der Fünfte«, Werke ed. Hem =
pel 5,95.
' Nicolai an Herder, 18. III. 73.
86
zeitig (?) getadelt werde ... Es gibt viele Dinge in der Welt, die
schätzbar sind, die ich aber nicht brauchen (!) kann und auch nichts
davon verstehe. Von der Infinitesimalrechnung verstehe ich gar
nichts, aber ich glaube Eulern, daß sie eine vortreffliche Wissen*
Schaft ist; warum sollte ich Herdern nicht glauben, daß in
der Klopstockischen Bardenpoesie eine Reihe voj-treff*
lieber Empfindungen herrsche, die er nachempfinden
kann. Kann ich es nicht, so bin ich immer noch besser, wenn ich
gestehe, daß ich nicht nachempfinden kann, als viele die sagen,
sie könnten nachempfinden, und doch nichts empfinden. Es ist,
bei meiner Ehre, weder falsche Bescheidenheit, noch Satire, wenn
ich sage, daß ich verschiedene Dinge nicht begreife, die andere
zu begreifen versichern«. Hinzu komme, daß er ein geschäftiges
Leben voll Zerstreuungen führe, und sich auf die Studien ein*
schränken müsse, die ihm die liebsten seien. »Dies sind haupt*
sächlich diejenigen, die den Menschen und die Menschheit be*
treffen. Ein gewisser Teil der Poesie, Imagination, insofern sie die
Geisteskräfte und die Gesellschaft nicht unmittelbar verbessert
oder verschlimmert, liegt also außer meinem Wege; wenn ich spa*
zieren laufe, so komme ich zuweilen auch darauf; wenn ich mich
aber besinne, daß ich aus Absicht einen auch einen Weg zu wan*
dern habe, und daß die Zeit kurz ist, so ziehe ich mich davon ab,
und lasse vieles dahingestellt sein, weil ich nicht alles untersuchen
kann.« Ähnlich schreibt er an Denis \ daß er sich von der »schönen
Welt der Imagination so weit entfernt« habe, daß es ihn, wie er mit
Verdruß bemerkte, einige Anstrengung koste, sich wieder darein
zu versetzen, und alsdann selbst finde er sich so betreten, »als ein
Fremder, der zum erstenmal in eine unbekannte Gesellschaft
kommt«; doch wie dies gemeiniglich die Schuld des Fremden und
nicht der Gesellschaft sei, so gestehe er gern, daß die Schuld an
ihm liege, wenn er einen als gut anerkannten Dichter nicht nach*
empfinden könne; indessen lese er alle neuen guten Gedichte we*
nigstens »als Patriot, nur um meinem gerechten deutschen National*
stolze Nahrung zu geben.« Wenn man also die Ablehnung Klop*
Stocks duych Nicolai mit einem Worte näher charakterisieren will,
so muß man sie als kompromißhaft bezeichnen, als eine Fernhaltung
' Nicolai an Denis 28. XII. 72: Denis' Nachlaß S. 164.
87
solchen dichterischen Ausdrucks, dessen Geist er widersprechen
muß, ohne daß er deshalb den dichterischen Ausdruck bekämp f t.
Er steht Klopstocks Dichtung innerlich feindlich — mit der Feind*
Schaft des nicht Verstehenden — gegenüber, ist jedoch von anderen
Aufgaben zu sehr erfüllt, entbehrt der Berührung mit diesem Fremd*
artigen zu sehr, um es kritisch bekämpfen zu können; so gibt er denn,
nicht aus einfachen Opportunitätsgründen, sondern in der dem
Kompromiß geneigten, äußerlichen (weil nur auf der Voraussetzung
realen Vorhandenseins gegründeten) Toleranz, der Klopstockschen
Dichtung ihre Berechtigung und sogar ihr objektives Verdienst zu.
Diese Stellungnahme ermöglichte denn auch Nicolais späteres
Verhältnis zu Klopstock, auf das hier, schon weil es noch einen er*
läuternden Rückschluß auf die eben skizzierte Stellungnahme ge*
stattet, noch ein Blick gestattet sein mag.
Die Rezension, die Nicolai jedenfalls nach dem Jahre 1787 in
sein Exemplar der Klopstockschen Oden schrieb^ äußert sich, un*
ter dem unmittelbaren Eindruck der Lektüre, recht schroff gegen
Klopstocks Dichtwerke überhaupt; hier zog Nicolai aus der inneren
Feindschaft, die wir aus seinen um 15 Jahre zurückliegenden Auße*
rungen erschlossen haben, die Konsequenz auch einer äußeren
scharfen Ablehnung. Es ist bemerkenswert, daß die bei der Lektüre
gemachten Anmerkungen Nicolais, die seine Empfindungen fest*
halten, den rein lyrischen Oden gegenüber, — den Freundschafts*
und Liebesoden, sowie denjenigen, die eine Naturstimmung zum
Gegenstand haben — »schön«, »herrlich«, »vortrefflich« lauten; daß
hingegen solche Dichtungen, die eine der oben hervorgehobenen
Gegensätzlichkeiten berühren, von ihm mit den Bemerkungen
»elend«, »erbärmlich«, »komisch« bedacht werden. Die zusammen*
hängenden Gedanken, die er auf die leeren Blätter vor dem Titel*
blatt schrieb, gehen bezeichnenderweise einzig auf diese Gegensatz*
lichkeiten ein und begründen eine schroffe Abfertigung des Dich*
ters, dem er prophezeit, daß seine Werke das Jahrhundert nicht über*
leben werden. »Wer für die Nachwelt leben will, muß denken,
ehe er dichtet, Philosoph sein, ehe er Poet wird. Sonst ist alles nur
poetischer Flitterstaat, der nicht der Mode trotzet.« Nicolai meint
* Abgedruckt bei Muncker, »Lessings persönliches und literarisches Verhältnis
zu Klopstock, S. 209 f. (vgl. S. 79 Anm. 2).
88
aber, daß Klopstock nicht denkender Dichter sei, weil er den Inhalt
von Klopstocks Denken ablehnt. Ja Nicolai scheint anzunehmen,
daß Klopstock Denken affektiere, wie er durch »leere Zusammen*
Stellung schallender Worte und erhabener Leidenschaften« Begei*
sterung affektiere. »Man findet einzelne schöne Gedanken in diesen
Oden, sie sind aber so einzeln und zerstreut, so sehr mit schwärme*
rischen und abgeschmackten Ideen gepaart, daß man schwerlich eine
einzige, ganz gut gedachte Ode finden wird.« Von der Toleranz
seines früheren Urteils ist nichts geblieben, als das Zugeständnis,
daß Klopstock sehr fromm sei; aber, heißt es hier bezeichnender*
weise, Frömmigkeit mache nicht den Dichter.
Diese Wandlung in Nicolais Urteil über Klopstock wird sich
noch durch die Darstellung in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit
weiter auf hellen. Vorwegnehmend sei hier darauf hingewiesen, daß
zwischen der positiven Ablehnung zu Beginn der siebziger Jahre und
dieser abfälligen Rezension vom Ende der achtziger Jahre Nicolais
Kampf mit dem Sturm und Drang liegt — ein Hinweis zugleich auf
die Wichtigkeit dieses Kampfes für Nicolais Entwicklung; sie ist
aber nicht der Ausdruckeines Verbitterten, sondern eines Kritikers,
der sich in langer und heftiger literarischer Fehde gewöhnt hat,
einzig zwischen den Polen Anerkennung und Ablehnung zu wählen,
dessen ästhetisches Urteil die Widerstände im Geistigen nicht mehr
als solche, sondern vielmehr als bestimmendes Prinzip annimmt.
Fielen diese Widerstände fort, oder veränderte sich ihre Richtung,
so war eine abermalige Wandlung seiner Stellungnahme möglich,
ja sie konnte notwendig werden; so erklärt sich denn auch die An*
erkennung Klopstocks durch Nicolai zu einer Zeit, wo der Kampf
mit dem Sturm und Drang, wenn auch nicht vergessen, so doch
durch andere Fehden in Nicolais Bewußtsein verdrängt war. So
konnte es kommen, daß er in den »Vertrauten Briefen« (1799)
Klopstock gegen Pandolfo = Friedrich Schlegels geringschätziges
Urteil, Klopstock sei ein »grammatischer Poet«, verteidigte^, weil
Pandolfos Held — der Dichter des »Wilhelm Meister« war. Ja, er
' »Vertraute Briefe« S. 75; vgl. auch seine Widerlegung des Schlegelschen Satzes
(Jenaische Litztg. 1796, Nr. 170), daß auf den großen Dichter die sogenannte gute
Gesellschaft nachteilig wirke, u. a. durch Anführung des Gegenbeispiels Klop;
stock: ebenda S. 169.
89
nannte einige Jahre vorher, in der Darlegung früherer Pläne zu einem
deutschen Wörterbuch, die er in der von ihm besorgten Ausgabe des
Lessingschen Briefwechsels (1794) in einer langen Anmerkung gab \
Klopstock einen »klassischen Schriftsteller«, dessen Sprachgebrauch,
zum mindesten dessen Sprachmächtigkeit vorbildlich sein müßten-.
Die Ablehnung Klopstocks durch Nicolai zu Ende der sech*
ziger und beim Beginn der siebziger Jahre gewinnt an Bedeutung,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß es sich hier um keine verein«
zelte Tatsache handelt; was in Dichtung oder Gesinnung Klop*
stock verwandt war, traf bei Nicolai auf ähnlichen Widerstand.
Hier war zudem seine Stellungnahme von vornherein durch ein
anderes Moment beeinflußt: Klopstock machte »Schule«, und wir
vergegenwärtigten uns, was dem Urteil des Autodidakten und
Antisystematikers dieser Umstand bedeutete. So möchte Nicolai
— in diesem Falle sicher von Lessing beeinflußt — Klopstock
von den Klopstockianern trennen^; er möchte Klopstock davor
schützen, durch seine Nachahmer kompromittiert zu werden, und
kritisiert die von Klopstock abhängigen literarischen Erscheinun*
gen durch den Hinweis auf diese Abhängigkeit. Schon in seiner
ersten Klopstockrezension* wünscht er, »daß diejenigen, welche
den Namen unseres Dichters zum Deckmantel ihres Unsinns
brauchen, auch nicht den geringsten Schein von Autorität bei ihm
finden möchten«. »Klopstock führte, ohne seine Schuld, Hexameters
und Unsinn bei der ganzen Nation ein,« urteilt er im 121. Literatur*
brief. Der 183. Literaturbrief, der einigen — recht unbedeutenden —
»Klopstockianern« gewidmet ist, zieht gegen die Poeten nach der
neuesten Mode los: »Wahrhaftig, die Leutchen dichten von der*
' Bd. 27, S. 228 ff.
- Ein klassischer Schriftsteller, sagt er dort, wird »nicht leicht ein neues Wort
gemacht (!) oder ein bekanntes auf eine ungewöhnliche Art gebraucht haben,
ohne irgendeinen guten Grund«. Zu beachten ist, daß auch die Rezension der
Klopstockschen Gelehrtenrepublik (A D Bibl. 28, 1, S. 102; s. Anm. 3 S. 81) Klop^
stock einen »so großen Meister der deutschen Sprache« nennt.
■"' So verteidigt Biester, wiederum von Nicolai beeinflußt, Klopstock zwar gegen
Bodmers Angriffe; aber in derselben Rezension (A D Bibl. Anh. IIl, 3360) be^
merkt er gegen K. Fr. Cramers »Klopstock« (Hamburg 1777), daß diese Lob=
preisung »in schreiendem Knabenton« Klopstock nur heruntersetzen könne.
* Bibl. d. sch.Wiss. I, 2, 329.
90
gleichen sieben Sachen — wie Gräbern, Totengerippen, Nacht und
dergleichen mehr — bloß, weil sie glauben, es ließe schön, weil
Klopstock und Zachariae es auch getan haben; sonst sind sie keines?
wegs so finstere melancholische Köpfe . . . Ach nein! es sind liebe
süße Herrchen, die tändeln können, daß es eine Lust ist!« Wenn
auch die tatsächliche Abhängigkeit an dieser Stelle recht gering sein
mag\ so ist doch die an die Beobachtung der Abhängigkeit ge*
knüpfte Invektive recht bemerkenswert, und wird uns in derselben
Art noch in seinen Ausfällen gegen die Wertherschwärmer und
«Nachahmer wieder begegnen.
Die bedeutenderen literarischen Erscheinungen waren freilich
nicht auf diese Formel zu bringen; konnten aber die J oh. Andr.
Gramer, K. Fr. v. Moser, die Bardendichter, Fr. W. Zacha*
riae und Gerstenberg auch nicht schlechthin als Klopstockianer
gelten, so wurde doch seine Ablehnung oder, in früherer Zeit, sein
inneres Unbeteiligtsein Klopstock gegenüber, zu einem Faktor, der
seine Stellungnahme zu ihnen erheblich beeinflußte. Der dreifach
gegensätzliche Geist der Klopstockschen Dichtung trat Nicolai in
jedem der Genannten in gewissem Maße gesondert entgegen. —
Nicolais abfällige Rezension von K. Fr. v. Mosers »Geistlichen Ge*
dichten«, im 299. Literaturbrief, wurde schon oben erwähnt. Joh.
Andr. Cramers Übersetzung der Psalmen beurteilte Nicolai in der
Bibliothek der schönen Wissenschaften^ im ganzen lobend, später^
sagt er von ihr, sie werde »beständig einen Platz unter den besten
deutschen Schriften erhalten«; wichtiger ist in unserem Zusammen*
hange, weil Nicolai hier das Abhängigkeitsverhältnis von Klopstock
hervorhebt, die Besprechung, die er Cramers Oden »Luther« und
»Melanchton« in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek* widmet.
Er tadelt hier eine »Amplifizierung desselben Gedankens bis zum
leeren Wortgepränge«; die Empfindungen würden künstlich ge«
steigert und verlören dadurch an Kraft. Das Zuviel der Empfindung
ist Nicolai gerade im Religiösen zuwider. — Was die Bardendichtung
anbetrifft, so ist sein Urteil über sie gleichfalls schon oben gekenn*
' Die rezensierten Gedichte habe ich nicht gesehen.
* Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste I, 1, S. 84 ff.
' A D Bibl. IV. 1, 272.
' AD Bibl. Anh. II. 2, S. 1138 ff.
91
zeichnet worden. In einem Brief an Herder \ in dem er über Barden*
dichtung ebenfalls abfällig urteilte, sendet er zwar Herder dessen
Rezension von Kretschmanns Bardengesängen zurück mit dem Vor*
geben, Herder habe einen (die »Klage Ringulphs«) anzuzeigen ver*
gessen. »Wollen Sie bei dieser Gelegenheit ein paar Worte ändern,«
fügt er aber hinzu, »um den P. Denis und Herrn Kretschmann etwas
zu schonen^, so wird es mir angenehm sein. Ihr Urteil ist zwar völlig
wahr, aber diese beiden Herren sind von allen Leuten so laut gelobt
worden, daß, wenn die Allgemeine Deutsche Bibliothek sie ex ab*
rupto so laut tadelt, viele Leute wieder Parteilichkeit! ausrufen
werden. Doch dies alles bleibt Ihnen überlassen«^. Man braucht
nicht anzunehmen, daß die Rücksicht auf den freundschaftlichen
Briefverkehr, den er seit 1769 mit Denis pflog, Grund zu dieser
Rücksichtnahme war; ebensowenig scheint der von Nicolai ange*
gebene Grund maßgebend gewesen zu sein : denn geschah nicht jede
Rezension »ex abrupto«? Es zeigt sich auch hier jene Toleranz, die
wir schon in seinem Verhalten Klopstock gegenüber als Kompromiß
erkannten. Diese Annahme wird noch durch die Briefe Nicolais an
Denis verstärkt. In seinem Briefe an Denis vom 14. XL 69* preist
er dessen Ossian*Übersetzung als »eines der wichtigsten neuen
Werke«, das er »mit großem Vergnügen« gelesen habe; Denis' Bild
stand vor dem 13 Bande der Allgemeinen Deutschen Bibliothek,
doch galt diese Ehre sicher mehr dem vorzüglichen Gelehrten, als
dem Dichter. Aber im übrigen galt auch Denis' Gedichten, vielleicht
gerade ihnen gegenüber, sein oben mitgeteiltes Urteil über den
»Bardengeschmack«, empfand er sich ihnen gegenüber als Fremd*
ling, wie es die oben gleichfalls zitierte Stelle aus seinem Briefe an
Denis vom 28. XII. 72 (vgl. Anm. 1 S. 87) umschreibt; und wo er
dessen dichterische Leistungen anerkannte, geschah es in objektiv*
unverbindlicher Form. »Es ist in der Tat einem Patrioten erfreu*
' Nicolai an Herder 25. I. 72.
- Um so bemerkenswerter, als Nicolai auf der Rückseite von Herders undatierten,
nach O. Hoffmanns Vermutung »spätestens Mitte März« 1769 geschriebenen Brief
bemerkt: »Gesang Ringulphs von dem Moses nicht viel hält.«
^ Herder schreibt an Nicolai (Empf. 10. II. 72 = Hoffmann 1, S. 71): »Aus den
Rezensionen sollen alle herbe und eckigte Stellen weg.«
* Denis' Nachlaß S. 159.
92
lieh,« schreibt er da\ »daß bei der großen Kälte, die unsere Lands*
leute bei Werken des Geistes zeigen, dennoch hin und wieder noch
einiger Eifer und einige Neugier danach bemerkt wird,« wie nach
Denis' Gedichten; oder, viele Jahre später'^, Denis habe sich durch
seine Gedichte ein »monumentum aere perennius« gestiftet. Sind
diese Worte nicht ein Ausdruck seines Bemühens, das allgemeine
Lob da gelten zu lassen, wo das eigene Empfinden schwieg? —
Auch Zachariae galt Nicolai als von Klopstock abhängig, zumal
in seiner »Schöpfung der Hölle«. Hier war es ein Gegensatz in der
Kunstanschauung, der Nicolai zur Ablehnung veranlaßte. In spä*
teren Überlegungen, die Göckingk veröffentlicht hat^, stellt Nicolai
es so dar, als ob Zachariae, weil (nach Klopstocks Vorgang) die
Imagination als Zeichen des Dichters verkündet worden sei, nun
gemeint habe, ein Gedicht, das aus lauter Imagination bestünde,
müsse besonders vortrefflich sein. So tadelte er auch schon in der
Besprechung der »Schöpfung der Hölle« (im 184. und 185. Literatur*
brief) Zachariaes Absicht der »reinen Imagination«, die eine Über*
treibung und ein Mißverständnis der Milton*Klopstockschen Dich*
tung darstelle. Die — übrigens eher lobende als tadelnde — Be*
sprechungaber,die er Zachariaes gesammelten »Poetischen Schriften«
in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek* widmete, war gleichfalls
der Ausdruck seines Bemühens, das allgemeine Urteil an die Stelle
des eigenen passiven Abseitsstehens zu setzen. »Herr Zachariae vers
dienet immer einen Platz unter unsern besten Dichtern,« heißt es
da •\ und mit besonderem Bezug auf seine Oden und Lieder: »Keines
von diesen Stücken ist im Ganzen vorzüglich schön zu nennen, ob*
gleich sich in jedem etwas finden wird, das verrät, daß der Verfasser
kein schlechter Dichter sein müsse ^.
Diese Urteilsweise Nicolais, die als charakteristisch für die erste
' An Denis: 20. VI. 70.
- Ebenda: 4.V. 1783.
" Göckingk S. 111.
' IV, 1, S. 217ff.
' IV, 1, S. 224.
' Ebenda S. 219. Erwähnt mag noch werden, daß er, analog dem späteren Ver;
hältnis zu Klopstock, an der schon zitierten Stelle in s. Ausgabe v. Lessings
Briefen (vgl. Anm. 1 S. 90) Zachariae unter die »guten« Schriftsteller rechnet,
in eine Klasse mit Geliert.
93
Periode von Nicolais Verhältnis zum Sturm und Drang erkannt
wurde, hat sich natürlich allmählich, nach langsamer Verdrängung
der in den Literaturbriefen geübten Methode des fast draufgänge*
rischen, unbekümmerten Bejahens oder Verneinens herausgebildet;
wurde oben versucht, den psychologischen Zusammenhang zwi*
sehen dieser Urteilsweise und derjenigen der kompromißhaften
Ablehnung aufzuhellen, so hilft die nun folgende Darstellung des
Verhältnisses von Nicolai und Gerstenberg, die zeitliche Ablösung
aufzuzeigen, wie sie zugleich einen abschließenden Rückblick auf
Nicolais Verhältnis zu Klopstock gestattet.
Die Literaturbriefe haben, wie uns das noch öfter begegnen wird,
auch dem späteren Verhältnis Nicolais zu Gerstenberg die Rieh*
tung gegeben. »Der Verfasser der .Tändeleien' ist ein Genie, das
viel verspricht,« erkannte Lessing im 35. Literaturbrief. Nicolai
widmet den Tändeleien bei einer Neuauflage den 156. Literatur*
brief. »Ich will gern gestehen,« urteilt er da, »daß ich den Herrn
V. Gerstenberg und seine Tändeleien ungemein bewundere«. Er
rühmt ihnen vortreffliche Gedanken, zarte Empfindungen, unge*
künstelten Witz nach und erkennt diese für damalige literarische
Erscheinungen seltene Verbindung bewundernd »bei einem jungen
Manne, der kaum von der Universität entwöhnt ist«. Er meint
schließlich, wenn Gerstenberg »mit fernerem Herausgeben langsam
eilen möge, so wird ihn auch die Nachw^elt den besten Schrift«
stellern Deutschlands beigesellen«. Die Vorbedingungen für eine
freundschaftliche Privatkorrespondenz waren damit gegeben. Wie
sie zustande kam, läßt sich bei der überaus geringen Anzahl der
erhaltenen Briefe^ nicht erkennen; der erste erhaltene Brief Gersten*
bergs, aus Kopenhagen vom 2. August 1766 datiert, braucht schon
die Anrede: »Liebster und geehrtester Freund« und entschuldigt
sich über Gerstenbergs »außerordentliches Stillschweigen«, das,
nach den vorgebrachten Entschuldigungen zu schließen, in der Tat
eine längere Unterbrechung des freundschaftlichen Briefwechsels
bedeutet haben muß. Dieser erste Brief Gerstenbergs ist nun gleich
eine Absage an Nicolai, der ihn zur Teilnahme an der neugegrün*
deten Allgemeinen Deutschen Bibliothek aufgefordert hatte. Es sei
' die R. M. Werner im 23. Band der Zeitschrift für deutsche Philologie mit*
geteilt hat.
94
ihm nicht möglich, an einem Journale teilzunehmen, »in dem einige
meiner geliebtesten und ruhmwürdigsten Freunde^ so sehr zu ihrem
Nachteil zur Schau gestellt werden«; in seiner weltmännischen, ver*
bindlichen Art fügt er aber hinzu, daß seine Unzufriedenheit mit der
Bibliothek vielleicht auch daher rühre, daß Nicolai nicht der einzige
X'erfasser derselben sei; als äußeren Grund der Ablehnung gibt er
außerdem an, daß er sich mit den »Briefen über die Merkwürdig*
keiten der Literatur« eine zu große Bürde aufgeladen habe, als daß er
vorläufig an andere literarische Arbeiten denken könne, indessen
verspricht er doch in seinem zweiten Briefe Nachrichten von »hiesi*
gen Neuigkeiten« für die Bibliothek, was wahrscheinlich macht, daß
Nicolai seine Aufforderung inzwischen wiederholt hat. Nicolai hat
diese Absage denn auch nicht verübelt; der freundschaftliche Ton
ihrer Korrespondenz bleibt bestehen. Gerstenberg versichert in den
folgenden Briefen Nicolai seiner unveränderten Freundschaft, und
schon der Ton seiner Briefe könnte diese Versicherungen als mehr
denn bloße Höflichkeitsfloskeln erscheinen lassen, auch wenn nicht
Gerstenberg zudem so warmherzige Anerkennungen der Verdienste
Nicolais um die deutsche Literatur einfließen ließe, wie z. B. an
jener Stelle, wo er sich über die epochemachende Bedeutung der
Nicolaischen »Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissen*
Schäften« äußerte, deren beabsichtigte Umarbeitung Nicolai ihm
mitgeteilt haben muß^. Indessen schon im zweiten der mitgeteilten
Briefe beginnt Gerstenbergs oben erwähnte Abwehr der Nicolai*
sehen Einwendungen gegen Klopstock, und neben den Freund*
Schaftsbezeugungen, deren Wahrhaftigkeit nicht in Zweifel gezogen
werden kann, finden sich von da ab Töne leiser, sich mehr und
mehr verstärkender Ironie, die erst gegen den Schluß des erhaltenen
Briefwechsels, wo die Briefe ganz unliterarische Themata behandeln,
verschwindet. So, wenn Gerstenberg die Anrede »mein kunst*
richterlicher Korrespondent« braucht^ oder wenn er Nicolai im
' Gemeint sind insbesondere Dusch und Zachariae, die er im 12. seiner »Briefe
über die Merkwürdigkeiten« gegen die absprechende Kritik der Literaturbriefe
in Schutz nimmt.
- Gerstenberg an Nicolai vom 31. I. 67 = Z. f. d. Phil. 25, 49. Er nimmt vom Er=
scheinen der »Briefe über den itzigen Zustand« »den ersten Zeitpunkt der frei^
redigen heutigen Kritik« an.
' Gerstenberg an Nicolai 6. IV. 67 = Z. f. d. Phil. 23, 53.
95
selben Briefe ironisiert, weil dieser »mit einer der ersten Posten«
habe wissen wollen, welche Literaturbriefe Gerstenberg »für Muster
.eines festen Stiles' halte: eine Aufgabe, die eine sehr tiefsinnige
Untersuchung im Geschmack der A. B. (^ Allg. Dtsch. Bibl.) vers
anlassen könnte, wenn ich weitläuftig über Dinge schwatzen möchte,
die ich schon für bekannt annehme«. Oder man beachte die iro*
nische Überlegenheit, die aus Gerstenbergs Worten spricht, mit
denen er diesen Brief schließt: »Ich liebe Sie mit allen Ihren Feh*
lern«. — Im Urteil über Klotz, den Gerstenberg einen Tropf nennt\
sind sich die beiden Korrespondenten hingegen wieder einig,
und in der Liebe zur Musik finden sie sich vollends. Im letzten
der erhaltenen Briefe (vom 6. VII. 68), sendet Gerstenberg Nicolai
einen für die Allgemeine Deutsche Bibliothek bestimmten Bericht
über seine »Briefe über die Merkwürdigkeiten«, aus dem das Publi*
kum erfahren sollte, »aus welchem Gesichtspunkte sie hätten be«
urteilt werden sollen«; wenn Nicolai sie also rezensiere, so habe
er es in seiner Gewalt, »von meinen Gründen soviel anzuführen«,
als er für richtig erkenne. Die Mercksche Rezension der Briefe im
2. Stück des 22. Bandes der Allgemeinen Deutschen Bibliothek hat
aber von diesem »Bericht« keinen Gebrauch gemacht.
Dieser letzte Gerstenbergsche Brief hat jedoch, wie wir mit Sicher*
heit annehmen können, keineswegs das Ende der Korrespondenz
bedeutet. R. M. Werner deutet die Spur eines weiteren Gersten*
bergschen Briefes an Nicolai an^; in jedem Falle ist die hier ver*
öffentlichte Korrespondenz nur ein Bruchstück, allerdings gerade
für unsere Fragestellung außerordentlich aufschlußreich. Welchen
Abschluß das persönliche Verhältnis mit Gerstenberg auch gefun*
den haben mag: der prinzipielle Kern dieses Verhältnisses scheint
in dem Vorhandenen gegeben zu sein.
Bei einem von beiden Seiten mit so seltener Offenherzigkeit ge*
führten Briefwechsel konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Gegen*
sätze der Strömungen, von denen beide beeinflußt sind, offenbarten.
»Wir sind nichts weniger als Rivalen«, bemerkt der Verfasser der
' Gerstenberg an Nicolai 27. IV. 68 = Z. f. d. Phil. 23, 61 : »Herr Klotz ist ein
Gul<s was R. M.Werner ebenda S. 61, Anm. 1 ^= engl, .gull' deutet.
- R. M.Werner Z. f. d. Phil. 23, 67. Diesen Brief konnte ich mir nicht zugänglich
machen.
96
Schleswigschen Literaturbriefe ^ gegen den Herausgeber der Allge*
meinen Deutschen Bibliothek; und Nicolai antwortet": »ob wir
gleich, wie Sie bemerken, nicht Rivalen sind, so können wir doch
auch nicht Freunde sein, weil unsere Korrespondenz das Ansehen
gewinnt, als ob wir uns tapfer zanken würden.« Indessen sei Ger*
stenberg im Vorteil, da er »auf eigenem Grund und Boden« streite,
»wie der König von Preußen bei Leuthen auf seinem gewöhnlichen
Manoevre^Platz«. Gerstenberg hatte sich dazu bekannt, in seinen
»Briefen« »dem Geschmack des Publici eine andere Wendung«
zu geben, während er die Allgemeine Deutsche Bibliothek nicht
unzutreffend als ein Organ der »Betrachtungen« erkannt hatte, das
im wesentlichen in den alten Geleisen fortfahre. Nicolai mochte
wohl die Richtigkeit dieses Gegensatzes anerkennen, indessen hielt
er doch den Kampfplatz für Gerstenbergs eigenen Grund und Bo*
den und deutete damit an, daß ihn dieser Gegensatz nicht weiter
beschäftige. »Ich bin seit einiger Zeit«, setzt er diesen Gedanken
fort, »in der Gelehrsamkeit ein Fremdling worden^, und von vielen
Beschäftigungen zerstreuet, lese ich wenig und gerade das am wenig*
sten, was ich am liebsten lesen sollte und wollte«. Die Tatsache
aber, daß er an diesen Satz unmittelbar die — schon oben zitierte —
Verteidigung seiner Stellungnahme gegen Klopstocks »Hymnen«
anschließt, offenbart, daß der von Gerstenberg hervorgehobene
Gegensatz zugleich den in der Stellung zu Klopstock einschließt:
die literarische Gegensätzlichkeit in engerem wie im weiteren Sinn,
schriftstellerische und Kunstanschauungs*Gegensätze werden von
Nicolai und Gerstenberg erkannt.
»Die besten Köpfe haben ihre Epochen« sagt Gerstenberg in be*
zug auf Winckelmann*. Im selben Brief aber erinnert er auch Ni*
colai an seine literarische Vergänglichkeit. Nachdem er schon im
vorhergehenden Brief Nicolais Urteil über Klopstock für vereinzelt
erklärt hat, da Nicolai und seine Freunde noch nicht das deutsche
' Gerstenberg an Nicolai 31. I. 67 = Z. f. d. Phil. 23, 49.
- Nicolai an Gerstenberg 21. III. 67.
' Der von Nicolai gewöhnlich nur ironisch gebrauchte Archaismus »worden«
statt »geworden« deutet darauf hin, daß »Gelehrsamkeit« hier für »schöne
Wissenschaften« steht, im Gegensatz jedenfalls zu den Studien, die »recht eigents
lieh den Menschen« betreffen.
' Gerstenberg an Nicolai, 31. I. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23,49.
7 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 9Z
Publikum, ja nicht einmal alle Berliner darstellten, schreibt er jetzt
über Nicolais »Rezept, zu einem Stil zu gelangen« und dessen
»grave Betrachtungen über die Mißlichkeit meines Unternehmens,
meinen Stil auf Kosten des Publici auszubilden«: »Lassen Sie mich
Ihnen ein paar Worte ins Ohr sagen . . . Wenn Sie so etwas drucken
ließen, so würde mancher in dem Verdacht bestärkt werden, daß es,
wie die Schweizer hier einmal aussprengten, in Berlin wirklich eine
Nicolaische Schule gebe, die mit einigen Verbesserungen, nur eine
Erneuerung der weiland gottschedischen sei.« Gerstenberg tritt hier
also gegen die von ihm als dogmatisch^lehrhaft empfundene Urteils*
weise Nicolais auf. Diesen Gegensatz in der kritischen Urteilsweise
verschärft Gerstenberg in dem erwähnten »Vorbericht« zu den
Schleswigschen Literaturbriefen, den er Nicolai mit dem letzten
Brief übersendet. Er unterscheidet dort den »Kritiker« — den er in
den früheren Briefen mit der ironischen, gegen Nicolai gerichteten
Bezeichnung »Criticus« benannt hat^, von dem »Sammler kritischer
Briefe«. Und wenn dieser Unterscheidung auch aus dem Grunde
für Gerstenbergs Anschauungen keine tiefere Bedeutung zukommt,
weil Gerstenberg, wie auch Nicolai erkannt hatte'- in seinen Briefen
den Stil und die Urteilsweise anderer, wie z. B. Sturz nachgeahmt
hatte ^, so war doch die Gegenüberstellung des verschiedenen Gei*
stes, aus dem sich die beiden Arten des kritischen Urteilens nach
Gerstenberg herleiten, eine Gegenüberstellung von Nicolais und
Gerstenbergs kritischer Methode. Gerstenberg bezeichnet, in einer
an Hamanns Unterscheidung sokratischer und sophistischer kri*
tischer Methode* anklingenden Wendung, die seinige als »eine
Folge sokratischer Bescheidenheit«, diejenige Kritik dagegen, die
ihre Stimme für die allgemeine ausgebe, als eine Folge »der sophi*
stischen Zuversicht«; ihm gilt die objektiv^normierende Kritik als
ein Sophisma, da alle Kritik letzthin doch subjektiv sei. Nicolais
Kritik gilt ihm aber als objektiv^normierend, und er hat schon in
einem seiner vorangehenden Briefe, gelegentlich Nicolais Einwen*
' Gerstenberg an Nicolai, 31. I. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 47.
^ Nicolai an Gerstenberg 21. III. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 51.
' Vgl. Max Koch, »H. P. Sturzes München 1879 S. 95; vgl. R. M. Werners Einlei*
tung zum Abdruck der Briefe Gerstenbergs an Nicolai, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 41.
* »Sokratische Denkwürdigkeiten«, ed. F. Roth 2, 12.
98
düngen Klopstock gegenüber, Nicolai auf das Haupterfordernis
des Kritikers hingewiesen, daß die »Sphäre seiner Einsicht der
Sphäre des Genius« gleich sein müsse, wobei die Frage, ob diejenige
des Genies »exzentrisch« sei, eine cura posterior darstelle, die er
womöglich überhaupt nicht gestellt wissen will'.
Traf dieser Hinweis Nicolai, dessen kritische Methode wir oben
als psychologisierend erkannt haben, auch nicht eigentlich, so zeigt
er doch mit aller Deutlichkeit Gerstenbergs gegensätzlichen Stand*
punkt zu dem Kritiker Nicolai.
Der eben erwähnte Hinweis Gerstenbergs führt indessen schon
zu dem von beiden Korrespondierenden erkannten tieferen Gegen*
satz der Kunstanschauungen. Er äußerte sich auch in der an
Gerstenbergs Urteil, die Karschin sei ein »Genie ohne Geschmack«^,
anknüpfenden Diskussion, in der wir allerdings von Gersten*
bergs Seite einen Versuch am untauglichen Objekt sehen müssen.
Gerstenberg meint, die Karschin besitze eigenen Ausdruckswillen;
daß derselbe sich bei ihr nicht in wilder Imagination äußere, be*
sage gegen seine Annahme nichts. Für Nicolai aber, dem der Ori*
ginalgedanke letzthin doch etwas Äußerliches ist, gilt sie nicht als
Original, weil ihr die »großen und rauhen« Züge fehlen; er exem*
plifiziert auf Shakespeare, der ihm — eine von Nicolai nicht be*
merkte contradictio in adiecto — die Norm des Originalgenies dar*
stellt. Ein Genie ohne Geschmack sei ein solches, das zwar das
Vermögen habe, »original zu imaginieren und nach eigener Art
auszuführen, große, starke aber rauhe Züge und hingegen einen
gänzlichen Mangel der kleinen Zärtlichkeiten der poetischen
Sprache, des Anständigen, des Neuen und dergl.«; die Karschin
dagegen hätte gerade das letztere, hingegen fehle ihr das erstere:
er bedenkt nicht, daß eine solche normierende Deduktion dessen,
was seinem Wesen nach sich eben der Deduktion entziehen
soll, einen Widerspruch in sich bedeutet und sein Zugeständnis,
daß es große Dichter geben könne, die »Genie ohne Geschmack«
besitzen, eigentlich wertlos macht. Aber auch an diesem Punkt
ist Nicoiai von vorneherein geneigt, seine gegensätzliche Mei*
nung auf sich beruhen zu lassen; jede weitere Erörterung ab*
' Gerstenberg an Nicolai, 6. IV. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 55.
* Gerstenberg an Nicolai, 31. I. 67, ebd. S. 48.
7* 99
schneidend, sagt er: »Ich merke wohl, auch über diesen Punkt
(sc. wie über ihre Meinungsverschiedenheiten inbetreff Klop*
Stocks) werden wir nicht einig, weil wir in den Prinzipiis allzusehr
differieren«^.
Dieselbe Stellungnahme kennzeichnet denn auch seine Rezen*
sionen Gerstenbergscher Werke, und sie tritt um so mehr hervor,
als eine Beeinflussung durch den Tadel, den Gerstenberg im 12. der
»Briefe über die Merkwürdigkeiten« gegen die Literaturbriefe, ins*
besondere gegen Nicolais Zachariae* und Dusch*Rezensionen ge*
richtet hatte, nicht nachweisbar ist. Obwohl er, worauf schon oben
hingewiesen ist, die Imagination in Gerstenbergs »Gedicht eines
Skalden« so »sonderbar« findet wie die Versart^ bedenkt er es den*
noch mit jenem sachlichen Lob, das wir schon einmal als Kompro*
miß bezeichneten: er zählt es zu den »Originalwerken, dergleichen
nur selten erscheinen«. Und wenn er eine hervorragende Stelle
rühmt, die ihn ganz »mit süßer Empfindung überschüttet« habe,
so entschuldigt er gewissermaßen dieses Lob mit dem Hinweis auf
objektive Wertbestimmungen: »nicht als ob sie die erhabenste oder
beste wäre; aber sie ist allen Lesern die verständlichste«. Und wenn
er, das Ganze überschauend, zugibt, daß »diese wilde Imagination
uns vielleicht einmal einen Nordischen Arioste bringen« könnte,
»wenn ein großes Genie, die Schranken des Regelmäßigen verach*
tend, sich bloß seiner Einbildungskraft überließe«, so besagt doch
der Nachsatz, daß er diesen möglichen Fall auf sich beruhen lassen
will. »Aber wirklich ein großes Genie müßte es sein, sonst — «,
schließt er, und überhebt sich mit einem Gedankenstrich weiterer
Erörterung. — Eine kurze Anzeige der Gerstenbergschen Wochen*
Schrift »Der Hypochondrist« ' beruft sich auf das allgemeine Urteil:
Gerstenbergs Name allein sei Bürge, »daß dieses Werk nicht in die
gemeine Klasse der Wochenschriften gehöre«. Bezeichnender fast
noch ist es, daß er Herders lobpreisende Rezension des »Ugolino«
stillschweigend in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek aufnahm*,
ja sogar Herder für die Sendung der Rezensionen, unter denen sich
' Nicolai an Gerstenberg 21. III. 67, Zeitschr. f. d. Phil. 23, 51.
^ In der schon erwähnten Rezension: Allg. Dtsch. ßibl. V, 1, S. 210.
' Allg. Dtsch. Bibl. 9, 2, 296.
* Allg. Dtsch. Bibl. 11, 1,S. 8ff.
100
diejenige des Ugolino findet, mit freudiger Anerkennung ihres
Wertes dankte'. -
Unzweifelhaft scheint somit der Charakter dieser ersten Periode in
Nicolais Verhältnis zum Sturm und Drang festzustehen : ein Wider*
stand, der die eigene Art sichern will, die sich bedroht fühlt durch
lTnverstanden*Fremdes ; eine Ablehnung, die um jeden Breis Feind*
Schaft vermeiden und die Gegensätze mit tolerantem Kompromiß
ausgleichen möchte. Ein Verhältnis übrigens, das sich nur von seiner
subjektiven Seite her zeichnen läßt, da schöpferisch ^ intuitive Lei*
stungen auf einen reflektorischen, und in seiner Produktion sich
gehemmt fühlenden Geist stielten. Ein allgemein zusammenfassen*
des Bekenntnis Nicolais mag diese Periode und dieses Verhältnis
— beides gehört zusammen — beleuchten helfen: An Johannes
Müller, dessen er sich väterlich annehmen zu müssen glaubt,
schreibt Nicolai^: »Wenn man ein nicht ganz schaler Kopf ist,
so ist es leicht, durch fremde Sprünge in Gedanken und Verbin*
düng der Gedanken Aufmerksamkeit zu erwecken; aber wie sehr
viel schwerer ist es, Moses Mendelssohns edle Einfalt im Rai*
sonnement, Lessings philippische Stärke, Humes Nachdruck und
Wielands philosophische Empfindsamkeit zu erreichen!« Er ziehe
diese Schreibart »Gerstenbergs dunkeln Anspielungen, Klop*
Stocks feierlicher unaufhaltsamer Nachdruckbeeiferung, Her*
ders kühn zusammengesetzten, kühn abgebrochenen noch nicht
genug sagenden und doch noch mehr sagen wollenden Orakel*
Sprüchen weit vor«, — »ob mir gleich Gerstenberg, Klopstock und
Herder sehr schätzenswürdige Leute sind«. Hier ist auf einem
Nicolai so wichtigen Gebiet wie dem des Stils ein allgemeiner
Gegensatz mit großer Schärfe hervorgehoben; aber auch hier noch
zeigt sich jene Anerkennung des gegnerischen Lagers, die wir als
rein äußerlich erkannten^ Sie mußte einer entschiedenen Ab»'
' Nicolai an Herder 11. IV. 66. Interessant wäre es, die Rolle zu kennen, die so;
wohl Nicolai wie Gerstenberg in der Bodmerschen, in dessen Nachlaß befinde
liehen Parodie : »Das Parterre in der Tragödie Ugolino« spielten ; vgl. Jak. Baecht^
hold, Gesch. d. dtsch. Literatur in der Schweiz, S. 203 der Anmerkungen. Ich
konnte sie leider nicht heranziehen.
' Nicolai an Joh. v. Müller, 2. VII. 73 = Briefe an Joh. v. Müller . . . herausgeg.
von M. Constant, Schaffhausen 1839 ff. Bd. 4 (1840) S. 68.
' Noch 1777, in einer weiter unten zu behandelnden Rezension, die von Enthu*
101
lehnung Platz machen, wenn, wie es in den folgenden Jahren
geschah, Nicolais geistige Richtung durch die Gegenpartei ab;
gelehnt wurde; der latente von Nicolai gern verdeckte Gegensatz
wurde von den Jungen eröffnet, und Nicolai war damit vor die
unabweisbare Aufgabe des Kampfes gegen den Sturm und Drang
gestellt. ■*
siasmus und Schwärmerei handelt (AUg. Dtsch. Bibl. 30, 2, 366") hat Nicolai »in
der Klassifikation der Genies« Klopstock den Platz »über so viel tausend sich
so nennende Philosophen« zugewiesen.
102
ZWEITES KAPITEL
»Wollte Gott, ich dürfte an die deutsche Bibliothek gar nicht mehr
denken] Ich bin von neuerer Literatur so voll, daß ich, wie jeder,
der den Magen zu voll hat, nicht verdauen kann. Ich habe schon oft
aufhören wollen; wissen Sie, was mich zurück hält? Die theolo*
gischen Artikel. Sie haben eine so merkwürdige Revolution in
deutschen Köpfen verursacht, daß man sie nicht muß sinken lassen«
— schreibt Nicolai am 8. IIL 71 an Lessing^ In demselben Brief, in
dem er diese bedeutsame Wandlung feststellt, teilt er dem Freunde
den Plan seines Romans »Sebaldus Nothanker« mit. Aus dem Kern
einer Satire gegen Klotz und seine Anhänger^ war ihm der Plan zu
einem Romane erwachsen, der, gemäß seiner Erkenntnis: »die*
jenigen, die die Erde bebauen, beschreiben sie nicht«, ein »Werk
der Darstellung^« in dem Sinne werden sollte, daß die Darstellung
eines Seins ein Soll aussprach. Es war für Nicolai, wie schon oben
darzustellen versucht wurde, die Zeit, da das reine Interesse an der
Poesie einer wissenschaftlichen Einstellung Platz machte, die ihren
Ausdruck in Studien fand, »die den Menschen näher betreffen«;
da er die Poesie für eine »bloß erlaubte Ergötzung« hielt, die dem
übergeordneten Wirken für die Menschheit sich einzugliedern habe.
Seine Bemühungen um die Nationalliteratur wurden, wenn auch
nicht verdrängt, so doch aufgesogen von einem weitschichtigeren
Komplex, der ihn, den Anhänger des Popeschen Satzes »das eigent*
liehe Studium der Menschheit ist der Mensch«, zu kulturhistorischen,
theologischen, physiognomischen,volkswirtschaftlichen, politischen
Studien führte. Wohl fand im »Sebaldus Nothanker«, dessen erster
Band in der Ostermesse 1773 erschien — die beiden folgenden kamen
1775 und 76 heraus — hauptsächlich das theologische Interesse einen
— mehr extensiven als intensiven — Ausdruck; doch zeigt dieser
Roman den ganzen Umfang seiner neuen und bald beherrschenden
Interessenssphäre. Richard Schwinger hat in seiner trefflichen Unter*
suchung über den Sebaldus Nothanker diesen Roman mit Recht
' An Lessing 8. III. 71.
^ An Lessing 13. VIII. 73.
" Göckingk S. 125.
103
als den Ausdruck einer neuen Periode in Nicolais Entwicklung
angesehen; doch hat er, — wohl mit Rücksicht auf seine Haupt*
aufgäbe, die Würdigung des Nothanker als eines Zeitromans, —
die Stellung, die dem Sebaldus in der Entwicklung Nicolais zu*
kommt, nicht genügend gekennzeichnet, indem er einmal einzig
die Stellung des Romans zu der vorangegangenen Periode Nicolais,
nicht aber zu der folgenden Entwicklung hervorhob, andererseits
die Tendenzen der beiden Perioden hinsichtlich Nicolais V^erhaltens
zur schönen Literatur rein äußerlich als positive und negative, oder
doch beiden verschiedenen Polen zustrebende, erkannte. Was den
ersteren Mangel anbetrifft, so wird die Bedeutung des Nothanker
und seiner Wirkungen für Nicolais Entwicklung im weiteren Ver*
lauf dieser Arbeit gekennzeichnet werden. Hier sei nur darauf hin*
gewiesen, daß der Geist des Sebaldus nicht nur in der Form und
der Tendenz der beiden späteren Romane Nicolais, in der »Ge*
schichte eines dicken Mannes« und im »Sempronius Gundibert«
nachwirkt, sondern daß er überhaupt die ganze Polemik gegen den
Kantianismus befruchtet hat, so daß diese schon hier, im Sebaldus
Nothanker, ihre Wurzeln findet. Die Verse, die sich in Nicolais
Nachlaß fanden \ und die den Geist des Nothanker sehr glücklich
— wenn auch nicht in einer vom ästhetischen Standpunkt sehr glück«
liehen Ausdrucksform — zu umschreiben scheinen, geben letzthin
auch, entsprechend umgewandelt, den Geist seiner Polemik gegen
den Kantianismus, gegen die mißbräuchliche Systematisierung der
»unveränderlichen Philosophie« wieder:
»Theologie ist oft nur Ton,
Den dreht man, bald zum Zeitvertreibe,
Und bald ums Brod, auf seiner Töpferscheibe,
Wie und wozu ein jeder will.
Und freilich hält der Ton auch jedem Stümper still,
Doch unveränderlich bleibt die Religion.« —
Die Richtigstellung der Schwingerschen Auffassung aber, die mit
dem»Sebaldus Nothanker« einenegative Stellungnahme Nicolais zur
Poesie ansetzt, ist implicite schon in den Ausführungen des ersten
Teiles dieser Darstellung versucht, wo die Einstellung Nicolais auf
' Göckingk S. 165.
104
»den Menschen und die Menschheit« zeitHch und sachHch be*
leuchtet wurde. Es handelte sich dabei, wie wir erkannten, um
einen Umsetzungsprozeß, der die schöne Literatur jenem obersten
Interesse unterzuordnen suchte; es handelte sich für Nicolai nicht
um eine Verneinung der Poesie, sondern nur darum, sie einer tieferen
Schicht zuzuführen, sie umfassender zu begründen.
Diese festgegründete Anschauungsweise hat im »Sebaldus No*
thanker« einen freilich ganz ungenügenden ästhetischen Ausdruck
gefunden. Das mannigfache begeisterte Lob, das dem Sebaldus als
Kunstwerk entgegentönte, und das uns weit unbegreiflicher ist, als
die Ablehnung des Sebaldus aus religiösen oder Weltanschauungs*
gründen, mußte in Nicolai den Eindruck erwecken, der Sebaldus
habe der Zeit aus der Seele gesprochen. Nennt ihn doch Gebier
den »ersten Nationalroman« \ spricht doch Schubart von ihm als
dem »besten deutschen Roman« ^. Die überaus zahlreichen, begei*
Sterten Zustimmungen von literarischer Seite wie aus dem großen
Publikum, die wenigstens eingehende Auseinandersetzung mit dem
Nothanker an den Stellen, von denen widersprochen wurde, hat
Richard Schwinger^ mit wünschenswertester Vollständigkeit zu*
sammengetragen. Ein Ergebnis aus diesem mannigfachen Echo,
besonders die Rückwirkung desselben auf Nicolai hat er jedoch
nicht dargestellt. Gerade hierauf kommt es uns aber bei unserer
Aufgabe an; denn diese Rückwirkung auf Nicolai hat naturgemäß
seine Stellung in dem an den Nothanker sich anschließenden Streit
mit Hamann, Jung Stilling und Fr. H. Jacobi beeinflußt, der eine
wichtige Phase in seinem Verhältnis zum Sturm und Drang dar*
stellt.
Die unbedingt lobende, mitunter enthusiastisch begeisterte, brief*
liehe Zustimmung von Thümmel, Eschenburg, Ebeling, Riedel (der
bei dieser Gelegenheit — Brief vom 22. IX. 73 — Anknüpfung an
Nicolai sucht), Zimmermann (der den Sebaldus "Wielands Agathon
gleichstellt), Iselin, Denis, Gebier, Springer in Erfurt (der den Ro*
^ Gebier an Nicolai 15. VII. 75 = Werner S. 66.
* Schubart: Deutsche Chronik 1774. S. 142. (R. Schwinger S. 154.) Erst bei Ge*
legenheit von »Werthers Freuden« hat Schubart dieses Lob zurückgezogen und
ins Gegenteil verkehrt.
' Richard Schwinger S. 161 ff., S. 195 ff.
105
man über Wielands Goldenen Spiegel stellt), v. Bretschneider (in
dessen Roman Familiengeschichte und Abenteuer des Junker Fer*
dinand v. Thon sich Nothankers Einfluß sehr stark erweist), und
Justus Moser hat Nicolai mit freudigem Dank quittiert; wir dürfen
annehmen, daß er auch die lobende Zustimmung in Zeitschriften
und Zeitungen, soweit sie Nicolai bekannt wurde, ebenfalls dankend
annahm. Besonders wertvoll mußte ihm natürlich schon wegen des
folgendes Streites mit F. H. Jacobi, aber auch in seinem späteren
Streit mit Wieland selbst, die lobende Rezension des Teutschen
Mercurs von Wieland (Juni 1773 S. 231f.) sein, der den Sebaldus
ein »in seiner Art ganz neues und originales Buch« nennt, für das
er »dem Genius des Geschmacks und des Menschenverstands«
»herzlich dankt«. Eine Reihe von Einwänden, die in brieflichen
Äußerungen an Nicolai laut wurden, hat er zu widerlegen gesucht,
wie z. B. Lessings Einwand ^ gegen das Motiv der »Seelen verkäuferei«
im dritten Teil des Sebaldus mit Hinweis auf die reale Wahrschein*
lichkeit des Motivs"". Moses Mendelssohn^ zieht seine ästhetischen
Einwände gegen die erste Hälfte des zweiten Bandes mit Rücksicht
auf die Vollkommenheit der zweiten Hälfte zurück, (ebenso einen
Einwand* gegen eine fast irreligiös klingende Wendung in dem ihm
zur Durchsicht übergebenen Manuskript des 3. Teils, die er jedoch
lediglich als ungeschickten Ausdruck ansieht), und versieht sie mit
einem »Imprimatur«. Nicolai sah also auf dieser Seite, die ihm noch
immer die maßgebendste war, leicht zu widerlegende, im wesent*
liehen rein ästhetische Einwände; mit dem Geist des Romans iden*
tifizierten sich seiner Meinung nach Lessing und Moses unbedingt;
Lessings Stirnrunzeln, das wir hinter dessen Worten: »ich schreibe
Ihnen bei meiner nächsten Erwachung alles das weitläufig, was ich
bei verschiedenen Stellen gedacht habe; und ich denke, ich habe
mancherlei gedacht«^ zu sehen glauben, hat Nicolai, wie aus seinem
Antwortsbrief vom 13. VIII. hervorgeht, nicht bemerkt. Er hat nur
die Zustimmung Lessings herausgehört, die ihm um so lieber war,
' Lessing an Nicolai 16. VI. 76.
- Nicolai an Lessing 29. VI. 76.
=• 3. X. 74 = Moses Ms. Ges. Schriften V, S. 529.
' 20. II. 75 = Moses Ms. Ges. Schriften V. S. 532.
' Lessing an Nicolai 18.\1I.73.
106
als er Lessings Urteil gefürchtet hatte; und so schreibt er dort den
für seine eigene Stellung zum Sebaldus Nothanker äußerst bezeich*
nenden Satz nieder: »Fast sollte ich glauben, daß mir etwas darin
(sc. im Nothanker) gelungen wäre, weil es einigen Leuten gefällt,
von denen ich sehr befürchtete, daß es ihnen nicht schmecken würde.
Sie waren darunter — die Ursachen würden zum Teil für Sie ein
Kompliment sein, und das wollen wir einander nicht machen.« Zu
diesen »Leuten«, über deren Urteil Nicolai zweifelhaft gewesen war,
gehörte vor allem Herder. Soll dessen Urteil^ über den Sebaldus
auch erst im folgenden Abschnitt gewürdigt werden, so mag doch
hier schon darauf hingewiesen werden, daß es in Nicolais Ohren
als unbedingtes Lob klang; die von Herder angekündigte ausführ*
lichere Beurteilung des Nothanker hat er vergebens erwartet; kaum
ein Jahr später^ wies Herder »Nothnagels Sandwüsten« kalt und
höhnisch ab. — Sicher gehörte auch Merck zu denjenigen, deren
Urteil über den Sebaldus Nicolai zunächst zweifelhaft war. Auch
Mercks briefliches Urteil hat ihn angenehm enttäuscht, und Nicolai
vermerkt auch hier offenherzig^: »So wenig ich literarischen Ruhm
suche, so werde ich doch oft verdrießlich, wenn ich, indem mir das
Lob des großen Haufens vor den Ohren gellet, mir vorstelle, daß
vielleicht Kenner die Köpfe schütteln.« Und nun konnte er glauben,
nicht nur die literarischen »Kenner«, sondern auch die theologischen
auf seiner Seite zu haben. Semler, Resewitz, Schroeckh, Lüdke, J. A.
Hermes, Pistorius, Walch, Theologen, die Nicolai äußerst hoch*
schätzte, und die — bis auf Semler — die Hauptstütze der theolo*
gischen Artikel der A D Bibliothek waren, an denen überhaupt,
wie wir oben aus Nicolais Äußerung an Lessing gesehen haben,
Nicolais Interesse für die Fortführung der A D Bibliothek hing,
versicherten ihn nach dem Erscheinen des ersten Bandes ihrer
wärmsten Anteilnahme an Sebaldus' weiteren Schicksalen. Und
das, obwohl ein vorurteilsfreier Mann, wie Iselin, befürchten zu
müssen glaubte, daß die Geistlichkeit, der im Sebaldus übel mit*
gespielt sei, da der beste Geistliche des Romans, Sebaldus selbst,
ein Narr sei, den Roman heftig bekämpfen werde! Seinem Rat nach
^ Herder an Nicolai 19. VI. 73.
* Herder an Nicolai 29. VII. 74.
" N. an Merck (Wagner I, S. 73 f.) 8. X. 76.
107
dem Erscheinen des ersten Bandes, »die Orthodoxen gehen zu
lassen« und sie nicht weiter an den Pranger zu stellen, glaubte Ni*
colai nicht folgen zu können und nicht folgen zu brauchen. Und
wie Iselin gegenüber, so lehnte Nicolai auch gegen Merck, der ihn
vor den »Herren des geistlichen Ordens« gewarnt hatte, alle Mah?
nungen zur Rücksichtnahme und Schonung überlegen ab^ Wir
dürfen annehmen, daß auch die Streitschriften gegen den Nothanker
von orthodox theologischer Seite^ Nicolai nur insoweit berührt
haben, als sie ihn eher in der Fortsetzung des begonnenen Werkes
bestärkten.
So fühlte sich denn Nicolai nach dem Erscheinen des Nothanker
in sehr sicherer Position. Die Bescheidenheit eines sicheren Bewußt*
seins spricht aus seinem schon erwähnten Brief an Herder vom
25. VI. 73, nicht, wie K. Aner meint, das Geständnis der Unter*
Ordnung unter Herder. In dieser sicheren Position, in der er ästhe*
tische Einwände durch ästhetische Gegenemwände oder durch den
Hinweis auf die vorherrschende Tendenz des Romans widerlegen,
Widerspruch gegen die Tendenz als tief unter ihm stehend unbe*
achtet lassen zu können glaubte, traf ihn Hamanns »An die Hexe
zu Kadmonbor«, Jung Stillings »Schleuder eines Hirtenknaben«,
wurde Friedrich Heinrich Jacobis Abneigung gegen Nicolai zur
offenen Feindschaft. Hatten wir im vorangehenden Kapitel eine
Diposition Nicolais festgestellt, die das Neue, von ihm Unver*
standene bisweilen bedauernd und im Bewußtsein der Schwäche,
bisweilen im Hinblick auf seine abweichende, ihm andere Auf*
gaben zuweisende Wesensart ohne zu verneinen abwies, so traf ihn
hier, wo das Bewußtsein seiner ihm eigentümlichen Aufgaben sich
verobjektiviert und dadurch an Festigkeit gewonnen hatte, ein ihm
unverständlicher, aber äußerst heftiger Widerspruch von der Gegen*
Seite, der eine tiefe Kluft zwischen ihr und Nicolai zu schaffen
schien. Die Zuordnung Hamanns, Jung Stillings und Fritz Jacobis
' Nicolai an Merck 8. X. 76.
^ Schwinger S. 224f. Hierzu ist die Denunziation des ins Holländische über=
setzten »Sebaldus Nothanker« in der Neederland. Bibl. nachzutragen, die eine Auf*
Forderung enthielt, das Buch, in dem die »Prediger so höllisch gelästert werden«,
in Holland zu verbieten. Afsprung teilte Nicolai einen Auszug aus dieser »Res
zension« 18. III. 76 NN mit.
108
zu der Geniebewegung konnte ihm, wie wir sehen werden, nicht
zweifelhaft sein. Es ist daher die Frage, wie dieser Widerspruch in
seiner damaHgen Lage auf sein subjektives Verhältnis zum Sturm
und Drang eingewirkt hat, und wie dieses das objektive beeinflußt
hat. Die Verschiedenheit des Angriffs muß dabei in Betracht gezo«
gen werden. Der Widerspruch Hamanns hat natürlich nicht nur
durch seine eigenartige, echt Hamannische Form, sondern auch
durch die Tatsache eines vorangegangenen jahrelangen freund*
schaftlichen Briefwechsels erheblich anders auf Nicolai gewirkt, als
derjenige Jung Stillings. Es ist daher notwendig, den Widerstand
der drei gesondert zu behandeln, und in jedem Falle, insbesondere
aber bei Hamann, das persönliche literarische Verhältnis in der Zeit
vor dem Streit zur Beurteilung heranzuziehen.
NICOLAI UND HAMANN
»Eine zusammenfassende und eingehende Darstellung von Hamanns
Verhältnis zu Nicolai . . . würde nur in monographischer Form
möglich sein,« urteilt Rudolph Unger^. Doch scheint Nicolais Ver*
hältnis zu Hamann mit leichterer Mühe aus dem Knäuel von Schrif*
ten und Gegenschriften, von liebenswürdig*launiger Polemik und
tiefwurzelnder Abneigung, von Freundschaftsbezeugungen und
gleichzeitigen boshaften Sticheleien herausgehoben werden zu kön*
nen. Die von Unger betonte Schwierigkeit mindert sich für unsere
Zwecke auch insofern, als wohl Hamann, nicht aber Nicolai eine
Zeit lang Verstecken spielte. —
Das frühe Verhältnis Nicolais zu Hamann kann nicht anders als
im Zusammenhang desjenigen von Mendelssohn zu Hamann be*
trachtet werden. Wie Abbts Briefe an Moses oder Nicolai immer
an beide gerichtet sind, so auch Hamanns Briefe"-; Moses ist für
Hamann oft der Mittler zu Nicolai, Nicolai spricht durch den
Mund Mendelssohns zu Hamann.
Moses Mendelssohn, den Hamann seit seiner Ende Oktober 1756
erfolgten persönlichen Bekanntschaft gleich »mit entscheidendem
' R. Unger, »Hamann und die Aufklärung« S. 452.
'-' So liegt z. B. im Nachlaß Nicolais Hamanns Brief lu Moses vom 6. XI. 64.
109
Geschmack« geliebt hatte \ hat wohl Nicolai zunächst auf Hamanns
von ihm sofort erkannte Begabung aufmerksam gemacht. Hamann
hat Nicolais Bekanntschaft bei dem regen Interesse, das er Lessing,
Moses und den 1759 begonnenen Literaturbriefen entgegenbrachte,
sicher gesucht; wenn wir seiner später gegebenen Versicherung^
glauben dürfen, hat er an Nicolai schon lange, bevor er zu ihm
persönliche Beziehungen angeknüpft hatte, unter dem »vertrauten
Titel« »Geliebtester Freund« gedacht. Die literarischen Beziehung
gen Hamanns zu Nicolai beginnen, worauf Rudolph Unger zuerst
hingewiesen hat^ mit einer Parodie der »Zueignung an Madame
Publicum« von Nicolais »Briefen über den itzigen Zustand« in
Hamanns Einleitung zu seinen »Sokratischen Denkwürdigkeiten«.
— Mit der Mendelssohnschen Rezension der »Sokrat. Denkwürdig*
keiten« im 113. Literaturbrief beginnt das Hin und Her von Kri*
tiken und Metakritiken. Mendelssohns lobende Hervorhebung
seines »ungemeinen Witzes«, seine Vergleichung der Hamannschen
mit der Winckelmannschen Schreibart, sein so ausführliches Ein*
gehen auf ein an Umfang so geringes Schriftchen hinderte Hamann
' Hamanns Schriften, ed. F. Roth III, 127.
- 21. XI. 69 an Nicolai = O. Hoffmann, Vierteljahrschrift für Literatur*
geschichte 1, 123.
' Die Einleitung »An das Publikum oder Niemand den Kundbaren« scheint
späterhin wiederum von Moses*Nicolai parodiert zu sein. Zu seinem Brief an
Lessing vom 26. IV. 73 (= Lachmann*Muncker 20, 251) mit dem Anfange: »Ob
Sie gleich ein tauber und stummer Götze sind, der nicht antwortet,« bemerkte
Nicolai in seiner Ausgabe von Lessings Schriften 1794, Bd. 27, S. 348, Moses
habe die zweibändige Ausgabe seiner philosophischen Schriften mit einer Zu*
eignungsschrift an Lessing versehen, die nur diesem einen Exemplar beigefügt
wurde (abgedruckt ist sie: Karl Lessings »Leben« seines Bruders, I, 233). In
dieser Zueignungsschrift sagte Moses u. a. »die Schriftsteller, die das Publikum
anbeten, beklagen sich, es sei eine taube Gottheit«. »Ich lege meine Blätter zu
Füßen eines Götzen, der den Eigensinn hat, harthörig zu sein. Ich habe gerufen
und er antwortet nicht« usw. »darauf«, bemerkt Nicolai a. a. O., »zielt Obiges«.
Nicolai weist dort Lichtwers Fabel »Die seltsamen Menschen« als Vorbild dieser
Mosesschen Zueignungsschrift nach, doch scheint ihn sein Gedächtnis getäuscht
zu haben; vielmehr geht diese Zueignungsschrift, und also auch Nicolais Brief*
anfang, auf Hamanns Vorrede »An das Publikum« zurück: ein Beispiel, wie
stark diese Hamannsche Schrift in Moses und Nicolai haftete, und wie seine
beziehungsreiche Sprache von beiden fast im Sinne heutiger »Geflügelter Worte«
gebraucht wurde.
110
nicht, so sehr er auch die ihm angetane Ehre würdigte, zu erkennen,
daß Mendelssohns Lob seicht sein müsset da der Rezensent dem
wesentlichsten Kern der Denkwürdigkeiten nicht nahegekommen
sei. In der Tat müssen wir zugestehen, daß Mendelssohns Kritik,
wenn auch nicht seicht, so doch unzureichend war. Wohl erkennt
Moses, überall behutsam nachfühlend, das »Feine, Edle« des Spottes
gegen die überzeitlichen Sophisten, erkennt er, daß Hamann über
Sokrates »auf eine sokratische Weise« habe schreiben wollen; wohl
bemüht er sich da, wo »der gemeine Leser nichts als Schimmel
sehen möchte«, »ein mikroskopisch Wäldchen zu entdecken«, ja
er kommt hier dem Autor zu Hilfe und sagt, daß selbst ein so ge*
meiner Leser wie er das mikroskopische Wäldchen habe entdecken
können. Was seine Kritik indessen unzulänglich macht, ist die Ver*
kennung des subjektiven Anteils des Autors an der Schrift. Moses
übersieht, daß es sich für Hamann einzig um die Herausstellung
persönlichsten Geistes am objektiven Beispiel handelt; und so
wünscht Mendelssohn am Schluß seiner Kritik von dem typischj»
sten Fragmentisten der deutschen Literatur, daß er »sein Miniatur*
gemälde ins Große bringen wolle, damit die edlen Züge desto deut#
lieber werden, die er itzt hat kaum anzeigen können«. Dieser Schluß*
satz, für sich betrachtet, erscheint freilich seicht; im Zusammenhang
der Mendelssohnschen Kritik ist er jedoch der objektive Schluß*
stein einer subjektiv gehaltenen Anpreisung; macht man Mendels*
söhn die Verkennung der letzten Wurzel der Denkwürdigkeiten
zum Vorwurf, so muß man ebenso betonen, daß Hamann diesen
Standpunkt der Mendelssohnschen Kritik letzthin verkannt hat.
Nur so ist es auch zu erklären, daß er die Rezension der Literatur*
briefe als »Antidot«^ zu derjenigen der »Hamburgischen Nach*
richten«^ empfunden, und Lober und Tadler in dem »aristophani*
sehen Drama« »die Wolken« abgefertigt hat*, dessen prinzipiell
wesentlichster Teil, der Nachweis, daß das von den Rationalisten
' Vgl. Hamann an Lindner 7. II. 61 = Roth 3, 50.
* Ebenda.
■■" Hamburg. Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit 1760, Stück 57.
* Ob Moses diese Metakritik nicht vorausgeahnt hat? Vgl. den Anfang des
113. Literaturbriefes: »Einen Schriftsteller tadeln ist eine Beleidigung. Sollte
nicht einen anderen loben, weit größere Beleidigung sein? Ich müßte die Schrift*
Stellereitelkeit wenig kennen« usw.
Hl
als krankhaft Angesehene In Wahrheit der »afflatus divinus« des
Genies sei, freiHch nicht gegen Moses, sondern gegen den Rezensent
ten der Hamburgischen Nachrichten gerichtet war, und das deshalb
hier nicht weiter berührt werden soll. Wie viel Moses und Nicolai
von dieser selbst für Hamannsche Schreibart — besonders in der
dritten »Handlung« — ungemein verwickelten Satire verstanden
haben, bleibe dahingestellt ; Moses hat sie jedenfalls als des Verfassers
der Denkwürdigkeiten nicht würdig erachtet \ was Hamann, wie
R. Unger meint"^, nicht wenig gekränkt hat; denn es handelt sich bei
den »Wolken« wie bei allen Hamannschen Metakritiken nicht um
die Nörgelei verletzter Eitelkeit, wie Kayserling annimmt^; Hamann
polemisiert — in diesem speziellen Falle, wie wir sahen, ohne Grund
— dagegen, daß es »heutzutage entbehrlich ist, eine Abhandlung
zu verstehen, die man auslegen und richten soll«, und zeigt viel*
mehr, daß seine schriftstellerische Ehrlichkeit solche Polemik not*
wendig mache. Freilich scheint diese Polemik nicht besonders tief
und eingehend; tiefer und prinzipieller hat Hamann in den kleinen
Schriftchen »Schriftsteller und Kunstrichter« und »Leser und Kunst*
richter«* »die Aspekten des deutschen Horizontes mit den Grund*
sätzen Ihrer Kritik«, wie er an Mendelssohn schreibt^, verglichen,
und in einer dem Leser allerdings außerordentliche Schwierigkeiten
darbietenden Verknüpfung von platonisch gefärbten Staatsideen^
'■ »Von den Wolken haben wir aus Nachsicht gegen den schätzbaren Verfasser
der Denkwürdigkeiten niemals ein Urteil gefällt«, schreibt er 2. III. 62 an Hamann
(Roth 3. 131).
= Unger S. 357.
' M. Kayserling, »Moses Mendelssohn, sein Leben und seine Werke« Leipzig
1862, S. 173. Viel bedeutsamer ist die Interpretation, die Unger diesen bestän=
digen Auseinandersetzungen Hamanns mit seinen Kritikern gibt: »Ihm, dem
eigenwilligen, genialisch sonderartigen und insofern höchst unzeitgemäßen
Schriftsteller mußte in hohem Grade daran gelegen sein, scharfsichtige und ver*
ständnisvolle Kritiker zu finden, welche als Dolmetscher seine , wenigen gewo*
genen Goldworte' in .Scheidemünzen' für das Publikum umzusetzen fähig und
willig wären.« »Aber wieviel fehlte daran, daß ihm solche Gunst . . . von dem
zünftigen Kunstrichtertum widerfahren wäre.« (S. 357.)
* Über den Zusammenhang dieser Schriften mit Hamanns Polemik gegen die
Literaturbriefe, vgl. R. Unger 366 ff.
' An Mendelssohn 11. II. 62 = Roth 3, 128.
* Vgl. über diese Elemente der zitierten Schrift R. Unger, S. 360.
112
mit denen einer ebenso utopischen Gelehrtenrepublik Ideal und
Wirklichkeit des Kunstrichtertums scharf gegenübergestellt. »Leser
und Autor«, beginnt die erste der beiden Schriften \ »sind der Herr
oder vielmehr der Staat, dem ein Kunstrichter zu dienen sich an*
heischig macht«. Diese Dienerrolle darf der Kunstrichter nicht ver*
leugnen; nie darf er sich den Schaffenden gleichberechtigt, noch
weniger gebietend entgegenstellen^; der Kunstrichter unterliege
demselben Gesetze, wie alle Schreibenden: »Daß man nicht wie
ein Cato oder Varro von der Viehzucht schreiben kann, wenn man
nicht selbst e grege ein Ehrenmitglied und ein Kuhhirte gewesen
ist"^.« Wenn dennoch zahlreiche Kunstrichter täglich ihre Urteile
über die mannigfaltigsten Gebiete abgäben, so ist solche »Fertig*
keit«, wie Hamann ironisch sagt*, eben »ein unerkanntes Wunder*
werk unseres Jahrhunderts«. Wer der »unüberwindlichen Ver*
suchung« nicht widerstehen könne, »die Einsicht eines jeden Schrift*
stellers und die Einsicht eines jeden Lesers durch die Überlegenheit
seiner eigenen zu übertreffen und auszustechen, den macht die
Stärke seines Ruhmes gänzlich zum Kunstrichter untüchtig« —
diese Sätze bildeten die praktische Ergänzung seiner einleitenden
Forderung: »Zu der Würde eines Kunstrichters gehören entweder
zwo Schultern, die Ajax in der Iliade zum Wächter darstellen,
oder ein Mantel, den man auf beiden Achseln zu wechseln weiß.
Die heroischen Zeiten sind an Riesen, und die philosophischen an
Betrügern fruchtbar^.« Für Betrüger hielt nun Hamann Moses und
Nicolai nicht, noch viel weniger aber für Riesen. Moses*Nicolai
verstanden jedoch diese Distinctionen nicht, oder vermochten
wenigstens nicht ihre Beziehung auf die Objekte zu deuten. So
schreibt Moses im 254. Literaturbrief gelegentlich der Besprechung
der »Kreuzzüge«, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen
werden, von diesen beiden Schriften^: »Wir lasen diese Blätter, ver*
• Roth 2, 381.
- R. Ungers Interpretation von »Leser und Kunstrichter«, vgl. S. 361.
-■' Roth 2, 385.
* Roth 2. 384.
' Roth 2,381.
' Hamann gibt in seiner — unten weiterhin erwähnten — Metakritik dieses
254. Literaturbriefes (Roth 2, 498) in seiner Anmerkung »H« zu dieser von
ihm zitierten Mendelssohnschen Äußerung an, daß diese beiden Schriften
8 Sommerfeld, Friedticli Nicolai 113
standen wenig davon, schüttelten die Köpfe, und schwiegen. Hier
und da erbHckte man einen trefflichen Gedanken, der aber wie der
Blitz, nach Shakespeares Beschreibung, noch ehe ein Freund zum
anderen sagen kann, siehe! schon verschwunden war.«
Das Schweigen der Literaturbriefsteller unterbrach Hamann schon
kurze Zeit nach dem Erscheinen der Mosesschen Kritik seiner Denk*
Würdigkeiten. Wieder war es eine Rezension von Mendelssohn, die
Hamann zu einer Entgegnungsschrift veranlaßte, einer Polemik, die
hier, obwohl sie schon bei Unger^ eine eingehende und tiefgründige
Darstellung erfahren hat, doch um so weniger übergangen werden
darf, als sie an einer anderen Stelle dieser Untersuchung zum
Verständnis der polemischen Auseinandersetzung Nicolais mit
Goethes Werther herangezogen werden soll; zudem wurde die Be>
deutung dieser Polemik für das weitere Verhältnis der Berliner zu
Hamann bei Unger, seinem Plane entsprechend, naturgemäß nicht
berührt, und dann weicht hier im einzelnen meine Auffassung von
derjenigen Ungers ab. — Im Juni 1761 hatte Moses Mendelssohn (im
166/70.Literaturbrief ) eine Besprechung der »Nou velleHeloise« Jean
JacquesRousseausveröffentlicht.DerVerehrerdesPhilosophenRous«
seau war von dem Dichter wider Erwarten enttäuscht worden. An
der Erfindung des Romans tadelte er den »geringen Vorrat von Be*
gebenheiten«, der willkürlich »weit ausgedehnt« sei, und dessen
»Lücken mit langen moralischen Predigten und verliebten Spitz*
findigkeiten« ausgefüllt seien; die Charaktere findet er, mit Aus*
nähme Wolmars, schwach und unnatürlich. Schroff lehnt er Rous*
seaus »Affektensprache« ab, die er »spitzfindig, affektiert und voller
Schwulst« nennt. Rousseau scheine über die Natur der Leiden*
Schäften »wohl raisonniert, sie selbst aber niemals gefühlt zu haben«.
Daher fiele es ihm schwer, die echte Sprache der Leidenschaften zu
reden; was der Dichter aber nicht kenne, könne er auch nicht ge*
stalten, wenn er auch »durch Ausrufungen und Hyperbolen« sich
in einen Zustand ihm unbekannter Empfindungen zu zwingen ver*
suche. Und so wenig der Dichter durch die reine Imagination den
Mangel objektiver Gegenständlichkeit des Darzustellenden ver*
außer den »Wolken« (und den »Essais ä la Mosaique«) von Moses hier ge=
meint seien.
1 R. Unger, S. 340ff.
114
decken kann, so wenig gilt die Begründung oder Entschuldigung des
Dargestellten mit dem Hinweis auf das Vorbild in der Natur, Dieses
Ausweichen vor dem Naturalismus haben wir oben als wchlbegrün*
dete Äußerung der Nicolai*Mendelssohnschen Kunstanschauung
kennen gelernt. »In der Natur kann vieles sein, was in der Nach*
ahmung unnatürlich ist. Ehe die Natur denVirtuosen zur Richtschnur
dienen kann, muß sie sich erst selbst den Regeln der ästhetischen
Wahrscheinlichkeit unterwerfen«, heißt es hier in einem Irrationalis,
denn die Natur wird sich eben nie diesen Regeln unterwerfen. Diese
Anschauung, die die dichterische Freiheit zwar nicht um ihrer selbst
willen statuiert, wohl aber als konstituierendes Element des Kunst*
Werkes setzt, wird in den folgenden Sätzen, die keineswegs über*
gangen werden dürfen, verstärkt. Leidenschaften, sagt Moses darin
etwa, sind nicht a priori genau bestimmbar und bewertbar, sondern
sie »nehmen die Natur des Bodens an, aus welchem sie hervor*
wachsen«, und »verändern nach der verschiedenen Beschaffenheit
der Charaktere ihre Farben«; dieselbe »Gemütsbewegung«, könne
diesen geschwätzig, jenen niedergeschlagen machen, diesen sanft,
jenen ungestüm sich äußern lassen. St. Preux sei nun ein Mensch,
der alle seine Empfindungen äußerst stark akzentuiere; dement*
sprechend werden auch seine Affektäußerungen in der Sprache
äußerst stark betont sein: »er wird also von seiner Leidenschaft mit
einer Begeisterung reden, die der Schwärmerey nahe kömmt«. »AI*
lein seine Begeisterung ist ansteckend, sie reißt die Einbildungs*
kraft des geringsten Lesers mit sich fort, und erhebt sie auf den Ge*
Sichtspunkt, von welchem er selbst den Gegenstand seiner Leiden*
Schaft zu betrachten gewohnt ist. — Es kömmt also bloß darauf
an: Ist die verliebte Sprache des Sankt Preux von dieser
Beschaffenheit '; so habe ich mit Unrecht getadelt.« Sodann
untersucht er, oder vielmehr führt Beispiele an, um zu erläutern,
daß St. Preux' Affektensprache den Leser eben nicht zu jenem Ge*
sJchtspunkt führt, daß diese Affektensprache also nicht Ausdruck
eines wahrhaft so empfindenden St. Preux, nicht echten dichte=
Tischen Feuers sein kann. Das Urteil Mendelssohns ist hier rein
ästhetische Begründung eines Geschmacksurteils, nicht normierende
^ Sc. daß sie den Leser zu dem Punkt fortreißt, von dem St. Preux seine Leiden?
Schaft betrachtet.
8* ' 115
Einschränkung der dichterischen Freiheit; und wenn er etwa zu
dieser Begründung den »abenteuerHchen« Aufenthalt des St. Preux
im winterlichen Gebirge, die »frostige Unnatur« seiner Briefe her*
anzieht, wenn er (im 170. Literaturbrief) tadelt, daß Julie sich nicht
als eine Sterbende zeige: so ist sein Tadel nicht gegen den dichte*
rischen Vorwurf als solchen gerichtet, sondern gegen die Inkon*
gruenz von Rousseaus Gestaltungswillen und dem im Roman Ge*
stalteten. Es muß hervorgehoben werden, daß seine Kritik, wenn
man sie einer von Hamann nicht beeinflußten Beurteilung unter*
zieht, nirgends auf rationalistischen Dünkel, nirgends auf den un*
bekümmert normierenden, selbstherrlich bestimmenden, die Frei*
heit des Dichters vergewaltigenden Ton gestimmt ist; wohl ist seine
Kritik in dem Sinne »befangen«, daß sie die notwendige Äußerung
seiner realistischen Kunstanschauung ist: aber ist Hamanns Entgeg*
nung nicht ebenso, ja stärker in der seinigen »befangen«? Ja, ver*
teidigt Moses die Rechte des Dichters nicht eher, als daß er sie ein*
zuschränken sucht? Rousseau ist ihm zu sehr Philosoph, zu wenig
Dichter: liegt in dieser seiner Feststellung — ob sie nun zutreffend
ist oder nicht, — nicht die höchste Forderung an die Gestaltungs*
kraft des Dichters, und also eine hohe Wertung der schöpferi*
sehen Kräfte im Dichter?
Sicher lassen sich gegen diese Mendelssohnsche Kritik einige
wesentliche Einwände erheben, wenn auch gerade nicht der Ein*
wand eines tadelsüchtigen, weil auf die fruchtbare Grundstimmung
des Romans nicht eingehenden, nörgelnden Kritisierens; sicherlich
sind auch die Einwände, die Hamann in seiner Entgegnungsschrift
»Abälardi Virbii Beylage zum zehnten Teile der Briefe die neueste
Literatur betreffend«^ erhebt, subjektiv richtig, und wie Unger
dargetan hat, im Rahmen seiner ästhetischen Anschauungen von
hervorragender Bedeutung. Es muß jedoch betont werden, daß
Hamann hier so wenig wie bei der Mosesschen Rezension der
Denkwürdigkeiten Mendelssohn Standpunkt völlig verstanden und
' So der ursprüngliche Titel mit dem Zusatz: »Gedruckt am 24. des Herbst»
monats 1761« und mit dem Motto »Citoyen, tätons votre pouls«: R. Unger,
II, S. 703, Anm.66. In den »Kreuzzügen« (Roth, 11, S. 185) als »Abälardi Virbii
Chimärische Einfälle« usw. Ich zitiere die Stellen hier nach den Literat ur»
b riefen (Originalausg.).
116
esoterisch kritisiert hat^ Gewiß ist Hamanns Metrakritik eine wich*
tige Kundgebung seines ästhetischen und psychologisch^ethischen
Irrationahsmus ; indessen im Zusammenhang mit der Mendelssohn«^
sehen Kritik betrachtet, eine rein äußerhche Entgegenstellung seiner
abweichenden Anschauungen; das theoretische Raisonnement, das
er hier verwandte, vertieft weder, noch widerlegt es die Mendels«
sohnschen Anschauungen, sondern setzt ihnen ganz heterogene enU
gegen. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Berechtigung
Hamanns zu den seinigen zu erweisen oder zu widerlegen ; es kommt
hier einzig darauf an, aufzuzeigen, daß beide Anschauungen eben
heterogen sind, und daß Hamann an Mendelssohn vorbeiredete,
wobei die »Schuld« eher an Hamann als an Mendelssohn lag; denn
wie Hamanns Urteile, nach R. Ungers Wort^ »wesentlich durch den
Gegensatz zu den Urteilen des Berliner Kunstrichters bestimmt«
sind, so ist der Sinn seines Schriftchens im wesentlichen die Ne*
gation der Mendelssohnschen Standpunkte — eine Negation aller«:
dings auf höchst positiver Grundlage. So stark war die Tendenz zu
solcher Negation, daß Hamann Moses' Standpunkte — sicher un*
absichtlich — verzerrte und mißdeutete. So wenn Hamann ihm sei*
nen Subjektivismus vorwarft, der sicherlich weniger stark war als
der Hamannsche, und dessen Ergebnisse bei Moses, wie wir gesehen
haben, durch ästhetische Begründung befestigt waren ; wenn er gegen
Moses seine von Diderot (!)* überkommenen Hinweis auf den
^ R. Unger, S. 348, betont, daß Hamann sich in seiner Antikritik einer bei ihm
sonst ungewöhnhchen Form bedient habe, und daß er den Gegner »mit dessen
eigenen Waffen«, »mit theoretischem Raisonnement« angegriffen habe. Diese
Feststellung ist natürlich kein Widerspruch gegen meine Behauptung, daß er
den Sinn dieses theoretischen Raisonnements falsch erfaßt hat. Übrigens ist es
wohl nicht nötig zu betonen, daß mit dieser Behauptung Hamann nicht der
Vorwurf einer Verfälschung der M.schen Kritik gemacht werden soll, und daß
die von Hamann in seiner Antikritik vorgetragenen ästhetischen Anschauungen
als solche dadurch in keiner Weise berührt werden.
= R. Unger, S. 347.
^ »Ihrer eigenen Sicherheit wegen vermeiden Sie also lieber jeden gar zu all*
gemeinen Schluß von Ihren Empfindungen auf den Werth eines Buches . . .«
Literaturbrief S. 196 97.
^ Über den Einfluß von Diderots dramaturgischen Theorien auf den Abälardus
Virbius vgl. R. Unger S. 348 u. 350 (letzte Zeile). Diderots ästhetische Theorien
hatte schon der junge Nicolai als »seichtes Geschwätz« abgelehnt.
117
Unterschied zwischen dem Romanhaften und Dramatischen gel*
tend machen zu müssen glaubte, wobei dem Romanhaften das Wun*
derbare und Unwahrscheinliche als charakteristische Eigentümlich*
keit zukäme, was gegenüber der Mendelssohnschen Auffassung
sogar eine Einschränkung bedeutet, da Mendelssohn, wie wir ge#
sehen haben, dem Dichter das Recht zur Darstellung des Wunder*
baren und Real*Unwahrscheinlichen nicht bestritten, sondern nur
Rousseaus dichterische Unzulänglichkeit im vorliegenden Fall be*
mangelt hatte. Wenn Hamann also weiterhin Mendelssohn den
Begriff der ästhetischen Wahrscheinlichkeit überhaupt vorwirft und
denselben als einen Ausfluß des »aufgeklärtesten Jahrhunderts«
darstellt, dem »ein demütiger Beobachter der Natur und Gesell*
Schaft mit tiefsinniger Bündigkeit und Unerschrockenheit« seinen
Wahlspruch: »Incredibile, sed veruml«^ entgegenstellen muß, so
ist diese Verkündigung seines Irrationalismus jedenfalls nur psy*
chologisch durch die Mendelssohnsche Kritik hervorgerufen, als
Entgegnung trifft sie diese jedoch keineswegs. Hamanns Polemik
gegen einzelne ästhetische StandpunkteMendelssohns verfehlt eben*
so ihr Ziel: so wenn Hamann einen Widerspruch konstruieren
möchte zwischen Moses' allgemeiner Schätzung der Spekulation
und dessen Tadel, daß Rousseaus Kenntnis des menschlichen Her*
zens nur »spekulativisch« sei" — : Moses hatte ja ausdrücklich und
psychologisch aus guten Gründen den Dichter und den Philo*
sophen für die Beurteilung getrennt. Und ebenso wenig trifft Men*
delssohn der Hamannsche Einwand: »Und warum sollte man sich
schämen durch Ausrufungen und Hyperbolen ein Glück zu erhal*
ten, das sich durch Erklärungen und Schlüsse weder ergrübein, noch
genießen läßt?«^ Mendelssohn hatte ja gerade bedauert, daß ihm
die Rousseauschen »Ausrufungen und Hyperbolen« jenes Glück
nicht verschafften! So konnten Moses*Nicolai mit gutem Gewissen
' Alles: Literaturbrief, S. 199.
- So möchte ich, abweichend von R. Unger, diesen Hamannschen Einwurf fas^
sen. Unger meint (S. 351), Hamann habe den »Widerspruch, daß Moses den Ver<
fasser zu sehr, seinen Helden aber zu wenig spekulativisch findet«, treffen wol*
len; vgl. aber S. 201 bei Hamann: »Man sollte also fast meinen, daß Ihrem
eigenen Urteil zum Trotz, der spekulativische Charakter eines Weltweisen Sie
gegen den Roman der neuen ^Heloise gefälliger gemacht haben würde.«
^ Literaturbriefs. 203.
US
den »Abälardus Virbius« den Lesern der Mendelssohnschen Kritik
vorstellen; so konnte dem Kritiker eine Beantwortung der Hamann*
sehen Antikri<"ik sehr leicht fallen: er brauchte nur nachzuweisen,
daß Hamanns Einwürfe seine Kritik nicht trafen, denn auf die völlig
gegenpolige Welt* und Kunstanschauung, wie sie im Abälardus
Virbius zutage trat, ging er nicht ein, wahrscheinlich, weil er sie,
wie auch Unger meint ^ nicht als solche erfaßt hat. Zunächst para*
lysiert er Hamanns ironischen Hinweis auf seine Verehrung des
Philosophen Rousseau mit dem Bemerken, daß, wie der alte Abä*
lard, so auch Rousseau »Gallorum Sokrates« sei, eben ein franzö*
sischer Philosoph^. Sodann geht er auf die einzelnen ästhetischen
Einwürfe Hamanns ein. Hamanns Erage: »Sollte es nicht wenigstens
einen charakteristischen Unterschied zwischen dem Romanhaften
und Dramatischen geben« pariert er mit einem leichten: »Warum
nicht ?«^ Es kann ihm nicht zweifelhaft sein, daß ein Unterschied
besteht, so wenig Wert er auch darauf zu legen braucht: denn er
hat ja das Recht des Dichters, Unwahrscheinliches und Wunder*
bares zu gestalten, in seiner Kritik nicht angetastet. Wenn aber Ha*
mann meint, Rousseau habe vielleicht »die wahre Natur des Ro*
manhaften tiefer eingesehen« als sein Beurteiler, so entgegnet Men*
delssohn, daß die »wahre Natur des Romanhaften ein Galimathias«
sei und setzt hinzu : »Besser, die romanhafte Natur des Wahren . . .« ;
der geglaubten ästhetischen Gefühlsdogmatik setzt er seinen skep*
tischen Wahrheitsbegriff entgegen, jedenfalls bestreitet er die dog*
matische Festlegung einer gattungsmäßigen Theorie und will vom
Dichter einzig die beispielsweise romanhafte, jedenfalls dichterische
Erfassung der Wirklichkeit. Ist Rousseau »Esprit createur« genug,
»diese romanhafte Natur aus dem Nichts hervorzurufen«, und wenn
(an Hamann gewandt) »Sie sich getrauen, das erschaffene Chaos
auf Ihre Schultern zu nehmen, so will ich anbeten und schweigen*«.
Noch deutlicher kennzeichnen seine Stellungnahme, die nur Rous*
' Unger, S. 359.
- Auf Mendelssohns Antipathie gegen das französische Geistesleben, insbeson=
dere die Philosophie hat Ludwig Goldstein hingewiesen. Vgl. auch, um nur ein
Beispiel aus dieser Zeit hervorzuheben, s. Brief an Abbt vom 22. II. 62 = Abbts
Werke 3, insbes. S. 50/51.
•' Literaturbrief S. 213.
^ Literaturbriefe S. 214.
119
seaus unzulänglicher dichterischer Gestaltungskraft gegolten hatte,
die folgenden Sätze: »Wenn der ästhetische Zauberer mir seine
Wunder zeigen will, so muß sein erstes Wunder sein, meinen Glau*
ben zu fangen, und ihm die Augen auszustechen um nach Belieben
seinen Spott mit ihm treiben zu können. Als Kunstrichter habe ich
ein Recht den starken Geist zu spielen. Er muß entweder meine
Empfindungen bezaubern, oder ich bin ungläubig ^« Daß er die
UnWahrscheinlichkeit nicht an sich bemängelt, sondern nur die
mangelnde Gestaltungskraft, die das Unwahrscheinliche dichterisch
fruchtbar macht, zeigt am klarsten sein Satz: »Wer unglaubliche
Dinge vorbringt (sagt der irrgläubige Prophet Mahomet), muß
Wunder tun, um sie zu bestätigen^.« Ein solches Wunder, eine
Überwältigung seiner Ungläubigkeit, verlangt er vom Dichter: ist
das der rationalistische Dünkel? Und konnte Moses, wenn er die
völlig gegenpolige Weltanschauung, wie sie aus dem AbälardusVir*
bius sprach, nicht als solche erfaßte, überhaupt etwas Klareres und
tiefer Begründetes sagen?
Mit Recht hielt daher Nicolai, der die Einleitung zum 192. Lite*
raturbrief besorgte, in dem Abälardus Virbius und Fulberti Culmii
Antwort erschienen, die Replik Hamanns durch Mendelssohns
Duplik hinsichtlich der ästhetischen Kritik der Neuen Heloise, wie
überhaupt der Literaturbriefe für widerlegt; daß er jedoch Replik
und Duplik für ein sich ergänzendes Ganze hielt, ist nur zu ver*
stehen, wenn man bedenkt, daß Nicolai ebensowenig wie Moses
die unter der launigen Form des Abälardus Virbius sich verbergende
entgegengesetzte Weltanschauung erfaßt hat. Dann allerdings mußte
ihnen Hamann als ein geistreicher Schriftsteller erscheinen, der aus
Widerspruchsgeist die Literaturbriefe zu bemängeln suchte, ohne
ihre Auffassungen widerlegen zu können oder zu wollen. Dieser
Eindruck, daß Hamann in seiner Replik nur eine Ergänzung der
Mendelssohnschen Kritik habe geben wollen, mußte in Nicolai und
Moses noch erheblich durch Hamanns Briefe bestärkt werden, in
' Ebd. Vgl. Lessings entsprechende Stellungnahme im elften Stück der Hamburg.
Dramaturgie.
* Literaturbriefe S. 214.
» Hamann an Mendelssohn 11. II. 62 = Roth 3, 123 ff. (auch Th. Abbts Verm.
Werke [1771] 3, 74).
120
dem dieser für die übersandten »zwei ersten Bogen des 12. Teiles«
dankte und Moses versicherte: »Sie haben Recht, mein lieber Moses,
daß Sie mich für Ihren Freund ansehen und der Ahndung des Her*
zens mehr als dem Blendwerk des Witzes trauen, aber die Mensch*
lichkeit meiner Seele macht mir meine Grillen so lieb, daß ich oft
der Versuchung unterliege, diesen Grillen meine nächsten Bluts*
und Mutsfreunde im Apoll aufzuopfernd« Auf Moses' Aufforde*
rung zu einer Palinodie^ erwidert er^, daß er das Stillschweigen für
ratsam halte, wenn »das Lächeln des Public! über die wechseis*
weisen Torheiten des Fulbert und Abälard nicht in einen Scandal
ausarten« soll*. Auf das »Kleeblatt hellenistischer Briefe« und die
»Rhapsodie in kabbalistischer Prosa« hindeutend^, gibt er sich den
Anschein, als ob er ganz wider Willen »abermal Schimmel« ge*
liefert habe, was natürlich ironisch gemeint war, jedoch von Men*
dellssohn vielleicht ernsthaft aufgefaßt wurde; zum mindesten hat
Mendelssohn, wenn er auch Hamanns Versicherung, er meide das
Licht aus Feigheit und Furcht vor sich selbst, den Lesern und den
Kunstrichtern, nicht wörtlich ausgelegt haben wird, doch mehr die
absichtliche Eigenwilligkeit, als die notwendige Äußerung eines
vollkommenen in sich zentrierten Organismus herausgehört. Die
Lehre, die er, wie Nicolai hervorhebt®, Hamann durch die absieht*
liehe — wenn auch nicht vollendet geglückte — Nachahmung seiner
Schreibart hatte erteilen wollen, und die direkten Ermahnungen
Fulberti Culmii an Hamann, sein »Gebet« nicht »in kurzen ge*
heimnisvollen Seufzern« auszustoßen, sondern seine Brust »lieber
zu einem längeren Othem« zu »gewöhnen« ', würdigere Gegenstände
1 Roth 3. 124.
- In Mendelssohns verlorengegangenem Briefe, mit dem er den 12. Teil d. Litbr.
übersendet hat.
' Roth 3, 125.
* In ähnlichem Sinne, Hamann bestätigend: Moses an Abbt 22. 11.62 = Abbts
Werke 3 S.49,50.
' Roth 3, 126. Die beiden Schriften kamen Mendelssohn wohl erst in den »Kreuz*
Zügen eines Philologen« zu Gesicht.
" Litbr. Nr. 192 (Einl.), S. 192 3. Vgl. auch Moses in seiner Duplik (Litbr. S. 219):
»Da Sie wie aus den Wolken (satirische Anspielung auf Hamanns »Wolken«)
zu mir herab geredet, so müßte ich mir aus meinem Staube eine ähnliche Wolke
aufblasen, um Ihnen zu antworten.«
' Litbr. Nr. 192, S. 219
121
der Natur nachzuahmen, als den »Schimmel«, aus seiner »Maschine«
hervorzutreten und sich »in menschlicher Bildung« zu zeigen^ —
alle diese Ermahnungen sah Moses also eigensinnig in den Wind
geschlagen. Ja noch mehr: Hamann teilt ihm mit, daß er, durch ein
anonymes »Billet^doux«, das er den Literaturbriefstellern zu?
schreiben zu müssen glaubte", gereizt, »in einer müßigen Stunde
die Aspekten des deutschen Horizontes mit den Grundsätzen Ihrer
Kritik« verglichen habe, erklärt die »Strenge gegen Andere«, wie sie
die Kritiker der Literaturbriefe zum Schaden der deutschen Literatur
anwendeten, — die, ein schwaches Reis, mehr der Gießkanne bedürfe,
als der Jäthacke — , als Ergebnis ihrer Nachsicht gegen sich selbst
und will ein »blaues Auge« wagen, »um einen homerischen Schlum-
mer nicht einwurzeln zu lassen, der Ihnen selbst . . ., der Ehre des
deutschen Namens und der Unsterblichkeit der neuesten Literatur
nachteilig sein könnte«^. Auch hier hörte Mendelssohn nicht wirk*
liehen Unwillen gegen seine Stellung als Kritiker, sondern Eigen*
willen heraus*; daß er diese Invektive überhaupt bemerkt hat, kann
nach den ersten Sätzen seines Antwortbriefes an Hamann^ nicht
zweifelhaft sein. »Moi, votre ami? Rayez cela de vos papiers,« ruft
er Hamann mit den Worten des Moliereschen Misanthropen ent*
gegen. Aber »die angeborene Gramschaft« hält er wohl für eine
Koketterie, für eine geistreiche Betonung der schriftstellerischen
Eigenart Hamanns; nun habe er sie kennen gelernt, habe er
Hamann »das Feldgeschrei abgelockt«, jetzt müsse Hamann sich
gefangen geben und Dienste nehmen, Hamann antwortet auf diesen
1 Litbr. Nr. 192, S. 219.
- Roth 3, 127. Vgl. Abbt an Moses 28. IV. 62 = Abbts Verm. Werke (1771) 3, 92:
»Ich möchte wohl wissen, wer das Billet doux an ihn geschrieben. Er scheint
darüber aufgebracht zu sein.« Hamanns Vermutung war falsch, zeigt aber sein
Mißtrauen gegen die Berliner.
^ Vgl. für die Aufnahme, die Fulberti Culmii Antwort bei Hamann fand,
seinen Brief an Lindner v. 11. II. 62 (also dem gleichen Tage seines Briefes
an Mendelssohn!). »Fulbert hätte seine Sachen besser machen können«; er
fängt an zu zergliedern, kommt aber nicht weit, und »nachdem man meine
Fragen vorbeigegangen, d. i. beantwortet hat, so kommt die Reihe an Ful*
bert. . zu fragen« usw. (Roth 3, S. 121.) Im ganzen sei er »gut genug durchge;
kommen«.
* Vgl. Moses' Brief an Abbt v. 22. II. 62 = Abbts Werke 3, 48 ff.
^ Roth 3, 129 und Abbts Werke 3, 80. (2. III. 62.)
122
Werbebrief Mendelssohns' mit dem einzigen Satz: »Kein Frei*
geborener nimmt Dienste in einer Rotte von Unbekannten, die das
Tageslicht scheuen . . .« Im übrigen wiederholt er seine Vorwürfe
gegen das kritische Verfahren der Literaturbriefsteller mit größerem
Trotz und weist die Angriffe Fulberti Culmii gegen seine schrift*
stellerischen Eigenarten heftig zurück; wer ihn beurteilen wolle,
müsse ihn ganz hören: er habe aber »diese Woche« einen »Strich
unter seine Juvenilia gezogen« und »sehne sich von der Bühne
nach seiner Zelle«. Mendelssohns »Moi, votre ami?« hat er eingangs
mit dem prophetischen: »Wenn das Weizenkorn unserer Freund*
Schaft nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt es allein; wo es
aber erstirbt, so bringt es viel Früchte« beantwortet, und damit den
von Mendelssohn halb ironisch gemeinten Trennungsstrich scharf
nachgezogen. Wie ganz anders aber ist sein Brief an Nicolai^ ge*
halten, dem er kurze Zeit darauf gewissermaßen offiziell antwortet.
Es kann kein Zweifel sein, daß er die Bekanntschaft des Verlegers
gesucht hat; zwar motiviert er diese Anküpfung mit äußerst feinem
Witz ; aber wie seine Anrede : »Sie sind doch der Verleger der Briefe,
die neueste Literatur betreffend, und zugleich ein Mann, der die
kleinen Angelegenheiten des Autorstandes näher kennt, als durch
den bloßen Verlag fremder Werke,« die doppelte Deutung auf die
Autorschaft des Verlegers Nicolai und die Bemühungen des Ver*
legers um fremde Autorschaft zuläßt, so ist auch der Hamannsche
Witz nur die Verhüllung seines Annäherungsversuches, nirgends
eine Ironisierung Nicolais, wie auch die Höflichkeitsfloskeln hier
einen durchaus individuellen Ton verraten und wahrhaft und ernst
gemeint sind. Freilich lehnt er ab, »Dienste zu nehmen«; aber wenn
auch seine Entschuldigung mit den »gegenwärtigen Umständen«
nur ein Vorwand des im Tiefsten alles Rezensionswesen Hassenden
ist, so schien diese Entschuldigung doch wenigstens aufrichtig, um
so mehr, als Hamann mit dem Gegenvorschlag hervortrat, wenn
schon nicht »handelnde Person«, so doch wenigstens »Ohrenbläser«
' ^X'eshalb O. Hoffmann (Vierteljahrschrift f. Litgesch.I, 117) einen »anonymen
Werbebrief« annimmt, ist mir nicht erklärlich. Sollte er jenes »Billet doux« so
aufgefaßt haben? Oder hat er sich durch die Anfangsworte des Hamannschen
Antwortbriefes an Nicolai (s. folgende Anmerkung) täuschen lassen?
■ 21. III. 62. Roth 3, 140. (In Abbts Werken: 27. III. 62, Abbt III, 87.)
123
der »Acteurs« an den Literaturbriefen zu sein, und gelehrte Nach*
richten aus Preußen nach seinem Beheben zu senden; eine glatte
Absage mit dem offenen Bekenntnis, allem Rezensionswesen ab*
geneigt zu sein, wie sie Georg Chr. Lichtenberg später der A D
Bibliothek gab, haben die Literaturbriefe von Hamann weder in
diesem, noch m dem zweiten, auf Nicolais wiederholtes Werben^
erfolgenden Brief Hamanns an Nicolai^ erhalten; zwar scheint Ha*
mann in den Eingangssätzen einen prinzipiellen Gegensatz aufzu*
stellen ^ aber er verstärkt doch in diesem Brief die vorgebrachte Ent^
schuldigung am Schlüsse, in dem er als die Umstände, die ihm
eine Mitarbeit an den Literaturbriefen fast unmöglich machen, seine
»Gemütslage« bezeichnet; »schon viele Wochen« habe er »in einer
halben Vernichtung seiner selbst« gelebt, die ihn über jede Kleinig*
keit »so unruhig und verlegen« werden ließe, als wenn vor ihm
»ein rotes Meer« wäre. Seine Mitarbeit an den Literaturbriefen
war dementsprechend ebenfalls eine Halbheit; nur ein einziges Mal
hat er, »ein wenig ruhiger« lebend, »die Erstlinge seines Vater*
landes« an Nicolai übersandt*; »sollte alles Maculatur in den Augen
der Kunstrichter sein,« schreibt er, »so ist wenigstens meiner Pflicht
und meinem Willen (!) ein Genüge geschehen«. Im übrigen ist
dieser Brief, von einer nicht sehr tief gehenden, und zudem schief
gefaßten Bemerkung über Kritik^, einer Fortsetzung der schon
früher gemachten Anmerkungen abgesehen, durch nichts von
den übrigen Korrespondenzbriefen der späteren Mitarbeiter der
i\llgemeinen Deutschen Bibliothek, oder demjenigen Abbts an
' In einem verloren gegangenen Brief Nicolais vom 1. VII. 62, wie aus dem An*
fange von Hamanns Antwortbriefe hervorgeht.
= Ham. an Nie. 3.\1II. 62 = Roth 3, 172.
' Roth 3, 172: »Ihre Vergleichung mit einer Demokratie hat mir viel Licht über
die Beschaffenheit des Werks (fehlt: gegeben), aber desto schwerer wird es mir,
den Plan und die Absichten zu verstehen.«
* Brief Hamanns v.21. XII. 62 = O. Hoffmann, VierteljahrschriH f. Litgesch.1, 120.
" Gelegentlich der Abbtschen (= B signiert) Kritik der »Schulhandlungen« von
J. Lindner (zu Riga 1762, Königsberg) in den Literaturbriefen 131 und 32. Ha*
mann tadelt hier das gewissermaßen induktive, von den »bloßen Symptomen
des verdorbenen Geschmacks« ausgehende kritische Verfahren, das den Kunst;
richterscharfsinn zwar in helleres Licht setzt, ohne daß es jedoch den Kern der
Sache näher führte, oder — wenigstens das kritische Urteil des Kunstrichters zu
schulen vermöchte.
124
Moses M., unterschieden. Dieser Brief ist von Nicolai, nach Hoff*
manns sicher zutreffender Vermutung, nicht beantwortet worden'.
Nicolais Schweigen ist der Ausdruck einer Stimmungsänderung
der Berliner gegen Hamann, die mit der Ablehnung der Mitarbeit,
besonders durch den Brief Hamanns an Mendelssohn (s. S. 121)
beginnt, und durch die »Kreuzzüge« wesentlich verstärkt wird. Der
Verfasser der Denkwürdigkeiten war als neue, originale Erschein
nung willkommen geheißen: Abälardus Virbius prangte als »hei*
teres Intermezzo« in den Literaturbriefen und gab, wie Abbt an
Mendelssohn schreibt^, »den Briefen der Litteratur wieder neue
Munterkeit, welches besonders beim Anfang eines Teils (sc. des
zwölften) gut ist, um zu zeigen, daß wir noch nicht erschöpft sind«*.
Als Anreger, durch seinen Widerspruchsgeist und seinen Witz die
schon stockenden Literaturbriefe belebender Briefsteller sollte Ha=
mann willkommen sein; nicht als eigentlicher Mitarbeiter, wie es
Abbt äußerst naiv gegen Mendelssohn ausdrückt: »Ihr Einfall, daß
er Dienste nehmen soll, ist vortrefflich. Und kann noch besser wer
den, wenn wir folgendes beobachten. In einem Briefe von H**
liegen Ideen zu wenigstens zehn Briefen. W^enn er also nun alle
Vierteljahre einen schickt, so können wir ihn zerlegen, und mit ge#
höriger Ökonomie zehnmal traktieren*.« Aber schon im selben
Briefe erwägt Abbt, ob die von Moses Mendelssohn zutreffender
und genauer als in der Rezension der »Sokrat. Denkwürdigkeiten«
(113. Litbr.) jetzt in Fulberti Culmii Antwort charakterisierte
Schreibart^ Hamanns nicht Ergebnis einer eigenartigen, um nicht
zu sagen anomalen geistigen Struktur sei: »Wenn ich gewiß wäre,
daß sich die Verbindung der Ideen durch die Anatomie entdecken
ließe; so möchte ich H** Gehirn noch lieber sehen, als Maupertuis
(das) eines Lappländers.^ Und in einem echt Hamannischen Ver<
' Die von Hoffmann angeführten Briefstellen (Roth 3, 185 u.87) beziehen sich auf
dieselbe Sendung, etwa September 1762; sie enthielt u. a. den 15. Teil der Litbr.,
worin sich die Rezension der »Kreuzzüge« befand ; es ist wohl anzunehmen, daß die
begleitendenBücher einGeschenk an den Verf.d. AbäL rd. Virbius darstellen sollten .
- Abbt, Werke 3, 46, 9. II. 62.
' Vgl. Moses an Abbt: 22. II. 62. Abbts Werke 3, 48 u. 49.
* Abbt an Moses: 28. IV. 62.
' Litbr. 192. S. 218 ff.
" Abbts Werke 3, 95.
125
gleich^ fährt er fort, er hätte »Lust es (sc. Hamanns Gehirn) mit
dem Archipelagus zu vergleichen, wo alles Nachbar ist, aber nur
durch Schiffe zusammen kommen kann«. Der Schritt von diesem
Vergleich bis zur Wertung Hamanns auf Grund dieses Vergleiches
ist leider nicht genau festzustellen, da Mendelssohns Brief an Abbt,
in dem er über den Eindruck berichtet, den die inzwischen erschie«
nenen »Kreuzzüge des Philologen« auf ihn gemacht haben, verloren
gegangen ist^. Nach dem jetzt vorliegenden Material ist es Abbt,
der zuerst auf Grund der erkannten eigenartigen Organisation des
Hamannschen Geistes ein Werturteil abgibt, zunächst freilich mehr
allgemein und rückblickend, als, wie Moses tat, vorwärtsschauend.
Die Kreuzzüge seien »eine offenbare Nachahmung vom Young.
Stil, Gedanken, Übergang auf andere Materien«. Hamann habe
sich jedoch geschämt, nur nachzuahmen, und sei »durch seine feu*
rige Einbildungskraft unterstützt, auf seinen seltsamen Stil geraten,
davon unstreitig seine Rhapsodie das non plus ultra ist«. Bezeich«
nend fährt er fort: »Ein Glück ist, daß er keine Nachahmer finden
kann, sonst möchte Gott uns gnädig sein. Manchmal habe ich dabei
gedacht: wenn Jacob Böhme'' studiert hätte*]«
' Vgl. Vorrede »An die Zween« in den »Sokrat. Denkwürdigkeiten« Roth II, 12:
»Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen . . . machte desselben Sätze
vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und
Fähren der Methode fehlten.«
- Abbt (in dem Brief an Moses vom 21. MI. 1762: Abbts Werke 3, 114) schreibt:
»Die Kreuzzüge eines Philologen habe ich gelesen. Hierüber meine Mutmaßung!«
usw. Im vorhergehenden Brief Mendelssohns vom 4. \TI. 62 (a. a. O. S. 102 ff.)
sind die Kreuzzüge nicht erwähnt, unzweifelhaft hat aber, nach der Art der
Bezugnahme Abbts auf die Kreuzzüge, Moses diese vorher ihm gegenüber er«
wähnt und wahrscheinlich in einem früheren Briefe, da in der kurzen Zeit vom
Eintreffen dieses Briefes bis zum 21. desselben Monats Abbt die Kreuzzüge sich
kaum verschafft und gelesen haben konnte. Zum vorangegangenen Brief Abbts
vom 23. VI. 62 bemerkte Fr. Nicolai als Herausgeber der Werke (Anm. zu S. 98
ebenda): »Der Brief Abbts (vielmehr Mendelssohns), worauf sich Hr. Abbt be*
zieht, ist . . . verloren gegangen.« Vermutlich hat Moses in diesem verloren ge*
gangenen Brief Abbt auf die »Kreuzzüge« hingewiesen, und mit einem vor*
läufigen Urteil, eine Rezension derselben in den Literaturbriefen in Aussicht
gestellt, wie aus Abbts Antwort hervorgeht.
■* Jacob Böhme auch von Nicolai oft als Gipfel der Dunkelheit und Verstiegen?
heit zitiert; s. unten die Rezension der Herderschen »Altesten Urkunde«.
* Alles in Abbts Brief an Moses: 21. VII. 62 = Abbts Werke 3, 114.
126
Mendelssohns Rezension der »Kreuzzüge« erschien im 254. Lite*
raturbrief. Sie beginnt mit einer Auseinandersetzung über die »Tu*
genden eines Prosaskribenten«, als deren vornehmste er »Leichtig*
keit und nachdrückliche Kürze« erkennt; die Gefahr sei — ein Sei*
tenblick auf Thomas Abbts Stil — die Übertreibung der nachdrück*
liehen Kürze zur spruch* und beziehungsreichen Dunkelheit; nach
der andern Seite bestehe die Gefahr der Weitschweifigkeit. »Das
Mittel« zwischen beiden sei das Ergebnis eines disziplinierten Ge*
schmacks. Das Genie könne nach seiner ganzen Wesensart dieses
Mittel nicht finden; es kenne nur seine eigenen Kräfte und nehme
diese und nur diese zum Maßstab. »Daher scheinen die großen
Genies bald für Engel, bald für Kinder zu schreiben.« Der geläu*
terte Geschmack führe auch das Genie an dieser Klippe vorbei, die
ohne seine Hilfe dem Schriftsteller um so gefährlicher wird, »je
mehr Genie er hat, so wie uns ein edles Roß weiter vom Wege ab*
führen kann, als ein gemeines Zugpferd«. Sei aber vollends die
Triebkraft des Genies nicht eine natürliche, sondern nur »die Be*
gierde, sich einen eigenen Weg zu bahnen, um ein Original zu
sein«, so sei sie die schlimmste Verführerin. Sodann exempfliziert
Moses auf Hamann.
Man hat es so dargestellt^ als ob Moses hier den Geniegedanken
zu bekämpfen gesucht habe; das scheint jedoch nicht zutreffend zu
sein, vor allem nicht in der Weise — und hierauf kommt es an dieser
Stelle an — wie Hamann sie in seiner Metakritik dargestellt hat.
Moses trifft vielmehr hier nur die Distinktion zwischen dem Genie
als natürlicher ursprünglicher Anlage, und dem gebildeten, diszi*
plinierten Geschmack, ohne jedoch einen logischen Gegensatz der
beiden zu formieren, sondern er nimmt nur psychologisch ver*
schiedene Stufen an^; es wurde schon oben darauf hingewiesen,
daß Moses*Nicolai den Geniegedanken lediglich zu einer psycho*
logischen Erkenntnis umgebogen haben, während er bei Hamann*
Herder und dem Sturm und Drang durch die vitale, kosmologische
und religiöse Ausdeutung, nicht als analytisches, sondern als syn*
^ Auch R. Unger, S. 296,7 vertritt diese Anschauung.
' Ich vermag, der Auffassung R. Ungers (S. 300), daß das ».-rnunor iftcdo;«. der
Mosesschen Ausführungen »die Schiefheit des Gegensatzes von Geschmack und
Genie« sei, nicht beizupflichten.
127
thetisches Element fruchtbar wurde. Eine solche psychologische
Analyse liegt nun hier vor. Hamann wird nicht zum Objekt oder
gar zum Beispiel theoretischer Erwägungen gebraucht, sondern
diese werden angestellt, um die Erkenntnis seiner Eigenart psycho*
logisch zu fundieren; nur die Mosessche Art der Darstellung, —
die er mit Nicolai teilt — , einen Standpunkt zu explizieren, anstatt
auf die Gewinnung eines solchen hinzuarbeiten, macht scheinbar
Hamann zum Objekt vorgefaßter Betrachtung; in Wahrheit soll
die Gefahr, die Hamann sich selbst und der deutschen Literatur
bedeutet, durch Gegenüberstellung seines besseren Selbst mit dem
in denKreuzzügen vorliegenden Ausdruck seiner schriftstellerischen
Persönlichkeit verdeutlicht werden, und zum Zwecke dieser Ver*
deutlichung stellt Moses jene allgemeine Distinction voran. Auch
hier muß man also, wenn Hamann in seiner Metakritik Moses
wiederum rationalistische Überhebung vorwirft, erkennen, daß
Hamann die Mosessche Kritik unzutreffend, obwohl auch hier sub*
jektiv richtig und höchst bedeutungsvoll, interpretiert hat.
Die eigentliche Rezension Mendelssohns muß freilich als un*
bedeutend erkannt werden, jedoch frei von Überhebung und Eng*
sichtigkeit. Moses tadelt hier weniger Hamanns eigentümliche
schriftstellerische Formen, als daß er sie bedauert. Im übrigen er*
kennt er an, daß »der Verf. bei allen seinen Fehlern Genie verrate«,
und daß ihm nichts als Erziehung seines Geschmacks fehle. Hamann
könne sich erziehen; so lange er das aber verschmähe, behalte sein
Antipode (der Rezensent der »Hamburger Nachrichten«, der »deut*
lieh wie ein Kräuterweib wasche«) der sich nicht bessern könne,
»die schönste Gelegenheit zu triumphieren«. Mit Hamann gemein*
sam also möchte er die dumme, anmaßende Beschränktheit be*
kämpfen: die »Wolken« haben ihn nicht darüber belehrt, daß Ha*
mann nicht auf das Maß des Geistes, sondern auf den Geist selbst
sieht, und intellektuell Hoch* und Tiefstehende in gleicherweise
bekämpft, sofern sie Vertreter der gegensätzlichen Weltanschauung
sind. Hamann äußert über den Ton der Mendelssohnschen Kritik
zwar zunächst seine Zufriedenheit; »sie ist mit vielem Nachdruck
und Fleiß und Kunst aufgesetzt, daß ich vollkommen rriit dem Re*
zensenten zufrieden sein kann«, schreibt er an Lindner ^ Aber un*
^ 5. III. 63 = Roth 3, 187.
128
mittelbar darauf ist schon der Plan zu einer Metakritik gereift; je*
doch will er derselben den Boden ebnen und beantwortet die
Mendelssohnsche Kritik zunächst an Nicolai, als den spiritus rector
der Literaturbriefe, offensichtlich in der Absicht, den Verkehr mit
dem einflußreichen Verleger nicht einschlafen zu lassen, wie er den
Ton des Briefes auch etwas gewaltsam recht vertraulich stimmt.
»Erst muß man ins Ohr reden, und hernach das Dach zur Kanzel
machen«, rechtfertigt er dieses Verfahren Lindner gegenüber^ Der
Brief an Nicolai^ hebt demgemäß schon einiges aus seiner in der
Metakritik geäußerten Stellungnahme hervor. »Die Wahrheit ist
die Wagschale der Freundschaft, und das Schwert bahnt den Weg
zur Freiheit des Friedens;« schreibt er; er belastet die Wagschale in
diesem Briefe jedoch noch nicht sehr stark. Er sei auf eine Unter*
drückung oder Ausschließung seiner Grillenfängereien auf einem
aristrokratischen Grund und Boden schon gefaßt gewesen; um so
angenehmer sei er enttäuscht, daß er »mit so viel Glimpf« beurteilt
worden — so beginnt er diplomatisch; ja er verstärkt das Verhältnis
zu den Literaturbriefstellern noch erheblich: indem er von ihrer
Beurteilung des Philologen sagt, »daß die Verfasser der Briefe den
Vater der Geister nachahmen, der einen jeglichen Sohn stäupt, den
er aufnimmt«. Jedoch deutet er schon auf die Absicht seiner »Pa*
linodie« hin, und mit festem Mut setzt er Moses' Unterscheidung
der echt genialen Triebkraft und der blinden, eiteln Originalitäts*
sucht das Bekenntnis entgegen: »Wenn mich die Eitelkeit ein Mu«
ster zu werden anfechten sollte: so würde ich der erste sein, darüber
zu lachen. Von der Schuldigkeit, ein Original zu sein, soll mich
nichts abschrecken. Ein Original schreckt Nachahmer ab und bringt
Muster hervor.« Aus diesem wuchtig*überlegenen Ton aber fällt
Hamann rasch in ironisches Witzeln und komisch übertriebene, be=
kümmerte Klage und verflüchtigt so die Wirkung jenes großartigen
Satzes. Erst gegen den Schluß erhebt er sich wieder zu prinzipieller
Schärfe: »Spinnen und ihrem Bewunderer Spinoza ist die geome*
trische Bauart natürlich. Können wir alle Systematiker sein? Und
wo bleiben die Seidenwürmer, diese Lieblinge unseres Salomo?«
' 29. III. 63: Roth 3, 190.
- 4. III. 63 = H.Weber, »Neue Hamanniana», München 1904, S. 51 ff. Die Ab=
Sendung dieses Briefes ist erheblich verzögert: Roth 3, 189 f.
9 So mm erfeld, Friedrich Nicolai 1Z9
Aber auch hier zersetzt witziger Spott wieder die Wirkung seiner,
wenn auch nicht objektiv zutreffenden, so doch subjektiv höchst
bedeutungsvollen Polemik. — Die unter dem Titel »Hamburgische
Nachrichten, Göttingische Anzeige, Berlinische Beurteilung der
Kreuzzüge des Philologen Mitau 1763^« erschienene Metakritik Ha*
manns leidet, was die Berliner Beurteilung anbetrifft, an demselben
Mangel; auch hier werden prinzipiell wichtige Gegensätze durch
witziges Licht* und Schattenspiel verdeckt^; und auch von dieser
Antikritik Hamanns läßt sich dasselbe sagen, wie von den »Wolken«
und dem »Abälardus Virbius«, daß sie die Mosesschen Gesichts*
punkte mißdeutet und verkennt. Es wurde schon berührt, daß die
psychologische Abstufung, die Moses statuiert, von Hamann als
logische Gegensätzlichkeit aufgefaßt wird; hier sei noch darauf hin*
gewiesen, daß sein Versuch, Moses einen Widerspruch zwischen der
subjektiven Grundlage des »Geschmacks« und seiner prätendierten
Allgemeingültigkeit nachzuweisen, mißglückt, da Moses eben nir*
gends Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, sondern hoch*
stens Allgemeingültigkeit der Begründung desselben fordert. Ganz
klar erweist hier aber dies methodische Verfahren Hamanns die Un*
zulänglichkeit seiner Polemik als solcher; das Glossieren einzelner
Mendelssohnscher Sätze — wenngleich auch im Abdruck die Kon*
tinuität des Textes der Mendelssohnschen Rezension bis dahin ge*
wahrt wird, wo »Text und Noten zusammenfließen« — beweist, daß
es Hamann nicht um Widerlegung, sondern um möglichst schroffe
Aufstellung seiner abweichenden Standpunkte zu tun war. In einem
Brief an Lindner ^ bezeugt Hamann seine Absicht, diese Standpunkte
umfassender und tiefer »in einem Sendschreiben an den Verleger der
Literaturbriefe« zu begründen; freilich hat er diesen Plan bald fallen
lassen. Es war aber jedenfalls sein Wunsch, die Beziehungen zu
Nicolai fester zu knüpfen; es lag in seiner Natur, den am festesten
an sich zu ziehen, der ihm zunächst instinktmäßig, wie später offen*
bar, als der Bekämpfenswerteste erschien. Tatsächlich beobachten
wir während der folgenden Jahre eine weit eifrigere Korrespondenz
' Roth 2, 451 ff. Von Hamann »Mitausches Intermezzo« genannt: Roth 3, 195.
^ Damit soll die »Rekonstruktion« der Hamannschen »Gedankentrümmer«, die
R. Unger S. 297 ff. gibt, natürlich nicht angetastet werden.
^ Brief Hamanns an Lindner vom 14. V. 63 = Roth 3, 195.
130
mit Nicolai als mit Moses S während doch Abbt und Herder, um
nur diese beiden zu nennen, nach kurzer Zeit häufiger und inniger
mit Mendelssohn als mit Nicolai verkehrten^. Allerdings endete
der kurze persönliche Verkehr mit Nicolai, den Hamann im Septem«
ber^ 1764 auf seiner Rückreise von Frankfurt a. M. nach Berlin
kennen lernte, mit einer Unstimmigkeit; Hamann berichtet an Lind«
ner*, daß er Nicolai »entweder beleidigt wider ^X^illen, oder gleiches
mit gleichem vergolten« habe. »Dieser Verleger«, fährt er jedoch fort,
»ist aber ein Mann von vielen Fähigkeiten, von geschwinden Ein«
fällen, und Moses gibt seiner Ehrlichkeit und den Gesinnungen
seines Herzens ein sehr gutes Zeugnis«. Jedenfalls hat die persön«
liehe Bekanntschaft nicht dazu beigetragen, die Bande zwischen
Hamann und den Berlinern fester zu knüpfen; eher kann man sogar
eine gewisse Lockerung ihrer Beziehungen feststellen, eine leichte
Entfremdung, die sich nicht nur aus dem Stocken des Briefwechsels,
sondern auch aus anderen äußeren Umständen erschließen läßt,
wie z. B. dem, daß Nicolai, der in den Anfängen der Allgemeinen
Deutschen Bibliothek nach allen Himmelsrichtungen Bittbriefe um
Mitarbeit auch an ihm Unbekannte sandte, Hamann überging. Aus
dieser Zeit haben wir zudem einige Äußerungen Nicolais an Her«
der^ in denen Nicolai sein Bedauern äußert, daß Herder, »der so
gut schreiben kann«, »sich zu Hamannischem Cant und spitz«
findigen Anspielungen herablasse« — was übrigens Herder sofort
Hamann mitteilte", — einen Vorwurf, den Nicolai auf Herders —
verlorengegangene — Rechtfertigung nochmals dahin mit allgemei«
' Den sechs uns erhaltenen Briefen Hamanns an Moses entsprechen 13 Briefe
Hamanns an Nicolai.
^ Bei Abbt erkennt dies Nicolai selbst an; vgl. den Schluß seiner Vorrede zu
Abbts Werken, Bd. 3 (unpaginiert), 1771.
" O. Hoflfmann (S. 118) gibt »Oktober« an; vom 3. Oktober 64 ist aber schon
Hamanns Brief aus Königsberg datiert, den er sogar erst einige Tage nach seiner
Rückkehr (über Stettin) geschrieben hat; demnach wird er Mitte September in
Berlin gewesen sein, da er noch am 27. August aus Frankfurt a. M. an seinen
Vater schreibt (Roth 3, 298), von wo er über Leipzig (kurzer Aufenthalt dort)
nach Berlin fuhr.
* Vom 3. X. 64 = Roth, 3, 301.
' An Herder 19. XI. 66.
• Hoflfmann, »Herders Briefwechsel mit Hamann«, S. 34. Brief »Anfang Ja»
nuar 1767«.
9* 131
nerer Fassung begründet: »Die Verführung zu Allusionen ist dem
Witze des Schriftstellers freilich nur gar zu angenehm, aber der
Leser, der diese Anspielungen entweder nur halb erklären kann,
oder falsch deutet, leidet darunter. Wie weit die Liebe zu den
Anspielungen führen kann, davon ist Hamann ein betrübtes Bei*
spieP«. Freilich wissen wir, wie tief Hamanns Stil in seiner Gesamt*
Organisation begründet ist, nicht nur, weil die Unordnung, um sein
eigenes Wort^ zu gebrauchen, der »allgemeine Grundfehler« seiner
»Gemütsart« war, sondern weil der Zustand der schriftstellerischen
Produktion für ihn einen Paroxysmus darstellt, den er oft mit den
Geburtswehen vergleicht,und weil allem seinem Schaffen ein wahrer
»furor uterinus« vorangeht^; dem Zeitgenossen freilich konnte das
entgehen, und er mußte um so weniger Fähigkeit haben, diesen
Stil nachzuempfinden, wenn er so fest wie Nicolai auf einem nicht
minder umfassend begründeten Stilprinzip, dem des »lucidus ordo«
stand. In den »Briefen über den itzigen Zustand« zwar hatte der
junge Nicolai die ordentliche, gelehrte Schreibart verworfen, fast
ein Recht auf Unordnung proklamiert und gew ünscht, daß seine
Briefe wirken möchten »velut amnis, imbres quem super notas alu*
ere ripas«, und dieses ursprünglichere »Ideal« — es scheint sich dort
aber vielmehr um eine vereinzelte, und im Trotz gegen die feierliche
Pedanterie der Gottschedianer übersteigerte, mutwillige Äußerung
zu handeln — das sich erst langsam nach dem entgegengesetzten Pol
richtete, mag ein Grund sein, weshalb Nicolais Ablehnung des Ha*
mannschen Stiles erst so spät erfolgte. Schon in den sechziger Jahren
ist der Wandel in Nicolais Stilbegriff jedenfalls vollzogen; jetzt ver*
deutlicht er sein stilistisches Ideal vielmehr immer wieder an dem
Bilde eines ruhigen klaren Flusses, und wendet es auch gerade gegen
Hamann. Freilich werden wir uns hüten müssen, jene scharfen, tief
■ Nicolai an Herder 30. XII. 66.
■' Roth 1, 173.
•' Vgl. Nicolais Bemerkung zu seinem Plane eines Trauerspiels (GöckingkS. 50):
»Erfindung ist Empfängnis und folglich wollüstig, ausführen und schreiben ist
Geburt und kostet manchen harten Stand«. Diese scheinbare ähnliche Äußerung
— der freilich der psychologische Bezug der Hamannschen fehlt — konnte in
Wahrheit ein Moment der kritischen Ablehnung von Hamanns Schriftsteller
rischer Produktion werden, wie es gegen Lavater^Herder dann tatsächlich ge=
braucht wurde (Nicolai an Lavater über Herder: 24. IV. 74 NN).
132
ins Wesen der Stilbildung führenden Worte des alten Goethe (Dich*
tung und Wahrheit XII) über den Stil Hamanns, wenn sie auch
scheinbar in Nicolais Sinne sind, mit dieser Nicolaischen Ablehnung
zu identifizieren. Goethe weist dort, gegenüber der Hamannschen
Maxime, die alles Vereinzelte für verwerflich erklärt und nur dem*
jenigen Wert zuerkennt, was aus dem großen Confluxus aller Kräfte
entspringt, auf die »große Schwierigkeit« hin, daß das Wort, wenn
es »nicht gerade poetisch« ist, »sich ablösen, sich vereinzeln muß,
um etwas zu bedeuten«, und daß »der Mensch, indem er spricht,
für den Augenblick einseitig werden muß«; »es gibt keine Mittei*
lung, keine Lehre ohne Sonderung«. Auch Nicolai hat solche Auf*
fassung von der »Mitteilung durch das Wort«, als nur durch Son*
derung, durch Distinktion möglich, gelegentlich eindrucksvoll be*
kündet; wir werden dieser Auffassung in seiner gegen Lavater*
Herder gerichteten Stilpolemik noch begegnen. Aber diese Tiefe
des Goetheschen Hinweises — eine Tiefe, zu deren Ausmessung
freilich die ganze Polarität der Kunstanschauung des jungen und
des alten Goethe gehört — hat er natürlich nicht erreicht und nicht
erreichen können, da ihm schon das eigentlich Treibende zu solchem
Ansatz, die Fähigkeit eines Bildners der Sprache, mangelte. Doch
mag unser Hinweis auf diese kritische Besinnung Goethes gegen
Hamann — diese gewichtige und nicht vereinzelte Goethesche
Kundgebung — hier dazu dienen, jenem Stilideal Nicolais, das
seine Vorbilder in Hume, Lessing, Wieland suchte, eine weit tiefere
Perspektive zu geben, als sie Nicolai selbst je zu zeichnen vermocht
hätte. Und gegen diesen Hintergrund gewinnen allerdings die un*
zulänglichen Nicolaischen Bemühungen erheblich an Bedeutung;
ein tieferer Grund zu seiner immer deutlicher werdenden Ableh*
nung des Hamannschen Stiles, als es Unverständnis oder überheb*
liches, schulmeisterliches Dogmatisieren wäre, erscheint nun unver*
kennbar.
Freilich kamen diese Gegensätze erst fünf Jahre später zum Aus*
trag. Es tritt eine Entfremdung ein, die zwar durch gelegentlichen
Briefwechsel in freundschaftlichenFormen unterbrochen wird.jedoch
das Verhältnis weder fortgestaltet noch abbricht; die Gegensätze
zeigen sich hier nur in sehr verhüllter Form^ Zwei Hamannsche
' Beachtenswert sind Hamanns abfällige Äußerungen gegen die Allg. Dtsch.
133
Briefe und die Zusendung der Hamannschen Schrift »Des Ritters
von Rosencreuz Letzte Willensmeinung« (Roth 4, 21 ff.) scheint
Nicolai nicht beantwortet zu haben. Um so überraschter mußte er
sein, als Hamann ihm bald darauf ein richtiges Verlagsangebot
macht: es betraf die »Philologischen Einfälle und Zweifel« (Roth
4, 37 ff.) — die Herders preisgekrönter Schrift »Über den Ursprung
der Sprache« galten — und die kleine Denkschrift »Au Salomon
Bibl. aus dieser Zeit: Roth 3, 388; 7, 77. — ■ Ein verlorener Brief Nicolais vom
August 1769 versuchte wohl Hamanns Anhängerschaft für eine drohende Fehde
mit Klotz zu gewinnen. Aus Hamanns Antwortbrief vom 21. XI. 69 = Viertel«
Jahrschrift 1, 123 und besonders dem vorher bei Roth «Wiener 8, 1, 174 als Bruch«
stück aus einem Brief an einen Unbekannten nicht genau abgedruckten Fragment
ergibt sich nichts Genaues (ebensowenig ergab nochmalige Vergleichung des
Originaltextes Bestimmteres) über die fragliche Beziehung auf die »Klotzischen
Händel«. Hamann war in Klotz' Deutscher Bibliothek 1768, I, 51, 162, 164f., 173
angegriffen worden (was Nicolai wohl bekannt war), hielt aber nichts für über«
flüssiger, als einen Streit gegen diesen Mann, der sich von selbst erledigte ; wie
er es auch Lessing (Unger S. 345) und Herder (Roth 3, 376; 3, 399 f.) verdenkt,
daß sie sich an solchen »Froschmäusekriegen« beteiligen ; mit einer gewissen
Schadenfreude weist er darauf hin, daß ihn sein »blindes Gefühl« diesem »latei«
nischen Gottsched« gegenüber besser geleitet habe, als die kundigen Berliner
(Roth 3, 376). — Im selben Brief hat Nicolai sich bei Hamann nach Herders
Aufenthalt erkundigt; Hamann weiß seit jenem »Valetbriefe« nichts von ihm
(Viertel]. I, 124). Ein dritter Punkt des Nicolaischen Briefes betraf— was O. Hoff«
mann übersehen hat — die Bitte des Herausgebers von Abbts Freundschaftl.
Korrespondenz, Hamanns Briefe abdrucken zu dürfen (wie sich aus Hamanns
Sätzen »was die Sache selbst betrifft« ergibt); bemerkenswert mußte dann für
Nicolai Hamanns Geständnis sein, daß er sich an nichts mehr erinnern könne;
Abbts freundschaftl. Korresp. erschien danach im 3. Teil s. Verm. Werke 1771
»mit Genehmhaltung des Herrn H**« (ebenda S. 71, Anm.). — Über Nicolais
Abfertigung Klotzens in der Allg. Dtsch. Bibl. belustigte sich Hamann (an
Herder: Roth 3, 399), daß Nicolai »so kläglich frostig und ehrlich tue«, aber es
scheint, als ob er an der Allg. Dtsch. Bibl. wieder mehr Interesse genommen hat,
seit er von Herders Mitarbeiterschaft weiß (H. an Herder 6. X. 72 = Roth 5, 17).
— Nicolai beantwortete Hamanns Brief vom 21. IX. 69 mit der Übersendung
des zweiten Teils der Antiquarischen Briefe Lessings, wofür Hamann 27. I. 70,
Viertelj. I, 124, dankte. An diesem Brief mochte für Nicolai nur bemerkenswert
sein, daß Hamann Moses empfahl, auf die Lavatersche Herausforderung nicht zu
antworten. Ein weiterer Brief Hamanns vom 12. IX. 70 enthielt die Empfehlung
eines ärztlichen Freundes, die in ähnlicher Form auch an Mendelssohn ging (Roth
5, 3 f.). Nicolai beantwortet beide anscheinend erst mit der Übersendung von
Abbts Korrespondenz, wofür Hamann 22. IX. 71 = Dorow I, 121, dankt.
134
de Prusse«. (Roth*Wiener 8, 1, 191 £f.) Über Hamanns Rosenkreuz
hatte Nicolai sich Herder gegenüber in einem Tone geäußert, der
deutlich zeigt, daß er nur aus Höflichkeit gegen Herder und in
Erinnerung an das heitere Intermezzo des Abälardus Virbius äußer*
lieh zweifelt, wo er im Grunde nur Ablehnung und Spott, vielleicht
auch Mitleid für Hamann übrig hat. Er habe sich, schreibt Nicolai
an Herder\ mit Moses gestritten, ob Hamann in der »Letzten
Willensmeinung« Herder nur habe erläutern, oder widerlegen wol*
len; Moses glaube, Hamann habe den Ursprung der Sprache nicht
aus göttlicher Emanation erklären wollen, er, Nicolai, dagegen sei
der Meinung, Hamanns Absicht laufe einzig darauf hinaus, den
göttlichen Ursprung der Sprache zu erweisen; bezeichnend fährt
er fort: »Es kann sein, daß ich unrecht habe, denn nach Hr. M.
(= Herrn Moses) Erklärung, wußte er sehr sinnreich zu erklären,
wie die Accise:=Regie . . . nebst den Mastupratoren und Sodomitern
in diese Abhandlung über die Sprache kommen, welches ich wahr*
haftig gar nicht erklären kann. Entscheiden Sie, welcher unter uns
Recht hat, und sagen Sie uns auch, warum der seelig ist, der drei
oder vier Jahre warten soll, bis sich die Meinung dieses letzten
Willens aufschließt; denn das haben wir beide nicht verstanden.«
Herder entscheidet zugunsten beider: Hamann habe eigentlich gött*
liehen Ursprung der Sprache behaupten wollen, »ihn in der Tat
aber menschlich behauptet«^; über die anderen Zweifel Nicolais
gleitet er mit nichtssagenden Worten hinweg, sei es nun, daß er die
von Nicolai angedeuteten Stellen wirklich ebenfalls nicht verstand,
oder daß er — was wahrscheinlicher ist — es für verlorene Mühe
hielt, Nicolais Verständnis zu Hilfe zu kommen; der Erfolg war,
daß Nicolai einen ihm zur Weiterbeförderung an Herder über*
sandten, mit dem Vermerk »citissime« versehenen Brief Hamanns
nicht gerade sehr eilig besorgte, da er durch Hamanns Schriften ge*
wohnt worden sei, »in seinen Worten immer einen ganz andern
Verstand zu suchen, als den die simplen Worte besagen«^. Nun
aber bietet ihm Hamann, durch Nicolais Schweigen anscheinend
nicht berührt, die »Philologischen Einfälle und Zweifel« und »Au
• An Herder 24. VI. 72.
- Herder an Nicolai 2. VII. 72.
=• An Herder 12. XI. 72.
135
Salomon de Prusse« zum Verlage an. Daß Nicolai das erstere
Schriftchen nicht verlegen konnte, das gegen Herder, unter dessen
Namensnennung, gerichtet schien, ist erklärlich; haben wir doch
auch feststellen zu können geglaubt, daß Nicolai glauben mußte,
Abälardus Virbius habe Fulbertum Culmium weder widerlegen
können, noch im Ernst recht widerlegen wollen. Die Ablehnung
des an Friedrich d. Gr. gerichteten Schriftchens aber ist erklär*
lieh, wenn wir uns an das oben (s. S. 42 ff.) dargestellte Streben
Nicolais erinnern, die deutsche Literatur mit allen Mitteln gegen«
über dem französischen Einfluß zu befördern. Nicolai fürchtet
aber, wie wir aus seinem Brief an Herder vom 2. III. 73 entnehmen
können, daß Hamanns Schriftchen nicht nur Herder, für dessen
Wahl in die Preußische Akademie sich Hamann einsetzt, beim
Könige schaden, sondern daß es die ganze deutsche Literatur vor
Friedrich dem Großen diskreditieren werde; er befürchtet ferner,
daß Hamann sich selbst schaden werde, da der König Hamann
»des Tollhauses würdig« halten würde — eine Befürchtung, die
Nicolais eigentliches Urteil über Hamann recht deutlich wider«
spiegelt. Hamanns »patriotische Philippica«, wie Nicolai sich aus«
drückt, erscheint ihm mit Hinblick auf ihre sicher zu erwartende
Wirkung also als unpatriotisch, und er bittet Herder, wenn dieser
Einfluß auf Hamann habe, denselben aufzuwenden und Hamann
zu überreden, daß er das Schriftchen »im Pulte ruhen« lasse.
Nicolais wahres Urteil über diese Hamannschen Schriften geht
aber am deutlichsten aus dem Umstände hervor, daß er das Angebot
Hamanns fast ein Jahr lang unbeantwortet ließ ; nicht nur der Buch«
händler Nicolai, dem Hamann »im Ernst« »drei Bogen . . . für
dreißig Friedrichd'or verkaufen wollte« \ auch der Literat Nicolai
glaubte wohl, sich jede Antwort ersparen zu können. Da aber
sandte ihm Hamann, der, wie er sich selbst ironisierend, schreibt,
seine Ungeduld'^, »ein öffentlicher Autor in Großquart zu werden«^
nicht bemeistern konnte, das »Selbstgespräch eines Autors«. In
Ausführungen, die er in seinem Exemplar des »Selbstgespräches«
^ Nicolai an Herder 2. III. 73. Im folgenden »Selbstgespräch eines Autors« fors
dert Hamann sogar 50 Friedrichd'ors.
- Vgl. Hamann an Herder 13. 1. 73 = Roth 5, 22.
' Roth 4, 75.
136
in späterer Zeit auf zwei Blättern angefügt hat, schreibt Nicolai
über das »Selbstgespräch«: »Ich zweifle, daß ich damals alles ver*
standen habe;« wie alle Schriften Hamanns, so hätte auch diese für
jeden Satz »einen Kommentar nötig«; den tatsächlichen Zweck des
Schriftchens hat er freilich, wie diese Erläuterungen und seine Ant*
wort »An den Magum im Norden« bezeugen, wohl verstanden.
Er besteht in einer nochmaligen dringlichen Aufforderung Hamanns,
sich seiner beiden Werke anzunehmen, deren erstere ein »Embryon
von Encyklopädie« ist, eine Arbeit, der er »neun, wo nicht zwölf
Jahre« seines Lebens gewidmet hat. In der Maske eines »Chinesers«,
der als Mandarin nach Peking zurückzukehren »auf dem Sprunge«
ist, bietet er Nicolai diese beiden Handschriften »nach sibyllini*
scher Steigerung im Buchhandel« für nunmehr 50 Friedrichsd'or
an; schon das »orphische Ei« der ersten Abhandlung sei »selbst
unter Brüdern eines Weltteils« soviel wert; es sei »nach dem streng*
sten Gesetz der Sparsamkeit geschrieben«. Nochmals erläutert er
die Absicht der beiden Schriften und setzt in der Vorfreude der
öffentlichen Autorschaft den Titel mit großen Lettern in den Text
des »Selbstgesprächs«. Die Antwort bittet er »An den Magum im
Norden zu richten«, — erwartet jedoch, daß diese Antwort eine
»Assignation« ist. —
Nicolai war, wie er in seinen Erläuterungen schreibt, in großer
Verlegenheit, wie er »die Antwort einrichten solle«; »denn er (Ha*
mann) war ein hypochondrischer und seltsam empfindlicher Mann«.
Ein kleiner Unglücksfall, der Nicolai einige Wochen ans Ruhebett
fesselte, verschaffte ihm Muße und — Laune zur Antwort. Der Auf*
forderung Hamanns gemäß richtete er sie »An den Magum im
Norden. Haussässig am alten Graben Nr. 758. Sonst auch zu er*
fragen im Kanterschen Buchladen« ^ »Von der Schnecke, die über
den Weg kriecht,« beginnt er, »verlangt man nicht, daß sie tanze,
und von einem Manne wie ich, ,occupato et ad litteras scribendas,
ut nosti pigerrimum', erwartet niemand, daß er mit der ersten Post
' Als Manuskript in 25 Exemplaren 1773 gedruckt. Hinz in Mitau veranstaltete
allerdings einen Nachdruck und fügte Nicolais Antwort dem »Selbstgespräch«
bei (Nicolais Erläuterungen). Da das Schriftzeichen sehr selten ist, wurde hier
etwas ausführlicher darauf eingegangen, um so mehr, als R. Schwinger S. 216f.
es nur mit wenigen Worten berührt.
137
antworte.« — Indessen gibt Nicolai noch eine andere Entschuldig
gung für sein langes Schweigen; Hamann, sagt er, hätte noch lange
auf Antwort warten können, wenn ihm (Nicolai) nicht zu vor*
zeitiger Stunde das alchymistische Experiment gelungen wäre —
nämlich, wie sich aus den Schlußsätzen ergibt, die Beendigung des
ersten Bandes des »Sebaldus Nothanker«; in Wahrheit liebe er Ha*
mann herzlich und sehe, »wie Lucrezens Liebhaber« auch seine
Fehler »bloß von der schönen Seite« an. Freilich sei Hamann in
seinen Autornöten damit nicht geholfen; er wisse diese wohl zu
würdigen, müsse aber, im Gegensatz zu Hamann \ daran festhalten,
daß Kritik und Politik absolute Gegensätze seien, so wenig verein*
bar wie Plus und Minus, Gutes und Böses, »anschauende Kenntnis
mit Wundern und Zeichen«; »von dieser Seite ist's also verlorene
Mühe,« Nicolai überreden zu wollen. Ob Hamann aber glaube,
daß es möglich sei, »einen Brouillon in hohem Geschmack, nur
3 Bogen stark, woran man 9 bis 12 Jahre gearbeitet hat, mit Gold
aufzuwiegen?« Ebenso ironisch weist Nicolai darauf hin, daß Ha*
mann im Begriff sei, sich in schlechte Gesellschaft zu begeben, da
die Hamburger Nachrichten die A D Bibliothek »eine Legion von
Teufeln« genannt hätten. Hamannsche Metaphern aufgreifend formt
er das Bild: eine Gesellschaft (sc. die Autoren des Nicolaischen
Verlages), die »nach einer feisten Schweinsleiche . . mit beiden Hän*
den greift, hingegen winzige Nachtigallen und orphische Eier im
Winkel liegen läßt«, könne Hamann unmöglich gefallen. Was sei
aber Hamann in einer so glänzenden Gesellschaft? Ein »Philaleth«
— und man habe Beispiele in der Geschichte, daß es gerade Phila*
lethen sehr schlimm ergangen sei, besonders wenn sie arme Stümper
waren, die weder auf der Börse (sc. des Buchhändlers) noch in der
Antichambre (sc. des Königs) sonderlich viel gelten«. Hier findet
er Gelegenheit, Hamann auf das nicht ganz Ungefährliche seiner
Denkschrift »Au Salomon de Prusse« hinzuweisen; vielleicht würde
»jenes Weib zu Thekoa«, wenn es nicht »einen Generalfeldmarschall
zum Croupier« gehabt, sondern »aus eigenem Triebe für den schönen
Absalom«"^ gesprochen hätte, statt einer Reise nach Pekim unver*
mutet eine Reise »mit verhülltem Kopf und mit Manschetten an
1 Auf Roth IV, S. 82 bezüglich. ~
* Darunter verstand Hamann, nach Nicolais Erläuterungen, Herder.
138
den Händen« nach — Spandau oder Stettin angetreten haben. Auch
Nicolai wisse sehr wohl, daß »unsere besten Streiter im Heere der
deutschen Musenmänner nicht einmal recht öffentlich ihre Spieße
und Pfeile führen durften, allein, was hülfe es, »daß wir beide dies
wissen und beklagen«? So müsse, wie der deutsche Plato^ »seidene
Zeuge webt«, wie »unser Sophokles^ alte Manuskripte flickt«, wie
unser Terenz »Steuern eintreibt«^, auch der schöne Absolom in die
Fremde ziehen*: »alle diese Sachen werden Sie und ich nicht ändern«.
»Wollen Sie sich aber nicht warnen lassen, so ziehe ich mich zurück
und löse den Knoten mit einem Hiebe.« Freilich wolle er edel sein
und Hamann sogar königlich belohnen : wie Augustus einem Poeten
für dessen Dichtungen eigene Verse geschenkt habe, wolle auch er,
Nicolai, Hamann nicht mit Friedrichsd'ors, sondern mit einem
eigenen Opus aufwarten. Und noch einen speziellen Wunsch Ha*
manns wolle er damit erfüllen: Die Auflösung der Frage, warum
Schriftsteller den Verleger bald als überirdisches W^esen, bald als
Amanuensis^ betrachten. — Zweierlei Hinweise also gibt Nicolai
auf das, was er speziell Hamann gegenüber im »Nothanker« be*
merkbar machen will: die Selbstdarstellung im Buchhändler Hiero*
nymus und die Betonung seines Ideenkreises, wie er im »No*
thanker« zum Ausdruck gelangt; sein persönliches Lebensgefühl,
die Auffassung von einem tätigen, dienenden Leben — wie wir sie
oben darzustellen suchten — im Gegensatz zu Hamanns — von Ni=
colai geglaubter — grillenhafter Abseitigkeit einerseits; sodann aber
die objektive Verfestigung seiner Anschauungen über Welt und
Leben, Theologie und Geschichte, Glauben und Wissen, Liebe und
Haß, wie sie der Roman darstellt, alles im Gegensatz zu Hamanns
im tiefsten Grunde irrationaler Anschauungsweise. Eine Heraus*
forderung Hamanns lag Nicolai fern — so sehr wir auch in diesem
' Gemeint ist Moses Mendelssohn, der die Fabrik seines Schwiegervaters betrieb.
- Lessings Tätigkeit in Wolfenbüttel gemeint.
* Chr. F.Weiße, der Kreissteuereinnehmer in Leipzig war.
* Herder befand sich damals auf der Reise durch Frankreich.
* In den Erläuterungen bezieht sich Nicolai auf Hamanns ShaftesburysZitat im
»Selbstgespräch« (Roth IV, 76, Anm. 4), wonach der Verleger nur der »Ama*
nuensis« des Autors ist; er verweist auf s. Sebaldus Nothanker I, 112 (gemeint
ist das Gespräch Seb. Nothankers mit dem Buchhändler Hieronymus, der Ni;
colais Ideen entwickelte).
139
Verfahren eine solche sehen; mit der Sicherheit und Bewußtheit
eines, der in jeder Beziehung, in geistiger wie in vitaler und sozialer
Hinsicht, festen Grund unter den Füßen fühlt, mit der Überlegen?
heit des Freien gegenüber dem vermeintlich Unfreien und Un*
sicheren, tritt Nicolai hier auf; und die übermütige Laune, mit der
sein Schriftchen abgefaßt ist, sollte nur den Menschen Hamann für
das entschädigen, was dem Schriftsteller und Denker von Nicolai
abgesprochen wurde.
Die Übersendung des Nothanker an Hamann verzögerte sich ein
wenig. Der Ungeduldige, der erst das angekündigte Xenion ab*
warten muß, ehe er urteilt, dankt inzwischen Nicolai '^ für die einst*
weilige Antwort und mahnt zur pünktlichen Übersendung des
»sauber gedruckten, mit Kupferstichen gezierten Buches«; »ob fu*
gam vacui« fügt er dort freilich einige Anmerkungen hinzu, die
Nicolais Unfähigkeit treffen sollen, den Hamannschen Stil nach*
zuahmen, einen Stil, der eben mit der Persönlichkeit des Schreiben*
den innig verwachsen ist. Am 26. ApriP sendet ihm Nicolai den
»Sebaldus Nothanker« mit einer Zuschrift, in der, wie aus Ha-
manns gleich zu erwähnendem Antwortbriefe hervorgeht^, Nicolai
ihr Verhältnis an der Fabel vom Fuchs und vom Storch verdeut*
lichte. Und Hamann dankt in einem langen Briefe vom 7. Juni 1773*
für das »angenehme Andenken Ihrer Freundschaft«. Schon in diesem
Briefe ironisiert Hamann aber den Nicolaischen Roman, wenn man
seine Worte zu deuten weiß, aufs schärfste. Er spöttelt über die
mangelnde dichterische Gestaltungskraft Nicolais, indem er auf die
plumpe Naturtreue hinweist, mit der sich der Roman auf »geschrie*
bene Urkunden« stütze — gemeint ist, neben der Anknüpfung an
Thümmels »Wilhelmine«, vor allem die stark realistische Färbung
des Milieus, die stetige Verweisung auf wirklich vorhandene Per*
sonen und insbesondere die Zitate aus der theologischen Literatur;
und er gibt Nicolai*Mendelssohn den Rousseau gegenüber ge*
äußerten Vorwurf, daß der Dichter der Neuen Heloise ihren Glau*
ben an seine Darstellung nicht erzwungen habe, zurück: er sei
' Hamann an Nicolai 27. III. 73 = Hoffmann. Vierteljahrschrift I, 127ff.
- So nach Hamanns Antwortbrief v. 7. VI. 73.
^ H. Weber, Neue Hamanniana, S. 56.
* Jetzt in vollständiger Fassung bei Weber, a. a. O. S. 54 ff.
140
»stock und ,Damm' ungläubig« gegenüber diesen geschriebenen
Urkunden; auch eine noch so realistische Motivierung vermag die
dichterische Gestaltungskraft nicht zu ersetzen. Es ist also Hohn,
wenn er sagt, daß »der poetische Erfindungsgeist des Heraus*
gebers« »bei der flüssigen Simplizität des historischen und rezita*
tivischen Stils nur desto stärker in die Augen schimmert«. — Ebenso
ironisch weist er auf die triviale Psychologie hin, mit der Sebaldus
selbst uns nahe gebracht werden soll, nämlich, daß Nicolai sich zur
Verlebendigung dieses »so durchtriebenen Crusianers und Benge*
listen« in äußerer Nachahmung Sternes des »Steckenpferdes« be*
dient — nämlich der Liebhaberei des Magister Sebaldus für die
Apokalypse. Die Weitschweifigkeit des Romans glossiert Hamann
mit dem scheinbar ganz nebensächlich einfließenden Hinweis, daß
er seine »Handschrift« (die »Philologischen Einfälle und Zweifel«),
sobald er Lust dazu habe, »in vier KleinsOktavbänden^ auf dem
neuesten Fuß auszumünzen imstande« sei. Das aber unterscheide
seine Autorschaft von derjenigen Nicolais, daß er »trotz Cession
und Entäußerung« dennoch stets »Eigentümer« seiner Werke
bleibe.
Diese Standpunkte, die Hamann ungeschminkter, mit größerei
persönlicher Schärfe in gleichzeitigen Äußerungen an Herder"- ver*
trat, sind denn auch vornehmlich in seiner Entgegnungsschrift »An
die Hexe zu Kadmonbor. Geschrieben in der jungen Fastnacht
Berlin 1773«^ zum Ausdruck gebracht.
Hamann will mit seiner Satire vor allem den Geist treffen, der
sich »das heilige Amt der Schlüssel . . . über alle deutschen Schrift*
steller« anmaßt, der die »orphischen Eier wie Skorpionen und Ba*
silisken« unter seinen Fersen zertritt. Die persönliche Liebenswürdig*
keit Nicolais ist ihm letzthin gleichgültig, da sich der Literator ihm
versagt hat, ja, noch mehr, da er ihn mit einer »Assignation« von
»Floccinaucipilinihilidoren«* abgespeist hat. Hamann haßt das von
' dem Format des Nicolaischen Romans.
'- Hamann an Herder 21. VIII. 73 = RothV, 42 3.
' Roth IV, 169 ff.
' Eine Zusammensetzung der Synonyma floccus, naucum, pilus, nihil zurKenn=
Zeichnung der Nichtigkeit des Nothanker (so nach Roth ^Wiener 8, 1, S. 233 und
Schwinger S. 222, Anm. 5).
141
Nicolai vertretene »Synedrium der neuen und deutschen Literatur«.
Er weist darauf hin, daß der — von ihm empfundene — Dogmatis*
mus der Aufklärung eng verwandt ist mit dem Dogmatismus der
Orthodoxie, weshalb Nothanker sich zu Unrecht über den Gewalt*
Spruch des Konsistoriums beklage: die »Meinungen, die hier im
Chorhemd gehen, haben dort Sebaldus um sein Priesterkleid ge*
bracht«; wie der orthodoxe Dogmatiker, so lehrt auch der neolo*
gische Aufklärer den Glauben »aus frostigen Wörterbüchern«, die
»im rechten Ernst nichts als Sammlungen der lustigsten Wortspiele«
sind. Er verabscheut den loyalen Anstrich, den sich dieser, in "Wahr*
heit intolerante Geist gibt, der sich bemüht, mit dem verabscheuten
und beiseite gestoßenen »irrenden Konfucianer« in dessen Sprache
zu sprechen. Recht deutlich weist er darauf hin, daß Nicolai damit
nur sich selbst zu Gefallen sein wolle, darum läßt er in seinem
Schriftchen die briefliche Unterredung Nicolais mit der Hexe sich
plötzlich in ein »Selbstgespräch« verwandeln. Die ganze Fabel des
Schriftchens aber deutet darauf hin, daß Hamann Nicolai nicht jene
Selbstsicherheit glaubt, von der Nicolai dem äußeren Anschein nach
erfüllt ist: Nicolai steht vielmehr nach Hamanns Darstellung Ha*
mann so gegenüber, wie ein redlicher Mann einer alten Hexe, mit
der er sich freilich durch »Ludovici*Kaufmanns*Lexiko« nicht ver*
ständigen kann; ja er muß plötzlich entdecken, daß er es mit einer
»doppelgesichtigen Alecto« zu tun hat, »zusammen geantlitzet mit
einem junonischen Kalbsauge und einem triefenden Kautzäugelein«.
Und nun, wo er »faule Fische riecht«, verflucht der Händler, der
sich in Goldmacherhoffnungen mit der »weisen Frau« eingelassen
hat, die »vermaledeyte Hexe« recht derb und entflieht sich bekreu*
zigend. Nicolai ist in der schwarzen Kunst, — womit Hamann seine
Denk* und Schreibweise ironisch versinnbildlicht — eben doch nur
ein Laie, so sehr er sich auch brüstet, sie zu verstehen und zu hand*
haben. Deshalb weist er auch immer Nicolai auf dessen eigenes Ge*
biet, das er ihm gewiß nicht streitig machen wolle, und dessen Be*
herrschung Nicolai ja im Sebaldus Nothanker so vielseitig und
glänzend erwiesen habe. Hamann wiederholt hier jene Anwürfe
gegen den Roman vom ästhetischen Gesichtspunkt, der ja für Ha*
mann zugleich immer den allgemein weltanschaulichen erraten läßt,
die wir oben aus seinem Brief an Herder herausgehört haben. Er
142
macht sich lustig über dieses »Meisterstück einer pragmatischen'
Geschichte« ; Nicolais »statistische Absicht«, Nothankers »Historie*
graph« zu sein, werde ihm bald einen Platz neben dem deutschen
Strabo (Büsching) anweisen. Gern gibt er zu, daß »die stattlichsten
Säulen unserer salomonischen Halle in den Sebaldischen Legen*
den mehr Erbauung und Seelenweide finden werden, als im ganzen
Buche Ruth« — denn diese Säulen dünken ihm schadhaft wie der
ganze Bau des Jahrhunderts. —
Nicolai hatte es leicht zu antworten: während Hamann in bezug
auf die »Hexe« klagt, es sei »kein Amanuensis in ganz Norden, der
dies glühende Eisen anfassen will«^ hat Nicolai für seine Duplik
die »Allgemeine Deutsche Bibliothek« zu seiner Verfügung. So er-
schien im 24, Bande derselben (S. 287 ff.) eine unzweifelhaft von
Nicolai^ herrührende Sammelrezension Hamannscher Schriften —
und hier gewinnt Nicolais Ablehnung der Hamannschen Art prin=
zipielle Bedeutung, denn zwischen der Schrift: »An den Magum im
Norden« und dieser Rezension liegt seine Verfeindung mit Jung
Stilling und Fr. H. Jacobi, der Bruch mit Herder, die ersten Differenz
zen mit Lavater. Der äußere und innere Zusammenhang Hamanns
mit ihnen mußte Nicolai bekannt sein. Christian Heinrich Schmid
' Als Antwort auf Mendelssohns Tadel gegen Rousseau, daß er mehr spekulati«
vische als pragmatische Menschenkenntnis habe, s. o.
- An Herder 21. VIII. 73 = Roth 5, 43.
^ Die Rezension ist mit Dh. Hd. unterzeichnet; weder Parthey, noch die in Ni=
colais Nachlaß befindlichen Zeichenbücher erklären dieses Signum oder seine
Teile. Hamann selbst hat für diese Rezension Nicolais Autorschaft angenommen.
(Vgl. Roth 4, 292 f. Die, Stelle aus Hamanns Brief an Herder vom 14.' VII. 75 =
Roth 5, 159 oben kann nicht dahin geltend gemacht werden, daß Hamann
zwei Verfasser für diese Rezension angenommen hat; es handelt sich hier wohl
um eine scherzhafte Anknüpfung Hamanns an das zusammengesetzte Signum.
R Unger und R. Schwinger nehmen gleichfalls Nicolais Autorschaft an. Der Stil
der Rezension ist für Nicolai durchaus charakteristisch: einzelne bildhafte Aus*
drücke sind auch sonst mehrfach bei Nicolai zu belegen. Vgl. auch Herder an
Hamann 25. VIII. 75: »Den langen Nickel, Hd. und Dh. halte ich alles für unum
idemque.« Da aber das zusammengesetzte Signum nie ohne Grund gebraucht wird,
muß man annehmen, daß Nicolai eine von einem anderen Mitarbeiter gelieferte
Rezension stark überarbeitet hat, zumal die rein theologischen Erörterungen
schwerlich auf Nicolai allein zurückgehen; dieses Gerüst stammt wahrscheinlich
von Eberhard, der, nach seinem im Anhang dieser Untersuchung wiedergegeben
nen Brief auch die Hamann*Rezension in A D Bibl. 25, 1, 306 verfaßt hat.
143
hatte inzwischen im Teutschen Mercur (November 1774) in seinen
»Kritischen Nachrichten vom Zustande des Deutschen Parnasses«
die »Sekte« dargesteUt und organisiert, deren »Chef« Hamann sei:
neben Hamann sei Herder das Haupt: Klopstock nähere sich den
Hamannianern, ihm folgten die Stollbergs und Claudius; Goethe
stehe danach mit Hamann*Herder in engster Verbindung, Lenz sei
Goethes Trabant, Gerstenberg und Hippel seien dem Kreise eben*
falls nahe. Die Bekanntschaft Nicolais mit diesem Aufsatz kann
nicht geradezu nachgewiesen werden. Sicher aber hat Merck, der
auf seiner Rückreise von Petersburg und Königsberg Nicolai in
Berlin aufgesucht hat, diesen in ähnlicher Weise, speziell über Ha*
mans Stellung zu Herder und die Abhängigkeit der Jungen von
Hamann unterrichtet; ja Hamann vermutet sogar, daß dieser »Bei*
letrist, Virtuos und Scherenschleifer«^ »im Finstern Infamiam . . . in
Berlin (und Darmstadt) gesäet«-, ihn, wie bei dem »treuherzigen
Laienbruder« in Darmstadt (bei C. F. v. Moser), so in Berlin bei
Nicolai diskreditiert habe. Die scharfe Tonart der Nicolaischen
Rezension, die prinzipielle Wendung seiner Ablehnung Hamanns
im letzten Teil der Rezension, wie schließlich die psychologische
Fundierung derselben in den Eingangssätzen sind sicher auf solche
Einflüsse zurückzuführen, denen Nicolai Hamann gegenüber seit
der Ablehnung seines Nothanker recht zugänglich war.
Die Rezension gilt fünf Hamannschen Schriftchen: der »Beilage
zu den Denkwürdigkeiten des seligen Sokrates«^, dem »Selbstge*
sprach eines Autors«, der »Neuen Apologie des Buchstabens H«*,
der »Hexe zu Kadmonbor« und der »Lettre perdue d'un Sauvage
du Nord«^; auch die Nicolaische Entgegnung »An den Magum im
Norden« ist mit einbezogen. — Nicolai beginnt mit einer psycho*
logischen Feststellung. Wer die Dinge um sich mit gewöhnlichen
Augen ansehe, betrachte viele Vorfälle und die Veränderung der
Dinge meist gar nicht für merkwürdig; »wer aber beständig seinen
eigenen Weg sucht und dabei in sich selbst und seine Betrachtungen
so eingewickelt ist, daß er niemals um sich herum siehet und hö*
' Hamann an Herder 3. IV. 74, Roth V, 62.
- Hamann an Herder Ende Mai 1774 = 0. Hoffmann, Herders Briefe an Ha^
mann S. 247 f.
■■■ Roth 4, 97 ff". * Roth 4, 115 ff. • Roth 4. 149 ff.
144
ret, . . . der starrt gemeiniglich die Gegenstände . . . wild an« und
glaube, »sie wären durch eine Art Wunder so zusammengestellt«;
sogleich falle er in seine »Lieblingssünde, die Spekulation« und
schließe: »post hoc, penes hoc, ergo propter hoc«. So sei es auch
Hamann, »einem der berühmtesten Spekulanten unserer Zeit« oft
gegangen, zumal hier in der »Beilage« und in der »Apologie«; die
Tatsachen, daß Eberhard »alle Heiden seelig wissen wolle« und
daß Damm »in seinen Betrachtungen über die Religion selten den
Buchstaben H. schriebe«, verknüpfe er ohne weiteres »nach dem (!)
Lege continui«. Was die von Hamann hier behauptete enge Ver*
bindung zwischen Orthographie und Orthodoxie betreffe, so wolle
er, Nicolai, lieber trennen: die »Aufklärung der Orthographie«
könne »aufhören«, nicht aber die »Aufklärung der Religion«. Hier,
in der »Aufklärung der Dogmatik durch die Vernunft« seien keine
»babylonischen Verwirrungen« durch die Aufklärung zu befürchten,
wie sie auch durch die Reformation, trotz der Weissagungen der
damaligen Orthodoxen, nicht herbeigeführt worden seien. Seinem
Standpunkt »die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor«
auch hier getreu, weist Nicolai darauf hin, daß die dogmatischen
Grundsätze, wenn sie auch zur Zeit ihrer Annahme notwendig ge*
wesen sein mögen, doch unter veränderten Verhältnissen keinen
Anspruch auf Gültigkeit erheben könnten. Nach der scherzhaften
Erörterung der Wichtigkeit, die unter gewissen Umständen der
Buchstabe H, haben könne, wendet Nicolai sich sodann wieder
einer prinzipiellen Frage zu: ob eine Religion ohne willkürliche
Grundsätze — wie Hamann behauptet hatte ^ — wirklich ebenso
beschaffen sei, wie ein »Backofen von Eis«, oder wie Nicolai dafür
lieber sagen möchte, »als eine Kälte, mit der man wärmen wollte«.
Wenn Religion für die Seele das sei, was für den Körper eine Magen«
Stärkung bedeute, so sei Hamanns Standpunkt nur einer von drei
möglichen Standpunkten; wie man nun eine Magen wärmung, Ma*
generhitzung oder Magenkühlung als Stärkungsmittel anwenden
könne, so sei nicht ausgemacht, daß das Hamannsche Mittel, »fein
warme dogmatische Suppen . . . recht reichlich zu genießen«, das ein»
zig heilkräftige sei. Vielmehr bedienten andere sich anderer Mittel:
aber »seit einiger Zeit steht eine Gattung feuriger Jünglinge auf, die
' Roth 4, 131 ob.
10 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 145
Suppen, so wie alles, was nicht stark ist, äußerst verachten«; »um
ihrem Magen die Kraft zu geben, die vielen harten Speisen, die sie
verschlucken, zu verdauen, bedienen sie sich hitziger Getränke«;
»sie trinken unablässig Punsch, Bischoff und Kardinal, nebst glühen-
den Weinen und allen Branntweinen . . . gewürzt . . . mit dunkeln
Gefühlen, inbrünstigen Empfindungen, Weissagungen und Aus-
sichten, ja mit Kabbala und Unsinn« ^ Ihnen gegenüber habe es
aber auch immer »vernünftige Leute« gegeben, »welche das kalte
Wasser getrunken haben, kalt, wie es aus der Mutter Erde kommt«,
und Tissot, der berühmte Mediziner, urteile, daß dies die auf die
Dauer zuträglichste Magenstärkung sei, zuträglicher auch, als die
»feinen, warmen Suppen«. Damit glaubt er Hamanns Satz wider*
legt zu haben, wie er ja jede Behauptung für widerlegt hält, wenn
er die möglichen abweichenden Standpunkte geltend gemacht hat. —
Nach einer kurzen Erwähnung des »Selbstgesprächs« und seiner
Antwort »An den Magum« ironisiert Nicolai die »Lettre perdue«
mit glücklicher Laune, insbesondere da, wo er Hamanns Geheimnis«
tuerei wegen der mystischen Ziffern seiner Hypothekenschuld spöU
tisch abtut; doch darf der hierbei fallenden Bemerkung, daß Ha*
mann den Sebaldus Nothanker nur deshalb so scheel ansehe, weil
er gewisse Züge mit Hamann gemein habe, nicht weiterreichende
Bedeutung^ beigelegt werden. — Von der »Hexe zu Kadmonbor«
sagt Nicolai, er könne ihren Inhalt nicht näher bestimmen, da er
sich auf Geisterbeschwörungen nicht verstehe; im übrigen müsse
er es den Lesern überlassen, zu urteilen, ob in diesem Schriftchen
»convicium oder urbanitas anzutreffen sei, oder keines von bei*
den«; deutlich weist er mit diesen Worten — freilich die Ab*
sieht des Hamannschen Mottos mißverstehend — darauf hin, daß
er sich in der »Hexe zu Kadmonbor« nicht als Mensch getroffen
fühlt.
Der eigentlichen Rezension aber folgen Ausführungen, die un*
zweifelhaft machen, daß Nicolai sich nunmehr über Hamanns Stel*
lung klar war, und demgemäß über die Stellung, die er selbst zu
' Deutliche Hinweise auf Herder, Goethe, Lavater (»Aussichten in die Ewig*
keit«) und Hamanns »Rhapsodie in Kabbahstischer Prosa«.
* etwa in dem Sinne, daß Hamann das Vorbild für den Sebaldus abgegeben
habe; es handelt sich hier vielmehr um einen nachträglichen Scherz Nicolais.
146
Hamann einzunehmen hatte. Die »Anmerkungen über undeutHche
und unverständHche Schreibart«, die er hier macht, sollen »nix;ht
Hrn. Hamann allein a ngehen, sondern manche andere Schriftsteller,
die uns seit einiger Zeit im Übermute ihres Mutes mit Schriften be*
schenken, bei denen der Leser nicht selten ausrufen muß:
.Wahrhaftig, das ist schön!
Der Teufel selbst kann's nicht verstehn!'«
Er verdeutlicht sein Ideal der Darstellungs* und Schreibweise an
einem Bilde; »ein Buch, das nützliche Wahrheiten, wo nicht neue
Erfindungen deutlich vorträgt, gleicht einer Sänfte, in der uns
verständige Träger nach einem bestimmten Orte tragen«; »aber ein
Buch . . . das vorsätzlich unverständlich ist . . . und wenn es noch so
voll von den stärksten Flügen der Imagination wäre, ist ebenso be*
schaffen, wie eine Sänfte ohne Boden, mit der euch berauschte
Träger durch dick und dünn, über Stock und Stein schleppen«.
Darum dächten verständige Männer über solche Bücher so wie jener
Bauer über die Sänfte: daß das Vergnügen die Mühen und Be*
schwerlichkciten nicht wert wäre. —
Die höchst nachdrückliche Verwahrung, die Hamann in zum Teil
recht beleidigender Form gegen diese Rezension einlegte \ insbeson*
dere gegen die Identifizierung mit der von Nicolai gekennzeichneten
Sekte, aber auch gegen die Identifizierung seiner Person mit Ortho?
doxen wie Goeze und Damm, der Hinweis auf die enge Verwandt*
Schaft zwischen Orthodoxie und »gesunder Vernunft«'^ haben Ni*
colai in seinem Urteil nicht wankend gemacht. Er hat das Schrift*
chen nur von der humoristischen Seite aufgenommen, wozu ihm
allerdings die bemerkenswerte Grobheit desselben eine Handhabe
bot, ohne auf die darin zutagetretenden, für Hamanns Persönlich*
keit wieder äußerst wichtigen Anschauungen irgendwie einzugehen ^.
Den Briefwechsel mit Hamann hat er freilich fortgesetzt, aber äugen«
scheinlich weil ihm diese, von Nicolai mehr und mehr so aufge*
faßte humoristische Korrespondenz rein ästhetisches Vergnügen
' »Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht der AUg. Dtsch. Biblio?
thel*< = Roth 4, 289 ft.
' Roth 4, 325.
^ Vgl. s. Brief an Hamann vom 11. X. 77 = Vierteljahrschrift I, 132ft.
10* 147
bereitete^; er wurde darin um so weniger gestört, als die folgenden
Briefe Hamanns^ sich mehr an der Oberfläche hielten, und immer
wunderlichere Züge Hamanns^ berichteten. Die Ablehnung des
Schriftstellers Hamann blieb bestehen. Nicolai hat mehrere Jahre
später, wahrscheinlich durch Hamanns — gegen Mendelssohns
»Jerusalem« gerichtete — Schrift »Golgatha und Scheblimini«* und
durch den »Fliegenden Brief an Niemand den Kundbaren« ^ mit
dem Hamann sich gegen die äußerst abfällige Rezension von »Gol*
gatha und Scheblimini« in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek®
zu wehren suchte, in seiner Ablehnung noch bestärkt, seiner end*
gültigen Stellungnahme zu Hamann in scharfen Worten Ausdruck
verliehen; wir dürfen den Sinn dieser Sätze, die Göckingk mitge*
teilt hat", obwohl sie erst in den achtziger Jahren des Jahrhunderts
niedergeschrieben sein können, doch schon für die vorangehenden
Jahre, für die Zeit seit der »Hexe zu Kadmonbor«, in Anspruch
nehmen. In diesen Sätzen erscheint Hamann als der von Nicolai
so heftig bekämpfte Typus des Provinzialschriftstellers^, der sich
' Ähnlich empfand Hamann etwa gegenüber Nicolais »Feynem kleynem Alma;
nach«, den er »mit unschuldiger Freude« liest, und der ihm »das Gegengift eines
schwermütigen Abends« ist (an Nicolai 24. XII. 76 = Dorow I, 123).
= Vom 18. VIII. 76 = Vierteljahrschrift S. 130; 24. XII. 76 = Dorow 1, 123 und
4. V. 83 = Vierteljahrschrift S. 134 sind uns erhalten.
' So sendet er im Brief vom 18. VIII. 76 Nicolai einen Katalog seiner Bibliothek,
dessen Anfertigung er als eine wahre Herkulesarbeit hinstellt; in demselben
Brief bekennt er, daß er nicht imstande sei, Ordnung in seinen Angelegenheiten
zu halten, obwohl ihm Unordnung recht verhaßt sei; oder er bekennt, er hätte
bisweilen Lust, seine 3 Kinder dem Dessauer Fhilanthropin »zu Experimenten
zu vermachen« und ähnliches mehr.
' Roth 7. 17 ff.
' Roth 7, 71 ff.
* AUg. Dtsch. Bibliothek 63, l,33ff. Die Rezension ist nicht signiert; Hamann
vermutete mit Recht, wie R. Unger (S. 454) meint — Eberhard als Verfasser; in*
dessen ist es nicht ausgeschlossen, daß Nicolai die Eberhardsche Rezension auf*
gestutzt hat, da sie sich auf die Polemik Hamanns mit den Literaturbriefen bezieht,
über die Eberhard doch wohl nicht genügend unterrichtet war; an den mit dieser
HamannsRezension verbundenen Anzeigen der Predigten Fr. Zöllners und J. H.
Schulz hatte Nicolai jedoch sicher keinen Anteil.
' Göckingk S. 129,30.
* Vgl. dazu Hamanns Brief an Nicolai vom 4. III. 63 (Weber S. 51) über die »Kreuz=
züge« : »Der Titel dieser ungezogenen Sammlung ist ein P r o v i n z i a 1 s c h e r z« usw.
148
um die großen allgemeinen Aufgaben nicht kümmert \ und dem
die Schriftstellerei nur zur Selbstbefriedigung dient, der die Autor*
Schaft im Gegensatz zu Nicolais auch hier sozialisierender Denk*
weise für eine private und nur private Angelegenheit hält. Als der
sichtbarste Ausdruck einer solchen Auffassung erschien Nicolai
die mangelnde Einstellung der Hamannschen Schriften auf den un;
vorbereiteten Leser, ein Mangel, der sich in der allgemeinen Form,
wie im einzelnen stilistischen Ausdruck zeigt. Ganz kalt urteilt Ni*
colai hier über »die falsche Originalität« ab, über »die Laune voll
Dunkelheit einiger herrlichen Köpfe, z. B. des Verfassers der Kreuz*
und Querzüge« (sic!)^; »dieses sonst schätzbare Buch kann kein
Mensch durchlesen, der seine Zeit liebt;« Hamann habe »mehr als
einen guten Schriftsteller verdorben«. — Die Wandlung in der Be*
urteilung Hamanns, von der freudigen Begrüßung des Abälardus
Virbius in den Literaturbriefen bis zu diesem kaltherzigen allge*
meinen Absprechen, zeigt sich auch in der Rezension von Hamanns
»Golgatha und Scheblimini« in der Allgemeinen Deutschen Biblio*
thek. Die Literaturbriefsteller, heißt es da, hätten Nachsicht ge*
übt; sie hätten angenommen, daß Hamann scherze und wisse, wo
Scherz hingehöre. Allmählich aber sei Hamann statt »launig und
kaustisch« nur »grillenhaft und beleidigend« geworden ; nun, da er
seine Grillen auch in »subtile« Dinge mische, müsse man sich ener*
gisch von ihm abwenden. »Mit einem solchen Gegner sich einzu*
lassen, würde ebenso gefährlich als vergeblich sein.« So wenig diese
Feststellung auch Hamann objektiv zu charakterisieren vermag —
stellte sich Hamanns »Entwicklung« in Nicolais Bewußtsein nicht
so dar? Den Mittelpunkt dieser Wandlung aber, den Punkt, an dem
Nicolais eigenes Wesen von Hamann in Frage gestellt und abgelehnt
wurde, notwendig auch die erste Ablehnung Hamanns durch Nicolai
in sich einschließend, bezeichnet, wir wir sahen, die gegen den »Se*
baldus Nothanker« gerichtete Satire »An die Hexe zu Kadmonbor«.
' Vgl. Hamanns Äußerung in s. Brief an Nie. vom 21. III. 62 = Roth 3, 141, er
lebe »als ein Fremdling« im Gebiet der zeitgenöss. Literatur.
' Diese Verwandlung d. Züge »i. Zeichen d. Kreuzes« (Minor, Hamann S. 33) in
»Kreuzs u. Querzüge« beruht auf einem Gedächtnisirrtum Nie. und ist wohl kein
absichtlicher Spott; der Irrtum Nicolais ist jedoch recht bezeichnend. Die Deu^
tung auf Hippels »Kreuz; u. Querzüge des Ritters A bis Z« ist schon wegen
der unmittelbar folgenden Namensnennung Hamanns ausgeschlossen.
149
JUNG STILLING
Der Ablehnung des Sebaldus Nothanker durch Hamann im Jahre
1774 folgte nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des Nicolai*
sehen Romans Heinrich Jung Stillings »Schleudereines Hirten*
knaben gegen den hohnsprechenden Philister den Verfasser des
Sebaldus Nothanker« im Jahre 1775 — gerade noch rechtzeitig
genug, um Nicolai auch in seiner Ablehnung Hamanns zu be*
stärken. Jung Stillings Zugehörigkeit zur »Hamann^Partei« hatte
Chr. H. Schmid in dem erwähnten Mercuraufsatz hervorgehoben;
zudem wurde Nicolai über Jung Stillings Zusammenhang mit den
Jungen, insbesondere mit Goethe, durch Bretschneider und einen
Krefelder Korrespondenten, Engelbert vom Brück, unterrichtet.
Bretschneider setzte Nicolai auseinander, »wie das zusammenhängt,
daß der Hirtenknabe Jung ein Freund Goethes sein kann«^ und
beide versichern ihn sogar, daß Goethe Jung Stilling zur Heraus*
gäbe der »Schleuder« ermuntert habe-.
Richard Schwinger ist auf diese wie die folgenden Schriften Jung
Stillings^, sowie auf die Entgegnungsschriften aus dem Nicolaischen
Kreise* bereits ausführlich eingegangen^; sie mögen daher hier nur
kurz berührt werden.
Jung Stilling geht davon aus, daß Nicolai sich der »aufgeweckten
Schreibart« des Romans nur bedient habe, weil er vorausgesehen
habe, daß sein »trockener dogmatischer Stil« bei den deutschen
Jünglingen keinen Beifall finden werde. Demgemäß hält er sich auch
nicht lange mit einer ästhetischen Kritik des Romans auf, sondern
tut ihn von diesem Gesichtspunkte aus kurzerhand als »Lehrjungen*
' Bretschneider an Nicolai, 16. X. 75 NN.
^' Bretschneider an Nicolai : 18. IX. und 25. IX. (NN) und E. v. Brück 15. XI. 75
(ebd.). Auch R. Schwinger (S. 238) verzeichnet diese Tatsache. — Nicolai gibt diese
Nachricht übrigens an Merck weiter (28. XII. 75 = Wagner, Briefe an Merck, S. 80).
"^ »Die große Panacee wider die Krankheit des Religionszweifels«, Frankfurt 1776
und die »Theodicee des Hirtenknaben als Berichtigung und Verteidigung des^
selben«, Frankfurt 1776.
* Insbesondere Engelbert vom Brucks »Anmerkungen über die Schleuder eines
Hirtenknaben dem verständigen Publikum zur Einsicht mitgeteilt« (1776) und
»Abbitte an das einsichtsvolle Publikum wegen der Anmerkungen über die
Schleuder eines Hirtenknaben« usw. (1776).
^ R. Schwinger, S. 233 ff.
150
arbeit« ab. Denn der vornehmste Gegenstand seiner Kritik ist die
religiöse Grundlage des Romans, den er als Vorzeichen des Anti*
Christ betrachtet. Insbesondere tritt Stilling gegen die Verhöhnung
des Pietismus auf, wie er sie im Nothanker sah: Deismus kann er
Nicolai freiHch nicht geradezu nachsagen, aber gerade das Schwan*
keh zwischen echtem, d. h. pietistischem Christentum und deistischer
Aufklärerei wirft er Nicolai vor; wie Lavater gleichzeitig Goethe
vor das Dilemma stellt: »Entweder Christ — oder Atheist!«, so for*
dert Stilling: »Wir müssen entweder Christen . . . oder Deisten sein ;
diejenigen, welche zwischen beiden den Mantel nach dem Winde
hängen, sind Nothankers« (S.67). Dieses Schwanken recht eigentlich
erscheint ihm als der Ausdruck einer im Grunde irreligiösen Natur,
wie der Nothanker ihm deshalb religionsfeindlich erscheint, weil er
gegen den offenbarten Glauben lau mache. Vor dem höchsten Tri*
bunal aber gibt es eine solche Halbheit nicht; und darum wird Ni*
colai, wenn er dereinst vor Gottes Richterstuhl gefordert wird, wo
»keine Berliner Schule, kein schöngeisterisches Tribunal« mehr ist,
das gestrenge Urteil hören müssen: »Weiche von mir. Du gehörst
in mein Reich nicht!« — Im einzelnen polemisiert er sodann mit
ätzender Schärfe gegen einige Wendungen des Nothanker, die ihm
geeignet scheinen, das Ansehen der Geistlichen zu schädigen, und
verdeutlicht in einer zusammenfassenden, an symbolisierender
Bibelhermeneutik genährten ParabeF den zersetzenden Geist des
Romans. Diese Einzelpolemik konnte ihn freilich, wie er selbst
befürchtet^, in eine Reihe mit den »Dumm#Orthodoxen« stellen;
daher sieht er sich genötigt, in der »Panacee« (s. o. S. 150, Anm. 3)
seine religiösen Überzeugungen, und in der »Theodicee« im spe:
ziellen die gegen seine Nothanker^Abwehr vorgebrachten Be*
schuldigungen nochmals zu erweisen. Bemerkenswert mußte für
Nicolai in der letzteren Schrift die von der Erkenntnis, daß er sich
recht gefährliche Feinde zugezogen habe^, veranlaßte förmliche Ab*
bitte* wegen etwaiger persönlicher Beleidigungen Nicolais sein.
^a. a. O. S.91ff.
- »Heinrich Stillings häusliches Leben«, 1789, S. 95; hier zitiert nach R. Schwin»
ger, S. 239.
' ebd.
"* »Theodicee«, Vorwort S. Vlll.
151
Auch hier aber forrauHert StiHing seinen Standpunkt äußerst scharf,
»daß dieses Buch . . . (sc. der Nothanker) ein der Kirche Christi
und der wahren Menschenverbesserung zuwiderlaufendes und we*
gen seines großen Abganges höchst schädHches Buch sei«, daß der
Roman durch seine Forderung der Toleranz in Glaubensdingen zur
Gleichgültigkeit verführe, und daß er die »Verfeinerung und Ver«
geistigung der Sinnlichkeit« erstrebe, der »wahren Menschenver*
besserung« aber schade — viel stärker sogar als etwa Wielands
»Agathon«, der zwar zur »Wollust, aber auch zur Wiederkehr« reize,
während der Sebaldus Nothanker »Religionsspötter die Menge«
»ohne Hoffnung der Besserung« erzeuge S. 194).
Was wir bei allen Hamannschen Streitschriften gegen die »Ber*
liner« erkannten, daß ihre Tendenz zwar subjektiv höchst bedeu?
tungsvoll ist, indessen ihren Gegenstand objektiv verfehlt, läßt sich
auch hier feststellen. Nicolais Religiosität war keineswegs bloß er*
kenntnismäßig orientiert, seine Dogmenkritik entsprang nicht einer
irreligiösen Überheblichkeit, sondern religiösem Bedürfnis, und
speziell in den Jahren der Entstehung des Nothanker läßt sich
eine stärkere Hinneigung zum geschichtlichen Christentum bei ihm
nachweisen^; dem Pietismus allerdings stand er, wie wir schon im
ersten Kapitel dieser Untersuchung erkannten, feindlich gegenüber^.
Von dieser Stellung aus wird die kühl abwehrende Rezension ver*
ständlich, die Nicolai den Stillingschen Schriften in der Allgemeinen
Deutschen Bibliothek^ zuteil werden ließ. Nicolai glaubt es nicht
nötig zu halben, sich gegen die Stillingschen Angriffe zu verteidigen.
Er hält es vielmehr für unmöglich, mit Stilling zu streiten, weil
dieser seinen Roman derart ,willkürlich verzerrt habe. Stilling sei
aber um so weniger zu überzeugen, als er ein »Schwärmer« sei, bei
dem »die Erleuchtung des inneren Lichtes . . . immer stärker sein
werde, als alle Aufklärung der gesundenVernunft«. Denn inzwischen
hat Nicolai an Lavater die Erfahrung gemacht, daß das »innere
' Wie auch Nicolais Gegensatz zu Bahrdt als der des historischen Christentums
zum ungeschichtlichen Standpunkt Bahrdts zu erklären ist: vgl. Aner S. 103.
- Dementsprechend deutet Aner (S. 78) auch seine »Zurückhaltung gegenüber
der Persönlichkeit Jesu« als »Reaktion gegen die Überschwenglichkeiten des
Pietismus«. jp^
' Anhang zum 25. 36. Bd S. 879.
152
Licht« sich eben nicht ohne weiteres ausblasen läßt; wir dürfen an*
nehmen, daß diese spezielle Erkenntnis sich auf die »Kraft* und
Wunderpartei« im allgemeinen bezieht.
Stilling war nach diesen Streitschriften jedenfalls für Nicolai, wie
überhaupt für die Allgemeine Deutsche Bibliothek abgetan. Höpfner
suchte Nicolai für Jung Stillings Jugendgeschichte durch einen Ver*
gleich mit Werthers Leiden einzunehmen^; Nicolai überging diesen
Vergleich, fertigte aber die Jugendgeschichte mit kurzen Worten ab -.
Die Rezension derselben, an der Höpfner Anstoß nahm^, war
ihm freilich ziemlich unangenehm*; sie stand, zusammen mit der*
jenigen der Stillingschen »Wanderjahre« im ersten Stück des 50. Ban*
des der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (S. 204 ff.) und stammte
von Biester, der seinen früheren Göttinger Freunden unter dem Ein*
fluß Nicolais immer mehr entglitt; sie war ganz im Sinne jener Ni*
colaischen Rezension gegen den pietistisch * mystischen Zug des
Stillingschen Buches gerichtet. Auch eine spätere Rezension der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek^ gegen den Stillingschen Ro*
man »Geschichte Florentins von Fahlendorn«, vermutlich von
Rüling verfaßt^, ist trotz mancher Anerkennung im einzelnen ab*
lehnend gehalten und tadelt besonders heftig, daß Stilling »Cha*
raktere aufstellt, die den Glauben an uns selbst überspannen, und
' An Nicolai 20. VII. 78 NN.
- Nicolai an Höpfner 21. XII. 78. Hs. im Hochstift, Frankfurt.
' Höpfner an Nicolai 16. XII. 78 NN.
* Zu den »verdrießlichen Dingen« gehöre »die Rezension von Stillings Jugend,
die mir sehr unangenehm ist, unerachtet sie im Grunde wahr und richtig ist«.
»Nachdem sie abgedruckt worden« — ohne daß er sie im Manuskript gesehen
hätte — »schrieb ich dem Rezensenten: ich wünschte, daß sie gelinder gewesen
wäre, weil D. Jung mich so feindlich angegriffen habe, und man glauben könnte,
ich hätte mich dadurch rächen wollen, wovon ich weit entfernt bin. Aber der
Rezensent hatte nicht einmal gewußt, daß Jung der Verf. war, und die Rezension
verteidigte er durch solche Gründe und Anführung von Stellen aus dem Buche,
daß ich nichts dagegen zu sagen wußte«. »An der Rezension habe ich keinen
Anteil. Soll ich den Rezensenten zwingen, wider seine und sogar wider meine
Überzeugung zu reden?« (An Höpfner 21.X1I.78, Hs. im Hochstift, Frankfurt.)
• Allg. Dtsch. Bibliothek 58, 1, 121 ff.
' Sie ist mit deutschen Buchstaben »Mg« unterzeichnet, was sich bei Parthey und
in den Zeichenbüchern nicht erklärt findet; »Mg« mit latein. Buchstaben ist
V. Rülings Zeichen, der in diesen Jahren mehrere Rezensionen zum Artikel
»schöne Wissenschaften« beigesteuert hat.
153
so einen Enthusiasmus anzündet, der am Ende nichts als Leere,
tötende Kleinmut und Ekel des Lebens zurückläßt«. Wenn Stilling
aber »das Zehrungsfieber der Empfindelei« bekämpfen wolle, so
komme er zu spät; »seit 10 Jahren« habe man so »Öl ins Feuer« ge=
gössen — ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr ihn die Allgemeine
Deutsche Bibliothek zur »Wertherpartei« rechnete. —
FR. H. JACOBI
Am Sebaldus Nothanker entzündete sich auch die Feindschaft
Friedrich Heinrich Jacobis, Wenn diese sich auch zunächst nicht in
öffentlicher Fehde geäußert hat, wie Jung Stillings Ablehnung, so
hat sie doch dazu beigetragen, Nicolai zu isolieren. Fr. H. Jacobis
Einfluß ist es zuzuschreiben, wenn die Halberstädter, wenn be*
sonders Wieland sich von Nicolai abwandten, und dieser letztere
Nicolai in einen literarischen Streit verwickelte, in dem die Jungen
schadenfroh Wielands Partei nahmen. Ja, er schürte Goethes Haß
gegen Nicolai, reizte Voß zur Fortsetzung seiner »Verhöre« Nicolais
und mischte sich in die Streitigkeiten Nicolais und Lavaters^. Es
zeigt sich hier wiederum, daß der äußere, ereignismäßige Verlauf
Nicolais Verhältnis zum Sturm und Drang beeinflußt hat; theore*
tische Erwägungen könnten vermuten lassen, daß die böse Kari*
kierung Johann Georg Jacobis im »Sebaldus Nothanker«, die seinen
Bruder Friedrich Heinrich zur Bekämpfung des Romans eigentlich
veranlaßten, Nicolai und den Sturm und Drang, wegen der beiden
gemeinsamen Ablehnung des süßlichen Anakreontikers" sich hätten
einander nähern lassen; das gerade Gegenteil aber war der Fall.
' Vgl. Felix V. Kozlowski, »Zum Verhältnis zwischen Fr. H. Jacobi, Wieland,
Nicolai« Euphorien XIV, 38 ff.; Wilhelm Herbst. »Joh. Heinrich Voß«, S. 243f.
- Über die Ablehnung Johann Georgjacobis durch die Stürmer vgl. etwa Goethes
im Herbst 1772 entstandene, nicht erhaltene Posse »Das Unglück der Jacobis«
(dazuWeim. Ausg. 38, S. 420f.; Biedermann, Goethes Gespräche I, S. 29ft. undV,
8 f.), und die etwas spätere Goethesche Rezension in den Frankf. Gel. Anz. von
1772 (S. 670 des Neudrucks D. L. D. 7 8); ferner satirische Hinweise im »Jahres=
marktsfest zu Plundersweilen« (vgl. W. Scherer, D. L. D. 7,8, S. XLVf.), Goethe
an Kestner März 1774; Schubart, Deutsche Chronik 1774, I, S. 142; H.L.Wagner
in »Prometheus, Deukalion u. s. Rezensenten«. Nicolai stichelt noch im Feynen
kl. Almanach gegen Joh. G. Jacobis »Iris« (vgl. EUingers Neudruck S. XVII,
154
Die Karikatur J. G. Jacobis in der Figur des empfindsam tändeln*
den Säugling im Sebaldus Nothanker wurde von Friedr. H. Jacobi
sofort erkannt ; die Beleidigung seines Bruders mußte gerächt werden,
und Fritz Jacobi erhoffte von Wielands Seite hier tatkräftige Unter*
Stützung. Wieland aber veröffentlichte im Gegensatz zu Jacobis
Hoffnungen jene schon oben (S. 106) erwähnte lobende Rezension
des Sebaldus Nothanker, die Jacobi nur noch mehr in Harnisch
brachte. Wielands Entschuldigungen^ überhörte er, glossierte viel*
mehr in einem Brief an Gleim^ Wielands Verhalten als zweideutig
und der bis dahin gepflogenen Freundschaft geradezu ins Gesicht
schlagend. Gleim, wie überhaupt die Halberstädter, waren nun
schon ohnehin durch das Verhalten Wielands gegen Heinse, ins*
besondere sein absprechendes Urtei4 gegen dessen Fetron*Über*
Setzung gereizt^. Als daher Gleim seinen Freunden vorschlägt, sich
ein »Wintervergnügen« zu machen und eine Sammlung von Epi*
grammen gewissermaßen als Bundesumlage zu veranstalten, in denen
Anm. 2), wie er auch in einem Epigramm, das im Göttingischen Musenalmanach
von 1772 erschien, Jacobi recht arg mitnahm (vgl. hierüber auch s. Brief vom
14. VIII. 72 an Joh. Georg Zimmermann = Ed.Bodemann, »Joh.S.Zimmermann«-
S. 502). \gl. ferner die vorangegangene abfällige Besprechung von Jacobis »Som=
merreise« und »Winterreise« in der Allg. Dtsch. Bibliothek XI, 2, 169 ff. Daß
die Charakterisierung Joh. G. Jacobis im Nothanker den Zeitgenossen sehr ein*
leuchtete, beweist z. B. die Tatsache, daß die Rezension einer Wertherparodie
(»Leiden des jungen Franken, eines Genies«, Minden 1777 = Appell S. 178) im
Berliner Literar. Wochenblatt vom 4. V. 77 »Säugling« als Typ des süßlich=weich*
liehen Gecken bei ihren Lesern als bekannt voraussetzen durfte; schon hieraus
sieht m.an übrigens, wie sehr dieser erste Nicolaische Angriff in den späteren
Wertherstreit hinüber wirkte. Vgl. auch Voß an Ernestine 16. V.73 (= Briefe von
und an Voß ed. Abraham Voß 1, 212), der »Säugling« = Jacobi ebenfalls als Typ
des süßlichen Gecken annimmt und weitergibt.
^ Wicland an Fr. Jacobi 16. VII. 73 = »Fr. H. Jacobis auserles. Briefwechsel« ed.
F. Roth, Leipzig 1825 1, 116ff. Wieland beteuert dort, daß er die Satire gegen Joh.
Georg nicht bemerkt habe (!); in s. Brief vom 14. VIII 73 (ebenda S. 133f.) urteilt
er, daß die Figur des Säuglings »kein Pasquill«, »ja kaum eine PersonaUSatire»
darstelle; vgl. aber die im Anhang wiedergegebene Stelle aus Boies Brief an
Nicolai vom 14. IX. 73, wo Boie mitteilt, Wieland habe die Gleichung Säugling*
Jacobi sehr wohl bemerkt.
* Fr. H. Jacobi an Gleim 6. VIII. 73, mitgeteilt von Felix v. Kozlowski Eupho*
rion XIV, 38 ff.
' Vgl. H. Proehle, »Die Büchse« = Schnorrs Archiv für Literaturgeschichte IV
3 23 ff.
155
über »Kritiker und Journalisten« zu Gericht gesessen werden sollte,
muß Wieland arg herhalten. Das Bezeichnende aber — und in unse*
rem Zusammenhange Merkwürdige — ist, daß hier weit schärfer als
gegen Wieland von den Bundesdichtern gegen Nicolai Stellung ge»
nommen wurde. In den Epigrammen, die H. Proehle aus dieser
Halberstädter »Büchse« mitteilt, finden sich weit zahlreichere
und schärfere Glossen gegen Nicolai, als gegen die anderen hier
mitgenommenen Kritiker^; zumal der Sebaldus Nothanker wird
immer wieder zum Gegenstand des Spottes gemacht, daneben haupt«
sächlich die Allgemeine Deutsche Bibliothek und Nicolais eigene
Person. Ob Nicolai etwas von der »Büchse« als solcher bekannt
wurde, kann nicht ausgemacht werden, wenngleich es immerhin
wahrscheinlich ist, daß ihm Einzelheiten bekannt wurden, wie er
auch z. B. Kästners Epigramm, mit dem dieser nach Herders Aus*
druck^ »Sebald angestochen«, von Gülcher und dem Allerwelts*
freund Bretschneider zu hören bekam ^; ebenso wahrscheinlich ist,
daß Wieland von diesen Angriffen etwas vernahm. In jedem
Falle zeigte Nicolais bald darauf erscheinende Rezension von Wie=
lands »Teutschem Mercur« * das Bewußtsein der Zusammengehörig?
keit mit Wieland gegen gemeinsame Gegensätze, wie denn auch bei*
spielsweise Herder sich schon kurz vorher gelegentlich Nicolais
Besuch bei Wieland in Weimar (1773) zu Hamann dahin geäußert
hatte, daß »die Sprosse der toten Wurzel aus Berlin, Hr. Fr. Nicolai,
mit der Weide an den Wasserplätzen Weimars« zusammengehöre^.
* Weiße, Unzer, Mauvillon, Sturz, Raspe u. a.
= Herder an Hamann 29. VII. 75 = O. Hoffmann S. 105.
^ Gülcher an Nicolai 15. VIII. 75 u. Bretschneider 8. III. 76, was schon R. Schwing
ger S. 211 erwähnt.
* AUg. Dtsch. Bibliothek 21, 1, 300ff. Die Rezension ist mit Kf unterzeichnet,
was Parthey und das Original der Zeichenbücher nicht erklären. Nicolais Autors
Schaft ist aber durch seine Notiz (Göckingk S. 55) belegt, daß Wieland durch
eine Rezension seiner Alceste und dadurch erbittert gewesen sei, »daß ich (Ni=
colai) über den Mercur mit einer feinen Wendung (!) meine Meinung gesagt
hatte«. Die »feine Wendung« besteht in der Parabel von den samischen Ge=
fäikn, die bisweilen recht viel größer waren, als die darin versandten Wein=
krüge, und deshalb mit »Moos und Sand« ausgefüllt wurden. Die Klage, daf^
Wieland seinen Mercur mit zu viel Ballast beschwere, wurde übrigens häufiger
gehört.
* Herder an Hamann 25. III. 75 = O. Hoffmann a. a. O. S. 94.
156
In dieser Rezension, in der Nicolai sich nochmals gegen Joh. Georg
Jacobi wendet', findet sich der gemeinsame Gegensatz recht scharf
angedeutet. Wieland, meint Nicolai, schreibe nicht für den »Bürger
von Güstrow", den Ramlers Oden anstinken«, nicht für den »Ein*
wohner Wandsbecks;^ oder Sachsenhausens*, der nur liebt, Barden?
getön von den Bergen weicher tönen zu hören und der Prose und
Verse für Spreu hält, wenn sie nicht kühnen Wurfs Metaphern und
Kraftsprüche unter didaktischeLehrsätze und harte Konstruktionen,
und deutsche Männlichkeit unter Schlemperlieder werfen, und der
sich freut, daß die Krankheit von Helikonsberge wie ein epidemi*
sches Nervenfieber um sich greift und einen Jüngling nach dem
andern überwältigt«; ebensowenig aber könne Wieland mehr für
den »Freund Halberstadts, der mit den sieben Poeten freundschaft*
lieh sympathisiert, die Lieder für das Volk singt« usw., seinen Mer*
cur schreiben; er schreibe ihn also »für sich und seine Freunde«. Um
so schmerzlicher mußte Nicolai dann von der ein Jahr später er*
folgenden, schon erwähnten Absage Wielands berührt werden;
\X'ieland versagte gerade dort seine Gefolgschaft, wo Nicolai sie
am stärksten erhofft hatte, im Kampf gegen die Jungen; denn in*
dem er der Anzeige der Nicolaischen »Freuden Werthers« jenen
heftigen Angriff gegen Nicolai anfügte, der eine öffentliche Fehde
beider zur Folge hatte, sah sich Nicolai gerade hier isoliert; und
Wieland zerschnitt nicht nur die Fäden ihres zukünftigen Ver*
hältnisses, sondern suchte mit den Worten: »Hr. N. ist nie mein
Freund gewesen«, seiner Absage auch rückwirkende Kraft zu ver*
leihen^.
Das direkte persönlich * literarische Verhältnis Nicolais und
Fr. H.Jacobis ist ein wenig beziehungs* und aufschlußreiches Ka=
pitel. Äußerungen Nicolais über Fr. H.Jacobis Romane sind mir
nicht bekannt geworden. Die drei Briefe Fritz Jacobis, die sich in
' Nicolai findet, dai^ selbst dessen von Wieland als schönstes Stück gepriesenes
»Charmides und Theone« noch recht weichlich und empfindsam ist.
- Joh. H.Voß gemeint?
^ Natürlich iMathias Claudius.
* Die Mitarbeiter der Frankf. Gel. Anz.
* Über den an diesen Angriff sich anschließenden Streit vgl. die Darstellung
L. Geigers. »Wieland und Nicolai« — »Im neuen Reich« 1881, 2, 417ff., vgl. auch
oben S. 60.
157
Nicolais Nachlaß befinden \ sind fremd und korrekt geschriebene
Literatenbriefe ohne Bedeutung; höchstens der erste, der Nicolai
Jacobis enge Beziehungen zu Wieland erraten ließ^, ist von einigem
Interesse; Nicolai hat ihn, wie aus seiner Notiz auf der Rückseite
hervorgeht, mit der Übersendung eines Bandes der Bibliothek und
des Sebaldus Nothanker beantwortet. Jacobi hat dafür später die
Pränumeration für zwei Nicolaische Verlagswerke^ übernommen,
aber die eingesammelten Gelder Nicolai zu übersenden verabsäumt;
einen Mahnbrief Nicolais beantwortet er mit Entschuldigungen
und dem Versprechen, Nicolai in Berlin aufzusuchen; ob es das ge«
tan hat, ließ sich nicht feststellen. Erwähnt sei hier noch, daßFr.Ja*
cobis Bild vor dem 54. Band der Allgemeinen Deutschen Biblio=
thek stand; Nicolai hatte die Vorlage für den Kupferstecher durch
Vermittelung Justus Mosers erhalten*. Der letzte Briefwechsel Ni*
colais mit Fr. H. Jacobi, aus dem R. Zoeppritz ein für Nicolai un*
gemein charakteristisches Bruchstück aus Nicolais Nachlaß ver?
öffentlicht hat^, ist nur im Zusammenhang der ganzen theologischen
Streitigkeiten der späteren achtziger Jahre verständlich, auf die hier
jedoch nicht eingegangen werden kann.
NICOLAI UND HERDER
Die Ablehnung des »Sebaldus Nothanker« durch Hamann, Jung
Stilling, Fr. H. Jacobi hat, wie wir sahen, eine Kluft zwischen der
Geniepartei und Nicolai geschaffen, und sein subjektives Verhält*
nis zum Sturm und Drang arg erschüttert. Diese Erschütterung al*
lein würde jedoch bei der dem Kompromiß geneigten Art Nicolais
' Sie sind vom 3. IV. 73 aus Aachen, vom 27. III. 78 und 9. VI. 80 aus Düsseldorf
datiert.
- Fr. H. Jacobi bittet Nicolai, auch seinerseits zu verhindern, dal^Wielands Agas
thon durch dessen Verleger zu einem niedrigeren Preis als dem Pränumerations-
preis in den Buchhandel gelangt.
' Die Übersetzung von Amorys »life of John Bunde« und das »Technologische
Wörterbuch« von J. K. G. Jacobsen.
* Vgl. Justus Moser an Nicolai, Brief aus dem Jahre 1782 (ohne Datum), Mit-
teilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück. Neue
Folge. 31, 255 ff.
* »Aus Fr. H. Jacobis Nachlaß«, hrsg. von R. Zoeppritz, Leipzig 1869, I, 97 ff.
158
nicht die in ihm ruhenden Widerstände zu jener konsequenten und
hartnäckigen Bekämpfung des Sturms und Drangs sich haben ent*
falten lassen, wie sie aus den Darstellungen bekannt ist. Die Ab«
lehnung Hamanns beschwerte Nicolai wegen ihrer grotesken Form
nicht allzusehr, und seine Gegenwehr hätte sich auch ohne tief*
gehende prinzipielle Auseinandersetzung aus dem vorangegangenen
persönlich^literarischen Verhältnis ergeben können; Jung Stillings
Ablehnung hätte von Nicolai als natürliche Reaktion gegen den
pietismusfeindlichen Standpunkt des Nothanker aufgefaßt und
somit relativ leicht abgetan werden können, wenn nicht, was wir
schon oben andeuteten, wichtige andere Faktoren mitgewirkt
hätten; Friedrich H.Jacobis Ablehnung endlich ist Nicolai mög*
licherweise erst später, und natürlich nur auf indirektem Wege
bekannt geworden, und hat daher, so wichtig sie für das objektive
Verhältnis Nicolais zum Sturm und Drang ist, auf das subjektive
Verhältnis keinen Einfluß haben können.
Unter den Faktoren, die sich hier einschoben, steht an erster Stelle
die scheinbar unvermittelte, und, wie wir sehen werden, Nicolai
zunächst unverständliche Absage Herders an Nicolai, die im Som«
mer 1774 einem achtjährigen freundschaftlichen Briefverkehr ein
Ende setzte. An dieser Stelle traten in jeder Beziehung äußerst
scharfe prinzipielle Gegensätze auf, deren Bedingungen auf Herders
Seite sich natürlich erst allmählich gebildet und gefestigt hatten. Es
ist daher notwendig, einen kurzen Blick auf die Entwicklung und
Gestaltung der Beziehungen zu werfen, die beide Männer durch
acht Jahre hindurch miteinander verknüpft hatten.
Die äußere Erbschaft der Literaturbriefe, urteilt Rudolph Haym\
trat im Jahre 1766 Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek, ihr
geistiges Erbe Herder mit seinen »Fragmenten über die neuere
deutsche Literatur« an. Dort ein mit allen äußeren Voraussetzungen
begabtes, groß angelegtes LTnternehmen; hier das Erstlingswerk
eines Unbekannten, abseits vom großen literarischen Betriebe ent*
standen, und doch, trotz der Anonymität des Autors, seinen Namen
bald von Mund zu Mund führend. Niemand, von den persönlichen
Freunden abgesehen, konnte den Fragmenten regeres Interesse ent*
gegenbringen als die Literaturbriefsteller, und unter ihnen besonders
' Rud. Haym, »Herder nach seinem Leben und seinenWerken<'. Berlin 1 880. 1, S. 1 23.
159
Nicolai, der in der Anfangszeit der Allgemeinen Deutschen Biblio*
thek eifrig nach allen begabten, selbständigen Köpfen Ausschau
hielt. Merck witzelt einmal, als er von der zwischen Nicolai und
Herder geschlossenen literarischen Verbindung hört: »Es scheint
jetzo die verkehrte Welt zu sein; das Brod geht nach Genie, und
nicht das Genie nach Brod\« Er hat damit einen für den Charakter
beider Männer recht bemerkenswerten Zug hervorgehoben.
Am 19. XI. 66 sendet Nicolai »An den Verfasser der Fragmente
über die neuere deutsche Literatur«^ durch Vermittlung von dessen
Verleger Hartknoch einen Brief, in dem er Herder recht Schmeichele
haftes über die Fragmente sagt; die Literaturbriefsteller seien er*
staunt über die »Belesenheit« des Verfassers in den Literaturbriefen ;
sie seien, wie erklärlich, nicht in allen Stücken seiner Meinung, hätten
aber »das reinste Vergnügen« über die Gedanken eines so »einsichts*
vollen Mannes« empfunden. Er stellt sodann einige unwesentliche
Irrtümer des Fragmentisten nebenher richtig und hebt einen Haupt*
mangel der Herderschen Kritik an den Literaturbriefen hervor, in*
dem er daraufhinweist, daß Herder öfters Stellen aus verschiedenen
Briefen und von verschiedenen Verfassern seinen Bedürfnissen ge*
maß zusammenschiebe, so daß bisweilen der Zusammenhang fehle.
Er sieht in Herder — für unser heutiges Empfinden, das von vorne*
herein auf die tiefgehenden Unterschiede der Auffassungsweise in
Literaturbriefen und Fragmenten eingestellt ist, schwer verständlich
— einzig den Jünger der Literaturbriefe, gerade zu der Zeit eine
willkommene Ergänzung des Kreises, als durch Thomas Abbts Tod
eine Lücke gerissen war'^. Was ist natürlicher, als daß er diesen be*
gabten jungen Autor für sich gewinnen will, wie Moses einst den
' Merck an Nicolai 7. XI. 72.
- Wohl war Nicolai Herder als Verfasser der Fragmente bekannt, doch vermied er
es, mit dieser Kenntnis dem Verfasser, der unbekannt bleiben wollte, zudringlich^
vertraulich entgegen zu springen. O. Hoffmanns Urteil (Vierteljahrsschr. 1, 121),
Nicolai habe hier »ein geradezu lächerliches Versteckspiel« mit Herder begonnen,
da durch Hamann Herders Name in Berlin schon zwei Jahre früher bekannt ge=
worden sei, ist mir um so weniger verständlich, als Herder doch damit noch nicht
als Verfasser der Fragmente in Berlin bekannt geworden sein mußte. Nicolai be;
nahm sich hier vielmehr nur taktvoll, wenn er erst im zweiten Brief mit einer
launigen Wendung Herder zur Ablegung der Maske veranlaßte.
^ Wie Herder auch sogleich zwei Abbt zugedachte (vgl. Nicolai an Herder 2.V.67)
Rezensionen, nämlich die zweier TacitussÜbersetzungen, aufgetragen erhält.
160
Verfasser der Schrift >A^om Tode fürs Vaterland« zu den Literatur*
Briefen eingeladen hatte, in der Hoffnung, ihn in gemeinsamer Ar*
beit zu einem Literaturbriefsteller zu erziehen. Wenn aber die Lite*
raturbriefsteller Thomas Abbt erst in die Art der Literaturbriefe
einführen mußten — war es nicht leichter, LIerder, der sich schon
mit dem in ihrem Kreise geübten Verfahren so bekannt erwiesen
hatte, seine kleinen Unarten abzugewöhnen? Als solche galt Ni*
colai vor allem Herders an Hamann genährte Schreibart; daher teilt
er Herder in diesem Brief, in dem er ihn für die Allgemeine Deutsche
Bibliothek wirbt, sogleich mit, was seiner Meinung nach Herders
Leistungen herabdrücke: der »Hamannische Cant«, zu dem sich
Herder »herablasse«, obgleich er doch »so gut schreiben« könnet
»Vous courez apres l'esprit, comme si vous n'en aviez pas« schließt
er. Es ist bemerkenswert, daß Nicolai auf die ebenso scharfsichtige
wie scharfe Beurteilung des Planes der Allgemeinen Deutschen
Bibliothek (in der »Einleitung« der Fragmente) nicht eingeht.
Herder, auf den »der Geist der Berliner Gelehrten« — insbeson*
deres Mendelssohns und Abbts — »sympathetisch gewirkt« hat",
wie er auch das Erscheinen der Allgemeinen Deutschen Bibliothek
mit großen Hoffnungen erwartet hat und sie fleißig liest^, ist über
das Nicolaische Anerbieten sicher erfreut; wenn er auch an Hamann
mit ganz kahlen Worten von einem »höflichen Brief« Nicolais voller
»Schmeicheleien und Entschuldigungen« berichtet, und ihm Nico*
lais Wort vom Hamannschen »Cant« mitteilt, so ist sein Ton hier
mit Rücksicht auf das ihm bekannte Verhältnis Hamanns zu Nicolai
gestimmt, das damals, wie wir sahen, auch eine äußere Entfremdung
erfahren hatte; von seinem Entschluß, der Nicolaischen Einladung
Folge zu leisten, teilt er seinem Mentor zunächst noch nichts mit.
Nicolai erhielt seine Zusage Ende Dezember* als das »angenehmste
' Noch am 12. VI. 69 NN. äußert sich Nicolai zu Iselin : »In den Fragmenten über
die deutsche Literatur ist wirklich, der gekünstelten Schreibart uner*
achtet, vieles gute.«
- Herder an Nicolai 19. II. 67.
' Vgl. Herder an Hamann 21. V. 65 = O. Hoffmann, Herders Briefwechsel mit
Hamann, S. 17 und Juli? 1766 = ebd. S. 26. Vgl. insbesondere Suphan I, 143 ff.
(Einl. zur ersten Sammlung der »Fragmente«).
* Der Brief Herders ist verloren gegangen; das Datum ergibt sich aus Nicolais
Antwort.
n Sommerfeld, Friedrich Nicolai 161
Weihnachtsgeschenk« S »glücklich genug«, in Herder »einen Mann
von Geschmack und Talenten entdeckt zu haben.« Jetzt freilich
muß er auch Herder zu dem Gegenvertrauen veranlassen, die Maske
seiner Anonymität abzulegen; er wisse zuverlässig, schreibt er, daß
»der Verfasser der Fragmente nicht Härder heißt«. Auf eine an?
scheinend gereizte Erwiderung Herders wegen des Angriffes auf
Hamann entschuldigt er seine Anmerkung über Herders Schreibart
als »nur beiläufig«, »übrigens aber meiner natürlichen Offenherzig*
keit gemäß«; doch gibt er dieser Anmerkung hier die schon oben
erwähnte prinzipielle Wendung, und bleibt dabei, daß Hamann
»ein betrübtes Beispiel« dafür sei, wie weit die Liebe zu Allu*
sionen den Schriftsteller verführen könne. Herders wohl vorsichtig
vorgebrachte Äußerungen über die geringe Qualität der ersten
Bände der Allgemeinen Deutschen Bibliothek widerlegt er mit dem
Hinweis auf die Jugend des Unternehmens und die Schwierigkeit,
die geeigneten Mitarbeiter zu finden — Widerstände, die es ihm
unmöglich machten, die von Herder gewünschte »idealische Form«
zu erreichen, und ihn nötigten, sich mit einer »practicableren« zu
begnügen. Sodann schlägt er Herder einige Rezensionen vor, und
zwar solcher Werke, die des Interesses Herders sicher zu sein schie*
nen, wie Schlegels Werke und Klotzens »Carmina« und »Opuscula«.
Diese recht lose geknüpfte Verbindung — denn auch Herders
Antwort vom 19. II. 67, »in Eil« geschrieben, bleibt recht sehr an
der Oberfläche — wird nun durch vier Momente befestigt, die zum
Teil zugleich schon einen Keim des späteren Verhältnisses enthalten.
Im zweiten seiner Briefe beklagt Nicolai mit warmen Tönen
Thomas Abbts Tod und legt damit Balsam auf eine Wunde Her*
ders. In der Tat: wer von den Literaturbriefstellern stand Herder
menschlich näher als Abbt? Wie er sich auch bemühte, sich für
Lessings kritische Schärfe bewundernden Beifall abzuringen, wie er
Moses Mendelssohns edles und einfaches Theoretisieren nachzu*
ahmen sich bestrebte — menschlich stand ihm Abbt am nächsten.
Man muß beobachten, wie Herder, wenn er Abbts Bildungsgang,
die Grenzen und die Möglichkeiten seiner Begabung, die ihm ge*
gebenen Ausdrucksformen untersucht, unwillkürlich — bei sich
selbst anlangt ; wie die Schilderung Thomas Abbts, wie er sie später*
1 Nicolai an Herder, 30. XII. 66.
162
hin im »Torso« gibt, zur Selbstschilderung Herders wird. Hier, bei
Abbts Namen, scheinen sich auch die Menschen Herder und Ni*
colai die Hand zu reichen; aber es ist nur wie eine flüchtige Bes
rührung, der auf beiden Seiten ein verlegenes Schweigen folgt. Ni>
colai teilt Herder die Absicht seines Ehrengedächtnisses für Abbt
mit. Der schwere Verlust soll Deutschland gezeigt werden, den es
durch Abbts Tod erfahren hat: mit Ausschaltung des persönlichen
Momentes sollen alle Vorzüge seines Charakters und seiner Be*
gabung dargestellt werden; doch macht er das Erscheinen der Bio*
graphie davon abhängig, daß er das nötige Material, von Abbts
Vater insbesondere \ erhält. Wie ganz anders Herder! Noch weiß
er nichts Persönliches über Abbt, oder doch höchst Ungenaues und
meist Erratenes, kennt kaum alle Werke desselben ^ aber doch
wünscht er durch ein Denkmal bezeugen zu können, was Abbt
ihm war: »ist je ein Autor so ganz nach seiner Denkart und Laune
so gleichsam ausfüllend für mich gewesen, so war er's in seinen
Schriften«^. Mit einem skeptischen Blick zwar auf Nicolai — »wie
wenige mögen es sein, die aus dem, was er geliefert, so völlig auf
das schließen können, was er hätte tun können und wollen« — aber
im ganzen doch, um des Toten willen, zufrieden, wenn überhaupt
nur ein Monument zustande kommt, ruft er Nicolai zu: »bauen Sie
ihr* Grabmal, statt daß Lebende es sich selbst bauen können!«
Schon im Brief vom 2. V. 67, in dem Nicolai mitteilt, daß sein Ehren«
gedächtnis »unter der Presse« sei, äußert Nicolai aber sein Befürch*
ten, Herder werde von seiner Schrift enttäuscht sein; er entschuldigt
sich im voraus und bittet Herder zu bedenken, daß sie in kurzer
Zeit während der Vorbereitungen zur Leipziger Messe entstanden
sei; zu der äußeren Schwierigkeit komme die innere, daß es im all«
' Wie dessen Briefe an Nicolai in N. N. beweisen; ein Bückeburger Korrespon«
dent berichtet (ebenda) über die letzten Lebenstage Abbts.
" So fragt er im Brief an Nicolai vom 19. II. 67, ob Abbt ein Schüler Baum=
gartens sei, ob das Orakel und die Zweifel über die Bestimmung des Menschen
von Abbt verfaßt seien, ob die im letzten Meßkatalog angekündigte veränderte
Auflage der Abhandlung »Vom Verdienst« noch zu erwarten sei usw.
'■' Herder an Nicolai ebenda.
* »ihr« in bezug auch auf A. G. Baumgartens und J. D. Heilmanns Tod; Herder
plante zunächst auch für diese beiden ein literarisches Ehrendenkmal; vgl. R.
Haym, S. 173 f.
n* 163
gemeinen recht schwer sei, das Leben eines Gelehrten zu würdigen,
zumal das eines jungen, von dessen zukünftigen Leistungen er per*
sönlich zwar durchdrungen sei, ohne sein Gefühl jedoch zum Aus*
druck bringen zu können, »aus Furcht, für einen Schmeichler ge=
halten zu werden«; er selbst fühle zwar, daß manches in seiner
Schrift recht trocken sei, »aber wer's besser machen könnte!« —
Auch Herder hat die Schwierigkeiten wohl empfunden, aber in ganz
anderer Art. »Von der Kunst, die Seele . . . des Anderen abzubilden«
ist die Einleitung zu seinem »Torso« ^ überschrieben; und hier ent=
scheidet er sich, daß es unmöglich sei, das fremde Bild ohne einen
Grad »verliebter Schwärmerei« in sich aufzunehmen und darzu*
stellen. Und doch: »die Kunst ist neidisch, daß sie das Beste nicht
ausdrücken kann: seine Seele«, zitiert er am Schluß. Er hat es aber
mit einem Seelenporträt zu tun, und »eine Menschenseele ist ein
Individuum im Reich des Geistes«; diese Erkenntnis ist die Rieht*
schnür seiner Darstellung auch dort, wo er die gesellschaftlichen
Bezüge von Abbts Existenz, den Bürger, den Gelehrten usw. ein*
bezieht. Für Nicolai aber sind die gesellschaftlichen Qualitäten
Orientierungspunkt, wenn nicht Maßstab seiner Darstellung; er
schildert das Werden, Leisten, SichsEinordnen eines begabten Men*
sehen in der Gesellschaft; was sie verliert, was Abbt ihr noch
schuldig geblieben, möglichst objektiv aufzuzeigen ist das Ziel
seines Ehrengedächtnisses. Herders Ziel ist eher darzustellen, was
die Gesellschaft Abbt schuldig geblieben ist: »Er trägt die Fesseln
seines Zeitalters ... Je mehr er sich um seineWelt verdient machen
will, desto mehr muß er sich nach ihr bequemen . . . um sie zu
bilden« (S. 265). Wie Zeitalter und Gesellschaft ihn zu dem bil*
deten, was er war, will er »in allen Nuancen erklären« — und »als*
dann ergänzen«: er will überall die Linien von dem was Abbt war,
weiterziehen zu dem, »was er hätte tun können und wollen«. Und
w^enn Nicolai Abbt nur als Strebenden, Nicht*Fertiggewordenen
darstellt, und wenn seine Manier, seine Eigenart für ihn das Nicht*
Vollendete, das durch fortgesetzte Bildung zu Tilgende ist, so will
Herder durch seine Totengabe eben diese Manier und Eigenart als
etwas Beglückendes festhalten; er will aus seinen Schriften »ein
Salböl ziehen, das uns zu seinen Nachfolgern einweiht« (S. 255).
^ ed. Suphan 2, 257.
164
Ob das Bild, das er gibt, mehr ein »ikonisches oder Idealbild« dar*
stellt, will und kann er nicht entscheiden — Nicolai hielt es jeden*
falls für ein Idealbild; er fand\ daß Herder Abbt auch da verteidige,
»wo er sich selbst schuldig erkannt hat«, nämlich in seiner stili=
stischen »Manier«. Und wenn Herder bei der Betrachtung dieser
Manier ausrief: »Dank seinen Freunden, daß sie ihm diese ,Aus*
wüchse' nicht raubten, ihm seine Gestalt ließen wie sie ist«; wenn
er den »schleppenden Paragraphenstil«, die »hüft* und marklose
Sprache der Wochenblätter«, »den artigen Anstand unserer schönen
Geister« geißelte und schließlich mit dem Wort: »Den Gästen soll
mein Gericht schmecken, nicht den Köchen!«- sich ein anderes Pu*
blikum erwählte als die Popularphilosophen — so antwortete Nico*
lai\ alle Invektiven Herders übergehend und ohne den Versuch
einer Widerlegung Herders, mit der ernsthaften Mahnung, sich
»einen planeren Stil anzugewöhnen«; Herders Schreibart sei »noch
immer allzu rätselhaft«, und er »verdamme seine Schriften, ehe noch
fünfzig Jahre ins Land gehen, einen Kommentator zu bekommen«.
Was konnte solcher Mahnung gegenüber Nicolais kahler Lobspruch
sagen, der Torso sei »voll bündiger Bemerkungen und kleinerWinke,
die zu vielem Nachdenken Anlaß geben«? Es ist kein Wunder, daß
Herder den Verfasser des Ehrengedächtnisses alsbald mit dem trok*
kenenWort »Lebensbeschreiber« bezeichnete*; der Gegensatz wird
uns deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er als Biograph
nicht minder denn als Kritiker »der Pygmalion seines Autors« sein
wollte^. Und es ist erklärlich, daß er wenige Jahre später, als er in den
»Gefundenen Blättern aus den neuesten deutschen Literaturannalen«
seinem Unmut gegen Nicolai Ausdruck gab, auch den Gegensatz
von Torso und Ehrengedächtnis zu bissigem Spott verwandte ''.
' Nicolai an Herder 14. VI. 68.
' Suphan 2, 280 ; Herder legt diese Worte Abbt in den Mund. Übrigens hat Herder
diese Stilpolemik im nicht erschienenen zweiten Teil des Torso (Suphan 2,325)
reichlich abgeschwächt — ein Anzeichen seines schwankenden Verhaltens in dieser
Periode.
' Nicolai an Herder.
' Herder an Hamann »Ende April 1768« = O. Hoffmann S. 45.
• ed. Suphan 1,291 (Einl. z. zweiten Sammig. s. Fragmente.)
' Suphan 5, 265 (1773; veröffentlicht 1774): » ob also der Herr Verleger nicht
wohl täte, statt anderer verunzierten sein eigenes Bildnis . . . nicht zu vergessen
165
TL^diV: enthalten also »Ehrengedächtnis« und »Torso« schon die
späteren Gegensätze im Keim; immerhin wuchs durch diese gemein*
same Beziehung zu dem toten Freund die gegenseitige persönliche
Anteilnahme. Wie durch die gemeinsame Freundschaft wird sie
auch durch die gemeinsame Feindschaft verstärkt. Der gemeinsame
Feind ist der berüchtigte Klotz.
Zwischen der zweiten und der dritten Sammlung der »Frag*
mente« liegt eine Wandlung Herders im Verhalten zu Klotz; hatte
noch die zweite Sammlung Klotz als feinsinnigem Kenner des Alter*
tums manches Lob gespendet, so flicht schon die dritte Sammlung
kritische Bemerkungen gegen den Hallenser ein. Hatten dement*
sprechend die Acta litteraria noch Herder unter der Rubrik der
»libri minores« mit wohlwollendem, aber geringwertigem Lob ab*
gespeist, so zog ihn die neugegründete »Deutsche Blibliothek«
Klotzens, durch einen ungeschickten ^ Brief Herders an Klotz gereizt,
in die Angriffe gegen die »Königsberger Sekte« mit hinein, und
versetzte Herder den schwersten Schlag, indem sie seine Anonymi*
tat enthüllte. Herders natürliche Gereiztheit und Streitsucht wird
nun von Nicolai, obwohl dieser gerade immer wieder zur Ruhe
mahnt, unwillkürlich noch mehr erregt, bis sie sich in den »Kriti*
sehen Wäldern« gegen Klotz und Riedel entlädt. Jenen »unge*
schickten« Brief an Klotz hat Herder an Nicolai zur Weiterbeförde*
rung nach Halle übersandt-; aber schon in dem sich mit dieser
Herderschen Sendung kreuzenden Briefe weist Nicolai auf den
Antipoden der Berliner Kritiker hin: »mich soll wundern, wie Hr.
Klotz Ihre Kritiken* aufnehmen wird; er kann sonst kaum auch
nur mäßigen Tadel vertragen, sondern möchte gern recht ins Ge*
sieht gelobt sein«. Nicolai hat sich in dieser Zeit von Klotz, der
einige Rezensionen zu den ersten Bänden der Allgemeinen Deut*
sehen Bibliothek beigesteuert hatte, losgesagt, und setzt sich kaum
ein Jahr später — in der Vorrede zum 2. Stück des 8. Bandes der
— sich immer ein lebendiges Lebens* u. Ehrengedächtnis — fehlt« (d. h. fehlt nach
der durch die Fiktion der »Gefundenen Blätter« bedingten Schreibart).
' So nach R. Hayms Urteil S. 213.
- Herder an Nicolai, Brief vom 10. X. 67.
■' Nicolai an Herder 20. XI. 67.
' sc. der Klotzischen »Carmina« und »Opuscula« = Allg. Dtsch. Bibliothek V,
1 und 2 = Werke ed. Suphan. 4, 239 ff.
166
Allgemeinen Deutschen Bibliothek — mit Klotz auch öffentlich aus?
einander. Seine Briefe an Herder sind in diesem Jahre voller War*
nungen gegen Klotz und dessen Anhänger, deren Praktiken er dem
unerfahrenen Herder enthüllt, in der Absicht, diesen der verderb*
liehen Berührung mit den Hallensern ganz zu entreißen. Er warnt
Herder vor Klotz als dem eitelsten Charlatan, der sich zur Erreichung
persönlicher Zwecke nicht scheue, Gelehrte durch Klatschereien
auseinanderzubringen, wie er ihm jetzt Heyne in Göttingen ab*
spenstig gemacht habe; er warnt vor J. G. Jacobi und Riedel, be=
sonders aber vor Gleim, der sich mit äußerster Liebenswürdigkeit
an alle in der Hoffnung heranschleiche, ihr Urteil über ihn zu be*
einflussen. Mit Freude sieht Nicolai, daß Herder auf seine Er*
mahnungen bereitwillig eingeht und bald in scharfen Ausdrücken
über die Klotzianer urteilt^; noch größer ist seine Freude natürlich,
als Herder dann in den Kritischen Wäldern gegen Klotz und Riedel
anläuft". Diese gegenseitigen Bekenntnisse gegen Klotz lassen erst
nach, als Herder in Frankreich ist und bekennen kann': »Was
Klotz und sein Anhang von mir hält, ist mir in der Entfernung
gleich viel; und wenn ich wieder erscheine, weiß ich meine Wege«;
denn inzwischen hat sich Hamanns schon oben gekennzeichneter
Standpunkt Klotz gegenüber auch bei ihm geltend gemacht^. Mit
Klotzens 1772 erfolgtem Tod ist diese Frage natürlich gegenstands*
los geworden. —
Eine rein persönliche Angelegenheit trägt ebenfalls dazu bei, dem
Verhältnis Herders zu Nicolai eine freundschaftliche Note zu geben.
Herder entschuldigt die Verzögerung seines Briefes vom 19.11.67
mit einer »unvermuteten Brustkrankheit«, die ihn »dem Tode nahe
gebracht« habe. Durch Hartknoch erfährt Nicolai von dem ungün*
stigen Gesundheitszustand Herders, auch von seinem Augenleiden.
' Besonders natürlich, als Herder die abfällige Beurteilung des Nicolaischen
Ehrengedächtnisses in Klotz' Bibliothek (IV, 44) im dritten Kritischen Wäldchen
(Suphan 3, 441) zu einem »Maßstab« des von Klotz geübten Verfahrens nahm.
- Nicolais Rat, in den Hamburgischen Korrespondenten, ein von Klotz durch
seinen Herausgeber, Wittenberg, abhängiges Blatt, ein bezahltes »Avertissement«
seines Verlegers einrücken zu lassen, in dem er gegen Klotz öffentlich vorgehen
sollte, hat Herder nicht befolgt.
' Herder aus Nantes an Nicolai 5.; 16. VIII. 69.
* Vgl. seinen Brief an Hamann schon v. November 1768 = O. Hofifmann S. 51.
167
Nicolai äußert sich nun um Herders Gesundheit sehr besorgt, wie
er auch später, als die Augenfistel Herders trotz mehrfacher Opera*
tionen sich nicht beseitigen läßt, seine Teilnahme ausdrückt. Da
der Bann nun einmal gebrochen ist, imd Herder ohnehin, wie ge*
wohnlich in seinen Briefen, stark abhängig von x\ugenblicksstims
mungen, allerlei unmutige Äußerungen über seine Rigaer Verhält*
nisse, über die Abgeschlossenheit vom literarischen Leben Deutsch*
lands, über die »Predigerfalte«, die er mehr und mehr bei sich spüre,
in seine Briefe einfließen läßt, äußert Nicolai den Gedanken, ob
sich Herder nicht in Berlin wohler fühlen würde; und schon hat der
Unermüdliche sich bei Spalding und Teller für Herder verwandt,
und Herder soll nun nur seine Bedingungen für die Übernahme
einer Stellung als zweiter Prediger und Alummatsinspektor in Berlin
angebend Herder, der inzwischen die Predigerstellung in Riga er*
halten hat, lehnt zwar ab, dankt indessen warm für Nicolais Für*
sorglichkeit. Auch späterhin hat Nicolai, trotzdem Herder auf seiner
Reise von Riga nach Frankreich Berlin in weitem Bogen vermeidet,
bei jeder sich bietenden Gelegenheit Herder nach Berlin zu ziehen
versucht. In der fortgesetzten bündigen Ablehnung der Nicolai*
sehen Angebote durch Herder, dessen Abneigung gegen Berlin
von Hamannschen Einflüssen genährt ist, zeigt sich freilich auch
schon ein Anzeichen der späteren Wendung ihrer Beziehungen-.
Die stärkste Verknüpfung erfuhr das Verhältnis zwischen Herder
und Nicolai naturgemäß durch Herders Tätigkeit für die Allgemeine
Deutsche Bibliothek, wenngleich sich auch in ihr schon von vorne*
herein Momente der späteren Ablehnung bemerkbar machen. Her*
der hat insgesamt 33 Rezensionen für die Allgemeine Deutsche
1 Nicolai an Herder 24. XII. 68.
- O. Hoffmann (»Herder = Funde aus Nicolais Allg. Dtsch. Bibliothek«, Berliner
Progr. 1888, S. 20) meint, daß es fraglich sei, ob das Verhältnis zwischen Herder
und Nicolai die tatsächlich erfolgte Wendung genommen hätte, wenn Herder
wirklich nach Berlin gekommen wäre. Einer solchen Auffassung, die annimmt,
geistige Gegensätze von so starker Divergenz ließen sich durch persönliche Be=
rührungen aufheben — übrigens eine Auffassung ganz im Sinne Nicolais (vgl.
an F. H. Jacobi, ed. Zoeppritz I, 97) — muß ich entschieden widersprechen. Des»
halb berührt diese Darstellung auch die unmittelbar persönlichen Beziehungen
nur ganz kurz, und zwar um so kürzer, je mehr sich die geistigen Gegensätze
geltend machen.
168
Bibliothek verfaßt \ Aber mit wieviel Mühe und Geduld hat "Nu
colai sie aus ihm herauspressen müssen. Daß er nicht die Geduld
verlor, auch als Herder ihn von Termin zu Termin vertröstete und
schließlich, nachdem die Werke schon alt und durch Rezensionen
anderer Zeitschriften bekannt geworden waren, mit einem Feder*
strich die Bürde von sich wälzte, bezeugt wohl am klarsten, daß
Nicolais wiederholtes Lob der Herderschen Rezensionen aufrichtig
war. So schreibt er über die Rezensionen von Schlegels Werken
und von Klotz' Carmina und Opuscula, sie »werden eine wahre
Zierde der Bibliothek sein"^«; von der Rezension der Gisekeschen
Gedichte, die Herder ihm am 13. ITI. 68 sendet, urteilt er\ sie ent*
sprächen seinen eigenen Gedanken so sehr, daß er sie nicht loben
könne, wenn er nicht sich selbst loben wolle. Nach dem Empfang
der Rezension von Bodmers »Grundsätzen der deutschen Sprache«,
die Herder selbst einen »kahlen Beitrag« nennt*, versichert er Her*
der, daß dessen Rezensionen »eine Würze« seien, »die der ganzen
Speise einen Geschmack geben«^. Und solche Versicherungen
wiederholt er besonders eifrig, als Herder nach fast zweijähriger
Unterbrechung seine Mitarbeit wieder aufnimmt. Es gab hier
einige Berührungspunkte: sie beide, Herder und Nicolai, standen
gegen die Gottsched*Gellertsche Schule, beide gegen Klotz, beide
gegen »Jacobische Süßigkeiten«, gegen Sulzers MoraHtätssucht,
beide traten für Lessing ein, beide für Eschenburg als Übersetzer.
Aber auch hier, wo sie gemeinsame Stellung einnahmen, ergaben
sich gelegentlich Differenzen, die zwar nicht tiefere Folgen hatten,
aber Herder die Freude an der Mitarbeit — wenn sie je ganz
rein war — verleiden konnten. Allerdings hatte Herder Nicolai
die Erlaubnis gegeben^ das, was aus seiner abseitigen Situation
' Sie sind abgedruckt: Werke ed. Suphan 4, 232 ff. und 5, 271 ft". Über Herders
Autorschaft vgl. die Arbeiten von Otto Hoffmann, »Herder a!s Mitarbeiter an
der Allgemeinen Deutschen Bibliothek« — Schnorrs Arch. f. Literaturgesch.
15, 238ff. und (derselbe) »Herder = Funde aus Nicolais Allgemeiner Deutscher
Bibliothek«. Berl. Progr. 1888.
- An Herder 2. V. 67.
' An Herder 14. VI. 68.
* Herder an Nicolai 21. XI. 68.
' Nicolai an Herder 26. XI. 68.
" Herder an Nicolai 19. 11.67.
169
heraus einseitig werden müsse, oder was Nicolai der stilistischen
Form nach nicht behage, eigenmächtig zu ändern, eine Erlaubnis,
die er öfter, und noch bis in den Beginn der 70 er Jahre, wieder*
holt^ Immerhin mochte ihn das Schicksal seiner Ramlerrezension
ärgern, die Nicolai aus äußeren Rücksichten »zu streng fand« und
deshalb Mendelssohn zur Überarbeitung gab '^, wenngleich er seine
Zustimmung zu der Mischrezension erteilte', die sodann in der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek (VII, 1, 3 ff.) erschien. Unan*
genehmer noch mochte ihm das Schicksal seiner Rezension von
Duschs »Poetischen Werken« sein. Nach der abfälligen Herder*
sehen Rezension über Duschs »Briefe zur Bildung des Geschmacks«
war dieser, wie eine Randbemerkung Nicolais zu Herders letztem
Brief aus Riga* besagt, »böse geworden«; als nun Herder mit dem
letzten Brief aus Riga die zweite, ebenso abfällige Dusch*Rezension
einsandte, stutzte Nicolai diese Rezension, während Herder ein
halbes Jahr nichts von sich hören läßt, so zurecht, daß Dusch, der
seine Tätigkeit an der Bibliothek aufgegeben hatte, sich wieder mit
Nicolai versöhnen konnte^; diese Rezension — YG unterzeichnet
— die sodann in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek^ erschien,
ist denn auch, was Lob und Tadel anbetrifft, eine wahre Misch*
rezension.
Aber stärker als solche gelegentlichen Differenzen machten sich
tiefergehende Anschauungsgegensätze über den Zweck und Nutzen
der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in der Rigaer Zeit Herders
gegen Nicolai geltend. Schon in einer Äußerung über ihm bemer«
kenswerte Bücher aus dem Juli 1766' an Hamann heißt es von der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek lakonisch : »wegen der Nachrich*
ten; sonst nichts als Büchertitel.« Allerdings hat er die Bibliothek
' Herder an Nicolai bes. »10. II. 72 empf.« = O. Hoffmann a. a. O. S.70. Vgl.
Herder an Merck, Okt. 72, wo er Merck für seine Beiträge zu den Frkf.Gel. Anz.
dieselbe Vollmacht gibt.
- Nicolai an Herder 20. II. 68; vgl. Mendelssohn an Nicolai: Schriften V, 450 und
Haym I, 269. Bei Suphan IV. 261 ff.
' Herder an Nicolai 13. III. 68.
* Undatiert; »10. IV. 69« empfangen. Hoftmann S. 39.
" Vgl. O. Hoffmann, Schnorrs Archiv 15, 247.
* Allg. Dtsch. Bibl. XII, 2, 282 ff.
' So nach O. Hoffmanns Angabe, »Herders Briefe an Hamann« S. 26.
170
dann fleißig gelesen \ aber mit seinem Urteil kann er bald selbst
Nicolai gegenüber nicht zurückhalten. »Ihre Gegner«, so schreibt
er an Nicolai '^ »fangen immer mehr an über Ihr Journal zu kreischen,
daß es sich verschlimmere, und weiß der Himmel, ob es Vorurteil
ist, oder etwas anderes, ich finde selbst weniger Anziehendes darin.«
Wenn Nicolai seinem »alten Fragmentenrate« etwas folgen wolle,
so müsse er »mit guter Art das Allgemeine des Planes etwas ein*
ziehen«; die Bibliothek soll nicht mehr ein ermüdender Wald von
Rezensionen sein, sondern lieber weniger, aber wichtige Werke an*
zeigen ; nicht gut sei es ferner, daß Resewitz und Heyne abgegangen
seien, daß Moses und Lessing sich so spärlich beteiligten. Herder
tadelt also die mangelnde Qualität der Rezensionen, die durch Quan*
tität nicht ersetzt werden könne. Nicolai aber verteidigt seinen Plan^.
Er gebe die Unvollkommenheit zu; einzig mechanische Schwierig*
keiten ständen der Verwirklichung der größtmöglichen Vollkom*
menheit im Wege; zudem habe er noch nicht die Mitarbeiter ge*
funden, die er suche; habe er aber solche — wie z. B. Herder — ge*
funden, so seien sie — wie ebenfalls Herder — nicht verläßlich.
Sodann sucht er die Müdigkeit Herders aufzufrischen: Heyne und
Resewitz gingen nicht von der Bibliothek ab, er hätte dieses Ge*
rücht nur mutwillig ausgesprengt, da beide unerkannt bleiben
sollten*; ebensowenig dächte Moses daran, ihn zu verlassen. Herder
müsse sich allerdings bewußt sein, daß es Ehrenpflicht der guten
Köpfe sei, sein Werk um so mehr zu unterstützen, je mehr die
Gegner tobten. Diesen letzteren Gedanken wiederholt er noch*
mals dringend, fast beschwörend auf Herders Schweigen über die
von ihm angeschnittene Frage in einem späteren Briefe ; er verrät
hier, daß er nicht so sehr Herders Einwände gegen den Plan der
Bibliothek erwogen oder zu widerlegen versucht hat, als vielmehr
den Grund dieser Einwände, den er mit Recht in Herders Müdig*
keit gegen die Klotzischen Händel erblickt.
' Vgl. O. Hoffmanns Nachweis: »Schnorrs Archiv« 15, 223.
- 21. XI. 68.
' 24. XI 1. 68.
* Diese Begründung trifit nicht zu. Tatsächlich zog Heyne sich 1768 verstimmt
zurück, arbeitete indessen von 1770 an wieder mit, Resewitz sandte in dieser Zeit
allerdings sehr wenig, hat aber seine Mitarbeit nicht gänzlich aufgegeben.
• 11. IV. 69.
171
Allerdings waren diese Einwände Herders an sich geeignet, bei
ihm auf heftigen Widerstand zu stoßen. Richteten sie sich doch
letzthin gegen die Tendenz seines Wirkens, die wir als Zentrali*
sationsgedanken ansprachen (s. o. S. 46 ff.). Und sie kamen nicht
etwa von oben her. Schon in den Dramaturgischen Fragmenten, die
ursprünglich für die Fragmentensammlung bestimmt waren, indessen
apokryph blieben \ sprach sich Herder gegen Nicolais in den Lite*
raturb riefen'- geäußerte Anschauung aus, das deutsche Theater be*
dürfe zu seiner Vervollkommnung einer Hauptstadt im Sinne von
Paris oder London. Er sieht in solchem Bestreben^ einen Wider*
Spruch zum deutschen Nationalcharakter, und verspricht sich viel*
mehr von der provinziellen, ungehemmten Mannigfaltigkeit ins*
besondere für die Komödie günstigere Entwicklungsbedingunger^.
Diesen Widerspruch Herders gegen den Zentralisationsgedanken
glauben wir auch aus seinen Einwänden gegen den Plan der All*
gemeinen Deutschen Bibliothek herauszuhören, wenngleich er hier
seiner prinzipiellen Schärfe entkleidet ist.
Auch sonst fehlte es nicht an Reibungen, denen freilich die Ver*
schärfung nach der prinzipiellen Seite hin mangelte. Der Wider*
Spruch gegen Mendelssohns »Phädon«, der das grundlegende philo*
sophische Bekenntnis der Berliner wurde, erledigte sich freilich
ziemlich mühelos, obwohl Herder sich gegen Hamann grund*
sätzlich ablehnend über diese Mendelssohnsche Schrift äußerte*,
nachdem Herder die anfängliche Absicht eines kritischen Epilogs
in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek aufgegeben hatte, in einer
Privatkorrespondenz mit Mendelssohn^, die Nicolai bei einer neuen
Auflage des Phädon mit abzudrucken wünschte^; der leicht mystisch
1 Jetzt Werke ed. Suphan 2, 207 ff., insbes. 212 ff.
- Literaturbriefe XII, 299 ff. Nicolai ähnlich in den Br. itz. Zustand 11.85 und
GöckingkS. 133f.
' R. Haym (S. 171) nennt dieses Bestreben Nicolais »Unitarismus«. Ich glaube
aber an meiner Bezeichnung (»Centralisationsgedanke«) festhalten zu dürfen,
da diese Bezeichnung mehr dem Nicolaischen Streben nach Organisation ent*
spricht; eine vollkommene Reglementierung des literarischen Lebens, eine Auf=
hebung der provinziellen Produktion lag ihm, wie wir sahen, fern.
* Herder an Hamann »November 1768« = O. Hoffmann S. 48.
' Werke V, 2, 484 ff., vgl. R. Haym S. 295 ff
* Herder an Nicolai 19. V. 69.
172
gefärbte Gedanke der Palingenesie als der einzig möglichen Art
der Unsterblichkeit, den Herder hier in den Mittelpunkt stellt, hat
also bei Nicolai keinen Anstoß erregt; immerhin wünschten er wie
Moses den Herderschen Brief auch durch den Abdruck »anderer
Privatschreiben« zu paralysieren \ — Über die »Kritischen Wälder«
urteilte Nicolai auf Befragen Herders, der seine Autorschaft hart*
nackig in Abrede gestellt hatte", kurz und bündig: »Mein kurzes
Urteil von den kritischen Wäldern ist, daß Hr. L(essing) gegen
den Verfasser in einigen Stücken wohl zu verteidigen wäre, daß er
aber gegen Kl(otz) ganz frappant recht hat, und daß dies Werk
eines der besten kritischen Werke ist, das wir in unserer Sprache
haben '.« Mußte dieses kurz hingeworfene Urteil Herder trotz des
darin enthaltenen Lobes nicht verstimmen? Zwar hatte er sich die
Kürze des Urteils selbst durch seine Ableugnung der Autorschaft
zugezogen, aber mußte es in ihm nicht den Eindruck einer mecha*
nistischen Urteilsweise Nicolais erwecken? Und dieser Eindruck
mußte sich verstärken und auf die Bibliothek im allgemeinen über*
gehen, wenn er sah, daß ein so gleichgültiger Rezensent wie Mutzen*
becher über die Kritischen Wälder kaum zutreffend referieren, ge*
schweige denn irgendwie geistig urteilen konnte*. Hatte er je ge*
hofft, durch die Verbindung mit den Berlinern seine literarische Posi*
tion zu festigen, so war er enttäuscht worden. Dieser Verbindung
hatte er die heftigen Angriffe von Klotzens Seite zu verdanken. Und
wo war die von Nicolai oft angekündigte^ Rezension seiner Frag*
mente durch Mendelssohn geblieben? Er hatte sie nicht zu sehen be*
kommen; denn diese Mendelssohnsche Rezension blieb apokryph^.
' Ebenda. — Herder antwortete erst aus Nantes (5. 16. VIII) und zwar ablehnend;
inzwischen war auch die Auflage schon oline den Herderschen Brief gedruckt
worden.
- Herder an Nicolai 10. I. 69.
' Nicolai an Herder 11. IV. 69.
^ Rezension der Kritischen Wälder: Anhang zu Band 1 — 12 der AUg. Dtsch. Bibl.
1,2, 983 ff.
' Nicolai an Herder 30. XII. 66; 20. II. 68 usw.
" Jetzt Schriften IV, a, 93 ff. — Es sei deshalb hier nur in der Anmerkung darauf
verwiesen, daß diese Rezension, die auch Nicolais Standpunkt ausführlich um^
schrieb, Herder eine Vorliebe für Grundsätze vorwarf, die die Probe eines siehe*
ren Gefühls nicht bestünden ; Moses wendet sich insbesondere gegen das Drängen
Herders auf das Natürliche und Unmittelbare in der Poesie; wohl läßt sich eine
173
Die Rezension seines »Torso« ^ schien allerdings von einem bedeu*
tenderen Kopf herzustammen; aber auch hier mußte er den gehei*
men Widerstand gegen seine ihm eigentümliche stilistische Aus*
drucksweise bemerken, die wie bei Hamann, auch bei ihm mehr
war als Zufälligkeit oder Laune. »Wir dürfen herzhaft vermuten«,
heißt es in dieser Rezension, »daß unser Verfasser nach diesen
Kränzen greife (sc. wie Th. Abbt), und daß er (sc. im Gegensatz zu
Abbt) sie werde erreichen können, wenn er sich befleißigen wird,
der Natur zu folgen, die Beispiele der Alten ... zu studieren und
die dunkele Künsteley zu vermeiden, welche seine mit soviel nütz*
liehen Sachen angefüllte Arbeit entzieret«. Nicht durch Geburt
werde der Schriftsteller bestimmt, sondern durch seine Arbeit an
sich selbst; wer über Voltaires Schreibart aburteilen will, muß erst
selbst die Fähigkeit haben, so wie Voltaire zu schreiben: solcher
Ermahnungen zum Verrat an sich selbst, wie Herder sie wohl auf*
gefaßt haben mag, war er aber überdrüssig, wenn er auch ihre gute
Absicht nicht verkannte.
Daß an dieser Iselinschen Kritik Nicolai, wenn auch nur indirekt,
beteiligt war, konnte Herder wohl ahnen ; denn diese Vorwürfe hatte
er schon aus Nicolais Briefen herausgehört. In der Tat war Iselins
Urteil von Nicolai der Weg gewiesen worden. »Er ist ein Mann
von vielen Talenten«, äußert sich Nicolai über Herder an Iselin";
»seine sonderbare Schreibart wird er sich hoffentlich wohl abge*
wohnen, wenn er mit Freunden sich wird darüber besprechen kön*
nen. In Riga hatte er keinen einzigen Menschen um sich. Abbten
erging es in Rinteln ebenso. Ich merke es alle Tage mehr, wenn
man nicht Umgang mit einsichtsvollen Leuten hat, die einem zu*
weilen widersprechen, so nimmt der Geist gar leicht eine besondere
Falte ^ an«. Diese Falte zu glätten, ist seine Absicht; Herder soll
auch in dieser Beziehung ein zweiter Abbt werden. Er zählte ihn
zu den Seinigen, wennschon nicht was die Gegenwart betraf, so
doch für die Zukunft.
Naturpoesie von der Kunstpoesie unterscheiden ; der moderne Mensch aber könne
einzig diese schätzen.
' Allg. Dtsch. Bibl. Anhang zum 1.— 12. Band S. 626; sie ist von Iselin verfaßt.
' 26. XII. 69. NN.
' Vgl. Herder an Nicolai 10. V. 69 über die »theologische Falte«, die er bei sich
befürchte, und Nicolai an Herder 11. IV. 69.
174
Um so überraschter mußte er sein, nachdem er auf zwei Briefe
an Herder^ keine Antwort erhalten hat, in den Zeitungen zu lesen,
daß Herder seine Ämter in Riga niedergelegt hat und sich auf Rei*
sen zu begeben gedenkt. Er schreibt voller Ungeduld an Herder \
und bittet diesen dringend, ihn seinen wahren Zustand wissen zu
lassen; seine Teilnahme sei Herder sicher. Auch in diesem Brief
kann er es nicht unterlassen, Herder an seine schon fast verjährten
Rezensionsschulden zu erinnern. Noch ehe Herder diesen Brief er=
hält, ergreift er »schamrot bis in das Innere seiner Seele« in Nantes
die Feder, um sich über »tausenderlei Sachen zu entschuldigen«,
die ihn »wahrhaftig stumm machen«-. Aber trotz aller Entschuldi*
gungen, trotz des merkwürdigen Hinweises darauf, daß es ihm nun,
wo er frei sei, eher und besser möglich sei, für die Bibliothek tätig
zu sein, entledigt er sich mit einem Federstrich aller Pflichten, die
er gegen die Bibliothek doch schon vor länger als einem Jahre über?
nommen hat; leichthin entscheidet er von einigen Werken, daß
ihre Rezension, da sie so lange ausgeblieben sei, nun auch noch
länger warten könne; von anderen sagt er, daß sie rezensieren möge,
wer Lust habe; wiederum andere seien aber Werke »von Ewigkeits?
wert« und ihre Rezension käme daher immer zur rechten Zeit —
ein schwacher Trost für Nicolai, dessen Bibliothek bei mehreren
so wenig zuverlässiger Mitarbeiter hätte aus den Fugen gehen kön?
nen^. Ein zweiter Brief Herders aus dieser Zeit* aber betont, wie
kleinlich alle literarischen Sorgen, msbesondere die Klotzischen
Fehden sich aus der Ferne ausnähmen, und lockert auch von hier
aus die Beziehungen zu Nicolai: auf der Basis der gemeinsamen
Feindschaft gegen Klotz ließ sich kein festeres Fundament mehr
errichten; und was die gemeinsame Freundschaft zu dem toten
Abbt betrifift, so sahen wir schon, wie die Inanspruchnahme dieser
Freundschaft durch die Berliner — in Nicolais Ehrengedächtnis,
wie in der Iselinschen Rezension seines »Torso« — Herder eher
' Nicolai an Herder 11. IV. 69 und 19. V. 69.
= Herder an Nicolai 5.,' 16. VI II. 69.
'' O. Hoffmann (Schnorrs Archiv 15, 249) zählt 16 Bücher auf, die Herder wäh=
rend seiner letzten Rigaer Zeit und seines Aufenthaltes in Frankreich zur Res
zension erhalten, aber nicht rezensiert hat.
* Aus Paris vom 30. XI. 69.
175
verstimmen konnte'. Nun aber tritt eine noch stärkere Lockerung
ein; denn anderthalb Jahre, vom November 1769 bis zum Mai 1771,
hört Nicolai überhaupt nichts von Herder. Von dem Wege Herders
über Paris nach Eutin, von Eutin nach Straßburg, von Straßburg
über Darmstadt nach Bückeburg erhält Nicolai keine direkte Nach«
rieht von Herder; und als Herder, in Bückeburg vorläufig zur
Ruhe gekommen, im Brief an Nicolai vom 6. Mai 1771 über sein
Ergehen in der Zwischenzeit einen summarischen Bericht erstattet,
kann er, da »die Partikularien zu lang« würden, nur über die äuße*
ren Etappen dieses Weges berichten.
Eine merkwürdige Wendung in diesem Briefe mußte Nicolai
stutzig machen. Herder bekennt, daß er mit der — von Nicolai be*
sorgten — Ausgabe von Thomas Abbts freundschaftlicher Korre?
spondenz »nicht ganz zufrieden« sein könne, und fährt fort: »So
lehrreich und in vielem sie für Abbts gelehrten Charakter wirklich
ruhmvoll sein mögen, ans Annehmliche ohnedem nicht zu denken:
so — kurz, lieber Freund, wenn Sie irgend Einen Brief von mir
aufgehoben haben, so verbrennen Sie ihn nicht blos — sondern mit
Schwefelfeuer verbrennen Sie ihn, damit sich Niemand daran er«
baue! Nur Eins anzuführen, so machen Sie, Männer der Literatur«
briefe, darin so gut Sekte oder Bande oder wie Sie's nennen wollen,
als Gottschedianer, Bodmerianer, Klotzianer, und wer sich künftig
des Kranken« und Ruhebettes der Hl. Literatur annehme] Das
brauchte unser Publikum nicht zu wissen.« Sofort aber schränkt
er mit dem Satz, daß er vielleicht nur als »reisender Idiot« so ur«
teile, seine Kritik ein. Nicolai greift diese Andeutungen in seinem
Antwortbrief- auf. Er bittet Herder sich näher zu erklären, insbe«
sondere, welche Stellen ihm anstößig seien ; freilich hätten die Lite*
raturbriefsteller eine Sekte ausgemacht, wenn dies soviel bedeuten
solle, daß sie »verschiedene Wahrheiten für ausgemacht gehalten
hätten, und sich, um über sie zu philosophieren, einerlei Art des
Raisonnements bedient« hätten; selbst wenn Herder meinte, daß
sie »einerlei Art von Vorurteilen« gehabt hätten, schäme er sich
' So lehnt er denn auch die Rezension von Abbts »Fragment« (der Ältesten Be=
gebenheiten des Menschlichen Geschlechts Halle 1767) und seiner Sallustüber^
Setzung im Brief aus Nantes mit durchsichtiger Begründung ab.
- Nicolai an Herder 15.\T.7i.
176
dessen nicht, sondern gebe vielmehr zu, daß nichts MenschHches
ihnen fremd gewesen sei. Das aber gehe aus der freundschaftHchen
Korrespondenz unzweifelhaft hervor: daß sie die »subjektive Wahr*
heit« stets ohne Nebenabsichten gesagt hätten. Dieses Verdienst
aber ist Herder, nachdem er den Streit mit Klotz für abgetan
hält, nicht mehr so hoch einzuschätzen geneigt. Seine Andeutungen
hatten auch wesentlich tiefer gezielt. Aus einem Wort der ver*
schieiernden Sätze, mit denen er über diese Nicolaischen Fragen
und Feststellungen in seinem Antwortbrief ^ hinwegzugleiten ver^»
sucht, können wir das Ziel seiner Andeutungen ablesen; er tadelt
dort u. a., daß Abbt »in allem eine solche Handwerksmiene als
Mitarbeiter der Literaturbriefe annehme«. Er hatte in Abbt, in sei*
ner Rigaer Zeit zum mindesten, sich selbst wiedererkannt, und nun
erscheint ihm Abbt hier in der Korrespondenz mit Nicolai und
Mendelssohn, sicher unter deren Einfluß, ungeistig und handwerks*
mäßig; aber ließ Nicolai nicht auch ihn, wie jeden seiner Korre*
spondenten, in diesen Ton verfallen? Schon einen Brief Nicolais
aus dem Jahre 1769 hatte er als »die Wiederkauungen eines gelehr*
ten Handwerkers bezeichnet-; jetzt sieht er, daß auch Abbt solchem
Einfluß erlag; und der Gedanke, seine Korrespondenz mit Nicolai
könnte einmal auf ähnliche Weise veröffentlicht werden, bestimmt
ihn zu der Bitte an Nicolai, die an ihn gerichteten Briefe »mit
Schwefelfeuer« zu verbrennen.
Wenn Herder hier aber in Bezug auf die Abbtschen Briefe sagt,
daß sie, »mit dem zusammengehalten, was eigentlich. Abbts Geist
im Leben gewesen«, »eine gewisse Doppelseite« offenbarten, die
ihm »auffallend« sei, so hat er sich abermals verraten. Das, was er
hier in Abbts Verhalten, vor Nicolais Ohren, hineininterpretiert, ist
der Grundsatz seines weiteren Verhältnisses zu Nicolai geworden.
Äußerlich in gefällig*freundschaftlichen Formen sich bewegend,
aber innerlich merkliche Risse und Sprünge auf beiden Seiten auf*
weisend, hätte dieses Verhältnis sich nach einiger Zeit mit unfehl*
barer Sicherheit klanglos auflösen müssen, auch ohne daß gewisse
Spannungen hinzugetreten wären.
Seit Herder in Bückeburg dauernden Aufenthalt genommen hatte,
' Undatiert, bei O. Hoffmann S. 62 ff.
- Herder an Hartknoch Lb. II, 40. Gemeint ist Nicolais Brief vom 19. V. 69.
12 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 1/7
beginnt er wieder an den Neuerscheinungen der deutschen Literatur
Anteil zu nehmen. Was vermochte ihm dabei dienUcher zu sein,
als seine Mitarbeit an dem größten Rezensierunternehmen, der All*
gemeinen Deutschen Bibliothek? So steuert er denn in den nächsten
zwei Jahren eine größere Anzahl ausführlicher Rezensionen^ zur
Bibliothek bei. Ja, er will sogar zu dem Fach der schönen Wissen*
Schäften noch das der »theologiae liberalis und elegantioris«^ über*
nehmen; doch scheint Nicolai das nicht gern gesehen zu haben,
und so vertröstet er Herder für solche Aufträge auf spätere Zeit^.
Auch zu den jetzt gelieferten Rezensionen äußert Nicolai wieder*
holt seine lobende Zustimmung. Indessen zeigt sich in dieser Herder*
sehen Rezensionstätigkeit, trotz aller Achtungs* und Freundschafts*
bezeugungen, mit denen sie aufgenommen wird, eine Anzahl von
Gegensätzlichkeiten. Wir bemühen uns dabei nicht um die objek*
tiven Gegensätze, einmal weil sie nicht eindeutig zu fassen sind, da
Herders Anschauungen innerhalb dieser Beiträge kein Ganzes er*
geben, ja, da bisweilen Widersprüche sich bemerkbar machen; so*
dann aber auch, weil sie nicht überall einen Rückschluß auf das
subjektive Verhältnis gestatten, vielmehr nur von diesem her Gültig*
keit und Wert beziehen*.
' ed. Suphan 5. 309 ff.
- Herder an Nicolai. Brief oJine Datum (empf. 7. IX. 71 O. Hoffmann S. 63).
' Nicolai an Herder 19. XI. 71.
* Als solche objektiven Gegensätze könnte man Herders hier wie im Ossian^
aufsatz geltend gemachten Anschauungen über Denis' Ossian*Übersetzung her=
vorheben, im Vergleich etwa zu Nicolais hoher Schätzung der Denischen Über=
Setzung (vgl. A D Bibliothek Anh. z. 25. 36. Bd., S. 3009; an dieser Rezension hat
Nicolai starken Anteil, wenn sie nicht von ihm allein herrührt); ferner Herders
Rezension der Schlegelschen Batteux*Übersetzung, die zugleich eine scharfe
Kritik der »vernünftelnden«, »trocknen Metaphysik« Batteux' darstellt, dessen
von Nicolai anerkannter Grundsatz (s. o. S. 25) eine »belle phrase« genannt wird.
Aber Nicolai hat beide Rezensionen anstandslos aufgenommen! — Das Widers
spruchsvolle in Herders Stellung mag hier illustriert werden durch Gegen;
überstellung seiner Ugolino^Rezension, wo er es ablehnt, als »löblicher Kunst=
richter vom Handwerk« zu fungieren, und sich nur dem brausenden »Strom der
Empfindung« überlassen will, und seiner zweiten Denis*Rezension, wo es »dem
Rezensenten Zweck wäre, wenn sich seine spätere Stimme . . mit dem geprüfteren,
ausgebrausten Urteile der stillen Liebhaber im Publicum begegnete«; der Sturm-
und=Drang*Herder spricht da, wo er das »Genie« Shakespeare enthusiastisch
gegen Duschs Mißverstehen preist, der Herder der Fragmente aber in der (spä*
178
Es wurde schon oben gelegentlich der Darstellung von Nicolais
Verhältnis zu Klopstock bemerkt, daß Nicolai, was er über Klop*
stock dachte, -- über den Dichter nicht minder als über sein »theo*
logisches System« — ohne Rücksicht auf die Kritik, welche die
Fragmente an Lessings verwandter Einstellung geübt hatten, offen?
herzig gegen Herder geltend machte. Wir sahen allerdings, daß Ni*
colai dabei geneigt war, seine eigenen abweichenden Anschauungen
als privaten und unmaßgeblichen Standpunkt darzustellen. Immerhin
konnten beide Korrespondenten sich ihrer gegensätzlichen Auffas*
sungsweise bewußt werden. Herder interpretiert Klopstock, um ihn
dann — und das ist eigentlich nur ein Zugeständnis : seine nach*
empfindende Interpretation ist Grund und natürliches Ende seiner
Kritik — zu beurteilen. Nicolai gelingt diese Interpretation nicht,
und wo er sein instinktiv ablehnendes Reagieren begrifflich aus*
deuten möchte, muß er also konstruktiv verfahren. Herder mit seinem
starken Gefühl für das spezifisch Lyrische der Klopstockschen Dich*
tung, und Nicolai, der, wie wir sahen, zu dieser Zeit wenigstens die
rein lyrischen Elemente der Klopstockschen Dichtung ablehnt ; Her*
der, der auf das Wie? und Nicolai, der auf das Was? der Klopstock*
sehen Dichtung gerichtet ist, stehen sich in der Beurteilung der Klop*
stockschen Kunst diametral gegenüber. Hinzu kommt der Gegensatz
teren!) Eschenburg^Rezension, wo er im Ton der Untersuchung über diesen
»Versuch über Shakespeares Genie . . .« referiert, wie auch in der Rezension von
Lessings Verm. Schriften. — Die GisekesRezension, mit dem Satz: »unser Zeitalter,
wie nahe scheint es diesem Meteorengeschmack zu sein!« hat Nicolai ausdrück;
lieh gutgeheißen, sie ist aber wie wenige andere ein Zeugnis des entstehenden
Sturms und Drangs! — Die Bedeutung, die diesen Rezensionen für Herders Ent?
Wicklung zukommt, und ihr Quellenwert für die Geschichte der Geniebewegung
soll durch diese Erwägungen natürlich nicht berührt werden; in dieser Beziehung
sind die Beurteilungen dieser Herderschen Rezensionen durch die Frankf. Gel.
Anz. (14. VIll. 72 = D L D 7 8, S. 426; 20. XI. 72 = ebenda S.616 und 22. XII. 72
= ebenda S. 673) äußerst beachtenswert; besonders die erste Beurteilung, wo es
von der Herderschen BatteuxsRezension heißt, hier werde nicht, wie so oft,
»gaffenden Jünglingen« »der Sand aufgeraffter Formen und Floskeln« vom
Katheder aus in die Augen gestreut, sondern hier sei ein Mann, wie ihn Deutsch^
land brauche, der die »dunklen eingeborenen Gefühle« zu Festigkeit, Bestimmt?
heit und Wahrheit entwickeln könne. »Hier werden ihnen die Fesseln
abgenommen, in die ein hergebrachter Unterricht der schönen
Wissenschaften sie schmiedet.«
12* 179
der religiösen Anschauungsweise. Herder ist in dieser Zeit in der
Revision seiner dem Deismus geneigten Epoche begriffen, und muß
daher um so empfindlicher gegen alles sein, was deistischen Ein*
schlag verrät; dem Deismus aber scheint sich Nicolais religiöse An*
schauungsweise zu nähern — ein Gegensatz, der uns bald noch ver*
schärft in der »Ältesten Urkunde« und im »Sebaldus Nothanker«
entgegen treten wird. — Herders nachempfindende Klopstockkritik,
im Brief an Nicolai vom 2. VII. 72, betrachtet die Klopstockschen
Oden »als einen Ausguß der Empfindung« und als ein »musikali*
sches Gebäude von Sprachtönen« in Hinblick auf die »Materie und
Silbenmasse an sich«, weniger als »künstliches mythisches Ganze«
nach Konventionsregeln; vielmehr will er einem »Odengebäu nach
Regeln der bloßen Konvention mißtrauen«. Das einzige, was Nicolai
aber vom systematischen Standpunkt aus geltend machen kann, sind
jene — wie wir erkannten (S. 82 ff.) — unklaren Gedanken über
den Rhythmus im allgemeinen, insbesondere den griechischen im
Vergleich mit der neueren Rhythmik — also gerade auf die Betrach*
tung des Odengebäudes als etwas Feststehendes hinzielend. Wie er
selbst indessen zugibt, daß er nicht nur jede andere Meinung, ins«
besondere die Herdersche, hier gern gelten lasse, und Herder bittet,
sich durch die gegenteilige Auffassung nicht in seinem Urteil wan*
kend machen zu lassen, so bittet auch Herder Nicolai, ihm seine
Rezension zurückzusenden, falls er nicht mit ihr übereinstimme,
und versucht sogar, die widersprechenden Auffassungen mit leich*
ten Worten äußerlich auszugleichend Demgemäß erkennt Nicolai^,
daß in Herders Klopstockrezension »viele schöne Sachen« seien,
daß er sie aber nicht völlig verstehe; Herder aber entschuldigt sich
förmlich, und gibt zu, daß Nicolai völlig Recht haben möge; sein
»gelehrtes Gefühl hierin, wie in manchem Anderen« sei »zu lange
unkultiviert geblieben« und habe sich »nachher durch Sprünge und
Versuche vielleicht zu krall selbst zu kultivieren gesucht«^. Nicolai
nimmt den Vorwurf der Dunkelheit, den Herder aus seinem Urteil
über diese Rezension herausgehört hat, ausdrücklich und mit dem
Hinweis zurück, die Schuld werde wohl auf seiner, Nicolais, Seite
1 Herder an Nicolai 23. XI. 72.
- Nicolai an Herder 2. III. 73.
•" Herder an Nicolai IL III. 73.
180
liegen \ begegnet aber bei Herder schon tauben Ohren. Über das
gegensätzliche religiöse Moment ihrer Anschauungen ist Herder,
nachdem Nicolai erklärt hat, daß er den Begriff Gottmensch, wie
er im Mittelpunkt des Messias steht, für eine contradictio in ad*
iecto halte"-, schweigend hinweggeglitten.
Schärfer noch als diese gegensätzlichen Anschauungen über Klop*
stock haben diejenigen über Hamann in das Verhältnis Nicolais zu
Herder eingegriffen, ja, sie sind eine der unmittelbaren Ursachen
zum Bruch desselben geworden. Herders innige Beziehungen zu
Hamann, die vorübergehende Trübung dieses Verhältnisses durch
die Auseinandersetzung über das Wesen und den Ursprung der
Sprache, und die Wiederbekehrung Herders zu Hamann^ sind Ni*
colai bekannt gewesen; um so höheren Wert werden wir seinen auf
Hamann bezüglichen Äußerungen an Herder beimessen dürfen.
Nicolais zweifelnd*ironischen Fragen an Herder über den ihm un*
verständlichen Sinn der »Letzten Willensmeinung« Hamanns* be*
antwortet Herder^ mit betontem Ernst. Nicolais Spott hat ihn an*
scheinend verdrossen; »Sie sehen«, schreibt er an Hamann^, dem
er den Empfang der Schrift durch Nicolais Vermittlung bestätigt,
»den edlen, verstandbaren Kanal, durch den Ihre Schrift zu mir ge*
flössen.« Noch mehr verdroß ihn die Abspeisung von Hamanns
»Au Salomon de Prusse« und der »Philologischen Einfälle und
Zweifel«. durch Nicolais briefliche Äußerungen an ihn selbst und
von dessen »Selbstgespräch eines Autors« durch Nicolais Antwort*
schriftchen »An den Magum im Norden«, das dieser Herder zu*
gesandt hatte'. Über dieses letztere erklärt er sich sehr gereizt^.
Wenn Hamann in seinem Selbstgespräch den Knaben Absalom
' Nicolai an Herder 18. III. 73.
^ Nicolai an Herder 24. VIII. 72.
■■' Hierüber vgl. außer der Darstellung Hayms (S. 494 ff.), Rudolph Unger. »Ha*
manns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens«, München 1905,
Kap. VI.
* Roth 4, 21 ff., gegen Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache ge*
richtet. Nicolai an Herder 24. VI. 72.
" Herder an Nicolai 2. VII. 72.
* Herder an Hamann 1. VIII. 72 = O. Hoffmann S. 66.
' Nicolai an Herder 2. III. 73.
" Herder an Nicolai 11. III. 73.
181
(= Herder, s. o. S. 138 Anm. 2) erwähnt, so sei das berechtigt; es sei
»Patriotismus, Freundschaft, und Visionengefühl ad modum Ha*
manni«; »zudem stehe Absalom dort ganz im Schatten«. Daß aber
Nicolai in seinem Antwortschriftchen »illustrandi oder exempli sta«
tuendi causa« den Knaben Absalom »hervorziehe«, »um die Un«
nützlichkeit oder Torheit, ich weiß nicht, welches Plans oder Hirn«
gespinstes zu entwickeln, und gleichsam an ihm zu detaillieren«,
würde ihm unbegreiflicher sein, wenn er nicht wüßte, »daß es eben
nur illustrandi causa und im Fluge des Pegasus von Schreibart ge*
schehen wäre, der, wenn er nicht seinen Reiter fühlt, oft gespornt
werden muß, und wehe alsdann dem Nebengaule, den das Aus*
holen mit trifft«. Herder legt also Verwahrung gegen Nicolais —
von ihm so aufgefaßte — Herablassung ein, mit der dieser Hamann
wie einen Narren behandeln zu können glaube ; er versetzt — ganz
ähnlich wie Hamann selbst — Nicolais Nachahmung der Hamann*
sehen Schreibart einen Hieb; Nicolai sei der Reiter nicht, diesen
Pegasus zu bändigen ; es gehe dabei nicht ohne Unfälle ab, wie seine
Hineinbeziehung Herders in diesen Streit beweise. Wenn Nicolai
aber erwarte, heißt es in der Nachschrift, daß Hamann durch einen
Brief Herders von einem Vorhaben abgebracht, von der Torheit einer
Schrift, die er selbst für notwendig gehalten habe, so leicht über*
zeugt werden könne, so täusche er sich ; »ich bedaure und bewundere
nur immer, wie man in solchem Falle Eisen auf einen fremden Am*
boß auch nur mit ein paar Schlägen tun könne«, schließt Herder
diesen in jeder Beziehung inhaltsschweren Brief. Nicolai setzt seinen
uns schon bekannten Standpunkt der Antwort »An denMagumim
Norden« des langen und breiten auseinander^; er zeigt, daß Herder
ihm willkürlich Anschauungen unterschiebe, die er nie vertreten
habe; er greift, um Herder vollends zu versöhnen, zu dem äußeren
Mittel, Herder um sein Bild zu bitten, das er neben Hamanns Bild
in seinem Studierzimmer aufhängen werde, und gibt so einen schein*
baren Beweis seiner Hochschätzung Hamanns.
Umsonst! Herder übergeht seine Erklärungen wie seine Bitte. Zu
tief ist sein freundschaftliches Empfinden für Hamann durch Ni*
colai verletzt worden. Zu sehr hat ihn die vermeintlich herablassende
Art Nicolais gegen Andersdenkende mit Widerwillen erfüllt; schien
' Nicolai an Herder 18.111.73.
182 . '
nicht die ganze tolerante Denkungsart Nicolais, wie sie sich eben
noch in ihren gegensätzlichen Anschauungen über Klopstock ge^
zeigt hatte, hier als hochmütiges Über*den*Dingen*Stehen enthüllt?
Hatte er hier, in Nicolais betonter Nachahmung der Hamannschen
Schreibart, nicht wieder jene mechanisch^handwerksmäßige Betrieb*
samkeit gesehen, der Abbt verfallen war? Sein kurzer Antwortbrief
enthält die Bitte, sich für einige Zeit von der Bibliothek verabschie*
den zu dürfen.
Nicht ohne Grund hatte Herder jenes spitzige Gleichnis über
Nicolais Nachahmung des Hamannschen Stiles gewählt, nicht ohne
Grund war er über eine Auffassungsweise empört, die den Stil für'
ein beliebig auswechselbares und annehmbares Gewand hielt. Eine
lange Kontroverse über Herders Schreibart war vorangegangen.
Schon in den Fragmenten hatte Nicolai, wie wir erwähnten, Herders
»sonderbare Schreibart« zu bemängeln gehabt; sein Tadel hatte sich
gegenüber der Schreibart des Torso um so mehr verschärft, als Her*
der sich hier nicht nur der getadelten Schreibart selbst bedient, son*
dern sie auch an Thomas Abbt rühmt. Nicolais Tadel ist aber nicht
eine willkürliche Nörgelei; sein Stilideal ist, was man oft zu über*
sehen geneigt ist, in seiner geistigen Gesamtanlage ebenso fest be*
gründet, wie etwa Hamanns stilistische Eigentümlichkeiten in der
seinigen. Wie der Begriff »klar« bei Mendelssohn die Unmittelbar*
keit des ästhetischen Eindrucks bezeichnet, so daß »klar« geradezu
mit »eindrucksvoll« identisch ist\ so auch bei Nicolai, und um so
mehr, als er die Worte auch in dynamischer Hinsicht als Zeichen
der Gedanken betrachtet^. Sprache ist ihm lediglich Kommuni*
kationsmittel, nie musikalisches Phänomen, nie der Logos im Sinne
Hamanns; der beste sprachliche Ausdruck ist demgemäß der, wel*
eher die leichteste verständlichste Form der Mitteilung darstellt.
Stellt man auf der einen Seite die Übereinstimmung von Hamann,
Herder und Lenz in ihren Ansichten über die Sprache fest^, so hat
' H. V. Stein, »Die Entstehung der neueren Ästhetik«. Stuttgart 1886, S. 337, vgl.
Ludwig Goldstein a. a. O. S. 22.
- Vgl. Briefe über den itzigen Zustand 13, lOOf. ; 187. und 276. Literaturbrief;
Anhang zu Schillers Musenalmanach, S. 41 42. Vgl. auch A.Schachs Darstellung.
' J. F. Haußmann, Euphorien XVI. S. 256ff. Für diese Zusammenhänge bezw.
Gegensätze vgl. R. Unger, Hamanns Sprachtheorie. Kap. 5 und 9.
183
Nicolai in jener schon zitierten Äußerung an Johannes Müller (s. o.
S. 101) als seine stilistischen Vorbilder Hume, Lessing, Mendelssohn
und Wieland bezeichnet. Wenn also Hamann urteilt: »DieReinigkeit
einer Sprache entzieht ihrem Reichtum, eine gar zu gefesselte Rieh*
tigkeit ihrer Stärke und Mannheit«^; wenn Herder klagt, daß das
hohe Alter der Sprache statt von Schönheit bloß von Richtigkeit
wisse, und die strengen Stilisten den Lacedämoniern vergleicht, die
attische Wollust verbannen^ und später in der »Ältesten Urkunde«
gegen den »hölzernen Abstraktionsstil« Und die »Blindschleichen*
beredsamkeit« loszieht; wenn Lenz die Sprache durch Ausdrücke
bereichern will, die weder in der Grammatik noch im Wörterbuch
stehen, — so stellt Nicolai sein sprachliches Ideal als »facundia et
lucidus ordo« dar ; »blumichte Schreibart, Metaphern, Sprünge, Aus*
rufungen heißen in unsern Zeiten oft Zeichen von Genie und von
Laune, und sind oft nichts als Behelfe, um den Mangel des Zusam*
menhangs zu bedecken^«. Wie Mendelssohn und Nicolai es dem*
gemäß für ihre wichtigste Aufgabe halten, die stilistischen »Aus*
wüchse« Thomas Abbts, den sie zum Literaturbriefsteller erziehen,
in gemeinsamer Arbeit zu tilgen*, so dringt Nicolai auch bei den
Mitarbeitern der Allgemeinen Deutschen Bibliothek auf die er*
strebenswerte stilistische Glätte; Iselin^, Johannes Müller und La*
vater hören von ihm Anmerkungen über ihre Schreibart, der letz*
tere sogar in prinzipiell scharfer Form, »Es schleicht sich itzt«,
schreibt er an Lavater®, »eine Pest in die deutsche Schreibart ein,
durch die Sucht, original zu seyn und durch die Sucht, immer
nachdrücklich, immer voll starker Empfindung zu schreiben. Da*
her fremde Wendungen, Metaphern, neue ohne Noth geprägte
Worte, denen eine Nuance von Nachdruck ankleben soll, dunkle
Anspielungen, die der Schreiber lebhaft zu empfinden glaubt,
schwankende Ausdrücke, die geheimen, der gewöhnlichen Sprache
unerreichbaren Sinn ausdrücken sollen . . . Dieses Gedankenkräuseln
1 ed. Roth 2. 151.
^ Werke ed. Suphan 1, 155.
' Nicolai an Joh. Müller 2. VII. 73= Briefe an Joh. v. Müller, herausgegeb. von
M.Constant, Schaflfhausen 1840, S.72.
' Vgl. Thomas Abbts Vermischte Werke 3, 272; 3, 280; 3, 350.
^ Nicolai an Iselin über dessen »Geschichte der Menschheit«. 12. VI. 69. NN.
* Nicolai an Lavater 24. IV. 74. NN.
184
heißt süße Empfindung beym Verfasser und Leser, und beide . . .^
sich in einer umbra voluptatis, die alle Ehrliche Erzeugung ietzt
gewiß hindert und sogar fürs künftige unmöglich macht«. —
Wenn Nicolai aber an Lavater oder Joh. Müller derart schreibt,
meint er die Adressaten weit weniger'-, als denjenigen, der, weit ge#
fährlicher als Hamann, diese Schreibart zuerst »ausgebildet« hat und
sie auch in seinen Briefen an Nicolai nicht verleugnet: Herder. Er
glaubt Herder gegenüber um so mehr Grund zu solchen Anmer*
kungen zu haben, als dieser ihm wiederholt die Erlaubnis gegeben
hat, seine Rezensionen in stilistischer Hinsicht nach Belieben zu
ändern, und sich, wo Nicolai Anmerkungen, über seine Schreibart
macht, im Prinzip durchaus mit ihm einverstanden erklärt, ja fast
stets eine Art Entschuldigung und die Bitte anfügt, künftighin weiter
derart auf seinen Stil zu achten. Zwar erkennt Nicolai einmal, daß
Herders Schreibart seiner »Denkungsart« entspricht, und daß es
nicht möglich ist, »beide auf einmal umzugießen«^; indessen ver*
sucht er doch wiederum, die Schreibart direkt zu beeinflussen und
in seinem Sinne umzubiegen. Besonders reichlich ist der Brief Ni*
colais vom 24. VIII. 72 mit solchen stilistischen Anmerkungen ver-^
sehen. Nicht nur, daß Nicolai nochmals die Herdersche Schreibart
breit charakterisiert; er gibt Herder auch zu verstehen, daß von
solcher Schreibart eben dasselbe gelte, was er — gelegentlich ihrer
Klopstockkontroverse — über das Ringen nach originalem Wesen
gesagt habe. Herders Schreibart sei in ihrer ursprünglichen An*
läge vortrefflich; sie sei »körnig, feurig, ausdrückend, edel, nach*
drücklich«. Aber der Hang, diese Eigenschaften stets an den Tag
zu legen, der Hang zur Emphase bewirke, daß sein Stil ermüdend
und »fremd« wirke. An einem einzigen — wie ein in Nicolais Nach*
laß gefundener Zettel* erweist, — nicht beliebig herausgegriffenen,
sondern aufgesuchten Beispiel, einem Herderschen Satz aus seiner
Bardenrezension ^, übt er sodann eine peinlich ins Einzelne gehende
' Unleserlich: »umarmen«?
- Nicolai gibt das indirekt im Brief an Lavater vom 12. V. 74 (unter ausdrücke
licher Bezugnahme auf den ersteren Brief) zu.
■' Nicolaian Herder 18. II. 72.
* Vgl. O. Hofifmann, Herders Briefwechsel mit Nicolai S. 84.
• ed. Suphan. 5,434ff.
185
Kritik und weist nach, daß in diesem einen Satz vier ungebraucht
liehe und schiefe Wendungen enthalten seien. Herder antwortet^
zwar, daß Nicolai mit den Anmerkungen über seinen Stil leider
Recht habe, daß sein Stil aber in dem Mangel an »Simplizität, Um*
riß und Absatz im Denken« begründet wäre. Sein Nachsatz aber
zeigt, daß er in Wahrheit Nicolais Ausstellungen höchst übel auf*
genommen hat; er arbeite mit aller Kraft, schreibt er, sein Denken
simpler und planer zu gestalten; »was soll mir aber a posteriori Ihr
Kram von Grammatik helfen? Dadurch würde alles nur so dürre
und blutlos!« Nicolai bemerkte zwar zu diesem Herderschen Satz
am Rande: »Ich glaube doch, daß die Achtsamkeit auf die Gram*
matik die Gedanken simplifizieren könne«, doch hielt er wohl eine
weitere Diskussion hierüber für zwecklos, da er diese Bemerkung
in seinem folgenden Brief nicht verwertete. Freilich kann er sich
dann nicht enthalten, die Herdersche Klopstockrezension als an ein*
zelnen Stellen dunkel zu bezeichnen"-, worauf Herder recht bitter
erwidert*, daß ihm das so unvermutet, wie unangenehm sei, da er
bei Rezensionen sich schon »eben recht aufs Geschwätz lege, um
verständlich zu werden.« Jetzt stand die Wagschale gleich; hier
wurde Herder dunkle und fremde Schreibart vorgeworfen, dort
mußte Nicolai sich grammatische Wortkrämerei und Rezensions*
geschwätz vorwerfen lassen.
Dieser letztere Vorwurf haftete um so stärker in Nicolais Ohr,
als er wußte, daß Herder nicht über alle Rezensionsarbeit so dachte.
Er hatte vielmehr bestimmte Nachrichten, daß Herder einer der
Hauptmitarbeiter des Jahrgangs 1772 der Frankfurter Gelehrten
Anzeigen war^. Nicolai hat die Frankfurter Gelehrten Anzeigen
' Herder an Nicolai 23. XI. 72.
- Nicolai an Herder 2. III. 73.
^ Herder an Nicolai 11. III. 73.
* Petersen an Nicolai 6. XI. 72 NN. (bei W. Scherer, D.L.D.7 8. S.XXXV ist ein
Bruchstück dieses Briefes mitgeteilt); er wünscht von Herder in der Allgemeinen
Deutschen Bibliothek ähnliche Besprechungen wie in den Frankfurter Gelehrten
Anzeigen. — Ähnlich Höpfner an Nicolai 18.11.73. NN. »Daß Herder die Hand
auch mit im Spiele gehabt hat, war wohl sehr sichtbar. Vgl. zu diesem Höpfner=
sehen Brief jetzt Max Morris, »Goethes und Herders Anteil an den Frankfurter.
Gelehrten Anzeigen von 1772«, 2. Aufl. Stuttgart 1912, S. 21 ff. Beide machen als
andere Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen Goethe, Merck, Schlosser
186
gelesen; er tadelt an ihr insbesondere die unbilligen Angriffe gegen
verdiente Männer und die dunkle gezierte Schreibart ^ Seine Kennt*
nis teilt er Herder alsbald in einer recht langen Nachschrift zu den
wenigen Zeilen seines Konzipienten an Herder vom 12. XI. 72 mit.
Auf die förmliche Anrede des Konzipienten scherzhaft anspielend,
meint er, er wisse, seitdem sich das Gerücht von Herders Teilnahme
an den so weltlichen Frankfurter Gelehrten Anzeigen verbreitet
habe, nicht recht, ob die »Hochwürdige Zunft« Herder bei sich
noch dulden oder ihn nicht vielmehr unter die Laien verstoßen
werde. Er tut so, als ob er seine Kenntnis nicht einer bestimmten
Nachricht verdanke, sondern Herders Mitarbeit ohne weiteres aus
seiner Schreibart erraten habe; wie Rembrandt von einem seiner
Bilder seinen Namen umsonst entfernt habe, da sein Name dennoch
an allen Ecken seines Bildes stand, so sei auch Herder überall sofort
an seiner Schreibart kenntlich. »Desto schlimmer für Euch Original*
köpfe, daß Ihr alles auf Eure eigene Weise schreibt«, folgert er;
so sei es auch Lessing ergangen, der sogar eine so originale Art
hatte, an die Türe zu klopfen, daß jedermann im Zimmer, mochte
Lessing nun jede beliebige Art anzuklopfen nachahmen, sofort
rief: »Da kommt Lessing.« »Wir andern unoriginalen Schrift*
steller«, schließt er, »schleichen unter der Menge weg, und haben
nicht den Nachteil, daß wir erkannt werden, wenn wir unerkannt
bleiben wollen.« Ja, was noch mehr bedeute, bei Untersuchungen,
die eher Schritt vor Schritt vor sich gehen, »als gleich dem Flug der
Einbildungskraft sich über die Erde erheben wollen«, hätten diese
unoriginalen Schriftsteller den Vorzug, »den zuweilen der hat, der
den gebahnten Fußsteig betritt, nämlich, daß er am bequemsten
und auch wohl am kürzesten zum Ziele kommt.« Jedenfalls aber,
um das auf sich beruhen zu lassen, sei erklärlich, »warum die subA
Le Bret namhaft. - Am 18. XII. 72 schreibt Petersen (NN.): »Die vornehmsten
Mitarbeiter an den Frankfurter Gelehrten Anzeigen sind, wie mir versichert
worden abgetreten«. Nicolai war also viel eingehender unterrichtet als etwa Ha=
mann, der Nicolai 27. III. 73 (Vierteljahrsschrift 1, 128) fragt, ob »das Märchen
von einer gelehrten Zusammenverschwörung oder einem Triumvirat im Reich
der deutschen Literatur einigen Grund hat.«
' Randbemerkung zum Brief Höpfners vom 25.VIII.72 (NN.). Höpfner hat ihm
einige Stücke der Frankfurter Anzeigen übersandt. Mit den »verdienten Man*
nern« meint Nicolai »z. E. Gessnern« »in der Rezension seiner neuen Idyllen«.
187
verzeichneten Rezensionen« noch nicht in der Allgemeinen Deut*
sehen Bibliothek zu lesen wären, und »vermutlich die sub B ver*
zeichneten noch recht lange auf sich warten lassen« würden. — Her*
der, über diese zudringliche Art sicher empört, trifft in seiner, im
allgemeinen wieder zurückhaltenden und nachgiebigen Antwort^
doch gleich die vermutliche Ursache dieser Nicolaischen Invektiven.
»Daß ich so kenntlich in der Bibliothek bin« schreibt er, »ist mir
auch deswegen nicht recht, weil ichs fast für eine Sünde halte, über
das liebe Ding, was Geschmack heißt, jemand auf der "Welt mit
meiner Meinung zu beleidigen.« Allerdings faßt er damit seinen
Gesichtspunkt schief und unzutreffend: denn in Wahrheit sind die
Rezensionen der Frankfurter Gelehrten Anzeigen doch entschieden
subjektiver und selbstherrlicher gehalten als diejenigen der Biblio*
thek; Nicolai, der gerade Herder gegenüber immer betont hatte,
daß er die Bibliothek nicht brauchen wolle, seine »persönlichen
Meinungen fortzupflanzen«, wird von dieser Entgegnung nicht ge*
troffen. Überhaupt ist diese Herdersche Antwort gerade in ihrer
Zurückhaltung und Nachgiebigkeit- um so schwerer verständlich,
als doch gelegentlich ein gegen Nicolai geführter Hieb — wie z. B.
der Satz: »so geht's dem lieben Publikum, das so gern Stil und Ma*
nieren kennen will und sich beinah selbst nicht mehr kennt« — zeigt,
wie tief Nicolais Angriffe ihn berührt haben. Die Zudringlichkeit
Nicolais hat ihn verletzt; und er, der seine Rigaer Predigerstelle
nicht zuletzt wegen der weltlichen Streitigkeiten aufgegeben hatte,
in die ihn die Klotzianer verwickelten, muß hier von Nicolai recht
unverblümt hören, daß er abermals sein geistliches Amt durch seine
weltlichen Interessen in Gefahr gebracht habe. Besonders aber der
anscheinend ganz unvermittelte Angriff Nicolais gegen falsche Ori*
ginalitätssucht hat ihm klar zu erkennen gegeben, daß die Wege
sich trennen mußten.
Allein es gab der Gegensätzlichkeiten noch mehr! Im Frühjahr
' Herder an Nicolai 15. 1. 1773.
' So behauptet Herder, daß er schon »vielfach gebrummt und gelacht« habe,
welches »wunderliche Zeug« man auf seine Rechnung setzte, während er doch
in Wahrheit »vielleicht im ganzen Jahrgang nur 7 Rezensionen« geliefert habe . . .
Er bezeugt Nicolai auch, daß er seine Mitarbeiterschaft mit Ende des Jahres zu«
rückgezogen habe.
188
1773 erschienen die »Fliegenden Blätter« »Von deutscher Art und
Kunst«. Von drei Gesichtspunkten aus mußte Nicolai diese Auf*
sätze ablehnen; der Shakespeareaufsatz, der Aufsatz über Ossian
und die Lieder alter Völker und der (Goethesche) Aufsatz über die
deutsche Baukunst mußten im gleichen Maße seinen Widerstand
erwecken. Allerdings war Nicolai, vielleicht schon vor Lessing^ und
Mendelssohn'-, jedenfalls zunächst unabhängig von ihnen, ein war*
mer Shakespeareverehrer '^ — aber ganz im Sinne seiner Kunstan?
schauungen. Auch das WildJmaginative, Original*Unebenmäßige
Shakespeares war ihm Kunst — damit war er über Gottsched, ja
über Joh. Elias Schlegel* hinausgeschritten; aber es war Kunst
doch nur insofern sich das scheinbar Regellose und Phantastisch*
Willkürliche in dem durchaus einzigartigen Falle dieser Zeit, dieser
englischen Gesellschaft, dieses Theaters — wie er denn bemerkens*
werterweise fast ausschließlich auf die Shakespearesche Komödie,
nicht auf die Tragödie exemplifiziert — sich als das Gesetzmäßige,
' Über diese wohl nicht zu entscheidende Streitfrage neuerdings Marie Joachimi=
Dege, »Deutsche Shakespeareprobleme . . .« Leipz. 1907, S. 28 u. 30, Anm. 1, wo
das Material zusammengestellt ist, ferner Erich Schmidt, »Lessing« 1, 413 und
A. V. Weilen in seiner Einleitung zu D L D 29/30, S. XVI. Wichtig ist indessen für
uns nicht sowohl die mit dem vorhandenen Material nicht recht zu beweisende
Priorität Nicolais, als vielmehr seine Selbständigkeit im Ergreifen des neuen
Gedankens und Autors; und darin sind die drei genannten Autoren (und
Fr. Gundolf, »Shakespeare und der deutsche Geist«, Berlin 1911, S. 121) gegens
über der älteren Forschung, insbesondere Biedermann, einig.
' Nicolai schreibt in einer Anmerkung zu seiner Ausgabe von Lessings Werken
(1794, Bd. 27, S. 83), daß er zu der Zeit, als er die Abhandlung vom Trauerspiel
verfaßt habe (1757), Shakespeare gegen Moses habe »verteidigen« müssen.
' Vgl. außer der bekannten Darstellung in den Briefen über d. itz. Zust. z. B.
seinen Brief an Uz v. 5.X. 1762 (NN), in dem er das Projekt einer Shakespeares
Übersetzung, die er alsbald in seinem Verlage erscheinen lassen wollte, aus«
einandersetzt; seine in der Rezension von Justus Mosers »Harlekin oder die Ver«
teidigung des Grotesk^Komischen« (204./5. Literaturbrief, gemeinsam mit Abbt)
durchblickende Sympathie für die Shakespearschen Narren; seinen Unwillen
über Voltaires »Verleumdung« Shakespeares (Brief an Joh. v. Müller 14. XL 72
= a. a. O. S. 51). — Seine Inanspruchnahme Shakespeares in späterer Zeit da=
gegen (wie in den Vertrauten Briefen S. 116 ft. gegen — die Romantiker!), ist von
Herders Standpunkt abhängig.
* »Vergleichung Shakespeares u. Andreas Gryphs«, jetzt ed. Antoniewicz, DLD
26, 71 ff.
189
als Erfüllung der »natürlichen« Regeln enthüllte; so gab er zwar,
unabhängig von Lessing, das Gesetz von der Einheit des Ortes
preis, aber wenn es ihm auch kein Beweis für Shakespeares ver*
meinte Un^Kunst war, daß Shakespeare die Einheit des Ortes
nicht beobachtete, tadelte er doch die übermäßige Anwendung der
Ortsveränderung als »Unwissenheit in der Art einen Plan zu
machen« ^ Und wenn er das Exceptionelle Shakespeares gegen starre
Regelhaftigkeit als solches erkannt und geschützt hatte — seit Gott?
sched im Bewußtsein der Zeit abgetan war, seit solche pedantische
Strenge nicht mehr geltend gemacht wurde, war diese Besonderheit,
die er ja nicht als lebendige Totalität sondern als historisches Fak-
tum gewürdigt hatte, für die wahrhaften Bemühungen um die Bil«
düng einer deutschen Nationalliteratur eher eine negative Folie. Die
Bedingungen, unter denen Shakespeares Werk erwachsen war,
stimmten nicht zu der deutschen Gegenwart; daher konnte Shake*
speare nur verwirrend wirken. Ja er war eigentlich nicht übersetz*
bar — selbst die Ausdruckskunst eines Wieland mußte hier versagen,
weil seine Ausdrucksmittel nicht die des elisabethanischen Zeitalters
sein konnten: Shakespeare, meint Nicolai, ist nur dem wahrhaften
Kenner von Zeit, Gesellschaft, Sprache überhaupt verständlich —
aber dieser braucht keine Übersetzung; so kann — diese Befürch*
tung äußert er sechs Jahre vor Herders Shakespeare^Aufsatz — der
Versuch, sich Shakespeare ohne solche Voraussetzungen zu nähern,
nur zu Mißverstand, Affektation, Exzentrizität führen^. Wie skep=
tisch, ja wie ablehnend mußte und durfte er gestimmt sein gegen eine
Wiedererweckung Shakespeares in toto, gegen die Wendung ins
AbsolutsÄsthetische, die hier in diesem Dithyrambus und mehr
noch in den hundertfachen x\ußerungen und poetischen Versuchen
der Jungen geschah, gegen die Verabsolutierung von dramatischem
Stil, Tempo, Diktion und Psychologie Shakespeares, die Stichwort
und Kennzeichen einer neuen Zusammengehörigkeit wurde; und
wie wenig — dürfen wir weiterhin schließen — konnte er, der
gerade an Shakespeare selbständig (und wohl als erster in Deutsch*
land) den funktionellen Zusammenhang zwischen Dichtung und
^ Abhandlung von Trauerspiel = DNL 72, 342.
* Vgl. Nicolais Rezension der Wielandschen Shakespearesübersetzung; A D Bis
bhothek 1, 300, und Göckingk a. a. O., bes. S. 132.
190
Gesellschaft gesehen hatte, dem Begriff des Genies als einem
Analogen zum göttlichen Schöpfertum geneigt sein, wie er ihm in
diesem Herderschen Aufsatz zuerst entgegentrat. — Nicht minder
heftig war Nicolais Gegensatz zu den Blättern von Deutscher Art
und Kunst von einer anderen Seite her. Wir hatten schon in seiner
Polemik gegen das Bardenwesen seine Abneigung gegen die Ver#
ehrung »rauherer Zeiten« kennen gelernt; als solche erschienen ihm,
dem »Schüler« Winckelmanns, aber nicht diejenigen des klassischen
Altertums, sondern die der deutschen Vergangenheit, — zwar nicht,
wie man gewöhnlich sagt, aus unhistorischer Denkweise, aber aus
seiner Auffassung der Poesie als Funktion der Gesellschaft und
ihrer Bildung. Von hier aus können wir bei ihm, der die »Zurück*
rufung von den rauheren und kindischen Vergnügungen« als eine
Hauptaufgabe der Kunst angesprochen hatte, eine Abneigung gegen
Goethes »Von deutscher Baukunst« und Herders »Über Ossian
und die Lieder alter Völker« erschließen. Denn weder aus dem
Briefwechsel mit Herder noch aus anderen Äußerungen Nicolais
haben wir für diese Zeit eine irgendwie bestimmte Stellungnahme
gegen die Tendenz dieser beiden Aufsätze. So erwähnt er Herder
gegenüber am 2. III. 1773, er wisse wohl, daß Herder eine Abhand*
lung von den Nationalliedern schreiben wolle; aber er begrüßt diese
Herdersche Absicht eher: »ich möchte ein Kapitel von den National*
rhythmis dazu schreiben« (!). Freilich hält er es für nötig hinzu*
zufügen, es würde ihm zwar leicht fallen, »eine Menge neu schei*
nende, glänzende Sätze darüber auszukramen, aber wer etwas
Wahres darüber schreiben wollte, müßte sich in jedem Lande
lange und zwar unter dem gemeinen Mann aufgehalten haben \
sonst läßt sich auf nichts Wahres kommen und was ist der glän*
zendste Irrtum?« Aber auf Herders merkwürdige, teils seine Autor*
Schaft ableugnende und das Fragment als »das hingeworfenste
Stück« entschuldigende, teils spöttisch abwehrende Antwort^,
' Vgl. die Vorrede seines F. kl. Almanaches.
^ Herder an Nicolai 11. III. 73. »Ich wollte nicht, daß jemand meinen Namen
damit verbände, so nichts dieser auch ist und ewig bleiben soll : der einzige Zweck
des Aufsatzes ist, anzutreiben, daß man noch die Reste von Nationalliedern aus
dem Munde des Volkes sammle. Und da hiezu eben das dunkelste und Unkulti^
vierteste der Ort ist, — Bayern, Tirol, Schwaben — so bescheide ich mich gern,
daß ich allen sch(önen) Geistern und Aesthetikern Sachsens und Berlins wie jener
191
beteuert Nicolai S er sei »weit entfernt«, Herder »von der Ab*
Handlung über die Nationallieder abzuschrecken«, »vielmehr sehr
begierig darauf«; nur habe er beiläufig gesagt, man dürfe nicht
so schließen wie einst gewisse Leute, die den Kuhreihen für eine
treff liehe Musik hielten, weil er den Schweizern, die in französi*
schem Dienst standen, zu spielen verboten war. Nicolai wehrt
sich also dagegen, daß man das, was man nicht kenne, verherr=
liehe, bloß weil es in den gegenwärtigen Verhältnissen keinen Platz
habe; er kämpft gegen ein Ressentiment, das, wie er mit Recht
fürchtet und wie es ihm dann bei Bürger entgegentrat, suggestive
Kraft ausübt. Kaum vier Jahre später nimmt sein »Feyner kleyner
Almanach« diesen Kampf gegen Herder und Bürger auf. Zu dieser
Zeit freilich vermag er noch Biesters Rezension dieser Aufsätze, die
freilich, wenn auch im Grunde freudig zuzustimmen bemüht, recht
verschwommen ist, in die Allgemeine Deutsche Bibliothek^ auf*
zunehmen. Aber er erkennt doch zum mindesten klar die Gegen*
sätze. Von seinem »Sebaldus Nothanker« bemerkt er zu Herder^:
»Er ist deutsch, obgleich nicht nach deutscher Art und
Kunst. Ich bin also neugierig zu sehen, in welchem Profile er
sich Ihnen in dem Standpunkte, in dem Sie stehen, gezeigt
hat.«
Wiederum tritt hier der »Sebaldus Nothanker« an entscheiden*
der Stelle trennend auf. Nicolai hat in ihm den Ausdruck seines
Denkens und Strebens gefunden, der, in gewissem Sinne endgül*
tig, ihm nur die Verteidigung seines hier eingenommenen Stand*
Punktes erlaubt. Und diese Verteidigung wurde alsbald Herder
gegenüber erforderlich. Denn Herder hatte — wie Nicolai gegen*
über schon in einer diesem freilich unverständlichen Wendung an*
gedeutet* — , dem Sebaldus Nothanker seinerseits einen nicht minder
gewichtigen Ausdruck seines Geistes in der Ȁltesten Urkunde
des Menschengeschlechtes« gegenüberzustellen, allerdings so ver*
Böotier vorkommen müsse, der Laute des Tieres gesammelt haben wollte, die
seiner Nation eben nicht den feinsten Beinamen gaben.«
' Nicolai an Herder 18. III. 73.
- Anhang zum 13. '24. Band., S. 1169ff., hierüber vgl. weiter unten.
" Herder an Nicolai 25. VI. 73.
' Herder an Nicolai 11. III. 73 = O. Hoffmann a.a.O. S.94. »Und wie, wenn er
(Absalom = Herder) über ganz anderen Plänen brütete . . .« usw.
192
schränkt in Herders Subjektivität, daß der junge Goethe urteilte:
»Es ist ein so mystisch weitstrahlsinniges Ganze, ein in der Fülle
verschlungener Geschöpfsäste lebend und rollende Welt, daß
weder eine Zeichnung nach verjüngtem Maßstabe eini*
gen Ausdruck der Riesengestalt nachäffen, oder eine
treue Silhouette einzelner Teile melodisch sympathe*
tischen Klang in der Seele anschlagen kann«; und daß er
sich also damit begnügte, es dem Freunde durch Charakterisierung
der polemischen Tendenz gegen die »Lasterbrut der neueren
Geister« nahezubringen.^ Die positive wie die polemische Ten*
denz dieses Herderschen Sturm? und Drangwerkes traf aber den
Nicolaischen Roman. Wenn Herder gegen das »begeisterte System
der Menschenliebe, Toleranz, Irreligion und abstraktionslosen
Fingerweisheit« dieses philosophischen, den Menschen moralisch
wie physisch erniedrigenden Jahrhunderts unermüdlich mit
Interjektionen und Machtworten anrannte, wenn er die »Blind*
Schleichenberedsamkeit«, die nie zum inneren Sinn des Seins vor«
dringende Demonstration^ heftig anfiel; und wenn er mit macht*
vollen Sätzen die Gläubigkeit als das neue Lebenszentrum pries,
die Religion nicht als Erfindung von Priestern, sondern als das Ur*
sprüngliche und aller menschlichen Bildung Vorangehende ver*
kündete, — überall schien der»Sebaldus Nothanker« als das natür*
liehe Widerspiel der »Aeltesten Urkunde«. Nicolai spottete im
Roman über die alles geistige Leben überwuchernde dogmatische
Theologie: es war Satire — nicht, wie Minor meint, ungeschickte
Führung der Handlung — wenn Sebaldus auf allen Landstraßen
Theologen traf, wenn dogmatische Grillen Freundschaften und
Feindschaften stifteten usw.; er verlangte kritische Revision der
Liturgie, Lehrbegriffe, vor allem des (protestantischen) Kiichen*
regiments. Herder aber wollte bewirken, daß »Offenbarung und
Rehgion Gottes, statt daß sie jetzt Kritik und PoHtik ist, simple
Geschichte und Weisheit unseres Geschlechtes werde«, und gegen*
über der Nicolaischen Tendenz zur Emanzipation von der Theo*
' Goethe an Schoenborn, Juni— Juli 1774 = Morris, Der junge Goethe IV, 27.
■ Vgl. aber Nicolai an Lavater 12. VI. 74 (NN): »Die Demonstration und Zer=
gliederung der Begriffe ist der Weg von einer Seele zur andern. Ohne dieses
Mittel können wir nicht in einander wirken« usw.
13 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 193
logie steht seine Verkündigung, deren Erfüllung seine Urkunde
sollte herbeiführen helfen: »Die magere Bibel wird alle sieben
Wissenschaften der alten und tausend der neuen Welt, wie die
fetten Kühe Pharaos in sich schlucken^«. Seine Urkunde lehrte:
»Die positive Religion ist so alt als die Welt, älter als die natür?
liehe, und diese durch jene entstanden.« Aber das »Glaubens*
bekenntnis«, das Nicolai auf Schlözers wiederholte Bitten vor diesem
ablegt^ geht davon aus, daß »Offenbarung nicht in allen Fällen
(= unbedingt) als ein Vehiculum der natürlichen Religion not*
wendig sei, oder daß etwas als falsch Erkanntes angenommen werden
müsse, damit der Pöbel ein vehiculum für die Wahrheit . . . habe« ;
das sei der Weg zur Hierarchie. Er glaube vielmehr, daß, wenn ein
Volk die reine natürliche Religion hätte, in einigen Generationen
Zusätze aus einer positiven Religion gemacht werden; »so sind
meines Erachtens alle Offenbarungen entstanden, deren sich ver-
schiedene Völker des Erdbodens rühmen«. Es liegt hier zwar ein
allerdings mit Rücksicht auf Schlözers Fragestellung — »ob die ge*
offenbarte Religion dem Staate notwendig sei« — besonders auf=
klärerisch gefärbter Ausdruck vor, der sogar einen von Nicolai
übersehenen Circulus enthält; indessen an der durchscheinenden
Grundauffassung, daß Religion ohne Offenbarung möglich sei, hat
er stets festgehalten, und sie auch im Sebaldus Nothanker vertreten.
Natürliche, zwingende Folgerung aus dieser Polarität wäre es ge*
wesen, wenn hüben und drüben die Brücken abgebrochen worden
wären. Die Ehrlichkeit, das unbedingte Vertreten seines so gewor=
denen Werkes trotz aller halb oder ganz eingestandenen Schwächen
gerade gegen die Seite, der sein Kampf galt, machte es für Herder
erforderlich, auch die äußere Folgerung aus seiner geistigen Stel*
lungnahme zu ziehen und sich von Nicolai zu trennen. Zu all jenen
Gegensätzlichkeiten, die wir darzustellen suchten: zu der Divergenz
ihrer Anschauungen über Klopstock; der x\blehnung Hamanns, zu
dem Herdersich eben wieder zurückgefunden hatte, durch Nicolai:
zu Nicolais Bekämpfung dessen, was Herder mit Recht für festge*
gründeten Ausdruck seines Wesens hielt, nämlich seiner stilistischen
Eigenart; zu der durchscheinenden Ablehnung von Herders Autor*
• Herder an Hamann Mai 1774 (Roth V, 70).
^ Nicolai an Schlözer 14. III. 72. Ich gebe diesen Briefwechsel im Anhang wieder.
194
Schaft in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« und »Von deut*
scher Art und Kunst« — zu allen diesen Gegensätzlichkeiten trat
hier der im Tiefsten trennende Gegensatz zweierWerke. Hier konnte
Herder nicht schweigend »abbiegen«, sondern mußte seine Art
bekennen. Und um so mehr, als Nicolais mannigfache Ablehnung
nunmehr bestimmte Stellung gegen den ganzen Kreis einnahm \ auf
den und in dem er zu wirken glaubte. Und hier, wo es nicht nur
mehr um die eigene Person ging, wo er seine Freunde an Nicolai
verraten hätte, wenn er nicht Widerspruch erhob und sich deutlich
von ihm abwandte, wo der Autor ein Kompromiß mit dem Manne
hätte schließen müssen, dessen Wesen und Denken sein aus tiefster
Inbrunst erwachsenes Werk so nachdrücklich und heftig bekämpfte
— hier mußte Herder Nicolai eine Absage erteilen. Schon am
2. März 1773 hatte er Hamann die Lockerung seines Verhältnisses
zu Nicolai und die Absicht der Auflösung mitgeteilt"-. Noch am
19. Juni 1773 berichtet er, nach dem Empfang des Nothanker, an
Nicolai ganz objektiv über das fast begeisterte Lob, das er auf sei*
ner Reise allenthalben über den Sebaldus Nothanker gehört habe.
»So verschieden natürlich«, bemerkt er allerdings, wie alles Götter*
und Menschenwerk auch dieses genommen werden muß (I), so sind
wenigstens alle darüber einstimmig, daß es für Deutschland so wahr
und genau aufgenommen, so fest durchgehalten, und so eigentlich
und stark angelegt sei, daß es von den zwei Seiten Nutzen schaffen
müßte (!), von denen Deutschland denn auch so sehnlich Verände*
' Der bei O. Hoffmann a. a. O S.lOl abgedruckte Brief Nicolais an Herder vom
25. VI. 1773 stellt nur eine Nachschrift zu dem mit gleicher Post abgegangenen
Brief an Herder dar, der als verloren gelten muß. In diesem »inliegenden« Brief
muß Nicolai gegen Goethe und vermutlich auch Lavater polemisiert haben, wie
aus Herders noch zu erwähnender Antwort (vom 14. VIII. 73) ersichtlich ist.
'■' Bei O. Hoftmann, Herders Briefe an Hamann, S. 71 ff. Er erklärt dort die Tat*
Sache, dai^ er Hamanns an Eberhard zur Weiterbeförderung an Herder über*
sandten Brief erst so spät erhalten habe, damit, dal^ Eberhard den Brief Nicolai
übergeben hatte, »den ich denn auch nicht so gar viel mehr kenne«. Seine Mit-
arbeit an der Bibliothek habe sich darauf beschränkt, alte Schulden abzutragen.
»Neulich hab ich Klopstock Oden dahin gegeben und denke mit Sulzer ganz
den Tanz zu beschließen, was auch Nicolai gern sehen wird, weil meine Rezen*
sionen, wie er selbst wehklagt, seine andern, ich weiß nicht ob verrufen oder
auszeichnen. Genug wir sind Beid' auf einem Punkt, uns einander zu
segnen.«
13* 195
rung und Umwechslung erwartet«; und er verspricht ein ausführ*
Hcheres Urteil, sobald er den Roman selbst gelesen haben werde.
Alles in allem in Nicolais Ohren jedenfalls ein unbedingtes Lob
seines Romanes, in Wahrheit freilich eine durch den Bericht der all*
gemein beifälligen Aufnahme verschleierte kühle Abwehr. Dann
aber, nach der Lektüre des Romans, und nach Nicolais Mitteilungen
über den unerwartet großen Beifall, den derselbe gefunden hatte,
nach den schon erwähnten gleichzeitigen Nicolaischen Angriffen
gegen seine Freunde sind alle Hemmungen beseitigt; jetzt, am
14. August, vollzieht er die Aufkündigung in einem kurzen und
kühlen Brief. Er lehnt die ihm aufgetragene Rezension der Blätter
»Von deutscher Art und Kunst« mit dem Hinweis auf seine Mit*
arbeiterschaft an denselben ab, nimmt Goethe gegen anscheinende
Invektiven Nicolais in Schutz, .indem er nachdrücklich bemerkt,
daß der V^erfasser des »Götz von Berlichingen«, gegen den er keine
»Marionette von neuerem Kunstwerk« eintauschen möchte, »ein
Kopf« sein müsse. Zugleich bittet er »auf einige Zeit« um Abschied
von der Bibliothek; er werde derselben »vielleicht von Band zu
Band unbequemer«, da er zu sehr »in anderen Arbeiten tummle«
und sein ästhetisches Urteil vielleicht »zu sehr altere und giere«;
bei außerordentlichen Fällen stehe er Nicolai jedoch zur Ver*
fügung. Auf Nicolais Bitte um weitere Mitarbeit wiederholt er
in seinem kurzen Begleitschreiben zu den letzten rückständigen
Rezensionen, das Nicolai am 12, Januar 1774 empfingt — seine
Absage; er sende die letzten Rezensionen, um seiner Pflicht nach*
zukommen, würde es aber gern sehen, wenn er sie ungedruckt
zurück erhielte; auch diese Rezension sei »frei«, und er sei fast
müde, sich »mit freien Rezensionen Feinde zu machen«, ohne es
zu dürfen — ein vorgeschobener Grund, wofern man nicht die
Herdersche Müdigkeit als eine Müdigkeit der Bibliothek gegen*
über ansieht. Auf zwei weitere kurze Briefe erhielt Nicolai keine
Antwort, erst auf einen recht ausführlichen, der Herder nochmals
zu einem letzten, nunmehr erregten Briefwechsel mit Nicolai ver*
anlaßte.
Denn ganz anders mußte sich, seiner Art gemäß, Nicolai ver*
halten, nachdem er — und zwar er, wie auch R. Haym urteilt, zu*
' Nach Nicolais Empfangsnotiz. O. Hoffmann a. a. O. S. 104.
196
erst' — die mannigfachen Gegensätzlichkeiten bemerkt hatte. Es lag
ihm nicht sowohl daran, die in jedem Falle beträchtliche, anregende
Kraft Herders für die Bibliothek zu erhalten; ist er doch vielmehr
sich bewußt, daß Herders Mitarbeit durch die stilistische Eigenart
der Rezensionen andauernd, trotz der wechselnden Zeichen, ver*
raten wird, und macht ihn doch Merck darauf aufmerksam'-, daß es
nicht sehr »politisch« sei, Herder mitarbeiten zu lassen, der »so ganz
allein dasteht und beinahe den anderen Kommiütionen so viel Un*
heil zufügt, als ob er sie schon rezensiert hätte«. Einzig die von uns
schon charakterisierte kompromißhafte Toleranz Nicolais hat es
bewirkt, daß er den Verkehr mit Herder in der alten Weise fort*
setzte, ja daß er Herder durch Zuweisung neuer und wichtiger Re=
zensionen, mochte er auch im Urteil, wie hinsichtlich der Klopstock*
rezension, erheblich abweichen, nur noch fester an die Bibliothek
zu ketten suchte. Nichts ist daher für ihn natürlicher, als daß er auf
Herders Absage in einem recht freundschaftlich gehaltenen Brief '^
Herder bittet, seine xMitarbeit fortzusetzen; er sei freilich in vielen
Stücken ganz anderer Meinung als Herder; wenn er das Glück
hätte, mit Herder persönlichen Umgang zu pflegen, so würde er
versuchen, Herder zu seiner Auffassungsweise zu bekehren, da dem
aber nicht so sei, freue er sich wenigstens, ungeachtet der inhalt*
liehen Gegensätze, die ihm widerstrebenden Dinge von Herder
»mit allem Feuer der Einbildungskraft« verteidigt zu sehen. Auf
Herders schon erwähnten zweiten Absagebrief fragt er nochmals *,
ob wirklich keine Hoffnung mehr sei, Rezensionen von Herder zu
erhalten. Die Bibliothek verliere durch Herders Fortgang so sehr,
daß er nur hoffen wolle, Herder würde einmal »in bessere Laune
' R. Haym a. a. O. S.479f. — Vgl. Nicolai an Herder 19.XI.71, nachdem er gegen
die Originalgenies polemisiert hat: »vielleicht sollte ich Ihnen am wenigsten da=
von vorschwatzen, . . . denn ich glaube fast, Sie haben die entgegengesetzte Par=
tei ergriffen«. Ähnlich bemerkt er 25. I. 72, nach einer Polemik gegen Herders
Schreibart, er könne- sich schriftlich nicht mit der wünschenswerten Klarheit
ausdrücken; »wir sind zu weit auseinander«.
' Merck an Nicolai 7. XI. 72 = Wagner, Briefe aus dem Freundeskreise. Nicolai
hat diese Stelle in Mercks Brief rot angestrichen (NN.). War dies eine Anspielung
auf die schon erwähnte auszeichnende Beurteilung der Herderschen Rezensionen
durch die Frankf. Gel. Anz.? (s. o. S. 179, Anm.)
' Nicolai an Herder 6. IX. 73.
* Nicolai an Herder 14. I. 74.
197
kommen«. Auf diesen Brief, wie auf die Übersendung des zweiten
Stückes des 21. Bandes der Bibliothek '^ erhält er von Herder keine
Antwort, wohl aber, wie er vermutet', in Herders Auftrag ein Exem-
plar der »Aeltesten Urkunde«, ein »Freundschaftszeichen«, für das
er Herder danken zu müssen glaubt. Dieser Dankbrief Nicolais
aber (vom 13. VI. 74) ist zugleich ein ausdrücklicher Scheidebrief.
Er befürchte zwar noch nicht, daß Herder ihm seine Offenherzig*
keiten übel genommen habe, allein er bemerke doch, daß ihre Mei«
nungen, »je mehr sie sich entwickeln, desto weiter auseinander*
gehen«, und könne daher schwerlich mehr von Herder Beiträge zur
Bibliothek erwarten; »wenn wir aber scheiden, so sei es brüderlich,
wie jene Patriarchen: ,Wilt du zur rechten, so will ich zur linken'.«
Nach dieser Einleitung geht er auf die »Urkunde« ein.
Am Tage vorher hat er in einem langen Brief an Lavater seine
»nicht hohe« Meinung über die »Aelteste Urkunde« auseinander*
gesetzt '. »Ich lasse freilich so schreiben, wer so denken und so emp*
finden kann — aber dem menschli(chen) Geschlecht ist meines Er*
achtens damit gar nicht geholfen. Welche Dreieinigkeit, welche
Menschenwerdung, welches Geheimnis, welche Schwärmerei wollte
ich nicht ebenso rätselhaft, so pomphaft mit solchem Raketenfeuer
vortragen und anpreisen. Wo will ich nicht geheimen Sinn und
göttliche Weisheit finden, wenn ich bloß die Blendlaternen der
inneren Empfindung und keine Abstraktion oder Demonstration^
anwenden darf, auf die unser Freund so unbilligerweise schilt.«
Er verteidigt die Demonstration und stellt sie über Herders
Methode: »Durch bloße Sprünge, abgebrochene Gedankenaus*
rufung lasse ich jeden vernünftigen Mann weit kälter als bei der
kältsten Demonstration, und wenn ich zwölf!!!! hinsetzte.« Mit schar*
fen Worten wendet er sich gegen Herders in der Tat höchst maßlose
Verächtlichmachung der wissenschaftlichen Leistungen anderer';
^ Nicolai an Herder 29. HI. 74.
- Nicolai an Herder 13. VI. 74.
■ Nicolai an Lavater 12. VI. 74 Copie in NN.
^ So triumphiert er in einer Randbemerkung seines Exemplars von Werthers Lci=
den (Düntzer, Schnorrs Archiv X, 390), daß auch W'erther, wo er sich ganz deut=
lieh geben wolle, »Abstraktionen« brauche. Düntzer hat diese Randbemerkung
mißdeutet.
■' Insbesondere der Übersetzung des Alten Testaments von Michaelis.
198
er wirft Herder vor, daß er »zu viel z\nstalten mache« für seine
wenigen Ergebnisse: und die besten derselben seien nicht einmal
neu, vielmehr stehe schon in Brydones »Reise nach Sizilien«, wo
er vom Ätna die Sonne aufgehen sehe, »Herders ganzer erster Teil
auf einem Blatte, ohne Prunk und macht ein vortreffliches Bild.«
Solches Verfahren aber sei für die deutsche Wissenschaft eine große
Gefahr: »Die leidige Originalsucht, wird endlich noch alle Celehr*
samkeit dem menschlichen Geschlechte unnütz machen ;« ^ besonders
aber schade sie der schönen Literatur bei den Großen, die kaum
angefangen hätten, der deutschen Literatur Geschmack abzugewin*
nen ; wenn sie »den David, die gelehrte Republik, die Urkunde, die
deutsche Art und Kunst, die Frankfurter Zeitungen, den Wands*
becker Boten« in die Hand bekämen, könne man ihnen schwerlich
»das Gute, das in der .Republik', in der .Urkunde', in der ,Art'
i st«, begreiflich machen ; »ihr gelindestes Urteil« könne sein : », Paule,
du rasest, deine große Kunst macht dich rasen'. Und man muß still*
schweigen.« Lavaters Lob der Urkunde weist er mit bestimmter
Entschiedenheit zurück. Wenn Lavater die Urkunde in »hoher Ima*
gination« einer Pyramide vergliche, so nehme er diesen Vergleich
gern an; nur nicht in »unbestimmter Bewunderung«, sondern in
der klaren Erkenntnis: »ein ungeheures Gebäude, von außen bau=
fällig und inwendig leer und dunkel, über dessen Anlage man er*
staunt und dessen Absicht man nur ungewiß vermuten kann, das
der Neugierige einmahl betrachtet und schwerlich zum zweiten
mahle wiederkommt«. Er liebe indessen keine Bücher, die Stein*
massen glichen; er wünsche »wohnbare Häuser für das Ganze des
menschlichen Geschlechts, und Palläste und Gärten für die wenigen
Auserlesenen, die den Aufwand zu bestreiten wissen.«
Diese Polemik gegen die »Urkunde«, gegen die Form, wie gegen
den Geist der Schrift, die Nicolai bald in einem Brief an Johannes
Müller fortsetzt-, ist nun in ihren Grundzügen, wenn auch im
wesentlichen in der äußeren Form geglättet und gemildert, der
Hauptteil seines »Patriarchen«briefes an Herder. Die Polemik be*
' Ganz ähnlich Eberhard an Nicolai 23. VII. 74 (NN.) in einem für die Stimmung
der »Berliner« gegen Herder ungemein bezeichnenden Brief, den ich im Anhang
wiedergebe.
- Nicolai an ]oh. Müller 10. X. 74 (a.a.O. S.90)
199
ginnt mit Angriffen gegen die Form der Herderschen Schrift. Er habe
wohl gelesen, nicht aber verstanden, beginnt er; freilich verstehe er
als »Altfranke« (s.o. S.82, Anm.2) »die Sprache der Zünfte nicht«,
aber selbst ein Freund Herders hätte einem anderen, wie er erfahren
habe, geraten, über die Urkunde erst zu urteilen, wenn er dieselbe
siebenmal durchgelesen hätte. Ob Herder es nicht so hätte einrichten
können, daß sie wenigstens beim drei* bis viermaligen Durchlesen
verständlich wäre? Müsse er nicht fürchten, daß »vor dem Jahre
2240 ein neuer Michaelis über seine Urkunde« komme, und müsse
er nicht schon mit einem solchen zufrieden sein, da ein Kommen*
tator, der nicht kalt demonstriere, sondern sich »auf seine innere
Kraft und Gegenwart« berufe, noch weif schlimmer mit seiner Schrift
umspringen werde? Herder kenne seine »Grille« schon, daß er eine
Sprache vorziehe, die dem Lauf eines ruhigen Flusses in seinem na*
türlichen Bett gliche; zwar sei der Wandsbecker Bote anderer Mei*
nung und zöge eine Schreibart vor, die wie der Lauf der Donau
einherbrause, doch bleibe er bei seiner Meinung. Was aber könne
man in Herders Schrift überhaupt finden, was für die Mühe ent=
schädige? »Bilder eines Morgenschlummers glänzen auf und ver*
schwinden, wie ihre Mutter, die Morgenröte, und da metaphorische
Ausdrücke einem Beutel gleichen, den man nach Belieben auf* und
zuziehen kann, wie man will, so werden wir nicht so töricht sein,
den Beutel weiter aufzuziehen als daß wir herauslangten, was in
unseren Kram dient, und dann husch! ist er zu.« Wesentlich kürzer
ist die Polemik gegen den Geist der Herderschen Schrift. Aber hier
gelangt Nicolai zu einer Formulierung der Gegensätze von weit*
tragendster Bedeutung. An die schon im Brief an Lavater erwähnte
Stelle aus Brydones »Reise nach Sizilien« anknüpfend, gibt er eine
Gedankenkette wieder, die, von einem zufälligen und Herder zu*
liebe gewählten Ausgangspunkt fortgesetzt, da endet, wo Nicolais
Denken in gewissem Sinrte überhaupt mündet. Wenn Moses, über*
legt er, nun ebenfalls auf dem Ätna gestanden hätte, als er die Schöp*
fung beschrieb, wenn die Gesetzgebung auf dem Ätna statt auf dem
Sinai vor sich gegangen wäre, würde nicht das Paradies anstatt in
Kleinasien in Sizilien liegen können? Ja, wenn es möglich sei, die
orientalische Bilder* und Hieroglyphenschrift nach Europa zu ver*
pflanzen, so müsse »unser europäischer Boden auch ein Paradies
200
tragen können«. — Zwei Gedankenkerne stecken in diesen Sätzen.
Der eine ist der Kern seiner Geschichtsauffassung im Gegensatz zu
der Herderschen. Nicolai will zeigen, daß Herder sich der geschieht*
liehen Forschung lediglich als eines ermittelnden und interpretieren*
den Verfahrens bedient; Nicolai hingegen, dem wir historischen
Sinn und die Fähigkeit, ja Liebe zur historischen Forschung, wie
wir sahen, nicht absprechen können, will das ermittelnde und inter*
pretierende Verfahren nur als Vorstufe der Erkenntnis gelten lassen ;
die Erkenntnis der Bedingungen des Seienden (oder Gewesenen)
soll absolute Erkenntnis ermöglichen, wie etwa Montesquieu die
Bedingungen der englischen Freiheit bestimmt, um diese Verfassung
als übertragbar zu erweisen. Die Ausschaltung der bloß hi*
storischen Bedingungen führt zur Erkenntnis des Überzeitlichen.
Auf diesen besonderen Fall angewandt, will Nicolai, während Her*
der die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte interpretiert, die
Frage vielmehr so fassen: was für einen Begriff der Schöpfung
müßten wir haben, wenn die Schöpfungsgeschichte eben nicht im
Alten Testament überliefert wäre? Ermitteln wir die bloß histo*
tischen Bedingungen derselben, um die Fragen nach einer Welt*
Schöpfung unabhängig von dem einmalig*historischen Bericht zu er*
heben! — Der andere der in jenen Sätzen enthaltene Gedankenkeime
zeigt eine allgemeinere, derj enigen des anderen parallele Entf altungs *
tendenz. Wenn sogar die orientalische Bilder* und Hieroglyphen*
Schrift sich in Europa wiederfinde, sagt Nicolai, so muß auch die
Paradiesesvorstellung in Europa heimisch sein oder werden können ;
nicht nur ein orientalisches Paradies, sondern auch ein Paradies auf
europäischem Boden kann vorgestellt werden. Diesem Nicolaischen
Satz — »unser europäischer Boden muß auch ein Paradies tragen kön*
nen« — ist aber nicht als ernsthafte Lokalisationstheorie aufzufassen ;
er ist vielmehr der symbolische Ausdruck der geheimsten aufkläre*
rischen Gedanken. Ein Paradies muß möglich sein! Und wer wird
es bewohnen als die Menschen kommender Zeiten? Wir ahnen die
Wege seines Denkens von diesem Punkt aus; sie münden sicherlich
in die allgemeinen aufklärerischen Gedanken, wie sie insbesondere
die französische Aufklärungsphilosophie ausgeprägt hat. Verfolgen
können wir diesenWeg bei Nicolai nicht; der nüchterne Mann hat
diese Gedanken an keinem Orte seiner Schriften weitergesponnen. —
201
Prinzipielle Gegensätze von der größten Schärfe hatten sich aut=
getan und waren in diesem Briefe von Nicolai dargelegt oder an^
gedeutet. Die Geister trennten sich. Mußten es auch die Menschen?
Von Nicolais Seite war hierzu keine Nötigung; hat er doch bei=
spielsweise den freundschaftlichen Verkehr mit dem Franziskaner*
pater Denis noch zu einer Zeit fortgesetzt, da er gegen die geist«
liehen Orden die heftigste Fehde führte. Er selbst bezeichnete später ^
diesen Scheidebrief an Herder als ein »freundschaftliches« Schrei*
ben, und wir dürfen ihm die subjektive Wahrhaftigkeit dieser Be*
Zeichnung glauben, wenn wir sie auch nicht objektiv zutreffend
finden. Herder aber, der wie Hamann und Lavater Mensch und
Autor identisch wissen will, fühlt sich auch als Mensch getroffen -
und erwidert diesen Scheidebrief mit einem auch gegen den Men*
sehen Nicolai gerichteten. Es entsprach seiner Natur, dai^ er hier
seine mannigfache Gereiztheit und Verstimmung entlud; eine
Zwischenträgerei Lavaters' mochte wohl zu dieser Wendung bei*
getragen haben, hat sie jedoch sicher nicht ausschliefMich herbei*
geführt; denn schon ein Jahr früher hatten die »Gefundenen Blätter
aus den neuesten Deutschen Literaturannalen« (Suphan 5, 264) mit
der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, diesem »Buchdrucker*
gesellengesang«, diesem »stumpfen Papier aus westphälischen Lum*
pen und Morastwasser« und ihrem Herausgeber weniger gründlich
als bissig abgerechnet. Wenn ein Bibliothekenmitglied von seinem
Verleger (!) Abschied nehme, schreibt er*, so sei damit eben das
letzte W^ort gefallen; weshalb aber glaube Nicolai sich zu einem
solchen »letzten Patriarchen*Rippenstoß« berechtigt? »Literarische
Feindschaften« habe er mit Nicolai nie gehabt; hätten sich Gegen*
sätze in ihren Meinungen offenbart, wie schon seit langer Zeit, so
hätte er es stets für das Beste gehalten, »abzubiegen und davon zu
schweigen.« Die Art, wie Nicolai »den Handel ende«, befremde ihn
aufs äußerste. Was habe er mit seiner Lektion über die »Urkunde«
eigentlich bewirken wollen? Habe er Herder oder die Urkunde oder
das Publikum ändern wollen? Herder sicher nicht, da Nicolai ein
1 In der Schrift gegen Buhle (1806) Anm. 24.
- Vgl. s. Brief an Hartknoch vom 23. VII. 74.
' Wie Nicolai in der Schrift gegen Buhle (Anm. 24) annimmt.
* Herder an Nicolai 29. VII. 74.
202
maßgebendes Urteil um so weniger fällen könne, als er selbst zugebe,
sie nicht einmal verstanden zu haben; die Urkunde, das »phantas*
tische, abscheuliche Ding«, könne Nicolais »phantasieloser aufge«
klärter, ebener Genius« ebenfalls nicht mehr ändern; das Publikum
zu ändern sei ein Brief an ihn,den Autor, nicht der Ort; einen solchen
Brief hätte Nicolai an den Rezensenten der Allgemeinen Deutschen
Bibliothek schreiben können, der die »Urkunde« rezensieren werde.
Wenn Nicolai aber immer wieder die Abstände ihrer Denkungsart
betone, so müsse er endlich einmal heraussagen: »Behüt's Gott!
Zumal in den gewissen Sachen, die man denn wohl nicht gern
nennt.« Aber habe er je so denken wollen? »Und wer sind Sie,
mein Herr, und all Ihre Freunde, daß Sie Ihre Denkart zur Norm(!)
alles Wissens und Denkens anschlagen? Wie Herr Nicolai über
jenes Stück des ägyptischen, morgenländischen, griechischen Alter*
tums denkt — wer ist, der je danach gefragt hat, fragt und fragen
wird in saecula saeculorum Amen!« Auf Nicolais Vorwürfe gegen
seine Schreibart erwidert er mit der Frage: »habe ich Ihnen je eine
Silbe über Ihre Einbildung^ in Nothnagels Sandwüsten etc. gesagt,
oder zu sagen es nötig gefunden?« Was gehe es ihn an, wie sich
die Aelteste Urkunde lese? »Meinetwegen lasse sich die Schrift wie
Sebaldus Nothanker lesen oder Eberh(ards) Pr(edigt) von J(esus)
Ch(ristus) dem Gekreuzigten, oder Ludovic(i) Kaufmannslex(i«
kon)^! Mit einer leeren Ergebenheitsformel schließt dieser Brief,
von dem Herder wünscht, daß er »der erste und letzte« sei, den sie
in dieser Art wechseln.
Nicolai aber fühlt sich noch zu einem letzten Wort verpflichtet;
klug im gewöhnlichen Sinne können wir diesen Brief nicht nennen,
aber er zeigt eine überlegene Güte, die uns Nicolai menschlich
näher bringt. Er will Herder zeigen, wie tief dieser ihn verletzt hat,
und will ihm das um Herders willen zeigen. Einen solchen Absage*
brief von Klotz habe er leicht aufgenommen, nicht aber von Herder.
Er verteidigt sich gegen die Herderschen Anw^ürfe der Phantasie*
losigkeit, des normierenden Dünkels recht geschickt; aber er zeigt
auch den Widerspruch in Herders letztem Briefe auf, daß er trotz der
^ = Einbildungskraft, Phantasie.
- Ludovici Kaufmannslexikon: vgl. Hamann in »An die Hexe zu Kadmonbor«.
(die Herder kannte) Roth 4, 172.
203
persönlichen Beleidigungen Nicolai dennoch für manche Dienste
seiner Freundschaft verbunden zu sein glaube; er weist darauf hin,
wie unwahr Herders oft bezeugte Freundschaft gewesen sein müsse,
wenn er es zwei Jahre hindurch fertig gebracht habe, da, wo er
zu Nicolais Ansichten im Gegensatz stand, »abzubiegen und zu
schweigen«; so sei der ganze »freundschaftliche« Briefwechsel der
eines Offenherzigen gegen einen Zurückhaltenden. Daß erst der ge*
kränkte Stolz, der Zorn Herder zu diesem Geständnis bewege, das
ihm das Freundschaftsgefühl hätte eingeben sollen, werfe auf den
Menschen Herder kein gutes Licht. Nun aber habe Herder im
»Jähzorn« das »Signal zur Feindschaft« gegeben; dann müsse er
wissen, »daß derjenige, der in eines anderen Gemüte Feindschaft
erregen will und erregt, nichts Rühmliches tut, und daß derjenige,
der Feindschaft erregen will und nicht erregen kann, verächtlich
wird«.
Die Wunde, die Herder durch die Feindseligkeiten seines letzten
Briefes Nicolai beigebracht hatte, saß tief und schmerzte lange.
Der Bruch Herders mit Nicolai ist auf dessen Entwicklung, insbe«
sondere auf sein Verhältnis zum Sturm und Drang von nachhaltiger
Wirkung gewesen. Weniger stark ist die Einwirkung der Herder*
sehen Kriegserklärung auf Nicolais literarisches Verhältnis zu Her«
der selbst gewesen. Man kann im allgemeinen feststellen, daß das
weitere literarische Verhältnis bis zum Streit über den Tempel*
herrnorden (1782) auf dem Punkt stehen bleibt, wo beide die Un*
Vereinbarkeit ihrer Anschauungen eingesehen hatten. Die Rezension
der » Aeltesten Urkunde« in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek ^
' Die Rezension (Allg. Dtsch. Bibl. 25, 1, 23 ft.) ist nicht signiert; sie hängt mit
der folgenden, von Pistorius verfaßten, nicht zusammen, ist vielmehr durch
Trennungsstriche und Numerierung auch äußerUch abgehoben. Der zweite
Band der »Urkunde« (vierter Teil) ist Allg. Dtsch. Bibl. 30, 1, 53 ff. rezensiert.
Diese Rezension ist mit Bl unterzeichnet, also von Eberhard; sie beruft sich auf
dasjenige, »was wir bereits am Ende dieser Rezension des ersten Bandes in un=
serer Bibliothek gesagt haben«. Döring, »Herders Leben« 2. Aufl. Weimar 1829,
S. 132 Anm. nimmt hieraufgestützt an, daß Eberhard auch den ersten Teil der
Urkunde rezensiert hat; ihm schließt sich u. a. auch Ernst Naumann »Unter=
suchungen über Herders Stil« S. 19 an; vorsichtiger drückt sich R. Haym (S. 614)
dahin aus, daß Nicolai »für eine Rezension ... sorgte, welche die Pointen sei=
nes Briefes breit und gründlich wiederholte«. Zunächst muß hervorgehoben
werden, daß die Rezension des zweiten Bandes sich im Stil und in der Färbung
204
vertrat nochmals den schon im Brief an Herder zum Ausdruck ge=
langten ablehnenden Standpunkt Nicolais — nur zu natürlich, wie
selbst Freunde Herders fanden; J. K. Pfenninger, der in Lavaters
Abwesenheit auf den Brief Nicolais an Lavater eine vorläufige
Antwort erteilt \ schreibt, daß ihn Nicolais Urteil über die »Ur*
künde« anfangs befremdet habe, daß er es aber schließlich natürlich
des Tadels erheblich von der ersten unterscheidet, so daß man zwei verschiedene
X'erFasser, und zwar für die erstere Rezension, wegen des Vorkommens mancher
stilistischen Eigentümlichkeiten Nicolais, — die Autorschaft Nicolais in An*
Spruch nehmen möchte. Verfasser der Rezension war Nicolai jedoch nicht oder
nicht ausschlielMich. Resewitz schickt Nicolai am 23. IX. 74 (NN) fünf Rezen=
sionen, darunter die unaufgefordert eingesandte der Aeltesten Urkunde ; Nicolai
bemerkt auf der Rückseite: »es hat ein anderer Rezensent unternommen. Her*
ders Urkunde mit Jacob Böhm (so) und anderen theosophische(n) Schriften zu
vergleichen; mir schien der Gedanke lehrreich. Sie werden doch hoffentlich
nicht übelnehmen, wenn Ihre Rezension nur zum Teil gebraucht wird.
Ich vergüte Ihnen doch indessen die ganze Arbeit«. Ist nun Nicolai
selbst jener »andere Rezensent?« Dieser Annahme steht Eberhards briefliches
Zeugnis entgegen (Brief am 27. I. 75 von Nicolai empfangen. N. N.): »Vor allen
Dingen... schick ich Ihnen meine Urkundenrezension, ausgeflickt nach
Ihrer Meinung. Wollen Sie nur die letzten Zusätze noch einmal überlesen,
damit Sie dem Drucker so alles bezeichneten, daß er keinen Bock mache. Am
besten wärs, sie würde noch einmal abgeschrieben.« Die Rezension des ersten
Bandes der Urkunde, schließen wir also, hatte demnach drei Verfasser: Resewitz,
Nicolai und Eberhard. Das Gerüst stammte offenbar von Eberhard. Nicolai ver=
anlaßte Eberhard, Korrekturen vorzunehmen (»ausgeflickt nach Ihrer Meinung«),
und verschmolz dann die Rezension mit Resewitzschen und eigenen Gedanken.
Nicolai hat also an dieser Rezension erheblichen Anteil; sie ist ganz in seinem
Geist gehalten und vermutlich sind auch einzelne Formulierungen von ihm.
Wie genau Nicolai über diese Rezension unterrichtet war, geht daraus hervor,
daß er auf Resewitz' Anfrage vom 24. I. 75 (NN), ob es nicht zu hart sei, Herder
mit Jacob Böhme zu vergleichen, am Rande bemerkte: »Sie werden aus XXV, 1
(sc. der Allg. Dtsch. Bibl.) sehen, daß diese Vergleichung nur scientifisch im
Gegensatz der Theosophen gegen die Philosophen ist« usw. Wir werden also
Sätze, die auch sonst bezeugte stilistische Eigentümlichkeiten Nicolais aufweisen,
für Nicolai in Anspruch nehmen können, so z. B. die ganze Stilpolemik, oder
etwa Sätze wie: »Da hängt nun also die ganze Religion an dem Spinnwebe
laden einer positiv geoffenbarten Hieroglyphe« usw. Auch einzelne polemische
Wendungen, wie z. B. die Verteidigung Chr. Wolffs gegen Herders Angriffe
oder der Vorwurf der Originalitätssucht und des Eigensinns gehen sicher auf
Nicolai zurück; Invektiven dieser Art fehlen in der Rezension des zweiten
Bandes.
' Pfenninger an Nicolai 10. Vn.74. NN.
205
finde: »denn die ganze vielleicht mehr als dreyssig Jahre befestigte
Form Ihres Denkens ward auf so unangenehme Weise angegriffen,
daß Sie nicht anders als empört werden konnten«. Auch Mercks
briefliche Zustimmung zu Nicolais Urteil über die Urkunde mußte
diesen bestärken; »sein Buch von der ältesten Urkunde ist nach
Form und Herkommen das abscheulichste Buch, das je geschrieben
worden ist«, sagt Merck ^; nichtsdestoweniger aber bleibe ihm die
Urkunde »als ein Abdruck seines Geistes lieb und werth«. Nicolais
Urteil verfestigte sich immer mehr; es ist äußerst bezeichnend, daß
sein ablehnender Standpunkt Herder gegenüber sich bis zur Tempel==
herrenfehde in keiner Weise weiter entwickelt hat, sondern daß
die Ablehnung späterer Herderscher Schriften, oder die Beobach*
tung widerwärtiger Züge an dem Menschen Herder nur zur Ver=
festigung jenes ablehnenden Urteils gegen die »Urkunde« diente.
Einen solchen widerwärtigen Zug sah Nicolai in Herders Ver=
fahren gegen Spalding, das Nicolai sogar »niederträchtig« nennt.
Rudolph Haym hat dieses Herdersche Verfahren, die sachlichen,
scharfen Angriffe Herders gegen Spalding in den »Provinzial-
blättern« und seine förmliche Abbitte an den Menschen Spalding,
mit gerechter Verteilung von Licht und Schatten ausführlich dar*
gestellt^; so sehr Herder davon überzeugt war, und mit Recht über==
zeugt sein konnte, daß sein Verfahren nicht unmoralisch war, ja
daß er für gute Absichten ungebührlich und hart bestraft worden
sei, so sehr waren auch die Berliner zu ihrem Herders moralischen
Charakter verdächtigenden Urteil berechtigt. Hatte nicht Nicolai
gerade von Herder gehört, daß er in zweijährigem Briefwechsel nie
seine wahre Meinung gegen Nicolai geäußert hatte? Schien solche
' Merck an Nicolai 28. VIII. 74. NN. Nicolai hat diese Sätze rot angestrichen.
" R. Haym S. 615ff. Die ausführliche, nicht signierte Rezension der ProvinziaU
Blätter in der Allg. Dtsch. Bibl. 23, 346 75 nimmt natürlich Spalding gegen Her;
ders »hämische«^ Angriffe in Schutz. Herder habe in einer »ganz neuen Paradoxic
des (theologischen) Geschmacks« unverdaute Einfälle vorgebracht, in einem
Orakelton, hinter dem nichts stecke. Stilpolemik ganz im Sinne Nicolais. Be^
merkenswert ist der Satz der Rezension, daß »die Absicht der Unterweisung
Jesu ganz eigentlich war, den Verstand und das Gewissen wieder in ihre Rechte
zu setzen, woraus sie durch die Schreckbilder der Priester und Schriftgelehrten
waren vertrieben worden . . .« Vgl. Lavaters abfälliges Urteil über diese Rezent
sion. s. u.
206
Zweideutigkeit nicht Tellers Kombinationen zu bestätigen, daß
Herders persönliche Wendung an Spalding um äußerer Vorteile
willen geschehen sei? Die eine dieser Tellerschen Mutmaßungen
verwandte Nicolai alsbald. Im dritten Teil seines »Sebaldus Noth*
anker« (1776) ist die Figur des »Vicegeneralsuperintendenten«'
eine Satire gegen Herder. Nicolai wußte, daß Gleim sich für Her*
der beim Minister von Zedlitz eingesetzt hatte, um diesem die Stel*
lung eines Generalsuperintendenten in Halberstadt zu verschaffen;
er wußte auch, daß Herder sich um dieselbe Stellung in Göttingen
bemühte"; hier gilt Herder also als ewiger Kandidat für eine General*
superintendantur! Aber noch mehr! Der »Vizegeneralsuperinten*
dent« im Nothanker ist ein Nachfolger des seligen Stauzius, der
unverkennbar die Züge — Goezes trägt! Hier gab Nicolai den
Vorwurf, den ihm Hamann (in der »Hexe zu Kadmonbor«) ge«
macht hatte, daß die Dogmatik der Aufklärung derjenigen der
Orthodoxie eng verwandt sei, Herder zurück: seine Art, Glaubens*
fragen durch Machtsprüche zu entscheiden, ist im Geist der Goe*
zeschen verwandt: Herder ist ein äußerlich angenehmerer, elegan*
terer, fortgeschrittenerer Goeze, der denn auch die Gunst seines
Fürsten bald erringt: »ein schöner Geist, welcher, nach neuester
Art, in morgenländischen Bildern und in abgebrochenen Kraft*
phrasen, bloß für das Gefühl predigte«. — Noch eine 1777 erschie*
nene Rezension der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, die wahr*
scheinlich von Nicolai herrührt\ stichelt gegen den »geheimnis*
vollen Hieroglyphenkrämer«, der, »nachdem er euch durch unver*
ständliche Redensarten und heilige Winke wie durch einen dunkeln
' Vgl. insbes. Sebald. Nothanker III, 163 f.
' Vgl. Haym S. 616t. Auch von den Bemühungen Herders um eine theologische
Professur in Göttingen war Nicolai unterrichtet: vgl. Nicolai an Merck 28. XII. 75
^= Wagner, Briefe an Merck S. 79 und s. Randbemerkung zu Petersens Brief vom
10. XI. 75. Nicolai spricht an dieser letzteren Stelle die Hoffnung aus, ein Lehramt
werde auf Herder >jeine gute Wirkung haben«: »vielleicht, wenn er einen Zweck
erlangt, wird er nicht mehr seltsames Zeug schreiben, um Aufsehen zu erregen«.
' Die Rezension von S. v. Goues, des Wetzlarer Freundes Goethes, »der hoeere
Ruf« (Allg. Dtsch. Bibl. Anh. z. 15/24. Bd. S. 1466) ist mit = unterzeichnet, was
Parthey und das Original der Zeichenbücher nicht erklären. Im Briefwechsel
Nicolais fand sich keinerlei Hinweis auf den Autor dieser Rezension. Stil und
Gedankengehalt machen Nicolais Autorschaft wahrscheinlich.
207
Schacht nach seinem Gefallen immer tiefer hineinleitet, euch bald
gebietet, die Augen aufzusperren, weil nun durch ein Loch, das er
allein weiß, das Licht hineinfallen werde, bald euch gebietet, das
Bein hochaufzuheben, weil eine Stufe zu ersteigen sei, euch aber in
der Tat weder schauen noch steigen lasset, sondern euch plötzlich
verläßt, ob er euch bloß habe betören, oder auch zugleich betrügen
wollen«. Es ist, mit neuen Wendungen, durchaus die alte Polemik
gegen die »Urkunde«, die hier nach drei Jahren fortgesetzt wird.
Auch die Rezensionen anderer Herderscher Schriften in der Allge*
meinen Deutschen Bibliothek sind, sofern sie nicht ganz farblos
und zurückhaltend referieren \ auf Nicolais Standpunkt gegenüber
der Urkunde stehen geblieben, insbesondere die Kästnersche Re*
zension von Herders »Vom Erkennen und Empfinden der mensch*
liehen Seele«-. Hier zeigt sich, wie tief der Riß ist, den Herder
durch seinen letzten Absagebrief geschaffen hat.
Die Polemik gegen die V'^olksliedtheorie und == Praxis des Sturms
und Drangs, die Nicolai zwei Jahre nach dem Bruch mit Herder in
seinem »Feynen kleynen Almanach« (1776 f.) aufnahm, und die,
' z. B. Anhang z. 25/36. Bd. der AUg. Dtsch. Bibl. 1077 »Ursachen des gesun=
kenen Geschmacks bei den versch. Völkern« (Kästner); 5, 301 3 ff. »Wie die Alten
den Tod gebildet«. (Diese Rezension ist mit Lmn unterzeichnet, was Parthey
nicht erklärt; indessen ist mir Nicolais Autorschaft nicht sehr wahrscheinlich;
ist die Unterschrift vielleicht ein — allerdings nicht berichtigter — Druckfehler?
Mn ist zwar Nicolais Zeichen, Lm das von Herz; dieser rezensierte aber nur
wenig philosophische Werke, hauptsächlich solche aus dem Gebiet der »prak=
tischen Arznei«. Möglich ist immerhin eine Mischrezension, doch hat Nicolai
sicher nicht großen Anteil daran.) Ganz farblos referiert auch Eschenburg (AUg.
Dtsch. Bibl. 49, 2, 321 ff.) über Herders »Über die Wirkung der Dichtung auf die
Sitten der Völker« und »Über den Einfluß der schönen in die höheren Wissen*
Schäften«.
* Allg. Dtsch. Bibl. 41, 2,475ft. Kästner wirft Herder Unkenntnis des Leibniz=
sehen Systems vor; daher glaube Herder zwar Neues gesagt zu haben, er habe
aber Bekanntes nur auf neue Art gesagt. Einzelne Vorwürfe, ziemlich zusammen*
hanglos vorgebracht, richten sich gegen den Herderschen Subjektivismus, gegen
sein konstruierendes Verfahren, gegen seinen unzulänglichen Kraftbegriff. Na=
türlich fehlte es nicht an einer Polemik gegen Herders Stil. — Die in Klammern
eingefügten Sätze rühren wahrscheinlich von Nicolai her; an einer Stelle der^
selben verrät er sich: »Diese nicht eben neuen Gedanken hat Hr. H(erder) nach
seiner Art ausgedrückt, und über die Art des Ausdrucks darfman nicht
mit ihm streiten.«
208
wie wir mit Erwin Kircher ^ annehmen, in demselben Grade wie
gegen Bürgers »Herzensausguß über Volkspoesie« sich gegen Her*
ders schon im Ossianaufsatz von 1773 ausgesprochene Anschau*
ungen richtet, kann nur im Zusammenhang der gesamten Tenden*
zen des Almanachs gewürdigt werden; ihre Darstellung bleibt da*
her dem folgenden Kapitel dieser Untersuchung vorbehalten. Auf
die spätere Fehde Nicolais mit Herder über die Geschichte des
Tempelherrnordens einzugehen, kann diese Untersuchung sich
versagen, nachdem Karl Aner die Darstellung R. Hayms^ in der
wünschenswerten Weise berichtigt hat ^; das bedeutsamste Ergebnis
der Anerschen Untersuchung ist zudem schon an anderer Stelle
dieser Arbeit herangezogen worden*.
Ein Blick mag hier noch auf die spätere Wandlung im literari*
sehen Verhältnis zu Herder gestattet sein. Sie ist, ganz analog der
späten Wandlung in seinem Verhältnis zu Klopstock, im Gegen*
satz zu den Romantikern erfolgt. In seiner Vorrede zu Schwabs
»Gesprächen zwischen Christian Wolff und einem Kantianer« (1798)
schlägt sich Nicolai ganz auf Herders Seite gegen Friedrich Schle*
gel; den »Griechen und Römern« Friedrich Schlegels, diesem Buch
»voll vonvorniger willkürlicher Grillen« stellt er das gegenüber"^,
was Herder »mit echtphilosophischem Geist« über die Griechen
sagt^. Sein scharfer Blick hat die mangelnde Wertschätzung Her*
ders durch die Romantiker' sofort erkannt; Herder wird ihm. darum
ein Helfer im Streit gegen sie, wie er den einst abgelehnten Klop*
stock nun gegen sie anführt^. An seinem Standpunkt gegen die
»Urkunde« hat er noch in der Schrift gegen Buhle (1806) festge*
halten, »ein sinnloses Buch« nennt er sie auch dort, »des Herders,
welcher den Geist der hebräischen Poesie, die Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit, die Briefe über die Humanität und
die Adrastea schrieb, ganz unwürdig«. Wie gegen die Romantiker
■ Erwin Kircher, Volkslied und Volksliedtheorie usw. a. a. O. S. 45.
^ R. Haym II, 157fif.
' Karl Aner a. a. O. S. 159 ff.
' S. oben S. 6.
' a. a. O. S. 59.
" »Briefe zur Beförderung der Humanität« V und VI. -
' Vgl. O. F. Walzel, »Deutsche Romantik« S. 7 ff., insbes. S. 10.
* Vgl. oben S. 89.
14 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 209
wurde Herder auch gegen Kant als Zeuge aufgerufen. — Herder
machte nach dem Bruch mit Nicolai seinem Groll durch Spottverse
gegen den Nothanker Luft, die er freilich nicht veröffentlichte \
Späterhin suchte er seine Teilnahme an der Allgemeinen Deutschen
Bibliothek zu verdecken: nur die ersten Bände will er »gelesen*
haben; und diese suchte er zwar in den »Briefen das Studium der
Theologie betreffend« gegen eine Verurteilung in Bausch und Bogen
in Schutz zu nehmen "^ aber in der Übersicht über die deutsche
Literatur, die er in der achten Sammlung seiner Humanitätsbriefe
gab, hieß es, nach der Erwähnung von Nicolais Anteil an der Biblio*
thek der schönen Wissenschaften und den Literaturbriefen ^: »Was
nach diesen Zeiten geschehen sei, weiß ich nicht. . . Vernommen
habe ich, daß man seitdem alles umfasset und dazu aus allen Ecken
Kunstrichter versammelt habe; wie sie gerichtet haben, wie sie rieh*
ten und richten werden, ist mir völlig fremde. Zu beklagen wäre es
freilich, wenn auf diesem Wege alle Kritik in Deutschland Gewicht
und Glauben verloren hätte.« Freilich gelang ihm diese Abschütte«
lung Nicolais so wenig, daß der verstimmte Schiller diese Stellen
benutzen konnte, um Herders »Kälte für das Gute« seiner »sonder*
baren Art von Toleranz gegen das Elende« wirksam gegenüber*
zustellen*.
' Suphan 29, 540.
^ Suphan 11, 206.
' Suphan 18, 129.
* Schiller an Goethe 18. VJ. 96.
210
DRITTES KAPITEL
NICOLAI UND LAVATER
Als Nicolais und Herders Wege sich zu trennen beginnen, wen?
det sich Nicolai mehrfach mahnend, protestierend, schließlich Her*
ders Entwicklung beklagend an Lavater. Konnte er im Ernst ho£fen,
durch Lavaters Einwirkung Herder von dem mit der Ältesten Ur*
künde und den Provinzialblättern eingeschlagenen Wege abzu*
bringen? Er mußte jedenfalls sehr bald erkennen, daß seine Briefe
an. einen unrechten Empfänger gingen, daß Lavater, weit entfernt
Nicolais Stimme bei Herder geltend zu machen, sich vielmehr eifri*
ger als dessen Schüler und Freund bekannte. Unzweideutiger noch
als Mercks Absage^ war die Lavaters ; ja Nicolai vermutete später, daß
erst durch eine Zwischenträgerei Lavaters der Bruch zwischen ihm
und Herder endgültig geworden war'. Die Wendung Nicolais an
Lavater wäre nichts weiter als eine unbegreifliche Taktlosigkeit,
wenn nicht der Briefwechsel Lavater*Nicolai, der schon sehr früh
schroffe Gegensätze der Anschauungen erkennen läßt, unter dem
Gesichtspunkt einer krampfhaft von beiden Korrespondenten be*
tonten »Offenherzigkeit« geführt worden wäre. Denn über die Um*
kehr der Herderschen Beurteilung Lavaters — von den ersten ab*
sprechenden Urteilen an^ über die Herdersche Interpretation der
Aussichten* bis zu Herders überschwenglichen Lobpreisungen in
der Lemgoschen Bibliothek — war Nicolai ebenso unterrichtet,
» Merck an Nicolai 28. VIII. 74.
- In seiner Schrift gegen Buhle (»Einige Bemerkungen« usw., 1806, Anm. 24)
vermutet Nicolai, Lavater habe seinen Brief vom 30. IV. 76 an Herder weiter?
gegeben und anscheinend bemerkt, Nicolai habe Herder darin der Freimaurerei
beschuldigt; diese angebliche Beschuldigung bezieht sich wohl auf den Satz: »Es
hat ohnedem mit der Urkunde noch eine gewisse besondereBewandtniß« usw.
Nicolai ähnlich an Caroline Herder 14. III. 1804 = O. Hoffmann S. 1 17.
' Herder an Nicolai 30. XI. 69: »ein Enthusiast und oft ein Verblendeter«, »ohne
Kenntnis der Bibelsprache« usw. Nicolais Antwort: »Es ist mir lieb, dal^ Sic von
Lavater ebenso denken wie ich.«
* Herders Brief an Lavater vom 30. X. 72.
14* 21 L
wie über das wahrhaft schülerhafte Verhältnis Lavaters zu Herder ^
Ebenso war sich Nicolai über die Beziehungen Lavaters zur
»Kraft und Wunderpartei« schon sehr früh im klaren. Merck,
Höpfner, Petersen, v. Bretschneider undBlankenburg unterrichteten
ihn hiervon, wußten von den Beziehungen Lavaters zu Goethe und
seinem Kreis, zu Hamann, Fritz Jacobi und den Stollbergs zu be*
richten. Hatte noch die (Goethesche) Rezension der »Aussichten
in die Ewigkeit« in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772
eine ziemlich ablehnende Stellung eingenommen — freilich aus an=
deren, eher gegenteiligen Motiven als Nicolai — so wies eine An*
merkung des Herausgebers der »Leiden des jungen Werthers« ruh*
mend auf die Lavaterschen Predigten über das Buch Jonas hin, und
Werthers Brief vom 15. September spielte Lavaters »Schwärmereien«
gegen die »neumodisch moralisch kritische Reformation des Chri«
stentums« aus". Wenn die spätere, noch zu erwähnende Rezension
des vierten Teils der »Aussichten« (1779) den großen Einfluß La*
vaters »auf die Bildung der Denkungsart unserer jüngeren Zeit*
genossen« bemerkte, sprach sie nur aus, was Nicolai schon fünf
Jahre früher empfand. W^ie er den objektiven Zusammenhang des
religiösen mit dem ästhetischen Sturm nnd Drang erkannte, so sah
er auch psychologisch in Lavater einen einheitlichen Prozeß von
dem religiösen Erlebnis, das sich — noch unfertig — in den Aus*
sichten und dem Geheimen Tagebuch aussprach, zum religiös*ästhe*
tischen der »Physiognomischen Fragmente«. »Ich sehe«, schreibt
Nicolai an Merck^, »daß gewisse schwärmerische Grillen, die schon
in seinem Tagebuch und seinen Aussichten merklich wurden, bei
ihm die Brücke zur Physiognomik geworden sind.« »Wahrlich, Sie
sind ein Prophet« ruft Eberhard ihm zu*, »Lavaters theologisches
System entwickelt sich so beinahe, wie Sie es gesagt haben.« Er hat
' wie es neuerdings Chr. Janentzky. »Lavaters Sturm und Drang im Zusammen^
hange seines religiösen Bewußtseins«, Halle 1916, S.66ft. insbesondere, darge»
stellt hat. Janentzky hat (ebenda S. 92) auch die begeisterten Urteile Lavaters über
Herders »Urkunde« zusammengestellt. — Vgl. Nicolai an Joh. Müller (10. X. 74,
a. a. O. S. 90): »Jetzt ist der Herderische Teufel in Lavatern gefahren . . .« usw.
- Nicolai bemerkte in seinem Handexemplar von Werthers Leiden (Düntzer,
Schnorrs Archiv X, 391) zu dieser Stelle: »ä la mode darüber zu spotten. <^
' Nicolai an Merck 8. X. 75 = Wagner I, 74.
' Eberhard an Nicolai 27. 1. 75 NN., s. unten, Anhang.
212
in der Tat den zentralen Punkt, aus dem sich Lavaters Entwicklung
vollzog, sehr frühzeitig erkannt ^
Die äußere Möglichkeit, Lavaters Persönlichkeit und die Rieh«
tung seines Geistes frühzeitig richtig zu beurteilen, mochte Nicolai
wohl — abgesehen von den Berichten nicht namhaft zu machender
Freunde^ — aus Äußerungen Spaldings bezogen haben, der wohl
auch die persönliche Bekanntschaft"' vermittelt hat. »Herr Lavater
ist der Verfasser der Schweizerlieder und sonsten ein guter Mann«
äußert sich Nicolai zu Herder (20. XI. 67). Zu Iselins Rezension der
Schweizerlieder will Nicolai* mit Iselins Erlaubnis »einen kleinen
Zusatz« machen. »Unter uns gesagt, mich dünkt, H. Lavater (hat)
hier zwar hin und wieder glücklich nachgeahmt, aber es fehlet ihm
durchaus das Genie eines Dichters. Ich habe von seinem großen Lehr=
gedieht über das Universum und das Unendliche Stücke gesehen,
worüber ich erstaunt bin, weil sie unendlich schlecht waren«; der
Plan des Gedichtes sei »zu groß und zu unbestimmt: qui trop
embrasse, mal etreint«. Ganz ähnlich äußert Nicolai sich im er*
wähnten Brief an Herder, man täte Lavater »einen wahren Dienst,
wenn man ihn dahin bringen könnte, diese Arbeit ganz zu verlassen«.
Demgemäß schlägt eine spätere Eberhardsche Rezension^ Lavater
vor, seine Zeit nicht auf poetische Versuche, sondern auf die »Zäh*
mung seiner noch immer zu raschen Einbildungskraft zu verwen»
' J. Minors Behauptung (»Joh. G. Hamann in s. Bedtg. f. d. Sturm und Drang«,
Frankfurt 1881, S.56), die Auseinandersetzung der »neuen Schule« mit der Auf=
klärung habe sich »auf dem Gebiet der Dichtung« in den siebziger Jahren,
»auf dem Gebiet der Theologie und Philosophie« in den achtziger Jahren ab=
gespielt, eine Behauptung, die gerade bei demjenigen, der Hamann^Herders Ge=
dankenkreis in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, äußerst befremdlich
ist, erscheint auch von hier aus in eigentümlicher Beleuchtung.
^ Nicolai an Herder 20. XI. 67 = Hoffmann S. 14: seine (Lavaters) »Freunde aus
der Schweiz« hätten Nicolai Stücke »eines großen Lehrgedichts« gesandt usw.
Iselin wird von Nicolai über Lavater belehrt. Hat er sie bei Ramler oder Spal*
ding gesehen? Ist Joh. Müller gemeint?
' Auf persönliche Bekanntschaft weist die Anekdote hin, mit der Lavater Ni=
colais persönliche Redlichkeit illustriert: Lavater an Nicolai 20.V. 74; das noch
zu erwähnende öffentliche Schreiben Lavaters an Mendelssohn spielt auf ver=
trauten persönlichen Umgang mit Mendelssohn an.
* Nicolai an Iselin 28. VIII.67 NN.
' Lavaters Verm. Schriften I zeigt Eberhard A D Bibl. 25, 171 ft. (1775) an.
213
den« ; alsdann werde Lavater Vorzügliches leisten. Das Stichwort von
der überhitzten Einbildungskraft hat unzweifelhaft Nicolai gegeben,
wie er auch Eberhards Urteil über Herder den Weg wies. »Hern.
Lavaters Aussichten in die Ewigkeit habe ich zwar noch nicht
ganz gelesen, aber ich muß gestehen, daß ich auch fast nicht weiter
lesen mag. Es tut mir wehe, wenn ein Geist, der eine so gute Anlage
hat, eine so unbegrenzte Neigung zur Schwärmerei hat. Wenn man
einmal Träumereien einer erhitzten Einbildungskraft als etwas wahr*
scheinliches und encllich als etwas wahres annehmen will, so kann
man auf die abenteuerlichsten Begriffe geraten«; und er empfiehlt
Lavater »ein niederschlagend Pulver« zu gebrauchen, das er — wie
auch Mendelssohn — nehme, wenn er »einen lebhaften Fluß von
Vorstellungen ohne Ordnung und Beziehung« verspüret Dieses
Wort von den »Träumereien einer erhitzten Einbildungskraft« klingt
stark an das bekannte Apercu Friedrichs des Großen über die Mo*
nadologie (»der Roman eines großen Mannes«) an; mehr als eine
solche allgemeine Stimmung gegen die allzu rationale, aber doch
aus gefühlsmäßigem Bedürfnis überspitzte Fortbildung Leibniz*
scher Elemente in den Aussichten finden wir bei Nicolai nicht,
wie auch seine Stellung zum Leibnizianismus an sich kaum zu
fassen ist. Lavaters Aussichten, bemerkte er später"^, habe er selbst
nicht rezensieren können; die Lambertsche Rezension* sei ihm »übel
bekommen« — vermutlich ein Irrtum Nicolais; denn Lavater er*
' Nicolai an Iselin 26. XI. 68 NN.
- Göckingk S. 38.
■■■ Aussichten I und II sind A D Bibliothek 11, 1, 32,42, der dritte Teil ADBi.
bliothek 20, 2, 510ff. besprochen. Das Signum der ersten Rezension (E*) würde
auf Hensler als Rezensenten deuten, Lamberts Zeichen ist E; der Irrtum ist nicht
berichtigt, — ein weiterer Hinweis auf die Ungenauigkeit der Zeichengebung
und «Korrektur in der A D Bibliothek. Lamberts Verfasserschaft kann hier aber
nicht zweifelhaft sein; für ihn spricht, außer Nicolais späterer Aussage, die Tat=
Sache, daß die Rezension in 20,510 das richtige (veränderte) Lambertsche Zeichen
Sw trägt, daß Hensler nur das Gebiet der praktischen Medizin bearbeitete; und
schließlich ist es möglich, daß Nicolai absichtlich das Zeichen E nicht mehr ver«
wenden mochte, da er im selben Bande (11,309, in einer mit Raspe gemeinsam
verfaßten Rezension) bekannt gibt, daß E das Zeichen von Klotz war. Von
Hensler folgt bis Bd. 12, wo die Zeichen geändert wurden, keine Rezension
mehr. Die Rezensionen in 20, 510 und 1 1, 52 sind ganz unzweifelhaft vom selben
Verfasser.
214
hebt zwar gegen Einzelheiten der Rezension Einspruch, ist aber im
ganzen mit der Aufnahme zufrieden und bittet Nicolai, dem Ver*
fasser der Rezension seinen Dank zu übermitteln'. Nicolai mochte
wohl, wie schon Göckingk vermutet hat, mit dieser Rezension nicht
einverstanden sein. Zwar wenn Lambert dem Lavaterschen Vorsatz,
sein Epos, zu dem die Aussichten Bausteine sein sollten, nicht Ȋ la
portee de tout le monde« zu schreiben, das popularphilosophische
Ideal entgegenhielt, so mochte er Nicolais Beifall finden, und nicht
minder, wenn er bemerkte, daß Lavaters dritter Himmel nach den
Maßstäben der empirisch sinnlichen Daten beschaffen war. Allein
von dem geschätzten Physiker und Mathematiker mochte Nicolai
wohl etwas anderes erwartet haben, als eine Beurteilung der Aus«
sichten mit Rücksicht auf die ästhetischen Bedürfnisse des künf*
tigen Gedichts; und das ist der vornehmste Gesichtspunkt der
Lambertschen Rezension. Die spätere Eschenburgsche Rezension
des vierten Teils der Aussichten^ mochte mehr dasjenige treffen,
was auch Nicolai an den Aussichten ablehnte, wenn wir hier, die
Entwicklung der Gegensätze — nicht zum mindesten durch den
Briefwechsel — außer acht lassend, schon einiges vorwegnehmen
dürfen. Eschenburg möchte Leibniz auf die Methodik des Empiris«
mus verpflichten, Lavater, der die Analogieschlüsse — und hiermit
sind nicht nur die von Bonnet und Leibniz her bestimmten Speku*
lationen, sondern die ganze Lavatersche Bibelhermeneutik gemeint
als — »philosophische Mäntelchen« um »poetische Fiktionen«
brauche, unterscheide sich darin sehr von Leibniz, der den x\na«
logieschluß mit vorsichtiger Prüfung seiner Tragfähigkeit, mit be*
sonnenerAbschätzung des rein empirisch zuErkennenden gebrauche.
Solche Gegenüberstellung von Original und Nachahmer ist ein be*
liebtes heuristisches Prinzip auch Nicolaischer Kritik. Wichtiger
aber als solche Erwägungen über die Methode waren sachlich ge*
bundene Gegensätze, die in dieser Rezension berührt, schon wesent*
' Lavater an Nicolai 9.V. 70NN. Dies kann sich, dem Datum nach, natürlich
nur auf die erste Lambcrtsche Rezension beziehen; die zweite, erheblich milder
und unpersönlicher gehalten, konnte Lavater aber nicht gut so verstimmen, daß
sie Nicolai »übel bekommen« wäre. Im weiteren Briefwechsel findet sich über
diesen Punkt nichts mehr; persönliche Hochschätzung Lamberts bekundete La=
vater noch 25.X. 74 an Nicolai.
' Anhang z. 25,/36. Bd. d. A D Bibliothek S. 2326 ft.
215
lieh früher akut geworden waren; freiUch kommt hier wiederum
nicht viel mehr als eine allgemein abgrenzende, ablehnende Stim*
mung zum Ausdruck, Eschenburg triumphiert, daß Lavater hier die
Lehre von der prästabilierten Harmonie eine »unerweisliche wo
nicht abgeschmackte Hypothese« nenne, während er sie im zweiten
Bande »sinnreich« und »erhaben« gefunden habe. Was sich an deter*
ministischen Elementen in der Leibnizschen Lehre fand und bei La*
vater in den Aussichten wie später in den Physiognomischen Frag*
menten, zu einer freilich nicht konsequenten Prädestinationslehre
wurdet war der x\blehnung Nicolai*Eschenburgs sicher; und gerade
das Motiv, aus dem Lavater noch am ehesten gegen die i\nnahme
einer durchgängigen kausalen Geschlossenheit gestimmt war, erfuhr
seinen stärkstenWiderspruch : Der LavaterscheWunderglaube. Dem
Mendelssohnschen Schreiben »An meinen Freund Friedrich Nico»
lai«-, worin dieser gerade unter ausdrücklicher Bezugnahme auf
Bonnet sich gegen deterministische Einschränkungen wehrt, wird
der Empfänger zugestimmt haben; durch den ganzen »Sebaldus
Nothanker« hindurch zieht sich eine an Voltaire genährte spöttische
Ablehnung der Theodicee, und die Lehre von der prästabilierten
Harmonie wird hier wie in den späteren Romanen besonders gern
zu spöttischen Seitenblicken bei unerwarteten Unglücksfällen usw.
benutzt. — Nicht minder eingenommen zeigt sich die Eschenburg*
sehe Rezension gegen die Stellung des Christusgedankens in der
Lavaterschen Religiosität; und die Lavatersche Christusreligion hat,
bei Gelegenheit der physiognomischen Fragmente, die gegensätz*
liehe Einstellung Lavaters und Nicolais vorzüglich entwickeln
helfen.
Eindringlicher gestalteten sieh die Gegensätze bei Lavaters »Ge*
heimem Tagebuch«. Ungleich stärker als die »Aussichten«, an
deren allzu rationaler Verknüpfung irrationaler Inhalte die Goe*
thesche Rezension Anstoß nahm, zeigte sich hier die Verwandtschaft
mit dem religiös*kosmischen, dem vitalen und ästhetischen Grund*
gefühl der jungen Generation; gerade da, wo Lavater gewissermaßen
die »Aussichten« verleugnen möchte — er sei in Gefahr gewesen,
»ein geistlicher Don Quixote zu werden«; christliehe Geduld sei
^ Vgl. Janentzky, a. a. O. Kap. IV, 114 u. passim.
- Vom 22. XI. 80, zuerst au.s Nicolais Nachlaß von Göckingk S. 197 ff. gedruckt.
216
besser »als ein Großhans sein und Aussichten in die Ewigkeit
schreiben«^ — gerade dort setzt er sich die Polemik gegen »kalte
Vernünftelei« — und den »Modeton, gewisse Dinge durch den
Verstand empfinden zu wollen« als Aufgabe vor, und empfiehlt en*
thusiastisch als Labsal gegenüber so trockener Speise Herders Schrif *
ten. Der emotionale Drang, die Unruhe des erlösungsbedürftigen
Herzens, das sehnsüchtige Verlangen, den Ablauf des inneren Lebens
eindrucksvoll zu binden, das Bedürfnis nach unablässig zum Höhe*
punkt strebenden Gefühlssensationen, das demütige Gefühl der
Niedergeworfenheit aller Kreatur, gepaart mit dem solipsistischen
Bewußtsein, in der Alleinheit mit Gott den Kosmos darzustellen —
alle diese Elemente eines über den ursprünglichen Bezug hinaus*
strebenden Pietismus vereinigten sich zu diesem frühesten Erzeug*
nis des Sturm und Drangs. Gewiß sind alle diese Keime bei Ha«
mann tiefer, trächtiger gebettet, haben einige dieser Gedanken bei
Herder — zumal in den Provinzialblättern — weiteren, lichtvolleren
Aufriß; gewiß strahlen sie bei Lenz — in den »Lebensregeln«, dem
»Tagebuch« und der »Moralischen Bekehrung eines Poeten« — viel*
fältiger aus, geben sie sich bei Lenz zwingender, erschütternder,
schon weil sie gegen seinen Charakter und seine Umwelt erkämpft
sind. Aber hier formierte sich aus ihnen zum erstenmal eine schrift*
steilerische Persönlichkeit von Charakter, Bereitschaft und Aktivi*
tat; so sehr das Tagebuch auch in der f weiten Erscheinungsform
Fragment blieb und bleiben mußte, war es doch der Ansatz zu
einem neuen Ganzen, geeignet, Gemeinde zu bilden, und in lite*
rarischem Betracht Partei. Freihch schien das Tagebuch zunächst
nicht ein bewußtes, planvolles Werk zu sein; aber bald stellte sich
Lavater ohne Scheu neben sein Bild, und wenn er auch die poetische
Ausschmückung einzelner Partien feststellte, unterstrich er doch die
naturalistische Tendenz des Porträts und hielt an dem »Wesent*
liehen der Moral des Beobachters«- fest.
Wenn Lavater sich aber dort — in dem Schreiben an den Her*
ausgeber, vor den »Unveränderten Fragmenten« — gegen die »er*
bärmliche Verfehlung der Gesichtspunkte«, ereifert, die »unsere heu*
tige Kritik oft so unerträglich seicht macht« — so mochte er in erster
' Tageb. II, 266f. (an Zimmermann 4. III. 73).
' Tageb. II, S. XVII.
217
Linie die Aufnahme des Tagebuchs in der Allgemeinen Deutschen
Bibliothek meinen. Die von Pistorius und Nicolai herrührende Re*
zension^ biegt Lavaters Grundsätze und den Geist des Tagebuchs
in bemerkenswerter Weise schon da, wo sie referiert, ins Aufkläre*
rische um. Sie stimmt der Anmerkung des Herausgebers zu, »daß
das einförmige Leben eines rechtschaffenen Mannes«, »die Ge*
schichte seiner Gesinnungen, Neigungen, Absichten im täglichen
Leben, für diejenigen, die das menschliche Herz gerne kennen wollen,
lehrreicher und selbst interessanter sein könne, als die glänzendsten
Auftritte des öffentlichen Lebens, oder die verwickelten Begeben==
heiten eines Romans«. Aber mit welcher Begründung] Im Zeitalter
der aufkommenden empirischen Psychologie wird Lavaters Tage*
buch zum Lehrstoff für den Psychologen, der das Individuelle, das
»Zufällige«, die »eigentümliche Beschaffenheit und besondere Lage«
der seelischen Situation Lavaters zu veranschlagen hat, um nach
Abzug des »Zufälligen« auf allgemeiner gültige Ergebnisse zu kom-
men. Entsprechend erkennt die Rezension zwar den religiösen Ur*
grund der Lavaterschen Selbsteinkehr wie die ausschließlich reli*
giöse Bezogenheit seiner Selbsterkenntnis, aber auch hier fordert
sie den Leser auf, dem bloß Individuellen ein Allgemeineres zu sub*
stituieren und dieses Allgemeinere ist nach aufklärerischen Bedürf*
nissen geformt: die Lavaterschen »Grundregeln«, nach denen er
Tag und Tageswerk zu Siberschauen sich eingangs vorschreibt,
werden höchst rational erklärt; Lavater hätte die Grundregeln »an*
genommen«, um nicht »bei jedem einzelnen Fall lange und mühsam
vernünfteln« zu müssen und der Gefahr überhoben zu sein, im ein*
zelnen Falle unrecht zu entscheiden! Und welchem »Zweck« dient
dieses »sehr wohlgewählte undwirksame Mittel?« »Seine sittliche
Verbesserung zu erreichen« antwortet die Rezension (S. 349), das
Erlösungsbedürfnis, die Erlösersehnsucht In sittliche Korrektion
' A D Bibliothek XVII, 346 58 von Pistorius, 358 61 von Nicolai. Nicolai wieder^
holt und ergänzt sein Urteil in einer ausführlichen Randbemerkung zu Pistorius'
Brief, den Nicolai am 29. XII. 73 erhielt (NN). Lavater bezieht sich in der er-
wähnten Vorrede auf diese Rezension : seine Bemerkungen zur »Übertriebenheit«.,
•»Ängstlichkeit«, »unnötigen Skrupulosität« stimmen wörtlich mit den Einwen=
düngen der Rezension (S. 351 f. insbesondere) überein. — Die Frankf. Gel. Anz.
V. 22. XII. 1772 (= DLD. 7'8, 671) stimmten übrigens der Rezension der A. D.
Bibl. zu.
218
übersetzend. Aber mehr: die pietistischen Elemente der Lavater*
sehen Selbstschau, die »vielen Beunruhigungen«, die er sich durch
seine »skrupulösen Bedenklichkeiten zuzieht«, das Streben nach
Höhepunkten des Christusgefühls, das sind für den Rezensenten
Übertreibungen eines vernünftigen Maßes, Apparat, der das echte
Christentum bisweilen fördern kann, im allgemeinen aber ihm ab*
träglich wird. Ja, er warnt geradezu davor, »nicht zur Hauptsache
im tätigen Christentum die Erregung starker, lebhafter Gefühle zu
machen ;« das könne leicht den Grund zu »außerordentlicher Heilig*
keit, Klostergelübden und der ganzen Mönchsmoral« legen; »eine
andere unrichtige Meinung« sei »der Gedanke von der wunder*
tätigen Kraft des Glaubens und Gebets aller Christen«. Lavater sagt ;
»Das Evangelium fordert nur mit Tönen und Buchstaben und in
leuchtenden Beispielen, was unser Herz durch Triebe und Empfin*
düngen fordert. Das Evangeliurn ist nur der Kommentar (die Aus*
legebibel) über unser Herz.« Die Rezension konstruiert: nur so*
weit das Evangelium Kommentar über unser Herz ist, ist es An*
leitung zum Christentum. — Ein solch verpflichtendes Konstruieren,
solche Umbiegung der Lavaterschen Standpunkte schon im Referat
des Kritikers, zeigt sich nicht minder bedeutsam in den Partien, die
der Autorschaft Lavaters gelten und auf die literarische Persönlich*
keit Lavaters zielen. Nicolai tadelt — ungleich schroffer als Pisto*
rius — daß Lavater den fiktiven Charakter einzelner Tagebuchstellen
zwar im allgemeinen feststellt, jedoch nicht genau angeben wolle,
was Wahrheit, was Dichtung sei; er verlangt streng wissenschaftliche
Methode, — ganz natürlich, denn es handelt sich für Nicolai beim
Tagebuch um psychologischen Lehrstoff^; es genügt ihm nicht, daß
Lavater »das Wesentliche der Moral des Beobachters« unbedingt
als wahr annimmt. Pistorius meinte, die Schreibart des Tagebuchs
sei »geschmückter als man es in einem Aufsatze, der bloß für uns
selbst gemacht ist, erwarten sollte«; es scheint ihm, »als wenn die
Situation in der Zeit eines Monats gekaufter und sonderbarer sei,
als das menschliche Leben sie gewöhnlicherweise herbeizusuchen
pflegt.« Nicolai aber faßt seine Zweifel auch recht derb positiv: La*
' Noch viel später, Reisebeschreibung X, 167, wiederholte Nicolai diesen Tadel
und stellte Lavaters Tagebuch die »pünktliche« Selbstbeobachtung Albrecht
V. Hallers gegenüber (gelegentlich eines Exkurses über Selbstbiographien).
219
Vaters »hypochondrischeÄngstlichkeitin der Beobachtungder christ«
Hchen Vorschriften, in der tägHchen Ausübung der christUchen Lehre
könne an sich »sehr lehrreich« sein; »aber eine solche Gewissen«
haftigkeit, eine sorgfältige Beobachtung seiner Handlungen zu er*
dichten, scheint uns gar nicht lehrreich. Eine großmütige Handlung
wirklich ausüben, Uneigennützigkeit, Selbstverleugnung, Geduld,
Standhaftigkeit bei Gelegenheit tätig beweisen ist etwas großes.
Aber solche Gesinnungen zu erdichten, dazu gehören weder viel
Geisteskräfte noch eine außerordentliche Tugend.« Damit ist La«
vaters literarischer Persönlichkeit ihre Physiognomie zugewiesen ;
er ist eingeordnet zwischen Hamann, der »aus dem Inneren seines
Kabinet«, in grillenhafter Abseitigkeit den Zeitgenossen (die sich
im tätigen Leben bewähren) den Spiegel vorhält, zwischen- den
Klopstockjüngern, die »auf Gottes Rechnung Sachen erdichten»
und — wie uns noch deutlicher werden wird — den Wertherjüng«
lingen, die an maßloser Überschätzung ihre Subjektivität leiden,
ihre Wünsche, Triebe, Taten in lebhafter Imagination und ohne
Kenntnis des Lebens für realisierbar, ja eben durch den Willen
schon für realisiert halten.
Es war nicht das erstemal — und das mag die Schroffheit der
Nicolaischen Invektive erklären — daß die Allgemeine Deutsche
Bibliothek und Nicolai im besonderen sich mit der literarischen
Persönlichkeit Lavater beschäftigten. Die Lavatersche »Heraus-
forderung« an Moses Mendelssohn und deren Beantwortung durch
Moses, Lavaters Duplik und einige der sich daranschließenden
Streitschriften waren in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (13,
2, 370) von Eberhard eindringlich beleuchtet worden; Nicolai selbst
mußte den Vermittler zwischen Lavater und Moses abgeben, der
beider Gegenerklärungen in seinem Verlag austauschte. Die vor«
nehmsten Gesichtspunkte gegen die Bonnetsche Beweisführung für
die Palingenesie, die Eberhard hier geltend macht, galten wie für
Mendelssohn so auch für Nicolai; so wenn Eberhard gegen die
materialistische Psychologie, »die bloß körperliche Erklärung der
Seelenkräfte« (S. 373) Einspruch erhob; wenn er die Frage nach der
Geltung und Einordnung des Wunders in die kausal geschlossene
Weltordnung für eine rein metaphysische erklärte, die mit der Exe*
gese nichts zu tun habe und schließlich der Einwand, den wir schon
220
in der Kontroverse Nicolais mit Schlözer und mit Herder kennen
lernten, wie denn »die Völker, zu denen die Offenbarung nicht ge»
kommen ist, zur Erkenntnis der Unsterblichkeit ihrer Seelen ge*
langen« könnten, wenn nicht das moralische Gefühl, sondern erst
die Offenbarung die Palingenesie gewiß mache (S. 375), Aber wich*
tiger wurden für Nicolais Verhältnis zu Lavater in der Zukunft
die Folgerungen, die sich hier für die Beurteilung des Charakters
der Lavaterschen Autorschaft überhaupt ergaben. Eberhards Be*
merkungen über den Kommentator Bonnets laufen darauf hinaus,
daß Lavater Bonnetsche Ergebnisse spekulativ vergröbere ; galt diese
Feststellung nicht auch jener Auslegung Bonnets in toto, die Men-
delssohns Bekehrung zu erreichen hoffte? Die Eberhardsche Re*
zension behandelt die Frage der Bekehrung Mendelssohns sehr
diskret, sie deckt einen Schleier über Lavaters »Übereilung« und
sucht hauptsächlich die kleinen Kläffer abzuschütteln, die sich auf
die beiden Kontrahenten stürzten. Auch Nicolai ging, zumal nach
Lavaters öffentlichem Eingeständnis seines »Irrtums«, über Lavaters
Taktlosigkeit völlig hinweg, nachdem er Lavater die schwierige,
peinliche Lage, in die Mendelssohn durch seinen Schritt gebracht
worden, begreiflich gemacht hattet Aber es blieb — trotz der
äußerlich befriedigenden Beilegung des Streites — ein Rest zu*
rück. Es mag nicht ohne Grund sein, daß Eberhard und Campe
in späteren Besprechungen Lavaterscher Schriften »Irrtümer« und
»Berichtigungen« Lavaters hämisch glossierten; die allgemeinere
Einsicht in Lavaters literarische Persönlichkeit, die Nicolai und
seine Genossen neben solchem Mißtrauen aus diesem Fall ge*
Wonnen hatten, hat Lichtenberg gelegentlich im »Timorus« sehr
glücklich formuliert: Lavater habe auch da »Göttersprüche in
der Hofsprache des Himmels zu reden geglaubt, wo Mendelssohn
nur gut schweizerisches Deutsch und gute warme Absichten
sah«. Und wenn Lichtenberg spottete: »Ich verbitte mir alle Ein*
würfe und versichere, daß ich sie alle heben kann, aber es er*
fordert mehr Zeit, als ich darauf zu verwenden verbunden bin,«
so hat die Allgemeine Deutsche Bibliothek im Lavater*Hottinger*
streit — in der noch zu behandelnden Rezension in 30, 2, 311 —
diesen Anwurf zur Charakterisierung Lavaters sich zu eigen ge*
" Nicolai an Lavater 10. 1II.70NN (Kopie).
221
macht. Der »Timorus« fand jedenfalls Nicolais ungemischten, ver*
gnügten Beifalls
Schärfer gab sich diese Einsicht dort, wo Lavater, nicht Angreifer
und nicht Angegriffener, die Souveränität seiner Autorschaft natür*
licher geltend machte, wo der Prediger zu seiner im ganzen Reich
verstreuten Gemeinde sprach. Vom Lavaterkult und dem, was ihm
in Lavaters Wesen entgegenkam^, hörten Nicolai und seine Ge*
nossen allerlei Fabelhaftes: v. Bretschneider, Blankenburg, Petersen
waren geschäftige Zuträger solcher Anekdoten. Die Rezension seiner
»Vermischten Gedanken«^, die — ursprünglich »Manuskript für
Freunde« — »von einem unbekannten Freunde des Verfassers« ( 1 775)
herausgegeben wurden, ging entsprechend prinzipieller und deut=
licher gegen Lavaters literarische Persönlichkeit heraus.
^ wie aus Lichtenbergs Brief an Nicolai vom 20. VII. 73 = Briefe ed. Leitzmann
und Schüddekopf I, 151 hervorgeht; vgl. Nicolais Rezension des Timorus: Am
hang zum 13./24. Bd. der ADBibl, S. 950 ff., die Form und Tendenz der Schritt
gegen Lavater stark bejaht.
' Vgl. die etwas spätere Campesche Rezension der Schrift: »Zum Andenken über
Hrn. Lavaters Aufenthalt in Augsburg« (1778; Anhang z. 25./36. Bd. d. A D Bi=
bliothek S. 2447 ff.), die feststellte, daß Lavaters Charakter und literar. Tätigkeit
solche Verstiegenheiten geradezu hervorriefen.
' Allg. Dtsch. Bibliothek 28, 1, 82. Das Signum der Rezension ist nicht ganz deut=
lieh; am wahrscheinlichsten Mt, das Zeichen Campes, der auch andere Lavater-
rezensionen verfaßt hat. Mn ist das Zeichen Nicolais für diese Bände. Die un^
mittelbar sich anschließende Rezension von Iselins Philanthropischen Aussichten
trägt Campes Zeichen 5lj. Beide Rezensionen unterscheiden sich im Stil (Satz*
bildung, Wortwahl, metaphorische Wendungen) und im Gedanklichen ganz er*
heblich, was nicht dadurch allein erklärt werden kann, daß die eine Rezension
tadelnd, die andere lobend ist. Wir finden in der Lavaterrezension aber auch
direkt Nicolaische Wendungen: »der hellste Unsinn; der Hr. Verfasser wird es
mir verzeihen« (S. 74), »uns andere arme Weltleute« (S. 75), »orakelmäßige Dunkele
heit« (S.74); die Unterscheidung »mysteriöser und rätselhafter« von den »unbe=
stimmten und schwankenden Sentenzen«. Eine besonders beliebte Nicolaische
Anspielung — auf den Don Quixote — findet sich ebenfalls. Vortrag, Satzbildung
— alles macht wahrscheinlich, dal^ die Rezension, wenn sie nicht von Nicolai her=
rührt — und das Signum wäre schon an und für sich, geschweige hier, wo der Drucke
fehler Mt statt Mn wahrscheinlich ist, wenn das verwischte Signum nicht überhaupt
Mn heißen soll, kein Gegenbeweis — wenigstens von Nicolai stark überarbeitet ist.
Dagegen scheint mir die A D Bibliothek 26, 2, 596 ff. erschienene, mit Mt signierte
Rezension zum Hottingerstreit wenigstens in den Hauptpartien unzweifelhaft
von Campe herzurühren, wenn auch hier Zusätze Nicolais wahrscheinlich sind.
Vgl. Nicolai an Campe bei Leyser, Jo. H. Campe, Braunschweig 1877, II, 357.
222
Die Rezension bemerkt »eine sehr große Complacenz des Ver*
fassers gegen sich selbst«; könne Lavater annehmen, daß sein Buch*
lein seinen Freunden als Antwort auf ihre freundschaftlichen Briefe
willkommen sein werde? »Viele der Freunde hatten doch auch ge^
wiß viele vermischte Gedanken, die zum Teil vielleicht reifer, rieh*
tiger, deutlicher, wahrer, fruchtbarer waren als Hrn. Lavaters; aber
keinem ist's doch eingefallen, sie monatlich mit feierlichem Anstände
von einem Ende Deutschlands bis zum anderen als eine milde Gabe
auszuspenden.« Es kann wohl sein, daß Einfälle, »Nebenkinder aus
Witz und Wahrheit«, edlerer Art sind, als andere »mit Mühe emp*
fangene und mit Schmerzen geborene« ; wenn man sich aber hin*
setze, um Einfälle, vermischte Gedanken zu produzieren, so müssen
»geschrobene Wortfügungen, seltsame Wendungen, erkünstelte
Antithesen, mysteriöse Dunkelheiten und pretiöse Sentenzen« an
die Stelle des echten Witzes und der »erhabene Einfalt liebenden
Wahrheit« treten — es ist Nicolais Einwand gegen Hamanns schrift*
stellerische Produktion, ebenfalls psychologisch konstruiert. Es folgt
ihm hier eine Begründung in Form einer Beweisführung, die völlig
eklektisch überall auf ein durchschnittliches Maß, eine geordnete
Entfaltung der Gedanken dringt. Einzelheiten sind bemerkenswert.
Wenn unter Erkenntnis Gottes »die verworrenen dunklen Gefühle
eines seiner sinnlichen Einbildungskraft überlassenen Schw^ärmers
gemeint werden: so muß man allerdings gestehen, daß diese Art
der Erkenntnis durch alle Sprachen der Welt unausdrückbar sei :
denn wie könnte man ein unbestimmtes Chaos von Empfindungen
durch Zeichen darstellen, welche ihre bestimmte Bedeutung haben ?«
Welches auch der Ursprung der Sprache sein mag, heißt's hier gegen
HamannsHerder, Sprache ist nichts weiter als Kommunikations*
mittel, und kommuniziert werden kann nur, was vom Individuum
abgelöst werden kann. »Kannst du dich in der stürmischen See be*
spiegeln?« hält der Rezensent Lavater mit dessen Worten »zu wei*
terer Beherzigung« dieses Zusammenhangs vor. — Lavaters Tendenz
zur geheimen »Sektenbildung« — der Name Jung Stillings wird hier
neben Obereit und Oetinger, Hasencamp und v. Salis genannt —
wird unterstrichen, seine Polemik gegen die »Unvernunft der Ver*
nunftsherolde« höhnisch glossiert. Und schließHch wird Lavaters
Publikation an dem Ideal der christlichen Demut und Einfalt ge*
223
messen. Aber Lavater merke wohl selbst bisweilen, wie sehr er sich
von diesem Ideal entferne: »daher verfällt er plötzlich in das ent=
gegengesetzte Extremum und setzt sich so tief herab, daß man das
, ausgewählte Werkzeug zur Erleuchtung der Menschheit', wovon
er kurz vorher das Ansehen hatte, ganz und gar nicht mehr in ihm
erkennt«. Das Schwanken Lavaters zwischen beiden Extremen wird
richtig bemerkt; aber Höhe und Tiefe werden als gewählte Mittel
aufgefaßt, und wie sehr sie beide den Menschen Lavater erst aus*
machen, vermag der Kritiker nicht zu fassen. »Die Wahrheit zu ge*
stehen, hält der Rezensent den Hrn. Verfasser weder für den außer?
ordentlich großen Mann, wofür ihn seine Freunde ausgeben, noch
für den außerordentlich elenden Menschen, wofür er sich aus sehr
seltsamer Demut selbst ausgibt;« es läge an Lavaters Freunden, auf
seine Mäßigung zu dringen, damit er nicht kurze Zeit später, wenn
er die »vermischten Gedanken« »mit abgekühltem Blute lese, sie
mißbilligen und unterdrücken zu können wünschen werde« — eine
Anspielung, deren Bedeutung wir uns bereits vergegenwärtigten.
Wenn aber diese Rezension eingangs die »zu große Complacenz
des Verfassers gegen sich selbst« feststellte, so hatte sie noch eine
andere Begründung als eine psychologische Analyse Lavaters:
»Freundschaft erfordert Gleichheit. Wann der eine Teil auf Fragen
und Mitteilungen, deren Beantwortung der andere bedarf, nicht ant=
wortert, sondern quasi ex tripode Axiomen mitteilt, deren der andere
eben nicht so bedürftig ist, so wird der eine Teil für den anderen zu
vornehm.« Diese Erfahrung machte Nicolai um dieselbe Zeit an
seinem eigenen freundschaftlichen Briefwechsel^ mit Lavater; er
habe, schreibt er an Zimmermann ^ »seit Jahr und Tag« mit Lavater
über die Physiognomik korrespondiert »in Briefen, die gemeinig*
lieh auf meiner Seite zwei Bogen und auf seiner Seite sechs Zeilen
' Alfred Stern, »Mirabeau und Lavater«, Deutsche Rundschau 118, 424 ff., hat
auch den Briefwechsel Nicolais und Lavaters in der Frühzeit charakterisiert. Da
ich den Briefwechsel im Anhang veröffentliche, weise ich hier nur allgemein auf
ihn hin und zitiere nicht im einzelnen. Ich bedauere es sehr, daß mir die Zeit=
umstände eine Einsichtnahme in die Nicolaischen Briefe im Lavater^Archiv in
Zürich nicht gestatten; für den hauptsächlichsten Gegenstand des Briefwechsels,
die Physiognomik, bieten die von Nicolai eingehend korrigierten Kopien im
Xicolaischen Nachlaß allerdings genügende Anhaltspunkte.
- Nicolai an Zimmermann 15. IV. 75 = Ed. Bodemann, S. 304.
224
lang waren«; nun merke er, daß es Lavater gar nicht so sehr auf
den, wie er geglaubt habe, gemeinsamen Gegenstand ankomme,
sondern auf gewisse »geheime Nebenabsichten«, die »in unmittel«
barer Verbindung mit den , Aussichten'« stünden, und der wahre
Grund seiner Physiognomik seien. Seitdem Nicolai Ende der sech*
ziger Jahre Lavater buchhändlerische und persönliche Dienste ge«
leistet hatte, empfing er von Lavater einige Briefe, die von Versiehe*
rungen freundschaftlicher Verehrung und einer fast demütigen,
jedenfalls übertriebenen Dankbarkeit Überflossen. Nicolai wird sie
sehr freundschaftlich beantwortet haben. Ein eigentliches Thema
gewinnt die Korrespondenz bald an Lavaters physiognomischen
Studien; Nicolai dringt, zumal nach dem Erscheinen der Abhand*
lung »Von der Physiognomik«, auf Vertiefung, Sorgfalt, Methode
des Lavaterschen Studiums, und Lavater pflichtet ihm bei, wenn*
schon er bezeugt, daß er äußerlich und innerlich zu einer vor«
schnellen Publikation sich gedrängt fühle »Wahrlich, noch nicht
urteilen sollt' ich, sondern erst studieren! je mehr ich beobachte,
desto weniger darf ich urteilen« — erkennt Lavater; aber er urteilt
desto mehr: über Chodowiecki als Menschen und Zeichner, über
Schattenrisse Friedrichs des Großen und Moses Mendelssohns —
und Nicolai sieht sich genötigt, den Lavaterschen Urteilen ent#
schieden zu widersprechen. Auch über Nicolai urteilt Lavater: »ein
heiterer, aber nicht profonder, ein witziger, aber nicht schöpferischer
Geist«; »Geschmack und Witz und Klugheit« erkennt er mit Pfen*
ninger in einem anderen Nicolaischen Porträt; aber er vermißt darin
den »Adel«, er diagnostiziert auf Hypochondrie, Einseitigkeit, Ein*
förmigkeit des Denkens und fügt ungebeten ein »consilium medi*
cum« an sein Urteil. Nicolai — rechtfertigt sein Porträt in einem
Brief von 16 Folioseiten; die schlechte Stellung und Beleuchtung
habe den Zeichner behindert. Er ist enttäuscht und verstimmt, und
seine »Offenherzigkeit« gibt sich nicht minder bitter gegen Lavater;
auch er gibt Lavater ein consilium medicum, das sich auf seine
Schriftstellerei bezieht und ganz im Sinne der Rezension der »Ver*
mischten Gedanken« in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek ge*
halten ist, natürlich ohne deren Schärfe. Bald ergeben sich andere
Differenzen. Nicolai sendet Lavater seine »Freuden Werthers«; La«
vater findet zwar »Unvergleichlichkeiten in dieser Broschüre«, aber
1> Sommerfeld, Friedrich Nicolai LLj
er fragt: »ob Ihr Zweck dadurch erreicht wird? Ich zweifle, so wie
ich zweifle, ob Werther die neuerHch vorgefallenen Selbstmorde
veranlaßt habe«. Er verteidigt Herder gegen die Anwürfe des Re*
zensenten der Herderschen Provinzialblätter (s. ob. S. 206) und
spricht von »verständlichen Schwätzern«, denen er den dunklen
Herder vorzöge. Und bald hat Lavater sich wegen der Stellung*
nähme der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in seinem Streit mit
Hottinger zu beschweren. Aber der eigentliche Kernpunkt des
Briefwechsels und der eigentliche Scheidepunkt sind die Physiogno*
mischen Fragmente. Zwar dankt Lavater Nicolai noch förmlich für
seine erste Rezension der Schrift »Von der Physiognomik«. In*
zwischen verfestigt beider Stellungnahme sich aber allgemein so,
zumal seit Nicolai sich von Lavater an Herder verraten glaubt und
sich einer »Kraft und Wunderpartei« gegenübersieht, die in Lavater
eine ihrer Stützen erkennt — , daß der Briefwechsel gereizte Formen
annimmt und nur noch zur Hervorkehrung der Gegensätze dient,
bis er völlig einschläft.
Daß sich die Gegensätze an diesem Punkte entzünden, wo bei
Nicolai zunächst »eine gleichgestimmte Saite« anklingt\ ist nicht
verwunderlich, wenn wir die verschiedenen Elemente betrachten,
die Lavaters Physiognomik zu einem typischen Werk des Sturms
und Drangs machten. Aber nicht minder stark sind Nicolais eigene,
gänzlich Wesens verschiedene Ansätze zur Physiognomik zu betonen;
man hat sie gewöhnlich übersehen und doch gibt die Tatsache, daß
Nicolai auf anderen Wiegen zu dem Versuch eines eignen physiogno*
mischen Systems gelangte, eine Möglichkeit, wesentliche Gegen*
sätze der beiden Generationen auszumessen, wie sie damals erst die
Möglichkeit der gegenseitigen Ablösung gab.
FreiHch ergeben Nicolais eigene Bemühungen um die Physiog*
nomik, wie sie heute fragmentarisch vorliegen-, kein Ganzes; aber
' Nicolai an Lavater 8. X. 73. NN.
- Den Plan eines »Bändchens physiognomischer Betrachtungen« bezeugt Nicolai
an Merck 8.X. 75 = Wagner I, 72 ff.; an Lessing 29. VI. 76 = Lachmanri=Muncker
21, 108 u.a. m. Nicolais physiognomische Fragmente hat Göckingk, insbesondere
S. 137 ff., in Auswahl veröffentlicht; vgl. auch Göckingk S. 48. Außer den drei
noch zu behandelnden Rezensionen der Lavaterschen Physiognomik sind für
Nicolais eigene Physiognomik Quelle die ausführlichen Briefe an Zimmermann
vom 15. IV. 75 und 30. V. 75 = Ed. Bodemann, S. 304 ff. Zahlreiche Erwähnungen,
226
die wesentlichsten Grundzüge seines »Systems« standen und stehen
fest. Schon die Entstehung seiner Bemühungen deckt einen solchen
Grundzug auf. Die Definition der Physiognomik, die er versucht \
ist in der Abgrenzung gegen die Auffassung und Darstellung des
Menschen in Malerei und Plastik gewonnen. In der bildenden Kunst
wird der Mensch nach Maßgabe der »Vorstellungsart« aufgefaßt,
seine Darstellung darf nichts haben, »was außer der Form ist«, das
Ideal der Schönheit verpflichtet den Künstler. »Die Physiognomik
nimmt den Menschen ohne Vorstellung, ohne Darstellung, so wie
er selbst ist.« »Sollte die Form, die wir nur durch Malerei oder Bild*
hauerei erkennen, in der Natur unerkennbar sein?« Sie ist es nicht;
nur müssen wir in ihr nicht suchen, was Bedürfnis der Kunst ist;
insbesondere müssen wir in der Physiognomik das Ideal der Form
vergessen, weil wir sonst nicht »Menschen individualisieren können,
welches eigentlich der Zweck der Physiognomik ist«; demgemäß
»muß ich bei der Erklärung einer Physiognomie erstens auf das Ob*
jekt, zweitens auf mich selbst sehen«, um, im Gegensatz zur künstleri*
sehen Hervorbringung, die Subjektivität auszuschalten, wie es auch
Nicolais erste Rezension der Lavaterschen Physiognomik ausdrück»
lieh fordert. »Das große Gesetz der Natur«, erkennt er in anderem
Zusammenhang'-,»ist Mannigfaltigkeit,in jeder Ansicht unbeschreib*
licheVerschiedenheit der Anlagen, der Beziehungen der Kräfte. Jedes
Ideal, selbst das herrlichste Ideal der Schönheit, ist nur einseitig.«
Wir dürfen uns nicht damit begnügen, in dem Ausgangspunkt
und der Manier dieser Definitionen nur eine mißglückte Nach*
ahmung Lessingscher Zergliederungen zu sehen; sie zeigen — selbst
wenn wir Lavaters Bericht über die Genesis seiner Bemühungen
um Physiognomik^ zurückhaltend bewerten — einen gegensätz*
liehen Ausgangspunkt an. Die spezifisch wissenschaftliche Genesis
dieser Bemühungen weist auf den größeren Zusammenhang hin,
in dem bei Nicolai die Physiognomik der vorzüglich ästhetische
meist polemischer Natur, gelten Lavaters Physiognomik in vielen späteren Schriften
Nicolais bis zu den »Vertrauten Briefen« hin; aus ihnen ist für Nicolais positiven
Standpunkt wenig zu lernen.
■' GöckingkS. 138.
' Göckingk S. 119.
" Im ersten Fragment des ersten Wrsuches.
15* , 227
Einschlag ist: das »Studium des Menschen« in dem Sinn und Um*
fang, den wir uns vergegenwärtigten. Daß Nicolai der formalen
Definition, die Lavater von der Physiognomik (besonders im ersten
Abschnitt der »Abhandlung«) gibt, rückhaltlos zustimmt\ darf
uns nicht täuschen: denn diese Definition hat nichts Verpflich«
tendes für Geist und Gehalt der »Fragmente«, und das wenige,
was sich allenfalls aus ihr herleiten ließe, findet in Nicolai einen
entschiedenen Gegner. Ausgangspunkt und Ziel der Lavaterschen
Physiognomik werden von seinem religiösen Empfinden her be*
stimmt; Herder sagte nicht übertreibend, Lavater könne durch die
Physiognomik »mehr Prediger Gottes werden, als durch alle Pre*
digten auf Erden«-. Nicolai aber polemisiert nicht nur gegen ein*
zelne theologische Hypothesen und religiöse Stimmungen der
Fragmente, sondern überhaupt gegen die religiöse Bezogenheit der
Physiognomik bei Lavater. Nicolais Bemühungen sind eher auf
Ästhetik und Moral bezogen; den »Nutzen der Physiognomik«,
den er im übrigen nicht überschätzen möchte, bezeichnet er gegen
Lavater als »nähere Kenntnis der wahren Beschaffenheit der Cha*
raktere der Menschen und ihrer vermischten Eigenschaften über*
haupt, die durch Schlüsse aus moralischen Compendien oft so sehr
verkannt werden. Der Zuwachs von Wahrheit, den das mensch*
liehe Geschlecht dadurch erhalten kann, ist schon beträchtlich«^.
»Die physiognomischen Kenntnisse menschlicher Formen«, erkennt
er*, »sind wahrer und mannigfaltiger als die Kenntnisse durch Bild*
hauerei und Malerei, welche den Menschen nur kennen lehren, in*
wiefern er schön und für den Augenblick darstellungsfähig ist«.
Der schöne Mensch aber ist keineswegs sein bevorzugter Gegen*
stand: »ein Mensch, bei dem alle Teile zur Schönheit überein*
stimmen, ist an sich kein vorzüglicherer Mensch, als der, an dem
z. B. alle Teile zur Empfänglichkeit der Begriffe oder zum Geben
oder zur Stärke übereinstimmen«^. »Ein Mensch, in dem zuviel
' AD Bibliothek 23,316.
■ Aus Herders Nachlaß 11,75.
' AD Bibliothek 21,321.
' Göckingk S. 139.
^ Göckingk S. 142, »durch diese (und die folgenden) Bemerkungen wird das
ganze unzulängliche Geschwätz Lavaters über die Schönheit, besonders auch
gegen Winckelmann auseinandergesetzt«.
228
Zeichen der Schönheit im Gegensatz gegen andere Eigenschaften,
die er notwendiger haben muß, wären, würde ein schlechterer
Mensch sein«; die besondere Relativität der Schönheit, die sich aus
besonderen Bedürfnissen, aus Alter und Geschlecht ergibt, will er
berücksichtigt wissen. Dem Lavaterschen Satz: je schöner, desto
moralisch vollkommener, ist er unzugänglicher als Mendelssohn,
seine Argumentation deckt sich im wesentlichen mit derjenigen
Lichtenbergs (in dessen Schrift Ȇber Physiognomik wider die
Physiognomen«). Ganz entschieden und fast entrüstet weist er das
Lavatersche Fragment von Christusköpfen zurück; zu Zimmer*
mann^ bemerkt er, Lavaters »geheimes und unsinniges System der
Religion« müsse ihn dazu führen, den Christuskopf für den schön*
sten denkbaren Kopf zu halten, wie gewöhnlichen Menschen die
Gläubigen die schönsten Physiognomien wären: »aber die Grie*
chen, denen wir doch nur nachäffen und nachlallen, sind zu ihrer
Schönheit gewiß durch einen anderen Weg als durch den Glauben
gelangt«; und nicht minder schroff wendet er sich in der Rezension
gegen diese Lavaterschen Hypothesen. Was sich hier an dem be=
sonderen Problem des »schönen Menschen« zeigt, ist indessen nur
Ausfluß einer gegensätzlichen Gesamteinstellung. Der Mensch als
Objekt der Physiognomik ist hier und dort verschiedene Qualität.
Der Mensch wird von Lavater im Grunde »in seiner Isoliertheit«
(wie ein Kapitel seiner späteren Schrift »Moses und Aaron« [1798]
überschrieben ist) und als göttliches Ebenbild genommen; Nicolai
betrachtet ihn, wie Lichtenberg, in seiner gesellschaftlichen Bin*
düng: bei Lavater stehen im Vordergrund des Interesses die außer*
ordentlichen Menschen, Genie, Prophet, Dichter; Nicolai verlangt
in den Rezensionen wie in seinen Briefen an Lavater immer wieder
als Objekt der Physiognomik »Menschen aller Stände«-. Lavater
erhofft für den Physiognomen, daß sein Blick für Vollkommen*
heiten geschult werde, wie er gerade auch Nicolai gegenüber be*
tont, der Physiognom solle weniger Schwachheiten und Fehler, als
vielmehr Vollkommenheiten und schöne Züge entdecken wollen.
Nicolai wehrt sich dagegen; die Physiognomik solle den Menschen
' An Zimmermann 15. IV. 75.
' Die Rezension der Lavaterschen Physiognomik in den Frankfurter Gel. Anz.
18. VIII. 72 = D. L. D. 7 8, 435 unterstreicht Lavaters Standpunkt lobend.
229
nehmen wie er ist, in seiner durchgängigen Vermischung von
Gut und Böse, Schön und HäßUch, und gerade seine — oben
zitierte — Überlegung über den Nutzen der Physiognomik stellte
die Erkenntnis der »gemischten Eigenschaften« obenan — eine un*
mittelbar praktische Ausdeutung der Mendelssohnschen Theorie
der gemischten Empfindungen, deren Bedeutung für Lessings Kreis
Dilthey, soweit ich sehe, zuerst hervorhob^. Man wird hierin —
zumal sich ähnliches bei Lichtenberg findet, mehr sehen müssen,
als eine bloß »realistische« Auffassung des Menschen, mehr jeden*
falls als eine Wiederspiegelung seines Eklektizismus ; diese Betrach*
tungsart macht sich auch bei anderen Gelegenheiten geltend, und
sie steht in genauem Zusammenhang mit dem hauptsächlichsten
Problem seiner physiognomischen Bemühungen. Der Begriff, der
für ihn im Mittelpunkt der Physiognomik steht, ist derjenige der
Relation der Teile; kein Teil des Körpers bedeutet an sich etwas,
jeder nur in Beziehung auf andere, auf die Struktur im Ganzen;
und so sind nicht die festen, ruhenden Teile und Züge der mensch*
liehen Gestalt, sondern die beweglichen sein eigentliches Objekt.
In diesem Zusammenhange wird sein Begriff des »Totaleindrucks«
eigentlich erst verständlich, der keineswegs mit dem Lavaterschen
identisch ist, wie es zunächst scheinen möchte; der Totaleindruck
ist das Korrektiv der Einzelbeobachtung, und nur als solches von
Bedeutung; und umgekehrt (und diese Umkehrung findet sich
auch bei Lichtenberg): könnten wir alle Relationen und Propor*
tionen wahrnehmen und aufsummieren, so würden wir den Total*
eindruck erhalten, — ein einschneidender Gegensatz zu Lavaters
intuitiver Gesamtinterpretation ! Es liegt hierin aber noch ein zweites
beschlossen: schon die rein organische Veränderung, durch Wachs*
tum z. B., verändert die Relation der Teile; ist die Totahtät eine
Summe veränderlicher Teile, so ist auch die Totalität, der Mensch
im ganzen betrachtet, veränderlich, nach der moralischen Seite, wie
auch Lichtenberg sagt, je nach Milieu, Lebensbedürfnissen, Erzie*
hung perfektibel oder korruptibel"; eben deshalb wünscht Nicolai
auch die Beobachtung des Physiognomen vorzugsweise auf die
' Dilthey, Erlebnis und Dichtung, 4. Aufl., S. 50.
- Vgl. die Polemik Nicolais gegen die Lavatersche Stollberg»Charakteristik »un-
verführbar« im Brief Nicolais vom 30. IV. 76 an Lavater.
230
veränderlichen, nicht die ruhenden psychischen Faktoren, also
nicht, wie Lavater es tut, vorzugsweise auf (angeborene) Talente
und Fähigkeiten, sondern auf die — leichter beeinflußbaren — Nei*
gungen gerichtet. Angeboren seien den Menschen die gleichen
ersten Neigungen und Begierden, aber die Entwicklung bedinge,
daß sie ihnen »in unendlicher Verschiedenheit Genüge tun« — ein
entschiedener Gegensatz zu der Auffassung des Lenzschen Auf*
Satzes über Physiognomik S die alles Gewicht auf die »erste Bil*
düng der Seele« schon im Fötus legen will. Die moralische Ent»
Wicklungsfähigkeit wird aber für Nicolai wie für Lichtenberg,
Mendelssohn und Garve, von höchster Bedeutung unter dem Ge*
Sichtspunkte der Willensfreiheit. Lichtenberg treibt hier seinen
Widerstand gegen Lavater bis zu der Behauptung, die Tatsache der
Perfektibilität oder Korruptibilität schließe den Menschen für
ewig »aus dem Sprengel der Physiognomik aus«; Nicolai will ihn
nur so eingerichtet wissen, daß der Begriff der Perfektibilität darin
Raum hat. »Daß Sie mir Perfektibilität zutrauen«, antwortet er La*
vater^ auf dessen Urteil über seinen Schattenriß, »halte ich für ein
größeres Lob, als Sie vielleicht intendiert haben« ; er weiß sehr wohl
den Wertunterschied einzuschätzen, den dieser Begriff bei ihm und
bei Lavater hat. Die deterministische Grundansicht, die trotz aller
Modifikationen in den Fragmenten durchaus vorherrscht, erfährt
bei Nicolai wie bei Lichtenberg entschiedene Ablehnung, und es
ist nicht minder bedeutsam, daß Lenz, dessen Aufsatz hier wohl
als authentische Interpretation gelten kann, diese Gegensätze be*
merkt und unterstrichen hat.
Es ist notwendig, daß wir uns diese Nicolaischen Standpunkte
zu einem geschlossenen Bilde zusammenfügen, ehe wir seine Re*
zensionen^ der Lavaterschen Physiognomik betrachten; denn diese
' Teutscher Mercur 1777, Nov., S. 106ff. (J. M R. Lenz), »Nachruf zu der im
Götting. Almanach . . gehaltenen Rede . . über Physignomik« (von Lichtenberg).
• Nicolai an Lavater 19. IL 74 NN.
' Ich nehme die mit N unterzeichneten drei Rezensionen — die erste in der Allg.
Dtsch. Bibliothek 23,313-346 behandelt die beiden Abhandlungen »Von der
Physiognomik«; die zweite in 29,379-414 behandelt den ersten und zweiten Ver=
such der Fragmente; die dritte in Anhang z. 25./36.Bd., S. 1251—1281 den dritten
und vierten Versuch, sowie einige kleinere Schriften anderer Autoren zur Phy
siognomik (hierunter Lichtenberg) - sämtlich für N i c o 1 a i in Anspruch, obwohl
231
Rezensionen bringen, da der Rezensent hier wie öfter seinem Autor
mit mehr als gewissenhafter Treue folgt, seine positiven Stand*
punkte nur sehr eingeschränkt und anmerkungsweise zum Aus*
druck; und zudem weisen sie verschiedene Färbung auf. Die erste
Rezension ist äußerst vorsichtig und behutsam in ihren einschrän*
kenden Anmerkungen, deutlich und kräftig in der Hervorhebung
der Verdienste Lavaters. Freilich ist gerade hier der Gegensatz am
stärksten: in der unbewußten Umbiegung der Ergebnisse und der
Methode Lavaters in Nicolais Standpunkte; was sich irgend an un*
stürmerischen Elementen bei Lavater findet, trägt Nicolai sorgfältig
zusammen. Er hebt den wissenschaftlichen Charakter^ der
Physiognomik hervor; er kündigt in dem zu erwartenden großen
Werke eine genauere detailliertere und systematischere Behandlung
des Gegenstandes an. Er nimmt sich Lavaters gegen seine Rezen*
senten — auch für die Zukunft an — , besonders gegen diejenigen, die
eine »bärtige philosophische Maske vorstecken« und dabei doch
ihre Philosophie nur »auf einen sehr bequemen sensus communis
beziehen«, den er als »Inbegriff der zu einer gewissen Zeit oder in
einem gewissen Landstriche herrschenden Wahrheiten und Vorur*
teile« bezeichnet! Seine abweichenden Standpunkte, bringt er in
Form von einschränkenden Anmerkungen vor, in der bestimmten
Überzeugung, daß es nur einer aufmunternden Nachhilfe bedürfe,
Lavater gewisse Eigentümlichkeiten — in Stil und Beweisverfahren — ,
die sein Werk schädigen müßten, abzugewöhnen. Er will Lavater
N Petersens Signum ist. In der Rezension 29, S.386 7 ist das Fragment einer Re=
zension eines anderen Verfassers eingeschoben, eingeleitet mit den Worten: »ein
trefflicher Mann urteilt schriftlich von diesem Werke . .«; diese Stelle möchte ich
(nach Nicolai an Joh. Müller 16. III. 73 = Briefe S. 59: »Ich sehe Ihrer Rezension
mit Verlangen entgegen« usw.) Joh. Müller zuweisen. Meine Annahme derVer=
fasserschaft Nicolais stützt sich für die Rezension in 23 auf die Briefe Nicolais
an Zimmermann vom 15. IV. 75 = Bodemann S. 304 und an Joh. Müller 12. VII.
76 = Briefe S. 102; beide sind nur auf diese erste Rezension zu beziehen. Für
die zweite Rezension: Nicolai an Merck 8.X. 75 = Wagner 111,74; für die dritte
Rezension auf deren einleitende Sätze. Alle drei tragen zudem unverkennbar
Nicolaisches Gepräge; wörtliche Anklänge und Übereinstimmungen mit brief=
liehen Äußerungen Nicolais an Zimmermann, Müller, Lavater u. a. m.
' Vgl. aber F. H. Jacobi an Lavater 13. VI. 78: »ich halte (Ihr Werk) für eins der
heimlichsten und nützlichsten, wenn auch an eigentlicher Physiognomik, oder
vielmehr an wissenschaftlicher, kein wahres Wort sein sollte.«
232
auf genaue Beobachtung, auf induktives SchlufWerfahren verpflich*
ten, ja er meint, daß Lavater nur um die Leser in die neue Materie
einzuführen, bisweilen ins Deduzieren verfalle! Zu der Erörterung
»von dem Gemälde des vollkommensten Menschen oder Jesu
Christi« bemerkt er, Lavater möchte, »die ohnedies so sehr weiten
Grenzen der Physiognomik nicht noch weiter ausdehnen«, als un*
bedingt notwendig sei; die »stärkste menschliche Imagination« ver*
sage, »wenn sie sich nicht unmittelbar auf existierende Natur stützt« .
Und bemerkenswerterweise spricht er nur an einer Stelle, wo Lavater
— über die schöne Stimme des vollkommenen Menschen — in Her*
derschen Tönen schwelgt, von »Gant, der kaum in Aussichten in die
Ewigkeit erträglich ist und aus einem Werke ganz wegbleiben muß,
das bloß Tatsache und Erfahrung — oder nichts ist«. (S. 342.)
Nicht die Art, wohl aber die Anzahl und vor allem der Ton seiner
Einwürfe ändert sich in der zweiten Rezension. Der Bruch mit Her«
der, dessen Rückwirkung auf Nicolai man nicht stark genug ein*
schätzen kann, geht dem Erscheinen desWerks voran, das mit Sätzen
aus der verabscheuten »Aeltesten Urkunde« demonstrativ eröffnet
wurde, und das in der ungewöhnlichen, und Nicolai sachlich wie
persönlich unbegreiflichen Lobpreisung seiner Freundie, mit dem
Publikum zu spielen schien. Merck, der doch diesem Freundeskreise
angehörte, bezeichnet Nicolai diese Lavaterschen Charakteristiken
recht derb: »die lächerlichen Herrlichkeiten, die er bei den am mei=
sten verunglückten Silhouetten ausgekramt hat, haben mich an?
geeckelt — denn was hilft das, was man a priori weiß, in die stump*
fen Umrisse zu legen, und nachher zu fordern, daß alle Menschen,
die in die Eh* und Bettgeheimnisse seiner Bekannten und Freunde
nicht initiiert worden, alles das auch sehen sollen«'. »Was hat Herr
Goethe gedacht«, war Nicolais Antwort^ »als er das Lied am Ende
des ersten Teils der Physiognomik schrieb! Im Ernste kann er so
etwas fast unmöglich schreiben, und war's Faunenblick, so — doch
ich mag hier weiter nichts sagen.« Er muß erkennen, daß Lavater bei
' Merck an Nicolai 7. VII. 75; vgl. später Merck an Lavater (17. V. 78): »die bösen
Monumente, die Sie allen jungen Leuten, die noch nichts in derWelt getan hatten,
in Ihrer Physiognomik setzten . . .«
- Nicolai an Merck 8.X. 75. Gemeint ist Goethes »Lied des physiognomischen
Zeichners« = Der jg. Goethe 4, 153. Ähnlich an Zimmermann 30. V. 75 = Bode?
mann 308.
233
seiner Physiognomik zwei »Nebenzwecke« verfolgt habe, die ihm
mindestens ebenso wichtig sind, wie der wissenschaftliche Haupt*
zweck ; und einer dieser »Nebenzwecke« ist, »die große Meinung,
die er von seinen Freunden hat, auch seinen Lesern beizubringen«'.
Er nimmt Anstoß daran, daß Lavater und die Stollbergs sich »das
Weihrauchfaß recht an den Kopf werfen«, nimmt Anstoß an den
20 Schattenbildern von Freunden (auf der ersten Tafel de^ dritten
Bandes), an der Vergötterung eines im Grunde unbedeutenden,
harmlosen Menschen wie Kaufmann, zu dessen Wahlspruch: »man
kann was man will« er bemerkt, daß Lavater dieser Sentenz durch
die Umkehr: man will was man kann, gerade soviel genommen
habe, »als aller Wahrscheinlichkeit nach der Erfolg der Weissagung
nehmen wird.« Und natürlich läßt Nicolai die Stelle, wo Lavater
begeistert von Herder spricht, nicht vorübergehen, ohne seinem Un*
mut über den dunklen Herder und die rätselhafte Urkunde Luft zu
machen. Nicht minder scharf nimmt er gegen den zweiten »Neben-
zweck« Stellung, der Lavater »auf Abwege führe«: seine »mystischen
Grillen« über Religion und künftiges Leben, besonders über die Idee
von der wundertätigen Kraft des Glaubens und des Gebets. Er er*
klärt sie kurzerhand für den »gröbsten Unsinn, zu dessen Entschul*
digung oder gar Bestätigung weder Schrift noch Vernunft Beweis*
gründe an die Hand geben können.« Nichtsdestoweniger folgt er
den einzelnen Abwandlungen dieser »Grille« mit zornigem Eifer
und zieht alle Register des Spotts gegen Lavaters Ansichten vom
Christuskopf; und wenn er auch erklärt, »jedem verständigem Leser«
müsse bei der Lektüre der Physiognomik »die Geduld endlich
reißen«, so hat er das Werk doch mehr als viermal sorgsam durch*
studiert'^, und er verfehlt auch hier nicht, Lavaters Verdienste da.
wo er mit ihm übereinstimmt, sorgsam hervorzuheben, Irrtümer zu
berichtigen und mangelhafte Beobachtungen zu ergänzen. Dabei
macht sich, in allen drei Rezensionen, ein Widerstand von einer
dritten, gewissermaßen beide andern umfassenden Seite her geltend:
gegen den Stil und das Beweisverfahren Lavaters. »Es wird nicht
leicht ein Buch in der Welt sein, das die Geistesphysiognomie des
' Anh. z. 25./36. Bd. der A D Bibliothek, S. 1252.
■ Nicolai an Lavater 30. IV. 76, dazu noch der Anfang der dritten Rezension;
vgl. an Merck 8. X. 75.
234
Autors so deutlich an der Stirn trägt« erkennt er'; aber er unter*
nimmt es nichtsdestoweniger, diese Physiognomie zu modeln, indem
er bald spöttisch, bald förmlich bittend und beschwörend Lavater
sein »desultorisches und deklamatorisches Wesen« vorhält, »die
Liebe zum Fremden und Wunderbaren, die Sprünge der Einbih
dungskraft, das Raisonnement, das oft auf die seltsamste Art mit
inniger Mystik verwickelt ist, die helle Philosophie, die oft unver*
mutet in Andächtelei, Seelenzückungen und .Aussichten' übergeht«,
»das weitschweifigste, fast mehr als kanzelhafte Wortgepränge«, das
sich neben »bündigen, herzrührenden, erhabenen Stellen« so breit
mache. Wir kennen die Vorhaltungen, die Nicolai hier und in Briefen
an Lavater macht, schon aus der Stilpolemik gegen Hamann und
Herder im einzelnen, und können sie daher hier übergehen, bemer*
kenswert ist aber eine gewisse Zusammenfassung: er findet den
Sprachschatz und die charakteristischen Wendungen von Herder
und Hamann, aber auch von Goethe, Lenz, Bürger u.a. bei Lavater
wieder, seine Polemik gilt daher nicht bloß dieser Schrift und die*
sem Mann, sondern auch seinen Lehrern, Freunden und Schülern
— der ganzen »Schule«. Es ist kein Wunder, daß Nicolai bei solchen
Widerständen selbst gegen das von ihm positiv Genommene des
Werkes mißtrauisch wurde — mehr als seine Rezension zugab; ja er
entfremdete sich der geliebten, hoffnungsfroh begrüßten Wissen*
Schaft. Wenige Jahre später unterstrich er lobend den Satz aus einem
»Physiognomischen Kabinett«^ — nachdem er schon in der dritten
Lavaterrezension Lichtenbergs Skeptizismus gegen die Physiogno*
mik sich zu eigen gemacht hatte — : »Physiognomik ist nur ein
schmaler Fußsteig zur Menschenkunde, den man nur im Notfall
geht, wenn die andern breiteren und gebahnteren Wege versperrt
und unbrauchbar sind; kannst Du also diese betreten, so bedarfst
' Allg. Dtsch. Bibliothek 29, 382.
- Münster 1776, von anonymem Verfasser. Die mit Vs unterzeichnete Rezension
erschien Allg. Dtsch. Bibliothek 44,2, 517. Das Signum Vs ist keinem Rezensenten
zugewiesen. Vz ist Nicolais Zeichen für diesen Band; die Druckfehlerberich^
tigungen schweigen hierüber; gleichwohl möchte ich die Rezension für Nicolai
in Anspruch nehmen, zumal stilistische Gründe dafür sprechen; in den Korre«
spondenzen fand sich außer der interessierten Frage Nicolais an Lavater vom
30. IV. 76, bezüglich der Autorschaft des Buches, kein Anhaltspunkt für die Ver^
fasserschaft der Rezension.
235
Du des Fußsteigs nicht.« Das »Studium des Menschen« fand jetzt
in Geschichte, Kulturgeschichte, Politik, Nationalökonomie und
empirischer Psychologie dankbarere Gebiete, je stärker er die beiden
»Nebenzwecke« der Lavaterschen Physiognomik im literarisch*wis*
senschaftlichen und gesellschaftlichen Leben wirksam sah.
DieVerbindungder beiden Nebenzwecke eben durch die»Schule«
suchte Nicolai alsbald an anderer Stelle aufzuzeigen. »Von der
Lehre der Gebets* und Glaubenskraft, wie auch von Schwärmerei
und Enthusiasmus« war eine umfängliche Rezension der Allgemein
nen Deutschen Bibliothek ^überschrieben, die einigen Schriften zum
Lavater^Hottingerstreit, aber auch Leonhard Meisters Ȇber die
Schwärmerei«, dem Stollbergschen Museumsaufsatz »Über Spott
und Schwärmerei« und jenem Mercuraufsatz gegen dieLukianischen
Geister galt, der noch an anderer Stelle dieser Untersuchung heran»
gezogen werden soll. Es war natürlich, daß die Allgemeine Deutsche
Bibliothek in dem sich an Hottingers »Sendschreiben« anschließen?
den Streit mit Vergnügen die Gelegenheit ergriff, Lavater bloßzu*
1 AD Bibliothek 30.2 (1777), S. 311-400. Die Rezension ist Zp unterzeichnet,
welches Signum weder in deutschen noch in lateinischen Lettern einem Rezen=
senten zugewiesen ist. Die Druckfehlerberichtigung am Schluß des 30. Bandes
sagt: »S. 327, zwischen Z. 14 und 15 I. Zusatz eines anderen Rezensenten«. Offen =
bar enthält diese Berichtigung wieder einen Druckfehler: an der angeführten
Stelle geht der Text ohne Unterbrechung weiter, dagegen Kndet sich S. 397 zwi-
schen Z. 14 und 15 ein Absatz; aber auch S. 358 findet sich ein größerer Absatz.
Aus dieser Druckfehler»berichtigung« ließe sich also für die Verfasserschaft,
aber auch für die Anteile der Verfasser nichts Genaues erweisen. Aber zu Peter»
sens Brief vom 4.11.77 bemerkt Nicolai am Rande in unleserlichem Zusamm en«
hang: »drey Rezensionen... XXX, 2: 1) über Lavater, Pfenninger, Gedeon.«
Danach kann man mit Sicherheit annehmen, daß hier eine Mischrezension von
Nicolai und Petersen vorliegt. Die Anteile seitenweise zu bezeichnen, möchte
ich auf jene »Berichtigung« hin nicht wagen; wahrscheinlich hat Petersen das
sachliche Gerüst geliefert; Nicolai hat die Partien hinzugetan, die allgemeinere
Aussichten eröffnen. Unzweifelhaft stammt z. B. die Beantwortung der Lavater=
sehen »drei Fragen«, die hier in der Rezension von Pfenningers »Appellation an
den Menschenverstand« gegeben wird, von Petersen; die lange »Anmerkung«
zu derselben, die Lavater entgegen seiner Versicherung doch die Inspiration zu
dieser und anderen Apologien nachweisen will, von Nicolai. Von Nicolai rühren
m. E. auch die Invektiven S. 358 ff. her, sowie Einleitung und Schluß; aber auch
zu den unzweifelhaft von Petersen herrührenden Partien scheint er Zusätze ge^
macht zu haben, z. B. zu der Herder betreffenden Stelle in der Gedeon=Rezension.
236
stellen, um so mehr, als Hottinger sich ja mit seinem Pamphlet
»Menschen, Tiere und Goethe« im Streit um »Werthers Freuden«
auf Nicolais Seite geschlagen hatte; wir brauchen auf diesen Streit
an sich hier um so weniger einzugehen, als das vorzüglichste Er*
gebnis der ersten Rezension von Schriften zum Hottingerstreit^
in Beobachtungen über den Charakter der literarischen Person«
lichkeit Lavaters bestand, die den bisherigen Erfahrungen der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek und Nicolais insbesondere
nichts Neues hinzufügten, die alten Beobachtungen indessen zu
bestätigen schienen. Nun glaubte aber diese zweite Rezension
zum Hottingerstreit feststellen zu können, daß Lavater mit dem
»Lammston« des Predigers die niedrigen Machenschaften des
»Verleumders« Pfenninger zu decken versuche, daß er unwahr*
haftig verfahre, um seinem Charakter einen edleren Anstrich zu
geben, daß »seine Charlatanerie und Eitelkeit ihn beständig mit
sich fortreiße«-, daß es ihm hier wie überall, mehr darauf ankomme,
»seinen Prozeß bei einem gewissen Teil des Publikums zu gewinnen,
als die Sache selbst aufzuklären.« Hatte nicht Nicolai eben erst fest*
gestellt, daß in der Physiognomik, die Lavaters wahres Lebenswerk
hätte werden sollen, die persönlichen »Nebenzwecke« die Errei*
chung des Hauptzweckes verhinderten? Lavaters literarisches und
menschliches Bild schien gezeichnet — so endgültig, daß die gleich*
zeitigen und späteren Lavaterrezensionen sich auf ein constat be*
riefen, und die verschiedensten Rezensenten — Campe, Petersen,
Eberhard, Lüdke, Schatz, Korrodi und Musäus" — sich derselben
Terminologie zur Kennzeichnung der Lavaterschen Autorschaft be*
dienen konnten, mochte sie nun »Christliche Lieder«, Predigten
' Allg. Dtsch. Bibliothek 26, 596 ff. Verfasser der Rezension ist Campe, doch sind
zahlreiche Zusätze Nicolais mir wahrscheinlich.
' Nicolai an Merck 8. X. 75.
^ Lüdke bespricht »50 Christliche Lieder und deren Folge«: AD Bibliothek 20,
2, 545 und 30, 1, 167 ff.; Petersen A D Bibliothek 18, 1, 152 und 25, 2,453 »Bibl.
Erzählungen f.d. Jugend« (die noch am besten wegkommen); Campe »Nach=
denken über mich selbst« A D Bibliothek 27, 1, 98; Schatz »Verm. gereimte Ge^
dichte« AD Bibliothek 68, 2, 603 ff.; Musäus »Die Messiade« A D Bibliothek 67,
2,434; Korrodi den »Pontius Pilatus« AD Bibliothek 57, 1 ff.; zu der Korrodischen
Rezension v. Pfenningers »Christi. Magazin« (ebenda S. 82ff.) hat Nicolai gegen
Lavater gerichtete Zusätze gemacht.
237
Biblische Erzählungen für die Jugend betreffen. Ja schon hier in
dieser großen Rezension liegt der Hauptakzent weniger auf Lavaters
Subjektivität, als auf deren Wirkungen, sie wird symptomatisch ge*
nommen, nicht mehr bloß psychologisch, und die Verbindungs?
linien, freilich hauptsächlich die äußeren, zur Geniebewegung wer*
den gezogen. Denn Schwärmerei und Enthusiasmus, welche die
Rezension mit Lavaters theologischem System in Verbindung bringt,
werden hier nicht bloß in religiösem Verstände aufgefaßt; sind sie
doch das Zeichen, in dem die junge Generation überhaupt zu siegen
glaubt, gelten sie doch auch in Dingen der allgemeineren Weltan*
sieht, im Felde der schönen Wissenschaften bereits als Kampfruf.
»Die Sache erhält durch diese Wendung ein interessanteres Ansehen ;
wer an dem Wunderstreit nicht teilgenommen hatte, kann bei dem
Streite über die Vorzüge und Rechte der Vernunft (im allgemeineren
Bezug) nicht gleichgültig bleiben« (A. D. Bibl. 30, 359). Die Schwär*
merei in diesem allgemeineren Sinn hatte der Mercuraufsatz gegen
die »lukianischen Geister«, unter die er die »Bibliothekare in Berlin«
ausdrücklich zählte, nicht nur verteidigt, sondern Schwärmerei ge*
radezu als Parole im Kampf gegen die Aufklärung ausgegeben, und
in so maßloser Weise, daß der Herausgeber Wieland seinen Mit*
arbeiter nachträglich desavouierte. Die »Bibliothekare« antworteten
hier: »da strömen denn nun unbesonnene Jünglinge, die mehr Mut
als Kraft belebt, dem Wundertäter zu, der ihnen den Weg zum
Ruhmestempel so eben und bequem macht, der sie allen mühsamen
Studierens entbindet, anstatt der sukzessiven Entwicklung
der Ver Standeskräfte, sie zum Schauen mit geschlossen en
Augen führt«, »statt des sukzessiven^ Strebens nach Voll*
kommenheit« »eine unmittelbare physische Vereinigung
mit Gott lehrt«; von dem sie nicht Pflichten lernen, sondern nur
»ihren Wirkungskreis zu vergrößern« — es sind die Anwürfe Ni*
colais gegen die Wertherjünglinge: die Tragweite dieser Angriffe
werden wir uns noch zu vergegenwärtigen haben. Lavater freilich,
fährt die Rezension fort, verwahre sich gegen solcheUnterstellungen ;
aber »diese schleichenden Wendungen (Lavater* Pfenningers) glei*
' Vgl. aber Lenz in. den »Anmerkungen über Theater« (Lewy IV, 252): »so viel
ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv zu er*
kennen noch zu wollen . . .«•
238
chen den listigen Absprüngen eines gejagten Wildes, das seine
Schwäche fühlt und seine Jäger von der Spur bringen will. Andere
Schriftsteller dieser Partei hingegen, wilden Hauern gleich, die sich
dem Spieße des Jägers entgegenstellen und ihn selbst zu Boden zu
stürzen suchen, voll Drang und Sturm, eine neue Revolution zu
erregen, verwarfen ohne Bedenken alle gelassene Vernunft und
redeten geradezu der Schwärmerei das Wort.« Auch hier ist natür*
lieh in erster Linie Herder gemeint, dessen Provinzialblätter unmittel«
bar darauf nochmals in der bekannten Weise angegriffen werden,
sodann der Kreis des jungen Goethe, insbesondere Fritz Stollberg.
Auf dieser allgemeinen Polemik liegt, so viel Raum auch die Be*
weisführung gegen einzelne theologische Hypothesen, gegen das
»geheime und unsinnige System der Religion« Lavaters einnimmt,
durchaus der Hauptakzent der Rezension; sie trägt nicht mehr den
Charakter bloßer Abwehr, sie stellt vielmehr ein langatmiges An=
griffssignal dar. Wie dieser Angriff selbst dann mehrere Jahre später
gegen Lavater insbesondere geführt wurde, haben wir hier nicht
mehr darzustellen: seine Richtung ist bereits in dieser Rezension
festgelegt; neue bewegende Gegensätze ergeben sich in diesem, im
wesentlichen im Anschluß an die Anekdoten über Lessings Tod
geführten Streite nicht mehr^; bemerkenswert ist für uns höchstens
die seltene Erbitterung, mit der ihn die ehemaligen freundschaft-
liehen Korrespondenten austrugen. Die Korrespondenz selbst war
nach dem Protest, den Lavater bei Nicolai wegen der Haltung der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek zum Hottingerschen »Send*
schreiben« einlegte-, eingeschlafen: ein Besuch Nicolais bei Lavater
(im Sommer 1781) konnte natürlich die Entfremdung und feind*
selige Spannung ihres Verhältnisses nicht beseitigen, war vermut*
lieh von Nicolai auch nicht mehr zu diesem Zweck geschehen.
Wie Nicolai bereits um diese Zeit von Lavater dachte, wußten
seine Freunde, und als der Physiker Böckmann ihn nach Karlsruhe
einlud, wo Nicolai »auf dem Zimmer« wohnen sollte, »wo Klopstock
dichtete und Lavater physiognomisierte«, setzte er gleich besehwich*
tigend hinzu: »aber ausgelüftet ist es hinlänglich, daß Sie von
' Hier sei auf Alfred Sterns ausführliche und wohlbegründete Darstellung ver=
wiesen: »Mirabeau und Lavater«, Dtsch. Rundschau 118,424ft.
- Lavater an Nicolai 25. X. 77 NN.
239
den Gespenstern der Einbildungskraft nicht viel beunruhiget wer*
den«\ Mehr als Gespenster der Einbildungskraft sah Nicolai in La*
vaters theologischen »Grillen« nicht; für seine allgemeine Kritik des
Sturmes und Dranges sind sie bedeutungslos gebHeben, und haben
erst im Zusammenhang mit neuen Kämpfen Wichtigkeit erlangt.
DER JUNGE GOETHE UND SEIN KREIS
Am 14. XL 1774, kurze Zeit nach seinem ersten förmlichen Scheide*
brief an Nicolai, schreibt Herder an Hamann, Lenz' »Hofmeister«
und »Neuen Menoza« rühmend, Goethe habe in Lenz einen Neben*
buhler erhalten. »Dünkt Ihnen nicht auch, daß die Stücke dieser
Art tiefer als der ganze Berliner Geschmack reichen?« Wie hier der
erzürnte Herder dem Freunde gegenüber, so stellt Merck in seinem
Brief vom 28.VIII. 74 dem Gegenspieler Nicolai eine ähnliche Ver*
bindung her; es ist der Brief, in dem Merck jenes schon erwähnte
scharfe Verdikt von Herders »Aeltester Lirkunde« gibt, diesem »nach
Form und Herkommen abscheulichsten Buch, das je geschrieben
worden ist«; aber derselbe Brief eröffnet Nicolai mit der Ankündi*
gung von »Werthers Leiden« den Schauplatz eines neuen Kampfes.
Hier wie dort zeigt Merck auch gleichzeitig, wie wenig er sich im
Grunde als Bundesgenosse Nicolais fühlt. Wenn Herder in der
»Urkunde« sich auch gleichsam »im Schlafrock zu Pferde setzt,
durch die Gassen reitet und obendrein noch verlangt, daß es jeder*
mann gut heißen soll«, so ist ihm doch jene Schrift »allzeit als Ab*
druck seines Geistes lieb und wert«; und hier, wo Merck von Goe*
thes Pasquillenwesen abrückt, läßt er an seinen innigen Beziehungen
zu Goethe dem Dichter und Menschen keinen Zweifel aufkommen,
ja er berichtet nicht ohne Genugtuung, daß Goethe sich mit den
Jacobis »ausgesöhnt« habe. Wir sind hier mehr noch als an anderen
Stellen unserer Untersuchung auf solche Bezeugungen von Bundes*
genossenschaft und Abwehr angewiesen; einmal, weil hier die Ge*
gensätze sich als solche alter und junger Generation offenbaren, und
die Jungen wenigstens in Nicolais Augen als Partei, als Schule auf*
' 28. VIII. 81 = E. Ettlinger, Briefe Karlsruher Gelehrter an Nicolai, Zeitschrift
f. Gesch. d. Oberrheins, N. F. 24, 118.
240
treten, zweitens, weil Nicolais Gegenäußerungen nur in ganz ver*
einzelten Fällen literarische Form angenommen haben. Nicolai, der
mehr als je unter der Last der äußeren Verpflichtungen, nicht zum
mindesten der Herausgeberschaft der Allgemeinen Deutschen Bi=
bliothek seufzte, der kaum die nötigsten Mußestunden für Lektüre
aufbrachte, dessen tiefere Interessen, wie wir uns vergegenwärtigten,
mehr und mehr anderen Gebieten als dem literarischen galten, hat
selbst von der Möglichkeit, in der Allgemeinen Deutschen Biblio*
thek sich durch kritische Anzeigen Luft zu machen, in diesem Kampf
sehr wenig Gebrauch gemacht. Es kommt hinzu, daß die Rezen*
sionen gerade der wichtigsten, uns heute am charakteristischsten
erscheinenden Dichterwerke der jungen Generation unter mannig*
fachen unglücklichen Umständen in der Bibliothek nur sehr ver*
spätet oder gar nicht erschienen sind; der theologische und der real*
wissenschaftliche Artikel der Bibliothek nahmen immer breiteren
Raum und immer stärkeres Interesse von Herausgeber und Lesern
m Anspruch. So gewinnt denn für uns dieses viel verzweigte und
als Ganzes kaum zu fassende System der bloß literatorischen
und faktiösen Geschäftigkeit eine durch nichts zu ersetzende Be«
deutung; und unsere Aufgabe erschwert sich durch die Tatsache,
daß die eitle, klatschsüchtige Wichtigtuerei einiger Beteiligter Ni*
colais Blick zeitweilig trüben mußten: ein Beispiel hierfür sind die
zahlreichen ungedruckten Briefe v. Bretschneiders, der sich Ni*
colai in dessen theologischen Kämpfen unentbehrlich zu machen
wußte und der Nicolai bis in die neunziger Jahre hinein mit per*
Hden Anekdoten aus dem Goethekreise versorgte — ein »Berliner«
Gegenstück, freilich ungleich bösartiger als dieser, zu dem Darm*
Städter Leuchsenring, dem Vorbild des »Pater Brey«.
In solcher Atmosphäre vermochte sich das Bild des jungen
Goethe Nicolai nicht rein darzustellen ; es verlor hier, wo sein Name
fast eher bekanntwurde als sein Werk, und zudem nicht immer
wie wir sehen werden, in eindeutiger Beziehung, das Unbezwing*
lich*Sieghafte, das Strahlende, das uns aus dem Briefwechsel und
den sonstigen Aufzeichnungen von Goethes Jugendfreunden ent*
gegenleuchtet. Nur einmal, nach dem Erscheinen von Goethes Wer*
ther, hat Nicolai davon einen Hauch gespürt; aber eben bei dieser
Gelegenheit stießen die Parteien aufeinander.
16 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 241
In unserer Darstellung von Nicolais Verhältnis zu Herder haben
wir bereits bemerkt, wie jene fliegenden Blätter »Von deutscher
Art und Kunst« den ersten Grund zur tieferen Entfremdung Her*
ders und Nicolais gelegt hatten; wir erinnern uns, daß Herder auf
Nicolais Anmerkung hin seinen Anteil als flüchtig hingeworfene
Versuche verleugnet hatte. Am 2. IV. 72 aber schreibt Merck an Ni*
colai: »Haben Sie schon das Ding über die Baukunst von meinem
Freunde, dem Dr. Goethe? Wenn Sie es rezensieren lassen, so sor*
gen Sie, daß es keinem Ungewaschenen in die Hände fällt, der den
Genius verkennt.« Es sind jene Bogen, über die der alte Goethe
sich, im zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit, so unwillig
ausgelassen hat: »Hätte ich diese Ansichten, denen ich ihren Wert
nicht absprechen will, klar und deutlich, in vernehmlichem Stil ab«
zufassen beliebt, so hätte der Druckbogen von deutscher Baukunst
D. M. Ervini a Steinbach schon damals . . . mehr Wirkung getan und
die vaterländischen Freunde der Kunst früher aufmerksam gemacht;
so aber verhüllte ich, durch Hamanns und Herders Beispiel
verführt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in
eine Staubwolke von seltsamen\^^orten und Phrasen und verfinsterte
das Licht, das mir aufgegangen war, für mich und andere.« Fast
Nicolais Anwürfe gegen die Herderschen Aufsätze! Konnte ihn
diese kleine Schrift von Goethes Genius überzeugen? Die Biester*
sehe Rezension der Blätter »Von deutscher Art und Kunst« S die
Goethe als Verfasser jenes Aufsatzes ebenfalls namhaft macht, wird
uns noch an anderer Stelle unserer Untersuchung beschäftigen, als
typischer Ausdruck für das Mißverstehen Herderscher Formeln
durch den aufklärerischen Kreis. Für Nicolais eigene Stellungnahme
zu altdeutscher Art und Kunst, die schon in seinen Kontroversen
mit Gerstenberg und Herder beleuchtet wurde, hier nur noch zwei
Zeugnisse. Er könne nicht einsehen, sagt er in einer Rezension-,
wie das »Schönbartlaufen«, die »vermummten Aufzüge des Nürn*
bergischen Pöbels (!)« die Gegenwart interessieren könne; »es ist
nicht abzusehen,was die Bekanntmachung einer ausführlichen Nach*
rieht davon, dem deutschen Vaterlande für sonderlichen Nutzen
schaffen kann.« Gottscheds »Nöthiger Vorrath«, den er in der
' Anhang z. 7. 12. Band der AUg. Dtsch. Bihl. S. 1169ff.
' Allg. Dtsch. Bibl. III, 1, S. 264.
242
Bibliothek der schönen Wissenschaften (III, l,85fif.) mit ironischen
Anmerkungen bespricht, wird von ihm nur als untauglicher Versuch
aufgefaßt, Bouhours bekanntes Schmähwort zu widerlegen ; das alt*
deutsche Theater könne eher das Gegenteil bewirken; bei Gott*
scheds Charakterisierung Hans Rosenplüts als des »deutschen
Thespis« entfährt ihm der Stoßseufzer: »wie weit glücklicher wäre
Deutschland, wenn es einen deutschen Sophokles oder Euripides
nennen könnte«. Daß er auf dem Gebiete der bildenden Kunst, wo
er in Winckelmann seinen Lehrer gefunden, altdeutscher Art und
Kunstübung womöglich noch verständnisloser gegenüberstand, ist
leicht zu erschließen; und der Goethesche Aufsatz war am wenig*
sten geeignet, in ihm Verständnis zu erwecken. Ihn wegen dieses
mangelnden V^erständnisses schelten zu wollen, wäre unbillig; wir
haben, so wenig uns seine Art, die altdeutsche Kunst lediglich von
seinem Fortschrittsbewußtsein aus zu beurteilen, auch behagen
mag, diese Tatsache als Ausdruck einer Weltansicht zu nehmen, die
nicht minder fest und umfassend begründet war, als die mit jener
Bewegung einsetzende; doch wird uns diese Polarität noch an an*
derer Stelle deutlicher entgegentreten. — Ein wenig später äußerte
er sich zu Höpfner^ über die Frankfurter Gelehrten Anzeigen: er
lese sie mit vielem Vergnügen und zähle sie zu den besten deutschen
Zeitungen, doch wünsche er, daß die »Schreibart nicht so geziert
und dunkel wäre«, und daß man gegen »verdiente Männer« nicht
»aus allzufeiner Kritik unbillig wäre« — und die Rezension, die er
als Beleg für seine Behauptung anführt, ist unzweifelhaft von Goe*
the% was Nicolai freilich kaum bekannt geworden ist. Mit vollem
Bewußtsein der Goetheschen Autorschaft trat Nicolai aber dem
»Götz von Berlichingen« entgegen. Höpfner hatte ihn Nicolai
' Randbemerkung zu dessen Brief vom 25.\11I. 72 NN. u.Goethe=Jahrb.VIII, 125.
- Es ist die Rezension von Geßners Idyllen; vgl. Max Morris, »Goethes und
Herders Anteil an den Frankfurter Gel. Anz. . .« 2. Aufl., Stuttgart 1912, S. 136.
Wenn Morris hier übrigens bei seinem Nachweis, daß die andere in dieser Ni=
colaischen Anmerkung genannte Rezension (von Beckers »Responsis«) eine
GoethesHöpfnersche Mischrezension sei, sagt, Goethes Name sei Nicolai damals
noch durch kein Druckerzeugnis bekannt gewesen, so berichtigt sich dieser Irr*
tum nach dem Datum des oben erwähnten Briefes von Merck an Nicolai (vom
2. IV. 72). Petersen hatte übrigens schon kurz vorher in s. Brief vom 1. XII.
72 NN. Goethe als Verfasser des Aufsatzes genannt.
'^* 243
begeistert gerühmt: »Den Götz von Berlichingen haben Sie doch
schon gelesen. Ich wünschte, daß Sie den Verfasser persönlich kenn*
ten, ein Mensch, der bei seinem wahren Genius der beste, guther*
zigste, liebenswürdigste Sterbliche ist. Auf seine und Mercks Freund«
Schaft bin ich stolz \« Aber zu der Mitteilung Mercks^, »Goethe
arbeitet an vielerlei dramatischem Wesen«, setzt Nicolai am Rande
ein »Un« hinzu, und in dem Brief, in dem er Gebier über die erste
Berliner Götz^Aufführung berichtet^, äußert er sich unwillig über
den Triumph dieses »Unwesens«: »Götz von Berl. ist allerdings in
Berlin mit großem Zulaufe aufgeführt worden, vielleicht hatten die
Kleider und Harnische, ganz neu und im vollkommenen Costüme
gemacht, an diesem Beifalle eben so viel Anteil als etwas anders . . .
das Sonderbarste ist, daß selbst Prinzessinnen und Hofleute, die
durchaus französisch sind, den Götz besucht haben . . . Das Berli*
nische Publikum ist, wie fast alle Publika der Welt, ein vielköpfiges
Ungeheuer, davon sich einige Köpfe mit den feinsten Säften der
besten Pflanzen nähren, die meisten aber Distel und Stroh fressen.«
Die spätere Eschenburgsche Rezension* hat dem Götz sogar, wegen
des häufigen Szenenwechsels wie aus inneren Gründen, die Eignung
fürs Theater völlig abgesprochen, wofür sie freilich der allgemeinen
Begeisterung durch den kahlen Lobspruch Rechnung trug, die
deutsche Nation könne auf dieses Werk stolz sein; der für den auf*
klärerischen Kreis in der Folge fruchtbarste Gedanke dieser Rezen*
sion, der freilich nicht Eschenburgs geistiges Eigentum ist, mochte
in der Festellung liegen, daß Goethe mit den mechanischen auch
die »essentiellen« Regeln »fortgeworfen« habe. Er hätte Nicolai zur
Zurückweisung einer Äußerung Deinets^ dienen können, mit der
' 24. II. 73, jetzt gedr. Grenzboten 191 1, S. 588.
■' 28.VI.74 = Wagner III. 101.
■' 8. X. 74 (Werner S.60); die Aufführung (vgl. darüber Goethe^Jahrbuch II, 96tt.)
fand bereits am 21. IV. 74 statt. Dieser Bericht Nicolais stimmt ganz mit dem
überein, was Lessing über die Aufführung an s. Bruder Karl schreibt: »Daß Götz
großen Beifall in Berlin gefunden, ist, fürchte ich, weder zur Ehre des Verfassers
noch zur Ehre Berlins. Meil (der die Kostüme entworfen hatte) hat ohne Zweifel
den größten Teil daran. Denn eine Stadt, die kahlen Tönen nachläuft, kann auch
hübschen Kleidern nachlaufen.«
■' Allg. Dtsch. Bibliothek 27, 2. 361 tt.
■ An Nicolai 20. XII. 73 NN.
244
dieser den Gegensatz zwischen dem neologischen Eifer der All*
gemeinen Deutschen Bibliothek im theologischen, und ihrem fast
orthodoxen im ästhetischen Fach traf: »Die Lehrbücher der Reli*
gion werden ja über einen andern Leisten geschlagen, warum sollte
sich das Aristoteles nicht müssen gefallen lassen. Man lasse die Köpfe
ausbrausen. Zuletzt bleiben doch die alten die Gewährsmänner.
Jetzt heißt es, schicke dich in die Zeit.« Der Verleger der Allgemei:^
nen Deutschen Bibliothek hätte freilich seinen Charakter verleugnen
müssen, hätte er sich dieses laissez aller des Verlegers der Frank*
furter Gelehrten Anzeigen zu eigen gemacht. Er hatte bald Gelegen*
heit, seine Charakterstärke zu erweisen.
»Wollten Sie wohl zwei Possenspiele von Goethe verlegen?«
fragt ihn Höpfner an\ »Es sind keine persönliche Satiren darin.
Göthes Nähme ist statt alles Lobes. Ein Freund von G.^, der bey
uns studiert, besitzt das Mspt. als ein Geschenk des Verfassers. Seine
Umstände nöthigen ihn so gut er kann damit zu wuchern . . . das
ganze wird 5—6 Bogen ^ stark. Die Farce Götter Helden Wieland
wird Sie delektirt haben . . .« Und bald darauf* wiederholt Höpfner
sein Vermittlungsangebot: »Die Goethischen Manuskripte wachsen
wie ein Schneeball. Ich habe wieder ein kleines Drama und einen
Prolog, zusammen drei Bogen von ihm erhalten. Schreiben Sie mir
doch mit nächster Post ob Sie Verleger seyn wollen . . .« Nicolai hat
abgelehnt^: er möchte »nicht gern an solch persönlichen Satiren auf
irgend eine Art Theil nehmen.« Um diese Ablehnung aber recht zu
würdigen, muß man wissen, daß er diese Goethesche Farcen sehr
geschätzt und, nachdem er Goethes Possen*Manier in »Götter Hei*
den und Wieland« kennen gelernt hat, den »Prolog zu den neuesten
Offenbarungen Gottes . . .« sofort als Goethisch erkennt. Zu Hopf*
ners Frage ^: »Haben Sie den Prolog ... schon gelesen? Er ist —
meines Geschmacks, meisterhaft«, setzt Nicolai am Rande : »Meines
Erachtens auch!«, und wiederholt sein Urteil in seinem Antwort*
' Nicolais Empfangsnotiz vom 17.VI.74NN., vgl. R. Hering, Fr. J. Höpfners Be=
Ziehungen . . . Jahrbuch d. Fr. Dtsch. Höchst. 1911.
- Klinger.
' »10—12«. durchstrichen.
' 14. VII. 74. NN.
■ An Höpfner 26. VII. 74 = Wagner III, S. 101.
* An Nicolai NN.; Empfangsnotiz Nicolais vom 14. 111. 74.
245
brief ^: »Der Prolog zu Bahrdts Offenbar, hat meinen Beifall auch.
Niemand als Goethe kann der Verf. seyn. Ich hoffe D, Bahrdt wird
doch Spaß verstehen.« Wenn jene Anekdote, die Nicolai später er*
zählt hat^', — daß Lessing nach dem Erscheinen von »Götter Helden
und Wieland« Goethe habe »in seiner bekannten Manier zerglie*
dern« wollen, wie er es mit Klotz getan, von Nicolai aber zurück*
gehalten worden sei, — nicht völlig Nicolaische Erfindung ist, so
mochte Nicolai weniger durch die Erwägung, die er später geltend
macht — daß Wieland dem jungen Goethe gegenüber keiner Ver*
teidigung bedurft hätte — als vielmehr durch seine ursprüngliche,
starke Freude an dem reizvollen, lustigen Spiel des Witzes bestimmt
worden sein, sich der Goetheschen Posse bei Lessing anzunehmen.
W^ar auch der Goethesche Witz, die derbe Laune dieser Stücke an*
derer Prägung als der Hamannsche : er war so willkommen wie dieser
einst den Literaturbriefstellern und wie speziell Nicolai alles will*
kommen war, was an Werken des Witzes sich durch bunte, skurrile
Einfälle, originale Fülle und souveräne Heiterkeit auszeichnete, wie
ihm Lichtenbergs Schriften und Briefe eine unerschöpfliche Quelle
des Genusses waren, wie er Justus Mosers »Harlekin oder die Ver*
teidigung des Grotesk*Komischen« lebhaft applaudierte^. Und hier,
wo Resewitz Bahrdts »Neueste Offenbarungen« im ganzen preisge*
geben hatte*, fiel es ihm leicht, mitzulachen. Die spätere Nicolaische
Rezension'' dreier Goethescher Farcen erhebt allerdings den drohen*
' An Höpfner 29.111.74, Hs. i. Fr. Dtsch. Hochstift Frankfurt.
■ In s. »Anhang zu SchillersS iMusenalmanach« S. 158 ff.
^ Nicolais (mit Th. Abbt gemeinsam verfaßte) Rezension im 204. 5. Literatur;
brief, und Nicolai Reisebeschreibung II, 612.
* Allg. Dtsch. Bibliothek XXII, 104 u. Anhang z. 13.^24. Bd. S. 3 (daß die Rezent
sion von ihm stammt, bezeugt Resewitz' in s. ungedr. Brief an Nicolai vom
29.XIi.73 NN.) Es ist aber bezeichnend, daß Resewitz nur das Allzubedenken*
lose und Eilfertige, wissenschaftlich nicht Haltbare der Bahrdtschen Übersetzung
heftig tadelte, dagegen das, was Herder und Goethe eigentlich ablehnten, die
Entkleidung vom jüdischen und hellenistischen Gewand, im Prinzip bejahte. —
Übrigens blieben spätere Versuche Bahrdts.mit Nicolai Verbindung anzuknüpfen
(Briefe Bahrdts an Nicolai vom 1. VII. 79 und 1.VI.78 NN.; der letztere trägt
Nicolais Notiz »nicht beantwortet«), erfolglos. Zu der Resewitzschen Rezension
vgl. Höpfner an Nie. 14. VII. 74 NN.: »Bahrdt glaubt, Sie hätten es veranstaltet,
daß seine Neuste Off. nicht mehr gelobt worden. Vermuthlich glaubt er, Sie
seien über seine theolog. Bibl. jaloux.«
'' »Götter, Helden u. Wieland«, den »Prolog« und das »Neueröftnete moralisch^
246
den Finger gegen Goethes Ton; doch läßt sich leicht erkennen, daß
sich die Mahnung dagegen richtet, daß Goethe daraus eine Manier
mache, den Possenton unterschiedslos anstimme. »Wo kein Land»
friede ist, unds Faustrecht gilt« — sagt Nicolai dort dem Dichter
des Götz . . . »da kann zwar ein starker Kerl viel treuherziger zu«
schlagen, als wenn auf den ersten Schlag gleich die Wache geholt
wird; aber nach kurzer Zeit wird eben so treuherzig wieder ge*
schlagen, und dann schlagen immer fünf oder sechs auf den einen,
der ausgeschlagen hat, welcher denn zuweilen wohl eine gute Po*
lizei herwünschen möchte«, Nicolai war aber weit entfernt, Polizei
zu spielen ; er lobt hier vielmehr mit vergnüglichem Schmunzeln
den frischen, derben Witz; »die Schrauberei ist fein und ohne Bitter«
keit« heißt's über den Prolog; nur »Götter Helden und Wieland«,
das er für das schwächste Stück hält, sei Goethens, auch abgesehen
von dem »plumpen« Angriff auf Wieland; in der Erfindung nicht
ganz würdig, und nur das, was zur Euripideischen Alkestis gesagt
werde, verrate den »guten Kopf«. »Überdies sollte man denken, der
Mann, der im Stande wäre, auch bloß nur die Scene von Martin (im
Götz) zu machen, schämte sich, so etwas Ungereimtes über Tugend
und Aloral zu sagen, wie er hier den Hercules sagen lasset.« Im ganzen
ist mehr freudige, vergnügte Zustimmung als Widerspruch in dieser
Rezension, die Ablehnung beschränkt sich auf einiges Formale, die
Anerkennung gilt dem Grundzug der Goetheschen Possen.
Wie aber die Literaturbriefsteller sich gegen den Hamannschen
Witz schwerhörig zu stellen begannen, sobald er ihnen eine unter*
schiedslos angewandte Manier zu werden schien, so änderte sich
a uch Nicolais Haltung gegen die literarischen Satiren, sobald sie eine
Sache der Nachahmer wurden. Doch zu gleicher Zeit wurde Nicolai
Partei in diesem Possen »Wettstreit, und ein Teil der Satiren, und
zwar die beißendsten und zügellosesten wandten sich gegen ihn, den
Verfasser der kleinen, seither so berüchtigten Schrift: »Freuden des
jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran
und zuletzt ein Gespräch«, die in der Ostermesse 1775 erschien.
Wenn nun irgendwo, so bedarf das Bild Nicolais hier und in
dem sich anschließenden Streit einer zutreffenden Färbung; und
polit. Puppenspiel« zeigt Nicolai — er hat seine Verfasserschaft im Brief an Merck
S. X. 75 bekannt - Allg. Dtsch. Bibliothek 26, 202 ff. (1775) an.
247
wiederum nicht bloß der historischen Persönlichkeit willen. Gerade
hier wäre unsere Aufgabe so undankbar wie ihre Lösung zwecklos,
handelte es sich nur darum, diesem Leben nachträglich mehr Fülle
und Wärme zuführen zu wollen, als es selbst auswirkte. Auch hier
gilt unsere Frage umfassenderen Werten, und das Ergebnis unserer
Untersuchung möchte allgemeinere Einsicht vorbereiten. Dazu be*
darf es freilich zunächst genauer und richtiger historischer Perspek=
tive und einer unbefangenen Würdigung des Schriftchens, die nicht
jenem Kunstwerk diese formlose Parodie gegenüberstellt, sondern
den Geist, aus dem »Werthers Leiden« entsprangen und mehr noch
den sie auswirkten, und den Geist, der sich dieser Auswirkung
feindlich entgegenstellte.
Denn dies muß zunächst festgestellt werden: Das Kunstwerk
»Werthers Leiden« hat bei Nicolai ein dankbares und gerührtes
Echo geweckt, und seine Kritik des Goetheschen Werther vom ästhe*
tischen Standpunkt kann sich mit den besten zeitgenössischen Be*
urteilungen messen. Nicolai hat Werthers Leiden unmittelbar nach
dem Erscheinen gelesen, von Merck und Petersen^ in dringlicher
Form darauf hingewiesen; eben diese Hinweise mochten, durch
ihre ein wenig sensationslüsterne Deutung auf die Leidensgeschichte
des jungen Jerusalem als Urbild", einige Voreingenommenheit bei
Nicolai erregt haben. Doch J:rägt sein Handexemplar eine Anzahl
Randbemerkungen, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Lek*
türe einige Stellen als besonders schön, wahr, tiefempfunden fixier-
ten^. Den tiefen Eindruck, den Werthers Leiden auf ihn gemacht
hat, bezeugt er auch in zahlreichen Briefen, mit denen er die Über*
Sendung seiner »Freuden« an gute Freunde begleitet. So schreibt er
an Isehn*, an den Baron v. Gebler% an Merck®, an Lessing'', daß er
Goethes Genie schätze, »seinWerk tief empfunden« habe (an Merck) ,
1 Brief Mercks v. 28. VIII. 74 und Petersens v. 6. XI. 74 = Grenzboten 1911 S. 558.
- Eschenburgs Briefe vom 17.XI.72 und 1. XII. 72 (NN.) hatten sie ihm detail
liert und mit warmem Mitgefühl geschildert.
' H. Düntzer, »Nicolais Handexemplar von Werthers Leiden« Schnorrs Archiv
X. 385 ff.
* 17. 1. 75 NN. gedr. bei Werner, Der Berliner Werther S. 3.
5 7.1.75 = Werner, A. D. Josephin. Wien, S. 63.
6 6. V. 75 = Wagner III, S. 66.
■ 17. 1. 73 = Lachmann^Muncker 21, 52.
248
daß er »den Geist und das Feuer und die Wahrheit der Charaktere«
der »Leiden« bewundere (an Iselin), und empfiehh Johannes Müller,
dessen er sich wie ein väterlicher Freund annehmen zu müssen glaubt,
den Goetheschen Roman unbedingt zu lesen; wenn er ihn noch
nicht kenne, solle er ihn sich sogleich »auf der Post senden lassen«:
»seit langer Zeit werden Sie kein so herrliches Werk des Geistes ge*
lesen haben« ^ So erkennt er selbst, als inzwischen eine moralisch*
pädagogische Kritik die erste gefühlsmäßige abgelöst hat, in dem
»Gespräch« vor den »Freuden« mit warmen Worten Goethes Meister*
band im Werther: »Wer kann diesem feurigen, edlen Charakter Be*
wunderung und Liebe, und seinem Schicksal, zumal wenns so meister*
haft erzählt, so lebhaft dargestellt wird, seine Thränen versagen?«
Und so rühmt er auch die Komposition des Romans : »Der Autor
hat mit seltener Kenntnis alle Züge dieses schwärmerischen Cha*
rakters so zusammengesetzt, mit bewunderungswürdiger Feinheit
alle Begebenheiten, auch die kleinsten, so eingeleitet, daß die schreck*
liehe Katastrophe natürlich erfolgt. . .-« Auch die lyrisch*elegische
Stimmung, in die der ganze Roman getaucht ist, hebt er dort nach*
empfindend hervor. »Meinst nicht,« fragt Martin, der Nicolais Mei*
nungen ausspricht, »daß sich mir das Blut im innersten Herzen be*
wegt hat, als ich las, wie Werther neben Alberten ging, .pflückte
Blumen am Wege, fügte sie sehr sorgfältig in einen Strauß und —
warf sie in den vorüberfließenden Strom, und sah ihnen nach, wie
sie leise herunterwallten'«. Nur an zwei Punkten erhebt seine ästhe*
tische Kritik Einwände: Lottens Charakter scheint ihm nicht natur*
wahr, oder, was für ihn damit gleichbedeutend ist, brüchig zu sein.
In den ersten Worten Alberts in den »Freuden Werthers des Mannes«
kommt dieser Einwand zum Ausdruck. Lotte, als »gutes Landmäd*
chen«, »lustig und fromm«, »die frohen Muts tanzen, aber auch den
Kindern Brot schneiden konnte«, die »häusliches Leben herzlich
liebte, ob sie gleich wußte, daß's kein Paradies, aber doch im Ganzen
eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist«, durfte doch eigentlich
■ 16. X. 75 a.a.O. S. 96.
- Zu der Stelle in Werthers letztem Brief: »Ach ich dachte nicht, daß mich der
Weg hierher führen sollte«, setzte Nicolai in seinem Exemplar des Werther ein
»falsch!« am Rande. Freilich ist dies ein arges Mißverstehen dieser seelischen
Peripetie, — aber es beweist, wie sehr ihm der Selbstmord Werthers rein psycho^
logisch als zwingender, natürlicher Schluß erschien
249
nicht auf den empfindsamen, »seine Weise viel Töne höher hinauf*
stimmenden«, lauter »innige Empfindung« und »starke Anspan*
nung« fordernden Werther so bereitwillig eingehen, ja, er durfte ihr
überhaupt kaum der geeignete Liebhaber scheinen; wenn Albert in
den »Freuden« auf Lotte verzichtet, so dient die Erkenntnis dieser
Brüchigkeit, die ihn an Lottens Wert irre macht, zur Motivierung.
— Und ebenso weckt der Charakter Alberts in den Leiden Nicolais
Widerspruch, um so mehr, als die durchschnittlich^populäre und
zum Teil auch die literarische Meinung ihn einseitig beurteilt. Das
durchschnittliche Bewußtsein, daß sich zwischen den Werther*
Moritaten^ und der bekannten Reitzensteinschen Elegie"^ fixieren
läßt, faßte Albert als den Liebhaber auf, dem sein Mädchen davon*
laufen möchte; ein Teil der literarischen Kritik'^ ergreift für Werther
Parteigegen Albert, in besonders einseitiger Weise die Rezension
in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen*, über die Nicolai sich zu
Lavater äußert' und deren Ausruf: »Möcht nit Albert sein, um aller
Welt Güter nicht!« Nicolai dann in seinen »Freuden« parodiert
und ernsthaft bekämpft hat: Albert werde zu Unrecht so lieblos
aufgefaßt, wie er im Goetheschen Werther ohne Notwendigkeit so
arg im Schatten stehe. Wir erinnern uns des gereizten Briefwechsels
Kestner*Goethe® über diesen Punkt; wieviel Nicolai von diesem
Kestnerschen Protest bekannt geworden ist"^, bleibe dahingestellt.
Jedenfalls war es kaum zehn Jahre später, als Goethe bei der Um*
' Appell, »Vi'erther und seine Zeit«, Oldenburg 1896, S. 43ff.
- Zuerst Teutscher Mercur 1775, Juni, 193; vgl. auch das dort erschienene Ent;
gegnungsgedicht, August 1775, S. 57 und Aug. Com. Stockmann »Leiden d. jg.
Wertherin«, Eisenach 1775 u.a.m.
■ Jetzt fast vollständig gesammelt abgedruckt bei ]. W. Braun, »Goethe im Urteil
seiner Zeitgenossen«, Berlin 1883, Band I.
* Frankf. Gel. Anz. 1774, 1. Nov. Daß Nicolai diese Rezension in den »Freuden«
parodiert hat (vgl. DNL 72 S. 367. Z. 17, »Schmeißfliegen«; ferner S. 379, 13 und
S. 382, 37 u. a. m.), haben schon die Neuen Hallischen Gel. Anz. 6. 11.75 bemerkt.
■ Nicolai an Lavater 17.1.75. NN.
' Brief Kestners (nur im Konzept erhalten) v. Ende Sept. oder Anfang Oktober
74 = Briefwechsel Goethe^Kcstner S.220f.
■^ Vgl. Kestner an v. Hennings vom 7. XI. 74 -- Briefw. Goethe*Kestner S. 224rt.,
wo Kestner protestiert und aufklärt mit derWeisung »bei Mendelssohn und
sonst zu äußern, daß dem Buch die Jerusalemische Geschichte hauptsächlich
zu Grunde liege«; v. Hennings wird dieser Weisung sicher auch in bezug auf den
Kestnerschen Protest gefolgt sein.
250
arbeitung von »Werthers Leiden« den Roman »noch einige Stufen
höher zu schrauben« beabsichtigte, unter anderem seine »Intention,
Alberten so zu stellen, daß ihn wohl der leidenschaftliche Jüngling,
aber doch der Leser nicht verkennt«^ ; ja schon sehr bald nach dem
Erscheinen des Werther hat Goethe — wenn das Zeugnis aus Dich*
tung und Wahrheit" hierfür Geltung haben kann — im Carlos des
Clavigo, der ewigen Bösewichter müde, »den reinen Weltverstand
mit wahrer Freundschaft gegen Leidenschaft, Neigung und äußere
Bedrängnis wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tra?
gödie zu motivieren«, und so im Praktisch*Dichterischen jenen
Mangel an Belichtung im Roman, wie er sich in der Stellung Alberts
zeigt, überwunden. Nicolais Tadel ist eine Umschreibung dieses
Mangels, nur hat er seine Empfindung stärker psychologisch als
ästhetisch begründet. — Halten wir diese Kritik Nicolais neben
andere zeitgenössische Werther*Kritiken, so müssen wir erkennen,
daß sie eine der positivsten, überzeugendsten ist'^: an Wärme der
Nachempfindung steht sie denjenigen von Heinse (in der Iris), von
Schubart und Claudius kaum nach, wenn ihr auch der — uns frei*
lieh wenig überzeugende — emphatische Ton dieser Kritiken fehlt,
die doch kaum die Schönheiten, den Reichtum an dichterischem
und seelischem Gehalt des Werther aufzuzeigen vermögen; das
Niveau der durchschnittlichenjournalkritiken, ja, das derWieland*
sehen Rezension übertrifft sie bei weitem und nur die bedeutende
Garvesche Rezension* seheint uns eine beziehungsreichere, tiefer
eindringende Reflexion über den Werther darzustellen^.
Eben diese Garvesche Rezension kann uns mit ihren weitreichend
den Formulierungen dazu dienen, die Nieolaisehe Stellungnahme
' Goethe an Kestner 2.V. 85 = Weim. Ausg. Briefe 6, 157.
^ D.U.W. XV. Weim. Ausg. 28. 347 f.
' Das hat schon der Rezensent der »Freuden« im Hamburg. Unpart. Korresp.
vom 24. 1. 75 erkannt.
' In Engels »Der Philosoph i. d.Welt« Leipzig 1775, 1. Teil, 2. Stück. S. 2HT. '
'' Es sei noch darauf hingewiesen, daß Nicolai sein Urteil über den künstlerischen
>X'eit der »Leiden« auch später aufrecht erhielt, als er allgemein als Verächter des
Werther und als Goethefeind verschrien war: so zeigt er Allg. Dtsch. Bibliothek,
Anh. z. 25. 36. Bd. S. 900, eine Übersetzung des Goetheschen Romans ins Fran=
zösische an als »eine sehr treffliche Übersetzung des vornehmsten und fast
möchte man sagen des einzigen wahren deutschen Romans« an. Vgl.
auch »Vertraute Briefe« S. 115, S. 195 u. a.m.
251
zum Wertherproblem, nicht mehr zu Werthers Leiden als Kunst«
werk, tiefer zu begründen. Daß Nicolai diese Trennung vollziehen
mußte, ist uns nach unserer einleitenden Orientierung über seine
Kunstanschauung und seine kritische Methode klar geworden.
Mendelssohn hat diesem Dualismus einmal den zugespitzten Aus*
druck verliehen: er wolle im Leben lieber der fromme Aeneas oder
der strenge Cato des Addison sein als der jähzornige Achill oder
der eifersüchtige Othello; aber erdichtet haben möchte er lieber die
Ilias und den Othello^; und im neunten der »Briefe über die Emp*
findungen«- statuiert er der Schaubühne ihre eigene Sittlichkeit: im
Leben sei nichts gut, das nicht auf unsere Vollkommenheit gegründet
sei, auf der Schaubühne hingegen alles, was in der heftigen Leiden*
Schaft seinen Grund hat; daher sei auch das Laster, sei auch der
Selbstmord »theatralisch gut«. Das praktisch* ethische Problem
unterliegt einer anderen Beurteilung als das Kunstwerk. Nur wenn
man sich diesen Dualismus, diese ausdrückliche Trennung des
Kunstwerks von dem — von der Zeitstimmung ja allgemein absolut
genommenen — Wertherproblem vergegenwärtigt, versteht man
auch Lessings vielberufene Stellungnahme zum Werther^, die wir
keineswegs unter seine »Paradoxe« rechnen*; er will ausdrücklich
verhütet wissen, daß ein dem Werther wahlverwandter Jüngling
die poetische für die moralische Schönheit nimmt. Eben diese Tren*
nung und vorzugsweise dieser Dualismus hat, wie wir sehen werden,
Goethes und seiner Freunde Zorn gegen Nicolai entfacht. Wenn
aber Lessing an Eschenburg die Frage richtet: »Glauben Sie wohl,
daß je ein römischer oder griechischer Jüngling sich so und darum
das Leben genommenn?«, und urteilt, daß man »zu Sokrates Zeiten
eine solche ff eocoToc: y.aroyji (Überwältigung vom Liebesgott), welche
Ti Tolfjuv Jiagd t»)v q>voiv (etwas wider die Natur zu wagen) antreibt,
' Schriften IV, 1,579 f.
- Auf die Nicolai sich in s. »Abhandig. v. Trauerspielen wiederholt beriet.
^ Vgl. insbesondere Lessing an Eschenburg 26.X.74 = Lachmann=MunckerXVlII,
115 und das Fragment aus s. Nachlaß»Werther der Bessere«: Lachmann=Muncker
111,472; Lessings Voreingenommenheit gegen den Goetheschen Werther aus seiner
Freundschaft für den jungen Jerusalem darf freilich nicht unterschätzt werden;
vgl. Danzel=Guhrauer, »Lessing«, 2. Aufl., Berlin 1881, II, S. 561, der sich auf
Weilte an Garve 4. III. 75 stützt.
' Wie Gervinus, Gesch. d. Dtsch. Dichtung, 4. Aufl. IV, 300, will.
252
nur kaum einem Mädelchen verziehen haben würde«', — so gilt
dieser Gesichtspunkt nur für Lessing, nicht aber für diejenigen, die
sich als seine Genossen empfanden'-. Mit diesem Gedanken erhob
sich der Dichter des »Philotas« auch hier weit über die Sphäre des
bürgerlichen Realismus, der ihn als seinen Wortführer ansprach;
diese Formulierung der Gegensätze, Schillers und Friedrich Schlegels
spätere Deduktionen im Kern vorahnend, diese Gegenüberstellung
von antik^heroischer und bürgerlich^christlicher, von klassischer
und sentimentalischer Auffassung' ist von seinen vorgeblichen
Genossen nicht aufgenommen worden. Aber wenn wir der gedankt
liehen Einstellung Mendelssohns und Lichtenbergs, Pestalozzis
und Eschenburgs, Weißes, Nicolais und Garves, um nur diese zu
nennen, eine äußerste Zuspitzung geben wollten, würde sie in
diese Richtung weisen.
Der vornehmste Gesichtspunkt der erwähnten Garveschen Re*
zension, der in anderer Form auch in Nicolais Kritik des Werther*
Problems wiederkehrt, gilt jedenfalls ohne Zweifel dem Sentimen*
talischen im Wertherproblem. Garve faßt es als Werthers »Schuld«,
daß er in der Natur sein Selbst auslöscht, der Gesellschaft es ent*
gegensetzt. Ablehnender Stolz gegen die Menschen paart sich in
Werther mit liebender Hingabe an Pflanzen, Insekten, an die schwei*
gende Natur; von der menschlichen W^elt sind es vorzugsweise die
Kinder, die ihn fesseln*; die Konzentration seiner Empfindsamkeit
■ An Eschenburg 26. X. 74.
■ Nur Lichtenberg (»Von der Macht der Liebe«, Verm. Schriften ed. Lichtenberg
und Kries L 85), dessen Auffassung des Wertherproblems sich vielfach mit der«
jenigen Nicolais berührt, wies darauf hin, daß die Griechen die Liebe »nicht für
unwiderstehlich« gehalten hätten; ihnen seien die Mädchen nicht Göttinnen ge=
wesen, der Umgang mit ihnen kein Paradies usw. »Sie brauchten (die Frauen),
die organisierten Fleischmassen zu zeugen, aus denen sie selbst nachher fielden,
Weise, Dichter formten.« Aber mit spezifisch aufklärerischer Wendung: die Grie=
chen von heute — das sei »die Gemeinde der aktiven, vernünftigen, starken
Seelen, die man über die ganze Erde ausgebreitet findet«. Die prinzipielle Schärfe
und Tiefe des Lessingschen Einwurfs erreicht Lichtenberg nicht, ebensowenig
wie etwa Bodmer (15. VI. 75 an Schinz: Goethe=Jahrbuch 5, 192), der gleichfalls
dem Werther gegenüber das antike Lebensideal geltend zu machen suchte.
Schon Gervinus a. a. O. hat der Lessingschen Briefstelle diese Deutung gegeben.
' Ahnliches beobachtet die Rezension in Weißes »Neuer Bibliotek d. schönen
Künste u. freyen Wiss.«, Leipzig 1775, XVIH, 1,46: Werther freue sich nicht mit
253
auf jeden kleinen Gegenstand hält er für ein Verdienst, und alles,
was seine Aufmerksamkeit auf wichtige Objekte, auf die Probleme
des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens insbesondere ziehen
könnte, sieht er als Zerstreuung, als Behinderung seines Strebens
nach Vollkommenheit an. Es ist bestes aufklärerisches Gedanken*
gut, was Garve hier vorträgt; durchaus und ausschließlich gesell*
schaftliche Auffassung des Menschen; die Natur als fremdes Um*
gebendes, das Kind — ein Glaubenssatz der aufklärerischen Päda*
gogik — ein Noch*Nicht*Mensch ; das Streben nach Vollkommenheit,
nach Ichheit überhaupt, nicht als subjektives Bedürfnis aufgefaßt,
sondern objektiv, als ethisches oder soziales Pflichtgebot. Das alles
findet sich in Nicolais »Freuden« wieder. Man muß beobachten, wie
die Naturstimmung und sbezogenheit der Leiden in den Freuden
ins Idyllische ä la Geßnei; umgebogen wird, daß am Schluß der
Freuden das Idyll steht: Werther mit Lotte auf einem Bauerngut,
trotz der Benutzung von Stellen aus den Leiden mit kräftig*heiteren
Farben gemalt. Nicolai hat seiner Naturauffassung und derjenigen
der Leiden dort auch eine paradoxe Zuspitzung gegeben. Als. der
wilde Engländer durch die Wasserkünste seines phantastischen
NaturgartensWerther zumWegzug nötigt, sagt er : »Natur im Garten
geht weit über die verdammte Kunst« ; und Werther denkt bei sich :
»'s ist doch auch Natur, wenn Wurzeln in der Erde stehen und
Apfel an den Bäumen hängen.« Die Naturauffassung der Jungen,
die auf dem Gefühl ruht, wird von Nicolai hier als bloß subjektiv
vistisch dargestellt; sie vergewaltigen die Natur, indem sie sie ab*
solut nehmen. Nicolais Naturauffassung wird nicht vom GefühU
sondern von der Beobachtung her bestimmt und getragen und sie
nimmt Natur relativ, auf den Menschen bezogen. — Auch das übrige
aufklärerische Gedankengut, das wir in der Garveschen Rezension
fanden, münzt Nicolai in den Freuden, zumal in den beiden Ge*
sprächen zwischen Hans und Martin, aus. Er sieht Werthers Kata*
Strophe im Roman als durchaus zwingend dargestellt; aber er be*
müht sich um ihre tieferen Gründe. Werther müsse zum Selbstmord
getrieben werden, wenn er in den Menschen nur Fremde, ja Feinde
etwas, sondern an etwas, daher an Dingen, an der Natur, nicht mit Menschen.
Vgl. Nicolais Bemerkung in seinem Handexemplar: »Wie ist der Mann gegen
Kinder so warm und gegen seine xMutter so kalt« (zu Werthers Brief v. 24. März).
254
sehe, wenn er »immer einzeln für sich sein« und »immer außerm
Geleise ziehen wolle«. »Wenn ihn Menschen haben mochten«, fragt
Martin*Nicolai, »sich an ihn hängten, warum schlendert er nicht
ihren Weg mit ihnen eine Strecke weiter, bloß weils Menschen, eine
recht gute Art Volks, waren. Er würde viel besser mit sich gestan*
den haben« ; nie hätte Werther, anstatt »mit belebender Kraft Welten
um sich zu schaffen« \ vergessen dürfen, daß »er selbst ein Geschöpf
sei« ; Werther hatte, »seit er an der Mutter Brust lag«, die Wohltaten
der Gesellschaft genossen, er war ihr dagegen Pflichten schuldig.
Hier sieht man die ganze Schärfe des Gegensatzes zum Sturm und
Drang. Auch die Jungen durchdrang ja lebhaft das Gefühl, Ge=
schöpf zu sein, schon als natürliches Korrelat zu dem titanenhaften
Schöpfergefühl, und wir haben, in dichterischen wie in mensch*
liehen Äußerungen, die lebhaftesten, tiefsten Bekundungen dieses
Gefühls bis zum emphatischen Ausbruch über die Nichtigkeit des
Geschöpfs, der eigenen Existenz; aber sie bezogen dieses Gefühl
aus dem religiös^kosmischen Erleben, niemals vom Erlebnis der Ge*
Seilschaft. W^elch tiefer Unterschied zu dieser Nicolaischen Position,
— und nicht nur ein dynamischer, tonaler Unterschied — wenn der*
jenige von ihnen, bei dem das soziale und moralische Erlebnis sich
am stärksten offenbarte, wenn Lenz etwa schrieb": »Der Mensch ist
mit freien Händen und Füßen dennoch nur ein tändelndes Kind,
wenn er von dem großen Weltmeister, der die Weltuhr in seiner
Hand hat, nicht auf ein Plätzchen eingestellt wird, wo er ein paar
Räder neben sich in Bewegung setzen kann!« Und noch deutlicher
mag eine Stelle aus Lenz' Abhandlung »Lieber die Natur unseres
Geistes«^ jenen Unterschied vergegenwärtigen: »Der Gedanke, ein
Produkt der Natur zu sein, hat etwas Erschreckendes. Und doch
ist er wahr. Aber mein trauerndes, angsthaftes Gefühl dabei ist
ebenso wahr!« Eine zeitgenössische Kritik* hat denn auch nur diesen
Gegenpol des titanenhaften Schöpfergefühls in »Werthers Leiden«
wirkend erkannt und den Determinismus, ja Fatalismus in dem
Goetheschen Roman stark hervorgehoben. Man kann ein starkes
' Mit Bezug auf Werthers Leiden Djg G. IV, 295,Z. 19.
- Lenz an Salzmann Sept. 1772 = Briefwechsel ed. Freye=Stammler I, 39.
' Schriften ed. Lewy IV,329ft.
' Leingosche Auserles. Bibl. 1775, VIII, 500 ff.
255
Unbehagen gegen diesen Determinismus zwischen den Zeilen der
Garveschen Rezension lesen, und Nicolai hat dieser Empfindung
Ausdruck gegeben. Garve fragt zweifelnd, ob einmal eine Zeit
kommen werde, wo die »immer gleich eingeschränkte Sinnlichkeit
durch den immer gleich großen, unendlich weiten Verstand« (als
dem aufklärerischen Vehikulum der moralischen Freiheit) . . »wird
überwogen und dadurch die Ruhe des Geistes und Herzens fest*
gestellt werden«; er will die Frage, ob es »der Natur des Menschen
und der Dinge gemäß, d. h. erlaubt sei, sich zu ermorden«, unter*
schieden wissen von der Frage, wie der Mensch, der vor diesem.
Entschluß stehe, davon abgehalten werden kann — als der dem
Wertherproblem gemäßen und wichtigen Frage; und hier antwortet
er: »ohne Zweifel nur durch Verhütung der Leidenschaft selbst«.
So weit ging Nicolai nicht, aber die Garvesche Frage ist auch seine
Frage; auch für ihn und gerade für ihn ist, seiner ganzen Lebens*
auffassungnach, wie wir sie in der Einleitung zu zeichnen versuchten,
das Problem des leidenden Menschen das Problem seiner Gesun*
dungV Leiden — das ist für ihn eine Verwirrung der Seelenkräfte,
die Ausgleich verlangt, keine seelische Gesamtdisposition, wie sie
Goethes Werther zeichnete, ein Zustand, eine Erscheinung, nicht
Wesen und Sein; das Wertherproblem empfand er von hier aus un*
tragisch, lediglich als praktisch*ethisches und soziales Problem. Es
wird verständlich, wenn er an Lessing schreibt", die »hobbesischen
Grundsätze« der »Leiden« seien ihm »anstößig«: Thomas Hobbes,
der die Willensfreiheit prinzipiell geleugnet, der die mechanische
Kausalität der Naturerscheinungen auf die Anthropologie über*
= Daß dies für Nicolai das zentrale Problem war, geht, abgesehen von den zahl«
reichen bezüglichen Stellen in den »Freuden«, schon aus der Entstehung der
»Freuden« hervor; denn der ursprüngliche Plan, den uns Göckingk überliefert
(a.a.O. S. 52), enthält einzig die Lösung dieses Problems, nicht die ganze er;
weiterte Polemik der»Freuden«. Dal^ dieser erste Plan besser gewesen, wie Minor
und Appell annehmen, kann ich nicht finden, auch nicht, daß Nicolai ihn nur
aufgegeben hätte, weil er mehr Zeit erfordert hätte, "^'enn Appell (S. 168) übrigens
bei dieser Gelegenheit meint, »der Berliner Geschäftsmann« hätte eben geglaubt,
nicht länger als drei Tage auf seine Schrift verwenden zu sollen, so scheint mir
diese boshafte Bemerkung ganz unangebracht bei dem Manne, der, um nur ein
Beispiel zu nennen, jahrelanges diplomatisch=historisches Studium nicht scheute,
um seine Beschreibung Berlins wissenschaftlich fest zu fundieren.
- An Lessing 17.1.75 = Lachmann^Muncker 21,52.
256
tragen, die Theorie der Moral als Mechanik der Begehrungen ge*
lehrt, der den Egoismus als treibende Kraft des Menschen und die
Gesellschaft lediglich als nützliche Form des Egoismus behauptet
hatte — diesen Vertreter des Determinismus vorzugsweise hatte Ni*
colai in der Schule von Leibniz, Christian Wolff, Shaftesbury und
Moses Mendelssohn überwunden. Die Stürmer standen nun gewiß
nicht bei Hobbes^; aber Nicolai sah — und dies ist für Nicolais
Stellung äußerst lehrreich — seine Grundsätze in Werthers Leiden
verkörpert"; Ihre prinzipielle Widerlegung hat er freilich nicht ver?
sucht; ihn interessierte nur, wie die Folgerungen, die Werther daraus
zog, verhütet werden könnten. Und hier ergibt sich eine bemerkens*
werte Gegenüberstellung. Mathias Claudius meint zu diesem Punkt
ironisch: »Der arme Werther . . . wenn er doch eine Reise nach Paris
oder Peking getan hätte! So aber wollt' er nicht weg von Feuer
und Bratspieß und wendet sich so lange dran herum, bis er kaput
ist«\ Die Polemik Nicolais aber läuft — wenn er auch in der Re*
zension einer der zahlreichen Wertherschriften*, die ein Rezept zur
Vermeidung des Selbstmordes gegeben hatte, spöttelt: »Das .Distra*
hieren' möchte nicht hinlänglich sein« — positiv gefaßt, doch auf
solches »Distrahieren« hinaus. Werther gliche einem in hitzigem
Fieber liegenden Kranken; er möchte zu ihm sprechen: »Freund!
Du liegst in einer engen Stube voll fauler Dünste, öffne's Fenster,
draußen ist'-s lieben Gottes reine Luft nimm'n Chinatrank,
der Fäulnis hindert und Kraft gibt.« Ein solcher Gesundheits*
trank ist dem seelisch Leidenden die Freundschaft eines Stärkeren
wie Aiberts, der den, der sich dem Nichts gegenüber glaubt, in
die Welt zurückführen konnte". So konnte nur sprechen, wer das
' Vgl. etwa die (Goethesche) Rezension von A. v. Jochs »Belohnung u. Strafen . . .«
in Frankf. Gel. Anz. (DLD 7,8. 678 ff.).
- »Frankf. Zeitgen. u. Hobbes« bemerkte er in s. Exemplar d. Werther (a. a. O. S. 389).
^ .Asmus . . S. W. d. Wandsb. Boten I, 80.
' Allg. Dtsch. Bibliothek XXVI, 106; es ist die Schrift von Riebe »Ueber die
Leiden« usw. s. Appell S. 165 ff. Daß dieser Teil der Rezension, Allg. Dtsch. Bi;
bliothek S. 105—108, von Nicolai selbst stammt — nur die Rezension der »Leiden«
und »Freuden« ist von Merck, obwohl das Ganze mit Mercks Signum Au. ge^
zeichnet ist — bezeugt Nicolai 8. X. 75 an Merck: »Die Anzeigen, die ich Ihrer
Rezension der beiden Werthers angehängt habe — «.
• Nicolais , Erfindung' in den »Freuden«, Werther an Albert gesunden zu lassen,
ist wohl eine verschärfte Konsequenz aus dem Verbalten Wolmars zu St. Preux
17 SommerfelJ, Friedrich Nicolai 25/
Schicksalhafte, unter dem Werther steht, verkannte oder es doch,
wie Nicolai, in »Werthers Leiden« für ein bloßes Kunstprodukt
hielt: unmöglich konnte Nicolai sich auf die ,Distraktion' in der
Nouvelle Heloise berufen, auf die Weltumsegelung des St. Preux:
denn dort hat St. Preux schon entsagt, zum mindesten das
Selbstmordstadium überwunden. Schubart und Heinse aber, in
ihren schon erwähnten Anpreisungen von »Werthers Leiden«, und
Lenz in seinen (neuerdings wieder aufgefundenen) »Briefen über
die Moralität der Leiden des jungen Werther« umschreiben gerade
das Schicksalhafte, das über Werther schwebt, und fühlen sich davon
aufs stärkste angezogen. Und jene Stelle in La vaters- Physiognomie
sehen Fragmenten (4. Teil), wo er das W^sen des Genies stammelnd
umschreibt, zeigt diese schicksalhafte Auffassung, fern von den ethis
sehen Polen Gut und Böse, und gibt indirekt den Zusammenhang
dieses Werther mit der Geniebewegung: »Genie«, heißt es dort, ist
»Gegebenheit, wenn ich so sagen darf, was wohl geahnt, aber nicht
gewollt und begehrt werden kann, oder was man im Augenblick des
Wollens und Begehrens hat, ohne zu wissen wie, was gegeben wird,
nicht von Menschen, sondern von Gott oder vom Satan«.
Daß Nicolai die Verflechtungen, die Werther zur Katastrophe
führen, nicht für Schicksal hält, sondern sie zu einem bloßen Kunst*
griff des Dichters auflöst, steht im Zusammenhang mit einem wei*
teren, durchgehenden Grundsatz seiner Polemik. Was Mendels*
söhn dem Dichter der »Nouvelle Heloise« vorgeworfen hatte,
daß seine »Kenntnis des menschlichen Herzens mehr spekulativisch
als pragmatisch« sei \ wird von Nicolai gegen Goethe, mehr noch
(in Rousseaus Nouvelle Heloise); er hat jedenfalls seinem Albert alle ZügeWoU
mars zu geben versucht. Auch die zitierte Stelle vom Chinatrank ist Worten des
St. Preux (an Sir Bomston) nachgebildet ; St. Preux braucht sie freilich in ent=
gegengesetztem Sinn als Argument.
' Schon Fritz Jacobi hat bei Gelegenheit der Wertherkritiken aut diese Mendels?
sohnsche Rousseau«Kritik (im 166. 71. Literaturbrief) hingewiesen. Als die Jacobis
mitHeinse denV^'erther lesen, gedenktFritz Jacobi der zu erwartenden Kritiken;
ei" möchte »rasend werden« bei dem Gedanken, daß »ein Schurke von Rezen;
senten den Werther auf das theatrum anatomicum stellen könnte«. Heinse meint,
es gäbe »doch noch menschliches Gefühl und Scham in der Welt, niemand werde
sich das ankommen lassen«. Worauf Fritz Jacobi: »Erinnern Sie sich nur
der Berliner Literaturbriefe über Rousseaus julie, und das war doch
auch ein Buch. — Heinse stutzte« (nach Fritz Jacobis Brief an Goethe vom
258
gegen die Wertherschwärmer angewandt und in den Freuden
weitläufig umschrieben. Nicolais Meinung ist, daß das Leben der
Wirklichkeit nicht solche Gegensätze kenne, wie Werther und den
diplomatischen Grafen, wie Werther und Albert bei Goethe. Es
mußte seine Meinung bestärken, wenn Höpfner ihn glaubwürdig
versicherte \ daß »die Buffm« im Gegensatz zurWertherschen Lotte
»ein simples Mädchen« sei, das »natürlichen Verstand hatte«, und
aus der Goethe zu Unrecht eine »stolze, affektierende Enthousiastin«
gemacht habe. Und das Leiden Werthers 1 Können Menschen der
Wirklichkeit darum und so leiden wie Werther? Und werden sie
seine Folgerung ziehen können? »Ich glaube«, schreibt Lichten*
berg-, »der Geruch eines Pfannkuchens ist ein stärkerer Beweg*
grund in der Welt zu bleiben, als die mächtig gemeinten Schlüsse
des jungen Werthers sind, aus derselben zu gehen.« Solche Kalt*
schnäuzigkeit brachte Nicolai nicht auf, wenigstens noch nicht zu
dieser Zeit. Er hat, wie er später rückschauend feststellt' nur zeigen
wollen, daß, selbst wenn Werthers Wünsche erfüllt würden, das
Leben ihm noch Hartes und Widriges genug bescheren würde, und
daß eine Naturwiedieseineebenstets unglücklichsein werde. Erhält
die Überwindung einer Leidenschaft für leichter, als das Ertragen
»bürgerlicher, unvermeidlicherVerhältnisse« — worin ihm Garve bei*
pflichtet* — wiederum das Gesellschaftliche gegen das Individuell*
21.x. 74). Der Zusammenhang auch in Mercks »Pätus u. Arria« — Nicolai rezent
siert diese Farce Allg.'Dtsch. Bibliothek 26, 208 und zitiert die auf Nicolai und
Mendelssohn bezüglichen Verse — hervorgehoben. Zwei Schulknaben dispu^
tieren darin über das moralische Thema:
»Die zeigten durch den Mendelssohn Daß man im Unglück sich so liel^
Und die Empfindungsbriefe, Durch Sinnlichkeiten rühren.
Daß aller Selbstmord in der Welt Die höh'ren Seelcnkräfte nicht
Am Ende dahin liefe : Das Ruder ließe führen« usw.
' An Nicolai 27. IX. 75 (jetzt gedr. Grenzboten 1911,560) vermutlich auf Nicolais
Anfrage. Man beachte, daß auch Kestner in dem oben erwähnten Brief an
V. Hennings sagte, daß die Charaktere im Werther zwar »wahr« wären, »aber
nicht in dem Maße, daß der tragische Erfolg daraus fließen könne«. Dies sollte
V. Hennings »bei Mendelssohn und sonst« verbreiten.
- An Dieterich I.V. 75 = Lichtenbergs Briefe ed. Leitzmann und Schüddekopf
I, 227.
' Göckingk S. 55.
* Garve an Nicolai 5. II. 75. — Zu allen diesen Äußerungen Nicolais: Parallelen
in Lichtenbergs »Von der Macht der Liebe«, Verm. Schriften 1,82 ff.
17* 259"
Schicksalsmäßige, das soziale gegen das methaphysische Leiden
ausspielend. Wie die Kenntnis des objektiven Lebens streitet Ni*
colai, wiederum weniger dem Dichter von Werthers Leiden, als den
zahlreichen kritiklosen Wertherschwärmern, jenen, die Werthers
Tragödie unter dem Eindruck des Romans nachzuspielen sich ver*
maßen \ den Jünglingen, die damit kokettierten, die Kenntnis und
richtige Einschätzung ihrer Subjektivität ab; er erkennt in ihrer
Selbstüberschätzung eine Komponente ihres anarchischen, asozialen
Individualismus. »Plaudert da viel von Kraft und Stetigkeit«, ruft
er ihnen zu, »und seid arme lässige herumtrollende Flittchen. Habt
n weidlich Geschwätz, von Einschränkung und Modelung . . . und
doch gäbt ihr nicht 'n Polsterchen von eurem Sorgenstuhle, noch 'n
Schleifchen von eurem Haarbeutel weg, daß 's anders würde. Euch
Püppchen würd's auch frommen, wenn's Faustrecht gälte, müßt't
ja aus'm Lande laufen. Daß ihr Springinsfelde Werther würdet, da*
mit hat's nicht Not, dazu habt 'rn Zeug nicht!« Er glaubt ihnen ihre
Kraftgeste ebensowenig wie ihre Gefühlsbetontheit; er zweifelt,
daß sie sich in einer Liebe ganz vergessen könnten und möchte
ihren Individualismus von dieser Seite als Eitelkeit und Egoismus
erkennen. Er möchte ihn aber auch an seinen praktischen Folge*
rungen widerlegen; die Figur des wilden Engländers in den »Freu*
den« sollte dazu dienen. Der Engländer legt sich auf seinem Grund*
stück neben Werthers bescheidenem Nutzgärtchen »wunderbare
und schreckliche Gärten« an, und baut einen »orientalischen Gar*
ten«; »hätt' er bei Dzzidda gewohnt, würd' er ein Versailles angelegt
haben.« Als Werthers Gärten durch die Wasserkünste des Eng*
länders überschwemmt werden, erkennt er: »Der Kerl ist traun 'n
Genie, aber ich merk's wohl, ein Genie ist ein schlechter Nachbar.«
Gelte das Faustrecht, schreibt er an Höpfner', so gelte nicht nur
ausschlagen, sondern auch wiederschlagen. »Ich gestehe, ich bedaure
die Leute herzlich, die so viel von Kraft und Selbständigkeit plau*
dern und bei dem geringsten Widerspruch aus der Haut fahren
wollen. Bei ihnen müssen beständig ihre Prinzipien mit
' Einen solchen Fall, wo »eine sonst verständige, aber etwas hysterische Person«
sich nach der Lektüre von Werthers Leiden das Leben genommen habe, berichtet
Nicolai an Iselin (17. L75 gedr. b. Werner, Der Berliner Werther S. 3).
- An Höpfner 13. IV. 75. Hs. im Fr. Dtsch. Hochstift Frankfurt.
260
ihrem bürgerlichen Leben in CoUision kommen und sie
unmutig machen'.«
So verschob sich, als Folge der durchaus moralischen und sozi*
alen Auffassung des Wertherproblems im Goetheschen Roman,
auch die Richtung der Polemik gegen das absolut genommene
Wertherproblem. »Dein Held mag Werther sein,« sagt Martin*
Nicolai im »Gespräch« vor den »Freuden«, — »mein Held ist der
Autor«; schärfer konnte Nicolai nicht ausdrücken, daß seine Pole-
mik nicht eigentlich den Charakter des Goetheschen Romans treffen
wollte, sondern den absolut genommenen Werther als Glied der
bürgerlichen Gesellschaft; und hier war eben, wie Nicolai, den Er*
lebnisanteil Goethes am Werther wohl ahnend-, begriff, Goethe
von wesentlich anderer Faktur als Werther. Nicolai hat nicht etwa
erst, als er wegen seiner »Freuden« angegriffen wurde, sondern schon
in den Briefen, mit denen er die Übersendung seiner »Freuden« an
Freunde begleitete '', sich dagegen verwahrt, den Genius verkannt,
gegen sein Werk gefrevelt zu haben, und wir müssen ihm wohl
glauben, daß dies seine echte Überzeugung gewesen ist, die er denn
auch bis in sein Alter vertreten hat. An Merck schreibt er^, er habe
mit den »Freuden« nicht Goethe angegriffen, sondern »einen Haufen
Leser mancherlei Art, die aus Stellen im Werther, die Goethe im Cha*
rakter des schwärmerischen Werthers geschrieben hatte, Axiomen
und Lebensregeln machen wollten . . .« »Ich habe überdies seinen
Talenten, zwar nicht in dem kindischen Trompetenton, in welchem
ihn die Zeitungsschreiber ausposaunen, aber in dem Ton eines ver*
nünftigen Mannes, der sein Genie schätzt und sein Werk tief emp*
funden hat, Gerechtigkeit widerfahren lassen.« Und diesen Stand?
' Dies war denn auch das eigentliche Thema seiner späteren Romane »Sempro»
nius Gundibert« und »Geschichte eines dicken Mannes«, und auch in den »Ver=
trauten Briefen« spielt es, gegen die »romantischen Genies« gewandt, eine große
Rolle. Der Bezug auf den Werther tritt überall deutlich hervor (vgl. z. B. Vertr.
Briefe S. 115, 122, 195), natürlich auch im Anh. z. Schillers Musenalmanach a.m.O.
Dicker Mann 1,7,71.
' Etwas später klärte ihn Höpfner in s. Brief vom 27. IX. 75 (gedr. Grenzboten
1911, S. 560) hierüber ausdrücklich auf.
' An Gebier 7. oder 17.1.75 = R.M.Werner, A. d. Josephin. Wien S.63; an Les.
sing 17.1.75 = LachmannsMuncker 21,52; an Lavater 17.1.75 NN.; an Iselin 17.
1.75 = Werner, Der Berliner Werther S.3.
* 6. V. 75 = Wagn er I , S . 65 ff.
261
punkt hat er auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten vertreten \
Die gesamte Journalkritik ^ — mit Ausnahme des Pastors Goeze^ —
"Wieland, Justus Moser, Campe, Semler, Geßner, Höpfner, Boie*, um
nur diese zu nennen, haben diese Nicolaische Absicht anerkannt und
lobend unterstrichen; und Merck hat in seiner Rezension von Wer*
' Hier seien nur erwähnt: Nicolai an J.G.Zimmermann 15. IV. 75 =: Ed. Bode=
mann, Joh. G.Zimmermann S. 303 ff.; und Nicolais ausführliche Bemerkung aut
dem Brief Marcards aus Oldenburg vom 10. XI. 75, der ihm das Manuskript einer
Anti -Wertherschrift geschickt hatte; Nicolai findet sie nicht ernsthaft, nicht
treffend genug; und zudem zu persönlich gegen Goethe, dabei hält er den Stand*
punkt seiner »Freuden« entgegen.
- Hamburg. Unpart. Korresp. 1775, 24. 1. : Frankfurter Gel. Anz. 1775, 3. III ; Neue
Hall. Gel. Zeitungen 1775, 6. II.; Berlin. Nachrichten v. Staats; u. Gel. Sachen 1775,
2. II ; Gothaische Gel. Zeitungen 1775, l.II.; Greifswalder Neueste Krit. Nach;
richten 20. V. 75; Schirachs Magazin Halle 1775, 4. Bd., 1. Teil, S. 61ff.; Lem=
gosche Auserles. Bibl. 1775, VIII, 500. Sie alle heben hervor, die »Freuden« wären
kein Fasquill, sondern eine Anweisung für Unmündige, denWerther zu lesen;
Nicolai habe sich die civica Corona verdient; Nicolai habe die Schönheiten des
GoetheschenWerkes tiefempfunden und zur Darstellung gebracht ; der Goethesche
Roman sei nicht parodiert, sondern nur weiter gesponnen, wie man weiter denkt,
wenn man wachend träumt. Die beiden zuletzt genannten Stimmen sind mit der
Erfindung in den »Freuden« nicht ganz einverstanden — doch ist dies für unsere
Frage gleichgültig, um so mehr als sie sich dem allgemeinen Lob anschlössen.
•' Goeze (Hamburger Nachrichten 1775, 4. IV.) ist sich nicht ganz klar darüber, ob
Nicolai für oder gegen Werthers Leiden schreibt; wären die Freuden »Ironie«, so
gehöre ein Schlüssel dazu, den er nicht habe,wären sie »ernst«, so sei die Schreibart
läppisch. Im ganzen M'ittert er in den »Freuden« ein Gift ähnlich dem der »Leiden«.
' Wieland i. Teutschen Mercur, 1775, März: man müsse gegen Nicolai sehr ein=
genommen sein, wenn man seine wahre Absicht verkenne; die »Freuden« eine
Satire auf gewisse Leser, nicht auf das bewunderte Goethesche Werk; »ein Wort
geredet zu rechter Zeit«. —Justus Moser an Nicolai 20.11.75 und 10. XII. 75 =
Werke ed. Abeken X, 156 f.; Campe an Nicolai 4. IL 75 und 5. VI. 75 NN.; Semler
4. IL 75 NN.; Geßner 2. IL 75 NN.; Höpfner 24. III. 75; Boie 20. X. 75 NN. Zu
diesem Boieschen Brief an Nicolai vgl. aber Boie an Merck 10. IV. 75 — Wagner I,
5. 62 ff. : »Nicolai hatt es schon mehr verdient (wegen der »Freuden«) unsacht an=
-gefall zu werden.Warum mischt sich der Mann in alles was ihn nicht angeht« usw.
Wenn übrigens K. Weinhold (»Chr. H. Boie«, Halle 1868, S. 165) es merkwürdig
findet, »daß Boie die wunderlichen Wendungen der Freuden für komische Laune
gehalten zu haben scheint«, und zur Entschuldigung Boies anführt, er sei aus
Freundschaft für Kestners gegen den Wertherdichter verstimmt gewesen, so ist
diese »Entschuldigung« wohl ebenso wenig stichhaltig wie überhaupt not=
wendig: Witz und Laune lassen sich dem Nicolaischen Schriftchen nun gewii^
nicht absprechen.
262
thers Leiden und Werthers Freuden ^ wiederholen können, was N ico*
lai ihm als seine Absicht bei den »Freuden« mitgeteilt hatte. Wirft
man Nicolai vor, daß er — gleichviel was seine Absicht war — schon
durch die Tatsache und den Ton der »Freuden« gefrevelt hatte, so
durfte er sich auf die Erfahrungen berufen, die er mit seinem »Sebal*
dus Nothanker« machte, dem Jung StiUing ja auch eine moralische
Kritik in Gestalt eines Pamphlets entgegenstellte'-^; und der junge
Goethe hatte mit seiner Farce bei Gelegenheit der Wielandschen
»Alceste« recht eigentlich den Ton angegeben. Lenz schreibt an La*
vater ' über seine gegen Wieland gerichteten »W^olken«,das »Gegen*
gift« gegen Wieland habe ihm »längst auf dem Herzen gelegen, —
geradezu läßt das Publikum seiner Sinnesart, seinem Geschmack
nicht gern widersprechen, man muß einen Vorwand, eine Leiden*
Schaft brauchen, sonst nimmt es nimmer Anteil.« Den Ausdruck die*
ser Leidenschaft fanden die Jungen — Goethe hat im 13. und 14. Buch
V on Dichtung und Wahrheit die psychologischen wie die zeitbeding*
ten tieferen Gründe für dieses Formprinzip angegeben — in der dra*
matischen Farce. Nicolai entschied sich mit Mendelssohn*, daß gegen
schädliche Schwärmerei nicht vernunftmäßige Widerlegung, son*
dern Satire anzuwenden sei; und die Form seiner Satire ist, mit den
durch den Stoff gebotenen Modifikationen, wie die des Lichtenberg*
sehen »Parakletor« oder »Timorus«,von Swift und der französischen
Satire des 17. und 18. Jahrhunderts her genährt; die Karrikatur
dient der Erkenntnis, wie der Witz im weiteren Sinn das beliebteste
vehiculum der ^Aufklärung, und das Epigramm ihr charakteristisches
Merkmal sind. Nicolai hat, wie er an Iselin schreibt, den Jungen
das Wertherproblem »aus einem andern Augenpunkte« zeigen wol*
• AUg. Dtsch. Bibliothek XXVI, 1, S. 105 ff., jetzt abgedr.in Joh. H. Mercks Schrift
ten und Briefwechsel ed. K.Wolff, Bd. I, Leipzig 1909.
' Nicolai glaubte übrigens, daß Goethe Jung Stilling »zur Herausgabe des er=
bärmlichen Dinges ,die Schleuder' — aufgemuntert und ihm seinen Schutz ver=
sprechen habe, als Jung aus Furcht einige Schimpfworte habe entfernen wollen.
Risum teneatis«. (Nicolai an Merck 28. Xll. 75 = Wagner 1, S. 80). Vgl. oben
S.150, Anm. 2.
^ Sept. 1775 = Briefwechsel ed. Freye^Stammler I, 127.
* Vgl. L. Goldstein a.a.O. S. 10; vgl. hierzu, daß, wie Nicolai 17.1.75 Lessing mit^
teilt, die »Freuden« ohne Anraten Mendelssohns nicht erschienen wären. Weshalb
Fr. Braitmaier, »Gesch. d. poet. Theorie u. Kritik« 11, 140, Mendelssohns Einver-
ständnis bezweifelt, und worauf er seinen Zweifel gründet, ist mir nicht erfindlich
263
len^; so mußte seine Ausdrucksform die parodierende Satire
sein.
Es war nun freilich nicht die Form des Schriftchens, die den Ni*
colai ganz unerwartet kommenden Widerstand der Jungen erregt
hat. Ihr entrüsteter ^Widerspruch und ihr höhnisches Gelächter be*
zog sich auf den Standpunkt Nicolais, der Kunstwerk und Leben
trennte, und auf die lediglich moralische und soziale Auffassung
des Wertherproblems. Betrachten wir zunächst die Wirkung der
»Freuden« auf Goethe, so kann hieran kein Zweifel sein.
Die bekannten x\ußerungen Goethes gegen die »Freuden« bis zu
den »Xenien« hin — besonders den »alten Reim«'-, die Äußerung
zu Auguste Stollberg^, die Anekdote »Nicolai auf Werthers Grabe« ^
und den von Goethe bei der x\bfassung von »Dichtung und Wahr*
heit« verloren geglaubten satirischen Prosadialog zwischen Wer*
ther und Lotte"" — hat man öfter zusammengestellt, als dargestellt,
' 17.1.75.
- D. u.W. XIII, Weim. Ausg. 28, 231 ; vgl. jetzt über den »alten Reimc<: Zeitschrift
f. d. dtsch. Unterr. XXXIII, 9 (F. Seiler).
■• 7'10. III. 75, Morris Djg. G. V, 16.
* Morris Djg G.V, 32.
' Dieses zuerst von Zoeppritz, Aus Friedr. H. Jacobis Nachlaß 1, 272 veröftent;
lichte Stück— jetzt DjgG.N', 36 ff. — scheint später Nicolai zu Gesicht gekommen
zu sein. Boies Brief an Nicolai vom 10. IX. 1787 NN. enthielt zwei Einlagen: eine
davon, ein Lied vonVoß, ist dem Brief beigeheftet und liegt in Nicolais Nach=
laß; die andere muß Nicolai zurückgesandt haben. Nicolais Antwortbrief ist ver=
loren gegangen; er wird seine Randbemerkung darin verwertet haben: »Das
Ding ist gar fade, u. wie M a d a m e M e n d e 1 s s o h n «. Boie antwortet (14. 1. S8NN.) :
»Göthens Stück, daß Sie mir wieder zurückgeschickt haben, ist nichts als ein un =
verdauter Einfall im ersten Augenblick des Verdrusses über die mißverstandenen
Leiden und Freuden niedergeschrieben, und ich habe ihm einen Dienst getan,
daß ich es nicht drucken ließ, wie, ich weiß nicht mehr, ob er selbst oder einer
seiner Freunde es mir zu dem Ende zugeschickt. Ich ließ damals der Kuriosität
wegen eine Abschrift davon nehmen und schickte das Original zurück, daswahr=
scheinlich längst vernichtet ist . . . Was die Anekdote wegen Madame Mendels^
söhn sagen soll, weiß ich nicht. Vermutlich wie Sie meinen, eine der elenden
herumgetragenen Anekdoten, deren so manche umherlaufen, u. die oft mehr
Schaden tun als man denken.« (Dazu vgl. Boie an Lenz 11. IV. 76 = Briefe an
Lenz ed. Freye^Stammler 1,226: »Mein Verleger Weygand schickte mir vor einigen
Tagen Anekdoten zu Werthers Freuden von Goethens Hand geschrieben fürs
Museum zu, die ich wieder zurückgeschickt, weil ich sie seinet* und meinetwegen
nicht drucken lassen mochte. Auch weiß Goethe vielleicht nichts davon, daß ich
264
welchem tieferen Gefühl diese Äußerungen des Unmutes entspran*
gen ; sie selbst besagen darüber so gut wie nichts ; will man den tiefe*
ren Grund der Goetheschen Abwehr erkennen, so muß man, mit
vorsichtiger Abwägung der Standpunkte des jungen und des alten
Goethe, seine Äußerungen im 13. Buch von Dichtung und Wahrheit
heranziehen. Bemerkenswert ist hier zunächst — wenn man von der
milden Stimmung des alten Goethe gegen den ȟbrigens braven, ver*
dienst* und kenntnisreichen Mann« absieht — ,daf5 Goethe berichtet,
er habe sich um die Aufnahme der Leiden bei der Kritik wenig ge*
kümmert, aber seine Freunde hätten diese Dinge gesammelt und sich
mit eifrigem Spott darüber hergemacht. Wie w^enig die »Freuden«
Goethe im Grund erregten, bezeugt die Tatsache, daß er an dem*
selben Abend, wo ihm die »Freuden« zugekommen waren, jenes un*
vergleichlich heitere Liedchen in »Erwin und Elmire« niederschrieb ^ :
»Ein Schauspiel für Götter
Zwei Liebende zu sehn «
In Klingers »Leidendem Weib« bricht Franz, als Läufer ihm »etwas
Neues über den Selbstmord« bringt, furchtbar aus: »Könnt ich
ihnen doch all das Gehirn austreten, die für oder dawider schrei*
ben«. Aber als Goethe bei einer Tischgesellschaft in Elberfeld von
dem orthodoxen Rektor Hasenkamp feierlich verflucht wird wegen
dieser »ruchlosen Schrift«, antwortet er sehr ruhig: »Ich sehe es
ganz ein, daß Sie aus Ihrem Gesichtspunkte mich so beurteilen
müssen, und ich ehre Ihre Redlichkeit, mit der Sie mich bestrafen.
Beten Sie für mich!«- Er konnte ja bereits zwei Jahre später, im
»Triumph der Empfindsamkeit« die Puppe, nebst Häckerling und
Makulatur, mit der Neuen Heloise und — Werthers Leiden ausge*
sie gehabt. Sagen Sie's ihm und bitten Sie ihn, sie womöglich wegen hiesiger
Freunde zu unterdrücken. Wider N(icolai) jetzt auch noch was zu sagen, da
die Freuden längst vergessen sind [1776!], wäre ja zu spät.«) K. Weinhold,
Chr. H. Boie S. 188 und Appell S. 192 nehmen an, Boie habe die Anekdote »Ni=
colai auf Werthers Grabe« gehabt und Nicolai mitgeteilt. Nicolais Randbemer=
kung und Boies Antwort bez. »Madame Mendelssohn«, die auf die Einkleidung
des Prosadialogs zielen, machen unzweifelhaft, daß Nicolai auch jenen Prosa=
dialog gekannt oder doch einzelnes von ihm gehört hat.
' Wie Fritz Jacobi 22. III. 75 an Wieland berichtete. (Briefe ed. Roth I. 205).
■ Über die Verbürgtheit und die Datierung dieser Anekdote vgl. Biedermann,
Goethes Gespräche V, S. 10 und H. G.Gräf, Goethe über s. Dichtungen I, 2, S. 530,
Anm. 1.
265
stopft sein lassen! So gewinnt Mercks Zeugnis^ an Glaubwürdig*
keit, daß, wäre er anstatt Fritz Jacobis in jenen Tagen bei Goethe
gewesen, Goethe auch die »Freuden«' anders aufgenommen haben
würde: die Form der Goetheschen Abwehr wäre wahrscheinlich
eine andere geworden; ihr eigentlicher Grund lag indessen tiefer.
Im ersten biographischen Schema für Dichtung und Wahrheit heißt
es zu 1775: »Der Dichter verwandelt das Leben in ein
Bild; die Menge will das Bild wieder zu Stoff erniedrig
gen'^.« Dieser Satz ist dann in der Darstellung einmal gegen die
kritiklosen Wertherschwärmer gerichtet: »Wie ich mich nun aber
dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die W^irklichkeit in Poesie
verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, in*
dem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwan*
dein, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst er*
schielten ^.« Ebenso stark aber richtet sich die Darstellung gegen
diejenigen, die, wie Nicolai, das Wertherproblem absolut nehmen
und einer moralischen Kritik unterziehen. Goethe beklagt, daß ihm
niemand über das »Büchlein, wie es lag, etwas Verbindliches«
gesagt hätte^: er hätte, scheint ihm, veranlaßt werden sollen, das
Werk, an dem er lange »gesonnen, um so manchen Elementen eine
poetische Einheit zu geben, wieder zu zerrupfen und die Form zu zer*
stören«. Und ebenso trifft Goethe auch mit dem direkt gegen Nicolai
gerichteten Satz Nicolais Art, das moralische Problem aus dem
Kunstwerk selbständig loszulösen: »Ohne Gefühl, daß hier nichts
zu vermitteln sei, daß Werthers Jugendblüte schon von vorn*
herein als vom tödlichen Wurm gestochen erscheine, läßt
der Verfasser meine Behandlung »bis zum verbesserten Schluß . . .
gelten« und dann Werther in die Behandlung des »einsichtigen
psychischen Arztes sich begeben«. Von hier aus erhalten dann auch
die Invektiven des Prosadialogs ^ erhöhten Wert. »Ich kann leiden,«
' Merck an Nicolai 28. VI. 75.
' Weim.Ausg.26,357.
••' Weim. Ausg. 28.225. '
' Weim. Ausg. 28. 231.
' Werther klagt darin, daß »die Leute, die unsere Sachen zurechtlegen wollten
(wie Nicolai), ihr Handwerk nicht verstunden«. Albert ( = Nicolai) habe es gut
gemeint; »was kann man dafür, daß es die Leute gut meinen?« Lotte entgegnet:
»Es mag gut sein, nur sollten sie mit ihrer hochweisen Nase nicht so oben drein
266
schrieb Goethe an Salzmann', »wenn meine Freunde eine Arbeit
von mir zu Feuer verdammen, umgegossen oder verbrannt zu wer*
den; aber sie sollen mir keine Worte rücken, keine Buchstaben ver*
setzen;« er hasse »alle Spezialkritik von Stellen und Worten«; ein
Kopf, aus dem das Werk kam, sei ein Ganzes und »konsistent in
sich«. — Die Goetheschen Worte aus Dichtung und Wahrheit zielen
aber aueh auf den zweiten von uns erkannten Gegensatz der An*
schauungsweisen: Nicolais untragische, das Wertherproblem ledig*
lieh sozial und moralisch beziehende, nicht individuell*schicksal*
hafte Auffassung wird hier von Goethe abgelehnt; gerade das
Schicksalhafte in diesem Sinn hat Goethe in der Umarbeitung der
»Leiden« von 1785 ja noch verstärkt.
Wir finden diese Goethesche Ablehnung der Freuden in verän*
derter Form, aber mit derselben Richtung auch in den »Briefen über
die Moralität der Leiden . . .« von Lenz". Im vierten der Briefe nennt
er die Nicolaische Parodie eine »Schande seines Kopfes und Her*
zens«, sie sei witzlos, platt, »so hergestottert für eine Pasquinade«;
er zielt aber auch tiefer. »Die Scheidungen Werthers und Lottens«
seien »so wenig in ihren Charakter hineingedacht«,. Nicolai habe
die ganze Geschichte so durcheinandergezettelt, »daß das hinterste
zu vorderst« stünde, »wodurch die Seele der ganzen Rührung her*
ausgezogen«. Habe Nicolai nicht die Hindernisse bedacht, die sich
»gleich anfangs der Verbindung Werthers und Lottens entgegen*
stellten«, und »wie tief und unveränderlich unvermeidlich
Werther das empfinden mußte, um Werther zu werden«? Werther
wurde gerade durch »die heilige moralische Empfindung« der Un*
verletzlichkeit der Ehe getrieben.Werther, formuliert Lenz im achten
sehen. Das gestehe ich Dir gern, ich kannte Alberten immer als einen edlen ru*
higen und doch warmen Mann, aber seit pagina 23 (nämlich der »Freuden«, wie
Zoeppritz meint, wo der verbesserte Schluß anfängt) ist er mir unerträglich.«
-»Erst mußt ich lachen, wie er von der ganzen Sache gar nichts begreifen, nicht
die mindeste Ahnung von dem gehabt hatte, was in Deinem und meinem Her=
zen vorging. Hernach verdroß michs, was er sich den Bauch streicht und tut,
als wenn er im März gesehen hätte, daß es Sommer werden würde.«
' 6. III.73=DjgG.III.32.
- Lenz' Stellung zu Werthers Leiden und zum Wertherproblem der Zeit habe ich
zum Gegenstand einer Abhandlung gemacht, auf die hier hingewiesen sei:
»J. M. R. Lenz u. Goethes Werther«.
267
der Briefe, ist »ein gekreuzigter Prometheus«; es ist der zuge*
spitzteste Ausdruck der Nicolai gegensätzlichen Wertherauffassung.
Gegenüber solcher Ablehnung und Begründu^ — die Nicolai
nicht bekannt und deren er selbst sich nicht bewußt wurde — be*
deutet es wenig, was die übrigen Genossen des Sturms und Drangs
zu diesem Gegensatz äußerten. Allenfalls traf noch Heinr. Leop.
Wagner in »Prometheus, Deukalion und seine Rezensenten« mit
dem gegen Nicolai gerichteten Spottvers:
»Das ist nun so mein Element
Zu baun auf fremdes Fundament«
— der sich freilich ebensosehr auf die Anknüpfung des »Sebaldus
Nothanker« an die Thümmelsche Wilhelmine beziehen konnte —
auf jenen von uns hervorgehobenen Punkt. Die übrigen Äußerun-
gen sind zornige Worte. Voß nennt die »Freuden« ein »dummes,
heimtückisches Geschwätz« \ Bürger urteilt^: »Mit seinen Freuden
des jungen Werther hat sich Nicolai wirklich schlecht verantwortet.
Daß doch so viele Leute das Ding (den Goetheschen Werther)
vom falschen Standpunkt aus betrachten und ist doch nur ein ein*
ziger, auf welchen jeder Vernünftige blindlings zu stehen kommen
müßte . . .«. Schubarts Rezension der »Freuden« ^ die mit der Auf*
forderung schließt: »Nunter mit dem Quark in Entengraben!«,
wendet sich gegen den goldenen Mittelweg, die Kompromißhaftig*
keit Nicolais; es wäre so, meint Schubart, als ob »ein griechischer
Süßling zum Scopas gekommen wäre und gesagt hätte: gib deinem
Laokoon ein Alltagsgesicht« ; so möchte Nicolai aus Werther einen
guten Jungen, ein »französisches Milchgesicht« machen, aus Albert
einen »Hasenfuß«. Man wird nicht behaupten können, daß diese
Schubartschen Anwürfe Nicolai eigentlich treffen. Von wem die
grobe anonyme Zuschrift stammt, die ich in Nicolais Nachlaß fand,
konnte ich nicht ermitteln*. — Allerdings hatte Nicolai dazu bei*
' An Ernestine 9. III. 75. Über die Aufnahme der Leiden und Freuden im Kreise
des Hainbundes vgl. die Briefe des jüngeren Boie bei H. Uhde, »In Göttingen
vor 100 Jahren« ==^ Im Neuen Reich 1875, S. 290f.; über Nicolais Freuden: »bei
aller Hochachtung, die der Verf. für Goethe bezeugt, sieht man doch, daß er ihm
gern eins versetzen will«.
- Bürger an Boie 31. VI. 75 = Briefw. ed. Strodtmann I, 238.
-' Deutsche Chronik 16. III. 75.
* Diese Zuschrift — bei Nicolai am 29.1.75 eingegangen — verfährt sehr grob
268
getragen, daß der Streit um seinen Werther, der in Wagners »Pro*
metheus . . .« und Hottingers »Menschen, Thiere und Goethe«^
fortgesetzt wurde — um von anderen wenig belangreichen Äuße«
rungen zu schweigen — ein Streit zwischen aher und junger Gene*
ration wurde. Die Antagonisten der Leiden hatte er in den Freu*
den zu Vertretern zweier gegensätzlicher Weltanschauungen ge*
macht und durch den absichtlich hervorgekehrten Altersunterschied
der beiden Personen des Gesprächs — des 42jährigen Martin und
des 21jährigen Hans — diese Gegensätzlichkeit zu einer solchen
der Generationen gestempelt; und es ist nicht verwunderlich, daß
die Jungen der Bekehrung der Jugend zu den Grundsätzen des
Alters, die seine Freuden demnach zu predigen schienen, ein trotziges
Nein entgegensetzten. Nicolai stand dieser Ablehnung und Feind*
Schaft verständnislos gegenüber; er begriff nicht, daß Goethe — wie
ihn Freunde versicherten^ — auf ihn »schimpfe«^; so hielt er die
mit Nicolai: ». . . 's soll ein Buchführer seyn, ders gemacht hat. Trägt großen Ab»
scheu fürs Todtschiessen, ist fürs Cedieren; muß nie seyn verliebt gewesen, ver=
zerrt dem armen Werther seine schönste Stellen. . . . Ist sehr fürs hohe Moralische:
hat aber keinen Sinn dafür . . .« Dazu ein Gedicht »Fabian und Werthers Geist«^
(Fabian = Nicolai); Werther habe ein Wespennest erregt, »freche Tat«, »frecher
Critikast«. Nicolais Schriften seien ein »Mittelding von Wasser und Bombast«.
' Nicolai an Merck 8. X. 75 = Wagner 1,76: »Ein fliegendes Blatt: Menschen,
Thiere und Göthe hat mir, ich will es nicht läugnen, gefallen, weil es voll Geist ist,
u. auch weil es mich verteidigt. Ich versichere Sie aber bei meiner Ehre, daß ich
den Verf. nicht kenne, daß ich es auf keine Weise . . veranlaßt habe, daß ich noch
nicht weiß, was den Verf. dazu mag veranlaßt haben, der mir ganz unbekannt
ist.« Ähnlich an Höpfner 17. VIII. 75 (hs. im Hochstift). In der Allg. Dtsch. Bi=
bliothek Anh. z. 25.;37. Bd., S. 771, besprach Nicolai dann verspätet diese Hot«
tingersche Satire; da »der alte Streit schon völlig vergessen«, solle er durch diese
Rezension nicht aufgeweckt werden ; er wolle nur auf denVerf. hinweisen, der »die
trefflichste Anlage zur Satire habe«. Er druckt dann den Epilog daraus ab und hebt
in Sperrdruck den Satz daraus hervor: »Schnakscher Einfall ist nicht Wider;
legung«. — Im Nicolaischen Nachlaß befinden sich zwei Briefe Hottingers an
Nicolai aus den Jahren 1776 und 1781. Nicolai hat ihn wohl zur Teilnahme
an der Allg. Dtsch. Bibliothek aufgefordert, doch scheint nichts daraus geworden
zu sein.
' Höpfner 27. IX. 75; Merck 28. VI. 75; Höpfner an Nicolai 16. XII. 78 NN. vgl.
Nicolai an Höpfner 17. VIII. 75, hs. im Hochstift. Nicolai an Merck 8. X. 75:
»man meldet mir Wunderdinge von seinem Zorn wider mich . .«.
■ Vgl. seine Besprechung von v. Bretschneiders bekannter Werther^Moritat, Allg.
Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25. 36. Bd., S. 772; der Verf der Leiden könne sie so
269
Jungen für händelsüchtige Burschen, die einen ehrUchen Mann »im
Übermute ihres Mutes« anfielen. Er mußte darin bestärkt werden
durch die überaus gute Aufnahme seiner »Freuden« bei der gesam*
ten Kritik und durch die lobende, die Tendenz seiner Freuden unter*
streichende Zustimmung zahlreicher Männer seiner Generation;
einige dieser Stimmen haben wir schon oben angeführt. Hier seien
noch einige erwähnt. Sophie v. La Roche, die Verfasserin des »weib«
liehen Werther«, wie man ihre Sternheim genannt hat, sagte ihm ihren
freundschaftlichen Dank für die »Freuden« ; Werthers Leiden hätten
diese Wirkung hervorbringen müssen; sie liebe »eine edle Seele« —
dies geht auf den Verfasser der »Freuden« — mehr, als den größten
Geist. Justus Moser meinte, er an Goethes Stelle würde Nicolai für
seinen besten Freund halten; die Freuden sollten jeder neuen Aus«
gäbe der Leiden angebunden werden. Und Petersen sagt^, er habe eine
solche Schrift wie die Freuden gewünscht, da Goethe »der von allen
Orten zu ihm aufsteigende Weihrauch« gefährlich werden könne-.
Das Gefühl, Goethe und seine Genossen hätten ihm Unrecht
getan, hat auf Nicolai auch während der folgenden Zeit gelastet.
Indessen hat es den Kritiker Nicolai nicht beeinflußt. Allerdings
ist das literarische Verhältnis Nicolais zu Goethe nach dem Werther*
streit ein wenig beziehungsreiches Kapitel, in dem nur untergeord*
nete Gesichtspunkte hervortreten. Bemerkenswert ist zunächst,
daß Nicolai »Prometheus Deukalion und seine Rezensenten«
für ein Werk Goethes hielt, und sich trotz Goethes öffentlicher
Erklärung in den Frankf. Gel. Anz. (v. 9. IV. 75) nicht von Wag»
ners Verfasserschaft überzeugen mochte^; ähnlich hat er bei der
wenig übelnehmen, »wie der triumphierende Imperator die Spottgesänge seiner
Soldaten, die nichtsdestoweniger ihr Leben für ihn einsetzen«.
' 5. 111. 75 NN. = Grenzboten 1911 S. 559.
- Eine Zustimmung Lessings hat Nicolai nicht erhalten, oder sie ist uns verloren
gegangen. Vgl. Lessing an Wieland 8. II. 75, »der Kerl ist ein Genie usw. sagt Ni;
colai sehr gut in seinem wo nicht besseren, doch klügeren Werther«. Bemerkens«
wert ist, daß Lessing Goezes donnernde Philippika gegen den Werther zu Beginn
seines 5. AntisGoeze parodiert hat. In Lessings und Nicolais Stellung z. Werther?
streit wiederholt sich also die Haltung, die sie einst gegen Schönaichs und Reicheis
Angriffe eingenommen hatten : Lessing hatte die Angriffe der beiden (in der Bods
merias, in den Anhängen z. Neolog. Wörterb. und im Nüßchen) stillschweigend
übergangen, Nicolai hatte sie (im zehnten s. Briefe üb.d.itz.Zust.) derb abgelehnt.
' Nicolais Randbemerkung zu Petersens Brief vom 5. III. 75 NN. »Hr. Göthe ist
270
minderwertigen Schnurre »Wieland und seine Abonnenten«
(von Contius) auf Goethes Verfasserschaft geratend Der Strei*
tigkeiten ungeachtet, wünscht er durch Mercks Vermittlung^
Goethens Zustimmung, sein Bild vor einen Band der Allge*
meinen Deutschen Bibliothek zu setzen. Seine Hochschätzung des
Goetheschen Genius mindert sich nicht, doch meint er, »sein
System von Anspannung« werde ihn alsbald »aus der Erfah*
rung bemerken lassen, was Werther nicht begreifen konnte, daß
Überspannung Erschlaffung ist«\ Bald glaubt er diesen Satz
in den folgenden Goetheschen Produktionen, in Clavigo* und
darüber (über die »Freuden«) sehr böse geworden, wie auch sein Prometheus
zeigt.« Höpfner an Nicolai 24. III. 75 NN.: »Die Farce übrigens Deukalion des=
avouiert er (Goethe) schlechterdings.« Bei einem Besuch bei Weifk machte Nis
colai diesen aber dahin zuversichtlich, daß Goethe der Verfasser der Farce sei
(Briefe aus Ch. F.Weißes Nachlal^, Schnorrs Archiv 9,487, Anm.2); und an ].
G.Zimmermann schreibt Nie. 15. IV. 75 = Ed.Bodemann,S.303ff.»Ober(Goethe)
gleich den Prometheus so gewiß gemacht hat, als ich den Sebaldus Nothanker . . .«
(daselbst übrigens: Nicolai halte sich für zu gut, um darauf zu antworten). Nu
colais »Beweis« war, daß Goethe, wie v. Bretschneider Nicolai 16. X. 75 NN. mit=
geteilt hat, dem Formenschneider Dannheuser die Aufträge für die Holzschnitte
im Prometheus gegeben haben sollte, worauf auch Nicolais Rezension des Pro;
metheus Allg. Dtsch. Bibliothek 26, 1. 206 anspielt. Außerdem traute Nicolai H.
L.Wagner, der ihm nur als Verfasser der »elenden« »Confiskablen Erzählungen«
bekannt war, dies »drollige Pasquillchen« nicht zu.
' Vgl. Weiße an Blankenburg 20. V.75 == Jak. Minor, Briefe aus Weißes Nachlal^
Schnorrs Archiv 9,488. Über dies Pasquill und s. Verf. vgl. Erich Schmidt, Sati=
risches a. d. Geniezeit, Schnorrs Archiv 9, 453 ff. Über ein Pasquill »Ourang
Outang, von einem vertrauten Freunde des Herrn G. . .«, das Hambg. Neue Zei=
tungen Nr. 204 angekündigt wurde, aber nicht erschien, Nicolai an MerckS.X. 75
= Wagner I, S. 77.
- Nicolai an Merck 8. X. 75 = Wagner I, S.77, »wenn ich gewiß wäre, daß Goethe
es nicht für Schmeichelei und Andringlichkeit annehmen wollte«.
' An Höpfner 17. VIII. 75, hs. im Hochstift, Frankfurt. Vgl. Nicolai an Höpfner
10.X.75 ebenda.
* Eschenburgs Rezension des Clavigo (Allg. Dtsch. Bibliothek 27, 2, 361 ff.) findet,
daß der »Mangel absichtsvoller Zusammenfügung und Verkettung des Ganzen«
noch stärker als im Götz (!) hervortritt; er tadelt den Dialog. — Kästner be =
richtet über eine Clavigoaufführung, der er beigewohnt hatte (Empfangsnotiz
Nicolais: 9. III. 77 NN.): ein vor ihm stehender Mann habe sich das Gesicht ge;
wischt, als Marie tot war; »ich fragte ihn, ob es Thränen oder Schweiß wäre?
Es war aber nur das letzte!« Dazu bemerkt Nicolai am Rande: »Vortrefflich! So
gehts auch manchem, der die neuen Trauerspiele liesel.« Ein Urteil Nicolais
271
Stella \ wie in Erwin und Elmire bestätigt zu sehen. — Petersen hat
ihm gemeldet^, daß Goethe »an einem neuen Schauspiel Dr. Faust«
arbeite ; von anderer Seite hört er, daß er darin eine Rolle spielen solle
— was freilich erst in der »Klassischen Walpurgisnacht« Ereignis
wurde — ; darauf schreibt er an Zimmermann^: »Man droht von
Frankfurt aus . . . daß Goethe mich in seinem Doktor Faust wie ich
leibte und lebte aufstellen wollte. Auch das wird mich gar nicht aus
der Fassung bringen, sondern, wenn die Komödie aufgeführt wird,
setze ich mich vornan. Ich traue mich, mich neben jedes Bild zu stellen,
das man von mir macht, es gleiche mir nun oder nicht.« Immer wieder
stellt Nicolai es so dar, als ob Goethe ihn hasse und alles mögliche
gegen ihn in Szene setze; er ist natürlich überzeugt, daß Goethe in
seinem Streit mit Wieland dessen »Partei« nehme, »ob er ihm gleich
sonst äußerst verächtlich begegnet«*. Nicht ohne Bitterkeit sieht
über den Clavigo ist mir nicht bekannt geworden; bei Gelegenheit seiner Re=
zension der »Bayerischen Beiträge z. schön, u. nützlichen Literatur« 1779 80, die
Nicolai Allg. Dtsch. Bibliothek 44, 2, 575 ff. bespricht, geht er auf die Clavigo^
rezension darin nicht ein. Seine Rezension der Himburgischen Ausgabe von
Goethes Schriften (1777) (Allg. Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25. '36. Bd., S. 754) ist
nur Titelaufzählung, mit Protest gegen den Nachdrucker Himburg.
' Bei Stella hätte er sich »einen anderen Ausgang vorgestellt, nämlich dal^ die
beiden Weiber den Schurken Fernando, der sie ohne Ursache verlassen hat und
gewiii nächstens wieder verlassen wird, beide würden verabschiedet haben«. (!)
»Beim Grafen von Gleichen war die Sache ganz anders motiviert. Doch, ob ich
gleich verliebt gewesen bin . . so mag vielleicht ein , Lieben der' ein ganz anderes
Ding, und das Schauspiel nicht für mich geschrieben sein.« Goethes Leistungen
schienen zurückzugehen: »Erwin (u. Elmire) und Stella sind schon Stufen her=
nieder, nicht herauf«. (An Merck 28. XII. 75; vgl. Schubarts Urteil über den Cla=
vigo, Goethes Genie se'i »auf Brennesseln eingeschlafen«, ähnlich auch Wieland
15. VIII. 74 an F. Jacobi.) »Ein Schauspiel von Göthe: , Stella oder die zwei Lie;
benden', welches jetzt hier gedruckt wird, könnte sonderbare Beispiele von über;
spannter Empfindsamkeit darbieten.« (Konzept an Marcard 10. XI. 75 NN.)
Nicolais Rezension des »Theaters der Deutschen«, Königsberg 1776, dessen 16.
und 17. Teil von Goethe »Stella« und »Erwin und Elmire« enthielten, ist blol>e
Titelaufzählung (Allg. Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25. 36. Bd., S. 3202,3).
- An Nicolai 6.XI.74 = Grenzboten 558. Dazu vgl. Petersens Brief vom 30.1. 78:
»Göthe hat das Mspt. von s. Doktor Faust seiner Mutter in Frankfurt geschickt,
die es, wie ein Heiligtum, verwahret. Einige GöthesFreunde, die zu Frankfurt
darin geblättert haben, können verschiedene Sachen darin nicht genug preisen.«
' 15. IV. 75 = Bodemann S. 303 ff.
* An Höpfner 6. V.79 = Wagner III, 162.
272
Nicolai sich nun von Weimar ausgeschlossen; zu einem Brief von
W. H. Buchholz aus Weimar* setzt er am Rand hinzu: »Ich wäre
wohl sehr begierig, alle diese Herrlichkeiten zu sehen, aber ich bin
ja nun in Weimar exkommuniziert. Vale, optime!« Die zahlreichen
Anekdoten, die über die erste Weimarer Zeit Goethes Nicolai zu*
getragen und von ihm w^eitergegeben werden, ersparen wir uns auf»
zuzeichnen. Auch die wenig bemerkenswerten, übrigens sehr spar*
liehen Subjektivismen Nicolais über die Goethesche Produktion der
folgenden beiden Jahrzehnte können wir übergehen. Wichtiger er*
scheint uns Nicolais Stellungnahme zum Wilhelm Meister, schon
deshalb, weil sie im Zusammenhang mit seiner Wertherkritik steht
und uns einen zusammenfassenden Rückblick auf sie gestattet.
In dem kritischen Feldzug gegen Kant und die Kantianer, den
Nicolai später in den »Philosophischen Abhandlungen«^, der Vor*
rede zu den »Gesprächen Christian Wolffs mit einem Kantianer«,
und den beiden Romanen »Geschichte eines dicken Mannes« und
»Sempronius Gundibert«, unternahm, richtet er sich weniger gegen
das Kantische Lehrgebäude und dessen theoretische Grundlegung,
als gegen die Kantische Ethik, und hier wiederum besonders auf
die Frage der Kollision der Pflichten; er übt am kategorischen Im*
perativ eine durchaus soziologische Kritik und stellt den jungen
Gecken Kantischer Schule in den beiden Romanen die Bewährung
in und für das Leben der Gesellschaft als Aufgabe, an der sie auf
Grund ihrer Prinzipien scheitern. Auch das junge »Genie« der spä*
teren »Vertrauten Briefe«, Gustav, der Kantianer, Romantiker und
»Goetheaner« ist, scheitert zunächst an dieser Aufgabe. Als er von
Adelheid zur Annahme eines Amtes überredet wird, schimpft er
' 25. 111.76 NN. Buchholz berichtet von der ausgezeichneten Aufnahme Goethes
durch »Serenissimo«, seiner Aussöhnung mit Wieland und den geselligen Freu=
den, besonders dem Liebhabertheater. Über Goethes erste Zeit in Weimar untere
richtet ihn auch Höpfner 24. XII. 75 NN.; Petersen hatte Nicolai Goethes Be=
rufung nach Weimar, 20.x. 75, mitgeteilt. Über den Herzog Karl August, den Ni=
colai als Erbprinzen kennen gelernt, urteilte Nicolai (an Ramler 19. VI. 73 =
Beil. Z.Voss. Ztg. 1893, Nr. 590): »Der Erbprinz ist von der Literatur sehr unter*
richtet und hat für alles, was deutsch ist, viel guten Willen.« Vgl. im übrigen zu
Nicolais Besuch in Weimar im jähre 1773: Ed.Berend, Ztschrf. f. Bücherfreunde
N.F.2 (1910), 1 ff.
■ Darunter besonders bezeichnend: »Ob Kants Moralprinzip bei der Ausübung
in allen Fällen hinreichend?«
IS Sommerfeld , Friedrich Nicolai 273
auf die hommes d'affaires mit Wendungen, die »aus Wertheis
Leiden gestohlen« sind; und i\delheid muß ihm von Nicolai
ausrichten: Goethe habe Recht gehabt, Werther so sprechen zu
lassen, aber darum habe W^erther noch nicht Recht; W^erther als
Charakter eines Romans sei höchst vortrefflich; Werther im Leben
sei ein Narr\ Aber Gustav hat noch andere Vorbilder als W^erther :
nach romantischen Grundsätzen gebildet, verehrt er den Wilhelm
Meister^. Doch Nicolai urteilt: »der arme Meister hat in seinen
Lehrjahren nichts gelernt, als sich von jedem Geschöpfe regieren
zu lassen, das er antraf«, von dem »unerklärlichen Jarno«, von dem
»geheimnisvollen Abbe«, »von der possierlichen unbekannten Ge*
Seilschaft, die den Burschen soll haben erziehen wollen«. »Eigent-
lich ist Meister gar kein Charakter, sondern ein nicht handelndes
Schlenderwesen, das nebenher mit jeder weißen Schürze liebelt \«
' In einer Anmerkung hierzu beruft Nicolai sich natürhch auf Lessing, der eben;
falls die poetische von der moralischen Schönheit getrennt habe. (\'ertr. Briefe
S. 209.)
^ Die literarische Stellung der Romantiker zu Goethe — wie zu Herder s. o S. 209
— hat Nicolai erkannt, und an ihrem -»wunderlichen Geschwätz über Goethe«-
(»Ich dächte, Goethen selbst müfke dies kriechende Lobhudeln zuwider sein«)
Anstoß genommen. (Vertr. Briefe S. 85.) Wenn Goethe sich mit solchen Apolo^
getan umgebe, erkläre es sich, daß er »sich zu vernachlässigen beginne«, wobei
Nicolai auf Reineke Fuchs und den Großkophta hinweist. Zu Friedrich Schlegels
bekanntem Satz von den »drei größten Tendenzen des Zeitalters« (Athenäum II,
56) meint Nicolai: »in Frankreich, England und Aegypten wird der Wilhelm
Meister wohl nicht gelesen werden«; Friedrich der Große, die Amerikanische
Republik und — die Kartoffeln wären wohl ganz andere Tendenzen als die
Fichtesche Wissenschaftslehre und der Meister. — Über Fr. Schlegel im Zusammen;
hang mit der MeistersKritik äulkrt sich Nicolai auch in seinem Briet an v. Halem
vom 21. VI. 97 = C. F. Strackerjan, G. v. Halems Selbstbiographie nebst e. Samm;
lung von Briefen an ihn. Oldenburg 1840, II, 193. Ebenda auch über die Hamlet^
interpretation des Goetheschen Meister, und über die Komposition des Romans.
Bemerkenswert der Nicolaische Einwurf, daß die Hamlet=Anmerkungen nicht
von Meister, sondern von Goethe sind: wären sie von Meister, so hätte er sich
schon gebildet und für seine Ausbildung vom Theater nichts mehr zu erhoffen ;
die Verlegung in die Theatersphäre wäre also unnotwendig. Im bespöttelten
»Bureau d'esprit« der Frau v. C. . . in den »Vertrauten Briefen« liest man außer
dem Wilh. Meister - Schillers Räuber! (Vertr. Br. S. 66.)
' »Wäre der Harfner nicht da, und Mignon, diese beide so neue und interessante
Charaktere«, fährt Nicolai fort (Vertr. Br. S. 87), »und allenfalls die zweideutige
lustige Philine, nebst den vortrefflichen Gedichten, was wären Meisters Lehr;
274
An diesem Roman, dessen Kernproblem die Bildung des Indivi*
duums an der Gesellschaft ist, tadelt Nicolai also, daß Wilhelm
Meister sich an die Welt, an die Gesellschaft verliert. Dabei hat
Nicolai den Standpunkt, den er dem Werther gegenüber einnahm,
keineswegs aufgegeben: »ohne Anhänglichkeit an Menschen aller
Art kann die Bildung eines jungen Mannes durch die Gesellschaft
nicht vollendet werden«, heißt es auch hier in den »Vertrauten Brie*
fen« (S. 122). Werther — nach Nicolais Auffassung — isoliert sich
in anarchischem Individualismus, er muß scheitern auch ohne das
Individuell*Schicksalhafte, unter dem er steht; Wilhelm Meister
zerflattert in der Gesellschaft, und er kann sein Ziel nicht erreichen
trotz der geheimnisvollen Gesellschaft, die sein Schicksal zu be*
stimmen scheint. Die Einstellung der Nicolaischen Auffassung ist
in beiden Fällen, zu dem romantischen Werther und zu dem, von
einer anderen Seite her romantischen Meister, dieselbe; ein Beweis
für sein einheitliches Reagieren gegenüber der romantischen Ge?
samtbewegung. —
Das Verhältnis Nicolais zu den Genossen Goethes bietet wenig
bemerkenswerte Gesichtspunkte für die Klärung der allgemeinen
Gegensätze. Im »Eloge de feu . , .«^ wird ergötzlich übertreibend
geschildert, wie sich der »Geniekerl« in den Köpfen der Gegner
ausnimmt:
»Ein Ungeheur mit funkelnd hohlem Munde,
mit mehr als einem bösen Geist im Bunde,
ein wilder Gems, der immer hopsa springt.«
Ganz so faßte Nicolai die Klinger, Wagner, Lenz usw. nun nicht
auf. Im Gegenteil sah er sie eher als »leichte, luftige Kerlchen«, wie
er Lenz in seiner Wertherparodie darstellte. Er bemerkte einen
Widerspruch darin, daß die sich als Originalgenies fühlten und
das Evangelium der Genialität und Originalität verkündeten, die
er — und wir vergegenwärtigten uns in unsrer Einleitung, was dies
dem Autodidakten, dem Antidogmatiker und Antisystematiker be*
deuten mußte — als Trabanten Goethes und als Shakespeareaner
betrachtete. »Die Leutchen aus der Goetheschen Schule«, die»Goe»
Jahre an sich?« — Was Nicolai im Anhang z. Schillers Musenalmanach S. 87 über
Meister sagt, ist recht unerfreulich und belanglos.
' Lenz' Schriften ed. Lewy II, 92.
18* ^ 275
theaner« — so bezeichnete sie ihm HöpfnerV Höpfner wußte ihm
von ihrer Selbstüberschätzung und Intoleranz zu erzählen: Goethe,
Lenz, Kayser — »Halbgötter« ; »Lessing ist nur allein in der Kom*
Position etwas; sein Faust wird gegen den Goetheschen eine arm*
selige Figur machen. Ramler, ein kalter elender Mensch. Jerusalem
(d. Ä.) und Mendelssohn — Stupor vulgi hos fecit philosophos;
Nicolai hat gar keinen Verstand«; und »die Goetheaner, die ge*
radezu alles für Ochsen und Esel erklären, was nicht zu ihrer Schule
gehört oder ihren Helden Goethe nicht anbetet«. Von Klinger hörte
Nicolai', daß er »bald Opium nehme, den Geist anzuheitern, bald
sich die Stube bis zum Zerspringen des Ofens einheizen lasse, um
seine Imagination mit fürchterlichen Bildern recht anzufüllen«. Klin^
ger gehörte danach natürlich in die Gattung »feuriger Jünglinge«,
die er in der Hamannrezension (s. o. S. 145) gekennzeichnet hatte.
Eine persönliche Begegnung mit Lenz mag dazu beigetragen
haben, daß Nicolai die Jungen so sah. Wie Nicolai berichtet^, hatte
Lenz, auf der Reise von Königsberg nach Straßburg, bei ihm vor*
gesprochen und ihm eine in deutschen Alexandrinern abgefaßte
Übersetzung von Popes Essay on criticism angeboten*; Nicolai
wollte ihn, um von ihm loszukommen, an Ramler empfehlen, der
aber hatte ihn an Nicolai geschickt! »Freilich, daß der Mann, der
mir eine alexandrinische Übersetzung des Essay on crit. so angst*
lieh hatte empfehlen wollen^, ein halbes Jahr nachher ein großes
' 12.\1II.75NN. und24.IV.76NN.
' Petersen an Nicolai 22. VII. 76 NN.
^ An d. Herausgeber des »Archivs der Zeit« 6. II. 1796 NN., als Berichtigung der
dort erschienenen Anekdote über Lenz.
* Vgl. hierzu Lenz an Salzmann 28. \T. 72 ed. Freye^Stammler 1,25: »Ich habe von
einem Schriftsteller aus Deutschland eine Nachricht erhalten, die ich nicht mit
vielem Golde bezahlen vsrollte. Er schreibt mir, mein Verleger, von dem ich, durch
ihn, ein unreifes Manuskript zurück verlangte, habe ihm gesagt, es wäre schon
an mich abgeschickt. Noch sehe ich nichts. Lieber aber ist mir dies, als ob mir
Einer einen Wechsel von 1000 Thalern zurückschickte.« Auch Freye^Stammler
beziehen dies auf die Popesübersetzung.
' Lenz' unbeholfen*ängstliches, mehr als bescheidenes Auftreten bezeugen Her^
der (an Hamann 3. VI. 74), F. L. Stollberg (an Gerstenberg, Goethe^Jahrbuch X,
143), Werthes (an Fr. H. Jacobi 18. X. 74 = Goethe=Jahrbuch VII, 206) ; der letztere
spricht von seinem »feinen zugespitzten Gesichtchen«, nennt ihn »das jüngere
Brüderchen von Goethe«, einen »Shakespearischen Amor« ; vgl. auch Luise König
276
Genie heißen sollte\ das über alle Regeln sich erhübe, nahm mich
Wunder;« diejenigen, die den »naiven« Lenz dahin gebracht hätten,
seien Urheber »seiner nachherigen unglücklichen Periode«-^. Für
Nicolai blieb Lenz das leichte luftige Kerlchen, als das er ihn,
den Werther in seinem Werther, konterfeit hat. »Schimpft allweil
auf'n Batteux«, heißts dort mit Anspielung auf Lenz' »Anmerkun*
i;en übers Theater« — , »Werther selbst konnt's schier nicht besser;
sonst könnt der Fratz bei hundert Ellen nicht an Werthern reichen«.
»Plaudert viel, neust aufgebrachtermaßen . . . von historischen
Schauspielen, zwanzig Jährchen lang« »jeds in drei Minuten zu?
sammengedruckt w^ie ein klein Teufelchen im Pandämonium (ger*
manicum)«. Nicolai war über Lenz' Arbeiten"* wie über seine
an Mad. Heß 14. VI. 74 = Waldmann, Lenz in Briefen S. 25, »so blöde, so be =
scheiden, meiner Tage hab ich keinen Autor so gesehen«. »Verfasserchen« apo=
strophiert ihn Eschenburg A D Bibl. 27, 379.
' Geht dies insbes. auf das Zitat des Neuen Menoza in Herders Aeltester Ur=
künde? Mit welchem Hochgefühl es Lenz erfüllte, beweist Lenz' Brief an Hers
der 9. 10. X. 76 ed. Freye=Stammler II. 39.
^ Im Kern dasselbe enthielt die von v. B»-etschneider (21.V. 76 = Reise d. Hrn.
V. Bretschn. . . usw. S.274 gedr.) berichtete Anekdote, deren Wahrheit sich nicht
ganz nachprüfen läßt: Lenz habe »mit gebeugtem Knie und in der ehrfurchts=
vollsten Stellung« vor Frau La Roche um »Protektion oder eine Gabe« — dies
ist übertrieben — gebettelt und, als er ein halb Jahr später in Weimar sich arri=
viert geglaubt, »ganz cavalierement« an sie geschrieben : »Madame, schicken Sie
mir doch einige französische Chansons ; ich wünsche mich in den Abendstunden
damit zu delassieren.«
' Nie. an Höpfner 17. VII. 74: »Lenz hat mir von Anfang an ein sehr mittel«
mäßiger Kopf geschienen. Ich weiß nichts Verfehlteres und Schielenderes als den
»Otto« und nichts Verhunzteres als das so schöne Sujet »Das Leidende Weib«
Petersen (28. IX. 75 NN.) und Höpfner (Okt. 75 NN.; am 10. Okt. empf.) belehren
ihn darüber, daß beide Stücke von Klinger sind. (Höpfner: »In Lenzens Stücken
ist doch, dünkt mich, noch mehr Genie.«) Lenz als Verf. des Hofmeister war Nie.
bekannt: Nicolais Randbemerkung z. Brief Buschmanns vom 7. VII. 74: (»Goe«
thens Hofmeister ist mir ein wahres Fest gewesen«) »Ist nicht von Goethe, sondern
von einem namens Lenz, in Straßburg.« \'gl. auch Nicolais Randbemerkung z.
Petersens Brief vom 5.111,75 = Grenzboten 1911,S.559; ferner Merck an Ni=
colai 28. VI. 74. — Hat Salzmann, der Genosse der Goetheschen Tafelrunde in
Straßburg, Nicolai besucht? Boie empfahl ihn, der Nicolai gern kennen lernen
wollte, lt. Brief vom 2. VII. 75 NN., an Nicolai. — Lenz als Verf. der Rede gegen
Lichtenbergs Aufsatz von der Physiognomik (im Göttinger Almanach; Lenz"
Rede im Teutschen Mercur Nov. 77) von Petersen 30 1.78 NN. namhaft gemacht.
277
Lebensumstände^ genau unterrichtet. Über Lenz' Selbstrezension
des »Neuen Menoza«^ macht er sich lustig. Als ob Nicolai ge*
wüßt hätte, wie peinlich Lenz — der erst nicht genug auf Beschleu*
nigung des Druckes seiner »Wolken« hatte drängen können, sie
dann unter tausend Selbstverwünschungen zurückzog und sie
durch die »Verteidigung des Herrn W(ieland) gegen die Wol*
ken« zu entkräften suchte; ein wenig später hätte er beides gern
ungeschehen gemacht — wie peinlich Lenz dies empfinden mußte,
zeigt Nicolai das Gegenstück der Wolken zusammen mit dem
Eloge de feu ... in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek an^, als
»ein Paar elende Scharteken« : Lenz, von dem eine Zeitlang einige
Leute ein gewaltiges Lärmen machten, habe hier eine lächerliche
Selbstüberschätzung bewiesen, indem er geglaubt habe, gegen eine
fast unbeachtete eigene Schrift eine neue schreiben zu müssen, um
deren Wirkung aufzuheben; übereilt habe er sich nicht minder, sei
»im Aristophanischen Spleen einen Schritt zu weit gegangen«. Ni*
colai findet es amüsant, daß Lenz sagt, Wieland habe seine Shake*
spearische Manier als kunstvoll verdächtigt, wäre aber selbst bla*
miert gewesen, wenn er, Lenz, das Blatt umgekehrt und »nicht mit
der Miene eines rüstigen Knaben, sondern eines alten, erfahrenen,
untrüglichen Kunstrichters« seine Oper erbärmlich gefunden hätte :
»Herr Lenz muß wohl glauben, er könne beide Mienen sehr leicht
' Lenz' Aufenthalt in Weimar, Berka, Abreise nach Straßburg, Aufenthalt bei
• Schlossers in Emmendingen: Petersen an Nie. 11.1.77, 30.1.78, 9. III. 78, 25. III.
78. Ebenders.: »Die Nachricht von Lenzens Verrückung ist kanonisch. Vermute
lieh wird Klinger das nämliche Schicksal haben. <:<■ »Lenz ist zum 2ten Male ver=
rückt«; Schlosser wolle ihn in ein »Narrenhaus«- bringen lassen. — Eine irrtüms
liehe Todesanzeige Lenz' findet sich Allg. Dtsch. Bibliothek 40,2,628, die Allg.
Dtsch. Bibliothek 41,1,312 berichtigt wird; Lenz befinde sieh in Petersburg.
- Frankf. Gel. Anz. 1775, Nr. 55 f. Nicolai an Höpfner 17. VII. 74: »Sehr possierlich
ist, daß Hr. Lenz, nachdem niemand den Menoza lesen wollen, in der Frankfurter
Zeitung selbst seines Werkes Schönheiten darstellt und im , Leidenden Weib'
(s. S. 277, Anm. 3) den Hofmeister anpreisen will.« Zu dieser Lenzschen Selbst^
rezension vgl. Chr. H. Schmid an Lenz 27. III. 76 und Allg. Dtsch. Bibl. 27, 377.
' Allg. Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25. 36. Bd., S. 774; bekanntlich ist das Schrift^
chen bis auf die von Weinhold (Dramat. Nachlaß) mitgeteilte Szene nicht er=
halten. Goedekes Annahme (IV, 3, S. 784), daß Beckmann Verf. dieser Rezension
war, ist irrtümlich. Das Zeichen Beckmanns, der ausschließlich Naturhistorie und
Physik rezensierte, ist 91, nicht A.
278
annehmen.« »Als ob, wenn auch all dieses wahr wäre, seine ver*
fehlte Shakcspearische Manier dadurch im geringsten besser würde.
x\ber solchen Leuten kommt es nur darauf an, das Fleckchen zu
finden, wo es am wehesten tut.« Das war die Antwort auf Lenz'
Polemik gegen den »wachsgelben Aristarchen« an der Spitze der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek, wie die »Verteidigung des
Herrn Wieland« gespottet hattet Ähnlich äußert sich Nicolai über
den »Eloge de feu . . .«. Nimmt man hierzu noch einige allgemeine,
nichtssagende Äußerungen Nicolais in Briefen an Freunde, in denen
er wegwerfend von Lenz sprach^, so ist das Bild ihrer Beziehungen
— ein wenig erfreuliches und wenig aufschlußreiches Bild — ge*
zeichnet. Eschenburgs Referate über die Lenzschen Dramen in der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek^ bereichern dies Bild nicht. —
»Klinger scheint mir ein sehr mittelmäßiger Bursche zu sein,
der nur die Manier aufschnappt und selbst nicht viel in sich hat« —
bei diesem Urteil Nicolais über Klinger* blieb es, trotz mehrfacher
Variationen, im allgemeinen. Auch hier zeigt sich der Kritiker
' »Buchhändler }« heH>t es darin mit einem Druckfehler für N = Nicolai: vgl.
Lenr an Zimmermann Mai 76 (= Freye=Stammler 1,265) und Rosanow S. 280.
' Beispielsweise in seinen Randbemerkungen zu Petei;sens Briefen vom 23.X.74
und 5. III. 75 NN., die er entsprechend verwertet haben wird.
' Eschenburg Allg. Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25.; 36. Bd., S. 763/4 über »Flüchtige
Aufsätze von Lenz«, hrsgb. v. Kayser ; Allg. Dtsch. Bibliothek 34, 2, 488 über »Die
Freunde machen den Philosophen« und die »Soldaten«; ebenda 27, 2, 368 ff. über
den Hofmeister, Neuen Menoza und die Anmerkungen übers Theater; diese
letzeren: »flüchtig und dreist«, der wahre Kritiker des Aristoteles sei Lessing;
Lenz wird zum Studium der Hamburgischen Dramaturgie aufgefordert. Die Sol*
daten: »ein buntscheckiger Cento unzusammenhängender Szenen und zerstück=
ter Gruppen«; unsittlich und frech (das letztere in bezug auf die Verwendung
des Namens La Roche gesagt). Unsittlich wird auch »Die Freunde machen den
Philosophen« genannt. Eine gewisse Anlage zur treuen Naturdarstellung wird
nur dem Verfasser des Hofmeister nachgerühmt. — Eberhard bemerkt (Anh. z.
25. 36. Bd., 2296) zu der Erzählung »Prinz Zerbin oder die neuere Philosophie«:
»Warum neuere Philosophie? Welche neuere Pilosophie lehrt Mädchen ver=
führen u. dann verlassen?« (!) Pistorius bemerkt (A D Bibliothek 29, 1, 30flf.) zu
Lenz' »Meinungen eines Laien«, der Laie sei ein Nachahmer des Verf. der Aelte=
sten Urkunde (Herders); nur habe er das »heilige Dunkel der Herderschen
Orakelsprache nicht zu erreichen gewußt«. Seine Hypothesen seien geeignet,
»den Menschen ganz als Maschine u. Klotz aufzufassen« (!)
' An Höpfner, nach d. 23.IV.76. Hs. im Hochstift, Frankfurt.
279
Eschenburg' als farbloser oder unzugänglicher, ablehnender Refe*
rent, der jede tiefere Begründung seines Standpunktes vermissen
läßt; eine an Lessing, der klassizistischen und der bürgerlich#realisti*
sehen Ästhetik genährte Durchschnittsauffassung. Das gleiche müs=
sen wir über Eschenburg als Kritiker H. L. Wagners sagen^; von
Nicolai haben wir auch hier nur vereinzelte belanglose Äußerun*
gen. — Zu den Trabanten Goethes zählte Nicolai auch Kleuker \
Contius^, Cranz^, Kaufmann und Kayser*^, die wir hier nur erwähn
' Allg. Dtsch. Bibl. Anh. z. 25. 36. Bd., S. 760 über »Sturm und Drang«: starke Be=
gabung Klingers; seine »wilde, überspannte Phantasie« werde sich »schon noch
abkühlen«. »Otto« und »Das leidende Weib (vgl. Nicolais Randbemerkung z.
Eschenburgs Brief vom I6.V. 75, vor dieser Rezension, eine Anweisung?): »Aufs
Wallungen jugendlicher Hitze«, Klinger ein sehr selbstgefälliger Autor. »Zwil=
linge« (Anh. z. 25. 36. Bd., S. 3006): Eschenburg will den Julius von Tarent vor?
riehen ; »wie die meisten Klingerschen Stücke« könne man es »nicht ohne Schwing
del und Kopfweh lesen«. »Simsone Grisaldo« will Eschenburg überhaupt nicht ver=
standen haben (Anh. z. 25. 36. Bd. d. A D Bibl., S. 759).- Vgl. außerdem das Schrei^
ben aus Riga: Allg. Dtsch. Bibl. 44, 1, 301 (1780) über die Klingerschen Romane.
- Die »Kindsmöderin«, Allg. Dtsch. Bibliothek Anh. z. 25. 36. Bd., S. 765. Das
soziale und moralische Element wird von Eschenburg hervorgehoben, gegen den
Wagnerschen Naturalismus erklärt er sich in scharfenWorten. Nicolais Rezension
des »Prometheus«, Allg. Dtsch. Bibliothek 26, 206, spricht zwar von »unverschämter
Oscitanz« und »karrenschiebermäßiger Grobheit« und sagt, Goethens Erklärung
wäre gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um seine Ehre zu retten, aber sie
sieht doch darin »eine eigentümliche Kraft und eine trotzige Unbekümmerniß«,
die man sehr wohl Goethe zutrauen könne.
' Kleuker, von Petersen (fälschlich) als Verfasser des Aufsatzes namhaft gemacht:
»Eines Ungenannten Antwort auf die Frage . . . usw.« im Teutschen Mercur,
Aug. Sept.76. Wieland versichert (ebenda), den Verfasser.dem er entgegentritt, nicht
zu kennen. Vgl.Wieland an Lenz Okt. 76. Der Au fsatz im Teutschen Mercur stichelt
boshaft gegen die »Bibliothekare in Berlin«, wie gegen den Sebaldus Nothanker.
* Vgl. oben S. 271, Anm. 1, Nicolais derb abfertigende Rezension: Allg. Dtsch.
Bibliothek 26, 209. Contius versuchte später, unter Verleugnung seiner htes
rarischen Vergangenheit, mit Nicolai Verbindung anzuknüpfen und ihn zum Ver;
lag »einiger Bogen Gedichte« zu bewegen. Nicolai hat den Briet (5. VIII. 88 NN.)
anscheinend gar nicht beantwortet.
' Vgl. Nicolai an Höpfner 6.V. 79. Hs. im Hochstift Frankfurt. »Cranz ist ein elen=
der Mensch« . . usw. Baumann aus Cleve teilte Nicolai 23. IV. 79 mit, dai^ die Auf=
Sätze in den Frankf. Gel. Anz. 1779, Nr. 16f. u.78f.,die sich über Nicolais Streit mit
Wieland lustig machen und gegen Nicolai scharf zu Felde ziehen, von Cranz her=
rühren ; diese Aufsätze sprechen zwar lobend von Sebaldus Nothanker, verdam=
men aber Nicolais »Bänkelsäuerei« (dies geht auf Nicolais Feynen kl. Almanach).
* Über Kayser: Höpfner an Nicolai 24. IV. 76. Über Kaufmann, Kayser und
280
nen wollen; diese kleinen Geister haben ihn natürlich kaum be*
schäftigt, sein Gesamturteil aber verschärft.
In der Anzeige, die Nicolai dem »Rheinischen Most«, jener Samm*
lung von Satiren aus dem Kreis der Jungen, widmete \ zog er gewisser*
maßen eine Summe aus demTreiben der Geniezeit. »Die Vergleichung
der meisten Gedichte mit einem gärenden Most ist nicht übel. Aber
wie muß es kommen, daß es bei dem ersten Herbst ge =
blieben ist? Ist der Wein am Rhein seit 1775 nicht geraten? Haben
die Köpfe,welche die Mittagssonne nicht heiß genug finden konnten,
um recht durchglühet zu werden, und die durch Lobeserhebungen
ihrer Klienten noch dazu so fleißig gedüngt worden sind, dennoch
seitdem nichts als Heerlinge getragen ?«(!) Es ist hier fragend aus*
gedrückt, was Nicolai einige Zeit vorher zu Höpfner mit naiver Zu=
versieht und Selbstsicherheit geäußert hatte- : »Was die Bürschchen
schwatzen, bedeutet nicht viel. Das wilde Wesen wird in vier oder
fünf Jahren verraucht sein und dann wird man ein paar Tropfen
Geist, und im Tiegel ein großes caput mortuum treffen. Ich habe
schon mehr dergleichen Revolutionen erlebt. Man muß die Knaben
nur gehen lassen und nicht sehr auf sie Acht geben, denn ihre ganze
Absicht ist, Lärm zu machen.« Aber etwas positiver dachte Nicolai
doch von dieser Bewegung, als er es hier ihrem halben Bundes*
genossen Höpfner anvertraute, v. Knigge, der Eschenburgs Stelle in
der Bibliothek in der Folgezeit verdrängte, sprach wenige Jahre später
bereits von »Sturm* und Drang* Meß wäre« ^. Nicolai aber wieder*
holte in einem Brief an Joh, v. Müller* zwar jene an Höpfner ge*
richteten abfälligen Bemerkungen, allein er setzte doch hinzu, er er*
warte trotz allem einen »wohltätigen Einfluß« von dieser Bewegung :
»man wird das Abenteuerliche, das sie einführen will, bald über*
drüssig werden, aber von dem Kräftigen wird etwas zurückbleiben«.
Kleuker: Petersen an Nicolai 12.1.78 — Grenzboten 1911, S. 612, Kayser treibe
»die Sucht, Goethe nachzuahmen, bis zur xManie«, gleiche seine Handschrift der^
jenigen Goethes an, bediene sich eines Petschaft nach Art des Goetheschen, falte
seine Briefe wie Goethe usw. Kaufmann — ein herumreisender Agent der »Kraft;
Genie und Wunderpartei«.
' AUg. Dtsch. Bibhothek Anh. z. 25.|36. Bd.. S. 754.
- An Höpfner 25. IV. 76 = Wagner III, 140.
' Gelegentlich der Anzeige einerWerthernachahmungAllg. Dtsch. Bibl. 60,2, 431.
* Briefe an Joh. v. Müller, S. 102; 12. VII. 76.
281
NICOLAI UND BÜRGER
»Wir wollen's Genie nicht einschränken«, so hieß es in Nicolais
»Freuden«, »denn der Kerl ist reich und mächtig, und Klagen tut's
nicht. Aber wenn wir dem Genie aus dem Wege gehen könnten«.
Nicolai konnte und wollte den Genies nicht mehr aus dem Wege
gehen. Nicht so sehr der Zuspruch von Freunden und Mitarbeitern '
drängte ihn dazu, die ihn für den praeceptor des guten Geschmacks
hielten; die »ganze in 30 Jahren befestigte Form seines Denkens«-,
die Summe seiner Bestrebungen um Gesellschaft, Bildung, Literatur
schien in Frage gestellt durch das gärende Unwesen der Jungen, die
ihn mehr als andere Vertreter der älteren Generation zur Zielscheibe
ihrer Angriffe nahmen: mußte er nicht bemerkt haben, daß die
zügellose Satire Wagners im »Prometheus« gegen niemanden so
scharf und beißend war wie gegen ihn? Die Stellung der Jungen
gegen seine Allgemeine Deutsche Bibliothek wurde immer ein*
mutiger und entschiedener, seitdem ihr Apostel Herder sich in so
schroffer Weise von ihm losgesagt hatte. Und jetzt eben erschien,
nach vielen äußeren und inneren Herrimnissen^ der dritte Teil des
Sebaldus Nothanker, in dem, wie wir uns vergegenwärtigen, Nico*
So fragt z. B. Kästner (NN. Empf. 22. 1.77), ob Nicolai nicht »eine Sammlung
von Haupt; und Staatsaktionen zum Gebrauch unserer dramatischer Dichter«
anlegen wolle. (Nicolai bemerkt dazu am Rande: »Sie haben . . . Recht, die Kerls
sind nicht wert, daß man Witz . . . gegen sie verschwendet.«) Daß dies eine
Kästnersche Aufforderung zu einer Satire gegen die Jungen war, geht auch aus
seinem spätem Brief (NN. Empf. 22. 1. 79) hervor, wo er von Nicolai ausdrücke
lieh etwas »Dramaturgisches« wünscht, da »die Leute es so wahnsinnig machen,
daß es bald nicht mehr auszuhalten ist«. »Noch einmal, liefern Sie uns was dra=
maturgisches oder ich lasse Ihnen die Erinnerung drucken: dormis.'Nicolae?«
— Ähnlich etwa Marcard 24. III. 77 NN. an Nicolai: »Warum wollen Sie nicht
etwas Witziges in dieW^elt schicken. Warum wollen Sie das Talent, das Sie haben,
vergraben! Wahrhaftig! die Lenze, die Stollberge, die Miller und Brückner
denken nicht so delikat . .« usw. Ähnlich auch Gebier 15. VI. 79 =^ Werner S.96
an Nicolai. Auch Boie verlangt (9.X1I. 76 NN.) Nicolais »Gedanken« über die
gegenwärtige Gärung »fürs Museum«; am 28.1.78 erinnert er ihn daran: »Sie
wollen mir ja auch einmal etwas fürs Museum geben.«
' J. K. Pfenniuger an Nicolai lO.VII. 74 NN.
' Davon gibt Nicolais Brief vom 5. III. 76 an Höpfner Zeugnis, den ich nach
der im Hochstift Frankfurt befindlichen Handschrift im Anhang mitteile.
282
lai eine Summe aus seinen Bestrebungen zog. Chr. H. Boie sprach
sich über den Nicolaischen Roman zu Bürger aus\ es sei »vielleicht
der erste deutsche Roman«; aber er macht eine bezeichnende Ein*
schränkung ganz im Sinne Bürgers: Der Roman sei aber »nur für
den Teil des Publikums, der bei der Lampe studiert«, und zielt
damit unzweifelhaft gegen das Überwiegen des gelehrten, unvolks*
tümlichen Elementes. In der Tat, wen trifft Sebaldus auf seinen
Wegen anderes als Theologen der verschiedensten Sekten? Und
wenn Nicolai auch mit besonderer Vorliebe bei dem Leben des ein*
fachen Volkes verweilt, das er freilich in einem Maße kennt und zu
farbiger Darstellung bringt, wie kaum ein zweiter zeitgenössischer
Autor, wenn er auch neben der kleinbeschränkt*bürgerlichen sogar
die proletarische Existenz berücksichtigt (z. B. Seb. Noth. II, 25) —
das eigentliche Interesse des Darstellers liegt in den verschiedenen
Schattierungen des gelehrten Publikums, und die gelehrten »Mei*
nungen« bilden das äußerliche wie das innerliche Agens des Ro*
mans. Ja selbst die lyrischen Ruhepunkte — landschaftliche Schil*
derungen bei den Wanderungen des Sebaldus, Momente der Selbst*
einkehr des vom Unglück verfolgten Pastors — werden in diese Sphäre
hineinbezogen; beim Anblick einer schönen Gegend, im lebhaften
Empfinden der bewegten Natur werden Gedanken von spezifisch
theologischer Färbung gewonnen; die Lieder, in die solche Situ*
ationen sich lösen, sind Dankes* und Loblieder, und der Pietist auf
der Landstraße nach Berlin (II, Kap. 1) singt ganze Seiten des im
Kurfürstentum Brandenburg eingeführten Kirchengesangbuches.
Es ist unzweifelhaft das Gegenteil des Bürgerschen Begriffes der
Popularität, die nach seinem Ausdruck »das Siegel der Vollkommen*
heit« einer Dichtung sein sollte, was sich in Vorwurf, Darstellung
und Wirkung des Nicolaischen Romans zeigte. Freilich haben wir
uns vergegenwärtigt, daß der »Popularphilosoph« Nicolai, weit
entfernt, mit Absicht unpopulär zu sein, im Gegenteil sein ganzes
Wirken auf Popularität einstellte; immer wieder ist es seine Klage
' Boie an Bürger 10. V. 73 = Strodtmann I, 116. Bürger antwortet 17. V. 73 =
Strodtmann I, 1 19, der Nothanker habe ihm »im Ganzen sehr gefallen«; »endlich
hat sich denn doch einmal einer eines Originalstoftes bemächtigt« usw. — macht
aber skeptisch^ironische Einschränkungen gegen Nicolais Verfasserschaft, gegen
das Überwiegen der »Meinungen« gegen das eigentlich Romanhafte.
283
— auch gerade im Roman — , daß die deutsche Dichtung und Bil=
düng nur »an den Universitäten hängt«, ist es sein Bemühen, das
Volk in seiner Ganzheit an beiden teilnehmen zu lassen. Allein
Nicolais Popularitätsbemühungen sind ein Übersetzen, Anpassen,
eine Methode; popularisieren im Nicolaischen Sinne kann man alles,
und die Dichtung wird populär, wenn man nur den richtigen »Augen?
punkt« zu ihrer Erfassung und Beurteilung darbietet. Bürgers und
vor allem Herders Popularitätsbegriff sind davon geschieden. Die
Popularität liegt für sie schon in der Sache selbst; es wird nichts
populär gemacht — es verlöre denn seine Art — sondern es ist's oder
ist es nicht. Und der populus ist, wenigstens für Herder, kein bloß
empirischer Begriff, sondern etwas Organisches, und als Organisches
hervorbringend, nicht bloß Objekt. Diese Unterschiede werden im
Verlauf unserer Darstellung noch deutlicher hervortreten.
x\llein schon vom Sebaldus Nothanker aus können wir einen
zweiten Gegensatz zu der Bürgerschen Anschauungsweise — oder
vielmehr zu der Bürgerschen Formulierung von Herder begründeter
Anschauungen — erkennen. Einen nicht minder wichtigen Bestand*
teil des Bürgerschen ästhetischen Glaubensbekenntnisses bildet sein
Naturalismus, den er — von der besonderen Färbung bei jedem der?
selben abgesehen — mit Wagner, Klinger, Lefiz, Mahler Müller teilt.
Der Charakter des Sebaldus ist, gemäß Diderots Formulierung,
durchaus von der »condition« her gebildet (das ästhetisch Unge?
nügende der Darstellung des Charakters interessiert uns hier nicht) ;
sie bestimmt seine »Individualität« — wenn man davon sprechen
kann, wo nur eine Summe von Neigungen, Fähigkeiten, bestimmter
intellektueller Färbung und wunderlichen Einzelheiten (in denen
sich Sterne als Vorbild erweist) dargestellt ist; und sie bestimmt
auch seine Schicksale. Aber diese Bindung des Helden an seine con?
dition führt hier nicht wie bei den Stürmern zum tragischen Leiden,
zum Konflikt des Helden mit der Gesellschaft, und noch weniger
ist dieses System von sehr wenig realen Verflechtungen natura*
listisch zu nennen; es fehlt nicht an den Entführungen, unvorher*
gesehenen Trennungen usw. des alten Abenteuerromans, an mär*
chenhaften Räubern — deren massenhaftes Auftreten mit dem Frie*
den von 1763 »motiviert« wird — und wenn schon solche Elemente
des älteren Abenteurerromans bei Wieland bisweilen ziemlich sta*
284
tionär wirken, hier im Sebaldus Nothanker sind sie opernhafter
Apparat; vom Naturalismus ist dies Gewebe von Fiktionen weit
entfernt. Schon die Anknüpfung an Thümmels Wilhelmine, diesem
Muster einer Gattung, die rein in der literarischen Tradition be*
gründet war, diesem Zwitter aus Konvention und Satire, beweist
dies; und Nicolai hat Wert darauf gelegt, in seinem Sebaldus sich
innerhalb der Grenzen zu halten, die durch den Stil der Wilhelmine
abgesteckt waren.
Bürger hat diese beiden Grundtendenzen seiner Anschauungs*
weise wie seines dichterischen Schaffens öffentlich zuerst in den
Fragmenten aus Daniel Wunderlichs Buch im Maiheft des Deut*
sehen Museums von 1776 — hier insbesondere in dem Herzens*
ausguß über Volkspoesie« — ausgesprochen, späterhin in einem
dritten, erst aus seinem Nachlaß veröffentlichten Fragment »Zur
Beherzigung an die Philosophunculos«, und in den beiden Vor*
reden zu seinen Gesammelten Gedichten, schließlich in den, eben*
falls erst aus seinem Nachlaß veröffentlichten Fragmenten »Über
die Popularität in der Philosophie« ^ Er hat im »Herzensausguß«
den latenten zu einem offenbaren Gegensatz gemacht, dem Nicolai
alsbald in seinem »Feynen kleynen Almanach« entgegentrat.
Es ist bezeichnend (— und geeignet, die Methode unserer Dar*
Stellung wie besonders unsere Behauptung zu rechtfertigen, daß
Nicolai erst aus der Abwehr heraus satirisch* kritisch zum Sturm
und Drang Stellung nahm — ) daß Nicolai erst bei Gelegenheit des
Bürgerschen »Herzensausgusses« diese Stellung zu einer Anschau*
ung nahm, die ihm im Kern schon bei Gerstenberg und mehr noch
in Herders Fragmenten, vor allem in Herders Ossianaufsatz ent*
gegengetreten war. Bürgers Aufsatz konkretisierte, überspitzte und
— dogmatisierte lediglich Herders Anschauungen. Erwin Kirchers
Feststellung-, daß der Nicolaische Almanach sich mehr gegen Herder
als gegen Bürger richtete, ist leicht mißverständlich; der Gegensatz
der Anschauungen tritt stärker und tiefer an Herder als an Bürger
gemessen hervor; ohne den Bürgerschen Aufsatz, der, wie Kircher
sagt, Herders Theorien zum »ästhetischen Schlagwort« machte, wäre
' Alles ed. Wurzbach III. 1 ff.
-' Erwin Kircher, Volkslied usw., Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 4, 45,
Anm.2.
285
der Almanach aber nicht geschrieben worden, der eigentliche
Angriff galt Bürger. Das können wir schon daraus erkennen,
daß die Diskussion über dieses Thema mit Gerstenberg und
Herder, die wir oben berührten, unergiebig blieb: nicht nur,
weil Nicolais Äußerungen zu unscharf formuliert und wohl auch
zu- unklar gedacht waren, und nicht nur, weil er kein eigentliches
Gegenüber fühlte, sondern vor allem, weil seine Neigung zum Korn*
promiß einen Schleier über den geahnten Gegensatz deckte, und die
Korrespondenten bald abbogen. Erst bei Gelegenheit des Bürger^
sehen Herzensausgusses wird auch seine Stellung deutlicher, und
so sehr wir auch bedauern mögen, den Gegensatz nicht schon Herder
gegenüber wirksam zu sehen, — wir müssen, wollen wir nicht kon*
struktiv verfahren, seine Stellungnahme zu der ursprünglicheren und
tieferen Herderschen Konzeption dieser für den Sturm und Drang
so fruchtbaren Gedanken nur sehr behutsam zu erschließen suchen'^-
Theoretische Auseinandersetzungen, zumal über Gegenstände der
Kunst, waren Bürgers Natur zuwider; erst spät hat er sich ästheti*
scher Reflexion zugänglich gezeigt^. Ließ er sich in jüngeren Jahren
dazu herbei, so kam es ihm nicht auf Gründe und Gegengründe,
überhaupt nicht auf Begründung, sondern nur auf Fixierung seiner
Meinungen an; aber was über die Schwelle seines Denkens trat, hielt
er dann auch starr und eigensinnig fest. Unzweifelhaft riß ihn der
Anstoß, der von Herder kam, aus einer ziemlich traditionellen Poe^
tik zu den Gedankengängen seines »Herzensausgusses« und den
damit zusammenhängenden Kundgebungen fort. Herder, bekennt
er zu Boie^, habe durch seinen Ossianaufsatz »einen Ton geweckt«,
' Die Tatsache z. B., daß Nicolai an Herders Denis'=Rezension Anstand nahm,
wird man nicht ohne weiteres als Gegensatz Nicolais zu der im Ossianaufsatz
an Denis' Übersetzung geübten Kritik nehmen dürfen; er selbst macht (an Her-
der 25.1.72) einen anderen Grund namhaft, und er hat ja auf der anderen Seite
stillschweigend Herdersche Rezensionen geduldet, deren Standpunkt er nicht
teilte oder ablehnte. Im Wesentlichen wurde die Herdersche Rezension durch
Nicolais Einspruch nicht berührt.
'■' Vgl. Chr. Janentzky, Bürgers Ästhetik Berlin 1909 (in Munckers Forschungen
XXXVI 1) S. 51 ff.
* An Boie 18. VI. 75 = Strodtmann I, 122; ähnlich fühlt er sich durch Herders
1777 erschienenen Aufsatz: »Von der Aehnlichkeit der mittleren englischen und
deutschen Dichtkunst« berührt: an Boie Ende Oktober 1777 = Strodtmann II,
172. — In dem einzigen erhaltenen Brief Bürgers an Herder 24. 1. 78 bittet Bürger
286
der schon lange in seiner Seele »auftönte«; hier fühle er sich in sei?
nem Elemente. Diese subjektive Abhängigkeit, die, mit Herder zu
sprechen, »Genesis des Enthusiasmus« \ ist das Kennzeichen der
objektiven. Bürgers Äußerungen erscheinen, an den Herderschen
gemessen, wie aus einem größeren Komplex herausgeschnitten. Die
geschichtsphilosophische Konstruktion, die die Herderschen Aus*
Führungen trägt, wird bei Bürger ersetzt durch Ressentiment. Herder
\ erbindet mit den Begriffen »wilde Völker«, »alte Lieder«, »Volks*
lieder«, zeitlich, sachlich, psychologisch distinkte Vorstellungen;
bei Bürger verschwimmen sie in einer an Rousseau genährten Vor*
Stellungswelt. Herder erkennt Voltaires Spott über Rousseau, »daß
ihm das Gehen auf allen Vieren so wohl gefiele« als berechtigt; »das
menschliche Geschlecht ist zu einem Fortgang von Szenen, Sitten,
Bildung bestimmt; wehe dem Menschen, dem die Szene mißfällt,
in der er auftreten, handeln, sich verleben soll«"^! Herder w^eiß, stellt
bedauernd fest, daß, was bei den alten Völkern »Natur« ist, sich
heute nur bei den unmündigen Mitgliedern der Nation findet; er
sieht, »nach der Lage unserer gegenwärtigen Dichtkunst« zwei Mög*
lichkeiten: erkennt ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die teils sein
Gegenstand und seine Dichtungsart fordert, und die bei ihm herr*
sehend sind, vorstellende, erkennende Kräfte sind«, so sind
Klarheit der Komposition, Ordnung der Teile, Gliederung der Be*
Ziehungen seine Aufgabe; »fordert sein Gedicht aber Ausströ*
mung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in
seiner Seele diese Klasse von Kräften die wirksamste Triebfeder, so
überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde.« Milton, Haller,
Kleist, Lessing auf der einen, Klopstock, Gleim, Jacobi auf der an*
deren Seite seien Beispiele; Gerstenberg und Wieland verbinden
beides. Was ist aber bei Bürger daraus geworden! Die Unterschei*
Herder, wenn er ihm einmal schreiben wolle, davon zu schreiben : daß jedes
Volk seine eigene Poetik habe und haben müsse; und von der großen ewigen
Wahrheit: »daß alle Poesie für die Nation populär sein müsse, daß alle fremde
antiquarische Nachmacherey Nürnberger Tand sey«. (Der Brief jetzt vollständig
abgedruckt bei A. Peveling »Bürgers Beziehg. z. Herder« Münst. Diss. 1917, S. lOf.
Diese Dissertation scheint mir die objektiven Beziehungen bezw. Gegensätze
nicht genügend hervorzuheben.)
* Ossianaufsatz ed. Suphan V, 169, Z. 21.
' ed. Suphan V, 168.
287
düng zwischen »Versmacherkunst« und Poesie; und die Poesie
wünscht er »volksmäßig«. Was ist aber »Volk« bei Bürger? Er
wehrt sich nur gegen die Unterstellung, Volk sei Pöbel ^ ; faßt man
seine Äußerungen positiv, so ergibt sich keinesfalls eine organische
Einheit im Sinne Herders, eher eine mechanische. Und entsprechend
mechanisch faßt er auch die dichterische Produktion als Äußerung
des Volkes. »Gäbe es ein ganzes Volk, dessen Nasen so organisiert
wären, daß ihnen Teufelsdreck besser röche als die Rose, dem be*
singe man Teufelsdreck statt der Rose«^ — allerdings eine paradoxe
Zuspitzung seines Popularitätsideales. Herder weiß sehr wohl neben
dem Volkslied die Lyrik Klopstocks zu schätzen, erkennt deren
Organisation als wesensverschieden, auch wenn er meint, daß Klop*
Stocks Lyrik noch am ehesten von dem Rudiment alter Völker mitten
unter uns — den Kindern, Mägden, Jägerburschen — unmittelbar
ergriffen werde. Auch Bürger verehrt die Klopstocksche Dichtung:
und doch dekretiert er, alles Lyrische und Lyrisch*Epische sollte
Volkslied oder Ballade sein. Herder bedauert, daß die Romanze
nur noch als niedrig*komische Gattung existiere; Bürger sagt: »von
der Muse der Romanze und Ballade ganz allein mag unser Volk
noch einmal die allgemeine Lieblingsepopöe aller Stände hoffen«.
Das Rudiment der alten Völker mitten unter uns ist für Herder ein
Pfand der Vergangenheit, für Bürger eine Versicherung der Zukunft;
die Unwissenden, Unmündigen, Unkultivierten sind für ihn ein
Imperativ der Dichtung. Es ist kein Zufall, daß Bürger in seinem
»Herzensausguß« da beginnt, wo Herder, psychologisch genommen,
endet: bei der Polemik — und auch in deren Ton ist ein bemerkens*
werter Unterschied — gegen Zeit, Verbildung und Gelehrsamkeit,
besonders gegen die »nackigen Poetenknaben« der Gegenwart. Unt4
schließlich, es ist ein Unterschied, ob Herder sich — durch die Ab*
hängigkeit des Gedichts von einem alten Chanson — dazu verführen
ließ, Gleims »Marianne« einen schönen Vortrag zuzugestehen —
oder ob Bürger Voß' Idylle »Die Bleicherin« als eins derjenigen
^ »Unter Volk verstehe ich nicht Pöbel. Wenn man verlangt, daß jemand eine
leserliche Hand schreibe, so isf wohl nicht die Meinung, daß ihn auch der lesen
soll, der überall weder lesen noch schreiben kann,« heißt's in den Fragmenten
•»von der Popularität in der Poesie« ed. Wurzbach III, 19.
= ed.Wurzbachlll, 18.
288
Gedichte pries, die Daniel Wunderlich vorzugsweise liebe \ Das
durchaus Agitatorische seines Aufsatzes wird durch dieses Urteil
scharf beleuchtet, die Überschätzung des bloß Stofflichen.
Dieser agitatorische Aufsatz Bürgers erst, nicht der trotz des dithy*
rambischen Stils, erkennende, untersuchende Aufsatz Herders rief
Nicolai in die Schranken. Seine Abwehr ist des öfteren dargestellt
worden: ihre Entstehungsgeschichte, ihre satirisch*polemischen Ele*
mente und ihre inneren Tendenzen^; es sei daher nur kurz dasjenige
hervorgehoben, was in den Darstellungen nicht berührt wurde.
In der Besprechung, die Eberhard dem Bürgerschen Museumsauf«
satz in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek^ widmete, heißt es:
»Anpreisung der Volkspoesie in überspannter und beinahe lieder*
lieber Schreibart. So etwas hieß im Jahre 1776 Genie, und im Jahre
1778 ist es die Welt schon überdrüssig.« »Was heißt volksmäßig?«
fragte die Allgemeine Deutsche Bibliothek ernsthaft verlegen um die
Ausdeutung des Bürgerschen »Modewortes«. Nicolai und seinem
Kreis war »Volk« kein problematischer Begriff, so wenig wie Nation,
Gesellschaft, Staat; »Volkspoesie« vermochte es ebensowenig zu
> 9. V. 76 an Boie = Strodtmanfi I, 308.
- Georg Ellingers Vorrede z. s. Neuausgabe des Feynen kleynen Almanaches in
Berliner Neudrucke I, 1. Carl Kleve, Nicolais Almanach. Progr. Schwedt 1895.
Dazu neuerdings lur Entstehungsgeschichte die dankenswerten Mitteilungen H.
Lohres in Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25 (1915), S. 147 ff. u. Joh. Boltes
Nachwort zu dem Neudruck der Ges. d. Bibliophilen (Weimar 1918). Besonders
die ebenso tiefdringende wie umfassende Interpretation Erwin Kirchers »Volks»
lied und Volkspoesie in der Sturms und Drangzeit«. Ein begriftsgeschichtlicher
Versuch. Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 4 (1903), S. Iff., der ich mich
auch da, wo ich mir ihre Anschauungen nicht völlig zu eigen machen kann,
dankbar verpflichtet fühle; im ganzen stimme ich mit Kirchers Ergebnissen, so=
weit sie meine Arbeit berühren, überein; es sei für dies Kapitel nur hier auf sie
verwiesen. —Wenn Kircher (S.21) sagt, »die Einheit sachlicher Gesichtspunkte«
fehle dem Ossianaufsatz, so scheint mir das nur zutreffend, wenn man den
Ossianaufsatz absolut nimmt, ohne die übrigen entsprechenden Kundgebungen
bis etwa 1774; nimmt man diese hinzu, so lassen sich alle wesentlichen Begriffe
des Aufsatzes sehr wohl zu sachlicher Einheit verbinden. Übrigens widerspricht
Kircher seiner Feststellung indirekt selbst, in der Kennzeichnung der Bürgerschen
Anschauungen und ihrem Verhältnis zu den Herderschen. In der Beurteilung
des Herderschen Standpunktes von 1777 und späterer Zeit gegen den früheren
pflichte ich Kircher bei.
» Anhang z. 25./36. Bd., 2299 ; vgl. ebenda S. 785.
19 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 289
werden. Biester wies in seiner Rezension des Nicolaischen Alma«
nachs^ daraufhin, daß die Literaturbriefe zuerst das Interesse für
die sogenannte Volkspoesie rege gemacht hätten (und Herders
Ossianaufsatz hatte Lessings Verdienste um die Volkspoesie ja ruh*
mend hervorgehoben, während Bürger sie übergingt) ; und er berief
sich, um Nicolais Stellung zu rechtfertigen, auf den Lessingschen
Satz: kein Geschmack sei schlecht als der einseitige ... Man sah auf
Nicolais Seite in dem Bürgerschen Aufsatz lediglich eine Übertrei*
bung zugestandener Behauptungen und eine ungerechtfertigte Inan«
spruchnahme fremder Verdienste. Man muß diese Situation Nicolais
festhalten, will man seine Abwehr richtig würdigen. Was wir bei
seinen Diskussionen mit Gerstenberg und Herder, bei dem Gegen«
satz zu Hamann und dem jungen Goethe fanden, bestätigt sich auch
hier: das Gefühl einer Gegensätzlichkeit empfindet er sehr bald, aber
deren Art bleibt ihm verschlossen. Er konnte sich hier auf die Re«
zension berufen, die Biester den Blättern »Von deutscher Art und
Kunst« gewidmet hatte^. Herders Verdienst war darin sehr gerühmt
worden: »Dies Buch ist ein wichtiges Werk, welches dienen kann,
die Natur und die Schätzung derselben in ihr gehöriges Recht ein«
zusetzen;« der Rezensent, der seinen Stil gewaltsam zu Herderscher
Kühnheit emporschraubt, glaubt sogar gegen diejenigen polemi«
sieren zu können, »die nicht durch die Hülle von Mode und An«
stand durchzusehen taugen«. Sehen wir freilich näher hin, so ent«
decken wir eine groteske, dem Rezensenten unbewußte Umbiegung
der Herderschen Anschauungen. In den beiden Herderschen Auf«
sätzen, heißt es, seien »zwei der größten Söhne der Natur, Shake«
speare und Ossian, gezeigt, die zu hoch waren, als daß ihr Götter«
genie der irdischen Kunst sich hätte unterwerfen können«. Die Volks«
lieder, »Lieder des Volks«, sind in dieser Rezension »Lieder fürs
Volk« geworden. Den Unterschied des Geistes, aus dem heraus
Gleim seine Lieder fürs Volk dichtete, und aus dem — nach Her«
der — die Volkspoesie schuf, vermochte Biester so wenig einzusehen
^ Anhang z. 25. 36. Bd. der AUg. Dtsch. Bibliothek S. 3372 ff. Gemeint ist der
33. Literaturbrief (von Lessing).
^ Mit den großen »Söhnen der Natur«, die die Volkspoesie neuerdings entdeckt
hätten, meinte Bürger in erster Linie Herder und Goethe, sodann Klopstock und
die von ihm abhängigen jüngeren Dichter.
» Anhang z. 13. 24. Bd. der Allg. Dtsch. Bibliothek S. 1169 ff.
290
wie Nicolai. »Wer wird es unsern Dichtern verwehren, VolksHeder
nachzusingen, wie sie Schäfergedichte, Bardenlieder, patriarchalische
Gesänge usw. machen,« fragte derselbe Biester in seiner Rezension
des Nicolaischen Almanachs^ Die Schärfe des objektiven Gegen*
Satzes zwischen Nicolais und Herder* Bürgers Volksliedauffassung
soll damit keineswegs gemildert werden; unsere Feststellung soll
vielmehr diesem Gegensatz Kontur geben. Ohne sie ist die positive
Tendenz des Almanachs nur schwer verständlich.
Die positive Tendenz des Almanachs, die Minor und Cleve höh«
nisch glossieren, kann nicht gut bestritten werden. Man hat sich
darauf berufen, daß Nicolai in seinem Brief an Lessing, in dem er
die Absicht des Almanachs mitteilt-, hauptsächlich die polemische
Tendenz hervorgehoben hat, die er als »sehr ernsthafte Absicht«
»einige der Toren womöglich klug zu machen« bezeichnet; und daß
er die positive Seite mit dem Satz umschreibt : »ich habe mir freilich
ein heimliches Vergnügen gemacht, einige schöne Stücke zuerst ans
Licht zu bringen; aber ich habe wissentlich einige recht plumpe
darunter gesetzt, damit man sehe, daß wahrhaftig nicht alle Volks*
lieder des Abschreibens wert sind.« Hierauf konnte Lessing zwar
mit Recht antworten', Nicolai wolle »gerade über das Angelegene
der Sache spotten«; aber die positive Tendenz Nicolais ist damit
nicht gekennzeichnet. Zu Justus Moser hat er sich deutlicher ge*
äußert, daß er die Gelegenheit der Satire benutzen wolle, um »solche
Volkslieder aus der Dunkelheit zu ziehen, die wahre Naivitäthaben«*.
Und Moser hat gerade dieser positiven Seite freudig zugestimmt^
wie auch Boie^ dem die Doppelgesichtigkeit des Almanachs ein
' Anhang z. 25,/ 36. Bd. der A D Bibliothek S. 3374. ~
' An Lessing 5. VI. 77 ; vgl. auch Nicolai an Lessing 29.VL 76 == Lachm.:=M. 21, 108.
' An Nicolai 20. IX. 77 = Lachmann.Muncker 18, 250.
* Mosers Ges. Schriften ed. Abeken 2, 160. Ahnlich Nicolai an Joh Müller 12.
VII. 76 = Briefe an Joh. v. Müller ed. M. Constant S. 102; an Höpfner 19. IX. 76
= Wagner III.
* 14. XII. 78. Ges. Schriften ed. Abeken 10, 175.
« Boie an Nicolai 10. XI. 76, 9. XII. 76. 30.V.78 (alles NN.). »Die Vorrede, die
viel Wahres sagt, hat mich sehr belustigt, und unter den Liedern sind immer
einige, die nicht zum Spaß gedruckt xu werden verdienten (!) Ich glaube, daß
Daniel Wunderlich (= Bürger) sich des ehrsamen Leinweberhandwerks annehmen
wird. Er versteht aber Scherz (1), wie Seuberlich, der Schuster (Nicolai) auch tun
wird.« Auf Nicolais Anwurf im Almanach, die volksliedbegeisterten Genies seien
:9* 291
willkommenes Mittel war, seinen Standpunkt zwischen Nicolai und
seinem Freunde Bürger zu wahren. Ja Merck ging noch weiter und
fand, daß »der wahre Genius, der nicht gemeint sei, sich nicht be*
klagen werde«; auch der polemischen Seite erkennt Merck also eine
positive Wirkung zu^ Die Wirkung von der positiven Seite her
blieb nicht aus. Schon Herder klagte^ daß man sich auf Nicolais
Sammlung mehr als auf die seine berufe, und Kircher hat fest*
gestellt, daß die Bemühungen um das Volkslied bis zum Wunder*
hörn hin, ob positiv ob polemisch, auf Nicolais Sammlung fußen^.
Nimmt man die Andeutungen in seinen Briefen an Herder* hinzu,
wonach er zu Herders — wie er glaubte: beabsichtigter — »Abhand*
lung von den Nationalliedern« ein »Kapitel von den National*
rhythmis« schreiben wollte, eine Schrift über den Zusammenhang
zwischen nationalen Rhythmen und Liedkunst, »eine sehr gelehrte
Abhandlung« über die Rhythmik der alten Völker; und die Tat*
Sache, daß Nicolai mehrere der von ihm gesammelten Volks*
lieder selbst komponiert hat^, so wird man die positive Tendenz
des Almanachs nicht mehr anzweifeln <lürfen. Und es ist kein
Beweis dagegen, daß Nicolai, — der übrigens ein ebenso geschick*
ter, wie eifriger Sammler war® — dem W^ortlaut der alten Vor*
lagen nicht mit philologischer Treue folgte und auch ein Lied ver*
änderte, um eine Gelegenheit zu einem polemischen Hieb wahr*
feine Herrchen ohne Ahnung vom Volksleben, sagt Boie: »Bürger hat die Volks*
lieder studiert wie wenig Deutsche und hat gelebt mit dem, was wir\'olk nennen«.
Zur Fortsetzung der Sammlung erbietet Boie sich, Beiträge zu sammeln und bei?
zusteuern; er habe auch im 2. Teil des Almanachs mehr als ein Stück gefunden,
das ihm Vergnügen gemacht habe.
' Merck an Nicolai »Dez. 76« = Wagner III, 145.
' Von und an Herder I, 58.
ä a. a. O. S. 48.
' 24. VIII. 72, 2. III. 73, 18. III. 73 (Hoffmann S. 82, 92, 98).
'■ Göckingk S. 95; Parthey, Jugenderinnerungen Berlin 1907, 1, 4.
* Zu den von Ellinger, Lohre und Bolte angeführten Zeugnissen füge ich noch die
bisher meines Wissens unbekannt gebliebenen hinzu: Biedermann an Nicolai 26.
XI.77NN.,v.Bretschneider 21.111.76, 14. MI. 76, 12.Xi.76 und 14.111.77 NN.
und Buchholz aus Weimar 31. X. 76 und 1. XII. 76 NN. Buchholz hat die beiden
übersandten Lieder von »Madame Reinhart, einer Sängerin« und »von Herrn
Kapellmeister Wolff« erhalten. Über Uz' Bemühungen für d. Almanach vgl. hier
Anhang, S. 336 f.
292
zunehmend — Worin bestand denn nun aber diese positive Ten*
denz Nicolais? — Eine Rezension Raspes in der Weißeschen Biblio*
thek'^ und die schon erwälinte Biestersche Rezension des Nicolai*
sehen Almanachs geben uns einen Wink. Raspe hält die Percysche
Sammlung für wertvoll, weil sie über jene »romantischen Zeiten«
aufkläre und weil sie die »wahre Natur und Würde der Romanze«
aufzeige; und Biester rühmte als das Verdienst der echten Volks*
lieder: »sie helfen den Geist der Nation charakterisieren; sie sind
wichtig in Absicht der Sprache und Geschichte der Literatur«. Der
hier ausgesprochene kulturhistorische Standpunkt gegenüber den
Volksliedern ist auch der Nicolaische. Das Rudiment der alten Völ*
ker, der alten Deutschen, mitten unter uns, die Unmündigen und
' Lied XV des Almanachs, dem Nicolai dann die Bemerkung anfügte: »Solt ob
disem Reyen schir wenen, die üben Alten betten unnder Gauch unndt Geck
verstanden, wz seit kurtzem Genye unndt Original heißt. Treiben solche Genyes
eyn Fassnachtswesen, dz man wol seen möcht s' mögen dem Kramer Fürwitz
weydlich inn Kram griffen haben« (Neudruck S. 34). Die Schlußverse mit der
Anspielung auf den Schluß von Goethes »Hans Sachs poetische Sendung« (»Ein
Eichenkranz, ewig jung belaubt, den setzt die Nachwelt ihm aufs Haupt«) heißen
in der von Nicolai geänderten Fassung:
»Eyn Eichenlaub mit Stro durchschnurt
Mit Schellen feyn umwunden
Gebührt dem Gauch, der Geuche fürt
In diesen Fassnachts^Stunden«
Die Vorrede zum Almanach spöttelte ironisch über »Meyster Hanns Sachs, wol
eyn Vater aller Teutscher Poeterey«; war es nicht auch Spott gegen Goethens
Wiederaufnahme des Hans Sachs, wenn Nicolai dem Leineweber Wunderlich
den Schuster Seuberlich entgegenstellte? — Was soll es übrigens heißen, wenn
EUinger (S. IX) sagt, Nicolai habe von allen ihm zu Gebote stehenden Versionen
der Volkslieder die schlechtesten herausgesucht; das setzt doch voraus, daß Ni*
colai die richtige Einsicht in das wahrhaft Volksliedmäßige der Volkslieder hätte
haben müssen! Ebensowenig besagt im Grunde Cleves Behauptung (a.a.O.S.2I),
daß Nicolai, um sein Unternehmen »nicht gar zu gehaltlos werden zu lassen«,
sich genötigt gesehen habe, dem Volkslied theoretisch und praktisch einen ge*
wissen Wert zuzugestehen — er hätte eben die Gehaltlosigkeit nicht bemerken
können, wenn er diesen »gewissen Wert« nicht von vorneherein gefühlt hätte.
' Neue BibHothek d.sch.W. u. fr. K., Leipzig 1765 I, 176 und 1766 II, S. 54ff.,
insbesondere 88 f. Die .tragischen' und .historischen' werden von den ,roman?
tischen' Stücken getrennt, und diese als Beigabe betrachtet; in der Erwartung
eines deutschen Percy heißt es: »wie viel würde die Historie der deutschen
Dichtkunst gewinnen« . . . !
293
Ungebildeten, ist ein Hilfsmittel zur Erkenntnis der Vergangenheit
des Volkes; und die Volkslieder, die heute vom Volk gesungen
werden, sind wichtig als Ausdruck der Lage und der Stimmung des
niederen Volkes. »Es tut mich sehr freuen — heißt es in der Vorrede
zum zweiten Jahrgang des Almanachs — eines wandernden Gesellen
mit dem Ränzel auf dem Rücken, der ein Lied singt nach alter Weise,
das ihm kürze den Weg und strecke die müden Füße. Solche wackere
Gesellen verachte ich mitnichten, will ja der Lieder mehr mitteilen,
die ja nottun . . . Sein sie gut oder schlecht, genug sie sind echt.«
Am Schluß der Vorrede zum ersten Jahrgang des Almanachs er:=
zählt Nicolai die fingierten Lebensschicksale Gabriel Wunderlichs
und läßt bemerkenswerterweise den Volksliedersänger an den ge*
lehrten Dichtergesellschaften — der Fruchtbringenden, wie es in
naivem Anachronismus heißt — zugrunde gehen. Er hat damit das
andere, ihm ebenso widerwärtige Extrem angedeutet: die Dichtung
als Erzeugnis der wenigen Auserwählten, als Mittel der Ergötzung
eines sozial fixierten Kreises. Der doppelte Gegensatz Nicolais
gegen die aristokratische Tendenz der Klopstockschen Gelehrten*
republick (s. o. S. 81) und das Bürgersche PopularitätsideaP ist hier
allegorisch umschrieben. Dichtung ist für Nicolai kein Erzeugnis
der frei schaffenden Individualität, aber auch kein Erzeugnis des
populus, in dem die Individualität nicht ausgebildet wird oder ver*
schwindet. Die Gesellschaft ist für Nicolai der Boden, auf dem
beides ausgeglichen wird, die Gesellschaft, deren Gliederung die
Verschiedenheit der dichterischen Formen entspricht und vor allem
die Zweigliederung in eine naiv*ungebildete Kunstübung und in
eine solche der Gebildeten. »Und acht ich,« heißt's im Almanach,
* Der Gegensatz spiegelt sich in einer Kontroverse Brückner - Voß wieder:
Brückner meint: »Ist's nicht des Dichters Pflicht, sich alle mögliche Mühe zu
geben, für die meisten Leser verständlich u. leicht zu sein? Laß uns immerhin
kleiner sein, wenn wir nur nützlicher sind ; das ist eigentlich allein wahre Größe«,
mit ausdrücklichem Bezug auf die Geniebewegung (Briefe an Voß, ed. Abraham
Voß l, 183). Voß verweist ihn auf das, »was Klopstock in der Republik darüber
sagt. Der Dichter, der nur Eine große Seele, die wieder wirken kann, stark rührt,
tut mehr als der, der den ganzen Mittelstand in eine dumme Andacht einschläfert«,
Simplizität des Ausdrucks dürfe nicht auf Kosten der Originalität des Inhalts
gehen. (An Brückner 17. XI. 74 ebenda.) Auch Bürgers Popularitätsideal nahm
die »hirnlose Mittelklasse« aus.
294
»es werde jedes Ding bleiben in seiner Art und damit auch Volks?
lieder Lieder fürs Volk und gelehrte Poeterei eine Poeterei für ge*
lehrte Leute«:^ So hat das Volkslied seine bestimmte Funktion für
die Entwicklung der Dichtung — aber auch nur eine Funktion;
dem Bürgerschen Satz, daß die homerischen Epen den Griechen
waren, was unserem Volk die Volkslieder sein sollten und könnten^,
widerspricht Nicolai entschieden — freilich mit dem wirklich
borniert mißverstehenden Einwand, daß schlechten Dank ernten
würde, wer die Ilias oder Odyssee nach Volksliederart übertragen
wollte. — Diese Stellung Nicolais wird noch deutlicher, wenn wir
sie an den analogen gegensätzlichen Bestrebungen auf sprachlichem
Gebiet messen. Die Verfechter des Popularitätsideals und der Volks«
poesie traten für die »natürliche« Sprache des Volks in seinen Mund*
arten ein. Nicolai aber vertrat, wie wir uns mehrfach^ vergegenwär»
tigten, das Ideal einer nicht nur geschriebenen, sondern auch ge«
sprochenen hochdeutschen Einheitssprache, und gerade die Jungen
' Erwin Kirchers Behauptung (a. a. O. S. 45), der Almanach richte sich gegen
Herders »romantischen Dualismus« (!) von Natur* und Kunstpoesie — eine Be«
hauptung, die mir übrigens um so unverständHcher ist, als Kircher selbst fest*
stellt, daß bei Herder, im Gegensatz zu Bürger, der »ein friedliches Neben*
einander gelten lasse«, Natur« und Kunstpoesie zeitlich und psychologisch aus*
einander hervorgehen — wird durch diesen Satz, der in mehrfachen Varia*
tionen wiederkehrt, widerlegt. Nicolais satirische Unterscheidung zwischen der
alten Schuhmacherkunst — wo der Schuh »auf 'n ersten Schnitt, frei, aus innerem
Drang« zugeschnitten ward, so daß über dem nackten Fuß »der lebendige Odem
freier Luft webte und wehete«, — und der neuen, — wo die Schuhe »recht schick*
lieh« hergestellt wurden, »so daß die Füße sich quetschten« — ist nichts weiter
als Spott gegen die übertriebene Konsequenz der Volksliedtheorie; sie richtet
sich aber keinesfalls gegen die Trennung von Kunstpoesie und Naturpoesie an
sich, die Nicolai so gut forderte wie Mendelssohn in seiner oben (S. 173, Anm. 6)
erwähnten Rezension der Herderschen Fragmente. Gewiß hat Herder beides theo*
retisch in einer Weise unterschieden, die von Nicolais Unterscheidung sehr weit
entfernt ist und so, daß beides völlig neu begründet wurde. Aber Nicolai hat sich
gegen das »ä la modische Zwittergemengsel« Bürgers gewehrt, der Kunstpoesie
(»Versmacherkunst«) nur notgedrungen überhaupt als existenzberechtigt zugab.
^ Diese Bürgerschen Sätze erscheinen dann wiederum vergröbert — wenn man
Herder dagegenhält — bei Voß: »Was braucht's schöner Natur! Der Schotte
Ossian ist ein größerer Dichter als der Jonier Homer. Und Batteux ist ein Narr«
usw. (An Brückner 20. III. 75 = Briefe von und an Voß ed. Abraham Voß 1, 191 ;
von Voß 12.VIII. 76 ebenda etwas modifiziert.)
' Vgl. insbes. oben S. 47, und die Kontroversen mit Hamann und Herder.
295
verspottete er oft wegen ihres ausgiebigen Gebrauchs von Dialekt*
formen und AVorten. Gleichwohl ist er, der (im 125. Literaturbrief)
die Provinzialidiotismen aus einem Deutschen Wörterbuch ver*
bannt wissen will, da wo er die Sprache nicht als Mittel der Kunst
und nicht als Funktion der Gesellschaft betrachtet, sondern als
kulturhistorisches und ^psychologisches Objekt, ein eifriger, liebe*
voller Sammler mundartlicher Formen und Worte: seine Reise*
beschreibung, das Werk, in dem sein kulturhistorischer Standpunkt
sich am reinsten darstellt, enthält nicht nur ausgiebige Sammlungen
bayrischer und österreichischer Dialektformen ^ sondern sogar den
— an den damaligen Bemühungen gemessen: außerordentlich viel*
seitigen und genauen — »Versuch eines schwäbischen Idiotikon«^.
Er erhofft sich hier »von der Kenntnis der provinziellen Dialekte
einen großen Vorrat von brauchbaren Wörtern, um Begriffe zu be*
zeichnen, für die wir in der allgemeinen Sprache keine Benennungen
haben«; aber »sie verhilft uns auch zu einem philosophischen
Blick in die Bildung der Sprache« und ihre Entwicklung,
und als Mittel zur Erkenntnis des Charakters und der Sitten steht
die Mundart ihm höher als die Schriftsprache. Freilich erkennen
wir hier in seiner Begründung dieses Standpunktes eine — Her*
dersche Reminiszenz^; aber die Tatsache steht fest und erhellt die
Tendenz seines Almanaches, daß er neben der Sprache der Bildung
die »Volks«sprache der Sammlung und Pflege für würdig erachtet,
wie neben der Kunstpoesie die »Volkspoesie«, die freilich — wie
die Volksprache nicht an sich, sondern nur in der Beziehung auf
die Sprache der Bildung Gültigkeit und Wert hat — nicht zum
absoluten ästhetischen Wert erhoben werden darf.
Von diesem Standpunkt aus, der die Dichtung als Erzeugnis und
Objekt der Gesellschaft, die sogenannte Volkspoesie als Funktion
und als Mittel der Dichtung auffaßt, hat Nicolai auch die Polemik
geführt. Von hier aus zielte er besonders gegen diejenigen Sätze der
Herderschen Konzeption und der Bürgerschen Ausführung, die
' Reisebeschreibung V. Beilage XIV, S. 70ff. und VI, S. 780 ff.
■ Ressebeschreibung IX, Beilage VIII, S. 113 ff.
^ Insbesondere in dem Satz: die Schriftsprache »wird durch Kultur nach und
nach so glatt, so charakter? und gepräglos, daß sie, wie alte gangbare Scheide^
münze . . . nicht nur ihre Rauhheit, sondern mit derselben auch ihre unterscheid
dende Eigenheit verliert« (a. a. O. S. 113).
296
vom Genie« und Originalgedanken getragen waren. Ausflüsse des
Geniegedankens zeigten sich bei Herder vorwiegend in der ge*
schichtsphilosophischen Konstruktion, bei Bürger in der Polemik.
Und Nicolai griff die Polemik auf. Es kommt uns auch hier, so
wenig wie bei den »Freuden«, nicht darauf an, den Witz, mit
dem Nicolai »die Genies« zu treffen suchte, als solchen zu charak*
terisieren — zumal Minor, Cleve und Ellinger sich hierum bereits
bemüht haben — sondern dasjenige, was er ausdrücken sollte. Und
hier zeigt sich wiederum der Standpunkt der »Freuden« — bei
dem wir an Mendelssohns Vorwurf gegen Rousseau erinnerten, daß
nämlich seine Kenntnis des menschlichen Herzens »mehr Spekula«
tivisch als pragmatisch sei« — wenn Nicolai den Jungen den Wider«
Spruch zwischen ihrem Wollen und ihrem Sein vorhält. Wer Hand«
werksburschenlieder machen und sie rechtgenießen will, muß wahren
Handwerksburschen sinn haben, muß leben wie die Handwerks«
burschen, muß mit ihnen leben, darf nicht ein Wohlleben führen
wie die »Genies«. »Es muß traun ganz getan sein oder muß gar
unterbleiben.« Entweder, ruft er ihnen zu, bleibt vornehme und ge«
lehrte Leute; dann dichtet auch für solche. Oder dichtet für Hand«
werksburschen: dann lebt auch wirklich mit ihnen, sonst wird's nur
»alamodisch Zwittergemengsel«. Entweder ist die Volksliedtheorie
ad absurdum geführt an dem bestehenden Verhältnis von Dichtung
und Gesellschaft; oder der Originalitätsgedanke an der Volkslied«
theorie. Denn die tieferen Zusammenhänge zwischen Originalge«
danken und der (Herderschen) Volksliedtheorie hat Nicolai offen«
bar nicht eingesehen, weder in ihrer objektiven Prägung — »je älter,
desto lebendiger, desto kühner und werfender« — noch in der sub«
jektiven: in der Analogisierung der dichterischen Konzeption mit
der Schaffensweise des Volksliedes. Der Rousseauischen Färbung
dieser Zusammenhänge bei Bürger aber widersprach Nicolai. In
seinem späteren Roman vom »Dicken Mann« ergreift den Helden
im Überschwang seiner Abneigung gegen die Gesellschaft »ein ganz
enthusiastischer Trieb zum Landleben«; er wird Dorfschulmeister,
bringt sein überkultiviertes und empfindliches Wesen in die Dorf«
schule hinein und scheitert, nachdem er allerlei Unheil damit ange«
richtet hat^ Das klingt wie ein Nachhall seiner Polemik gegen die
' »Dicker Mann« II, Kap. 26, S. 74 ff.
297
Volksliedverfechter. Wieder muß Johann Georg Jacobi und sein
»tugendsames Fräulein Iris«^ herhalten, und auch Lenz mag von
diesem Vorwurf mit getroffen sein'^. »'s ist eitel Mummerey«, wenn
sie sich für »grobe Knollen« ausgeben; im Grunde wollen sie auch
nur »feinen Damen neue Liedlein vormachen«; »'s sind doch nur
Versemacher«. Das »Zurück zur Natur« ist nur eine Form der
Ziererei und Überkultiviertheit, die sie nicht ablegen können. »Die
äußere Form tut's aber wahrlich nicht. Kleid du deine alamo*
dischen Gedanken in Form eines alten Volksreihen, so
bleibt's doch ewig ein alamodischer Vers.« Sie zu bekehren,
hat der zweite Jahrgang des Almanachs denn auch aufgegeben:
»was hilft's, ob der Äff in Spiegel seh!' er bleibt doch ein Äff;« sein
Hauptzweck ist die Fortsetzung der Sammlung selbst.
Während Nicolai aber die Polemik aufgeben zu können glaubte,
und vornehmlich im zweiten Jahrgang dem positiven Zweck des
Almanachs unbekümmert um alle Einsprache diente, sah Herder
sich veranlaßt, seine Bemühungen um das Volkslied mit Rücksicht
auf Nicolais Spott — diese »Schüssel voll Schlamm«, wie er den
Almanach nannte^ — einzuschränken. Er gab zwar 1777 den Aufsatz
»Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dicht*
kunst« heraus, in dem er die Fäden des Ossianaufsatzes weiter*
spann, aber bei der eigentlichen Sammlung schrieb er sich vor* »den
Nicolai und Konsorten nichts zu schmähen zu geben,« und bei den
deutschen Stücken »leise zu gehen«. In einem späteren Brief an
Kennedy^ bedauert Herder, daß er wegen der Bemühungen um
das Volkslied zu denjenigen gezählt würde, die mit ihrer Ori«
ginalitätssucht die Poesie verdürben. »Die Volkslieder,« schränkt
er seinen früheren Standpunkt ein, »sind nicht herausgegeben, um
Muster zu werden und gerade nicht in dem, worin Bürger, der AI*
manach usw. die Volksdichteley setzen, die mich von Herzen mit
ihrem Eia Popeia ärgern;« er habe nur »Goldkörner aus ihrem Un*
' Über den Grund vgl. Ellinger S. X\1I, Anm. 2 zu Bd. V (1776), S. 131 f. der
»Iris«.
- Man riet damals »sonderbar genug« auch auf Klopstock undVoß (Boie an
Bürger 25. X. 76 = Strodtmann I, 348).
' Suphan 9, 530.
' An Gleim = Von und an Herder 1, 51.
^ 27. XII. 79 = Viertelj. f. Litgesch. II (1889). S. 144f.
298
rat ziehen« wollen, aber nicht »das Rauhe und Unpassende aus sol*
chen Zeiten wiederbringen wollen«. Zweierlei ist an dieser Herder*
sehen Äußerung, die freilich mit Rücksicht auf den Empfänger des
Briefes etwas gefärbt ist, für uns bemerkenswert. Wir erinnern uns,
daß Nicolai mit deutlicher Bezugnahme auf den an Ossian genähr*
ten Bardengeschmack, die »Zurückrufung von rauhen und kindi*
sehen Vergnügungen« Herder gegenüber als Aufgabe der Poesie
formuliert hatte ^; und daß er die alten Kelten (und Deutschen) als
barbarische Völker gekennzeichnet hatte, die uns wesensfremder
seien als Griechen und Römer, deren Bildung sie weit über jene
stelle. Herder hatte Nicolai hierauf nicht direkt, aber im Ossian*
aufsatz geantwortet^, und seine Ansichten leidenschaftlich abge*
lehnt. Jetzt spricht Herder vom Standpunkt des reifenden Humani*
tätsideals, für das die Begriffe Bildung und Entwicklung einen an*
deren Sinn bekommen haben. Von hier aus stellt er — und das ist
der zweite bemerkenswerte Gesichtspunkt jener Äußerung — Bür*
ger ohne weiteres neben Nicolai! Beide in Herders Augen gleich
positiv und negativ — beides Agitatoren einer »Bewegung«, die er
inspiriert hatte, die ihm aber als Bewegung die Früchte seiner Mühen
raubte.
Anders, seiner Natur und dem Charakter seiner Kundgebung
nach, verhielt sich Bürger. Auch ohne den ermunternden Zuruf von
Freunden^ hätte er gegen Nicolais Spott Einspruch erheben müssen
— das Agitatorische seiner Kundgebung mußte ihn dazu führen. Und
die Art seines Einspruchs ist für den Charakter der Bürgerschen
Kundgebung ein bemerkenswertes nachträgliches Zeugnis. Bürger
dachte nicht daran, mit einer eigenen Sammlung von Volksliedern
den Spötter zum Schweigen zu bringen. Das erst aus seinem Nach*
' An Herder 21. III. 72.
* ed. SuphanV, 164 — »wilder ungesitteter Völker? ich kann Ihre Stelle kaum
ausschreiben. So gehörte ihr Ossian ... so schlechthin zu einem wilden unge^
sitteten Volke? Und wenn jener auch alles idealisiert hätte, wer so idealisieren
konnte der war wildes Volk?« usw.
' z. B. Goeckingk, der nachmalige vertrauteste Freund Nicolais, an Bürger 15.
XI. 76 = Strodtmann 1, 362 f.: er ermuntert Bürger »Deutschlands hochstudiertem
Lustigmacher . . angesichts des ehrsamen Publici . . die Hosen, die bunten Hosen
abzuziehen«; er wolle selbst Hand mit ans Werk legen. Ähnlich Boie an Bürger
1. XI. 76 = Strodtmann I, 352.
299
laß veröffentlichte Stück »Zur Beherzigung an die Philosophun*
culos«.ist eine einseitige Fortsetzung seiner agitatorischen Polemik,
in ihrem wesentlichsten Gedankenkern freilich nicht mehr auf Nico*
lais Almanach bezüglich. Die »Rache«, die er Nicolai eigentlich zu*
dachte, ist nicht ausgeführt worden. Die umgearbeitete »Europa«,
die er mit — recht allgemein gehaltenen und im Grunde nichts be#
sagenden — Invektiven gegen Nicolai »spickte« \ hat Boie mit Rück*
sieht auf sein freundschaftliches Verhältnis zu Nicolai nicht abge*
druckt". Ein anderer Racheplan, den er Boie andeutet^, ist über*
haupt nicht ausgeführt; denn bald bekennt er*: »Seuberlich, Seuber*
lieh, du bist morgens und abends mein Memento, das mich dahin
treiben wird, wohin vielleicht aller Wind des Lobes mich nicht ge*
trieben hätte.« So besann er sich erst jetzt darauf, dem Spötter Nico*
lai sein Werk als wirksamste Antwort entgegenzusetzen, »mit Wort
und Tat zu zeigen, was echte, lebendige V^olkspoesie sei«. — Wäh*
rend Bürgers Antwort an Nicolai im wesentlichen in persönlicher
Abneigung und persönlichen Angriffen bestand — erst später hat
er sich etwas bekehrt, da Boie und Biester Nicolai nicht fallen lie*
ßen^ — hat Nicolai von jeder Fortsetzung des Streites besonders
nach der persönlichen Seite hin abgesehen. Bürgers Bild stand vor
' Bürger an Sprickmann 26. XII. 76 = Strodtmann I, 382 f., »den Spaßvogel unter
der Stechbahn hab ich einstweilen ein bissei gezwiebelt« usw. Übrigens wendet
Bürger sich in diesen eingeschobenen Versen auch gegen seine Nachahmer unter
den Jungen. »Doch ihr, Kunstjüngerlein!
Mögt meinen Melodeyen
Nur nicht flugs nachlalleyen
Sonst wird die Kunst gemein.
Beherzigt doch das dictum:
Cacatum non est pictum« usw.
" Boie an Bürger 29. XII. 76 = Strodtmann I, 386 (Boie rät auch später (an Bür»
ger 16.1. 78 = Strodtmann II, 211), die Ausfälle auf Nicelai aus den Ges. Gedichten
fortzulassen. •
' An Boie 28. X. 76 = Strodtm. I, 351 ; vgl. auch an Boie 5. XII. 76 = I, 373, eben*
falls auf die »Rache« bezüglich.
' 19. XII. 76 = Strodtmann I, 380.
' Biesteran Bürger 22. IX. 77 = Strodtmann II, 138; Boie 29.XII. 76 = Strodtmann I.
386. Für Bürgers persönlich gehässige Stellung gegen Nicolai vgl. seine Äuikrung
zu Boie (7. XII. 78): er gönne Nicolai von Herzen »die Anatomie«, die Wieland
mit dem »Kadaver Bunkel« angestellt habe. Vgl. auch Bürger an Boie 1 1. VIII. 77
= Strodtmann II, 112.
300
dem 35. Band der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (1778); eine
etwas spätere Rezension von Bürgers Gesammelten Gedichten in
der Allgemeinen Deutschen Bibliothek^ sagte von ihnen, sie seien
»so wahr, so stark, so männlich, so original, wie sie selten in unse*
rem lieben deutschen Vaterlande erscheinen«; ein Lob, das dann
Eschenburg allerdings wieder abtrugt. In seinem Kampf gegen den
Xenienalmanach hat Nicolai Bürger als Eideshelfer gegen Goethe
aufgerufen \ ohne seine ursprüngliche Stellungnahme aufzugeben:
noch auf dem »Allgemeinen Philosophischen Reichstag« im »Sem*
pronius Gundibert«* läßt er den kritisch^ästhetischen Kunstrichter
— Schlegelscher Observanz! — von dem »berühmten Ossian« ab?
stammen. Möglicherweise gab ihm der über die Volksmärchen aus*
brechende Streit mit Tieck in dieser späteren Zeit Gelegenheit, seine
Ablehnung der Volksliedbewegung nachträglich zu befestigen.
Daß Biester und etwas später Göckingk, wie schließlich auch
Voß, aus Freunden und Helfern Bürgers seine vertrauten Freunde
wurden, hat Nicolai sicher auch aus dem Gefühl seines Gegensatzes
zU Bürger begrüßt. Aber Boie hatte Recht, wenn er Bürger beruhi*
gend und Nicolais »wirklich schätzbare Seite« hervorhebend, doch
die zunehmende Isolierung Nicolais feststellte^: »Unter den ersten
der Nation ist Mendelssohn sein einziger Freund«.
' Anhang z. 25. '36. Bd., 2, 784; sie ist von dem Pastor Noodt inWesenberg ver=
faßt, wie.aus dessen Brief vom 7. XI. 88 NN. hervorgeht. — Nicolais Standpunkt
zu Bürgers Übersetzertätigkeit — die dann im Streit mitVol^ eine Rolle spielt —
ist angedeutet in Boies Antwort (vom 8. III. 77 NN.) zu einem verlorenen Brief
Nicolais: »Ich sähe, wie Sie, lieber, daß er seine Kraft zu einem Originalwerk
brauchte, aber — «
- Rezension des Göttinger Musenalmanachs 1785: A D Bibliothek 62,2,397.
»Herr Bürger scheint noch immer an einer recht derben oder vielmehr plumpen
Sprache sein Wohlbehagen zu finden und seiner Lesewelt eben diesen Kraft=
geschmack zuzutrauen.«
* »Anhang z. Schillers Musenalmanach« S. 160ff. »Bürger, der als Dichter mit
Goethen gewiß in eben derselben Klasse steht« usw.; er erzählt dann die Aneks
dote von Bürgers Besuch bei Goethe und seiner kalten Aufnahme durch den
Minister Goethe, und weist auf das Bürgersche Epigramm hin: »Mich drängt es,
in ein Haus zu gehn, drin wohnt ein Künstler und Minister« usw. Vgl. hierzu
Nicolai an L. Ch. Althof 9. XII. 1796 = Strodtmann 4. 268 und 271.
* S. 173.
' Boie an Bürger II.XII.78 = Strodtmann 11,329.
301
J. H. VOSS'»VERHÖRE« GEGEN NICOLAI
In seinem Brief vom 15. VI. 79 ermuntert Gebier Nicolai zu einer
»neuen Satire über den neuesten Geschmack oder vielmehr Unsinn,
der alles Gute, welches die vortrefflichen Literaturbriefe gestiftet
haben, wieder umwirft und selbst die Sprache verderbt«. Nicolai
bemerkt dazu am Rande : »Fast sollte ich glauben, dieser Geschmack
wäre so gefallen, daß er eine Satire nicht mehr wert ist.<ir Eine starke
Müdigkeit Nicolais in seinem Kampf gegen die Jungen ist in dieser
Zeit allgemein bemerkbar; er ist um so weniger zur Fortsetzung des
Streites geneigt, als er durch seine historischen Arbeiten vollkom*
men in Anspruch genommen ist. Schon das Erscheinen des zweiten
Almanachjahrgangs verzögert sich deshalb : »Da ich jetzt in Archiv*
Urkunden nach Männern suche, die längst vergessen sind und
nach Häusern, welche längst umgerissen worden, so habe ich noch
in einigen Monaten nicht Zeit an Volkslieder, Genies und andere
solche ungelehrte Sachen zu denkend« Biester bemerkt, daß in Ni«
colais Kreis nicht nur die gegenwärtige, sondern alle Poesie »nicht
sehr in Ehren gehalten« wird'-. Zu der inneren Abwendung von
der Poesie zu den Studien, die »recht eigentlich den Menschen be#
treffen«, trat jetzt auch die äußere. Und in dieser Situation traf ihn
der schärfste Angriff aus dem Kreise der Jungen: die Voßschen
»Verhöre« im Deutschen Museum^.
An diesem Punkt des Verhältnisses zum Sturm und Drang er#
geben sich zwar keine neuen und bewegenden Gegensätze mehr.
Voß' Verhöre stellen vielmehr in jeder Weise einen Abschluß dar:
eine Zusammenfassung aller früher schon aktiv gewordenen Gegen*
sätze, aber mit einer so scharfen polemischen Zuspitzung gegen
das eigentliche Lebenswerk Nicolais, daß er, in seiner Antwort
wie in anderen zeitlich, sachlich oder psychologisch sich anschlie*
ßenden Kundgebungen, zu einer Rechtfertigung seiner Existenz
gedrängt wird, die sich selbst nicht mehr schlechthin voraussetzen
* Nie. an Hamann 11. X. 77 = O. Hoffmann, Vierteljahrsschrift 1, 133.
^ Biester an Bürger (über Nicolai und J. J. Engel) 17. IX. 77 = Strodtmann II, 134.
'" Deutsches xMuseum 1779, II (August), 15872; 1780,1 (März), 264 73; 1780,11
(November) 446/60; 1781, I (März und April), 158 ff., 327 ff.
302
kann, sondern zur Besinnung über sich selbst geführt, sich historisch
nehmen muß.
Dabei hat Nicolai die Voßschen Verhöre keineswegs als Ausfluß
des gegensätzlichen Geistes in allen Elementen empfunden, und
wir werden uns hüten müssen, die innere, sachliche Beziehung der
Voßschen Streitschriften zu den wesentlichsten Kundgebungen des
Sturms und Drangs zu überschätzen: einmal wegen der besonderen
dichterischen und menschlichen Natur des Homerübersetzers und
Idyllendichters, zweitens wegen der Besonderheit des Anlasses
und schließlich auch mit Rücksicht darauf, daß Voß' Loslösungs*
prozeß vom Sturm und Drang, von Klopstock und Fritz Stoll=
berg insbesondere, schon um diese Zeit begonnen hat; bereits
nach einem Jahrzehnt trat Voß in das Lager seines Gegners Ni*
colai über. Nicolai hat jenen inneren sachlichen Zusammenhang
weniger bemerkt als vielmehr die äußeren Beziehungen zu Klop:«
stock, Herder, Goethe, Bürger, die der Voßschen Polemik Stütze
gaben; er empfand hier wiederum mehr die Tatsache seiner
Gegensätzlichkeit als deren wirksame Momente, die geistigen An=
triebe.
In der »zuverlässigen Nachricht von einigen nahen Verwandten
des Hrn. Magister Sebaldus Nothanker« (am Schluß des zweiten
Bandes) hieß es von einem ungeratenen Sohne des Sebaldus, er
habe »zuletzt bei einer kleinen gelehrten Republik, auf einer siehe*
ren deutschen Universität, welche ihre Landtage, in Ermangelung
eines Eichenhains, in einem Kaffeegarten vor dem Thore hielt«, als
»Nasenrümpfer« Anstellung gefunden \ Das galt unzweifelhaft dem
Göttinger Hainbund, wie schon seine Angehörigen bemerkten-,
den »Jünglingen, die fein lernen und forschen« sollten, ehe sie sich
zum Richter über andere aufwerfen, wie die Allgemeine Deutsche
Bibliothek es insbesondere Fritz Stollberg empfahl, der im Deut*
sehen Museum aus Lavaters Physiognomik hitzige Folgerungen
' Seb.Noth. 11,263.
■ Vgl. die (zumeist ohne Datum abgedruckten) Briefe des jüngeren Boie bei
H. Uhde. In Göttingen vor 100 Jahren = Im Neuen Reich, 1875, S. 283. Rudolf
Boie berichtet dort auch über die Stellung der Göttinger Professoren zum Hain?
bund ; er stellt fest, daß sie in ihrem Kreise unwahre, karikierende Anekdoten
über den Hainbund und seine Sitzungen verbreiten. Vgl. auch Voßbriefe I, 175
und I, 247.
503
gegen das Wolffsche System gezogen hattet Schon 1774 kennzeich*
net Voß es als eine der Absichten des Hainbundes, mit Klopstocks
Billigung, »die Schemel der Ausrufer, wenn sie zu sehr und zu un*
verschämt schreien, zu stürzen«-; aber man beschränkte sich in dem
Göttinger Freundschaftskreis, in dem die produktiven Talente und
Interessen durchaus überwogen, auf die Verbrennung Wielandscher
Romane und gelegentliche derbe Aussprachen über die deutschen
Kunstrichter; von Nicolai selbst spricht Voß noch im ersten »Ver*
hör« mit unverkennbarer Achtung, die wohl auf Boies Einfluß ge*
gründet ist. Erst fünf Jahre später, als sich der Hainbund schon
längst aufgelöst hat, setzt er seine Absicht gegen eine Köhlersche
Rezension der Allgemeinen Deutschen Bibliothek^, eine Verglei*
chung der Bodmerschen Odyssee* und Iliasübersetzung mit der
Stollbergschen Iliasübersetzung, in die Tat um. Hier wurde seine
eigene Sache verhandelt: denn in dem Urteil des Rezensenten, der
die Bodmersche Übersetzung über die Stollbergsche stellte, sah er
eine Ablehnung auch seiner Übersetzertätigkeit voraus; seine Hoff*
nung, durch die Bekanntmachung einiger Proben aus der verdeutsch*
ten Odyssee eine genügende Anzahl von Subskribenten zusammen*
zubringen, schien gescheitert, — und mußte sie nicht bei dem herr*
sehenden kritischen Verfahren scheitern? Er gab ihm jedenfalls die
Schuld, wenn das Publikum so wenig Bereitwilligkeit für seine
Odyssee zeigte; »der Kranz des Übersetzers« schien ihm eine be*
sonders schwer zu erringende Würde, die besonderen Schutzes be*
durfte. Der Rezensent nannte Bürgers Probe einer Iliasübersetzung
in Jamben einen mißglückten Versuch : und Voß, der die Köhlersche
Behauptung und Begründung keineswegs widerlegen mochte, nahm
Bürger sogleich ärgerlich in Schutz. Aber mehr des Persönlichen: war
sein Eintreten gegen das Köhlersche Gesamturteil, auch wenn Voß
sich weigerte, den Wert beider Übersetzungen gegeneinander abzu*
wägen, nicht auch ein Freundschaftsdienst für Fritz Stollberg, der
ihm die Erträgnisse seiner Übersetzung freigebig zugewiesen hatte*?
' Vgl. auch Eschenburgs Sticheleien gegen die Göttinger Almanachsdichter, A D
Bibhothek 25, 216.
' Voß an Brückner 17. XL 74 = Abraham Voß 1, 178.
' Allg. Dtsch. Bibliothek 37, 1,1310".
* Diese Vermutung sprach Nicolai 1 1. X. 79 gegen Uz aus : s. u. S. 340.
304
So erklärt sich der verbitterte und gereizte, ja persönlich gehässige
Ton der Voßschen Verhöre. Es ist die Manier des Lessingschen
» Vademecum« in ihnen — und Voß hat sie gründlich nachgeahmt — ,
doch ohne den Lessing, der dahinter steckte, und der Voß unheim«
lieh war; so mag sich auch der verhältnismäßig geringe sachliche
Wert besonders der ersten beiden Verhöre erklären. Klopstock hatte
sich mit Gramer in dem »Gespräch, ob ein Skribent ungegründeten,
obgleich scheinbaren Kritiken antworten müsse« \ nach vorsichtig
unterscheidenden, auf die aristokratische Würde des Autors drin«
genden Erörterungen dahin entschieden: »daß ein guter Autor bei
gewissen Angriffen nicht ganz schweigen soll, dawider habe ich
weiter nichts, als daß er die Mitbrüder des Kritici dadurch reizt,
ihre Lanze auch zu versuchen, und daß also des Geschwätzes immer
mehr wird. Da unterdeß die Kritik in dem angeführten Falle wirk«
lieh mehr schaden könnte, so gehört er mit unter die Ausnahmen,
die ich von der allgemeinen Regel mache. Eine solche Antwort
müßte aber sehr kurz sein, und den Leser durch die Berührung
einiger Einwürfe zu Schlüssen auf die übrigen bloß veranlassen«.
Voß aber äußert sich, auf Vorhaltungen Brückners, ohne Besinnung^:
»Du verwirfst das Schimpfen durchaus? Ich denke mit Ein«
schränkungen! Bloß gescholten und geradezu an den Sünder selbst
fruchtet freilich nichts; aber voll Sachen, im Enthusiasmus eines
edlen Unwillens und in Rücksicht auf die Leser, die man warnen will ;
warum sollte ich da den stärksten Ausdruck fahren lassen? . . . Zürnt
nicht oft die Heilige Schrift mit Schimpfwörtern?« Hier steigert er
sich förmlich in einen Enthusiasmus des Schimpfens, der seiner
Sache abträglich wurde. Voß übernimmt sich in der Polemik: der
Rezensent zeige seine mangelnde Sachkenntnis schon ohne weiteres,
indem er Homer die Bathrochomyomachie und die Hymnen ab«
spreche'^ — eine unnötige Belastung seiner Polemik; konnte Voß
annehmen, mit der Erörterung dieser Frage vor dem Publikum des
Museum, und vor allem mit einer Erörterung von der Art, wie er
' Zuerst erschienen im »Nordischen Aufseher«, Bd. 3, 129.
- Voß an Brückner 17.X.73 = Abrah.Voß I, 150.
' Im ersten Verhör läßt er die Frage noch unentschieden und greift nur die
Köhlersche Begründung an; im zweiten wird die Behauptung an sich Gegen=
stand seiner Polemik.
20 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 305
sie zu diesem Punkte gab, etwas zur Reinigung der Kritik beizu*
tragen? Und an anderer Stelle überspitzte er die Polemik höchst
eigensinnig, bis sich sein Standpunkt förmlich ins Gegenteil ver*
kehrte; so in der Anmerkung zu der Köhlerschen Übersetzungs =
Verbesserung von (megeloio^ — »Homer nennt auch das Mittellän*
dische Meer .unendlich' und wer Geographie versteht, wird wissen,
daß er nur ,groß' sagen wollte« — wo sich, entgegen der Tendenz
seines Tadels, doch bereits der rationale Geist zeigt, der dann in
den späteren Redaktionen der Voßsch en Übersetzung vorherrschend
wurde. Und ähnlich überspitzt er die Polemik an der Stelle, wo er
die Köhlersche Anmerkung zu der allegorischen Einkleidung des
6. Klopstockschen Fragments höhnisch glossiert: »das Märchen von
der Jungfrau . . . finden Sie langw eilig. Nein, Mutter Gans ihre
Fäbelchen vom Blaubart und gestiefelten Kater, die pfeifen aus
einem anderen Loch, die sind nicht allegorisch!« Um die Klop^
stocksche Allegorie zu retten, stichelt er auf die Aufnahme, die
Musäus' Volksmärchen in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek
fanden: zwanzig Jahre später standen Voß und Nicolai gemeinsam
gegen gestiefelten Kater und Blaubart Tiecks und seiner romanti*
sehen Genossen.
Unleugbar aber weist das Positive in diesen beiden ersten Ver*
hören, wie in den späteren, nach der entgegengesetzten Richtung.
So in der Gegenüberstellung der beiden Köhlerschen Urteile : Stoll*
bergs Übersetzung sei zwar »treuer und genauer«, aber Bodmers
sei »poetisch affektvoller«; dies heiße offenbar, meint Voß, sie sei
der »homerischen Begeisterung« adäquater; alsdann wäre aber
»treuer und genauer« eben nicht treu er und genauer übersetzt, und
Stollberg sei für denkende Menschen, wofern sie sich dahin ent^
scheiden, ein Stümper. Die Einfühlung in die Individualität des
Originals ist die Grundbedingung für den Übersetzer — und für
das Urteil desjenigen, der die Übersetzung rezensiert; so wenig
jener unsere durchschnittlich*tägliche Sprache oder die eines frem*
den dichterischen Musters seiner Übersetzung zugrunde legen
darf, so wenig darf der Rezensent die Übersetzung an seinen Be*
griffen aus der durchschnittlichen Ästhetik messen. Dem entspricht
auch die positive Tendenz der späteren Verhöre über die Rezen*
sionen der Klopstockschen »Fragmente über Sprache und Dicht*
306
kunst«'. Sein Verhör soll ja, wie er an Boie schreibt^ »nicht bloß
Widerlegung, sondern Mituntersuchung und Erklärung der Klop*
stockschen Grundsätze« im allgemeinen sein. Klopstock ist für Voß
der schlechthin unerreichbare Meister auf den Gebieten, die in den
Fragmenten behandelt werden; jeder ist von Klopstocks Gedanken
abhängig, auch der Rezensent, der sich die Miene gibt, die in den
Fragmenten abgehandelte Materie selbständig durchdacht zu haben.
Die Köhlersche Beurteilung mit ihrem anmaßlichen Unterfangen,
das »Wesentliche« der seit zwanzig Jahren einen Klopstock bewe*
genden Materie auf wenigen Seiten nur ausreichend wiedergeben
zu wollen, kann Voß nur als Versuch auffassen, die Klopstock-
sehen Gedanken an einem Durchschnitt zu messen, über den er er*
haben ist; das »Referat« muß eine Fälschung sein. Wie sehr Köhler
auf dieser durchschnittlichen Empirie basiert, zeigt seine wiederholte
Berufung auf das »griechische Ohr«, dem der Hexameter anders
geklungen habe als Klopstock ihn auffaßt. »Sie können ja sogar
aus der Bauart des griechischen Ohres beweisen,« spottet Voß,
»wie lang oder kurz eine Silbe ihm klingen mußte«. Er kämpft hier,
wie in semer Polemik mit Heyne, gegen die bloß antiquarische Ge*
lehrsamkeit, die nur einen toten Stoff bearbeitet, nicht auf Lebendig*
Wesentliches gerichtet ist. Wie Klopstock sich im Fragment »Von
der Darstellung« gleich zu Beginn der überflüssigen Theorien ent*
ledigt, so kämpft auch Voß gegen dieses Gemisch unzulänglicher
Empirie und dogmatischer Deduktion, das der Entfaltung des
wesenhaften Denkens hinderlich ist. Die Unterscheidung des grie=
chischen vom deutschen Hexameter trifft Klopstock wie Voß vom
' »Verhör über die beiden Ausruter i?t und l?f« usw. = Deutsches Museum 1781,
198rt. und 527 ff. Die Rezensionen der Klopstockschen Fragmente standen: A D
Bibliothek 41, 2, 338 und 42, 1, 217 ff., die erste ist Ct, die zweite £i unterzeichnet.
Beide Rezensionen sind, wie aus 42, 117 hervorgeht — der Rezensent hätte »gern
die Fortsetzung einem andern überlassen« usw. — vom selben Verfasser. Da 2t
das Zeichen von Kästner ist, bei dem in Nicolais Zeichenbuch der Vermerk steht:
»für Physik 2t«, 2t aber dasjenige von Köhler, ist wohl anzunehmen, daß beide
Rezensionen von Köhler herrühren, und daß 2t unter der zweiten Rezension
ein Druckfehler ist, der allerdings nicht berichtigt wurde und wohl auch infolge
desVoßschen Angriffs nicht berichtigt werden sollte. Voß ist wohl im Interesse
der dramatischen Darstellung seiner Verhöre gern bei der Annahme zweier Re=
zensenten geblieben und macht von ihr ausgiebigen drastischen Gebrauch.
• Voß an Boie »April 1780« = Abrah. Voß 111, 150.
20= 307
»Genie der Sprache« aus, wie Herder (im 19. Abschnitt der ersten
Sammlung seiner Fragmente) sagt; deutlicher und intensiver als
dort bei Herder wird hier die rein »grammatische« Untersuchung
von Voß abgelehnt.
Solche Ablehnung allein hätte nun freilich Nicolai, selbst wenn
sie ausdrückHch gegen ihn gerichtet gewesen wäre, kaum zu einer
entschiedenen prinzipiellen Gegenwehr veranlaßt; es war der Ton
der Polemik und ihre zwiefache Richtung gegen das Verfahren der
Allgemeinen Deutschen Bibliothek und gegen Nicolais Heraus*
geberschaft, die seine Abwehr veranlaßten^ Voß kämpfte in seinen
Verhören nicht nur gegen die Dummheit und Unwissenheit eines
Rezensenten; er nahm diesen einen als Angehörigen einer dunklen
Schar von »namenlosen Taugenichtsen«, »Schülern, Pfefferkrämern,
Leipziger Meßfabrikanten, mit einem Wort, Leuten, die nicht ein*
mal ein Lied an Phyllis zusammenreimen können«, und die sich
doch berufen fühlen, »die Werke des Genies zu beurteilen«. Der
undurchdringliche, schmutzige Mantel der Anonymität umgibt sie
schützend. Aber gleichen sie nicht einer dem andern, da sie ihr
eigenes Urteil stets durch ein »vollhalsigtes, oberrichtUches Wir«
für dasjenige einer undurchsichtigen Allgemeinheit ausgeben? Man
kann sie nicht für Gelehrte halten, da sie in den »Rezensionsfabri*
ken« nur um materieller V^orteile willen arbeiten. Und Nicolai
selbst? Im ersten Verhör ist er noch der »Meister«, der seinem
»Altgesellen« wohl einmal ein Stück überlassen habe, »ohne selbst
nachzusehen«. Nach der ersten Nicolaischen Gegenerklärung aber
heißt es, er handle mit schlechten Rezensionen, er dringe weniger
auf gute als auf rasche Arbeit; schließlich wird er als ausbeutender
Unternehmer dargestellt, dessen Frohn sich die zur Allgemeinen
Deutschen Bibliothek vereinigten Gelehrten nicht gefallen lassen
sollen. Denn jener ersten Gegenerklärung Köhlers hatte Nicolai
den Satz zugefügt — und sich in der zweiten als Verfasser dieser
Invektive bekannt — : »Hr. Voß sollte sich in Acht nehmen, daß er
nicht in Otterndorf mehr verwildere. Wer ein Geniederneuesten
Art gewesen ist, das Grobheit für Kraft hält, und wird darauf
^ Nicolais Gegenerklärungen: A D Bibliothek 59, 1, 310 Anmerkung; ebenda 40,
2, 628 und Deutsches Museum 1781, II, S. 87 95 = Allg. Dtsch. Bibliothek 45. 2,
613.
308
Rektor in einem kleinen Städtchen, läuft große Gefahr, seinen
Eigendünkel für Bewußtsein der Superiorität zu halten.« Dem*
gemäß findet sich in der Voßschen Antwort so ziemlich alles, was
die »Genies« an Spott* und Schimpfworten für Nicolai hatten; und
in Nicolais Duplik eine ungenierte »Retorsion«^ aller Anwürfe
gegen Voß selbst: wenn Nicolai mit Rezensionen handele — Voß
handele mit Übersetzungen; Voß wolle sich gewiß keinen namen*
losen Taugenichts schelten lassen und sende doch niedrige Gedichte
anonym in die Welt". »Aber Herr Vof^ meint es vielleicht so böse
nicht«: er wolle nur, daß Nicolai sein »Aufseherrecht« so anwende,
daß die Allgemeine Deutsche Bibliothek Voß und seinen Freun*
den gefälliger sei; und das sei nicht geschehen und könne nicht
geschehen. Aber neben diesem zuversichtlich polternden Ton kön*
nen wir hier schon einen anderen vernehmen: den der Selbstrecht:*
fertigung. Weit über die angegriffenen Punkte hinaus fühlt er das
Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, sein Wollen und Wesen darzu*
stellen, seine Leistungen historisch einzuordnen. Er beruft sich auf
das Urteil »des ganzen unparteiischen Publikum«, das seine Ab*
sichten und Leistungen in und mit der Allgemeinen Deutschen
Bibliothek anerkenne. Er spielt auf die Literaturbriefe an: »Sind
nicht von jeher die besten Beurteilungen von Büchern geschrieben
worden ohne die Namen der Beurteiler anzuzeigen?« Die Werke,
die am Eingang der Epoche der Aufklärung stehen, die Acta eru*
ditorum und das Journal des S^avants — sind sie nicht auch »von
namenlosen Taugenichtsen« verfaßt? »Ist der geringste Anschein
da, daß ich die Allgemeine Deutsche Bibliothek nur deswegen
herausgegeben, um damit zu handeln? Hätte ich nicht geglaubt,
Aufklärung, Freiheit zu denken, Toleranz ausbreiten zu helfen . . .,
so wäre ich ja wohl ein Tor gewesen, die besten Jahre meines Lebens
auf . . diese . . undankbare Arbeit zu wenden, . . . mit beständigem
Gleichmut unverdiente Vorwürfe zu ertragen, ... zu leiden, daß ich
dieser Beschäftigung wegen, alle eigene Plane, zu deren Aus=^
führung ich mich tüchtig fühle, unausgeführt lassen muß.« Über
Denkfreiheit und Toleranz wachen nun Voß und seine Freunde
freilich nicht; ein bissiger Seitenhieb auf die Tendenz der »Gelehr*
' wie Fichte in seiner Streitschrift diese Nicolaische Kampfesart nannte.
- Nicolai spielt hier auf eine Voßsche »Ode an einen Dukatensch « an.
309
tenrepublik« fällt, und wird bald verstärkt durch den Vorwurf, daß
Voß nicht etwa durch Gegenüberstellung seiner abweichenden An*
sieht die Wahrheit zu fördern trachte, sondern daß er seinen Geg*
ner durch »Verhöre« wegen seiner Meinungen zum »Inquisiten<t
zu machen suche und mit einem ahb^ l'qa sich über vernünftige
Gegengründe hinwegsetze. Hier ist, psychologisch genommen, der
Punkt, wo für Nicolai der Kampf gegen den Sturm und Drang (ins?
besondere gegen Klopstock und Lavater) bereits übergeht in den
Kampf gegen die mystischen und kryptojesuitischen Tendenzen,
die die folgenden Jahrzehnte seines Lebens ausfüllten. Hier zeigt
sich auch bereits die immer deutlicher hervortretende Tendenz seiner
Spätzeit zur Selbstdarstellung und *rechtfertigung. Im »Schreiben an
den Herrn Professor Lichtenberg«^ und im »Schreiben an den Herrn
Kriegsgerichtsrat Dohm«- offenbart sie sich bald darauf mit schon
recht beträchtlicher Weitschweifigkeit der Ausführung, die freilich
von der Redseligkeit der späteren Schrift »Über meine gelehrte
Bildung« erheblich übertroffen wurde; neue Freunde, neue Erfolge
und neue Kämpfe hatten sein Selbstbewußtsein wieder erstarken
lassen: »Notwehr entschuldigt Selbstlob« war das Alotto der letz*
teren Schrift; allen dreien aber — und denjenigen zahlreichen Stel*
len aller übrigen Alterschriften, worin Nicolai von sich selbst sprach
— gemeinsam ist der Versuch einer historischen Einordnung der
eigenen Existenz, bald im allgemeinen historischen Überblick über
den Wandel der Zeiten, bald in der Angliederung an prominente
Freunde, wie Lessing und Mendelssohn, bald in der Einfügung
seines Werdens, Wirkens und Wesens in eine gesellschaftlich*kul=
turell und politisch bestimmte Sphäre: das Preußen Friedrichs des
Großen.
Voß tröstete sich über die heftige Nicolaische Replik leicht mit
der Zustimmung seiner Freunde: Klopstock billigte sein Verhör
und Fritz Jacobi schloß auf dem Grunde gemeinsamer Gegner*
Schaft gegen Nicolai mit Voß Freundschaft'^. Boie erhob nachträg*
lieh Einspruch gegen Nicolais Duplik, die er aus Unparteilichkeit
' Vor Bd. XXVI von Lessings Sämtl. Schriften herausgegeben v . . . . F. Nicolai.
- = Einl. z. Reisebeschrbg.; vgl. Vorrede z. Anhg. 25.,'36. Bd. d. ADBibl.
' Vgl. Voß an Boie März 1780 ^ Abrah. Voß III, 148; vgl. auch V. an B. April
1780 = III, 150 und Fritz Jacobi an Boie: 16.XII.80.
310
und Hochachtung gegen Nicolai ungelesen ins Museum aufge*
nommen habe, mit der Bemerkung, Nicolai habe an der Sache vor*
beigeredet und die Gelegenheit lediglich zu persönlichen Angriffen
benutzt \ »Außer Rezensenten, die freilich nicht glimpflich mit mir
umgehen konnten,« schreibt Voß^ »ist Heyne der einzige, der mein
Verhör tadelt; die übrigen haben nicht nur nicht getadelt, sondern
mir sogar gedankt, daß ich einmal ein Exempel statuierte«. So
setzte er seine Polemik gegen Heyne zuversichtlich fort und nahm
Lichtenbergs Gegnerschaft in Kauf ^ Die Zustimmung Lichtenbergs,
die Nicolai erhielt*, — es ist wohl die einzige von Bedeutung —
war also beträchtlich im Wert gemindert; und bald erhielt er eine
zwar nur privat^briefliche, aber nicht minder heftige Kundgebung
Lavaters^ gegen das anonyme Rezensionswesen der Allgemeinen
Deutschen Bibliothek: sie galt der Beschuldigung, die Eschenburg
im Anschluß an die Anekdoten über Lessings Tod gegen Lavater*
Pfenninger gerichtet hatte". Jetzt, nach Lessings und Mendelssohns
Tod (1786), war Nicolai völlig isoliert, zu einer Zeit, wo er sich
neuen Kämpfen gegenübersah. Fritz Stollberg wägt in einem Brief
an Voß, der im Begriff ist, sich von dem Jugendfreund zu trennen,
die Parteien gegeneinander ab: »Nicolai, Sie und Biester auf der
einen Seite«, sagt Stollberg höhnisch^, »Jerusalem, Leß, Zollikofer,
Basedow, Jacobis, Spalding, Goethe, Heß, Tobler, Semler, Schlosser,
Claudius auf Lavaters Seite«. Und als Voß sich »in der Konsequenz
seiner Natur« "* durch Boies Vermittlung mit Nicolai aussöhnt, ge*
' Deutsches Museum 1782, März, S.214, Anm. Schon die Form dieser Erklärung
und ihr Zusammenhang mit der vorhergehenden Voßschen Vorrede (S.213) er=
weist, daß Voß auf diese Erklärung bei Boie gedrungen hatte.
- \'oß an Boie März 1780. Zu »Rezensenten« vgl., dal^ das Leipziger Bücher^
Verzeichnis hinter den Schluß des zweiten Verhörs ein »Gott Lob!« setzte (nach
W. Hofstaetter, Das. deutsche Museum, Leipzig 1908, S. 93). Hier seien auch die
anonym erschienenen Verse »AnVoß« (Deutsches Museum 1781, II, 289) erwähnt,
die Voß preisen, »daß er den größten Ochsenstall auf Erden ausgemistet«.
■ Voß gegen Lichtenberg: Deutsches iVluseum 1782, März 213 ff.
' Lichtenberg an Nif olai 18.11.81 = Briefe ed.Leitzmann und Schüddekopf 1,372."
■ Lavater an Nicolai 3. III. 84 NN. Vgl. A. Stern Deutsche Rundschau 118 (1904),
S. 429.
' Allg. Dtsch. Bibhothek 55.1,289ff.
■ Stollberg an Voß 17. IV. 87.
- W. Herbst »Joh. H. Voß« II, 36.
311
schiebt dies erst, nachdem Boie in Nicolai »das Hirngespinst einer
Klopstockschen Schule und eines gewesenen Bundes (nämlich des
Hainbundes) zerstört« hat^ Auf beiden Seiten drängten neue Pro*
bleme zu veränderter Stellungnahme und Entscheidung. Und so
kann Nicolai bereits zu Anfang der neunziger Jahre Voß und den
Hainbund unbefangen historisch würdigen: er vergleicht den Göt*
tinger Kreis mit der Gesellschaft der Bremer Beiträger-: »nur war
der Einfluß der Göttinger Jünglinge, obgleich wohltätig, dennoch
weniger merklich; denn Deutschland war in den siebziger Jahren
schon weit mehr ausgebildet, als in den vierziger Jahren«.
' Boie an Voß 24. VIII. 87. Kurz vorher (1785) hat die Allg. Dtsch. Bibliothek 64,
1,75 eine ungemein lobpreisende Rezension von Voß' »Verm. Ged. u. pros. Auf;
sätze, Frkft. u. Lpz. 1784«, gebracht.
^ Reisebeschreibung IX, 109.
312
NACHWORT
»Laßt uns Freunde! uns zusammendrängen, und uns nach Herzens*
lust idealisieren: das jagt Funken durch Seel und Herz! Wir elek*
trisieren uns einander zurWirksamkeit, und in der Folge auch immer
zum Glücke. Das ist die Inspiration, die wunderbare Schöpferkraft
in Belebung der Seelen, wie der elektrische Funke es vielleicht in
Blut und Sonne ist.« So gab Herder \ der Sprödeste unter den
Chorführern, das Stichwort für die Bewegung der Jungen, und
wo man auch ihren Zeugnissen nachspürt — im Kreis des jungen
Goethe, bei Lenz insbesondere, bei Klinger, im Göttinger Freund*
Schaftskreis, bei Schubart, den Stollbergs, Heinse, in Lavaters
freundschaftlichem Treiben — überall scheint es aufgenommen,
überall sehen wir eine brüderlich vereinte Schar als Träger der Be*
wegung; und das gegenseitige Idealisieren nach Herzenslust, dies
Sich*Hinaufsteigern zu Gefühlshöhen und Tatkraft, dieser subjek*
tive Sturm und Drang fiel den Zeitgenossen nicht minder in die
Augen als seine laut und überlaut verkündeten Inhalte, Werte und
Werke. Lichtenberg in seinem »Parakletor«, Claudius in seiner
»Nachricht vom Genie« nahmen gerade auch diesen subjektiven
Sturm und Drang gebührend mit. Sulzer (im Artikel »Reiz« seiner
Allgemeinen Theorie . . .) sprach verächtlich von der neuen »Scho«
lastik des Gefühls«, Nicolai aber schrieb, nach dem vergeblichen
mehr als zehnjährigen Kampf, mit einer Bitterkeit, die von dem
selbstbewußten überlegenen Ton seiner übrigen Anmerkungen zu
Lessings Briefwechsel bemerkenswert sich unterscheidet : »Ich ward
zur Gesellschaft der kalten Hunde gerechnet . . . weil ich
nicht glaubte, mich an einem Haufen Johanniswürmchen
wärmen zu können«"".
Er sah und er konnte seiner Natur nach in dem gärenden Wesen
der Jungen nicht mehr sehen. Aber wenn er sich zu Beginn der
Bewegung noch einem harmlosen Spaziergänger verglich, mit dem
übermütige Burschen ihr Unwesen treiben, so sah er bald eine Ge*
fahr in dem ausgelassenen Wesen: die folgerichtige Entwicklung
' An Merck Sept. 70.
- Lessings Werke herausgegeben von . . F. Nicolai 27, 253, Anm.
313
der deutschen Literatur schien ihm in Frage gestellt. Nach der BiU
düng und Anschauung seiner Jugendjahre war es ihm ausgemacht,
daß nur zielbewußte, zusammenfassende Arbeit sie in ihrer Ganz*
heit fördern könne ; und selbst wenn er den Reichtum und die Tiefe,
die Souveränität dieser Begabungen zulänglicher hätte erkennen
können — daß sie überhaupt an neuer Stelle begannen, daß sie sich
selbst zuallererst erschaffen wollten, daß sie einen neuen Anfang
suchten und Zentralisation, Disziplinierung, Entwicklung verwarfen,
hätte ihn allein schon zu ihrem Gegner gemacht. Er hörte von Kraft
— und sah Schwäche, oder doch, wie Lichtenberg sagte, Kraft ohne
Richtung; er hörte Original und sah Nachahmer, Abhängige; er
hörte Freiheit und sah eine Schule, eine neue Orthodoxie der Ge*
fühle, Meinungen ja der Lebensweise. Unvermutet rasch war dem
kaum Vierzigjährigen eine neue Generation nachgefolgt; Nicolai ist
zehn Jahre früher geboren als Herder, sechzehn Jahre früher als
Goethe; aber in dem kaum zwanzigjährigen Zeitraum von den
»Briefen über den itzigen Zustand« bis zum Erscheinen der Blätter
»Von deutscher Art und Kunst« scheint ein Jahrhundert zu liegen.
Der Jugend galten die Verdienste seiner Jugend nichts ; Gottsched er-
scheint bei ihnen in unendlicher Distanz, mit fast heiteren Farben —
schon in den Briefen des Leipziger Studenten an Cornelie Goethe';
Lessings Streit mit Goeze sah der junge Voß fast verwundert zu;
und Herder rühmte schon in seiner 1772 erschienen Lessing*Rezen*
sion (in der A D Bibliothek) von Lessing, daß er immer wieder
jung vor dem Publikum erscheine und erstaunlich wer ig altere;
»das Publikum«, zitiert Herder dort, »wächst täglich an Einsicht
und Geschmack; aber viele V^erfasser bleiben zurück, und wehe
dem, der es auch nicht einmal fühlet, daß er zurückgeblieben, und
eitel genug ist, noch immer auf den Beifall zu rechnen, den er vor
zwanzig Jahren erhalten zu haben vermeinet.« Nicolai hat, obwohl
er früh alterte — aus dem Brief an Lavater vom 24. IV. 74 spricht
schon ein alter Mann — und sich früh altern fühlte, doch niemals
empfunden, daß er als Schriftsteller veraltet war. Im »Anhang zu
' »Gottscheds Nam" ist zum Sprüchwort worden im Lande Teutates.
Aber die ihn verdrängten, die werden izt selbst nicht gelesen«
heilk es im »Untergang der berühmten Namen« (enthalten in: Literar. Pamphlete
a. d. Schweiz« Zürich 1781).
314
Schillers Musenalmanach« (S. 113) überlegt der Sechsundsechzig«
jährige, daß er die »gewöhnliche geistige Beschwerde des Alters«,
den »Unmut mit der gegenwärtigen Welt« auch bei sich gespürt,
aber mit der Erkenntnis bekämpft habe, daß die Laudatio temporis
acti ihren Grund in der Laudatio sui ipsius habe — immerhin war
noch kurz vorher seine Schrift »Über meine gelehrte Bildung« er*
schienen, die, mit dem Motto: »Notwehr entschuldigt Selbstlob«
geschmückt, eine einzige Laudatio sui ipsius darstellte. Und wenn
ihm jetzt der Gedanke hilft, »daß die Menschheit durch alle ver*
schiedene Modifikationen ihrer Existenz nie ganz verdirbt,« so war
ihm solche Vertiefung seines Toleranzgedankens zur Zeit seiner
Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang fern. Wir glauben
die Bedeutung, die jene Auseinandersetzung für Nicolais spätere
Entwicklung hatte, nicht zu überschätzen, wenn wir solche Einsicht
für eine Wirkung jenes Kampfes halten. Und sie steht keineswegs
allein. Zu Reinhold äußert er sich, im Streit mit Kant, es gäbe in der
Philosophie »notwendige Mißverständnisse, welche nicht ab==
zuändern sind, weil sie aus der Natur der menschlichen Seele ent*
stehen«^. Er verdeutlicht die Differenz der Wolffianer und Kan*
tianer an der Fabel vom Fuchs und vom Kranich, die sich zu Gaste
luden — es ist die Fabel, die er einst gegen Hamann gewandt hatte.
Aber hier fährt Nicolai fort: »das Beste bei der Sache war der gute
Wille der beiden Tiere einander zu Gaste zu laden« ; so sei in diesem
Streit das Beste, daß durch ihn eine Anzahl Ideen entwickelt wer*
den, die jede Partei auf ihre Art braucht.
Wenn dieses Ergebnis, objektiv betrachtet, auch für Nicolais
spätere Feldzüge Gültigkeit hat, — übrigens doch weniger für die
Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie, der Romantik
und Schiller, als mit Herder (über den Tempelherrnorden) und den
katholisierenden Dogmatikern in den achtzigern Jahren — auf Ni*
colai und den Sturm und Drang ist es nur höchst einseitig anzu*
wenden. Nicolai allerdings trug manches davon: das Bewußtsein
seiner Art und Richtung, seiner Aufgaben und Mittel festigte sich
nun zu jener bornierten Einseitigkeit und Philistrosität, die ihn zu
einem unerschöpflichen Quell von Gemeinplätzen machten; es ist
der Nicolai, den Fichte gezeichnet hat. Er bezog vom Kampf mit
' An Reinhold 22. X. 90, Reinholds Leben S. 355.
315
dem Sturm und Drang das fatale Bewußtsein der Weitläufigkeit
und Selbstsicherheit, er bezog ein fertiges psychologisches Schema,
das in den späteren Romanen fast mechanisch ausgefüllt wurde, eine
geläufige literarkritische Manier — denn in diesem Kampf, den er
allein führte, emanzipierte er sich von Lessings geistiger Vormund*
Schaft, trat jetzt dreist neben Lessings Bild und bald vor Lessings
Schatten; und er bezog schließlich aus diesem Kampf eine souveräne
Verachtung des Abseitigen, Außerordentlichen, In*Sich=Ruhenden,
in Dichtung und Philosophie. Was Nicolai aber — wie wir mehr=
fach andeuteten — inhaltlich aus der intensiven Berührung mit dem
Sturm und Drang gewann , hat er nicht mehr subjektiv oder objektiv
bedeutungsvoll auszumünzen vermocht.
Blickt man auf die Gegenseite, den Sturm und Drang, so kann
von einem positiven Ergebnis der polemischen Auseinandersetzung
keine Rede sein, weder für die Individuen noch für den geistigen
Prozeß, der sich in ihnen auswirkte. Die Wirkung dieses Kampfes
hat sich hier in einigen Pasquillen niedergeschlagen ; nicht einmal
auf die Bildung und Ausbildung der Theorie hat dieser Kampf er*
wähnenswerten Einfluß geübt; höchstens hat er die Doktrin der
Schule bereichern helfen . . . Allein in der Absicht auf solche Fest*
Stellungen unternommen, wäre diese Untersuchung müßig ge*
wesen — gerade hier, wo Antrieb und Bewegung, Stoff und Form
zum wenigsten aus der rein literarischen Sphäre bezogen wurde.
Was sich hier darstellen konnte, war nur die Umwelt, von der sich
in großartigem Prozeß diese auf ein Ziel strebenden Individuen
loslösten, an der sie Form gewannen. Es ist die Welt der Auf*
klärung, und wir durften Nicolai als Bürger dieser um einen gegen*
sätzlichen Punkt zentrierenden Welt nehmen. Er ist der Spiegel, in
dem sich zum mindesten die Physiognomie dieser in der Geschichte
des deutschen Geistes einzigartigen Erscheinung darstellt. Und
wenn wir uns auch beim Anblick dieser physiognomischen Repro*
duktion vor einem vorschnellen Schluß nach Lavaters Art werden
hüten müssen — denn dieser Spiegel verzerrte bisweilen willkürlich,
nuancierte nicht immer willfährig — es ist ein lebendiges und inten*
sives Bild, das uns entgegentritt. Die wirksamsten und zentralsten
Strebungen der Geniebewegung hat Nicolai sehr früh erkannt; sie
ordneten sich in seinem Kopfe einheitlicher und zwingender, früher
316
und bedrohlicher als bei irgendeinem andern Zeitgenossen, Clau*
dius etwa und Schubart eingeschlossen. Mangelte ihm die kritische
Spürkraft für das Bedeutende und Originale, so besaß er doch einen
ausgesprochenen und von wenigen Zeitgenossen so gepflegten Sinn
für historische Perspektive und psychologische Relationen, im gan*
zen freilich doch mehr nach rückwärts kombinierend, als in eine
fruchtbringende Zukunft^; und Lenz hatte nicht Unrecht, wenn er
— in der »Verteidigung des Herrn Wieland gegen die Wolken« —
meinte, daß Leute vom Schlage Nicolais als Kunstrichter »unsere
jungen Leute irre machen und durch das nirgends schädlichere
iurare in verba magistri eine ganze Posterität verhunzen könnten«.
x\ber Nicolais faktischer Einfluß reichte nicht weiter als bis zu Na*
turen wie Göckingk und Biester, die er zum Übertritt aus dem Lager
der Jungen veranlassen konnte, und die seine vertrauten Mitarbeiter
und Helfer wurden; die Jungen haben Lenz' Aufforderung befolgt
und »die wachsgelben Aristarchen«, »die sich wie Paillasse unter
schnellkräftigen Seiltänzern unbehelfsam herumtummeln, wie Stroh*
sacke behandelt«. Es fanden sich nicht viele Zeitgenossen, die dem
so widersprachen wie Merck; und so ist es auch in der Folgezeit
Stichwort gegen Nicolai geblieben.
' Besonders bezeichnend hierfür seine abschließenden Urteile über Uz (Reise=
beschreibung I. 191) und über Joh. M. Millers Romane (ebenda IX. 107 f.); vgl.
auch das oben S. 312 erwähnte Urteil über den Hainbund, sein Ehrengedächtnis
für Justus Moser u. a. m.
317
ANHANG
BRIEFE AUS NICOLAIS
NACHLASS
Die Vorlagen für die im folgenden mitgeteilten Briefe befinden
sich im Nicolaischen Nachlaß, den die Handschriftenabteilung der
•Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt; der S. 338ff.
abgedruckte Brief Nicolais an Höpfner ist nach der im Besitz des
Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt a. M. befindlichen Original*
handschrift wiedergegeben. Bei handschriftlichen Vorlagen habe
ich die orthographischen und Interpunktionsverhältnisse genau be*
wahrt, die wenigen Abweichungen verzeichnet; bei Kopien und
Konzepten habe ich offenbare Schreib* oder Hörfehler stillschwei*
gend getilgt, Orthographie und Interpunktion nach den allgemeinen
Gepflogenheiten des Absenders einzurichten gesucht. Das in eckige
Klammern [ ] Gesetzte ist von mir eingefügt bezw. ergänzt.
AUS CHR. H. BOIES BRIEFEN AN NICOLAI
Göttingen, 17. April 1770.
. . . Ich bin, wie Sie, unzufrieden, Daß Hr. J.^ seine Werke zu einer
so ungelegenen Zeit sammlet. Der Schritt wäre äußerst mißlich,
wenn er auch nicht so manche harte und leyder! gegründete Kritik
jetzt erfahren hätte. Einzeln genommen gefällt mir manches flüch*
tige Stück, das, in einen Band gebracht, und mit den anderen ahn*
liehen verglichen, seinen ganzen Reiz verliert. Die Neue Zeitung
ist fast noch schärfer mit ihm umgegangen als die Bibliothek. Ich
hab ihm offenherzig und freundschaftlich meine Meinung über die
Sammlung gesagt. Ein Sänger der Freude sollte billig nie eigent*
lieber Autor seyn. Hr. J. scheint wie viele andere, noch immer sich
nicht überzeugen zu wollen, daß man, ohne Feindschaft, scharf über
einen urtheilen könne.
Es geht mir sehr nahe, daß ich auch von anderen hören muß, was
Sie mir über W[ielandl schreiben. Es macht ihm das Übereinstim*
men mit einem so nichtswürdigen Menschen^ keine Ehre. Ich fürchte,
auch H. W[ieland] thut sich durch das der ganzen Schule eigene
Vielschreiben Schaden. Es sollen, wie man mir sagt, drey neue Werk*
chen von ihm unter der Presse seyn. Das eine führt den Titel die
' Joh. Georg Jacobi.
' Offenbar Riedel.
21 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 321
Grazien, und soll eine Vertheidigung des Amor wider unempfind --
liehen Kunstrichter seyn. Man ist hier mit dem Diogenes ^ nicht so
ganz zufrieden . . .
Göttingen, 3. Sept. 1770.
. . . Ich habe Hrn Wieland auch jetzt von Person kennen lernen und
manches ist mir nun begreiflich geworden, was es vorhin nicht war.
Wer den Mann desabusieren könnte. In Erfurt wird ers schwerlich
werden. Herr Herder, den ich hier neulich kennen zu lernen das
Glück hatte, hat mich im Umgange weit mehr befriedigt als W.
Ich wunderte mich über die Leichtigkeit des Ausdrucks bey einem
Manne der oft so schwer schreibt. Aber vielleicht verspricht diese
auch künftig seinen Schriften einen anderen Ton.
Göttingen, d. 18. Dez. 1770.
. . . Ich habe Ihren Vorschlag ausgeführt. Die Sammlung- ist auch
ohne den Kalender abgedruckt und Sie werden ihn so, und unge*
bunden bekommen . . Der Titel hat auch nicht abgeändert werden
können, da er gestochen war. Aber das wird nichts zur Sache thun.
Man kann ja dem Buch welchen Titel man will geben, und der fran*
zösiche, ohne den Kalender, heißt noch immer almanac des muses.
In Absicht der Sammlung selbst bin ich sehr schüchtern. Sie ist noch
lange das nicht, was sie werden muß und werden kann, und der
Kenner muß mich gewiß tadeln, daß ich Stücke von so ungleichem
Werthe untereinander gemischt habe . . . Auf die Rezension in der
Allg. Bibl. bin ich sehr neugierig, ob ich gleich versichert bin, daß
eher Ihre Nachsicht als Ihre Strenge mich schamroth machen wird . . .
Aber was denken Sie? Hr. Klotz ist hier, und ich war der erste
der ihn hier gesprochen. Ich war Abends bey einem Freunde, zu
welchem er gleich kam. Von unsern Sachen fiel nichts vor. Er redete
mit großem Wortflusse von sehr vielen Dingen, ohne auf einen sei*
ner Widersacher zu kommen. Aber von seinen Freunden sagte er
desto mehr böses. Ich will lieber des Mannes Feind als sein Freund
seyn. Aber lustig ist es doch, wie die beyden großen Freunde, Klotz
und Riedel, von einander reden. Riedel versicherte mich, daß aus
Kl. bey seiner Lebensart nie etwas werden könnte, und Kl. sagt
' Natürlich XX-lelands »Diogenes von Siope«.
- Der Göttinger Almanach.
322
allen Leuten, die es hören wollen, daß R. immer halbbetrunken,
daß er des Statthalters Hofnarr ist u. s. w. Der ersten Verhinderung
ist es auch wie Kl, sagt, allein zuzuschreiben, daß sein großes Buch
wider Sie und Hrn. Lessing noch nicht erschienen ist . . .
Göttingen, d. 23. Juni 1771.
. . . Zuerst muß ich Ihnen für Ihr öffentliches UrtheiP über meinen
ersten Versuch, und für das noch gütigere in Ihrem Briefe über den
zweyten danken. Ich will suchen, es zu verdienen. Die nächste und
vielleicht die Hauptursache meines Schreibens ist das Versprechen,
das Sie mir in Ihrem letzten Briefe thaten. Sie wollten Ihre Papiere
durchsuchen, ob darin noch etwas für mich zu finden wäre. Ich bin
unverschämt. Aber sey es einmal einer nicht, wenn er ein solches
Versprechen in Händen hat! Vielleicht finden Sie auch noch eins
oder das andere von Ihren Freunden. Von Ewald haben Sie mir
schon etwas gezeigt . . .
Für die Abbtische Korrespondenz muß ich Ihnen noch meinen
besonderen Dank sagen. Trotz aller der geraubten und halbgeraub?
ten Briefe die das deutsche Publikum zeither erhalten, gelesen oder
nicht gelesen, be\yundert getadelt und vergessen hat, ist dies der
erste deutsche Briefwechsel der Männer interessiert. Mich dünkt ich
unterhalte mich selbst mit den würdigen Verfassern der Literatur*
briefe, wenn ich ihn lese. Einiges — warum sollt ich Ihnen nicht
offen meine Meinung sagen? — hätt' ich doch lieber nicht gedruckt
gelesen, z. E. das spöttische Urtheil über den Salomo-'. Was ist dem
Publiko mit einem so wenig auseinandergesetzten Urteile gedient?
und dem würdigen Verf. der Messiade ist es doch allemal unange==
nehm. Salomo, wenn er auch fähig wäre einen falschen Geschmack
festzusetzen, ist nicht genug gelesen worden um die Wirkung zu
befürchten. Ich gebe Ihnen das Wenn nicht zu, denn ich überzeuge
' Die von Nicolai verfaßte Rezension (ADBibl. XIV, 211) rühmt den Almanach
im Gegensatz zu dem Leipziger Almanach der deutschen Musen. Die Versuche
der jungen Dichter »verdienten wirklich Aufmunterung«; die anthologische
Arbeit des Herausgebers wird von Nicolai gelobt.
' Von Klopstock. In Abbts »Freundschaftlicher Korrespondenz« (Verm. Werke
111), Moses Mendelssohn an Abbt 20. VI. 64; gemeint ist hier von Boie offenbar
aber nicht dieses zurückhaltendere Urtheil Mendelssohns, sondern Abbts sehr
sarkastisch=ablehnendes Urteil: an Mendelssohn 11. VIII. 64 (ebenda S. 254 ff.).
21* 323
mich immer mehr und mehr, daß Kunstrichter und Leser diesem
Stücke nicht Gerechtigkeit genug haben widerfahren lassen. Ich
hätte nicht zu unterscheiden brauchen, denn der größte Theil der
Deutschen Heset noch nur mit der Rezension in der Hand oder im
Kopf. Es kann seyn, daß ich mich sogar in Klopstocks Fehler ein*
studiert habe. Aber ich muß Ihnen bekennen, daß ich auch nicht
viel von der Härte und Rauhigkeit mehr glaube, die man ihm vor*
geworfen hat . . .
Göttingen, lOten May 1773.
. ..^ Ich war sehr beschäftigt, wie ich Ihr Packet erhielt und wollte
nur ein wenig blättern; aber ich konnte mich nicht loß machen und
die andere Arbeit mußte liegen bleiben. Mein Lob würde leicht
Compliment seyn und Sie brauchen dasselbe auch nicht, aber das
muß ich doch sagen daß mich noch keine Schrift dieser Art in un*
serer Sprache so vergnügt hat. Jetzt hab ich die zweyte Lektüre an*
gefangen, und die geht desto langsamer, so viel Vergnügen empfind
ich bey jedem Schritt. Aber Lerm wird das Buch machen. Desto
besser . . .
Göttingen, d. S.Juni 1773.
Der Verfasser des Timorus freut sich sehr über den Beyfall, den
Ewr. Wolgeboren seiner Schrift gegeben-, und hat nichts dawider,
daß ich Ihnen seinen Namen nenne. Es ist der hießige Professor
Lichtenberg, der sich jetzt, seine astronomischen Beobachtungen zu
vollenden, in Stade aufhält. Vielleicht haben Sie ihn als Astrono*
men schon gekannt. Als Schriftsteller erscheint er hier zum ersten*
male; aber ich wünschte sehr, daß man ihn zu anderen Versuchen
bringen könnte. Sein Name ist für Sie ganz allein, denn es ist ihm
sehr viel daran gelegen, daß er nicht laut gesagt werde. Unsere
Zeitungsschreiber und Journalisten können nicht anders als das
Büchelchen sehr schief beurtheilen, wenn sie nicht eingeleitet wer*
den. Der Verf. hätte daher gerne, daß es in der Alg. Bibl. bald an*
gezeigt, und der Gesichtspunkt angegeben würde, aus welchem
man's ansehen muß. Hier hört man noch nichts davon, denn ich
will nicht der erste seyn, der es bekannt macht . . .
' Nicolai hatte Boie den »Sebaldus Nothanker« übersendet.
- Nicolais Rezension des Timorus: Anhang z. 13.24. Bd. d. A D Bibl. S. 950tt.
vgl. oben S. 222, Anm. 1.
324
Göttingen, d. 14. Nov. 1773.
. . . Ich bin noch immer in meiner alten Lage hier, und werde immer
mehr und mehr aus der Literatur herausgezogen, die ich liebe; nur
höchstens ein wenig von ferne zusehen, und ein wenig lesen, mehr
kaiTn ich nicht. Zum Glück verliert man bey dem Weniglesen itzt
nicht viel. Sebaldus Nothanker ist noch immer hier in aller Händen,
und alles wartet begierig auf den zweyten Theil. Er kommt doch
auf Ostern? Ich habe mit Dr. Miller und Leß davon gesprochen,
und beyde urtheilen vernünftig davon. Dr. Walch seh ich itzt sei*
ten; ihm wird er gewiß nicht orthodox genug seyn. Über nichts
habe ich mich mehr gewundert, als über Wielands Lob im Merkur.
Jacobi ist nicht damit zufrieden, aber W. selbst hat einem meiner
Freunde gestanden, daß er zuviel vom Säugling habe^ Mit dem AI*
manach wird er, und alle, die uns mit Gewalt zu Franzosen machen
wollen, nicht zufrieden seyn; aber ich kann mir nicht helfen. Ich er*
kenne keinen Despoten in der Litteratur, und alle Machtsprüche
sind mir sehr gleichgültig. Wieland hat sein großes Publikum, aber
laß ihn nur noch ein Jahr den Merkur schreiben, und es wird klein
genug weiden. Ich erinnere mich noch, mit Ihnen einst über einen
deutschen Merkur gesprochen zu haben, und es thut mir leyd, daß
W. die schöne Idee verdorben hat. Als verdorben seh ich sie an,
obgleich in seinem Merkur auch manches Gute ist. Wir haben itzt
einige sehr guter junger Köpfe hier, und ich bin gewiß, daß unsere
Literatur, in mehr als einer Absicht, etwas von hier zu erwarten hat.
Vielleicht ist auch mit der Zeit ein guter Rezensent für Ihre Biblio*
thek darunter . . . Ich sehe Ihre Bibliothek als eins der patriotisch*
sten Unternehmungen an, die ich kenne, und es thut mir auch aus
dem Grunde leyd, daß so viele andere Rezensionsfabriken errichtet
werden, die Sie hindern müssen, Ihre Bibliothek in allen Fächern
so gut zu machen, wie Sie es wünschten. Eine jede der andern
hat doch gemeiniglich einen oder den andern guten Mitarbeiter,
Schirachs Magazin vielleicht allein ausgenommen. An der Lemgoer
Bibliothek arbeitet der Professor Mauvillon in Cassel, gewiß ein
sehr guter Kopf trotz seiner Paradoxie, und obgleich er nicht
' Danach wäre Wielands Äußerung an Fr. H. Jacobi vom 16. Vll. 73, daß er die
Ähnlichkeit nicht bemerkt habe, auch von hier aus als bloße Ausflucht gekenns
Zeichnet (vergl. oben S. 155, Anm. 1).
325
zum besten schreibt. Er ist schon lange mein Freund, und ich
hab ihn itzt fast von allen seinen vorigen Verbindungen mit ent«
scheidenden und seichten Halbköpfen abgezogen ... Es ist wieder
ein weicher wollüstiger Dichter aufgestanden \ der zwar sein Ori*
ginal nicht erreichen, aber doch Leser finden wird. Sie kennen 'den
Verfasser der Kirschen. Er läßt itzt in Lemgo einen halb poetischen
halb prosaischen Roman: Laidion: drucken. Unter der halberstädti*
sehen Schule könnte Schmidt- weit mehr seyn, als er ist und je wer*
den wird. Ich weiß aber nicht welcher Unstern da jeder Blume
schon in der Knospe eine falsche Bildung gibt. Diesen verdirbt
Petrarch, mit dessen Genie er gar keine Ähnlickeit hat. Ich glaube,
daß es ihm im komischen glücken würde . . .
Göttingen, d. 23. Juni 1774.
. . . Ich dank Ihnen für ihr günstiges Urtheil von den Almanachen
in der Bibliothek. Der Vorwurf wegen zu vieler leichten Speise ist
gerecht. Der letzte verdient ihn schon weniger, und die Damen und
jungen Herrn sind doch mit dem letzten weniger zufrieden. Ich lasse
itzt den Druck des neuen anfangen, bin aber noch ziemlich arm.
Haben Sie denn gar auch nichts mehr für mich? . . .
Göttingen, d. 29. Okt. 1774.
. . . Der Almanach ist Ihnen keine Neuigkeit mehr. Sie haben ihn
gewiß eher gesehen als ich selbst. Ich kann diesen nicht auf meine
Rechnung nehmen, weil verschiedene Angriffe und Häckeleyen da=
rinn sind ', die ich nicht biUige. Kaum werd ich überhaupt mehr
Theil daran nehmen können. Man ist itzt, da Alles wieder eine Zer*
rüttung zu werden scheint [?] fast froh, nichts mehr mit der Litte*
ratur zu thun zu haben . . .
Göttingen, d. 20. Oktober 1775.
. . . Ihre Rezension — ich erkenne Ihre Hand darin — von Lavaters
Physiognomik hat mir ungemeines Vergnügen gemacht. Wie's denn
' Natürlich Heinse.
- Klamer Schmidt.
'-'' Die Beziehung ist mir ungewiß. Vgl. Boie an Bürger 12. XII. 74 (Strodtmann I,
219): »Ich bin mit so vielen Leuten zerfallen, und habe keinem Ursache gegeben.
Wieland, Gleim, Ramler schimpfen auf mich . . . Genus irritabile vatum« usw.
326
nun mit dem großen \X'erke gehn mag. Es wäre doch eine Erschei*
nung, wenn es bei dem hohen Preise zu stände käme. Einen Theil
der Kupfer habe ich bei Göthen gesehen, der sich auch stark dafür
interessiert . . . Ich hab mich sehr darüber gefreut, daß Ihr Urtheil
über Werthers Leiden so sehr mit dem Meinigen übereinstimmt.
Ich verkenne die Absicht Ihrer Schrift gar nicht, die mit einer Philo*
Sophie und Laune geschrieben ist, die ihrem Verfasser große Ehre
macht. Am meisten hab ich mich über das nachbarliche Genie ge*
freut. Der Amtmann auf der Titelvignette sieht Hr. Boden in Hamb.
sehr ähnlich. Göthens Buch wird fast allenthalben falsch angesehen,
als Vertheidigung des Selbstmords. In unsern Gegenden stellen die
w irklichen Charaktere, nach denen er gezeichnet, und die er nicht
immer unkenntlich genug macht, sein Werk noch vollends in ein
falsches Licht . . .
Göttingen, d. 2ten JuH 1775'.
Diese Zeilen, mein werthester Herr Nicolai, sind bloß bestimmt,
Ihnen einen meiner Freunde zu empfehlen, der Berlin und seine
Gelehrte kennen zu lernen wünscht, Herrn Salzmann aus Straß*
bürg, einen jungen Mann, den Sie gern kennen lernen werden. Ich
bin seit einigen Monaten in einer sehr verdrießlichen Lage, das
allein ist die Ursache warum ich Ihnen nicht für das Vergnügen ge*
dankt, das mir der zweyte Band Ihres Nothankers^ gemacht, ich
glaubte in der That nicht, jetzt so heiter zu werden können, als ich
dadurch auf einige Abende geworden bin . . . VC'ohin ich künftig
gehe ... ist noch unentschieden ; das ist fast gewiß, daß ich Göttingen
verlasse, und das ganz bestimmt, daß ich nie in meinem Leben wie*
der Hofmeister werde, es mag mir auch gehen wie es will. Ich habe
alle meine Zeit, meine Ruhe, einen Theil meiner Gesundheit dabei
zugesetzt, und hab am Ende nichts, als ein wenig Erfahrung ge*
sammelt, Gedult gelernt, und — etwas Englisch mehr als ich wußte. , .
Hannover, d. 24. Juni 1776.
. . . Ich bin mit den Geschäften die ich habe immer mehr zufrieden,
je mehr ich sie kennen lerne und mich überzeuge, daß es zum Glück
des Lebens gehört, einen wahren, nicht erdichteten Wirkungskreis
Copie.
' \'on mir verbessert aus: Nothenwerkes.
327
zu haben. Ich bin glückHch genug gewesen, auch hier Freunde zu
finden. Zimmermann und Klockenbring^ brauche ich Ihnen nur zu
nennen. Die Litteratur wird, wie immer, das Glück und V^ergnügen
meiner Nebenstunden seyn. Aber selbst was darin zu seyn, dazu
hab ich auch itzt den Gedanken verloren. Ich freue mich über alles
was gut ist und Hoffnung gibt gut zu werden, suche meinen Ge*
schmack immer allgemein zu erhalten, und bin von keiner Parthey.
Die Bekanntschaft des jungen Mannes, aus dessen Händen Sie die-
sen Brief erhalten, wird Sie gewiß freuen. Es ist Herr Leisewiz. Sie
werden sich mit mir über die schönen Aussichten gefreut haben,
die sein Julius von Tarent gibt ...
Hannover, d. 10. Nov. 1776.
Ich habe meinem Freund in Oxford wegen der Schrift de rhythmis
Graecorum geschrieben, und bekomme sie gewiß, gedruckt oder ge*
schrieben, wenn sie nur zu erhalten steht. Viel versprechen Sie sich
aber nicht davon. Ich freue mich, Ihnen auf irgend eine Weise meine
Ergebenheit und Dienstbegierde zeigen zu könnnen . . . Wenn Ihre
Untersuchungen über die Rhythmik nicht ins Musikalische ein»
schlagen, wovon ich nichts verstehe, freue ich mich sehr darauf. . .
Ich danke Ihnen für den Almanach". Die Vorrede, die viel wahres
sagt, hat mich sehr belustigt, und unter den Liedern sind immer
einige, die nicht zum Spaß gedruckt zu werden verdienten. Ich
glaube, daß Daniel Wunderlich ' sich des ehrsamen Leineweber*
handwerks annehmen wird. Er versteht aber Scherz, wie Seuberlich
der Schuster auch thun wird. Wenn Sie einmal eine Idee haben, die
auch zum Büchlein nicht Ausdehnung genug hat, so werfen Sie sie
ins Museum.
Hannover, d. 9. XII. 76.
. . . Beyläufig, vielen Dank für Ihre Rezension von der Fhysiog*
nomik. Ihre Hand ist nicht darin zu verkennen. Sie scheint mir so
gründlich als billig und vermehrt meinen Wunsch, physiognomische
Versuche von Ihnen selbst zu lesen . . .
Ich muß gestehen, daß ich den Almanach für einen Spott über
^ Über Klockenbring als Mitarbeiter der A D Bibl. vgl. V^'. Stammler in Ztschr.
d. Histor. Ver. f. Niedersachsen 79. Nr. 3 (1914).
■' Nicolais feyner kleiner Almanach.
' Bürger.
328
das freylich oft übertriebene Geschrey von Volksliedern gehalten
habe, übrigens fühle ich die manchen treffenden Wahrheiten in der
Vorrede wohl. Wunderlich will aber wohl nichts mehr als daß der
Dichter aus diesen Liedern lerne. Bürgers Lenore ist kein Volkslied,
aber B. gewiß wird welche machen. Nach einigen Jahren wollen
wir sehen, was er gelernt hat aus den Volksliedern. Er hat sie stu=
diert wie vielleicht wenige Deutsche, und hat gelebt mit dem was
wir Volk nennen. Ich sehe Übertriebenes wie Sie, in vielem was itzt
gesungen, gesagt, gethan wird, aber laßt es nur ausbrausen: die ...[?]
werden von selbst abfließen, und dann wird auch die gegenwärtige
Gährung viel Gutes für den deutschen Geist zurücklassen.
Ich füchte mich nicht. Geben Sie mir Ihre Gedanken fürs Museum.
Ich will Ihnen sehr verbunden seyn und viele werden's mit mir. Ich
sehe voraus, daß sie oft von meinen und meiner Freunde Gedanken
abweichen werden, aber das thut nichts . . .
Hannover, d. 8ten März 1777.
. . . Hr. Bürger übersetzt gewiß die Ilias ganz. Ich sähe wie Sie lieber
daß er seine Kraft zu einem Originalwerke brauchte, aber — Wider
Graf Stolberg scheint man mir in Berlin überhaupt eingenommen.
Sie werden sich über einen Versuch den Vergil zu übersezen und
über die Gegend, woher er kömmt, wundern. Er steht im März des
M[useum]^ Die Phys. Briefe^ (es werden mehrere kommen!) sind
von H. Prof. Kleuker zu Lemgo, doch bitte ich ihn noch nicht zu
nennen. Von H. Klockenbring leg ich vielleicht einandermal was
Physiognomisches vor, wenn — ich meine Hand länger im M[useum]
behalte. Ich zweifle. Ich mag so vieles nicht verantworten, was ich
nicht billige, und sehe jetzt ein, daß Niemand Selbander thun muß,
was er allein kann. Hr. Leisewitz u. Bürger empfehlen sich Ihnen . . .
Hannover, d. 28. 1. 78.
. . . Sie wollten mir ja auch einmal etwas fürs Museum geben. Wenn
ich ganz meinen eigenen Gang gehen könnte, würde das Journal,
' Deutsches Museum 1777, S. 193 ft. »Dido, ein episches Gedicht, aus Vergil ge=
zogen.« Die Vorrede, die den Verfasser als »jungen Mann« vorstellt, ist aus Bam=
berg datiert.
- Deutsches Museum 1777, Januar S. 71 ft. und April S. 349ff. Sie beginnen mit
einer Kritik der Nicolaischen Rezensionen der Lavaterschei. Physiognomik.
329
das darf ich ohne Pralerei sagen, anders aussehen. Ich muß noch
immer viel aufnehmen, das ich nicht billige . . .
Hannover, d. 30. V. 78.
. . . Daß Sie und viele andere wackere Männer wegen des Angriffs
auf H. Lichtenberg im D. M.^ nicht mit mir zufrieden sind, wun*
dert mich nicht. Daß nur kann ich ihnen daraufsagen: Lichtenberg
ist mein Freund vor wie nach; Sie können ihn nicht mehr lieben
und hochachten als ich; er weis, warum ich so und nicht anders
verfahren mußte, und es wird bald von ihm eine Schrift wider den
Verf. der Aufsätze erscheinen"-, der ich nicht bin.
Meinen besten Dank . . . für den zweyten Almanach, darin ich
mehr als ein Stück gefunden, das mir Vergnügen gemacht hat. Be*
sonders gefällt mir das Kleine an mein Pötten \ Ist es alt und woher
ist's? Wollen Sie die Sammlung fortsetzen, so kann ich Ihnen ein
Paar nicht schlechte Stücke aus dieser Gegend geben, die ich aus
dem Munde der Sängerinnen aufgeschrieben habe.
Ich bin mit H. Sturz einige Tage in Wolfenbüttel gewesen und
ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie angenehm sie mir bei H. Les*
sing verflossen . . .
AUS NICOLAIS BRIEFWECHSEL
MITJOH. PETER UZ
Nicolai an Uz
Berlin, d. 5. Oktober 1762.
. . . Ich danke Ihnen für den Antheil, den Sie an den Briefen* neh*
men wollen; sie gehen nun freilich fort, aber langsam, denn in die*
' Gemeint ist die anonyme (Zimmermannsche) Einleitung zu Moses Mendels^
sohns Aufsatz über die Harmonie zwischen Schönheit und Tugend: Deutsches
Museum 1778, März S. 193; auch im Aprilheft S. 289 findet sich als Anmerkun.i,'
zu Lavaters Widerlegung der Lichtenbergschen Antiphysiognomik ein (nach
W. Hofstaetter, Das deutsche Museum, Leipzig 1908 S. 154 von Göbhard hcr^
rührender) scharfer Angriff gegen Lichtenberg.
- Boie nahm indessen Lichtenbergs Verteidigungsschritt nicht ins Museum auf;
sie erschien im Hamburger Korrespondenten.
' Nicolais Almanach ed. Ellinger 11,43 »Eyn Lyd an eyn'n Pötten«-.
* Gemeint sind die Literaturbriefe; der vorangehende LJzsche Brief, aus dem
man die Art des »Anteils« ersehen könnte, fehlt.
330
sem halben Jahre ist nur ein Theil fertig geworden. Der Himmel
weiß, wie es in dem kijnftigen gehen wird; die Verf. sind einiger*
maßen des Kritisierens müde; zumahl da sie seit dem letzten Lärm
mit Justi^ doch sich einigermaßen scheuen, und sich nicht gern in
Verdruß setzen wollen; sie schreiben zum Vergnügen, also ist wohl
leicht zu erachten, daß sie sich nicht gern allerley Chicanen bloß*
setzen wollen. Und wenn man indem man seine Meinung offen*
herzig sagt, immer befürchten muf^, zur V'erantwortung gezogen zu
werden, so bleibt für den Verfasser wenig Vergnügen übrig. Übri*
gens ersetzt ein Beifall wie der Ihrige allerdings alle solche kleine
Ungemüthlichkeiten, und muntert die Verfasser auf. Ich denke
auch immer noch, daß diese Schrift bis zu Ende des künftigen Jahres
soll fortgesetzt werden. Alsdann wird es auch wohl Zeit sind [sie]
aufzuhören.
. . . das deutsche Publikum begünstigt meinen Anschlag auf die
Engländische Schriftsteller bisher eben nicht sehr; werde ich inzwi*
sehen nur auf einige Weise in den Stand gesetzt darin fortzufahren,
so wird Shakespeare gewiß einer der ersten Schriftsteller sein, die
ich liefern werde. Von Herrn Wielands Übersetzung verspreche
ich mir nichts, als auf der einen Seite sehr elende Kritik des Shake*
speare, und auf der andern Seite vielleicht noch elendere Nach*
ahmer. So viel ist ausgemacht, daß dieser Schriftsteller theils in
vielen Fällen ganz unübersezbar ist, und theils daß er, wenn er auch
noch so gut übersezt wäre, dennoch Lesern die der Engl. Sprache
und des Engländischen Humours nicht kundig sind, nimmermehr
gefallen wird. Ich befürchte im übrigen H. Wieland wird den Shake*
speare ebenso übersetzen als H. Zachariae den Milton übersezt hat;
ohne die geringste Anmuth.
Der Verfasser der Kreuzzüge ist H. Hamann, der auch der Ver*
fasser der sokratischen Denkwürdigkeiten ist. In diesem letzteren
Tractätgen hatte er viel Genie gezeigt, und man hatte seine Schreib*
art für einen Fehler gehalten, den er sich mit der Zeit abgewöhnen
würde! aber er hat sich seitdem ganz auf die Seite des abentheuer*
liehen gewendet. Freilich weiß man nicht, was man aus seinen Kreuz*
Über die v. Justische Beschwerde an die Censurdirektion, das vorübergehende,
durch Ministerialentscheidung unwirksam gemachte Verbot der Literaturbriefe
hat Nicolai Uz im vorangegangenen Briefe v. I.Juli 1762 unterrichtet.
331
zügen machen soll. Es sind einige sehr artige Stellen darinnen aber
das übrige — ist deutsch zu reden Unsinn. Ich hoffe es soll ihm in
den Briefen auch sein Recht widerfahren . . .
Uz an Nicolai
Anspach [Ansbach], 10. 1. 1763.
. . . Herr Wieland hat endlich einmal den ersten Theil seines deut«
sehen Shakespeare geliefert. Ich weiß nicht ob er etwan der Popi*
sehen Auflage in der Ordnung der Stücke folgt, denn sonst wüßte
ich die Wahl, die er in diesem Theile getroffen, nicht zu rechtfertig
gen. Die 2 Stücke die er übersetzt hat, werden das deutsche Public
kum für den Schakespear nicht sehr einnehmen, so vortreffliche
Dinge auch im Leer [sie] sind. Ich habe ihn beynahe für unüber*
setzlich gehalten, u. Wieland hat auch verschiedenes weggelaßen,
welche Weglassungen ich aber nicht billigen kann. Man will den
Schakespear sehen, wie er ist . . .
Uz an Nicolai
Anspach, d. 2. VIII. 1763.
. ..Aber was sagen Sie zu der tödtlichen Stille, die dermalen auf
dem deutsehen Parnaß herrseht? Es kommen zwar noch alle Mes*
sen einige Büehelchen mit Versen heraus. Aber sie bedeuten so gar
wenig, daß sie kein Aufsehen machen. Kein neues Genie zeigt sieh
und die alten schreiben selten mehr. Was wird daraus werden?
Wir haben noch nicht gute Dichter genug, daß wir schon aufhören.
dürfen. Verschiedene Classen sind noch ganz lär. Wenn doch nur
die Gedichte der Frau Karschin einmal herauskämen] Es währt gar
zu lange . . .
NicolaianUz
Berlin, d. 8. XII. 1766^
. . . Meine Briefe üb. den Z. d. seh. Wiss. habe ich versprochen ^, und
es soll auch nicht bey dem bloßen Versprechen bleiben; aber wann
' Die Korrespondenz hatte geruht; vgl. Uz an Gleim (ed. Schüddekopf, Bibl. d.
liter. Ver. Stuttg. Tübing. 1899, S. 228) 3. VII. 1766: »Nicolai hat mir schon in zwei
Jahren nicht geschrieben.«
- Im Meßkatalog war eine Neubearbeitung der »Briefe über den itzigen Zustand
der schönen Wissenschaften« angekündigt; gerade Uz hatte brieflich wiederholt
dazu gedrängt. Die Neubearbeitung ist nicht zustande gekommen.
332
ich dieses Versprechen werde halten können, bleibt freilich unge*
wiß. Ich sehe täglich mehr ein, daß diese Briefe nichts als Jugend*
arbeiten sind, die freilich viel Nutzen mögen geschaffen haben, aber
nicht durch ihren inneren Werth, sondern durch die Zeit und die
Umstände, in welchen sie erschienen sind. Ich würde sie itzt lieber
ganz neu machen, wenn ich nicht fürchtete, daß sie jemand in der
alten unvollkommenen Gestalt wieder möchte auflegen lassen, in=
zwischen werde ich doch die Hälfte wegwerfen und zum Theil neu
schreiben; die andere aber sehr verändern; damit bin ich itzt be-
schäftigt und dieß ist eine der beschwerlichsten u. verdrießlichsten
x\rbeiten; wenn ich damit fertig bin, so will ich auf ein Bändchen
neuer Briefe denken; aber ich zittere wenn ich bedenke, daß ich
von Ihnen und anderen Männern von Einsicht werde gelesen wer*
den, deren Gedanken über diese Materien ich lieber hören möchte
als Ihnen die meinigen eröfnen wolte . . .
Haben Sie nicht ein Paar kleine Bändgen unter dem Titel »Über
die Litteratur oder Beylage zu den Br. über die L.« In die*
sem Buche ist ungemein viel schönes, das einen Verf. verrät der viel
Philosophie und gesunden Geschmack hat. Es sind freilich auch
viel Gedanken darin, die ich für unrichtig halte, aber dennoch muß
man diesen Verf. hochschätzen; der V. soll sich in Riga aufhalten
und Härder heißen . . . '
UzanNicolai
Anspach, d. 6. Febr. 1767.
. . . Ich dichte nicht mehr, das wissen Sie. Acten und Prozesse ver*
tragen sich nicht nicht mit der Leyer. Wenn ich eine müßige Stunde
habe, so sehe ich die noch ungedruckte Reime durch, um etwan
einmal die letzte Kraft meines Witzes der Welt aufzudringen. Ich
fand einen Sokrates und freute mich, daß ich mit Herrn Moses
einerley Idee gehabt. Ich las vor etlichen Jahren ausdrücklich den
Phädon des Plato, um eine Ode über die Unsterblichkeit zu machen.
Aber ich konnte wenig daraus brauchen. Herr Moses wird alles
besser nutzen. Inzwischen habe ich Lust Ihnen dieseOde zu schicken.
Wer weiß wann sie gedruckt wird.
' Herders »Fragmente«. Über Härder statt Herder vgl. Nicolai an Herder
30. XII. 1766.
333
Nicolai an Uz
Berlin, d. 21. März 1767.
... In Ihrer Ode über die Unsterblichkeit sind schöne Stellen. In*
zwischen muß ich Ihnen aufrichtig gestehen, das sie nicht das Feuer
hat, das ihre besten Oden haben. Aber warum machen Sie wirklich
nichts mehr? Ich glaube, die Ungewohntheit, daß Sie lange nichts
gemacht haben, trägt eben so viel dazu bey, als die Juristischen
Arbeiten. Der Geist findet es etwas schwer, sich zu erheben, wenn
er sich lange nicht erhoben hat. Suchen sie sich einmahl wieder in
Feuer zu setzen, vielleicht gelingt es. Und solten Sie ja zur Ode
itzt keine Neigung mehr spüren, so gibt es ja noch mehrere Gattun-
gen der Dichtkunst. — Und wie wenn Sie etwas in Prosa zu schrei*
ben versuchten, z. B. Etwas Historisches, daran es uns in Deutsch*
land noch so sehr fehlet. Ich glaube hiezu müßte sich Ihr Genie
vortreflich schicken . . . Wenn Sie einen Verleger brauchen hier
bin ich! doch wohl verstanden, daß ich niemand anders verdrän*
gen will ...
Uz an Nicolai
Anspach, 11. Sept. 1769.
. . . Sie wissen wie sehr ich Sie hochschätze. Ich bin allemal ein
Nicolait gewesen und bin es noch [a. Rande: Sie erinnern sich
doch dieses alten Schweizer* Witzes? Wenn ich mich nicht irre, so
fängt dieß Wort wieder an gehört zu werden. Ein übles Zeichen!]
Eben deswegen freue ich mich, daß die allgemeine Bibl. alles
Schreyens dagegen ohnerachtet noch fortdauert und sich immer
verbessert . . .
Nicolai an Uz
Nachschrift z. Briefe v. 8. Okt. 1769.
W^as sagen Sie von Klopstocks Hermannsschlacht? Fast möchte ich
davon sagen was jener von der Pucelle sagte. Cela est bien beau,
mais cela est bien ennuyant. Ich meine es aber in einem andern Ver*
Stande. Das Stück ist wirklich sehr schön, doch kann man es nicht
zum zweiten oder drittenmale lesen, mann kann nicht Theil daran
nehmen; solche Gesinnungen wie darin herrschen, wünsche ich
unsern Zeiten nicht.
334
Uz an Nicolai
Anspach, 12. Dez. 1769.
. . . die Hermannsschlacht ist wirklich eine besondere Erscheinung ,
die wilde Größe der alten Deutschen ist gut ausgedrückt. Aber das
ganze Ding ist doch nur eine Copie, und eine Copie ohne Original.
Ich fürchte, es gehe damit, wie mit den Dithyramben. An elenden
Nachahmern wird es ohnehin nicht fehlen . . .
Nicolai an Uz
Berlin, 13. Nov. 1770.
. . . Herr Wieland ist im Sommer in Leipzig gewesen, er versichert
beständig noch, daß Riedel sein anderes Ich sey. Ich begreife nicht,
wie ein Mann, der so viel Talente hat, an einem seichten Kopfe so
viel Gefallen finden kann; und man solte denken, diese Freund*
Schaft müßte für Riedeln vortheilhaft seyn, indem ihn Wieland zu
sich heraufzöge, so aber scheint es im Gegentheil, daß Riedel Wie*
landen zu sich herunterziehet. In den Beyträgen sind vielleicht
kaum zwey Bogen, die Riedel nicht ebensogut hätte schreiben
können. Ich beklage Herrn W. daß er so viel schreibt. Es wäre
doch schlimm für ihn, wenn er zum zweitenmahl in die Verlegen-
heit käme, daß ihm seine vorige Werke nicht gefielen. Die Grazien,
die diese Messe herausgekommen sind, sind eine ganz artige
Kleinigkeit . . .
Ich wünschte, daß ich allen Connexionen mit der neuen
Litteratur, so wie sie alle Jahr sich verjünget, aufgeben und
mich bloß auf die, die ich wirklich liebe, einschränken könnte.
Es herrscht itzt eine sonderbare Verdrießlichkeit auf unserm
Parnaß . . .
Nicolai an Uz
Berlin, d. 9. Junius 1772.
. . . Haben Sie Wielands goldenen Spiegel gelesen? Nun fängt
dieser vortrefliche Kopf an sich auf der Seite zu zeigen, wo ich ihn
schon lange zu sehen gewünscht hätte. Mir freilich gefällt (bloß
meinem besonderen Geschmack nach) die orientalische Einkleidung
nicht, aber sie w4rd immer noch genug nach dem Geschm acke vieler
anderer Leute seyn . . .
335
Uz an Nicolai
Anspach, d. 17. IX. 72.
. . . Erheben Sie sich lieber [als gegen Klotz] wider einige Gebrechen,
die unsere Dichter anzunehmen scheinen. Man entfernt sich wie*
der von der Natui^ Die Künsteley, Schwulst, Parenthyrsus werden
herrschend und das Barden; System wird vollends alles verderben.
Es ist mir unbegreiflich, wie ein so großer Dichter, als Klopstock,
selbiges annehmen u. seine Oden damit verderben mögen. Dieses
System wird niemals national werden, und ich sehe nicht den ge*
ringsten Nutzen dabey, wenn es auch eingeführt würde. Fabel für
Fabel so will ich lieber die griechische, die mir schon bekannt ist,
als eine barbarische, die ich erst lernen muß. Es hätte gar wohl bey
der vortrefflichen Ode eines Skalden^ und ein Paar Versuchen des
H[errn] Kretschmanns sein Verbleib haben können. Es ist nur gut,
daß Wieland, nachdem er einmal zur Natur zurückgekehrt, der*
selben getreu verbleibt. Bey dem ausgebreiteten Beyfall, den seine
x\rbeiten erhalten und verdienen, würde sein Exempel ansteckend
seyn. Sein goldener Spiegel ist seiner würdig. Ob der Hof an den
er neulich gerufen worden, ein ihm schicklicher Aufenthalt sey,
wird die Zeit lehren: ich zweifle, ob ich gleich wünsche, daß er
nicht zu oft wechseln möge ...
[Im folgenden schildert Uz das Zustandekommen seiner Horaz*
Übersetzung.]
Nicolai an Uz
Berlin, d. 17. Jänner 1775.
Herr Leibarzt Zimmermann erzählte mir einmahl, daß wenn der
Poet Jakobi bey seinem öftern Durchreisen durch Hannover, ihn
besuchen wollen, und ihn, wie es oft geschehen, nicht zu Hause
gefunden habe, allemahl anstatt einer Karte, wie sonst gewöhnlich,
sein neuestes Gedichtchen abgegeben habe. So habe er sich lange
mit ihm weiter nicht unterhalten als durch seine Werke. Bald gehts
mit unserem Briefwechsel ebenso . . . Also meine Karte daß ich da
bin, bekommen Sie beyliegend" denn wahrhaftig, ich bin so eilig,
daß ich nicht einmahl warte, ob Sie zu Hause seyn wollen, um mich
zu sprechen ...
■ Offenbar Gerstenbergs »Gedicht eines Skalden«^ gemeint.
- »Sebaldus N'othanker«.
336
Uz an Nicolai
[ohne Datum. Nicolai: »1773 28. Juni« empfangen.]
Mit Geschenken darf ich mit Ihnen nicht wetteifern, theuerster
Freund, das sehe ich wohl. Kaum schicke ich Ihnen eine mittel?
mäßige Übersetzung \ so erhalte ich dagegen eine Original*Schrift
die Ihres Geistes und Ihres Ruhmes in aller Absicht würdig ist. Sie
bleiben also wieder im Vorschuß. Das Publikum muß, wie ich, auf
eine angenehme Art überraschet worden seyn, von Ihnen einmal
wieder ein Produkt des Genies zu sehen, wie man Ihnen zwar jeder*
zeit zugetrauet, aber bey Ihren Geschäften und Zerstreuung nicht
gehoffet hat. Magister Sebaldus ist über mein Lob erhaben, u. je
öfter ich in seiner Geschichte lese, je mehr vorher übersehene Schön*
heiten nicht allein, sondern gründliche, manchmal nur flüchtig an*
gedeutete Bemerkungen finde ich. Was für eine rührende Scene um
das Sterbebette der lieben Wilhelminel Zwar werden Sie in ein
^?C'espennest gestochen u. viele von der Geistlichkeit bitterböse ge*
macht haben. Es ist wahr, Sie stellen diese Herren auf einer sehr
häßlichen Seite vor. Der Herr Consistorial*Präsident, dieser meister*
mäßig gezeichnete Charakter, und der H. Superintendent, die auf
dem Titel*Kupfer beyde sich so vortrefflich ausnehmen, haben wohl
in der wirklichen Welt ihres gleichen. Aber es ist auch wahr, daß
Sie einem Geistlichen wiederum einen sehr edlen Charakter bey*
legen, nehmlich dem Sebaldus, der aber freylich ein Heterodox ist.
Die Gespräche, welche rem librariam betreffen, sind wohl etwas
weitläuftig und unterbrechen die Geschichte ziemlich lang, werden
daher auch von manchen die zum Zeitvertreibe lesen, überschlagen
werden. Das mögen sie denn thun. Ich meines Theils habe sie mit
Vergnügen gelesen und finde sie voll wahrer und gemeinnütziger
Bemerkungen. Gott gebe, daß sie Frucht bringen welches aber mehr
zu wünschen als zu hoffen ist . . .
[Am Rande, auf Nicolais Anfrage nach Götz' Lebensumständen:]
Von Hrn Götzen weis ich Ihnen auch nichts zu sagen, weil, seit*
dem er von Halle weggegangen, ohne Abschied von mir zu neh*
men, ich keine Verbindung mit ihm gehabt. Er war ein stiller guter
Mensch, von hübschem Ansehen, aber in dürftigen Umständen,
' Uz' HoraziÜbersetzung.
22 Sommerfeld, Friedrich Nicolai 337
informierte auf dem Waysenhause, u. brachte die Nachmittage bey
mir und dem Anakreon zu.
Uz an Nicolai
Anspach, 18. Dez. 75.
. . . Hr Göthe hat, wie ich gleich gedacht, Ihre Freuden des jungen
Werthers übel genommen. Das sehe ich aus seinem Prometheus ^
Er ist gar zu empfindlich, da er sich doch soviele Freyheiten gegen
andere herausnimmt. Warum aber Hr. Wieland, in seinem neuen
Mercur zu äußern nöthig erachtet, das Sie sein Freund nicht wären,
wundert mich. Ich dachte Sie wären mit ihm völlig ausgesöhnt . . .^
Uz an Nicolai
Anspach, d. 4. Juli 1776.
. . .Wie wohl wars mir beym Lesen [des Sebaldus Nothanker, Bd. III]
da ich wieder einmal gutes Deutsch fand! Zu einer Zeit, da man
unsere Sprache recht mit Gewalt wieder verderbt, nachdem es so
viel Mühe gekostet, sie zu verbessern] Wir sollen itzt wieder wie
Hanss Sachs, reden u. schreiben; und nicht nur im Scherz: denn
das möchte hingehen, und so gebrauchen die Franzosen ihre Marcts«
Sprache, auch in ernsthaften Dingen will man uns diesen Jargon
aufdringen. Was müssen Ramler, Mendelssohn, die Meister unse#
rer Sprache, denken. Es ist rühmlich daß Sie in Ihrer Bibliothek die
ich noch immer von Ihrer Gütigkeit erhalte, mehrmalen wider die*
ses Unwesen reden. Ich hoffe auch diese Epidemie von Narrheit
soll endlich wieder vorübergehen . . .
Nicolai an Uz
Leipzig, d. 12. Okt. 1776.
. . . Hier haben Sie wieder eine Kleinigkeit, die unsere Genies, si
DIS placet, in ihrer Selbstzufriedenheit, ein wenig stören solP. Die
Idee kam an einem frölichen Tag auf dem Lande und die Vorrede
^ H. L.Wagners »Prometheus Deukalion u. s. Rezensenten« gemeint.
^ Demnach, wie auch aus vorangegangenen Briefstellen an Nicolai ersichtlich»
bezieht Uz dieWielandsche Äußerung »Herr N. ist nie mein Freund gewesen...«
(s. o. S. 157) auf die bekannte Charakteristik Wielands in den Nicolaischen »Brie*
fen über d. itzigen Zustand«.
' Der feyne kleine Almanach.
338
kostete auch Einen Tag. Aber die Sammlung selbst, kostete mehr
Mühe. Wenn mir unser Freund Weiße nicht eine alte Samrn*
lung von Bergliedern, die im 16ten Jahrhundert in Nürnberg
gedruckt ist, mitgetheilet hätte, wäre ich garnicht zu Stande ge*
kommen.
Gibts in Franken keine Volkslieder? Wie wäre es, wenn Sie zum
2ten Jahrgange einen kleinen Beitrag einsenden könnten. Sie wer«
den ja Bänkelsänger und Mordgeschichtsänger haben, die ihre Lie?
der verkaufen.
Ich habe gestern den Hrn v. Knebel aus Weimar gesehen. Er ist
ein wenig vergöthisiert, aber doch noch der brave offene Mann.
Uz an Nicolai
Anspach, den 2. April 1777.
. . . Mit größtem Vergnügen habe ich die meisterhafte Vorrede [zum
Almanach] gelesen, die wiederum ein Wort zu seiner Zeit geredet
ist . . . ich wollte Ihrem Verlangen, dergleichen Volkslieder aus hie«
siger Gegend beyzutragen, womöglich ein Genüge leisten. Es wollte
mir nicht glücken. Die Bänkelsänger kommen seit geraumer Zeit
nicht mehr in die Stadt . . . Zum letzten Jahrmarkte hörte ich von
einer Weibsperson, die Traumbücher und schöne weltliche Lieder
feil hätte. Ich ließ den ganzen Kram hohlen, fand aber nur wenige,
die einigermaßen Ihrer Absicht entsprechen. Neue Lieder werden,
bey dem wiederhohlten Druck, mit untergemischt, und es kann
nicht fehlen, daß nicht auch die alten hier und da verändert werden.
Ich schließe hier bey was ich ausgesucht habe'. Mit beygesetzten
Melodien habe ich keine angetroffen . . .
Nicolai an Uz
Berlin, d. 25. Apr. 1777.
. . . Ich danke Ihnen für die übersendeten Lieder, von welchen zu
meiner Absicht freylich nicht viel zu brauchen seyn wird. Doch
sind sie mir der Sammlung halber lieb- Ich mache vom Almanach
nur Einen Band noch, damit der Spaß nicht allzulang dauere und
dazu habe ich noch einen ziemlichen Vorrath alter im löten Saeculo
gedruckter Lieder . . .
' Nicht erhalten.
22* 339
Uz an Nicolai
^ Anspach.d. 15. Sept. 1777.
... Es herrscht eine gewisse Mattigkeit im Reiche des Witzes und
es thut fast Noth, daß eine neue Schnurre die deutsche Literatur
belebe. Der Barden* u. Balladen*Geschmack ist altvaterisch, das
Empfindsame wird verlacht. Man braucht etwas neues, wenn es
gleich nichts besseres ist. Denn zum antiken Geschmack der Natur
scheint man noch nicht zurückkehren zu wollen . . .
Uz an Nicolai
x\nspach,d. 25. Sept. 1779.
. . . Kaum haben Sie sich Wielands erwehrt, so tritt schon wieder
Voß auf \ der sich zum Streit mit Ihnen recht mit Gewalt drängt,
und in einem sehr hohen Ton spricht. Die Herausgabe des Musen*
almanachs macht ihn doch nicht so stolz . . .
Nicolai an Uz
Leipzig, d.U. Okt. 79.
. . . Der Vossische Angriff auf die Bibliothek, bedeutet nicht viel
und sein Gegner wäre ihm vollkommen gewachsen, wenn er es für
nöthig befände, ihm zu antworten. Herrn Voß ist von dem Grafen
von Stollberg der Ertrag der Stollbergischen Iliade geschenkt wor*
den. Hr. Voß spricht also nicht eigentlich für seines Freundes Poe*
sie, sondern für seinen eigenen Beutel . . .
NICOLAI AN HÖPFNER
Berlin, d. 5. März 1776.
. , . Kurz nach Empfang lihres letzten Briefes] fieng ich an, nachdem
ich mich seit der Michaelmesse, durch viele Handlungs* und andere
verdrießliche [Geschäfte] durchgearbeitet hatte, den 3ten Theil
eines Werkchens- anzufangen, das zwar die Welt noch sehr wohl,
länger als die Ostermesse hätte entbehren können, dessen ich in der
That aber nachdem ich einige Jahre lang daran habe denken müssen,
' Nicolai am Rande: non curo!
- Sebaldus Nothanker
340
so überdrüssig bin, daß ich es für eine Glückseligkeit ansah, es ganz
aus meinem Kopfe herauszuschreiben, damit ich nicht mehr daran
denken dürfte ... Im Anfange ward mir die Arbeit sehr sauer. Sie
können leicht erachten, wie vieler kleiner Umstände man sich er*
innern muß, wenn man an die Fortsetzung eines solchen Wercks
beynahe seit Jahresfrist nicht gedacht hat. (Ich hatte im vorigen
Sommer kaum wenige Tage daran denken und etwan i Bogen
schreiben können, weil ich viel Handl. Geschäfte gehabt und zu
dem Anhange der Bibl. aus Noth, an 200^ Bücher und Kupfer*
Stiche hatte anzeigen müssen weil ich keinen Recensenten finden
konnte.) Indessen da ich mir den ganzen vorgesetzten Plan wieder
lebendig gemacht hatte, so gieng die Arbeit so schleunig von statten,
daß ich, zu meiner eigenen Verwunderung, mit diesem Theile, gegen
Ende des Februars, also etwan in 6 Wochen ganz fertig war . . . Dazu
kam, daß eben, da ich am meisten beschäftigt war, Hr. Lessing nach
seiner Zurückkunft aus Italien sich hier 3 Wochen aufhielt. Ich
sähe ihn, wie leicht zu erachten oft und er mich, und wir waren
wöchentlich 3 ä 4 mahl auch öfter zusammen zu Gaste. Dieses
Leben von 6 Wochen, die allzustarke Anstrengung, das viele
Sitzen, vielleicht auch die sehr strenge Kälte, brachten mich, eher
ich noch mit dem 3ten Theile ganz fertig war, so herunter, daß ich
nicht i Stunden zu lesen oder zu schreiben [vermochte], ohne
schwindlicht u. s. w. zu werden. Ja! einige Tage lang, war es mir
nicht möglich, einen Gegenstand anschauend zu denken. Meine
Kur war, und sie war höchst nöthig, daß ich 8 bis 10 Tage, gar
nichts tat, sondern täglich spazieren ging und ritt, wodurch ich
wieder so weit kam, daß ich meinen 3ten Theil endigen konnte.
Sobald dies geschehen, gieng ich an einen Berg von Briefen, die
sich gesammlet hatten, ob ich gleich noch nicht, den ganzen Tag,
ununterbrochen fortarbeiten kann. Ihr Brief ist wie billig, einer
von den ersten.
Ich sehe eben, daß ich um Einen Fehler zu entschuldigen, den
2ten gemacht, und beynahe li Seiten von mir selbst vollgeschrieben
habe. Aber ich mußte Ihnen meine Lage umständlich darstellen, weil
Sie sonst, mit Recht über mich ungehalten seyn könnten, daß ich,
bey der großen Thätigkeit, die Sie für die allg. deutsche Bibl. zeigen,
■' »200« verbessert aus: ? [unleserlich].
341
in Beantwortung Ihres Briefes so nachlässig wäre. Ich hoffe aber,
nicht wieder in diesen Fall zu kommen.
[Der Rest des Briefes betrifft Höpfners Tätigkeit für das juris*
tische Fach der Allgem. Dtsch. Bibl. und die Schwierigkeit der Be*
Schaffung von Rezensionsexemplaren für Höpfner. Aus diesem Teil
des Briefes nur den einen Satz:]
Zuletzt werden Sie per piam fraudem, wohl einige Bücher, die
nicht herbeyzuschaffen sind, aus andern Journalen kurz anzeigen
müssen, [am Rande :] welches doch immer besser ist als wenn sie ganz
wegbleiben. Wenn man thut, was man thun kann, thut man genug.
[Am Rande von S. 2 dieses Brief steht:]
Ich warte mit Begier, auf die Anzeige von den Bey trägen zur
Preuß. Jurist. Gelehrs. Sie sind von Geh. R. HymmenMer (sub
rosa) . . . sich wegen Recens. s. Gedichte hat rächen, und die Bibl.
fiscalisch machen wollen, unter dem Vorwande sie sey nicht censirt.
Dieses hat mir einige Wochen lang viel Mühe gemacht. Aber ich
habe mich mit Ehren herausgezogen, da das ganze Staatsministerium
auf meiner Seite war. Dieß muß auch auf Ihre Recens. keinen Ein=:
fluß haben. Vielmehr sagen Sie, was Recht ist, und erlauben Sie
mir, wenn etwas . . . [unleserlich] hier lassen könnte, als ob ich das
Jus talionis spielen wollte, es lieber zu ändern. Doch schreiben Sie
auch dreist als wüßten Sie nichts davon.«
Aus dem Brief Nicolais an Höpfner v. 10. X. 75 (Hs. ebenfalls im
Hochstift) sei hier die für die Zeichengebung in der AD Bibl. wich*
tige Stelle mitgeteilt: »Ich habe bemerkt, daß Sie nur unter sehr
wenige Anzeigen Zeichen gesetzt haben. Ich habe sie daher will*
kürlich unter die übrigen gesetzt. Übrigens wird zwar im Abdrucke,
wenn mehrere Rezensionen von Einem Zeichen zusammenkommen,
zwar nur unter die letztern das Zeichen gesetzt, aber im MSP muß
unter jeder Anzeige das Zeichen vv'iederholt werden, weil zuweilen
in der Druckerey die Recens[ionen] anders rangirt werden, oder
auch aus Einem Stücke ins andere übergehen . . .«
1 Vgl. Nicolai an Höpfner 12. III. 73 (ungedr. Hs. im Hochstift) und 19. IX. 76
(ebenda), wo Nicolai Hymmen, der durch abfällige Rezension seiner »Poetischen
Nebenstunden« gekränkt sei, als Denunzianten darstellt, und von der Staats?
ratssitzung erzählt, die der A. D. Bibl. die Censurfreiheit erwirkt habe.
342
AUSSCHLÖZERS BRIEFWECHSEL MIT
NICOLAI
Schlözer an Nicolai
Göttingen, d. 29. XII. 7L
. . . Nicht rufe ich den treuherzigen Contribuenten entgegen : ihr habt
für euer Geld nicht genug, sondern, ihr habt gar nichts, ihr habt
noch weniger als nichts empfangen. B[asedowls Plan ist schäd*
lieh, er untergräbt Religion und Literatur . . . Bewahre mich
Gott, den Vorurteilen der Orthodoxie das Wort zu reden! Aber
Religion braucht der Staat als ein Bedürfnis ; und zwar geoffenbahrte
Religion, sie sei vom Mose oder Xaca; und diese untergräbt B.
tückisch in seinem Elementarbuch. Sei er doch ein Arianer, was geht
es mich und die Erziehung an! Aber tückisch muß er nicht in
Deutschland den Arianismus predigen, wenigstens nicht ins Ele*
mentarbuch einflechten wollen. D er Prosely tengeist ist gerade
so ein Ungeheuer wie die Intoleranz, B. schützt sich mit sei*
nem Gewissenstrieb: ein horribler Gedanke! Alle Königsmörder
handeln aus Gewissenstrieb . , .
Nicolai an Schlözer
Berlin, d. 20. 1. 72.
... In Absicht auf die offenbarte Religion, die Sie dem Staate un*
entbehrlich halten, bin ich nicht Ihrer Meinung. Der Staat, braucht
Religion, aber mich dünkt keine geoffenbarte Religion hat auf
den Staat als Staat einen wohltätigen Einfluß. Die reine natürliche
Religion, die jeder geoffenbarten Religion eingewebt ist, thut gute
Wirkung, aber das, was an jeder Religion eigentlich das geoffen*
harte ist, kann zwar unter gewissen Umständen zu heftigen Revo*
lutionen Triebfedern geben, aber dem Wohlbefinden des Staates
sind sie beynahe gleichgültig . . .
Schlözer an Nicolai
Göttingen, d. 2. II. 72.
... In der Fra^e, ob ohne geoffenbarte Religion in der Welt aus*
zukommen sey, verstehen wir uns noch nicht. Religion, reine Reli*
gion hat auf Philosophen, hat auf alle Menschen Einfluß: aber die
343
meisten Menschen der Welt sind Pöbel, diese begreifen, glauben,
befolgen die Sätze der natürlichen Religion nicht ohne Vehiculo,
ohne praeiudicio auctoritatis, ohne den Glauben einer Offenbarung.
Ich weiß nicht ob ich mich deutlich genug erkläre, aber ich wollte
Sie erübrigten einige Stunden zu einem eigenen Aufsatze über diese
delikate aber selbst für die Politik importante Materie; ich wollte
auch einige Stunden zur Antwort erübrigen . . .
Nicolai an Schlözer
Berlin, d. 14. III. 72.
... Ihre Aufforderung, die Frage, ob die geoffenbarte Religion
einem Staate nothwendig sey, mit Ihnen zu untersuchen, ist mir
gewiß schmeichelhaft, denn sie setzt voraus, daß Sie mir einige Fähig*
keit zutrauen, diese in der That wichtige, und sehr delikate Materie
zu untersuchen. Ich habe auch oft und viel darüber nachgedacht,
da sie in das Studium, das ich vorzüglich liebe und treibe, das
»Studium des Menschen« einen so unmittelbaren Einfluß hat. Aber
ich bin im Ernst der Meinung, daß man mit Niemand über diese
Materie schriftlich disputieren könne, ehe man lange mündlich mit
ihm darüber gesprochen hat, und mit ihm über verschiedene Prä?
missen einig geworden ist. Ich habe aus der Erfahrung, daß dis nötig
ist. Gehet man hierin nicht vorsichtig zu Werke, so glaube ich, dis
ist eine Materie, über die sich die besten Freunde veruneinigen
können und zwar desto geschwinder, je mehr sie die Wahrheit
lieben. Nehmen Sie also nicht übel, wenn ich verbitte, mit Ihnen
hierüber Briefe zu wechseln. Bin ich jemals so glücklich, mich münd*
lieh mit Ihnen zu unterhalten, so soll dis der erste Gegenstand un?
seres Gesprächs seyn. Damit Sie aber nicht glauben, daß mein Still?
schweigen aus Mangel des Vertrauens, so will ich ein paar Worte
im Vertrauen sagen.
Ich glaube nicht, Offenbarung sey in allen Fällen als ein Vehi*
culum der natürlichen Religion notwendig, oder es sey notwendig,
etwas Falsches anzunehmen, damit der Pöbel ein Vehiculum für die
Wahrheit oder ein praeiudicium auctoritatis habe. Ich befürchte,
dies ist der Weg zur Hierarchie, und hält die Hand oft von ganz?
lieber Reformation ab.
Ich glaube hingegen : Wenn ein Volk die bloße reine natürliche
344
Religion hätte, so würde aus natürlichen Ursachen (wenige Um*
stände die hier eine Ausnahme machen ausgenommen) in wenigen
Generationen Zusätze aus einer positiven Religion entstehen. So
sind meines Erachtens alle Offenbarungen entstanden, deren sich
verschiedene Völker des Erdbodens rühmen. Mir ist dis noch deut?
licher, wenn ich mir die Gemüthsbeschaffenheit eines wilden Volkes,
seine Bedürfnisse und die Beschaffenheit seiner Sprache vorstelle —
die Pflicht einer erleuchteten Regierung ist, jeden positiven Zusatz,
den sie in der eingeführten Landesreligion findet, nach dem Ein*
fluß auf den itzigen Zustand des Staates zu betrachten, aber nie
deshalb diese Zusätze für unwiederruflich zu halten, weil sie itzt,
dem Staate nicht immediat schädlich oder mediat nützlich
seyn. So ist die Unterschrift der 39 Artikel in England für den
Staat nützlicher als für uns die Unterschrift der symbolischen
Bücher, und sie war unter Anna, als Bolingbroke den Stuarts
geneigt war, wichtiger als itzt. Diese Wichtigkeit ist aber nur
zufällig, die Schädlichkeit des Einschränkens der Freiheit zu den*
ken ist wesentlich. Ich glaube die abstrakten Wahrheiten können
für den Sensum communem gebracht werden, wenn die Ge*
müther dazu vorbereitet sind. Daß es Gegenfüßler gebe und
daß es unnöthig sey einen Statthalter Gottes auf Erden zu haben,
wäre nicht vor den Sensum communem des 14. Jahrhunderts zu
bringen gewesen, aber wohl vor den Sensum communem des
18. Jahrh. So ist's auch mit den Wahrheiten der natürlichen
Religion; sobald sie vor des Pöbels sensum communem können
gebracht werden, brauchen sie weder ein Vehiculum noch Autori*
tat, und wirken desto kräftiger.
Um mich noch etwas näher zu erklären, so sende ich Ihnen eine
Kopie dessen, was ich in mein Gedankenbuch schrieb, als ich
Ihren vorigen Brief beantworten [wollte]. Dis alles im Vertrauen
denn es dürfte gefährlich seyn, es öffentlich an einen Ort zu schrei*
ben wo eine theologische Fakultät ist. Sie denken zu edel als daß
ich befürchten dürfte, daß Sie mein Vertrauen im geringsten mis«
brauchen würden. Und nun im ganzen Ernste, lassen Sie uns diese
Materie nie in unsern Briefen erwähnen. Ich bin fest überzeugt, daß
man ohne mündliche Unterredung hierin nicht weit hinein dispu*
tieren kann . . .
345
Schlözer an Nicolai
Göttingen, d. 3. VIII. 72.
... In meiner natürl. Religion steht nur Ein Satz: es ist ein Schöpfer.
Vorsehung und Unsterblichkeit der Seele ist nicht darin, nur Mög?
lichkeit daß der Schöpfer uns durch Offenbarung Sätze lehren könne
die wir sonst nicht wüsten. II. Die Ruhe der Welt hängt davon ab,
daß besonders der sonst indomtable Pöbel, einen Rächer u. ein
künftiges Leben glaube. Die Weltgeschichte zeigt mir dieses als ein
besoin des menschl. Geschlechts. III Diese Sätze sind nach meiner
Ketzerei, an sich nicht zu beweisen; aber wären sie es auch so kann
der Pöbel doch'den Beweis nicht begreifen: Er glaubt sie bloß. IV-
Er glaubt sie, aut bloß dem Priester — ohnmöglich giebt dies einen
festen Glauben, aut dem Schöpfer par l'entremise eines Buchs und
eines Priesters, d. i. er glaubt den Satz, weil er in einem Buche steht,
von dem er glaubt, daß es vom Schöpfer sei — dieser Glaube ist
dem Pöbel angemessen, wenngleich in der Mitte ein neuer Glaube
steht (daß nämlich der Satz im Buche stehe, daß das Buch vom
Schöpfer sei. Beides glaubt er freilich nur dem Priester) . . . IZu
Schlözers Bemerkung »ein nützlicher Irrtum« sei ihm »lieber als
eine schädliche Wahrheit.« bemerkt Nie. am Rande: »Mir nicht
und keinem Philaleten. Es gibt aber auch keine absolut nützliche
Wahrheit so wenig als einen absolut nützlichen Irrtum.«]
Nicolai an Schlöt^zer
Berlin, d. 20. VIII. 72.
. . . Den Disput wegen der natürlichen und offenbarten Religion muß
ich abbrechen. Zu einem schriftlichen Streit wird alzuviel Zeit er#
fordert und ich habe so wenig Zeit. Dazu weiß ich aus der Erfah*
rung daß man mündlich in einem Monat weiter kommt als schrift*
lieh in 2 Jahren. Zumal wenn man in den Prinzipien nicht ganz einig
ist und hier sind wir, befürchte ich, sehr weit auseinander. In meiner
natürlichen Religion steht ein Schöpfer ein Erhalter eine Vorsehung,
ja sogar ich kann diese Begriffe nie trennen, die Unsterblichkeit der
Seele in höchster Evidenz folgt daraus. Wäre dis nicht, so wäre die
geoffenbarte Religion ein sehr schlechtes Supplement zur natürlichen.
Denn und wenn auch D. Miller oder D. Leß oder wer weiß welcher
Theologischer Facultist vor mir stände: — ich kann nichts was zu
346
meiner wahren Glückseligkeit gehört, bloß deswegen glauben, weil
es in einem Buche steht, dessen widersprechende Lesarten auszu*
sprechen mehr als 50 000 II Sterl. kostet. — Der Pöbel muß regiert
werden — gut — aber durch den Glauben an ein Buch, an das seine
Gesetzgeber nicht glauben ? WelcherWiderspruch ? Wie nun ? wenn
der Pöbel an das Buch nicht glaubt so ist aller Zaum weggeworfen.
Pöbel heißt in diesem Verstände alles was nicht Priester ist, u. dis
bahnt meines Erachtens den Weg zur abscheulichsten Hierarchie.
Man darf nur die protestantische Kirchenhistorie nach der Refor*
mation nachschlagen. Doch genug abermals! Bin ich jemals so glück*
lieh mit Ihnen einige Tage zubringen zu können, so will ich mich
gern überWahrheiten mündlich unterhalten, die der Zeit der Gegen*
stand meiner ernsthaftesten Betrachtungen gewesen sind, seitdem ich
angefangen habe zu denken. Schon 1746 auf dem Hallischen Waysen*
hause, mitten unter heuchelhaften Erweckungen anderer habe ich
nie geheuchelt, aber bey mir selbst nach meinen besten Kräften
Wahrheit und Irrtum untersucht; so habe ich beständig fortgefahren
und bin mit mir über mein Religionssystem längst einig so daß meine
angelegentlichste Beschäftigung alle meine Handlungen darauf
zurückzuführen . . . Geschichte und eigene Erfahrung überzeugt
mich, daß man ums 40 te Jahr keine neuen Grundsätze annimmt,
also mag ich meine Grundsätze auch weder anpreisen noch mir
widerlegen lassen. Sie führen mich auf moralisch gute Handlungen
und dis ist mir genug ...
EBERHARD AN NICOLAP
[Charlottenburg]
»Allerdings, werthester Freund! hab ich M. Brief bey zulegen ver*
gessen, wie ich gleich darauf - gewahr worden bin. Er folgt aber an*
bey, sowie He[rrn] Pf[enningern] seiner. Dieser Mann scheint ihre
Meinung über Herd[ers] Urk[unde] gar nicht begriffen zu haben;
es sey nun, daß er sie nicht hat begreifen können oder nicht be*
greifen wollen. Die Richtigkeit von Herd. Hypothese beyseite ge*
' Nicolais Empfangsnotiz: 23. VII. 74.
= Voriger Brief: Empf. 22. VII. 74.
347
setzt: so kann der Dythirambenton im dogmatischen Vortrage nicht
anders als beleidigen. Er verdunkelt, ermüdet, alles was sie wollen,
und — wenn endlich das was er ausposaunt weder so gar neu noch
gar genau u. richtig ist — so ist er Marktschreierey. Wenn das Sachen
sind die man für Vorurteile des Alters halten [muß] so sind die
Aelteren zu beklagen u. die Jüngern zu beneiden! so verlohnte es
sich wohl die Mühe im 20 sten Jahre seine Bücher in die Spree zu
werfen, des Nachts bey hübschen Alägdchen zu schlafen, den Tag
über bey Austern u. Champagnerwein mit ihnen zu schäckern, um
einen Jünglingskopf ohne Vorurteile behalten zu können. Wir
kommen beynahe, u. die Schwätzer am meisten, auf die übermüthige
Vernunftverachtung, die man seit einiger Zeit in Frankreich Genie
nennt, u. womit sich die sogenannten Philosophen dieser Nation
Platz gemacht haben. Wenn man nun den Vernunftverächter, oder
besser, das Genie Diderot, gegen das Genie Pfenninger oder Herder
wie ein Besessener gegen den anderen deklamieren sähe, das müßte
ein reines Stiergefechte geben. — Beynahe bin ich des Dinges müde
— Leben Sie wohl. N^'^ehe mir daß ich nicht bey Ihrem Concert
seyn kann.
Eberhard.
Hier ist eine Rezension von Hamanns fame et lege\ Wenn nur
nicht das zu Anfange der Rezension stehende Wort disparatere
durch e. Druckfehler in desperatere Köpfe verwandelt [wird]. Ich
sehe es fast vorher.
AUS LAVATERS BRIEFWECHSEL MIT
NICOLAI
Nicolai an Lavater-
Hrn. Pred. Lavater in Zürich Berl[in] d. lOten März 1770
Zu Ew. Hochehrwürden Antwort an Hr. Moses, hat Hr.
Moses die anbey Sub A liegende Nacherinnerungen aufgesetzt,
' Es ist die Rezension von Hamanns Hervey^BolingbrokesÜbersetzung Allg.
Dtsch. Bibl. XXV, 1, 506. In der Rezension steht »disparatere«.
^ 1 Bl. i. kl. 4°, V. H. e. Schreibers. Auf der 4. Seite eigenhändige Notiz Nicolais:
»1770 Mart. Copie eines Schreibens an Hrn. Lavater«.
348
daß sie zugleich mit der Antwort sollen abgedruckt werden. Da
Herr O.C. R.^Spalding und Hr Prediger Lüdke hierwieder nichts
einzuwenden hatten, so ward vorigen Dienstag beydes in die
Druckerey gegeben und das Schreiben war beynahe ganz abgesetzt
als HrPr. Lüdke Ew. Hochehrwürden Schreiben mit den Zusätzen
bekam. Sie wurden Hrn Moses mitgetheilet der darauf die Sub B
befindliche Erklärung gab und als beydes dem Hrn OCR Spalding
übersendet worden, so erklärete Er sich sub C das Hr. Moses An*
merkungen Ew. Hochehrwürden vorher mitgetheilet werden müsse.
Ich habe also das gantze Mspt. vom Buchdrucker abholen lassen und
befohlen, die bereits abgesetzte Seiten bis zu Ihrer näheren Erkläh*
rung stehen zu lassen, und sende anbey ebengedachte Stücke, nebst
den Zusätzen selbst. Die Antwort habe ich, um das porto zu
sparen nicht beygelegt, weil aus den Zusätzen erhellet, daß Sie davon
eine Abschrift haben und das Hrn. F. Zollikofers Veränderungen
nicht eben wesentlich sind und meist nur die Schreibart betreffen.
Ew. Hochehrwürden werden aus diesen Aufsätzen ersehen, wie
die Sache stehet und überlegen wie Sie Ihre Zusätze einrichten
wollen. Ich unterfange mich nicht Ihnen darin einen Rath zu geben.
So sehr ich mit vielen Freunden der Wahrheit wünschte, daß der
Streit zwischen Ihnen und Hrn Moses nicht weiter fortgesetzt werde,
so wenig kann ich Ihnen abrathen öffentlich zu sagen was Sie zu
Ihrer Verantwortung für richtig halten. Sie sind gewiß gegen
Hrn Moses eben so billig, daß Sie ihm nicht verargen, wenn er zu
seiner Verantwortung verschiedenes darauf erinnern muß.
Wenn dadurch der Streit erneuert wird, so geschiehet es gewiß sehr
wider seinen Willen. Seine Zeit ist so sehr eingeschränkt, daß er sie
aufs Streiten, am ungewissen [ungernsten?] anwendet, er siehet,
daß Sie und Er so verschiedene Grundsätze hegen, daß Sie kaum
recht durch Privaterörterungen, am wenigsten aber durch öffent*
liehen Schriftwechsel etwas ausmachen werden, und Sie werden auch
merken, daß Ihm nach seinen Grundsätzen der Streit so wichtig
nicht ist, als Ihnen nach den Ihrigen. Er kann viele Sachen dahin*
gestellt seyn lassen, die Sie genau erörtert wissen wollen. Sie wünsch«
ten, daß er ferner kein Jude bliebe, er hat aber nichts dawider ein*
zuwenden, daß Sie ein Christ bleiben.
' = Oberkonsistorialrat.
349
Ich bitte Ew. Hochehrwürden nur, mir mit der ersten oder wenig*
stens 2ten Post, zu antworten, damit mein Buchdrucker nicht alzu*
lange aufgehahen werde. Eins muß ich noch erinnern. Sollten Sie
etwan für gut finden, Ihre Antwort nunmehr in Zürich abzudrucken,
so muß ich mir es zwar gefallen lassen, und da ich darüber schon
ein Chursächs. Privilegium genommen habe, so will ich mich
dessen nicht bedienen, sondern es auf diesen Fall Ihrem Verleger
abtreten. Nur läßt Hr Moses bitten die Ihnen bloß zur Durchsicht
mitgeteilte Nacherinnerung auf keine Weise dort abdrucken zu
lassen. Weil er auf den Fall, daß Sie Ihre Antwort in Zürich ab*
drucken ließen, hier darauf ein besonderes 2tes Schreiben, worin er
sich auch über die Zusätze erkläret, will drucken lassen.
[am Rande]: die Nacherinnerung und die Erkl[ärung] auf Ihre
Zusätze, dürfen Sie nicht hierher zurücksenden, weil wir eine Ab«
Schrift haben.
Lavateran Nicolai^
Zürich d. 9. May 1770
Hochgeschätzester Herr,
Von Posttag zu Posttag warte ich auf das mir ausbedungene Exem«
plar der Antwort an Moses — aber immer zu meinem größten
Erstaunen, umsonst. Auch Herr Zimmermann hat, wie er mit schreibt,
noch kein Exemplar. Wo mag der Fehler seyn? — Ehestens also
wenn keines auf dem Weg ist, bitte ich mir Eins über die Post aus,
und die bestellten an Behörde [?] eiligst zu versenden werden Sie ja
nicht vergessen haben, oder vergessen?
Danken Sie dem gütigen Verfasser der Rezension der A ussichten
in meinem Namen: aber sagen Sie ihm, daß ich ihn bey den künf*
tigen Theilen sehr bitte, wenigstens auch die Hauptsätze, die Re*
sultate der wesentlichsten Raisonnements nicht zu verschweigen,
und mir die Gefälligkeit zu erweisen, mich wie er über den Punkt
von der Unsterblichkeit gethan hat, lieber zu belehren, oder mit ein
par Gründen zurecht zu weisen als gegen die ^anzustoßen,
* 1 Bl. 4" V. H. e. Schreibers. Adr.: »an Herren Friedrich Nicolai berühmten Buch«
händler franco Nürnberg in Berlin« auf der Rückseite Empfangsnotiz: »1770 OM
[= Ostermesse] Lavater«. Gut erhaltenes Siegel Lavaters.
= Unleserlich, auch durch wiederholte Vergleichung von Rezension mit\'orrcden
mir nicht entzifferbar.
350
deren in der Vorrede so deutliche Erwähnung geschieht. Die Zweyte
Auflage wird ihn übrigens belehren können, ob ich den Vorwurf,
daß ich bloß Beyfall, statt Correctionen gesucht, vor dem Publikum
verdiene. Versichern Sie ihn übrigens meiner aufrichtigen Achtung
und Dankbarkeit.
Ihr ergebener Diener Lavater.
Lavateran Nicolai^
Mein redlicher, verehrenswürdiger Gönner!
Wie sehr bin ich Ihr Schuldner! — und doch wag' ich es, Sie von
neuem zu bemühen: Ich bitte Sie, die Einlage so bald, und so sicher
als möglich zu bestellen . . . .'^ aber noch mehr bitte ich Sie, redlicher
Mann, — mir bäldest wahre Gefälligkeit zu erweisen — und etwas
von meiner geringen Arbeit ohne einiges Entgeld in Ihren Ver*
lag zu nehmen. Doch dieß scheint Ihnen vielleicht unbescheiden —
So sagen Sie mir sonst wie ich Ihnen meine Dankbarkeit und meine
aufrichtige Achtung bezeugen kann. Ich habe Hn. Hartknoch eine
gleiche Anerbietung gethan und ich wünschte nichts mehr, als —
etw^as bessers anbieten zu können als etwa ein Werkgen von mir? — Zu
allem was mir mögl. ist sollen Sie gewiß immer bereit finden Ihren
aufrichtigst ergebensten Diener und — darf ich hinzusetzen — Freund
J. C. Lavater
Zürich,
d. lO.Junius 1771.
N. S. oder steht Ihnen Buttlers von dem seeligen Heß übersetzte
Predigten od. Abhandlungen ein Werk von 20bogen um«
sonst an?
La vater an Nicolai^
Hochzuverehrender Herr,
Ich kann dies Jahr nicht beschließen, ohne Ew. Hochedelgeb.
auch noch mit Einem Worte den richtigen Empfang des XV Bandes
der A. D. B. welchem Sie mein Porträt vorzusetzen beliebten, dank^
' 1 S.4" eigenhändig, ohne Adr. Empfangsnotiz Nicolais auf der Rückseite, »1770
23 Jun. Lavater«, darunter [eigenhändig]: »6 Jul. bw.«
-' Sic.
* 1 S. 4° V. anderer Hand. Empfangsnotiz Nicolais auf der Rückseite, »1772
2 Januar Lavater«. »18 Febr. be[ant]w[ortet]«.
351
bar zu melden. Ein unerwarteter ^ darf ich sagen? bestürzender
Anblick. Hätten Sie doch, wenn Sie einmal so viele Gütigkeit haben
wollten, mir auch nur ein Wort davon gesagt! Ueber Frisur und
Kleidung lasse ich meine Freunde sich ärgern. Ich lache dazu; aber
ich habe noch Eitelkeit genug, als ein kleiner seynwollender Physio*
nomiste . . mich über das fade, eckelhafte Mundstück, ein Bißchen
zu ärgern. Ich kann indeß leicht begreifen; daß nach dem Original,
das Sie gehabt haben müssen, nicht viel besseres möglich war. Es
bleibt mir also doch zulezt nichts übrig, als Ihnen für die unver*
diente Ehre, die Sie mir erweisen wollten zu danken. Ich werde
mich glücklich schätzen, wenn Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen
meine Dankbarkeit und Achtung zu beweisen. Diesen Brief nicht
ganz lär zu lassen, nehme ich mir die Freyheit, einige Kleinigkeiten,
die man hier in Kabinetchen hinter Glas aufzuhängen pflegt, und
die ich zum Besten eines armen Mannes verfertigt, und ihm in Ver*
lag gegeben habe, beyzulegen. Für eben diesen Mann hab' ich auch
in Form eines Taschencalenders ein Christliches Jahrbüchlein
verfertigt, welches bey 2 Tagen die Presse verlassen wird, Stellen
der Schrift mit Anmerkungen oder Verschen begleitet. Darf ich
fragen, ob Sie gegen 25p cent. rabat in Commission etwa 100
Exemplare, gebunden oder ungebunden annehmen wollten? oder
an wen sich der Verleger etwa wenden könnte, um diese Dingerchen
desto eher zu debitieren. Er selbst hat keine Bekanntschaft in Berlin,
und ersucht mich, mich umzusehen. Verzeihen Sie mir. . . ich kann
Sie versichern, daß Sie dadurch einem ehrlichen Mann einen sehr
wichtigen Dienst erweisen würden. Auf Schreibpapier wird das
Exemplar von 6 Bogen in 24 mo ungebunden, etwa auf 6 ggr, auf
Weißdruckp[a]pi[er] etwa 5 ggr der Band mit vergöldtem Schnitt
und Futter etwa 4 ggr zustehen kommen.
iMit innigstem Bedauern höre ich, daß Herr Moses sich übel
befindet. Wie viel liegt allen Freunden der Weltweisheit und der
Literatur an der Erhaltung dieses lieben Mannes! dürfen Sie mich
ihm empfehlen, so thun Sie es doch. Ich bin mit vieler Achtung
Hochgeschätztester
Ihr ergebenster Diener
Zürich, den 21. Dezember 1771 Johann Caspar Lavater.
__
352
Lavater an Nicolai'
Mein werthester Herr Nicolai,
wahrlich noch nicht urtheilen sollt' ich, sondern
erst studieren. Das erfahr' ich alle Tage. Je mehr ich beobachte,
desto weniger darf ich urtheilen — Es ist wirklich Impertinenz, wenn
ich über Ihr Profil urtheile. Beyde liegen izt vor mir, — und ich
weiß nicht, was ich darüber denken und sagen soll. Unstreitig ist
die größere Zeichnung vortheilhafter, als die kleinere. Es ist mehr
Nuance, mehr eckigtes u. mehr musculöses im großen — jenes macht
den Eindruck von Verstand — dieses von Güte. Würd' ich das kleine
Bild allein sehen, so würd ich sagen — Ein Heiterer — aber nicht
profonder — ein witziger — aber nicht schöpferischer Geist. Die zu*
weit vorstehende Unterlippe gibt diesem sonst etwas hypochon«
drischen Gesichte eine etwas fatale Gestalt. Das größere ist in
dieser Absicht weit edler, ruhiger — überhaupt vermiß ich im
kleinen heitere, begegnende, fernleüchtende Güte, — das Ohr im
kleinen hingegen gefällt mir. Es ist viel Feinheit drin — das
Aug im großen zeichnet sich sehr bestimmt als gut und verständig
aus — nicht hats das Feste, Hohe, Stolze eines Helden — und auch
nichts — jesuitischschlaues — der nackte Umriß hat nicht das mo*
ralisch empfindsame — das ich oft im Nothanker — in Ihrem Herzen
zu lesen glaubte — was der Nase u. der Unterlippe und der schiefen
Oberlippe an einleuchtender Güte abzugehen scheint — das ersetzt
mir Aug, und der Ausgang der Oberlippe""' im größern wieder. Die
Kinnlade — gefällt mir. Das Vorwärtsstehen oder Sinken des Ge«
siebtes im kleinen Porträt nicht — zu der Perpendikularität des Um*
risses. Ich vermisse darinn — Adel. Das größere hat dieß nicht.
(O welch ein Gewissen sollte ein Porträtmahler haben — ) »Ge*
schmack« — ja — sagt Pfenninger, der mich eben über dieser Arbeit
antrift, mit seinem Gläschen hinter mir auf meine Schulter herab«
guckt — (ein scharfer, feiner, tiefdringender Beobachter) »Ge«
schmack und Witz und Klugheit ist doch gewiß in diesem Gesichte
' 4 eng beschriebene Blätter in gr. 8", ohne Adr., auf der 4. Seite vermerkt Nis
colai: »1774 d. 28. Febr. Lavater. OM [= Ostermesse] d. 24. Apr. be[ant]w[ortet]«.
Am Rand durch Einheften in d. Band alle 4 S. beschädigt; die abgetrennten
Worte sind indeß unschwer zu ergänzen.
' Aus: Oberflippe] Mund^Lippe.
23 Sommerfeld, Kriedrich Nicolai 353
— wahrlich, was ich im Nothanker in Buchstaben lese, seh ich hier
im Bilde.« —
Nun, wenn ich darf, noch ein ungebethnes consilium medicum
— Ihre Physiognomie ist freylich Eine von den Festen — (weniger
so scheints im großen Bilde) aber sicherlich ist sie noch, das ist,
Sie sind noch sehr perfectibel. Sie scheinen zu lange — nur ein*
seitig gelernt, gelesen u. studiert zu haben. Würden Sie nun einige
Jahre — eine andre Seite eben so einförmig durchwandeln, o —
wie würde sich Ihr, gewiß sehr perfectibles Herz — noch veredeln,
vermenschlichen, verbrüderlichen. Wenn ich frey herausreden soll,
ich wünschte, daß Sie sich ein halbes Jahr Mühe gäben, an allen
Menschen, mit denen Sie umgehen, nur das Gute, und bey allen
Schriften, die Sie lesen, nur das Wahre, Nützliche, Schöne — heraus*
zusuchen, herauszudestilliren — und für das Schlechte, Falsche,
Elende das Aug zuzuschließen, — ich verspreche Ihnen, daß Sie mir
mit dem wärmsten Herzen danken werden, wenn Sie Ihrer Natur
dies Opfer bringen — Ich verspreche Ihnen, daß Chodowiecki dann
ein Bild von Ihnen machen wird, das eben so viel edler, menschen«
freundlicher ist, als das große, so viel dies edler und menschen*
freundlicher ist als das kleine. Nun — hab' ich — mein Herz ge*
läärt — u. wahrlich müssen Sie mirs hoch anrechnen, daß ichs gegen
Sie gethan habe, was ich Zimmermann abschlug.
In mein größeres physiognomisches Werk kommen bey weitem
nicht nur Gelehrte. Sie haben recht, die Gelehrte sind zu einförmig,
zu wenig Menschen. Gelehrte, Schwärmer, Religöse, Künstler, Er*
finder, Bauern, Kinder, Frauen, Mädchen, — kurtz — was Mensch
ist und heißt.
Aber die Kontraste? — Sie haben vollkommen recht, die wären
doch Siegel der Wahrheit aber, wenn nur nicht großer Schaden
draus für Schwache und Lieblose entstühnde — u. dann — Sie kennen
die Schwäche des unerleüchtet frommen, des andächtelnden Publi*
kums, — und endlich — mag ich nicht fürchterlich werden. — Doch
will ich mir in Etwas helfen — daß Sie nicht ganz unzufrieden seyn
sollen.
Ihre Einwendungen wegen des Christuskopfes wird das Werk
beantworten. Moses Mendelssohns Schatten im Kleinen — vis ä vis
354
Ihres Königes Schatten im Kleinen — müssen Sie einmal sehen —
da spricht die Gränzlinie der Physiognomie — Es ist kein Mensch,
der in Moses nicht den Denker »den Mann, der nicht zum Ath*
leten geboren ist«, schon aus diesem Profile sehen werde — und im
Profile Ihres Königes (welcher jedoch nur aus Chodowiecki abstra*
hirt ist) wird jedermann den größten Athleten — u. das Gegentheil
von dem sehen, was Sie mir von Moses Mendelssohn sagen.
Nun — noch eine Bitte — oder vielmehr eine Frage? Ist keine
Veranstaltung durch irgend einen Hofmann, Minister, Liebling des
Königes möglich, um seinen Schattenriß zu bekommen. Genau hab'
ich — (Zwar damals war ich noch nichts weniger, als Physiogno*
mist — so wenig ichs auch itzt bin) genau hab' ich ihn beobachtet,
gezeichnet — (aber ich kann die Zeichnung nicht mehr finden) u.
ich habe selten, so viel ich mich noch erinnern kann, eine sprechen*
dere Physiognomie gesehen. Aber man sollte ihn ohne Perücke
zeichnen. Glauben Sie mir, daß der hindere Umriß des Kopfes sehr
bedeutsam ist. Unmaßgeblich könnte man ihm eine Portefeuille voll
seiner Lieblinge vorlegen lassen — die Anstalt zum Zeichnen schon
gemacht haben, und den Augenblick ergreifen. Oder dürfte Herr
Chodowiecki sich nicht geradezu melden, und um die Gnade an=
fragen lassen, Ihre Maj, nach der Natur zu zeichnen. —
Unter den vortreflichen Stücken, die mir dieser Künstler sandte
— eine so große Menge — wie wenig ausgezeichnete Gesichter! wie
wenig Erhabene wie wenig — wo das gute sichtbar überwiegend
ist, denn freylich ist kein Mensch ganz gut.
Ihr Bild werd' ich behalten dürfen? Oder soll ichs zurücksenden
u. darf ich eine Kopie davon nehmen lassen?
Ein Beweiß, wie schwach ich noch im urtheilen sey — Ich habe
letzthin eine Silhouette en blanc — (u. das ist freylich wenig) von
einem der größten Genies — für schwach — erklärt — Ich werde,
wenn Sie wollen, Ihnen einige senden^ — und Sie urtheilen lassen.
Chodowieckis Schatten ins Kleine reduziert wünscht' ich bäl*
dest zu haben.
Ich habe einen sehr bequemen Sessel zum Silhouettenzeichnen
machen lassen den...^ Hr. Chodow. auch machen lassen sollte...
' Nie. am Rande: NB!
- Ausgerissenes Stück: »sich«?
23* 355
[Folgt eine Beschreibung der »Maschine« mit drei Skizzen.] So viel
für diesmal. Leben Sie wohl. Ich bin Ihr aufrichtig ergebener Diener
Joh. Casp. Lavater
d. 19. Febr. 1774.
Nicolai an Lavater^
(Leipzig, d. 24. Apr. 1774.)
Hochehrwürdiger
Insonders Hochzuehrender Herr
Ich habe zwey Briefe von Ew. Hochehrwürden liegen, deren Daten
anzusehen und wieder niederzuschreiben ich mich fast schämen
[muß]. Sie sind vom 7. Dez. 73 und 19. Febr. d. J. Ich habe so viel
über die physiognomischen Materien mit Ihnen reden wollen, ich
habe empfunden, daß ich für meinen Brief allzuausführlich werden
müßte, es hätte mich Zeit gekostet eine Wahl des wichtigsten zu
machen und dieß ist in dem Wirbel von Handlungsgeschäften, in
dem ich lebe, schwer zu finden, so ist ein Monat nach dem andern
vergangen und ich ergreife nur hier in Leipzig die Morgenstunden
eines noch nicht übermäßig beschäftigten Tages, um Ihnen wenig*
stens etwas zu sagen . . .
Sagen Sie nicht, daß Sie in dieser Wissenschaft nicht urtheilen,
sondern nur studieren sollten. Sie haben durch Erfahrung und Über«
legung ein Recht zu urtheilen erhalten, und überhaupt sollte ein
denkender Kopf auch vom ersten Anfange an urtheilen, nur nicht
bestimmen wollen. Selbst Irrtümer führen zur Wahrheit, beson*
ders die, welche man findet, wenn man den Weg zur Wahrheit eif?
rig sucht. Übrigens würde es weder Ihrer physiognomischen Ein*
sieht Schande machen, noch wider die Wissenschaft etwas bewei*
sen, denn Sie wissen, wie wenig man auf die besten gemahlten Bilder
ganz sicher trauen darf, und daß das bloße Anschauen eines Profils,
auch in der Natur noch bey weitem nicht das physiognomische Ur*
teil gänzlich bestimmen kann. (Wie wenig man auf Bilder trauen
* 16 Folioseiten v. H. e. Schreibers mit eigenhändigen Zusätzen und Korrekturen
Nicolais. Auf der ersten Seite Nicolai eigenhändig: »Copie eines Briefes an
H. Lavater« und das oben angegebene Datum. Auf der 16. Seite Nicolai eigen=
händig: »1774 OM«. Sehr ungelenke Schreiberhand. Diesen ungemein weit=
schweifigen Brief gebe ich gekürzt wieder.
356
kann, zeigt mir mein eigenes Beyspiel; hier sehe ich 5 Bilder von
einem Meister, alle mir ähnlich, jedes aber in solchen Dingen, die
für das Physiognomische wichtig sind, von den andern unterschied
den.) . . . [Folgt eine sehr ausführliche Begründung, weshalb das von
Chodowiecki gezeichnete Porträt trotz Anton Graffs Assistenz un«
ähnlich und »perpendikular« istj
. . . Doch ich muß einlenken; ich werde weitläufig weil ich . . .'
gern etwas zur Aufklärung der Wissenschaft beitragen wollte, die
wir beide lieben und doch kann ich nicht alles sagen. Ich sage Ihnen
für die Offenherzigkeit Ihres Urteils über mein Profil den wahr*
sten aufrichtigsten Dank. Da ich wirklich die größte Zeit meines
Lebens zugebracht habe mich unpartheyisch zu erforschen so ist es
wohl natürlich daß Sie mir kaum den zehnten Theil dessen was ich
weiß u. auch von Ihnen zu hören erwartet habe sagen können.
Offenherzigkeit läßt sich nur mit Offenherzigkeit belohnen. Ich
will Ihnen auch über das was Sie mir gesagt haben frey meine Mei*
nung sagen. Nicht etwan um mich irgend worüber zu vertheidigen,
denn Ihr Urtheil über mich ist so sehr vorteilhaft, besonders wenn
ich den weiten Abstand der meisten Ihrer Gesinnungen und Nei«
gungen mit den meinigen betrachte, daß ich es bloß für nachsichts=»
volles Lob ange . . .^ würde, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß es
leichter gewesen seyn müsse zu schweigen, als mich wissentlich irre
zu führen. Ich der ich mein Innerstes kenne, sehe sehr wohl welche
Seiten zu berühren wären. Ich scheue mich nicht sie in meinem Ge*
wissen stark zu berühren und es würde mir keinen Schein von un*
angenehmer Empfindung gemacht haben, wenn Sie sie berührt
hätten. Denn ich bin immer der Meinung gewesen daß der Vogel
der den Kopf in den Heuhaufen steckt um nicht zu sehen, dennoch
von anderen gesehen wird. Sie haben sich überhaupt mehr auf meine
Talente als auf meine Neigungen ausgebreitet. Ich sehe ein daß es
schwerer und delikater ist von diesen als von jenen zu urteilen noch
schwerer in der Entfernung; aber gleichwohl konstituieren diese
mehr den Menschen. Jene sind oft erworben, werden oft durch
außerwesentliche Begebenheiten brauchbar und unbrauchbar. Ich
hoffte, daß Sie durch meine Physiognomie auf irgend eine Seite
meines Herzens stoßen würden mir nur allein bekannt. Ich traute
' . . . unleserlich.
357
Ihnen Fähigkeit dazu zu und Sie würden dadurch meine Zutrauen
zur Physiognomik sehr vermehrt haben. Ich bekenne sehr naiv, daß
Sie nichts dergleichen gesagt haben, ich weiß auch wohl, daß Ob*
servationen dieser Art schwerer aus dem gemahlten Gesichte ge«
macht werden als aus Bewegung und lebhafter Sprache. Neigungen
entdecken sich, wenigstens nach meinen Beobachtungen am sicher^
sten in ungeübten Augen ganz unmerkbaren Bewegungen und Re*
den, bey lebhaften Handlungen z, B. zuversichtlichem Lehren, Dis*
putieren, Spielen, Zorn, verliebten Bewegungen u, s. w. Aber ich
habe zu Ihnen das Zutrauen, daß Sie auch in einem gezeichneten
Profile mehr sehen als ein anderer. Ich glaube also Sie sind hierin
etwas zurückhaltend gewesen. Ich kann es Ihnen nicht verdenken:
die Klugheit schien es zu erfordern. Wenn Sie mich aber genau
kennten, so wüßten Sie daß ich mir alles kann sagen lassen und daß
ich über die Entdeckung eines Fehlers an mir, froh bin.
Daß Sie mir Perfektibilität zutrauen, halte ich für ein größeres
Lob als Sie es vielleicht intendiert haben. Perfectibilität setzt zwar
Unvollkommenheit voraus, aber mit derselben bin ich wohl zufrie*
den. Auch in der seligsten Ewigkeit wird nach meinen Grundsätzen,
Perfectibilität folglich relative Unvollkommenheit seyn. Darin sind
Sie gewiß mit mir einig so verschieden auch sonst unsere Aussicht
ten^ seyn mögen.
Ihren Rat zur Vervollkommnung nehme ich seiner Absicht nach
mit dem besten Herzen auf. Er beziehet sich abermals auf Gelehr*
samkeit und Studieren auch glaube ich, er gründe sich mehr auf
meine Schriften, und vielleicht auf einige wahren oder falschen
Nachrichten anderer von mir als auf meine Physiognomie. Ich soll
zu einseitig seyn, zu einseitig gelesen gelernt studiert haben.
Ich habe mich mehrmals sorgfältig geprüft ehe ich diesen Punkt
beantworte, aber nach allem was ich von mir weiß, möchte ich,
wenn ich fehle, gerade im Gegentheile fehlen. Mein Lesen ist jeder*
zeit zufälligerweise sehr mannigfaltig gewesen, ohne bestimmte Ab*
sieht, selten ununterbrochen, selten mit Muße. Mein Studieren nach
keiner Facultät nie nach irgend einer Ordnung nie nach einem an*
dern Zwecke als mich zu vergnügen oder zu unterrichten, niemals
die Hauptbeschäftigung meines Lebens niemals ein Mittel ein be*
^ Anspielung auf Lavaters »Aussichten in die Ewigkeit«.
358
.1
stimmtes Amt zu erlangen. Ohne allen mündlichen Unterricht, ohne
System oder Leitfaden in irgend einer Wissenschaft habe ich alles
was ich weiß aus gelegentHchem Lesen aus Nachdenken u. aus Ge*
sprächen mit Freunden der Wahrheit, die meine Freunde waren,
gezogen. In Absicht auf die Wissenschaften bin ich leider nur all*
zuvielseitig. Meine Handlungsgeschäfte und noch mehr die Allg.
Dtsch. Bibl. zwingen mich mehr als mir lieb ist mich um die ganze
Literatur zu bekümmern und ob ich zwar dadurch den ganzen Um=
fang der neueren Deutschen Literatur gewiß vollständiger übersehe
als vielleicht irgend ein anderer Gelehrter so achte ich doch diesen
Vorzug für sehr teuer erkauft, indem ich dem Faden von Ideen und
Nachdenken über eine kleine Anzahl mir sehr wichtiger Gegen*
stände nie so ununterbrochen folgen kann als ich es wünschte.
Mein ganzes Leben ist sehr vielseitig gewesen. Immer in tätigen
Geschäften habe ich mit Leuten aller Stände und Neigungen mit
beyden Geschlechtern mit Guten und Bösen Umgang gehabt. Ich
habe das Gute und Böse der sogenannten großen Welt gesehen,
ich habe mich beinahe in allen Situationen des menschlichen Lebens
befunden, in denen [sie] ein Mensch der nicht außerordentliche
Thaten thun will, kommen kann, allenfalls nur Armut ausgenom*
men. Auch diese Situationen habe ich allemahl auf meine damit
verwickelten Studien angewendet und dadurch hauptsächlich mein
Herz gebildet. Dies hat mich alle Dinge im Menschenleben von
sehr vielen Seiten ansehen gelehrt. Ich habe gelernt daß allenthalben
Tugend und Untugend Glück und Unglück Wissenschaft und Un*
wissenheit so dicht gepaart sind, daß zuletzt nil admirari und nil
timere in der moralischen und literarischen Welt meine Haupt*
Maximen geworden sind. Ich habe mich so sehr gewöhnt mich in
die Stelle anderer zu versetzen daß meine Freunde oft mit mir dar*
über scherzen, wenn ich Meinungen, denen ich nicht gewogen bin,
entschuldige, indem ich mich in die Lage derer die sie behaupten
setze. Die lange Gewohnheit hierin hat mich so weit gebracht, daß
ob ich gleich nicht alle Meinungen u. Menschen hochschätze, ich
doch alle Meinungen und Menschen ertragen kann.
Sie sagen aber: ich sollte mich bemühen bey Menschen u. Büchern
das Wahre, Nützliche Schöne herauszusuchen und für das Schlechte
Falsche Elende das Aug zuzuschließen. Nach meinen so eben ent*
359
deckten Grundsätzen darf ich Ihnen nicht verbergen, daß ich dieses
nicht für den Weg halte, die Wahrheit zu finden. Wir müssen
Gutem und Bösem mit hellen Augen ins Gesicht sehen, auch für
das Gute, das oft nur relativ gut ist, nicht partheyisch seyn. Ich
wiederhole meinen Wahlspruch nil admirari nil timere! — Merken
Sie, daß Sie mir eigentlich rathen, einseitig zu werden? Aber viel*
leicht gründet sich Ihr freundschaftlicher Rath nur darauf, daß Sie
glauben ich sey Neigung oder Veranlassungen gemäß, allzusehr auf
der einen Seite zu weit gegangen, daß es um die Wagschale ins
Gleichgewicht zu bringen, nöthig seyn möchte, auf der andern Seite
etwas zu weit zu gehen. Aber mein werther Herr, worauf gründet
sich diese Voraussetzung? Nicht wahr Sie stellen sich in mir den
bösen oder leichtfertigen Kritiker vor, der seine üble Laune oder
seinen Witz zu zeigen, Fehler und Schriften aufsucht — und der
endlich eine Fertigkeit erlangt hat, nur die schlechte oder die schlim*
mere Seite der Dinge zu sehen? Vielleicht wenn Sie mich ein Jahr
lang persönlich kennten, würden Sie anders urteilen. Ich glaube,
dem der das Gute lebhaft schätzt fällt das Böse desto lebhafter ins
Gesichte. Ich glaube es kann Fälle geben wo man das Gute als Gut
voraussetzen kann und zum besten der Menschen das Böse rügen
muß. Die Anwendung führt zu weit, — Doch so viel kann ich Sie
versichern, daß ich zwar vieles was andere für gut halten, nicht für
gut halte, aber daß ich das, was ich aus Gründen und Empfindung
für gut halte, sehr lebhaft schätze und sehr tief verehre, und daß mir
alles Böse das ich dafür erkenne das lebhafteste Mißfallen macht.
Uebrigens mein werthester Herr kann ich die Fehler in neueren
Schriften gewiß wenig rügen, weil ich eigentlich fast gar nicht lesen
kann. Stellen Sie sich einen Menschen vor der täglich die Direktions=^
geschäfte dreyer Buchhandlungen (in Berlin, Stettin und Danzig)
mit allen Unannehmlichkeiten und Sorgen die sie mit sich führen
treibt, der jährlich 2 Leipziger Messen und zuweilen die Danziger
Messe 8 Wochen lang besuchen muß, der jährlich etwan 400 die
dtsche. Bibl. betreffende Briefe schreibt und unterschreibt ohne
andere Korrespondenzen. Der fast zu keiner Stunde des Tages für
Unterbrechung sicher ist, weil in öffentliche Läden jedermann ein*
treten darf. Den Familien*Umstände und Bekanntschaften ohne
Freundschaft oft in große Gesellschaft bringen, in der man sich mit
360
ehrlichen Leuten, ohne alle Kenntnisse amüsieren oder ennuyieren
muß. Der noch in seinem 41. Jahre wenn es die Gesellschaft erfor*
dert einen englischen Tanz mittanzt und aus eigener Neigung mit
seinen Kindern auf dem Steckenpferde reitet. Wo käme da Muße
zum Lesen zum Schreiben und wo käme die Lust her, anderer Fehler
aufzusuchen? Eine Stunde mit Moses oder Eberhard ruhig ver*
plaudert, ist so selten sie kommt, himmlische Wollust und ist ein
Stündchen zum stillen Nachdenken da, so denke ich wahrhaftig nur
an das, was vergnügen und bessern kann. Studieren? Lesen? O mein
werter Herr. Dazu ist wenig Muße nicht viel Zeit übrig wenn man
40 Jahre zurückgelegt hat. Denken und handeln ist die Losung wenn
man hoffet daß sich bald ein Vorhang zuziehen möchte der einen
weiteren öffnetl Und wenn ich lese, so sind es ehrliche alte Bücher
die ich theils auswendig weiß, oft nicht um der Bücher willen, son*
dem gewisse Gedanken in mir lebhaft zu erhalten, die meinen Geist
nähren.
Wollen Sie meine Lektur des letzten Winters wissen? Hier ist
sie: von neuen Büchern: Ihr Tagebuch 2ter Thl. Lessings Bey#
träge 2ter Thl. und Ueber die Ehe\ Von alten Büchern einige
Stücke aus Cicero sonderlich de nat. Deorum, de divin., de senec*
tute. Mein Leibautor, Arrianus . . .^ Epictet deutsch etwa zum 5ten
xMahle, griechisch zum erstenmahl. Weil ich ihn eben in meiner
Auktion gekauft hatte des Plinius Briefe ungefähr halb, hier und
da, das erste und zehnde Buch ganz; besonders das letzte weil die
Briefe des Trajans mit den Kabinetsbriefen des K. v. Pr.'^ eine frap=
pante Aehnlichkeit haben. Und endlich in verlohrnen Stunden
nach Tische etc. die Avantures de Gil Blas (seit meinem 12ten Jahre
ungefähr zum 25ten Male).
Dieß sind die Schriften, die ich vorigen Winter gelesen habe
und nun genug von Schriften — was Menschen betrifft, in denen
ich freilich beständig lese, weil sie mir zu allen Stunden unter die
Augen treten auch wann ich alle Bücher verschließen muß — in
diesen liebe ich weder das Böse noch suche ich es aus: aber die
Augen dafür zu verschließen? — Denken Sie ein wenig darüber
' Ottenbar die Hippeische Schrift.
- Unleserlich, getilgt.
^ = König V. Preußen.
361
nach — eigentlich würde das heißen meinen moralischen Sinn
stumpf machen wollen, für den ich wahrhaftig gern das bischen
theoretische Philosophie, das ich weiß so wenig es ist, noch weg«
geben wollte. Das Gute an Menschen herauszusuchen? O welche
edle Beschäftigung! und ich finde es auch noch bey jedem Men#
sehen; aber freilich nie un vermischt! Für diese Mischung kann ich
nicht die Sinne verschließen ohne den mir wichtigsten moralischen
Prinzipien zu entsagen. Bloß die genaue Schätzung des dem Guten
beygemischten Bösen bestimmt den Werth. Der Goldschmied,
welcher Slöthig Silber für sechzehnlötig hielte, würde eben so un*
recht urtheilen, als wenn er es für gar kein Silber hielte.
Doch ich merke, daß ich schon viel zu lange von mir selbst rede.
Ich kenne die schiefe Lage sehr wohl, in der man sich in solchen Fällen
befindet, aber wenigstens ist das Verlangen sehr natürlich, wenn man
sein Gesicht falsch beleuchtet glaubt ein Fensterchen zuzuziehen
und das Licht auf den rechten Punkt zusammenziehen zu wollen.
Doch nochmals — genug davon — Ich erwarte Ihr großes Phy*
siognomisches Werk mit wahrer Ungeduld. Sie werden dadurch
meines Erachtens eine ganz neue Seite der menschlichen Erkenntnis
bearbeiten u. zu der Zahl der Wissenschaften noch eine hinzusetzen.
So sehr ungeduldig ich aber auch bin, dieses Werk zu sehen, so sehr
habe ich mich doch gefreut, von Hrn. Steiner, Ihrem würdigen
Landsmann, den ich hier habe kennen lernen, zu hören daß Sie sich
nicht übereilen, sondern noch ein Jahr mit der Herausgabe warten
wollen. Die Fragmente haben mir gleich von Anfang nicht ge*
fallen wollen. Nicht daß ich ein ganzes vollständiges und anein*
andergekettetes System erwarten wollte. Dieß wäre bey dem ersten
so schweren Versuch eine unsinnige Forderung. Aber ich wünschte,
wenige einleuchtende Sätze, in guter Ordnung und mit in die Augen
fallenden Beyspielen bewiesen und mitWeglassen aller Hypothesen,
die Sie aus innerer Empfindung für wahr halten aber nicht beweisen
können.
Die Physiognomik wird an den Vorurtheilen der Menschen doch
Hindernisse genug finden so daß man es sehr nöthig hat, bey dem
ersten Austritte alle ungewisse Schritte zu vermeiden.
Darf ich noch offenherziger seyn; darf ich Sie bitten sich bey
diesem Werke welches ganz Tatsache seyn muß sich vor der leb*
362
haften Einbildungskraft zu hüten, die (ich will es nicht verbergen)
so wie es mir scheint, in allen Ihren übrigen Schriften sehr oft glän*
zende Irrthümer verursachet. Sehr viele Sachen würden leicht aus*
zuführen und sehr viele Sätze leicht zu beweisen seyn, wenn nur ein
einziges Hypotheschen wahr sein wollte, oder wenn man von einer
einzigen Schwierigkeit abstrahieren dürfte. Im Traume abstrahieren
wir von der einzigen Eigenschaft unseres Körpers von der Schwere
und schweben ganz leicht in der Luft.
Hiermit ist noch eine andere Bitte verbunden. Um die Deutlich*
keit und um die Simplizität der Schreibart! Es schleicht sich itzt eine
Pest in die deutsche Schreibart ein, durch die Sucht Originale zu
sein und durch die Sucht, immer nachdrücklich, immer voll
starker Empfindung zu schreiben. Daher fremde Wendungen,
Metaphern, neue ohne Noth geprägte Worte denen eine Nuance
von Nachdruck ankleben soll, dunkle Anspielungen, die der Schrei?
ber lebhaft zu empfinden glaubt, schwankende Ausdrücke die ge*
heimen, der gewöhnlichen Sprache unerreichbaren Sinn ausdrücken
sollen. Der Leser versteht nichts, glaubt aber zuweilen zu verstehen,
versteht ganz unrecht und denkt sich mit gleichen Worten ganz un#
gleiche Begriffe. Er sucht den Sinn zu haschen, und er entflieht,
kann ihn zuweilen nicht fassen, weil ihn der Autor selbt nicht richtig
gefaßt hat. Dieses Gedankenkräuseln heißt süße Empfindung beym
Verfasser und beide . . .^ sich in einer umbra voluptatis die alle ehr«
liehe Erzeugung jetzt gewiß hindert und sogar vielleicht fürs künf*
tige unmöglich macht. Ich sehe voraus, daß Ihnen in der Physio*
gnomik die Sprache zu enge werden muß; ich glaub also Sie müssen
sich sehr bemühen alle Mißdeutung zu vermeiden. Eine innere Emp«
findung durch dunkleWorte ausgedrückt, erregt nicht dieselbe Emp*
findung beim Leser.
Die Kupferstiche, die ich zu Ihrem Werke hier und in Berlin ge*
sehn habe, gefallen mir sehr wohl und freilich habe ich noch man*
ches unrichtiges und unbestimmtes bei Profilen die ich kenne, ge*
funden. Sie waren so viel ich mich erinnere (allenfalls außer einen
mit aufgeworfener Nase) von Crusius radiert a potiori gute Charak*
tere. Ich sehe die Nothwendigkeit immer mehr ein daß Sie Kontraste
aus jedem Stande haben müssen, die Einsicht kann sonst nicht leb*
' Unleserlich.
363
haft werden. Dazu kommt daß auch in dem Gesichte eines jeden
guten Mannes sich Unvollkommenheit zeigt, diese würde auch für
Vollkommenheit gelten wenn man nicht, um bey meinem obigen
Gleichnisse vom Silber zu bleiben, aus der Schätzung des bey*
gemischten Kupfers den wahren Wert des Silbers erkennte.
Meiner ^Meinung nach können Sie bey dem Aergernisse, das
man daran nehmen möchte, wenn Sie schlechte Charaktere aufstellen,
ganz ruhig seyn. Ich glaube, wir müssen mit dem Bewußtseyn zu*
frieden seyn, daß wir wissentlich kein Aergernis geben; sonst
würden wir von dem bestem Unternehmen, welches Kühnheit er*
forderte, abgeschreckt. Es würde freilich unbillig seyn, Bildnisse
lebender schlechter Menschen zur Schau zu stellen. Aber es gibt
tote Unbekannte genug z. B. in den Zeichnungen die Sie von
H Chodowiecki haben: ein schon verstorbener liederlicher Gold*
Schmied aus Champagne gebürtig. Sie werden ihn aus allen übrigen
leicht heraussuchen.
Wegen des Christuskopfs will ich also die Ausgabe des Werkes
erwarten. Was Sie aber von Moses M. u. d. K. v. Pr. sagen, scheint
mir nicht präzis zu seyn . . . Beide Profile nebeneinander gelegt,
sagen Sie, spricht die Grenzlinie der Physiognomie. Verzeihen
Sie wenn ich Ihnen sagen muß, daß Ihnen hier die Einbildungs*
kraft, von andern erhaltene, noch dazu falsche Nachrichten oder
Vermuthungen, in dem Profil des Königs hat sehen lassen : oder daß
Sie wie viele glaubten der Eroberer müssen ein starker harter Mann
seyn. Friedrich weitgefehlt der größte Athlet zu seyn, ist gar
kein Athlet, hat gar keine vorzügliche körperliche Stärke. Er kann
keine andern als die frömmsten Pferde reiten und wird doch zu*
weilen abgeworfen. Vor einigen Jahren, wollte er, bey Gelegenheit
einer neuen Art zu laden, einem Soldaten das Gewehr aus der Hand
nehmen, um seine Meinung zu zeigen u. konnte es nicht regieren.
Er ist, (weil er den größten Teil des Tages einsam ist) wenn ihn
jemand geschwind überrascht, nicht ä son aise usw. Kraft der Seele
hat ihn freilich gelehrt sich alles zu versagen u. alles zu ertragen,
aber von Natur hat er die Anlage nicht dazu. Er kann wenn es nöthig
ist, die größten Beschv/erlichkeiten ertragen, aber seiner Neigung
nach liebt er Bequemlichkeit und Ruhe, weiche Stühle, helle Zim*
mer, Gemälde die lauter angenehme Gegenstände haben, zu Be*
364
dienten schöne wohlgewaschene Leute, offne naive Physiognomien.
Er kann wenns nöthig ist, wochenlang der härtesten Witterung sich
aussetzen u. wird z. B. eine Kriegsübung oder ein anderes Geschäft,
wobey er unter freyem Himmel erscheinen muß, wegen des größten
Orkans nicht einen Augenblick später anfangen oder um eine Mi*
nute verkürzen; an sich aber ist er äußerst gegen Kälte und gegen
den geringsten Zugwind empfindlich, läßt bey kühlen Sommertagen
Feuer machen, oder hüllet sich in warme Kleider. Er kann von der
gröbsten Kost leben und fastet Abends fast beständig um seiner Ge«
sundheit willen. Aber sonst isset er gern das niedlichste delikateste
wählet mit feinem Gaumen unter den Speisen u. bestellet sehr oft
seine Gerichte, trinkt sehr mäßig Wein, aber den besten u. s! w.
Er hat also eben so wenig körperliche Stärke als M. M. aber ge*
wiß eben so viele Stärke des Geistes, nur daß er sie auf andere
Gegenstände anwendet. Er ist ein Denker eben so wie Moses, nur
daß Er nicht metaphysische Sätze denkt. Erhabene Tugend hat er
von der Seite der Tapferkeit und Besonnenheit in hohem Grade.
Erhabene Tugend, von einer andern Seite betrachtet, kann, fürchte
ich kein Monarch haben, so wenig als er einen Freund haben
kann, und am wenigsten wenn er das Unglück hat keine Kinder zu
haben. Ich habe besonders hohe Gedanken vom Einflüsse des häus*
liehen Lebens in die Moralität. Ich habe mir oftmahls diesen wahr*
haftig großen Mann, der zu dem häuslichen sich selbst genügsamen
Leben, eine so starke Anlage hat, unter 4 oder 6 seiner Kinder vor*
gestellt. Dieses würde die Scene sehr verändern. Ihr Profil vom
Könige ist unvollkommen, und aus der Idee, und es würde auch
wenn es nach der Natur gezeichnet wäre, nicht ganz hinlänglich
seyn, denn seine linke Seite ist von der rechten unterschieden. Ich
glaube, dieser Unterschied ist habituell. Er braucht, erstens wegen
blöden Gesichts, ein starkes Augenglas, welches das Auge endlich
herausziehen muß, indessen das andere Auge zugedrücket wird,
zweitens das Anlegen der Flöte, die er täglich 2 ä 3 Stunden spielt,
kann zu einer ungewohnten Lage der Lippen viel beytragen; beson*
ders ziehet sich das Ende der rechten Seite der Lippe zurück und
sinkt, welches sonst einem Gesichte ein grämliches Ansehen gibt.
Daß er zum Bildnisse sitze, daran ist nicht zu denken. Die ein*
zige Möglichkeit es zu erhalten wäre folgende. Im Carnev..[,?]
365
welches im Dez. u. Jan. ist, steht er in der Oper dicht am Orchester
oft eine halbe Stunde lang so daß er also dem der im Orchester
stehet das Profil beut, hier müßte ihn H. Ch. an 2 Operntagen von
beiden Seiten zeichnen.
Chodowiecki hat mir gesagt daß er mein getuschtes ßild für Sie
machen solle. Die Zeichnung gehört ihm.
Sie schreiben in Ihrem ersten Brief vom 7. Oktober daß Sie nur
Fragmente der Physiognomik liefern wollten weil Sie wichtigeres
zu tun hätten. Ich hoffe Sie haben Ihre Meinung geändert. Denn
das Werk wird gewiß Ihr wichtigstes Werk, das gemeinnützigste
und das einzige in seiner Art ...
Werden Sie in Ihrem großen Werke bloß Angesichte, keine
Hände oder andere Glieder zeichnen lassen? Um wenigstens einige
jeder [?] zu geben? Sie dürfen sich nicht schämen, daß Sie nach
einem geschnittenen Profil eins der größten Genien für schwach
erklärt haben: denn nicht allein ein solches Profil ist überhaupt sehr
trüglich sondern gerade ein Genie richtet gemeiniglich seine ganzen
Seelenkräfte ganz auf einen Gegenstand, in dem es außerordentlich
groß ist, und ist zuweilen dagegen in den meisten andern Dingen
wie ein Kind. Wenn Sie alsoAugen (auch Augenbrauen) und Sprache
weglassen so kann das vordere Profil sehr leicht etwas einfältiges
haben, freylich der Hinterkopf hätte wohl bedeutend seyn sollen
aber der ist vielleicht verschnitten gewesen. Ueberhaupt dünkt mich,
ob gleich sich (auch aus dem Profil) über Talente leichter urteilen
läßt, so sind doch dem Gesichte Neigung und Leidenschaften viel
tiefer eingegraben und sicherer zu erkennen als Talente. Jene wer«
den mehrenteils angeboren und werden weit mehr geübt als Talente.
Vielleicht sind gar etwan die hauptsächliche Talente des von Ihnen
genannten Genies erworbene Kenntnisse gewesen. Hiervon ist in
einem Silhouette*Bilde schwerlich eine Spur. Sie wollen mir Sils=
houettebilder zusenden um darüber zu urtheilen? Ich will es thun,
nach Ihrem V^erlangen und zur Uebung. Vermutlich aber werde ich
mich oft irren. Ich kann nicht zeichnen, habe mich auch fast gar«
nicht geübt, Bilder physiognomisch zu untersuchen. Meine Be*
merkungen hierüber sind in der lebenden Welt gemacht, begleitet
mit Beobachtungdes Blicks der Augen, Mine,Gesichtsfarbe, Sprache,
Ton der Sprache, ganzer Stellung, besonders des Unterleibs vorn
366
und hinten, wo er sichtbar war, und der sich darauf beziehenden
Stellung der Füße, endlich Bewegung u. s. w. Zu diesem Ensemble
habe ich, wie ich glaube, ziemlich scharfsichtige obgleich nicht alle*
mahl schnelle Augen, bloß seit Erscheinung Ihres 2ten Theils habe
ich meine Bemerkungen in einige Ordnung gebracht und vieles ist
mir dadurch deutlich geworden.
Noch eins. Es hat mich etwas betroffen gemacht, daß Sie an Hrn.
Chodowiecki schreiben, es wären unter den Zeichnungen, die er
Ihnen geschickt habe, so wenig gute Menschen. Ich weiß nicht
genau, welche Zeichnungen er Ihnen geschickt hat, aber das weiß
ich, daß in seinem Portefeuille gewiß über die Hälfte gute Charak«
tere sind. Freilich auch viele Schwache, welches mit der Güte oft
verknüpfet ist. Mir fällt dabey folgender Gedanke ein, den ich
Ihrem Ermessen überlasse. Mich dünkt es gibt viele Physiogno*
mien, die zwar sprechend aber nicht schreiend sind, weil ihre
Inhaber keine Neigung oder Leidenschaften in verzeihlichstem
Grade haben. Außerdem ist noch ein wichtiger Umstand: bey Ge*
lehrten bey denen die Seele arbeitet, offenbaren sich Neigungen
und Leidenschaften auf ganz andere Art als bey Leuten, die Gewerbe
treiben, bey denen die Seele nicht, und oft kaum die Sinne arbeiten.
Die Zeichnungen von Chodowiecki sind meist von der letzteren
Art; Sie aber, glaube ich, haben mehr Leute ersterer Art beobachtet.
Ich merke daß mein Brief bis zu einer unverschämten Länge an*
gewachsen ist. Wenigstens sehen Sie, daß es nicht an meinem guten
Willen gelegen hat, wenn ich bisher nicht geschrieben habe. Ich
darf nicht den vierten Bogen anlegen ohnerachtet ich noch vieles
sagen möchte. Wie sehr wünsche ich mit Ihnen mündlich über diese
Sachen zu sprechen. Ich bin mit besonderer HochachtungEw. Hoch*
würden ergebenster Diener
Nicolai
[dazu eigenh. Nachschrift Nicolais:] »N. B. Herders u. s[einer]
F[rau] Profile habe ich p. Orell gesendet.«
Lavateran Nicolai^
Nur zwey Worte, mein werthester Herr Nicolai. Den Augenblick
erhalt ich Ihren werthen Brief vom 24. April. Ich kann Ihnen nur
' Ohne Adresse. Auf S. 4 Nicolais Vermerk: »1774 29 May 12 Juni beantw.«
367
mit Eile sagen, daß er sehr unterhaltend und lehrreich für mich war.
Sicherlich werd ich ihn benutzen. Auf alles kann ich nicht antwor*
ten; also nur auf ein paar Punkte.
Meine Freyniüthigkeit hat Sie freymüthig gemacht, bravo! Ich
versichere Ihnen, daß Ihre Redlichkeit mir längst unverdächtig war.
(Einmal, im Vorbeygehnzusagen, habe ich Ihnen etwas zuviel be*
zahlt, weil ich das Geld nicht genau kannte und da ich einige Tage
wiederkam, gaben Sie mirs, ohne daß mir ein Sinn dran gekommen
wäre, zurück! Diese Kleinigkeit hat mich schon oft vergnügt und
ich habe sie schon oft erzählt.) Fahren Sie, wenn Sie weiter an mich
schreiben sollten, fort so gerade zu schreiben wie izt. Ich wette, wir
kommen uns näher. Es ist eine allgemeine Anmerkung, zu der mich
Ihr Schreiben veranlaßt: Es ist sehr viel Mißverstand zwi*
sehen uns, der in ein paar Stunden mündlichen Umgangs
gehoben seyn würde.
Immer ^ muß ichs mit lebhafterer Überzeugung sagen, je mehr
ich beobachte, desto weniger darf ich urtheilen. — Uebrigens
leitet mich nichts so sicher zur Wahrheit, als [erjkannter Irrthum;
und da ich täglich Irrthum entdecke, — komme ich der Wahrheit
immer näher und urtheile immer behutsamer.
Wenn ich nur schreiben müßte, gab ich alle Jahre einen starken
Band Bey träge zur Physiognomik heraus. Weil aber dieses Werk
einen Zeitverschlingenden, sehr weitläufigen Detail von Bestellung
gen, und merkantilischer Bemühung erfordert, muß ich mir, um
meiner Ruhe, Gesundheit, Pflicht und näheren Berufs willen, — ein
Ziel setzen; mithin — nur Fragmente liefern.
Die Sprache wird — wo der Beobachter und Anschauer des
Gesichts, des Menschen spricht, warm — wo sie räsonniert,
schließt, lehret — sehr simpel und kalt seyn . . . Charakter werd'
ich nach meinem Gesichtspunkt, wahr schildern; das wird selten
oder niemals in Paragraphen geschehen können. Aber — wenn ich
wissentschaftlich spreche, werd ich numerotieren.
Aber die Sprache? Ich wünschte, jemand an d. Hand zu haben,
der mir pele mele alle physio gnomische Worte (und deren find'
ich welche neue in Ihrem Brief) ausschrieb — wenigstens Beyträge
gäbe.
' Von Nicolai rot unterstrichen.
368
Ueber die Unsicherheit aller Porträte — ein großes weitläufiges
Capitel. — Ihre Stirn ist in allen für Sie, für Ihre Anlagen — der
Mund hingegen ist in einigen hart, in andern sanfter — in . . .^
spricht er von angewöhnter Strenge? ist viel zu hart gesagt — Ge«
misch von Bonvivanterey und — »Verachtung« — auch wieder zehn*
mal zuviel ~ wer will mir ein Wort geben — Freude demüthigende
Wahrheiten zu sagen? — wie schrecklich einseitig gesagt — kurtz
sagen Sie Hrn Geyser, daß er Ihnen für die Verläumdung Ihres
Mundes Satisfaktion gebe — mir ist — Ihnen ins Ohr gesagt bange —
ich hab' ihm 6 Köpfe geschickt — Ihr Bild läßt mich wenig hoffen. —
Mein Rath, nur mehr das gute herauszusuchen ist blos medi*
zinisch, nicht philosophisch. Ich hasse alle Einseitigkeit; aber wir
müssen, wenn wir zu lange auf die eine Seite gesunken haben —
auf die andere Seite uns neigen.
Von Ihnen hab' ich außer Nothanker und Abbts Denkmal
nichts gelesen — von Ihnen keine einzige Anekdote gehört. Ein
Paar mal, eh' ich an Physiognomik dachte — hab ich Sie gesehen.
Ihre damalige Blässe, und Zurückstreben oder Hangen des Ge*
sichts frappierte mich. — Vergeben Sie nun [meine?] Unwissenheit,
daß ich Sie in einigen Stücken mißkannt. Vollkommen recht haben
Sie, die Gemüthsneigungen lassen sich vielmehr aus d. Bewe*
gung als aus Porträten kennen.
Ich habe den König in Preußen genau beobachtet. Eine halbe
Stunde ging ich ihm hart an der Seite unter einem Haufen Pöbel.
Ohne damals das mindeste an Physiognomik zu denken — frap=^
pierte mich sein Profil gar sehr — darf ich sagen — so ein sieht*
bares Gemische, so ein kontrastierendes Gesicht hab ich nicht
gesehen — (Eigentlich ist freyl. kein Contrast in einem Gesichte)
aber der Muth, der Heldenunternehmungsgeist blitzt ihm
gewiß von der Stirn; und dieß wars was ich athletisch nenne; und
was Mendelssohn nicht hat. —
[Hier folgen 2x7 physiognomische Linien.]
Hier einige ohne Ordnung hingeworfene, elend geschriebene,
nicht gezeichnete Contraste von Muth und Furchtsamkeit — u.
freylich keins von Mendelssohn.
Ich schweife aus. Ich muß einlenken, wenn ich noch zwo Zeilen
' Korrekturen; unleserlich.
24 Sommer Feld, Friedrich Nicolai 369
antworten will. Perfektibilität nehm' ich in m. Urtheile nicht
in methaphysischem Sinne — in praktischmoralischem — in so«
fern sie von Wahrheitsliebe und Geistesstärke abhängt.
Für die vertraulicheMitteilung Ihrer Lektüre (der überhaupt die
meinige sehr ähnlich ist) dank ich Ihnen — Ich wünschte — sie ver*
gelten zu können.
Ich vermute, wen Sie vor dem Auge haben \ da Sie von der
Schreibart einiger sehr guter Köpfe reden — Sie haben das
Schattenbild des Mannes, den Sie charakterisieren wollen;
das Schattenbild, an dem ich mich vorher so sehr geirrt, nach*
her so viel gelernt habe — aber — lassen Sie schreiben, wie H.
schreibt — wer denken und empfinden kann wie Er. Seine Ur*
künde bleibt dennoch Pyramide — wenn sie schon ärgern wird.
— Sonst ist Ihre Warnung vortrefflich^ —
Contraste werd' ich anzubringen suchen — Gott gebe mir Weis==
heit — Hände — Füße — Torso — Thierköpfe — von allem etwas. —
Hier 12 Schattenrisse — darf ich zur Uebung kurze Urtheile bitten?
Ich kann mehr nicht schreiben. Ich zähle Stunden auf Zeichnungen
und Kupfer von Chodowiecki, den ich Sie bitte herzlich zu grüßen.
Er soll Ihnen in meinem Namen danken, daß Sie so edelfrey*
müthig mit mir umgehen.
Zürich, d. 20. May 74 Lavater
Noch hohl ich nach; Ihre Anmerkung über d. Einfluß des häuß«
liehen Lebens mir aus dem Herzen —
Könnte Herr Chodowiecki einmal in d. Oper Ihren König zeich?
nen — vortreflich!
Nicolai an Lavater''
Berlin, d. 12. Juni 1774.
Hochehrwürdiger
Insonders Hochzuehrender Herr.
Auch ich antworte Ew. Hochehrwürden in großer Eil, und unter
vieler Zerstreuung, weil ich in wenig Tagen auf 4 Wochen nach dem
^ Herder.
- Nie. mit Rotstift unleserliche Bemerkung am Rande. Am Schluß des Briefes
mehrere von Nie. im folgenden Brief genau verwendete Notizen.
" Konzept von Hand e. Schreibers, 7' -2 Seiten in 1".
370
Freienwaldischen ßade abreise, und noch überaus viele Geschäfte
vor mir habe. Gleichwohl kann ich diese Arbeit nicht aufschieben,
von der ich manches lebhaft im Sinne habe, weil ich es sonst ver«
gessen möchte. Ich möchte fast der Physiognomie gram werden, so
sehr sie mich sonst auch vergnügt, daß sie zu meinen vielen Ideen
und Geschäften, die meinen Kopf durchkreuzen, noch eine Menge
hinzuthut, und mir den Mangel der Muße noch merklicher macht.
Sie haben darin ganz recht, je mehr man beobachtet, desto weniger
darf man urtheilen. Die Physiognomik ist überhaupt nur noch im
ersten Anfange; und der hauptsächlichste Einwurf wider dieselbe
ist auch der: daß ihr Umfang so weit ist, daß ihr Meer so uner*
schöpflich ist, daß unmöglich ein Mensch sie ganz umfassen kann.
Da nun der kleinste Umstand öfters das Urtheil verändert, so wird
von einer gewissen Seite immer Ungewißheit bleiben. Dieser Ein*
wurf ist nicht zu widerlegen. Aber mutatis mutandis geht es der
Philosophie überhaupt ebenso.
Also auch Ihr Werk bleibt freilich von einer gewissen Seite immer
Fragment aber es muß doch ein zusammenhängender Vortrag der
Hauptstücke sein, die dazu gehören. In Absicht auf den genau nüan*
eierten Ausdruck wird die Sprache immer zurückbleiben. Nur dünkt
mich, wenn man zu seiner Idee den präzisen Ausdruck nicht finden
kann, so muß man wohl untersuchen, ob man seine Idee auch selbst
recht präzise gefaßt habe, denn sonst ist die Sprache unschuldig.
Unter den Kupferstichen zur Physiognomik S die ich in Leipzig
sähe war auch [D.]^ Hartmanns Bildniß. Ich war erstaunt als mich
der Mann besuchte, nachdem ich schon meinen vorigen Brief ge*
schrieben hatte, daß sein Gesicht dem gestochenen Profile so äußerst
unähnlich war. Ein solches Bild macht alles richtige Urtheil un*
möglich, denn es zeigt wirklich einen ganz anderen Mann. Auch
Herrn ZoUikofers Bildniß fand ich frappant, ob es gleich unendlich
besser, und von einer gewissen Seite ähnlich ist. Der Hauptmangel
ist: (welcher bei den meisten Zeichnungen und Gemälden vorfällt)
daß H. Z. das Haupt nicht so tief trägt, und eine gewisse Miene der
vertraulichen Gutherzigkeit hat, davon im Bilde nichts ist. Am ahn*
' Von mir verbessert aus »Physiognom i e«.
- Lücke ergänzt. Über G. D. Hartmanns Beziehungen zu Nicolai vergl. Otto Hort=
mann, Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage 1888, Nr. 32.
24* 371
lichsten ist H. Steiners Bild. Ich kannte es, ob ich ihn gleich nur ein*
mahl gesehen hatte.
Bei Gelegenheit dessen was Sie über den K. v. Pr. und M. M. ge*
sagt haben, sehe ich die äußerste Notwendigkeit, im Ausdruck präzis
zu sein und auf gut Wolffisch keinen Ausdruck zu brauchen, der
nicht definiert wäre. Ich konnte bei dem Worte athletisch nicht das
denken, was Sie dachten. Daß dem K. v. Pr. Muth von der Stirne
und vom ganzen Gesichte blickt, ist wahr. Aber es ist noch eine
andere Seite zu betrachten. Bedenken Sie nur — nicht allein den
Krieger — und den friedlichen Kaufmann und Gelehrten, sondern
hauptsächlich den Monarchen, dem seit 30 Jahren niemand wider*
sprochen hat, und den Juden, den noch jeder grobe Schurke auf
der Gasse mit Worten mißhandelt, wenns ihm einfällt. Es ist natür^^
lieh daß bei gleichen Talenten, die letztere Lage verursacht, daß sich
das Gesicht ganz anders in starken Liniamenten formiert als in der
ersten, und daß man nur in feinen Zügen die unterdrückte natür*
liehe Neigung siehet.
Ihr Sortimentchen von Stirnen und Nasen ist mir sehr angenehm.
Ich habe aber dabei nochmals gedacht, was ich' schon oft gedacht
habe, daß ein einzelnes Glied für sich betrachtet, nie eine präzise
genaue determinierte Neigung oder Talent anzeigen, sondern der
ganzen Summe, der ganzen Bildung. [?] Diese also vor sich betrach*
tet zeigen noch nicht Muth und Furchtsamkeit, sondern Stärke des
Geistes und Schwäche des Geistes im weitläufigen Verstände. Ich
habe einen Husarenoffizier von ungezweifelter Bravour und einen
sehr ehrlichen Mann gekannt, der eine kugelrunde Stirne, und eine
eingedruckte runde Nase hatte. Demnach würden Sie selbst aus dem
Ganzen seines Gesichts gesagt haben, daß er tapfer war. Er war es
nicht bloß zum Fechten, sondern so daß er die schwerste Unter*
nehmung, die in seiner Sphäre lag, mit Muth und Besonnenheit aus*
führte. Sonst war er freilich schwach, abergläubisch, und hatte ge*
lehrte Kenntnisse nicht kultiviert. Hier fällt mir ein die Physiogno*
mik die Sie in den Schriftzügen finden wollen. Ich wünschte,
daß Sie mir nur ein paar Ideen gäben, worauf diese beruhen soll.
Die Schriftzüge sind erworbene Kenntnisse die sich beständig auf
den Meister und die Vorschriften beziehen, die uns in der Jugend
gebildet haben. Mich dünkt, eine solche Hypothese kann durch ein
372
einziges Faktum umgerissen werden. Das Factum ist dieses: Moses
M. hat auf seinem Seidenkontor einen^ Contorbedienten namens
Daniel, der ein guter ehrlicher fleißiger Mensch ist, aber sonst
weder an Talenten noch Neigungen mit Moses etwas ähnliches hat.
Dieser schreibt eine M. so gleiche Hand, daß z. B. in den Handlungs*
büchern es Moses oft selbst nicht unterscheiden kann, was er oder der
andere geschrieben. Und dieser Daniel ist aus Amsterdam gebürtig
und hat keinesweges einerlei Schreibmeister mit Moses gehabt.
Ich habe in der Tat in dem, was ich von der Schreibart gesagt
habe, nicht besonders auf unseren beiderseitigen Freund H[erderl
gezielt, obgleich meine Warnung auch Ihn in vollem Maße trifft.
Als ich den Brief an Sie schrieb, hatte ich sein Schattenbild noch
nicht. Ich empfing es erst gegen das Ende der Messe, und weil ich
garnicht dachte, daß Sie es schon hätten (noch weniger daß es das*
jenige wäre, an dem Sie sich geirret hätten) so sendete ich es Ihnen,
als etwas neues, und wollte Ihr Urtheil wissen.
Weil Sie seiner »Urkunde« Erwähnung tun, so erlauben Sie mir
mit der Offenherzigkeit, die Sie mir in meinen vorigen Briefen ver*
geben haben, zu bekennen, daß ich von diesem Buche nicht eine
hohe Meinung habe. Ich lasse freilich so schreiben, wer so denken
und empfinden kann — aber dem menschlichen Geschlecht ist meines
Erachtens damit gar nicht geholfen. Welche Dreieinigkeit, welche
Menschwerdung, welches Geheimniß, welche Schwärmerei wollte
ich nicht ebenso rätselhaft, so pomphaft mit solchem Raketenfeuer
vortragen und anpreisen. Wo will ich nicht geheimen Sinn und gött*
liehe Weisheit finden, wenn ich bloß die Blendlaternen der inneren
Empfindung und keine Abstraktion oder Demonstration anwenden
darf, auf die unser Freund so unbilligerwcise schilt. Ohne Abstrakt
tion und Zergliederung kann ich doch keinen Begriff präzis machen.
Ohne Demonstration kann ich keinen Begriff bei andern Menschen
erregen, wenn er auch in mir noch so evident ist. Die Demon*
stration und die Zergliederung der Begriffe ist der Weg
von einer Seele zur andern'^. Ohne dieses Mittel können wir
nicht ineinander wirken. Der Schriftsteller, der seine innige Emp*
findung ohne alle Demonstration andern mitteilen will, gleicht dem
^ Von mir verbessert aus »und«.
- Von mir gesperrt. . «
373
Künstler, der eine Statue in Eisen hauen will. Sein Werkzeug wird
stumpf, das Eisen springt, aufs höchste wird der Kontur rauh und
unvollkommen; und derjenige, der den Verstand überzeugt, gleicht
Leygebe, von dem eine ein Fuß hohe Statue von Eisen in der hiesigen
Kunstkammer ist^ Dieser verstand die Kunst durch eine Art von
Beize das Eisen weich wie Ton zu machen, und stählte es nachher
auf die gewöhnliche Weise. Nun erstaunet der, der dies nicht weiß
wie er die feinsten Aederchen hat ausdrücken können. Ebenso muß
man durch kalte Ueberzeugung, den Geist anderer Menschen, der
Wahrheit empfänglich machen, und alsdann kann ich, durch warme
Imagination, ihn so glühend machen, als ich selbst bin. Aber durch
bloße Sprünge abgebrochene Gedankenausrufung, lasse ich jeden
vernünftigen Mann weit kälter als bei der kältesten Demonstration,
und wenn ich zwölf !ll hinsetzte.
Ich muß gestehen, unser Freund, macht für so wenig Wahrheit,
die er gibt, allzuviel Anstalten, verachtet andre Cosmogenien, und
Allegorien, viel zu tief, gegen eine Allegorie, die um nichts evidenter
ist. In Brydones Reise nach Sizilien, an der Stelle, wo er die Sonne
vom Aetna herunter aufgehen sieht, steht Herders ganzer erster Teil
auf einem Blatte, ohne Prunk, und macht ein vortreffliches Bild.
Die leidige Originalsucht wird endlich noch alle Gelehrsamkeit
dem menschlichen Geschlechte unnütz machen, ^'er kann solche
Bücher lesen, wer wird sie lesen. Es ist wirklich traurig, wenn unsere
vernünftigenWeltleute,die kaum angefangenhaben, an der deutschen
Literatur Geschmack zu finden, die sich gern aus Büchern, in ihrer
Muttersprache geschrieben, unterrichten und bessern wollen, den
David, die gelehrte Republik, die Urkunde, die deutsche Art und
Kunst, die Frankfurter Zeitungen, denW^andsbecker Boten, in die
Hand bekommen. Was soll man sagen, wie soll man ihnen das
Gute, das in der Republik, in der Urkunde, in der Art ist, begreif?
lieh machen. Und dieß sind nicht etwa Leute, auf die man unter
dem Namen Ungelehrter verächtlich herabsehen darf, sondern oft
Männer, die das Beste, was unter alten und neueren geschrieben
ist, gelesen haben, und zu beurtheilen wissen. Man muß sich gegen
' Über Gottfried Leygebes »aus einem Stück Eisen verfertigte Bildsäule des Kur;
türsten Friedrich Wilhelm d. Gr.« vgl. F. Nicolai »Beschreibg. der Kgl. Residenz;
Städte Berlin u. Potsdam«, Berlin 1769, S. 543 und Anhang S. 561.
374
sie schämen. Ihr gelindestes Urteil ist: Paule, du rasest, deine große
Kunst macht dich rasen. Und man muß stillschweigen.
Sie sagen bei allem dem, die Urkunde ist eine Pyramide. Sie sagen
dieß voll hoher Imagination, und unbestimmter Bewunderung. Ich
sage dieselben Worte, und nehme die Sache wie sie ist. Ja! die Ur*
künde ist eine Pyramide: »Ein ungeheures Gebäude, von außen
baufällig und inwendig leer und dunkel, über dessen Anlage man
erstaunet, und dessen Absicht man nur ungewiß vermuthen kann,
daß der Neugierige einmahl betrachtet, und schwerlich zum zweiten
mahle wiederkommt.« Ich gestehe, ich liebe nicht die Bücher aller
Art, welche Steinmassen gleichen, worin das Licht der Sonne nicht
dringen kann, und wenn sie noch so ungeheuer groß wären. Ich
wünsche wohnbare Häuser für das Ganze des menschlichen Ge«
schlechts, und Palläste und Gärten für die wenigen Auserlesenen,
die den Aufwand zu bestreiten wissen.
Verzeihen Sie dieser Ausschweifung. Ich nage noch an dem ersten
Verdrusse über die Lesung dieses Buchs, und kann es noch nicht
verwinden, daß ein Mann, der so viele Talente hat, um dem mensch*
liehen Geschlechte nützlich zu werden, eigenen Bewerbes arbeitet,
um ganz unnütz zu werden. — Doch nochmals genug hiervon.
Hr Chodowiecki wird Ihnen nun schon Zeichnungen gesendet
haben, die er mir auch gezeigt hat, der Christuskopf gefiel mir nicht
so gut als der erste, so viel ich mich erinnern kann. Daß ich Ihre
vielen Bemühungen dieserhalb für vergeblich halte, wissen Sie schon,
die Zeichnungen die ich sehe, bestätigen mich darin, und nun die
Kupferstiche? Die Kunst kann bisher noch nicht das Wahre der
Physiognomie wirklicher Menschenbilder genau und vollkommen
ausdrücken, wie sollte sie ein übermenschliches Ideal ausdrücken
können.
Hier muß ich Ihnen einen Gedanken sagen, der mir mit andern
ähnlichen lange im Sinne liegt. Kein menschlicher Charakter ist voll*
kommen, also auch kein menschliches Gesicht. Linie auf Linie ent*
spricht der Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Daher Ihre
Verlegenheit im Christuskopfe Größe und Güte zu vereinigen. Die
deutlichsten Merkzeichen der Vollkommenheit in den Extremitäten
sind Stirn Nase Lippen. Ich habe bemerkt, wenn diese Voll*
kommenheit anzeigen, so zeigen, in einem lebendigen Ge*
375
sichte die dazwischen liegenden Linien allemal Unvoll*
kommenheit respective an, und verbinden doch diese voll*
kommenenTheile zu einem Ganzen. Will man also Vollkommenheit
auf Vollkommenheit bilden, so kann man nicht einmal Nase und
Lippen verbinden, noch weniger ein menschlich Gesicht bilden. Die
Alten abstrahierten aus den schönsten vor sich habenden Formen,
die Schönheit, und bildeten schöne Körper in Stein. Schönheit
von allen übrigen Eigenschaften des menschlichen Körpers abstra*
hiert, ist vortrefliches Ideal für den Künstler, aber lebt nicht. Gar?
racioS Correggio, Guido Reni, mahlten lebende Bilder. Nicht in
der vollkommensten Abstraktion der Schönheit, aberlebend.
Und dies war Abstraktion der Schönheit. Aber Abstraktion der
Vollkommenheit? Ist die jemals versucht worden? Gesetzt Sie
finden endlich einen schönen Christuskopf, würden Sie Voll*
kommenheit haben? Ist in einem antiken Götterangesichte
der Ausdruck der Vollkommenheit? Meines Erachtens bloß der
Schönheit (metaphysisch genommen, Herkules, schön wie Her*
kules) der Apoll hat den meisten Ausdruck und hat Bewegung,
Laokoon den meisten Ausdruck und hat Schmerz. Der Künstler
der den Hinterleib der Venus von Medici, so über alle menschliche
Form, schön bilden konnte, der durch die vortrefliche Stellung
(die den philosophischen denkenden Kopf verräth) die er seinem
Bilde gab, bei der schönsten Form, einen so richtigen Ausdruck zu
finden wußte, wie wenig hat er im Gesicht ausgedruckt, weil es
schön in der höchsten Form sein sollte 1 Wie viel hat hingegen Guido
in der Artemisia ausgedruckt, die Bause gestochen hat. (NB. im Bilde
nicht im Kupferstiche, der in dieser Absicht ganz weit zurück ist.)
Der schönste antike Kopf den ich kenne in Absicht des Ausdrucks
der Vo llkommenheit, nicht der Schönheit ist ein Kopf des Homers,
davon ich einen schönen Abguß auf meiner Studierstube habe.
Dieser aber ist Bildniß nicht Ideal, — Bildniß irgend eines Men*
sehen, wenn auch freilich nicht Homers. — Doch ich komme wieder
allzutief in eine Materie, die sich nicht in einem Buche, geschweige
in einem Briefe ausmachen läßt — doch dieses wenige überlasse ich
Ihrer reifen Ueberlegung.
' siel nach dem Zusammenhang offenbar Annibale Carracci, den Nicolai auch
20. IV. 58 an Chr. L. v. Hagedorn erwähnt (ed. Torkel Baden S. 243).
376
Ich sende Ihnen auf anliegendem Blatte, meine Urtheile über die
mir zugeschickten Profile, und ich muß mir die voran gesetzte Pro<=
testation, die aufrichtig und wahr ist zu gute kommen [lassen]. Und
damit dieses kleine Spiel, auch für mich lehrreich werde, so müssen
Sie mir melden, worinn ich mich geirrt habe und worinn nicht.
Ich bessere mich merklich. Dieser Brief ist nur halb so lang als
der vorige. Der künftige soll noch kürzer werden. Leben Sie wohl.
Ich bin mit besonderer Hochachtung
Ew. Hochehrwürden
ergebenster Diener.
[dazu 3 Randbemerkungen: Bitte um Angabe physiognomischer
Literatur und eine technische Anmerkg (Herders?) Schattenbild
betreffend.]
Flüchtige Gedanken über die unterm 20. May 1774 über*
sendete Profile^
Ich habe es schon gesagt, daß ich meine physiognomischen Beob*
achtungen in der wirkl. Natur mit Zusammenrechnung von Bil*
düng, Bewegung, Stimme, Farbe zu machen gewohnt bin und daß
ich keine Fertigkeit habe, nach gemahlten Bildern zu urtheilen.
Noch weniger hat man, wenn man eine bloße Silhouette hat. Es
fehlen Augen, Augenbrauen, Ohren, die zurückweichenden Theile
der Nase und Lippen pp. Die einzigen Vortheile einer Silhouette
sind meines Erachtens erstens daß sie doch wenigstens einen Theil
des Gesichts, nämlich das äußere Profil richtig angeben, dahin*
gegen der beste Maler aus freier Hand sehr oft die richtige Abthei*
lung verfehlt. Zweitens daß sie leicht und ohne große Kosten ge*
macht werden können, daß man eine große Anzahl Zeichnungen
dieser Art sammlen, vergleichen, auch verschicken kann, um dadurch
die unendliche Verschiedenheit einiger äußeren Gesichtslinien zu
erkennen, und aus dieser Verschiedenheit gewisse Schlüsse zu ziehen.
Wenn ich von einer Silhouette urteilen soll, so verfahre ich fol*
gendermaßen. Ich muß mir alle fehlenden Theile, in Gedanken,
supplieren.ich muß ferner so wie auch bei einem gezeichneten Bilde,
Bewegung, Farbe, Stimme hinzudenken. Das Profil war die Ab*
* Fragment eines Nicolaischen Konzeptes von Hand eines Schreibers, Einlage
zum voranstehenden Brief Nicolais an Lavater v. 12. VI. 74.
377
bildung der Natur, und sehr bestimmt. Hingegen was ich hinzu*
thue, sind Bilder meiner Einbildungskraft, und von denen es sehr
ungewiß ist, ob sie in der Natur sind. Alle Bilder der Einbildungs*
kraft sind lebhaft und glänzend (glaving) aber unbestimmt. Ich bin
also gegen diesen Schimmer sehr mißtrauisch, und suche durch Ver*
gleichung, wieder davon abzunehmen was mir Imagination dünkt.
Ich bekomme also ein Bild, bei dem gewisse Dinge bestimmt sind,
die meisten nicht, und bei dem es ungewiß ist ob es der Natur
gleicht.
Eigentlich urtheile ich also nur über das in meiner Seele schwe*
bende Bild. Was also mein Urtheil vortheilhaftes u. nachtheiliges
enthält, muß mehr auf jenes als auf die wirklichen Charaktere
gedeutet werden. Dieß muß ich im voraus sagen, um alle Miß^»
deutung zu verhüten.
[Hierauf folgen nach 1 leeren Seite, 3 Seiten »erste und flüchtige
Gedanken« über die Profile selbst, von Nicolais Hand, mit viel*
fachen Korrekturen, die als Einlage zum voranstehenden Brief an
Lavater gingen.]
Lavater an Nicolai^
Mein werthester Herr Nicolai,
In dem ersten Halbstündchen meiner Ankunft in Z[ürich] find und
les ich Ihren Brief vom 9. August ganz Befremdung u. Erstaunen,
über den Inhalt desselben ungeachtet Pf[enninger] der mir entgegen*
kam mich preveniert hatte. In dem unabsehlichen Gedränge in dem
ich mich itzo unter bewillkommenden befinde, kann ich Ihnen nur
dies sagen: daß ich mit Wissen Ihren Brief von . . . [unleserl.] keine
Seele, als Pf. und einer Freundin, die ganz im stillen lebt, und mit
keiner Seele davon gesprochen haben kann, gezeiget, daß keine Ab*
Schrift davon genommen woren, daß das Original ganz sicherlich
unter dem Haufen mir izt unmöglich erlesbarer Briefe verwahrt liegt ;
daß ich nicht begreifen kann, wie jemand von diesem Briefe Lärm
macht von dessen Inhalt ich vielleicht in den allgemeinst möglichen
Ausdrücken auf m[eine]r Reise einigen Freunden gesagt haben mag,
daß ich einige Ideen draus benutz[en] wollen« — für den Nicht«
' 1 Blatt in 4" Nicolai eigenh. auf d. Rückseite »1774 20. Sept. Lavater vermuth=
lieh durch einen Einschluß weil . . . [unleserlich] 3 porto dafür. 8. Dez. [beantw.]«
378
Druck desselben steh ich gut. Ich will Ihnen aber, wollen Sies erste
Post das Original send[en] Ich leide täglich so sehr von Indiscretion
anderer mit meinen Briefen, daß ich gewiß äußerst discret gegen
meine Correspondenten bin. Verlassen Sie sich drauf — daß Ihr
Brief in keiner Hand war, die ihn abschrieb; daß keine Abschrift
davon existieren kann, u. daß ichs dem od[er] dem, die so was ge*
sehen zu haben sagen, ins Gesicht als Unwahrheit zurückgeben
darf. So viel in gedrängter Eile. d. 20. Aug. 74 Lavater.
Lavater an Nicolai '^
Von Ihnen mein wehrtestester Herr Nikolai, erhalt ich ohne eine
erläuternde Zeile eine sehr interessante Gipsbüste von einem Un*
bekannten. Ich bin Ihnen sehr dafür verbunden, wenns damit gethan
ist. — Nicht wahr — der Kopf ist von einem großen Mann? Ich er*
innere mich nicht, so eine Physiognomie weder im Porträt noch in
der Natur gesehen zu haben. Es ist ein Kopf der noch eben recht
in mein Werk kömmt. Wenns nicht eine große Seele ist, das Ur*
bild, wenns nicht Kenntnis, Einsicht, Verstand, Klugheit, Geschmack,
Welt und die herrlichsten, außerordentlichsten Anlagen vereinigt —
so triegt mich alles. Schade daß Hypochrondie die himmlische Seele
trübt! Sagen Sie mir doch bald, ob ich mich irre? wer der tiefsinnige
Geist ist?
Ich kann nicht viel schreiben. Ich danke Ihnen aufrichtig. Lassen
Sie mich und die verlachte Physiognomik empfohlen seyn! Nicht
mein Werk, meyn ich, die Sache! ,
Zürich den 22. Nov. 74.
Joh. Casp. Lavater.
Lavater an Nicolai"
Weil ich, mein lieber Herr Nikolai, alle Momente auf mein Werk
wenden muß, so kann ich abermal nur recepisse und Dank schrei*
b[en]. Ihren werthen Brief mit den Urtheilen will ich nach Ostern
beantworten, so Gott Leben gibt. Izt kann ich kaum zum Odem
kommen. Es kam mir nachher der Sinn an Locke bey dem Gips*
' 2 Bl. in kl. 8" auf d. Rückseite Nicolai: »1774 6. Dez. 8 beantw. p. H. Cho*
dowiecki«^.
'' I Bl. in 4", nach Leipzig. Nicolai »1774. 31. Dez. 75. 17. Jan. beantw.«
379
köpfe. Er wird mir alle Tage wichtiger. Drey Versuche der Zeichner
sind fehlgeschlagen. Chodow[iecki] also soll ihn zeichnen . . .^
Im Voraus Dank für die Beyträge und Hülfe, die Sie mir leisten
wollen. Ich wünschte, daß ich Ihnen Capitel zu machen übergeben
dürfte^. Zu den Kupfern will ich alle Sorge tragen. Fällt Ihnen was
bey, schreiben Sie mirs, wenns Ihre Geschäfte erlauben, ohne Ant*
wort zu erwarten.
Pfenninger, in dessen Hause ich schreibe, grüßt Sie. Noch kann
ich schlechterdings nicht begreifen, wie jemand von Mitheilung
Ihres ersten Briefes in fremde Hände reden konnte. In Ihren Briefen
allen find ich wichtige Anmerkungen die ich beherzigen und mir zu
Nutzen machen werde. So viel in heißer Eile
Zürich d. 20. Dezember 74
abends um 8 Uhr
Lavater.
Lavater an Nicolai^
Mein werthester Herr Nikolai!
Wie entsetzlich lange bin ich schon Ihr Schuldner! doch ich bin
nicht allein der Ihrige. Ich bins noch so mancher sehr liebender
und sehr geliebter. Ich habe mich für ein Paar Tage aufs Land ge*
flüchtet mit einer Menge unbeantworteter Briefe und angefangener
Arbeiten. Ich habe bey den letzten angefangen, und einige studirt.
Nun ist der zweyte Tag meiner Ruharbeitszeit bald am Ende, und
nun sollt ich hinter die Briefe . . . ich weiß nicht wo anfangen? nun
es muß seyn! Bey Ihnen will ich anfangen. Ich habe den Brief vom
12. Junius 1774 vor mir.
Vor allen Dingen, hoff' ich, werden Sie vernommen haben, daß
ich Ihre Freuden und Leiden erhalten u. Ihnen dafür sogleich in
einem nach Leipzig (Herr Steiner sagte mir daß Sie daselbst seyn
würden) gesandten kurzen Schreiben, dem ein Brief von Zimmer*
mann an mich beygelegt war, mit seinem Urtheil über Ihre Rezen*
sion in der Allg. Deutsch. B[ib].] von der Physiognomik, gedankt
habe. Der Gedanke wäre mir unausstehlich, daß Sie mich in Ver*
' Folgt Lavatersche Umrißskizze mit Erläuterung.
^ Nicolai: unleserliche Bemerkg. am Rande.
" 3 Bl. in gr. 4" Nicolai: 1775 Mich[aelis] Messe OM. [= Ostermesse] beantw[ortct].
380
dacht der Unempfindlichkeit gegen Ihre womit — verdiente? Güte,
haben sollten.?
Es geht Ihnen also wie mir. Sie mögten der Physiognomik gram
werden, so sehr raubt sie Ihnen, bey Ihren sonst unerschwinglichen
Geschäften, — Muße. Die Nähe, die Allgegenwart des Gegenstandes
und seine innere Reizungskraft hat freylich beynahe etwas bezau«
berndes. Man kann kaum stille stehen. Man wird ewig fortgerissen.
Ich hab Ihnen geschrieben: »Je mehr man beobachtet desto we*
niger darf man urtheilen« — mir ist noch immer so u. dennoch darf
ich sagen — daß ich täglich auf festere Punkte komme, daß ich ge*
wisse Zeichen immer mehr finde welche mir für Welt und Nach*
weit große Freuden machen und mir Tiefen der Weisheit und Er*
kenntnis öffnen. Zugleich wächst das Physiognomische Gefühl —
das Physiognomischen Verstand zeugt und von ihm hinwiederum
gezeuget wird, so wie Critische Schriften Geschmack bilden u. Ge*
schmack kritische Fertigkeit. Das Physiognomische Gefühl — ist
nichts als Brennpunkt vieler zusammentreffender Beobachtungen,
zu denen wir noch keine bestimmte symbolische Zeichen haben.
Der Umfang der Physiognomik ist so unendlich, wie der Um#
fang jeder allgemeinen Wissenschaft. Metaphysik, Theologie, Phy*
sik, Mathematik, Moral, Arzneykunst sogar — welcher Wissenschaft
Umfang ist nicht unendlich. Also mein werthester, soll das für uns
kein Einwurf seyn.Wir wollen das festhalten, was wir haben und
das suchen, was wir finden. können, u. so den gehörigen Bey trag
zur menschlichen Kenntnis liefern. Die Anmerkg. ist richtig, daß
der »kleinste Umstand öfters unser Urtheil verändert« — aber Sie
antworten selbst »mutatis mutandis gehts der Philosophie über*
haupt ebenso«
Allein nicht nur in dieser Rücksicht, sondern nach der ganzen
Lage meiner Umstände, u. nach der besondern Natur der Sache
— kann und soll ich nur Fragmente und Memoirs liefern. Sowie
man Physische mathematische etc. vermischte Abhandlungen un*
zählige liefert. Es ist noch an keinen Zusammenhang, kein ganzes zu
denken. O laßt uns erst Materialien zusammentragen. Systemsucht
— ist noch zehnmal ärger, als einzelne, noch so falsche Hypothesen.
Im vorbeygehen zu sagen: Herr Steiner, wo ich ihn recht ver*
standen habe, sagte mir, daß Sie sich immer vorgestellt, daß ich
381
nach dem von Ihnen rezensierten Plan arbeiten werde. Ich gabs ihm
als einen großen Mißverstand auf seiner Seite zurück. Ich müßte
unsinnig sein, wenn ich je an so was gedacht haben sollte. So was
hab ich auch in keinem Briefe, keinem Gespräche, am wenigsten
öffentlich zu versprechen, mir einfallen lassen. Ich gebe was ich
geben kann, u. wovon ich glaube, daß es der Mühe werth ist, ge=
geben zu werden, und ich glaube, geliefert zu haben oder vielmehr
angefangen zu haben zu liefern, was ich versprochen. Wie gesagt aber :
Ich zähle darauf, daß Hr. Steiner Sie mißverstanden haben muß.
Die Anmerkung von Ihnen »Man muß wohl untersuchen, ob
man seine Ideen auch selbst recht präzise gefaßt habe, denn sonst
ist die Sprache unschuldig« — ist wichtig. Hätten die Mahler ge*
übtere Augen, so hätten sie auch geschicktere Hände. Hätten wir
immer bestimmte Ideen — wie bald hätten wir bestimmtere Worte?
Ich hoffe Sie werden nun in Ansehung der Unähnlichkeit der
Porträte zufrieden und beruhigt seyn. Ich kann nicht machen, daß
alle Porträte vollkommen ähnlich gezeichnet, noch weniger daß sie
ähnlich gestochen werden. Ich habe mir unglaubliche Mühe ge*
geben. Ich bin vor Verdruß fast krank geworden. Ich habe viel
Hunderttaler darüber eingebüßt — u. habe dennoch sehr wenig
meinen Zweck erreicht. Erst muß noch der physiognomische Mah*
1er Zeichner Kupferstecher gebildet werden — u. wie ichs in den
Fragmenten sagen werde, sollte eine Art von Physiognomischer
Gesellschaft oder Akademie errichtet werden, wo Zeichner dazu
gebildet würden; ohne dieß kriechen wir nur, wo wir fliegen könn«
ten. Was war aber nun, bei so bewandten Umständen zu thun?
Nichts als die Unähnlichkeit so gut wie möglich anzuzeigen* u. —
über das zu reden was vor Augen war. Auch Ihre wiederhohlte
Anmerkung wegen der Präzision u. Definitionsfähigkeit der Aus*
drücke (bey Anlaß des Worts athletisch) find' ich vollkommen ge*
gründet; so gegründet, daß ich sehr vermuthlich oft Definitionen
einmischen, oder unten ansetzen werde.
Vortreflich, was Sie vom K[önig] v. Pr[eußen] u. M[oses] M[en»
delssohn] sagen! Dennoch macht aller Nichtwiderspruch gegen
den König, und aller Widerspruch gegen den Juden im Stirn*
umriß wenig Veränderung.
' Nicolai am Rande: sehr richtig!
382
Noch Eins — Nebenein. Die Silhouette von M[osesJ M. die ich
von Chodow. hatte und die ich in meinem Brief an Sie beurtheihe
— ist unendlich schlechter, als die, die mir Zimmermann sandte und
die in dem 1 ten Theile steht. Letztere ist zwar nicht das vollkom«
menste reinste Profil, und daher mag sie vielleicht weniger auf*
fallend ähnlich seyn. Aber sie ist zehnmal sprechender — und wenn
sie's auch für die Aehnlichkeit weniger wäre, so ist sie als Charakter
von den entscheidensten für seinen Verstand, die ich in meinem
Leben gesehen.
Wenn wir Ein paar Tage beysammen wären, wollt ich Sie, mein
werthester Herr Nicolai, davon durch eine Induktion so groß Sie
dieselbe verlangten überzeugen, »daß — (freylich hundertmal nicht
aber dennoch) sehr oft bloß einzelne abgesonderte Züge von der
entscheidendsten Bedeutung sind — « nur mit dem einzigen Vor*
behalt — »was kontrastiert im Ganzen, zieht sich wieder vom ein*
zelnen ab«. Ich wollte Ihnen' vielleicht mehr als 200 Linien zeich*
nen — (und wenn Gott Leben giebt, werd' ichs im letzten Theile
gewiß thun) die was bestimmtes an sich bedeuten — und wofern
kein contraindicans da ist, zuverlässig sind. Ihre Zuverlässigkeit
aber wird durch ein contraindicans so wenig aufgehoben — als eine
Aktivschuld deßwegen an sich schlecht wird, weil ich eine
gleichgroße oder größere Passive habe. Sonst ist Ihre Anmerkung
richtig: daß Stärke u. Schwäche in weitläufigem Verstände —
eher als die besondere Richtung davon in den Silhouetten zu
sehen ist.
Bey Anlaß dessen, was Sie von einem Husaren sagen, muß ich
anmerken, was nicht genug angemerkt werden kann — »daß der
Mangel gewisser positiver Charaktere nicht den Mangel der da*
durch ausgedrückten Kräfte allemal voraussetze«. — Es gibt runde
Stirnen voll Muth wie z. E. des Herzog v. Württemberg seine — u.
gerade mit eisernem Muth — (ganz gerade zwar sind immer in
Statu medio und meistens das Mittelding zwischen Blödigkeit
u. Muth.)
Auch die Anmerkung über das ausgeschnittene, oder den Kern
und die Hülse der Silhouette ist gegründet. Der Ausschnitt aufm
schwarzen Grunde immer der beßte.
Nun ein Paar Worte von den Schriftzügen. Ich darf als
383
factum Ihnen ohne Radomontade bezeugen, daß ich von 10 un?
bekannten Addressen von Briefen an mich — 9 mal gewiß ent*
scheiden will, ob von einem langsamen schnellen feurigen ordent*
Hchen feinen, gesetzten, verständigen, dummen Mann der Brief ist.
Ich habe viel Addressen ausgeschnitten, zusammengepappt, u. die
AehnHchkeit in der Manier ist auffallend.
Nehmen Sie z. E. Reichens^ Handschrift, wer sieht da nicht den
schnellen, aktiven entscheidenden Mann? In Herders nicht den
fein, schnell, gedrängt denkenden? In Wielands nicht den Mann
von Geschmack? In Klopstocks nicht die Nachlässigkeit des Ge*
nies? In Hallers nicht den Geist der Ordnung? In Chodowieckis
— nicht den schnellen — unscharfen Charakter? In Moses M. nicht
das reine überlegte feine Denken. Die Einwendung von Daniels
AehnHchkeit mit Moses lass' ich als Ausnahme oder als Beweis
von einer AehnHchkeit in tertio quodam gelten.
Und nun weils eben so in Ihrem Briefe folgt, auch ein Wort von
Herders Schreibart. Ich hoffe nicht, daß mir jemand Nach«
ahmung dieser Schreibart Schuld geben werde. Ich befleiße mich
der möglichsten Deutlichkeit in allen meinen Schriften also hoff ich
unpartheyisch zu urtheilen. Ich leugne nicht daß sie oft dunkel sey
und noch mehr daß sie affektirt scheine; allein so gar sehr
sollte man ihn nicht darüber näcken. So gar sehr alles um deßwillen
übersehen. Es ist doch z. E. unverantwortlich daß der Merkur die
Urkunde mit zwey superfiziellen Schulmeisterzeilen abfertigt — u.
nicht einmal so viel davon sagte als von der Schreibtafel". Das
heiß ich doch Monumente von rasender Partheylichkeit. Von die»
ser Partheylichkeit scheint mir auch der Rezensent von den Pro*
vinzialblättern in der Allg. Dtsch. Blibl.] nicht frey. Ein wackrer
Mann! — aber, begeht er nicht gerade den Fehler den er Herdern
zur Last legt? Ich bitte Sie, nicht um Herders willen, denn er ver«
achtet vermuthlich, was so viele verständliche Schwätzer, die doch
' Der Buchhändler Reich.
- »Die Schreibtafel«, Lieferung 1 u. 2, Mannheim 1774, ist Teutscher Mercur 1774.
Dez., S. 244 in einem Brief an den Herausgeber sehr gerühmt; Herders Urkunde
in dem Aufsatz von Chr. H. Schmid (ebda. Nov. 176) sehr flüchtig und von oben
herab abgelehnt; ein bissiger Seitenhieb gegen Herders Urkunde fällt auch in
der Besprechung des Meiners'schen »Versuch über die Religionsgeschichte . . .«
(Teutscher Mercur März 1775. 280.)
384
Insekten gegen ihn sind, — alltäglich wahres u. dummes über ihn
faseln — sondern um der Wahrheit willen, Sprache und Sache
zu trennen!
Sie sind ein Philosoph — und von Ihnen hängt — wie viel ab —
Ich bitte Sie — verachten Sie die Bitte eines Schwachen nicht, der
freylich nie Anspruch auf Philosophie machen kann und wird.
Daß Herder zu heftig, zu stachlicht, zu zermalmend, zu pracht*
reich, zu räzelhaft ist — soll ich das bezweifeln — aber — was ist
dann dagegen Positives, Trefliches da — u. was haben die ge*
leistet, die ihn ganz verurtheilen '?
Von Demonstration, außer der Mathematik — hab ich keinen
Begriff, also übergeh ich hier einen Punkt . . . Gründe darlegen,
seine Begriffe entwickeln — ihr Verhältnis zeigen ihre Aehnlichkeit
mit dem was wir fürwahr halten — wenn Sip das Demonstration
nennen, dann sind wir einig. —
Darinnen haben Sie recht: Der Styl der von Ihnen genannten
Schriften schreckt ab — u. schadet also mithin soll er gerügt wer*
den — aber Sprach u. Sache getrennt und das häufigtrefliche auch
der Sprache nicht unbemerkt bleiben.
Einer meiner Freunde ein Mann von tiefer Einsicht und feinem
Gefühl hat die Urkunde übersetzt hin und wieder paraphrasiert —
und was ich davon gelesen hat mich noch fester an das Buch und
seinen Verfasser attachiert. Sie werden erstaunen, wie plan alles
wird, wenn Sie die Schrift gedruckt lesen werden. Dann, mein
wehrter! laßt nur sehen, ob das Werk noch eine Pyramide in
Ihrem, oder eine Pyramide in meinem Sinn sey. — »Ein perenne«
Monument menschlicher Geistes u. Schöpfungskraft« — und zu*
gleich (denn Pyramide drückt mir nur Festigkeit u. Himmel*
strebung als Bedeutung aus — ): Pallast, wo Könige u. La*
kayen schlafen, wachen, schaffen und würken können.
Sonst haben Sie wieder vollkommen meinen Sinn — daß Sie
»wohnbare Häuser wünschen für das ganze menschliche Ge*
schlecht, u. Palläste für die wenigen auserlesenen, die den Auf*
wand bestreiten können« — vortrefflich! — aber nicht wahr, sol*
eher Palläste und Gärten, wie die Urkunde — gibts doch zur Zeit
kaum soviel als Palläste in Vergleichung mit Wohnhäusern ~
' Von mir gesperrt.
25 Sommerfei d , Friedrich Nicolai 385
Ueber das Christusideal in den Fragmenten, Ich mögte nur
harmonische Charakter von Reinheit, Unschuld, Weisheit, Güte,
Kraft, Hoheit, Dehmuth zusammenvereinen — und das Bild nenn
ich dann Christusbild.
Die Verlegenheit, Größe und Güte zu vereinigen ist freylich
groß, aber sie wäre viel geringer, wenn der Künstler ders ausdrücken
soll, mir zur Hand wäre oder meinen Sinn wüßte. Erinnern Sie sich
eines herrlichen Plato in Lipperts Kabynette. Ist da nicht der reinste
Verstand mit der edelsten Güte vereint? Güte und Weisheit
heben sich nicht auf aber das schwerste ist die Harmonie der Pro*
portion ausdrücken.
Vollkommenheit . . . o Gott . . . welch eine endlose Weitel Ich
prätendiere nicht, daß diese ich oder jemand im Christusbild er*
reiche; aber ich will erstens zeigen, daß die meisten Christusköpfe
ohne Verstand gemacht sind; dieß ist immer gute physiognomische
Uebung! Zweitens, daß noch etwas besseres möglich ist, wenn man
mit Nachdenken und Gefühl arbeitet.
Sie haben recht, die Alten suchten mehr Schönheit — freylich
relative auf den Charakter, als das was wir idealische Vollkommen*
heit nennen. Aber die Alten, obwohl noch nie überstiegen, noch
nie erreicht, sind doch erreichbar — und übersteigbar]
Den Kopf des Homers kenn' ich. Er ist wie Sie sagen Bildniß
nicht Ideal.
Auch darinn haben Sie recht, daß um ganz von einem Bilde ur*
theilen zu können, die Köpfe 3 fach oder ich wollte wohl sagen
zwölffach gezeichnet seyn sollten — a) ganz en face b) 3/4 Gesicht
c) rechtes Profil d) linkes Profil e) in d. gewöhnlichsten Ruhe f ) in
der gewöhnlichsten Bewegung g) im Schattenprofile h) Halb
Profil i) von hinten im Schatten k) von oben herab 1) die ganze
Statur etc.
Mein Blatt und meine Zeit ist am Ende. Ich hätte noch unendlich
vieles zu sagen — von dem Sendschreiben^ z.E., dieser alle Augen*
blick als lügenvoll erwey [ß]liche Geburt von Intoleranz und Buch*
händlerneid — aber ich habe mir fest vorgenommen, mit meinen
Mitbürgern, die ich nie beleidigt habe als daß ich — nicht mehr
sie gelobt — keinen Krieg anzufangen. Nur dieß einzige sey
' Gemeint J. J. Hottingers »Sendschreiben«.
386
Ihnen (in Rücksicht auf das, was Steiner mir von Ihnen sagte) be*
theuert — »daß ich sie, die Verfasser, aufforderte, die Geschichte,
die mir nachtheilig seyn soll, aufzusetzen; daß sie mirs schriftlich
positiv versprochen, triumphierend versprochen — und
nicht Wort gehalten, auch nicht halten werden.« — Nun — was
könnt ich vor aller Welt thun?
Die Anmerkungen über Ihre oft treflichen Urtheile über die Sil«
houetten^ bin ich Ihnen noch schuldig. Bald sollen Sie dieselben
auch noch haben. Izt hab ich keine Zeit mehr. Die Kupfer die ich
von Ihnen noch habe sollen auch nicht vergessen werden. Ich danke
nochmals und bitte ab. Leben Sie recht wol. Wenn ich mit einer
kleinen Sammlung von Physiognomischen Zeichnungen aufwarten
kann, so thu ichs mit Freuden. Ihr Locke wird mich daran er«
innern.
d. 27. Sept. 75 Hegi bey Winterthur
J. C. Lavater.
Nicolai an Lavater"
Leipzig d. 30. April 1776.
. . . Ich habe mich mit dem ersten Theile Ihrer Physiognomik einen
großen Theil des Sommers beschäftigt. Ich habe ihn wohl vier*
mahl durchgelesen. So sehr ich einsehe, welcher ungeheure Schritt
in dieser Wissenschaft gegen das beste vorige physiognomische
Buch, durch Ihr Werk geschehen ist; so will ich Ihnen doch
mit der importunen Offenherzigkeit, die mir natürlich ist, und
die Sie schon aus meinen Briefen an Sie und Zimmermann
kennen, gestehen, daß ich damit oft Stunden lang höchst miß«
vergnügt gewesen bin. Nicht als wenn ich nicht viele gute und
vortreffliche Sachen darin gefunden hätte, sondern weil ich so sehr
oft, in meiner Erwartung getäuscht wurde, wenn ich sie gewiß be«
friedigt hoffte.
' S. oben S. 378.
^ 6 Bl. in gr. 4". Konzept von Hand eines Schreibers, mit eigenhändigen Korreks
turen Nicolais. Dieser Brief ist hier sehr gekürzt wiedergegeben, da das meiste
teils in den vorhergehenden Briefen, teils in den beiden Nicplaischen Rezen«
sionen der Physiognomik berührt wurde.
25* 387
Nachdem ich über alles dieses vielfältig nachgedacht habe; so
finde ich freylich, daß unsere ganze Art zu denken und zu verfahren
so direkt unterschieden ist, daß wir auch in dieser Sache nicht ganz
zusammenkommen können . . .
... Sie geben sehr viel auf das Physiognomische Gefühl.
Mit Recht. Ich setze auch alles darin, aber nur für mich selbst.
Gegen einen andern kann ich mich darauf gar nicht berufen.
Ich muß gleichsam davon abstrahieren. Ich muß das dunkle Ge*
fühl präziser machen, ... ich muß es allgemein machen, sonst
kann ich unmöglich die physiognomische Kenntnis anderer er*
weitern.
Wie sehr hätte ich gewünscht, daß Sie alle Charaktere, beson*
ders Ihrer Freunde, ganz weggelassen hätten! Die Freundschaft
gleicht einem Nachtlichte, das den Objekten ein Relief gibt, das
sie selbst nicht haben . . ,
Ihre Gallerie von schattierten Bildnissen thut in Vergleichung
gegen die Kosten nicht Wirkung genug. Eine einzige Stunde im
Concerte oder in der Komödie, oder wo sonst viele Leute sind, sich
mit Verstände umgesehen, thut besser — wenn Sie aber diese Bilder
künftig zu Belegen des 4ten Theils brauchen wollen — vortreflich!
aber dann befürchte ich sehr die Beschreibung schadet Ihnen. Wägen
Sie doch ja die Worte ab. Sie sagen z. B, in dem Charakter des
Gr[afen] v. St[ollberg] er sey unverführbar. Erstens frage ich
wozu kann er nicht verführt werden? Zum Geize? zur Wollust?
zur Ehrsucht? zum Müßiggange? Zweitens ohne an den Mann zu
denken, der aller Hochachtung würdig seyn mag, sage ich a) Nie*
mand kann man überhaupt unverführbar nennen, als dessen
Tugend die wichtigsten Proben ausgestanden hat. b) Charaktere
dieser Art sind gewiß am leichtesten verführbar. Es ist gleichsam
nur Eine Laufbahn in der Welt, der sie folgen können. Setzt
man sie aus dieser, und wie leicht ist dieses oft, so darf man
wahrhaftig nicht so fein, wie Choiseul oder Vergennes seyn,
um solche Leute dahin zu bringen, wohin sie selbst nie gedacht
haben . . .
lEs folgen Anmerkungen Nicolais über die Physiognomik der
Extremitäten, besonders der Geschlechtsteile.]
. . . Ihre Beyspiele von den Schriftzügen berühmter Gelehrter sind
388
ganz gut, nur fürchte ich, mehr a posteriori abgezogen. Auch schei*
nen sie mir nicht richtig genug charakterisiert zu seyn. z. B. »in
Herdern den fein, schnell, gedrängt denkenden, in Wielanden den
Mann von Geschmack«. Wieland denkt fein und schnell wie Her«
der. Seine Hand scheint übrigens sich einer Kaufmannshand zu
nähern. Ich kenne Leute ohne allen Geschmack wenigstens in Ab«
sieht auf Schriften die ebenso schreiben.
Wegen Herders Urkunde kommen wir wohl nicht zusammen . . .
Von den Provinzialbriefen will ich gar nichts sagen. Das Ver*
fahren gegen Spalding ist niederträchtig, dafür erkennt es der größere
Theil des Publikum so wie auch der weisere.
Leibniz schrieb mit Succeß in der Sprache der Rosenkreuzer. Ich
glaube im Ernst, man dürfe kein Leibniz seyn, um Herders Sprache
zu schreiben. Es hat ohndem mit der Urkunde noch eine gewisse
besondere Bewandniß, über die ich mich nicht näher erklären darf
und mag.
. . . Was für ein Physiognomisches Kabinet mag es seyn, das in
Münster herauskommen soll? Man sagt ein Mathematicus Müller
in Münster soll der Verf. sein^
. . . Nur noch ein Wort von dem bekannten Sendschreiben, dessen
Sie erwähnen. Was in der Bibl. geurtheilt worden, wissen Sie schon.
Daß die Verf. der Bibl. frey über alle Vorfälle ihre Meinung sagen,
ist nöthig. u. wird auch nie unterbleiben. Sie können es im Ganzen
auch nicht mißbilligen. Was mich selbst, en particulier betrifft, so
weiß ich von den eigentlichen Streitigkeiten mit Ihren Zürcher
Landsleuten nicht ein Wort . . . daß ich mit vielen Ihrer Schriften
und Schritte, sehr unzufrieden bin, wissen Sie von mir selbst
durch Herrn Steiner und durch Hr. Zimmermann. Ich gestehe
es Ihnen nochmals, da Sie mich selbst darauf bringen, ich weiß
nicht, wie ich manche von Ihren Schritten entschuldigen, wie
ich manche Ihrer Behauptungen vereinigen und wie ich manche
Stellen Ihrer Schriften verstehen soll... Darf ich es sagen: Sie
haben zu den meisten Anfällen, die auf Sie geschehen, selbst
Gelegenheit gegeben. Sie haben vereinigen wollen, was nicht ver*
einigt werden kann. Dummheit und Klugheit — Ich halte nehm*
lieh Obereit, Hasenkamp Gaßnern, Jung u. s. w, ^iir dumm —
' Vgl. über die Rezension dieser Schrift in der AUg. Dtsch. Bibl.: oben S. 235.
389
Spaldingern [sie], Teller, Semler u. s.w. im Gegensatz dieser
für klug. Geradezu — deutlich — weniger feyerlich — wünschte
ich Sie oft ...
... Sie sehen, ich gehe ganz geradezu zu Werke. Ich verheele
meine Gedanken nicht. Aber Gott weiß es, daß ich niemand wehe
thun will. Ihnen am wenigsten. Wahrheit suche ich und suche sie
mit. Eifer
Ich bin von ganzem Herzen
Ihr ergebenster
Nicolai.
, . . Im AugenbHck bringt mir H. Hauptmann Landolt . . . Ihren
Brief vom 25. März. Dieser Mann hat eine sehr interessante Phy*
siognomie. Ich habe mich mit meinen schwachen Augen . . . nicht
satt an ihm sehen können . . .
Lavater an Nicolai^
,. . Alle Ihre Erinnerungen Aeußerungen, mein werthester Herr
Nicolai, über die Physiognomik oder vielmehr den ersten Theil
meiner Fragmente, nehm ich besonders Ihrer Aufrichtigkeit wegen,
mit Lieb und Dank an. Ich werde gewiß manches davon benutzen.
Das sollen Sie sehen. In alles kann ich mich nicht finden. Es wäre
Thorheit, Sie immer auf meinen Gesichtspunkt zu stellen. Unsere
Art zu sehen ist so verschieden, muß so verschieden seyn, als unsere
Stirnen. Nur dieses — vergessen Sie die Mannigfaltigkeit meines
Publikums nicht. So viele ohne Nicolais Augenknochen, kaufen
das Werk. Es ist unmenschlich diesen nichts zu geben und diese
leben nur von Empfindung [Nicolai am Rande: auch ich lebe in
Empfindung mehr als Sie denken. Ich kenne das allgemeine Publi*
kum, es liebt deutlichere Begriffe mehr als man uns jetzt glaubend
machen will.] Am Ende? — Ich appellir immer aufs Ende —
und aufs ganze der Leserwelt. Viele Gäste, viele Trachten, Genug,
wenn jeder gut und genug hat, obgleich ihm einige Trachten
widrig sind.
Dank für die besonders nöthige Erinnerung die Worte genau ab*
zuwägen. Unverführbar ist mit ein Beispiel. Ich weiß nicht mehr
' 2 Bl. in 4". Auch dieser Brief ist hier gekürzt wiedergegeben.
390
in welchem Zusammenhang ichs sagte? Ihre Anmerkungen ganz
treflich.
Der Versuch, den Sie mir mitzutheilen die Gütigkeit haben, ist
die Erfindung eines äußerst ingeniösen Kopfes \ Ich mag und
darf an keine Versuche dieser Art denken — das gäbe Stoff
für die Sendschreiber! auch kann ich aufrichtig sagen, daß ich
hierüber an niemandem in der Welt eine einzige Beobachtung
zu machen Gelegenheit gehabt habe, und daß ich bey dem
einzigen Menschenpaar, wo ich solche machen dürfte, an mir
u. meiner Frau, nicht Herz genug [Nicolai am Rande: nicht
Herz? nil admirari nil timere] habe eine zu machen. Diese mir
natürliche Blödigkeit ists, die mich hundert Beobachtungen, die
weniger Erröthung mit sich führen, zu machen schlechterdings
abhalten. Ich dank Ihnen indeß doch für Ihre mir zum Theil neue
Winke.
[Folgt eine Anzahl physiognomischer Finzelbemerkungen,
Nicolais Anmerkungen aus dem vorhergehenden Brief beipflich*
tend.]
. . . Kein Wort also weiter von Herder — von dem eben ein Ge*
rüchte geht, er sey gestorben?
. . . Ueber das Sendschreiben sag und schreib ich kein Wort
mehr. Das Paket ist versiegelt. Nur dieses einzige Wort in aller
Sanftheit. Ich bin überzeugt alle Welt u. Hottinger selbst muß Ihre
Anzeigen, Auszüge und Nicht*Auszüge partheyisch finden, ob*
gleich vielleicht der Verf. unpartheyisch zu seyn geglaubt oder ge*
träumt haben mag. Nur mögt ich wissen, wenn ich gethan hätte,
was mir gethan worden — ich gelogen hätte — erweislich gelogen —
was dann Nikolai gesagt hätte? hätte sagen müssen? aber ich will
kein Wort mehr sagen.
In Ansehung der Neue Aufsätze — was kann ich sagen? Schlett*
wein ist allein der Verfasser, und ich — sag Ihnen vor Gott als ein
ehrlicher Mann, daß ich nie an manche seiner unverdautesten Gril*
len gedacht habe, obgleich ich einen reellen Einfluß Christi oder
Gottes durch Christum auf alle Glaubenden — mit allen Christen
' Er betrifft die Proportion der mensura penis erecti zum Daumen, sowie ßeob=
achtungen über die Proportionalität des weiblichen Körpers und damit zusam=
menhängende Folgerungen für die Empfängnis.
391
aller drey Hauptreligionspartheyen annehme^ das können Sie in
meinen Schriften offen finden . . .
Ich kann nichts mehr schreiben, als: Laßt uns beyde mehr warten
lernen, u. ieder nach seiner Kraft Gutes thun — und einander dul*
den, weil der uns auch duldete, der uns beyde gleich irren sieht.
Amen.
. . . Baden, 4 Stunden v. Zürch d. 21. May 76
J. C. Lavater.
Nicolai an Lavater-
[Nicolai verwertet seine Randbemerkungen zu Lavaters Brief in
ausführlicher Weise. Zum Problem des »reellen Einflusses Christi
auf die Glaubenden« bemerkt er:] »Dis war es hauptsächlich, was
ich beweisen wollte daß Sie es behaupten. Wir reden hier unter vier
Augen und wollen uns nicht hinter Worte stecken. Können und
wollen Sie die Worte real und Einfluß schriftmäßig und ver*
nunftmäßig erklären, so daß diese Erklärung mit allem was Sie
sonst in Ihren Schriften darüber geäußert haben übereinstimmt
hingegen mit Schlettweins Meinung nicht übereinstimmt so
werden Sie mir Magnus Apollo seyn. Stimmt hingegen Ihre
Meinung mit Schlettweins Meinung überein, so ist wohl wenig
daran gelegen ob Sie auch alle Hypothesen annehmen, wodurch
er diese Meinung bestätigen will. Und Hypothesis gegen Mei*
nung gesetzt ist jene (es sey ohne alle Beleidigung gesagt) nicht
das unsinnigste bey der Sache. Doch transeat« . . . [Nicolai findet
diese Meinung auch in den Physiognomischen Fragmenten gel*
tend gemacht und verweist auf die Stelle Teil I, S. 80: »Ein solches
Gesicht wie Judas kanns keine Woche in Christi Gesellschaft
aushalten.«]
[Es folgen eine Anzahl physiognomischer Einzelbemerkungen,
besonders über die »Physiognomik der Wollust«; neuer Wider*
Spruch gegen Lavaters Beurteilung der Schriftzüge, Bemerkungen
' Nicolai hat »reellen« unterstrichen und bemerkt am Rande: »Ist mir genug.
Glauben Sie dieses, so kanns gleichgültig seyn, durch welche Hypothese od.
Traum es zu erweisen gesucht wird.«
• Kopie. 3 Bl. in 4** von Hand eines Schreibers. Auf S. 6 Nicolai: »1776 11. Juli
Kopie einer Antwort an H. Lavater in Zürich«.
392
zur physiognomischen Literatur, insbesondere über den auch in
der Rezension AD Bibl. XXIX erwähnten Sophisten Adamantius,
der über Aristoteles gestellt wird.]
Lavater an Nicolai^
Ich danke Ihnen zum voraus mein gütiger Herr Nikolai für die Ab*
güsse, die Sie mir als Geschenk von Ihnen ankündigen u. von denen
ich zum voraus weiß, daß sie mir sehr lehrreich seyn werden. Zum
Studium der Physiognomik, däucht mir, sind Gipsabgüsse das un*
entbehrlichste Elementar*Buch — .
Noch hab ich Ihnen für den König in Preußen nicht gedankt. —
Ich muß aber gestehen, daß er mir unausstehlich war. Ich konnte ihn
nicht dulden. Er ist ohne Sinn und Seele, Fleiß u. Kunst gemacht.
Ich arbeite nur an dem 4ten Theil, u. dränge zusammen so viel ich
kann; geize mit Worten und bin in meinen Urtheilen ganz trok*
ken und kalt. Was ich sonst sage, hab' ich Beruf zu sagen, u. erwarte
darüber alles, was ich erwarten kann, zu erwarten gewohnt bin, u.
mich nicht irre machen lasse.
Lichtenbergsäußerstschön geschriebene, u. äußerst seichte anti*
physiognomische Abhandlung im Göttingerkalender werden Sie
gesehen haben. Ein mathematischer Kopf kann sagen — »Talente
bezeichnen sich nicht durch die festen Teile« — das heißt — die Natur
handle nach Gesetzen in den kleinsten leidenschaftlichen Bewegun*
gen — und nach Willkür in der ersten Bildung des Menschen!
Ich werde mit sanfter Vernunft und lichtheller Deduktion ihn ad ab*
surdum führen".
Von Lambert — hätt ich einen Schattenriß, ein Porträt — u. ach!
wie gern einen Gipsabguß gehabt. Es ist Schande fürs Jahrhundert
solche Köpfe ohne Abbildung untergehen zu lassen.
Sollten Sie Ihres Königs od. Mendelssohns od. Spaldings Tod er*
leben, so bitt ich Sie so sehr ich kann den Moment ja nicht vorüber
gehen zu lassen, Abgüße zu veranstalten.
So viel in Eile. Ueber andere Dinge, so sehr ich Ursach hätte mich
höchlich bey Ihnen zu beklagen, weil der Impertinenzen gewisser
Leute, die Religion haben wollen, u. die erste Grundsätze der fläch*
' 1 Bl. in 4". Auf der Rückseite Nicolai: 1777 2. Nov.
■' Im Deutschen Museum 1778, April S. 289ff.
393
sten Gerechtigkeit vergessen, kein Maß ist — izt kein Wort und
nie kein Wort, Nur das Eine, — so wahr Sie dieß lesen — »wenn
Sie unsichtbar mich handeln und schreiben und reden hörten und
sähen, Sie würden sagen: Non putarem« — und gewiß nicht mehr
zugeben — daß etc.
Ich bin Ihr aufrichtigverbundner
Zürich Lavater.
den 25. Okt. 77.
[Es folgen anschließend die Briefe Lavaters und Nicolais aus dem
Jahre 1784, deren wichtigste Stellen Alfred Stern (Mirabeau u. La*
vater, Deutsche Rundschau 118, 4 19 ff.) veröffentlicht hat.]
I
394
REGISTER
A. Nicolais Schriften
Abhandig. v. Trauerspiel: 22. 25. 30. 31.
45. 188. 189. 190. 252
An den Magum im Norden : 1 37 ff. 18 1 f.
Anhang zu Schillers Musenalmanach:
16. 37. 183. 246. 261. 275. 301. 315
Beschreibung V. Berlin u. Potsdam: 58.
256. 374
Briefe über d. itzigen Zustand: 4, 15. 23.
29. 30. 31. 32. 34. 35. 38. 39. 40. 41. 42.
43. 44. 47. 48. 54. 55. 58. 83. 95. 110.
132. 171. 183. 189. 270. 332
Ehrengedächtnis f. Thomas Abbt: 16. 26.
59. 163 ff. 166. 167. 369
Ehrengedächtn is f. J. J. Engel : 1 6
Ehrengedächtnis f. Justus Moser: 37. 317
Eyn feyner kl. Almanach: 4. 148. 154.
191. 192. 208. 280. 289-301. 302. 328 f.
330. 338 f.
Geschichte eines dicken Mannes . . .: 17.
48.62. 104. 261. 273. 297
Gespräche Chr. Wolffs m. e. Kantianer
(Vorrede) : 6. 63. 209. 273
Philosophische Abhandlungen: 14. 16.
18. 273
Reisebeschreibung: 9. 17. 18. 20. 43. 48.
60. 63. 219. 246. 296. 310. 312. 317
Schreiben an den Hrn. Prof. Lichten^
berg: 15. 41. 46
Schrift gegen Buhle: 6. 18. 202. 211
Schrift über den Tempelherrnorden: 6.
209. 315
Sebaldus Nothanker: 5. 12. 17. 19. 43.
48. 52. 59. 62. 103-109. 138. 139ff. 146.
149. 150ff. 154ff. 180. 192 ff. 195 f. 203.
207. 210. 216. 263. 268. 271. 282 tt
324. 327. 336 f. 338. 340 ff. 369
Sempronius Gundibert: 11. 14. 24. 35.
51. 62. 104. 261. 273. 301
Über das Schreiben des Hrn. Hofrats
Schlosser . . .: 310
Über meine gelehrte Bildung: 11. 14. 52.
71.310
Untersuchung, ob Milton . . .: 18
Vademecumf. lustige Leute (Vorreden) :
48. 59
Vertraute Briefe . . .: 6. 14. 15. 18. 24. 62.
63. 89. 188. 227. 251. 261. 273f.
Werthers Freuden: 59. 60. 65. 157. 224.
225. 247-275. 327. 338. 380
Beiträge Nicolais zu
Allgem. Dtsch. Bibliothek: 15. 16. 28.
29. 31. 36. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47.
48 f. 53. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 75. 76.
77. 79. 81. 82. 90. 91. 93. 100.' 102.
143ff. 148. 152. (153). 155. 156f. 166.
(174). 178. 190. 204f. 207. 208. 214.
218. 222. 231. 235. 236. 237. 241. 242.
246f. 251. 257. 259. 269. 271. 272. 278.
280. 281. 308. 323. 324. 326. 328 f.
341. 380.
Bibliothek d. seh. Wissensch. u.fr. K.:
22. 23. 24. 26. 28. 32. 35. 37. 41. 46.
54. 56. 70. 71 f. 90. 91. 245
Briefe, die neueste Literatur betretend:
24. 25. 29. 31. 32. 34. 36. 37. 38. 39.
43. 46. 47. 48. 49. 52. 55. 59. 60 90.
91. 120. 171. 183. 188. 246. 296
Göttinger Musenalmanach: 155
395
B. Personen
Abbt, rh. : 12. 16. 19. 24. 32. 36. 63. 109ff.
122. 125f. 127. 131.134.160. 161. 162 ff.
174. 175 ff. 177. 183. 184. 189. 246. 323
Adamantius : 393
Afsprung: 108
Althof: 301
Aristoteles: 39. 245. 279. 393
Augspurg, Mad. : 20
Alxinger, Job. B.: 16
Bacon: 7
Bahrdt: 152. 245 ff'.
Baldinger: 58
ßasedow: 311. 343
Batteux: 25. 178 f. 277. 295
ßaumann: 280
Baumgarten: 24. 25. 34. 52. 163. 164
Becker: 243
Beckmann : 278
Biedermann: 292
ßiesfer: 18. 19. 47. 90. 153. 192. 290. 291.
293. 300. 301. 302. 311. 317
Blankenburg: 18. 57. 212. 222. 271
Bode: 327
Böckmann: 239
Bodmer: 57. 62. 90. 101. 169. 176. 253.
305 f.
Böhme. Jak.: 126. 205
Bote, Chr. H.: 48. 155. 222. 262. 264 f.
277. 282. 283. 286. 291. 298. 300. 301.
304.307. 310.311. 312. 321 ff.
Boie,R.,d.Jg.: 81. 268. 303
Boileau: 25
Bonnet: 215. 220 f.
Bouhours: 42
Boysen: 12
Breitinger: 25
V. Bretschneider: 106. 150. 156. 212. 222.
241. 269. 271. 277. 292
V. Brück, E.: 150
ßrücfcner : VI II. 8 1 . 282. 294. 295. 304. 305
Brumoy: 25
Brydone: 199. 200. 374
Buchholtz: TTb
Bürger, G. A: 20. 21. 48. 192. 209. 235.
268. 282-301 .302. 303. 304. 326. 328 f.
Biirke: 25
Büsching: 145
Buschmann: 277
Cacault: 24
Campe: 15. 221. 222. 237. 262
Carracci: 376
Chodowiecki: 223. 225. 355. 357. 364.
366 f. 370. 375. 384
Claudius. M.: 5. 144. 157. 199. 200. 251.
257. 311. 313. 317. 374
Contius: 271. 280
Cramer.Joh.A.: 91. 305
Cramer. K. Fr.: VIII. 90
Cranz: 280
Damm: 141. 145. 146
Dannheuser: 271
Deinet: 244
Denis, M.: 16. 17. 51. 87. 92 f. 105. 178.
202. 287
Descartes: 7
Diderot: 118. 284. 348
Dieterich: 259
Dohm: 310
Dubos: 25. 35. 37
Dusch: 56. 95. 100. 170. 178
Ebeling: 55. 105
Eberhard: 19. 143 f. 148. 195. 199. 203.
204f. 212. 213. 220f. 237. 279. 289.
347 f. 361
Engel, J.J.: 16. 251. 302
Eschenburg: 13. 16. 19. 105. 169. 178.
208. 215. 216. 244. 248. 252. 253. 271.
277. 279 f. 280. 281. 301. 304. 311
EuUr: 87
Ewald: 323
Feder: 81
Fichte: VIII. 3. 4. 6. 63. 309. 315
Friedrich d. Gr.: 43. 97. 196. 214. 225.
274. 310. 355. 364 ff. 369. 372. 382. 393
396
/
Frisch: 10
Girve: VIII. 231. 251 ff. 259
Gaßner: 389.
V. Gebier: 51. 105. 244. 248. 261. 282. 302
Gedeon : 236
Geliert: 169
V. Gerstenberg: 26. 39. 56. 64. 65. 74. 77.
80. 83f. 91. 94-101. 144. 178. 242. 276.
285 f. 287. 290. 336
Gessner: 37. 187. 243. 254. 262
Geyser: 369
Giseke: 169. 178
Gleim: IS. 155. 157. 167. 207. 287. 288.
290. 298. 326. 332
Göbhard: 330
Göckingk: 19. 215. 299. 301. 317 *
Goethe: 11. 21. 42. 52. 63. 64. 65. 81. 89.
133.144.146. 150. 153f. 154. 186. 188f.
193. 195. 196. 207. 210. 212. 216. 220.
233. 235. 239. 240-275. 276. 280. 290.
293. 301. 303. 311. 313. 314. 327. 338
Goethe, Cornelie. 314
Götz, Joh. Nik.: 337 f.
Goeze: 146. 207. 262. 270. 314
Gottsched: 10. 33. 34. 42. 47 f. 65. 98.
132. 169. 176. 189. 190. 242. 243. 314
V, Goue: 207
Graff. A. : 357
Gülcher: 156
Günther, J. Chr.: 45
V. Hagedorn, Chr. L.: 13. 22. 24. 45. 376
Hahn: VIII. i
V. Halem: 16. 274 i
V. Hai/er, ^.: 219. 287. 384
Hamann: 6. 21. 35. 38. 43. 60. 64. 98.
105. 108. 109-149. 152. 156. 158 f. 160. '
161 f. 164. 165. 167. 168. 170. 172. 174.
181 f. 183. 184. 185. 186. 191. 192. 194.
195. 202. 203. 207. 212. 213. 217. 220. ;
223. 235. 240. 242. 247. 276. 290. 295. j
302. 315. 331. 348
Hartmann: 371
Hartknoch: 160. 167. 177. 202. 351
Hasenkamp: 223. 265. 389
Heilmann: 163
Heinse: VIII. 155. 251. 258. 313. 326
V. Hennings: 2.50. 258
Hensler: 214
Herder: VIII. 6. 15. 16. 21. 33. 35. 40.
43. 49. 50. 51. 57. 58. 59. 60. 62. 75.
78. 79. 80. 82. 84. 85 t'. 87. 92. 100.
101. 106. 108. 131. 132. 133. 134. 1351.
139. 141. 143. 144. 146. 156. 158-210.
211. 212. 213. 217. 221.223.225. 228.
233. 234. 235. 236. 239. 240. 242. 246.
274. 277. 279. 282. 284. 285. 286. 287ff.
290. 292. 295. 296. 297. 298 f. 303. 308.
313. 314. 315. 322. 333. 347f. 355.
367. 370. 373 f. 377. 384 f. 389. 391
Herder, Caroline: 211
Hermes, J. A.: 107
Heß: 311
Heyne: 85. 167. 171. 307. 311
Hippel: 144. 149. 361
Hobbes:7. 256 f.
Hölty: IX.
Höpfner: 12. 49. 75. 153. 186. 187. 212.
243. 245. 246. 259. 260. 261. 262. 269.
271. 272. 273. 276. 277. 278. 279. 280.
281. 340 ff.
Homer: 9. 295. 305. 376. 386
Hottinger: 221. 222. 226. 236 237. 239.
269. 386. 389. 391
Hume: 62. 63. 101. 133. 184
Hymmen: 342
/se/m:20.37.47.59. 105.107. 161.174.175.
184. 213. 214. 222. 248. 260. 261. 263
Jacobi. Fr. H.:6.ll. 105. 106. 108 f. 143.
154-158. 159. 168. 212. 232. 240. 258f.
264. 266. 272. 276. 310. 311. 325
Jacobi, Joh. G.: 28. 154-157. 167. 169.
240. 287. 298. 311. 321. 325. 336
Jerusalem, d. Ä.: 276. 31 1
Jerusalem. d.Jg.: 248. 250. 252
V.Joch, A.: 257
Joseph II, V. Österreich : 8 1
JungStilling, H. : 105. 108 f. 143. 150-154.
158 f. 223. 263. 389
397
Junker: 56
Kaestner: 81. 156. 208. 271. 282. 307
Kant: VII. 6. 7. 10. 16. 62. 63. 104. 210.
273. 315
Karl August, Herzog von Weimar: 273
Karschin: 64. 79. 99. 332
Kaufmann: 234. 280 f.
Kayser: 276. 279. 280. 281
Kennedy: 298
Kestner: 154. 250. 251. 258. 262
V. X/e/sf, fwaW: 71. 287
Kleuker: 280. 329
Klinger: 11. 21. 245. 265. 275. 276. 279f.
284. 313
Klockenbring: 328. 329
Klopstock: 11. 39. 42. 64. 69-90. 91. 92.
93. 94. 95. 97. 101. 178 f. 180. 183. 185.
186. 194. 195. 196. 199. 209. 220. 239.
287. 288. 290. 294. 298. 303. 304. 305 f.
310. 312. 323 f. 334 f. 336. 374. 384
Klotz: 49. 96. 103. 134. 162. 166ff. 169.
171. 173. 175. 176. 177. 188. 214.
246. 322. 336
Knebel: 339
V. Knigge: 280
Köhler: 304 ff.
König. L.: 276
Korrodi: 237
Kretschmann: 92. 336
Lambert: 214 f. 350. 393
La Roche, Sophie: 270. 276. 279
Lavater: 6. 14. 21. 52. 57. 60. 64. 132.
133. 134. 144. 152. 154. 184f. 193. 195.
198. 202. 205. 206. 211-240. 250. 258.
303. 310. 311. 313. 314. 316. 326. 330.
348 ff.
Le Bret: 187
Leibniz: 208. 214. 215. 216. 257. 389
Leisewitz: IX. 280. 328. 329
Lenz: 21. 65. 144. 183f. 217. 231. 235.
238. 240. 255. 258. 263. 264. 267 f.
275. 276-279. 280. 282. 284. 298. 313.
317
Lejß: 311. 325. 346
Lessing: VIII. 3. 11. 12. 16. 18. 19. 22.
24. 32. 36. 39. 41. 42. 44. 45. 46. 56.
58. 59. 63. 69 f. 72. 73. 77. 84. 90. 94.
101. 103. 106f. 110. 120. 133. 134. 139.
163. 169. 170. 173. 178. 184. 187. 189.
190. 226. 227. 230. 239. 244. 246. 248.
252 f. 256. 261. 263. 270. 273. 276. 279.
280. 287. 290. 291. 305. 310. 311. 313.
314. 316. 323. 330. 341. 361
Lessing, Karl: 244
Leuchsenring: 241
Leygebe: 374
Lichtenberg: VIII. 15. 124. 221f. 229.
230. 231. 235. 246. 253. 259. 263. 277.
310. 311. 313. 314. 324. 330. 393
Lichtwer: 110
Lindner: 111. 128. 129. 130
Lippert: 386
Locke: 7. 379 f. 387
Logau: 59
Lüdke: 107. 237
Marcard: 262. 272. 282
Mauvillon: 156. 325
Meil: 244
Meiners: 81. 384
Meinhard: 19. 59
Meister, L.: 58. 236
Menantes (Hunold): 65
Mendelssohn: VIII. 4. 17. 19. 20. 22. 24.
25. 26. 27. 28. 30. 31. 33. 34. 41. 77.
92. 101. 106. 109. 110. 111. 112. 113.
114ff. 120ff. 125 ff. 128ff. 131. 134.
135. 139. 140. 148. 161. 163. 165. 170f.
172. 173. 177. 183. 184. 189. 213. 214.
216. 220f. 225. 229. 230. 231. 250. 252.
253. 257. 258. 263. 264 f. 276. 295. 297.
301. 310. 323. 330. 333. 338. 348 ff.
350. 352. 354 ff. 361. 364 ff. 369. 372 f.
382. 384. 393
Merck: 49. 57. 60. 65. 96. 107. 108. 144.
150. 160. 170. 186. 197. 206.207.211.
226. 232. 233. 234. 240. 242. 243. 248.
257. 259. 261. 262. 263. 266. 269. 271.
272. 277. 292. 317
398
Mesmer: 6
Michaelis: 198. 200 j
AI/7/erJo/i.iM.: VIII. 282. 317 |
Ali7fon:70 73. 93. 287. 331
Montesquieu: 201
V. Moser, C. F. : 73. 76. 91. 144
Moser, Justus: 37. 63. 106. 158. 189. 246.
262. 270. 291
Mozart: 9
V. Müller, Joh.: 19. 41. 55. 57. 101. 184.
185. 189. 199. 212. 213. 232. 249. 281.
291
Mahler Müller : IX. 284
Musäus: 15. 237. 306
Mutzenbecher: 173
Noodt: 301
Obereit: 223. 389
Oetinger: 223
Ossian: 178. 189. 209. 290. 295. 299. 301
Patzke: 42. 44
Percy: 293
Pestalozzi: 253
Petersen: 186. 187. 207. 212. 222. 232.
236. 237. 243. 248. 270. 272. 273. 276.
277. 278. 279. 280
Pfenninger: 205. 223. 225. 236. 237. 238.
282.311. 347 f. 353. 378. 380
Picander: 45
Pistorius: 107. 204. 2 18 f. 279
Premontval, M. de. : 43
Pope: 52. 276
Ramler: 37. 65. 79. 86. 157. 170. 213.
273. 276. 326. 338
Raspe: 156. 214. 293
Reich: 384
Reichel: 270
Reinhold: 14. 315
V. Reitzensiein: 250
Resewitz: 107. 171. 205. 246
Riebe: 257
Riedel: 105. 166. 167. 321 ff. 335
V. Rochow: 19
Rosenplüt: 243
Rousseau: 28. 114 ff. 140. 257 f. 287. 297
V. Rüling: 153
Sachs, Hans: 293. 338
Salzmann: 255. 267. 276. 277. 327
Schatz: 257
Schiller: 16. 42. 210. 253. 274
Schirach: 262. 325
Schlegel, Friedr.: 6. 24. 63. 89. 209. 253.
274. 301
Schlegel, Joh. A.: 162. 169. 178
Schlegel, Joh. Ei: 34. 189
Schleiermacher: 6
Schlettwein:59\. 392
Schlosser: 186.278. 311
Schlözer: 55. 194. 221. 343ff.
Schmid, Chr. H.: 143. 278. 384
Schmidt, Klamer: 326
V. Schmidt^Phiseldeck: 58
Schönaich: 270
5c/iönfcorn: 8J. 193
Schroeckh: 107
Schubarf: 105. 154. 251. 258. 268. 272.
313. 317
Schulz. J.H.: 148
Semler: 107. 262. 311.390
Shaftesbury: 1. 24. 25. 26. 28. 32. 37.
139. 257
Shakespeare: 36. 39. 63. 99. 178. 189 f
290. 331 f.
V. Sonnenfels: 46 f. 59
Spalding: 19. 58. 168. 206. 207. 213. 311.
349. 389. 390. 393
Sprickmann: \1II.
Springer: 105
Stael, Mtde: 46
Steiner: 362. 372. 380. 381
Sterne: 284
Stockmann: 250
V. Stollberg, Auguste: 264
V. Stollberg, Chr.: 234
V. Stollberg, Fr. L: VIII. 20. 144. 212.
230. 234. 239. 276. 282. 303. 306.
311. 329. 340. 388
Sturz, H. P:: 98. 156. 330
Sulzer: 23 f. 25. 26. 32. 169. 195. 313
399
^wifl: 263
Talander (Bohse): 65
Teller: 168. 207. 390
V. Thümmel: 105. 140. 268. 285 ~
Tieck: 16.29. 301.306
Tissot: 146
Tob/er: 311
Unzer: 16. 156
(7z: 39. 64. 77 f. 189. 292. 304. 317.
330 ff.
Voltaire: 55. 78. 174. 189. 214. 287
Voß: 19. 81. 154. 155. (157.) 264. 268.
288. 294. 295. 298. 301. 302-312. 340
Voß. Ernestine: 81. 268
Wagner, H. L.: 21. 154. 269. 270f. 275.
280. 282. 284. 338
Walch: 107
Weiße, Chr. F.: 49. 139. 156. 252. 253.
271. 339
Werthes, F. : 276
Weygand: 264
Wieland: 12. 37. 42. 43. 49. 57. 59. 60.
101. 105. 106. 133. 152. 154ff. 157f.
184. 190. 238. 245 f. 247. 251. 262. 263.
270. 271. 272. 273. 278. 280. 284. 287.
300. 304. 317. 321 f. 325. 326. 331 f.
335 f. 340. 384. 389
Winckelmann: 10. 97. 1 10. 191. 228. 245
Wittenberg: 167
Wolff, Chr.: 7. 14. 51. 205. 257. 315
V. Wöllner: 49
Young: 34. 36. 73. 126
Zachariae: 28. 29. 45. 73. 91. 93. 95. 100.
331
V. Zedlitz: 207
Zimmermann: 105. 155. 217. 224. 226.
229. 232. 233. 262. 271. 272. 328. 330.
336. 350. 380. 387. 389
Zollikofer: 311. 349.371
Zöllner. Fr.: 184
BERICHTIGUNGEN
S. 109, Z. 12 V. o. lies: persönlich4iterarische.
S. 116, Z. 1 V. u. lies: Mendelssohns.
S. 121. Z. 20 V. o. lies: vollkommen (statt: vollkommenen).
S. 125, Z. 13 V. o. anregender (statt: Anreger).
S. 137, Anm. lies: Schriftchen (statt: Schriftzeichen).
S. 158, Z. 10 V. o. lies: er (statt: es).
S 201, Z. 11 V. U. lies: dieser (statt: diesem).
S. 212, Anm. 4 sind die Worte: »s. unten Anhanges zu tilgen.
S. 247, Z. 15 V. o. ist das Semikolon zu tilgen.
S. 250, Z. 10 V. o. lies: das (statt: daß).
Druck: Hof^Buch* und #Steindruckerei Dietsch & Brückner in Weimar
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PT Sommerfeld, Martin
24.4.0 Friedrich Nicolai und der
N4Z86 Sturm und Drang
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