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Full text of "Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang; ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. Mit einem Anhang: Briefe aus Nicolais Nachlass"

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SOMMERFELD/ FRIEDRICH  NICOLAI 


FRIEDRICH  NICOLAI 


UND    DER 


STURM  UND  DRANG 


EIN  BEITRAG  ZUR  GESCHICHTE 
DER  DEUTSCHEN  AUFKLÄRUNG 

VON 

DR.  PHIL.  MARTIN  SOMMERFELD 


MIT  EINEM  ANHANG:  BRIEFE  AUS  NICOLAIS  NACHLASS 


/.■ 

\ 
HALLE  AN  DER  SAALE 
VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

19  2  1 


^ 


Oaraniit^ 


MEINER     FRAU 

HELENE 

ZU  EIGEN 


VORBEMERKUNG 

Die  vorliegende  Arbeit  war  zu  einem  vorläufigen  Abschluß  ge? 
bracht,  als  sie  im  Sommer  1916  der  philosophischen  Fakultät  der 
Münchner  Universität  vorlag;  ihr  einleitender  Teil  wurde  damals  als 
Doktor*Dissertation  gedruckt.  Seither  haben  mannigfache  Umstände 
allgemeiner  und  persönlicher  Art  ihren  endgültigen  Abschluß  und  ihr 
Erscheinen  verzögern  lassen.  Nicht  der  geringste  Umstand  war  das 
Gefühl  der  Unfertigkeit,  das  ich  sowohl  gegenüber  der  Fülle  des  ge? 
druckten  und  ungedruckten  Materials  —  es  genügt,  auf  die  hundert 
Bände  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  und  die  etwa  15  000 
zum  größten  Teil  ungedruckten  Briefe  im  Nicolaischen  Nachlaß  hin* 
zuweisen  —  wie  der  eigentlichen  Lösung  des  vielverzweigten  Problems 
empfand.  Daß  dies  Gefühl  jetzt  —  nachdem  ich  das  damals  Vorhan? 
dene  einer  eingehenden  Umarbeitung  unterzogen  habe,  die  überall 
neues  Material  verwertete,  und  der  wie  ich  hoffe,  auch  gereiftere  Ein* 
sieht  zugute  gekommen  ist,  —  ganz  getilgt  wäre,  möchte  ich  nicht  be* 
haupten.  Ich  gedenke  hier  insbesondere  der  Schwierigkeiten,  die  noch 
aus  der  Konzeption  der  Arbeit  herrührten:  ursprünglich  lediglich  als 
Darstellung  der  spezifisch  aufklärerischen  Position  Nicolais  gedacht, 
stellte  sie  sich  erst  allmählich  das  äußere  und  innere  Verhältnis  zur 
Gegenseite,  zum  Sturm  und  Drang  insbesondere,  zur  Aufgabe;  und 
eigentlich  erst  als  ich  an  die  Ausarbeitung  gehen  wollte,  gewann  ich 
die  Einsicht,  daß  der  systematische  Gegensatz  nur  unter  dem  Gesichts* 
punkt  der  Entwicklung  faßbar  werden  konnte,  wie  er  sich  einst  als 
Ergebnis  eines  subjektiven  und  objektiven  Entwicklungsprozesses  kri* 
stallisierte;  damit  waren  aber  viele  Gesichtspunkte  der  ersten  Studien 
—  z.  B.  die  Bearbeitung  des  Feldzuges  gegen  Kant  und  die  Kantianer  — 
für  die  eigentliche  Darstellung  unbrauchbar  geworden,  andere  mußten 
in  nochmaliger  Arbeit  neu  gewonnen  werden. 

Wenn  ich  aber  allen  diesen  Schwierigkeiten  aus  Gründen  der  Selbst* 
erziehung  eher  dankbar  bin,  so  hat  sich  von  einer  andern  Seite,  der  des 
eigentlichen  Objekts  her,  ein  immer  empfindlicher  werdender  Wider« 

VII 


stand  bemerkbar  gemacht:  ich  meine  die  Persönlichkeit  Nicolais.  Ist 
ihm  auch  vielfach  —  übrigens  doch  weniger  von  eigentlichen  Zeit* 
genossen,  das  Fichtesche  Pasquill  ausgenommen,  als  von  Historikern 
der  späteren  Zeit  —  Unrecht  getan  worden:  er  vermag  nicht  durch 
Wärme,  Lebendigkeit  und  Eigenart  zu  bezwingen;  die  Probleme,  die 
ihm  entgegentreten,  verlieren  in  seiner  Behandlung  an  Weite  und 
Tiefe,  ja  bisweilen  überhaupt  ihre  Geistigkeit.  Das  gilt  nicht  nur  für 
den  ästhetischen  und  philosophischen  Kritiker,  sondern  auch  für  den 
Romanschreiber,  den  Historiker  und  Kulturhistoriker,  den  Theologen 
und  Physiognomen,  den  Nationalökonomen  und  Statistiker  Nicolai. 
Hätte  ich  die  Umgestaltung  meiner  Arbeit  fortgesetzt,  so  wäre  die  auf* 
klärerische  Position  immer  mehr  statt  durch  Zeugnisse  Nicolais,  durch 
solche  Lessings,  Mendelssohns,  Garves  und  Lichtenbergs  gezeichnet, 
und  der  eigentliche  Rahmen  der  Arbeit  gesprengt  worden;  bei  der 
vorliegenden  Arbeit  hoffe  ich  die  Heranziehung  solcher  Zeugnisse  zur 
Kennzeichnung  der  speziell  Nicolaischen  Position  noch  rechtfertigen 
zu  können,  umsomehr  übrigens,  als  ich  von  vorneherein  einen  scharfen 
Trennungsstrich  zwischen  Lessing  und  seinem  Trabanten  Nicolai  in 
Werk  und  Wesen  zu  ziehen  mich  bemühte.  War  also  schon  im  allgemein 
nen  Entsagung  notwendig,  so  wurde  sie  es  in  einzelnen  Fällen  ganz  be? 
sonders:  so  z.  B.  bei  dem  kümmerlichen,  auch  für  die  Erfassung  seiner 
eigenen  Gesamtanschauung  durchaus  unbefriedigenden  Nicolaischen 
Urteil  über  Herders  »Kritische  Wälder«;  wenn  Nicolai  gegenüber  den 
dramatischen  Erzeugnissen  der  Jungen  sich  in  diesem  Sinne  ungenü* 
gend  äußerte,  so  hat  das  noch  seine  besonderen  Gründe,  die  ich  in 
der  Arbeit  darzustellen  hoffe;  allein  hier,  wo  ihm  die  Problemlage  des 
Werkes  zugänglich  war,  ist  der  Mangel  einer  wirklichen  Stellungnahme 
Nicolais  tief  unbefriedigend,  und  ich  hoffe  nur,  daß  man  mich  nicht 
für  solche  Lücken  büßen  lassen  wird. 

Bei  dieser  Einstellung  zu  der  Persönlichkeit  Nicolais  verzichtete  ich 
unschwer  auf  solche  Partien  meiner  Darstellung,  die,  ohne  allgemeinere 
Aufschlüsse  zu  geben,  nur  biographische  Bezüge  haben:  ich  opferte 
also  —  auch  schon  mit  Rücksicht  auf  den  Umfang  des  Buches  —  ins? 
besondere  zahlreiche  Belegnotizen  von  Parallelstellen  aus  den  Schriften 
Nicolais  da,  wo  eine  Stelle  genug  zu  besagen  schien;  ich  verzichtete 
darauf,  die  Seitentriebe  der  Geniebewegung  in  die  Untersuchung  ein* 
zubeziehen,  und  das  Verhältnis  zu  einzelnen  Persönlichkeiten  darzu* 
stellen,  die  mir  für  die  Entwicklung  der  Gegensätze  von  untergeordneter 
Bedeutung  schienen,  wie  Sprickmann,  Miller,  der  Göttinger  Gramer, 
Hahn,  Brückner  u.  a.  m.;  ich  versagte  mir  eine  Darstellung  dort,  wo  das 

VIII 


Nicolaische  Urteil  zur  Kennzeichnung  der  Gegensätze  völlig  belanglos 
war,  kaum  anekdotischen  Wert  besitzt  oder  gar  indirekt  hätte  CTf 
schlössen  werden  müssen,  wenn  sich  hier  zu  meinem  Bedauern  auch 
die  Namen  Fr.  L.  Stollberg,  Hölty,  Heinse,  Leisewitz  finden.  Die  Ein* 
heitlichkeit  der  Darstellung  unter  dem  Gesichtspunkt  durchgehender, 
freilich  erst  in  der  Entwicklung  hervortretender  Gegensätze  schien  mir 
das  oberste  Gebot;  ich  habe  ihm  jedoch  nur  Material  —  und  zwar 
geringwertiges  —  geopfert;  das  Prinzipielle  sollte  dadurch  nicht  be* 
rührt,  die  Darstellung  nicht  willkürlich  werden. 

Ich  hätte  meine  Arbeit  nicht  zum  Abschluß  bringen  können,  hätte 
ich  nicht  an  einigen  trefflichen  Schriften,  die  an  gehöriger  Stelle  nam# 
haft  gemacht  sind,  Führer  gefunden;  allen  voran  an  dem  Werk  Rudolf 
Ungers  »Hamann  und  die  Aufklärung«  (Jena  1911).  Wieviel  ich  von 
ihm  zu  lernen  mich  bemühte,  wird  der  Kenner  seines  Buches  unschwer 
teststellen.  Daß  ich  dem  Verfasser,  Herrn  Professor  Dr.  Rudolf  Unger 
in  Halle,  auch  für  andere  seiner  Schriften  und  vor  allem  für  das  was 
seine  persönliche  Belehrung  mir  gab,  zu  tiefem  Dank  verpflichtet  bin, 
möchte  ich  auch  an  dieser  Stelle  aussprechen. 

Meinem  Lehrer,  Herrn  Geheimrat  Professor  Dr.  Franz  Muncker  in 
München,  verdanke  ich  die  Anregung  zu  dieser  Arbeit;  er  war  deren 
unermüdlicher  Fürsorger,  an  den  ich  mich  stets  um  Rat  und  Auskunft 
wenden  durfte,  dessen  subtile  Forschungsweise  mir  vorbildlich  war.  Bei 
der  Umarbeitung  meines  Buches  kam  mir  indirekt  auch  die  Belehrung 
zugute  ,die  ich  von  Herrn  Professor  Dr.  Fritz  Strich  in  München  erfuhr; 
auch  ihm  sei  hier  mein  Dank  ausgesprochen. 

Den  Bibliotheksverwaltungen,  die  meine  Arbeit  unterstützten,  ins* 
besondere  der  Handschriftenabteilung  der  Preußischen  Staatsbibliothek 
zu  Berlin  und  dem  Freien  Deutschen  Hochstift  zu  Frankfurt  —  hier 
besonders  Herrn  Archivar  Dr.  Hering  — ,  der  Staatsbibliothek  und 
Universitätsbibliothek  zu  München  und  der  Stadtbibliothek  Frank? 
fürt  a.  M.  spreche  ich  meinen  aufrichtigen  Dank  aus. 

Frankfurt  a.  M.,  Ostern  1920 

Dr.  Martin  Sommerfeld 


IX 


INHALTSVERZEICHNIS 

Erster  Teil:  Grundlagen 


Seite 


Allgemeines  und  Grundsätzliches;  Nicolai  in  der  Wissenschaft« 

liehen  Literatur;  Problemsteilung 3 

Zu  Nicolais  Welt*  und  Lebensansicht    9 

Zu  Nicolais  Kunstansrchauung     22 

Stellung  zur  systematischen  Ästhetik  überhaupt  S.  22.  Nicolais  ästhes 
tische  Gedankenwelt  S.25.  Illusionstheorie  S.26.  Folgerungen:  gegen 
Naturalismus  S.  27;  gegen  »imaginative«  Kunst  S.  28.  Stellung  zw'u 
sehen  den  Extremen  S.  29.  Kunst  und  Moral  S.  31.  Der  Künstler  und 
sein  Werk  S.  33.  Geniegedanke  S.  34.  Originalgedanke  S.  37.  Dichtung 
und  Literatur  S.41.  Literatur  vom  nationalen  Gesichtspunkt  betrach* 
tet  S.  42.  Entwicklungsgedanke  S.  44.  Organisation  der  literarischen 
Produktion:  Zentralisationsgedanke  S.  46.  —  Die  Poesie  und  »die 
Wissenschaft  vom  Menschen«  S.  51. 

Nicolai  als  Kritiker    53 

Nicolai  über  das  Wesen  der  Kritik  S.  53,  über  ihre  Aufgaben  S.  54, 
Forderungen  an  den  Kritiker  S.  55.  Formale  Züge  seines  kritischen 
Verfahrens  S.  56.  Äußere  Trennung  von  Werk  und  Autor  S.  60,  ver« 
bunden  mit  psychologischer  Fragestellung  S.  61. 

Zweiter  Teil:  Entwicklungsmäßige  Darstellung  von  der 

Begründung  der  Allgemeinen   Deutschen   Bibliothek 

(1765)  bis  etwa  1780 

Erstes  Kapitel:  Versuch  zum  Kompromiß  mit  der  gegensätz* 
liehen  Geistesrichtung 

^  Seite 

I.  Nicolai  und  Klopstock ..  ..     69 

Der  jugendliche  Nicolai  als  Kritiker  Klopstocks  S.  70.  Widerstand 
gegen  die  religiöse  Stimmung  der  Klopstockschen  Dichtung  S.  73. 
Widerstand  gegen  die  mythologischen  Elemente  der  Klopstockschen 

XI 


Seite 

Dichtung  S.  76.  Gelehrtenrepublik  S.  80.  Gegensätzliches  auf  dem 
Gebiet  der  Prosodie  S.  82.  Allgemeine  Charakterisierung  des  Nicos 
laischen  Standpunktes  S.  85.  Späteres  Verhältnis  zu  Klopstock  S.  88. 
Klopstock  den  Romantikern  entgegengestellt  S.  89. 

II.  Klopstock  und  die  »Kiopstockianer«    90 

J.  A.  Gramer,  K.  F.  v.  Moser,  Zachariae  und  die  Barden* 
dichtung  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Abhängigkeit 
von  Klopstock 91 

III.  Nicolai  und  Gerstenberg 94 

Charakterisierung  ihrer  freundschaftlichen  Korrespondenz  S.  95. 
Gegensätzliches  S.  97.  »Gedicht  eines  Skalden«  S.  100. 

Zusammenfassendes 101 

Zweites  Kapitel:  Absagen  an  Nicolai 

Nicolais  »Sebaldus  Nothanker«  und  seine  Aufnahme  S.  103.  Rück» 
Wirkungen  auf  Nicolai  S.  105. 

I.  Nicolai  und  Hamann   109 

Erste  Anknüpfung  S.  110.  Mendelssohns  Kritik  der  »Sokratischen 
Denkwürdigkeiten«  S.  1 10.  Hamanns  »Wolken«  und  »Schriftsteller 
und  Kunstrichter«  S.  112.  Mendelssohns  Kritik  von  Rousseaus  Neu« 
velle  Heloise  S.  114  und  Hamanns  »Abälardus  Virbius«  S.  116.  Men* 
delssohns  Antwort  und  Nicolais  Anmerkung  dazu  S.  119.  Korre« 
spondenz  S.  120.  Stimmungsänderung  der  »Berliner«  gegen  Hamann 
S.  125.  Mendelssohns  Rezension  der  »Kreuzzüge«  S.  127.  Hamanns 
Stellung  dazu  S.  129.  »Mitauisches  Intermezzo«  S.  130.  Hamann  in 
Berlin  S.  131.  Nicolais  Widerstand  gegen  Hamanns  literarische  Per» 
sönlichkeit  S.  131.  Hamanns  »Selbstgespräch  eines  Autors«  S.  136. 
Nicolais  »An  den  Magum  im  Norden«  S.  137.  Hamanns  »An  die 
Hexe  zu  Kadmonbor«  S.  141.  Beurteilung  des  Sebaldus  Nothanker 
durch  Hamann  S.  142.  (Nicolai^Eberhards?)  Rezension  fünf  Ha^ 
mannscher  Schriften  S.  144.  Hamann  als  Chorführer  des  Sturms  und 
Drangs  S.  146.  Abschließendes  und  Späteres  S.  147. 

II.  Jung  Stillings  Streitschriften  gegen  den  Sebaldus  Noth« 

anker  und  Nicolais  Verhältnis  zu  Jung  Stilling    150 

Fr.  H.  Jacobis  Ablehnung  des  Nothanker    154 

III.  Nicolai  und  Herder 158 

Literaturbriefe  und  Fragmente  S.  159.  Anknüpfung  und  Befestigung 
des  Verhältnisses:  Nicolais  »Ehrengedächtnis«  für  Thomas  Abbt  und 

XII 


Seite 

Herders  »Torso«  S.  163.  Klotz  S.  166.  Persönliches  S.  167.  Erste  Re« 
zensionstätigkeit  Herders  für  die  A.  D.  Bibl.  S.  168.  Gegensätzliches 
S.  169.  Äußere  und  innere  Lockerung  des  Verhältnisses  S.  175.  Her« 
ders  Polemik  gegen  Abbts  »Freundschaftliche  Korrespondenz«  S.  176, 
Herders  Rezensionstätigkeit  für  die  A.  D.  Bibl.  S.  178.  Gegensatz« 
liches  über  Klopstock  S.  179,  über  Hamann  S.  181.  Nicolais  Polemik 
gegen  Herders  Stil  S.  183,  Frankf.  Gel.  Anz.  S.  186.  »Von  deutscher 
Art  und  Kunst«  S.  189.  Nicolais  »Sebaldus  Nothanker«  und  Herders 
»Alteste  Urkunde«  S.  192.  Herders  Absage  an  Nicolai  S.  195.  End« 
gültiger  Bruch  S.  202.  Nachhall  S.  206  (Provinzialblätter.  Vom  Er«  ' 
kennen  und  Empfinden  .. .  usw.).  Herder  als  Zeuge  gegen  die  Roman« 
tiker  S.  209. 

Drittes  Kapitel:  Nicolai   im  Kampf  gegen   den   Sturm   und 
Drang 

I.  Nicolai  und  Lavater 211 

Einheitliche  Beurteilung  Lavaters  schon  sehr  früh  S.  211.  Schweizer« 
lieder,  Lavater  als  Dichter  S.  213.  Die  »Aussichten  in  die  Ewigkeit« 
und  Lamberts  Rezension  S.  214.  Das  »Geheime  Tagebuch«  und  seine 
Beurteilung  in  der  A.  D.  Bibl.  S.  216.  Kritik  der  literarischen  Person« 
lichkeit  Lavaters :  Bekehrungsstreit  S.  220 ;  »Vermischte  Gedanken« 
S.  222.  Charakter  des  Briefwechsels  Lavater«Nicolai  S.  224.  —  Die 
Physiognomik:  Nicolais  Ansätze  zu  eigenem  System  und  deren  SteU 
lung  zu  Lavaters  Physiognomik  S.  226.  Nicolais  Rezensionen  der 
Lavaterschen  Physiognomik  S.  231.  —  Der  Zusammenhang  Lavaters 
mit  der  Geniebewegung:  die  Allg.  D.  Bibl.  über  »Schwärmerei  und 
Enthusiasmus«  S.  236.  Ausblicke  S.  239. 

II.  Der  junge  Goethe  und  sein  Kreis 240 

»Von  deutscher  Art  und   Kunst«  S.  242.  Frankf.  Gel.  Anz.  S.  243. 

Götz  von  Berlichingen  S.  244.  Farcen  S.  245. 

Werthers  Leiden  und  Werthers  Freuden :  Nicolais  ästhetische  Werther« 

kritik  S.  248.  Das  Wertherproblem,  absolut  genommen  S.  252.  Garves 

Wertherrezension  und  Nicolais  entsprechende  Stellungnahme  S.  253. 

Satire  als  Mittel  gegen  Schwärmerei  S.  262.  Wirkung  der  Freuden 

auf  Goethe  S.  264,  auf  Lenz  S.  267,  auf  die  anderen  Jungen  S.  268, 

auf  die  Alten  S.  270. 

Späteres  Verhältnis  zu  Goethe  S.  271,  Stella,  Clavigo  S.  272.  Weimar 

S.  273.  Nicolais  Wilhelm  Meister«Kritik  und  das  Wertherproblem 

S.  274. 

Nicolai   und  die  »Goetheaner«:  Allgemeines  S.  275.  Lenz  S.  276. 

Klinger,  H.  L.  Wagner  usw.  S.  279.  Abschließendes  S.  281. 

XIII 


Seite 

III.  Nicolais  »Feyner  kleiner  Älmähach«  gegen  Volkspoesie. 

(Nicolai  und  Bürger) 282 

Popularität  und  Naturalismus,  vom  Sebaldus  Nothanker  aus  gesehen 

S.  283.  Bürgers  Kundgebung  für  Volkspoesie  S.  285.  Verhältnis  zu 
Herders  Ossianaufsatz  S.  287.  Aufnahme  in  der  A.  D.  Bibl.  S.  289. 
Nicolais  Almanach :  die  polemische  und  die  positive  Tendenz  S.  290. 
Dichtung  als  Funktion  der  Gesellschaft  S.  294.  Wirkung  der  Polemik 
auf  Herder  S.  298,  auf  Bürger  S.  299,  auf  Nicolai  S.  300,  Späteres 
,     S.  301. 

IV.  J.  H.  Voß'  »Verhöre«  gegen  Nicolai     302 

Nicolais  Situation  S.  302.  Stimmung  der  Göttinger  gegen  Nicolai 
S.  303.  Voß  gegen  Nicolai:  Tendenzen  S.  306.  Polemik  S.  308.  Äußere 
Wirkung  der  Polemik:  Nicolais  Isolierung  S.  310.  Wirkung  auf  die 
psychische  Disposition  von  Nicolais  Spätzeit  S.  311. 

Nachwort 313 

Anhang:  Briefe  aus  Nicolais  Nachlaß  (von  Boie,  Eberhard, 

Lavater,  Nicolai,  Schlözer,  Uz) 319 

Register 395 


XIV 


ABKÜRZUNGEN 


Br.  itz.  Zust.  =  -»Briefe  über  den   itzigen   Zustand  der  schönen  Wissens 

Schäften  in  Deutschland«  Berlin  1755  (von  Nicolai);  zitiert 

nach  dem  Neudruck  von  Georg  Ellinger  ^^  Berliner  Neus 

drucke  III,  2. 
Bibl.  d.  sch.Wiss.  =  »Bibliothek  der  schönenWissenschaften  und freyen  Künste« 

Berlin  1757  ff. 
Litbr.  166  usw.        =  166*"  der  »Briefe  die  neueste  Literatur  betreffend«  Berlin 

1759  ff. 
AD  Bibl.  =  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek,  Berlin  1766ff.  (in  Wirb 

lichkeit  1765 fif.  erschienen!). 
Seb.  Noth.  ==  »Das  Leben  und  die  Meinungen  des  Hrn.  Magister  Sebal= 

dus  Nothanker«  3  Bde.  Berlin  u.  Stettin  1773ff. 
F.  kl.  Alman.  =  Eyn  feyner  kleiner  Almanach  usw.  Berlin  u.  Stettin  1777/8. 

Zitiert  nach  dem  Neudruck  von  Georg  Ellinger  =  Berliner 

Neudrucke  I,  1. 
Reisebeschrbg.        =  Beschreibung   einer    Reise    durch    Deutschland    und   die 

Schweiz  . . .  Berlin  u.  Stettin  1783  ff.  10  Bde. 
Vertr.  Briefe  ^  Vertraute  Briefe  von  Adelheid  B.  an  ihre  Freundin  Julie 

S.  Berlin  u.  Stettin  1799. 
Parthey  =  (Gustav  Parthey),  »Die  Mitarbeiter  an  Fr.  Nicolais  Allgem. 

Deutscher  Bibl.«  Berlin  1842  (sehr  wenig  zureichend  und 

nicht  immer  zuverlässig!). 
Wagner  I,  II,  III     =  Karl  Wagner,  »Briefe  an  Joh.  H.  Merck«  Darmstadt  1835. 

»Briefe  an  u.  von  Joh.  H.  Merck«  Darmstadt 

1838. 
»Briefe  aus  dem  Freundeskreise  . .  .«  Leipzig 
1847. 

Die  ungedruckten  Briefe  aus  dem  in  der  Preuß.  Staatsbiblio* 
thek  zu  Berlin  befindlichen  Nachlaß  Nicolais  sind  durch 
NN.  gekennzeichnet. 


XV 


ERSTER    TEIL: 

GRUNDLAGEN 


Friedrich  Nicolai,  erkennt  sein  jüngster  Biograph\  kommt  für 
die  wissenschaftliche  Forschung  »als  Quelle  wie  als  Gegenstand« 
in  Betracht.  Auch  diese  Untersuchung  möchte  sich  nach  beiden 
Seiten  hin  orientieren.  Der  Mann,  der  einst  mit  Lessing,  ja  in  man* 
eher  Beziehung  vor  ihm,  bahnbrechend  für  die  Entwicklung  der 
deutschen  Literatur  gewirkt  hat,  und  der  nach  einer  Zeit  der  all* 
gemeinen  Hochschätzung  und  Verehrung,  nach  einer  Zeit  des 
ungewöhnlich  starken  Einflusses  auf  die  literarische  Produktion 
und  Kritik,  der  Verachtung  und  dem  Spott  anheimfiel,  und  heute 
ohne  weiteres  als  bornierter  Vertreter  philiströsen  Banausentums 
gilt,  ist  wie  wenige  literarische  Persönlichkeiten  auf  eine  unvor* 
eingenommene  und  eingehende  Beurteilung  angewiesen.  Darüber 
hinaus  aber  möchte  die  vorliegende  Untersuchung,  indem  sie  die 
in  Nicolais  geistiger  Existenz  sich  ausdrückenden,  zeitlich  be* 
dingten  und  zeitbedingenden  allgemeinen  geistigen  Kräfte  zu  er* 
fassen  bemüht  ist,  Friedrich  Nicolai  als  Quelle  —  oder  als  Scheide* 
punkt  der  durch  das  18.  Jahrhundert  durchgehenden  Strömungen 
erkennen. 

Die  Forderung  Aners,  Nicolai  zum  Gegenstande  Wissenschaft* 
lieber  Forschung  zu  machen,  erscheint  trotz  des  Vorhandenseins 
zahlreicher  Einzeldarstellungen  nicht  unberechtigt.  Allerdings  ist 
Nicolai  oft  Gegenstand  der  Forschung  gewesen;  aber  in  den  mei* 
sten  Fällen  wurde  er  von  vornherein  nur  unter  einem  bestimmten 
Gesichtspunkt  gefaßt,  etwa  von  Erich  Schmidt  als  Schüler  und 
Interpret  Lessings^  —  wobei  er  denn  allerdings  recht  schlecht  fort* 
kommen  mußte  —  oder  von  Ludwig  Geiger^  seiner  lokalen  Zu* 
gehörigkeit  nach,  oder  von  Gustav  Rümelin*  in  seiner  kultur* 
historischen  Bedeutung.  Andere  Darstellungen  aber  lieferten  ein* 
fach  »zu  der  Zeichnung  der  Xenien  und  Fichtes  das  Kolorit,«  wie 
Karl  Aner  von  Jakob  Minors  Biographie^  urteilt®;  Adolf  Lassons 
Darstellung   von  Nicolais  Verhältnis   zur  idealistischen  Philoso* 

'  Karl  Aner,  Der  Aufklärer  Friedrich  Nicolai,  Gießen  1912,  S.  5. 

-  Erich  Schmidt,  »Lessing«,  3.  Aufl.  1909. 

'  Ludwig  Geiger,  »Berlin  1688-1840«.  Bd.  2.  Berlin  1895. 

*  Gustav  Rümelin,  Reden  und  Aufsätze  N.  F.  Freiburg  1881.  407 ff. 

'  Jakob  Minor  in  »Lessings  Jugendfreunde«  =  Kürschners  Deutsche  National* 

literatur,  Bd.  72. 

'  Karl  Aner,  a.  a.  O.  S.  4. 


phie^  beispielsweise  wiederholt  einfach  die  Anwürfe  der  Fichteschen 
Streitschrift,  jenes  gröbsten  Pasquills,  das  die  deutsche  Literatur, 
vielleicht  nur  von  Schwabes  »Volleingeschanktem  Tintenfässl«  ab* 
gesehen,  überhaupt  kennt.  Daß  auf  der  anderen  Seite  kritiklose 
Darstellungen  von  Freundeshand,  wie  diejenigen  Göckingks"  oder 
Partheys -^  nicht  der  berechtigten  Forderung  wissenschaftlicher,  un* 
voreingenommener  Forschung  entsprechen  können,  liegt  auf  der 
Hand.  Auf  solchen  Darstellungen  fußend,  im  Urteil  durch  die  man« 
nigfachen  Äußerungen  des  Hasses  beeinflußt,  mit  dem  fast  alle  be* 
deutenderen  Geister  der  deutschen  Literatur  seit  den  siebziger  Jahren 
des  18.  Jahrhunderts  Nicolai  in  steigendem  Maße  verfolgten,  dürfen 
auch  die  zahlreichen  Äußerungen  über  Nicolai  in  den  Werken,  in 
denen  die  Beziehungen  der  verschiedensten  Dichter  und  Schrift* 
steller  zu  Nicolai  erörtert  werden,  kaum  volle  Gültigkeit  für  sich 
in  Anspruch  nehmen,  wie  wir  an  verschiedenen  Stellen  dieser  Unter* 
suchung  im  einzelnen  erweisen  werden.  Ja  selbst  kritisch*historische 
Monographien  über  einzelne  Nicolaische  Werke,  wie  Karl  Cleves* 
und  Georg  Ellingers^  Schriften  über  Nicolais  »feynen  kleinen  AI* 
manach«  u.  a.  sind  überraschend  oft  vom  allgemeinen  Urteil  ab* 
hängig:  es  wiederholt  sich  hier  dieselbe  Erscheinung,  die  Ludwig 
Goldstein  in  seiner  Schrift  über  Moses  Mendelssohns  Bedeutung 
für  die  deutsche  Ästhetik  beklagt^.  Einzig  die  Monographien  von 
Georg  Ellinger  über  Nicolais  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand  der 
schönen  Wissenschaften«',  von  Adolf  Schach  über  »Nicolais  Be* 
mühungen  um  die  deutsche  Sprache«^  —  diese  letztere  allerdings, 
wie  der  Verfasser  selbst  zugibt,  auf  unzulängliches  Material  ge* 
stützt  — ,  und  insbesondere  die  treffliche  Untersuchung  Richard 

^  Adolf  Lasson,  »Fr.  Nicolai  im  Kampfe  gegen  den  Idealismus«  =  Herrigs  Archiv 
32,  257  ff. 

^  F.  L.  V.  Göckingk,  »Fr.  Nicolais  Leben  und  literarischer  Nachlaß«  Berlin  1820. 
'  Gustav  Farthey,  Jugenderinnerungen.  Hrsgb.  v.  E.  Friedel  1907,  I. 

*  Karl  Cleve,  »Nicolais  feyner  kleyner  Almanach«  Frogr.  Schwedt  1895. 

"  Georg  Ellinger,  Einlage  zum  Neudruck  des  »feynen  kleynen  Almanachs«  = 
Berliner  Neudruck  1,  1. 

*  Ludwig  Goldstein,  »Moses  Mendelssohn  und  die  deutsche  Ästhetik«  Königs* 
berg  1904,  S.  2f. 

''  Einleitung  zum  Neudruck  derselben  =  Berliner  Neudrucke  III,  2. 
"  Gießener  Diss.  1913. 


Schwingers  über  Nicolais  Roman  »Sebaldus  Nothanker«^  haben 
sich  von  der  landläufigen  Urteilsweise  frei  zu  machen  bemüht,  wie 
sie  denn  überhaupt,  insbesondere  Schwinger,  über  ihre  eigentliche 
Aufgabe  hinaus  zu  einer  wissenschaftlichen  Anforderungen  gerecht 
werdenden  Würdigung  der  Gesamtpersönlichkeit  Nicolais  beizu^ 
tragen  versucht  haben"".  Diesen  Versuch  hat  auch  Karl  Aner  gemacht, 
der  gleichfalls  ein  spezielleres  Gebiet  von  Nicolais  Wirken,  seine 
religiös^theologische  Stellung,  sich  zur  eigentlichen  Aufgabe  seiner 
Schrift  bestimmt  hat;  er  gibt  in  einem  einleitenden  Teil  eine  allge# 
meine  Würdigung  von  Nicolais  Persönlichkeit.  Diesen  Ausfüh* 
rungen  aber,  die  auf  eine  »Rettung«  Nicolais  hinauslaufen,  vermag 
ich  weder  in  methodologischer  noch  in  inhaltlicher  Beziehung  bei* 
zupflichten.  Wohl  erkennt  Aner  sehr  richtig,  daß  es  »billige  Weis* 
heit«  sei,  zu  konstatieren,  »Nicolai  habe  mit  den  Besten  seiner  Zeit 
in  Fehde  gelebt.  Erst  da  setzt  die  Wissenschaft  ein,  wo  man  dies 
merkwürdige  Phänomen  aus  einem  Grundprinzip  zu  erklären  sucht, 
das  die  Opposition  jenes  Mannes  nach  den  verschiedensten  Rieh* 
tungen  hin  verursacht  hat^«.  Dieses  Grundprinzip,  das  in  der  geisti* 
gen  Organisation  Nicolais  liegen  muß, kann  freilich  nur  durch  syste* 
matische  Analyse  derselben  aufgedeckt  werden,  und  wird  durch 
die  Aufzeigung  sympathischer  und  .Erklärung'  antipathischer  Züge 
nur  verwischt;  in  Aners  Darstellung  aber  überwiegt  eine  Aner* 
kennung,  eine  Bejahung,  die  nicht  Ergebnis  seiner  Untersuchungen 
ist,  sondern  seine  Charakterisierung  stützt  und  überhaupt  erst  er* 
möglicht.  So  konnte  die  hier  vorliegende  Untersuchung  sich  auch 
mit  der  Anerschen  Darstellung  nicht  benügen,  sondern  mußte  selbst 
eine  systematische  Analyse  der  geistigen  Organisation  Nicolais  ver* 
suchen.  Denn  gerade  für  diese  Untersuchung  wird  die  von  Aner 
aufgestellte  Forderung  von  höchster  Wichtigkeit;  sie  wird  es  um  so 
mehr,  als  Nicolai  hier  nicht  nur  Gegenstand,  sondern  auch  Quelle  ist. 

'  R.  Schwinger,  »Fr.  Nicolais  Roman  Sebaldus  Nothanker«.  Ein  Beitrag  zur  Ge« 
schichte  der  Aufklärung.  Weimar  1897  =  Literarhistorische  Forschungen  hrsgb. 
V.  Jos.  Schick  u.  M.  v.  Waldberg,  II. 

'  Neuerdings  hat  Wolfgang  Stammler  (»Mathias  Claudius«  Halle  1915,  S.  56f.) 
auf  die  Einseitigkeit  des  allgemeinen  Urteils  über  Nicolai  hingewiesen,  und  auf 
die  Summe  von  »wahrhaftem  Ernst«  und  »beständigem  Eifer«  aufmerksam  ge= 
macht,  die  in  der  unveröffentlichten  Korrespondenz  Nicolais  verborgen  liegt. 
'  K.  Aner,  a.  a.  O.  S.  30. 


Diese  Untersuchung  von  Friedrich  Nicolais  Verhältnis  zum  Sturm 
und  Drang  will  über  die  Frage  nach  dem  einmalig  historischen  Pro* 
zeß  hinaus  zu  der  Frage  nach  den  Kräften  selbst  dringen,  die  jenem 
Prozeß  die  entscheidende  Wendung  geben.  Der  Kampf,  den  hier 
zwei  Generationen  —  die  jungen  Stürmer  und  der  auf  der  Höhe  des 
Schaffens  stehende  Nicolai  —  austragen,  ist  zugleich  der  Kampf 
zweier  Weltanschauungen.  Was  man  als  »Sturm  und  Drang«  zu  be* 
zeichnen  sich  gewöhnt  hat,  ist  nur  der  überaus  charakteristische, 
durch  die  vitale  Gegensätzlichkeit  der  Jugend  zum  Alter  noch  ver* 
stärkte  und  darum  sich  mit  ungehemmter  Kraft  gebende  Teilaus* 
druck  einer  Gesamtbewegung,  die  man  vom  literarischen  Gesichts* 
punkt  als  »Geniebewegung«  bezeichnen  kann,  und  die,  in  den  fünf* 
ziger  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  Wurzel  fassend,  aller  Widerstände 
und  Umbiegungen  ungeachtet,  durch  das  Jahrhundert  fortdauert, 
um  in  der  älteren  Romantik  einen  neuen  Höhepunkt  zu  erleben. 
Niemand  ist  für  die  Einheitlichkeit  dieser  Bewegung  ein  beredterer 
Zeuge  als  eben  Friedrich  Nicolai:  er  hat  sich  nicht  nur  allen  Äuße* 
rungen  dieser  Bewegung  von  Hamann  bis  zu  Friedrich  Schlegel, 
von  Lavater  bis  Mesmer,  von  Friedrich  Jacobi  bis  Schleiermacher 
einheitlich  widersetzt,  sondern  auch  bewußt  die  Zusammenhänge 
zwischen  Sturm  und  Drang  und  Romantik  erkannt  \ 

Minder  eindeutig  freilich  ist  die  Gegenseite.  Schon  die  Tatsache, 
daß  Nicolai  im  Streit  mit  Herder  über  den  Tempelherrnorden  den 
wahrhaft  historischen,  Herder  den  ungeschichtlichen  Standpunkt 
vertritt^,  die  Tatsache,  daß  Nicolai  gegen  den  Rationalismus  der 
Frühromantiker  heftig  ankämpft^,  daß  er  den  Rigorismus  der  Kant* 
sehen  Ethik  ablehnt,  aber  gegen  eudaimonistische  Morallehren  einen 
sozial  gefärbten  Pflichtbegriff  geltend  macht;  daß  er  Kants  System 
als  dogmatisch  ablehnt,  aber  doch  den  »anmaßenden«  Subjektivis* 
mus  Fichtes  weit  schärfer  bekämpft  —  all  das  gebietet  Vorsicht  bei 
der  Charakterisierung  wenigstens  seiner  subjektiven  Position.  Wie 
auf  die  Feststellung,  daß  er  allem  »Neuen  und  Großen«  feindselig 

'  In  der  Schrift  gegen  Buhle  (1806)  z.  B.  stellt  er  (S.  17)  die  Romantiker  als  Kraft= 

genies  »zweiter  Potenz«  dar.  Ähnlich  a.  m.  O. 

'  Vgl.  K.Aner  a.a.O.  S.  159. 

'  Etwa  in  der  Vorrede  zu  den  »Gesprächen  Christian  Wolffs  mit  einem  Kantianer« 

(von  Schwab,  Berlin  1798)  und  in  den  »Vertrauten  Briefen«  an  zahlreichen  Stellen. 


gegenüberstand,  unter  jenem  Aspekt  einer  gegensätzlichen  Gesamt* 
Bewegung  —  die  übrigens  vom  Gesichtspunkt  Nicolais  aus  die 
Klassik  und  die  Kantische  Philosophie  einschloß  und  einschließen 
mußte  —  ein  merkwürdiges  Licht  fällt,  so  wird  eine  genauere  und 
eindringendere  Betrachtung  seiner  eigentlichen  Position,  eine  Er* 
Fassung  der  aufklärerischen  Gegenseite  gleichfalls  zum  Verständnis 
jener  Opposition  beitragen.  Rudolph  Unger  hat  in  seinem  Werk 
»Hamann  und  die  Aufklärung«  jene  tiefe  Spaltung  dargestellt,  die 
zwischen  dem  »rationalistischen«  und  dem  »sensualistischen  «Zweig 
der  Aufklärung  besteht.Von  hier  aus  versteht  man  die  »mannigfache 
Verworrenheit,  zwiespältige  Gegensätzlichkeit,  gestaltlose  Unaus* 
geglichenheit  und  widerspruchsvolle  Problematik«,  die  nach  Ungers 
UrteiP  das  deutsche  Geistesleben  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
kennzeichnen;  der  rationalistische  Zweig,  seit  Descartes  in  Frank* 
reich  besonders  ausgebildet,  und  der  sensualistische  Zweig,  in  Eng* 
land  insbesondere  seit  Bacon  und  Hobbes  zumal  von  Lockes  Philo* 
Sophie  stark  genährt,  treffen  in  der  aufklärerischen  Geisteswelt 
Deutschlands  im  18.  Jahrhundert  zusammen,  und  bestehen  durch 
zwei  Jahrzehnte,  wenn  auch  nicht,  friedlich,  so  doch  ohne  tiefere 
Auseinandersetzung,  nebeneinander.  Zumal  die  Männer,  in  deren 
Kreis  unsere  Untersuchung  eigentlich  führt,  die  »Berliner«  sind, 
Einflüssen  der  Christian  Wolffschen  Schule  wie  solchen  aus  der  eng* 
lischen  Philosophie  —  insbesondere  Shaftesburys  —  hingegeben, 
weniger  die  Vermittler  als  die  Empfänger  der  beiden  Strömungen. 
Es  erklärt  sich,  daß  auch  Nicolais  objektive  Position  viel  weniger 
eindeutig  und  entschieden  ist  als  die  der  Gegenseite.  In  der  Tat  hat 
er  sich  erst  nach  einer  Zeit  des  äußeren  Schwankens,  zum  mindesten 
der  äußeren  Nachgiebigkeit,  erst  nach  der  schroffen  Ablehnung,  die 
er  von  selten  der  jungen  Generation  erfuhr,  entschieden  zum  Kampf 
gegen  dieselbe  bekannt.  Dieser  Aufklärer  wurzelt  eben  in  jener  Zeit 
der  objektiv*zwiespältigen  Gegensätzlichkeit  und  gestaltlosen  Un* 
ausgeglichenheit,  so  stark  auch  seine  subjektive  Sicherheit  sein 
mochte;  diese  unsichere  Stellung  hat  ihn  dem  Kompromiß  geneigter 
gemacht  als  die  Jungen,  die,  einer  einseitiger  gerichteten,  aber  durch 
ihre  Intensität  zu  größerer  Fruchtbarkeit  befähigten  Geistigkeit  ent* 
stammend,  mit  der  äußersten  Entschiedenheit  ihr  Ich  und  ihre  Lei* 
'  a.  a.O.  S.  55. 


stungen  auch  nach  außen  hin  betonten,  nicht  bereit,  auch  nur  einen 
Schritt  nachzugeben.  FreiUch  ist  ihre  Sicherheit  sich  selbst  gegen? 
über  oft  durch  schmerzvolle  Zusammenbrüche  in  Zweifel  gezogen 
worden,  aber  auch  in  ihrer  selbstquälerischen  Problematik  drückte 
sich  Entschiedenheit  gegen  das  eigene  überwundene  oder  zu  über« 
windende  Ich  aus  —  eine  Entschiedenheit,  die  zum  Selbstmord  oder 
zum  Wahnsinn  führen  konnte.  Nicolai  aber  war  es  versagt,  so  viel 
Probleme  er  auch  erwog,  sich  selbst  zum  Problem  zu  werden.  Seiner 
individuellen  Organisation  nach  —  wie  wir  noch  sehen  werden  — 
ganz  auf  kritische  Stellungnahme  angewi^en,  aber  in  einer  Geistig* 
keit  unentschiedenen  Schwankens  wurzelnd  und  daher  nie  der 
letzten  Erschütterung,  nie  des  freudigsten  Bejahens  seines  Ich  fähig 
—  in  diesem  Widerspruch  liegt  die  Tragik  seines  geistigen  Lebens 
beschlossen,  die  Tragik  einer  Generation  zugleich,  die  säen  durfte, 
aber  nicht  ernten. 


ZUR  WELT=:  UND  LEBENSANSICHT 


Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  hier  ein  vollständiges  Bild 
Nicolais  zu  entwerfen;  der  eklektische  Charakter  seines  Denkens 
macht  eine  systematische  Darstellung  desselben  unmöglich,  und 
der  besondere  Zweck  dieses  Teils  der  Untersuchung  weist  auf  die 
Notwendigkeit  hin,  einzig  diejenigen  Elemente  zunächst  von  Nico« 
laisWelt^»  und  Lebensanschauung  aufzuzeigen,  die  in  seiner  Stellung* 
nähme  zum  Sturm  und  Drang  wirklich  bestimmend  mitwirkten. 
Aber  auch  diesem  Unternehmen  stehen  mannigfache  Schwierig* 
keiten  im  Wege.  Das  Band,  das  alle  diese  Elemente  zusammenhält, 
die  ursprüngliche,  ganz  individuelle  Umbiegung,  der  alles  objektiv 
Gegebene  in  dem  Bannkreis  einer  Persönlichkeit  unterliegt,  das, 
was  uns  bei  jeder  originalen  Individualität  mitunter  blitzartig  aus 
einem  leicht  hingeworfenen  Wort,  einer  Geste  entgegenspringt,  ist 
bei  Nicolai  schwer  erreichbar.  Unmittelbare  Äußerungen  von 
Nicolais  Lebensgefühl  sind  fast  gar  nicht  vorhanden.  Was  uns  an 
Solchen  überliefert  ist,  wie  besonders  von  Gustav  Parthey  in  seinen 
»Jugenderinnerungen,«  kann  uns  kaum  als  Material  dienen,  einmal 
wegen  der  Voreingenommenheit  insbesondere  Partheys,  anderer* 
seits  weil  diese  Erinnerungen  sich  fast  ausschließlich  auf  Nicolais 
letzte  Lebenszeit  beziehen;  dasjenige,  was  Nicolai  in  seinen  Selbst* 
darstellungen  berichtet,  ist  schon  irgendwie  durch  reflektierende 
Momente  gefärbt;  der  Briefschreiber  Nicolai  aber  ist  Literat,  Rat* 
geber  oder  gar  Geschäftsmann,  so  daß  auch  in  der  ungeheuren  uns 
erhaltenen  Nicolaischen  Korrespondenz  kaum  irgendwelche  wert* 
volleren  unmittelbaren  Lebensäußerungen  vorhanden  sind.  Das 
Material  aber,  das  Karl  Aner^  Partheys  Aufzeichnungen  entnimmt, 

'  Karl  Aner,  Der  Aufklärer  F.  Nicolai,  S.  16,  S.  44  u.  a.  m.  O.  Aner  benutzt  dort 
die  Tatsache,  daß  Nicolai  im  hohen  Alter  von  dem  Vortrage  eines  Mozartschen 
Flötensolos  so  entzückt  war,  daß  er  den  Vortragenden  umarmte  und  küßte,  zum 
Nachweis  seines  Kunstenthusiasmus,  und  die  Tatsache,  daß  Nicolai  auf  dem 
Brocken  »beim  Anblick  eines  Gewitters  in  Tränen  ausgebrochen«  sei,  —  die 
übrigens  durch  Reisebeschreibung  VI,  465  erhärtet  wird  —  zum  Nachweise  eines 
lebendigen  Naturgefühls.  Eher  spräche  schon  die  von  Aner  (S.  8  f.)  gerühmte 
»enthusiastische«  Beschäftigung  mit  Homer  für  seinen  Kunstenthusiasmus;  doch 
ist  auch  dieses  Moment  in  unserem  Zusammenhang  ohne  Bedeutung. 


um  entgegen  der  Minorschen  Darstellung^  die  Grenzen  von  Nico* 
lais  Lebensgefühl  zu  erweitern,  ist  nicht  beweiskräftig,  und  sein 
Verfahren  ist  methodisch  anfechtbar;  es  kommt  nicht  darauf  an, 
Nicolai  die  Fähigkeit  zu  jeder  möglichen  Lebensäußerung  zuzu« 
weisen,  sondern  die  ihm  natürlichsten  und  notwendigsten  zu  be* 
stimmen.  —  Wir  müssen  also  dies  elementare  Grundverhalten  aus 
den  reflektierten  Äußerungen,  aus  der  objektiven  Gebundenheit 
zu  erschließen  suchen. 

Erich  Schmidt  gibt  einmal  eine  bündige  Charakteristik  Nicolais: 
»Friedrich  Nicolai  war  ein  Berliner  Autodidakt,  und  der  Beroli* 
nismus  nahm  dem  Autodidakten  das  unsichere  Tasten,  das  ihm 
sonst  wohl  anhaftet.  So  fühlte  Nicolai  statt  eines  Autoritätsbedürf* 
nisses  sich  immer  mehr  als  maßgebende  Autorität...«^  So  unzu* 
länglich  es  scheint,  mit  diesem  Satz  ein  abschließendes  Urteil  über 
Nicolai  fällen  zu  wollen,  so  ist  doch  hier  eines  der  wesentlichsten 
Momente  nicht  nur  seines  Bildungsganges,  sondern  seines  ganzen 
menschlichen  Charakters  treffend  hervorgehoben.  Allerdings  war 
Nicolai  Autodidakt  und  so  tief  im  Innersten,  daß  jede  strenge 
Schulzucht,  jede  systematische  Schulung  ihm  zeitlebens  zuwider 
blieb.  Wie  der  Geist  des  Knaben  in  dem  harten  Zwang  der  Halli* 
sehen  Schule  zu  ersticken  drohte,  so  hat  der  Mann  später  gegen 
jeden  schulmäßigen  Zwang  in  Kunst  und  Philosophie  geeifert:  der 
Gottschedischen,  der  Kantischen,  der  Romantischen  »Schule«  hat 
er  gleich  scharf  den  Krieg  erklärt  und  manch  bitteres  Wort  gegen 
die  gelehrten  Treibhausanstalten  gesprochen,  die  ihm  die  Univer« 
sitäten.  zu  sein  schienen.  Wie  der  Lerneifer  und  der  Geist  des  Kna« 
ben  erst  in  der  Heckerschen  Berliner  »Realschule«  erwacht,  wo  er 
mit  dem  Wissen  zugleich  auch  die  Dinge  sieht,  die  er  wissen  solP, 
so  konnte  auch  der  Mann  das  Winckelmannsche  Schönheitsideal 
erst  begreifen,  als  er  eine  derb  realistische  Studie  Frischs  gegen  den 
Antinous  hielt  und  durch  den  Vergleich  eine  erste  Vorstellung  der 

'  in  DNL  72. 

-  »Lessing,«  I  S.  302  3. 

^  Daß  einzig  die  Methode,  nicht  die  dargebotene  Stofflichkeit  —  wie  Minor  be= 

hauptet:  die  Bevorzugung  der  naturwissenschaftHchen  Fächer  statt  der  in  Halle 

einzig  gelehrten  humanistischen  — Nicolais  Geist  hier  befruchtet  hat,  legt  K.  Aner 

insbesondere  S.  10  treffend  dar. 

10 


»Begriffe  von  Schönheit  und  Ideal«  erhielt ^  Und  wie  er  die  Schule 
verwarf,  die  ihren  Zögling  als  Objekt  behandelt,  ohne  eine  Gemein* 
Schaft  von  Lehrendem  und  Lernendem  zu  sein  —  so  bekämpfte  er 
jede  geistige  Gesellschaftsform,  in  der  ein  überragender  Geist  andere 
vorbehaltlos  in  seinen  Bann  zwang.  So  eiferte  er  gegen  die  »Klop= 
stockianer,«  wie  gegen  die  »Goetheaner«  und  »Kantianer«;  so  pole* 
misierte  er  gegen  den  Hainbund,  wie  gegen  die  »Bureaux  d'esprit« 
und  schuf  im  »Sempronius  Gundibert«  die  Karikatur  eines  gesetz* 
gebenden  philosophischen  Reichstags;  so  lehnte  eres  heftig  ab,  das 
Haupt  einer  »Berliner«  Partei  zu  sein^,  und  schrieb  in  vollem  Be* 
wußtsein  dieser  ihn  durchs  ganze  Leben  begleitenden  Tendenz  in 
der  Schrift,  in  der  er  aus  äußerem  Anlaß  mit  seinem  Bildungs* 
streben  abrechnete,  den  Satz  nieder^:  »Ich  bin  nie  von  einer  Partei 
gewesen  .  .  .  und  werde  nie  von  einer  andern  Partei  sein,  als  von 
der  Partei  der  Wahrheit,  so  wie  ich  sie  einsehe  .  . .«  — 

Es  läßt  sich  aber  auch  nach  einer  anderen  Seite  hin  eine  psycho* 
logische  Folgerung  aus  diesem  Bildungsgange  ziehen,  bedeutsam 
gerade  für  sein  Verhalten  zur  Geniebewegung,  Goethe  urteilt  von 
Nicolais  Antipoden,  dem  Autodidakten  Klinger:  »Wie  nun  gegen 
neue  Männer,  Ansichten,  Systeme,  so  erklären  sich  solche  Männer 
auch  gegen  neue  Ereignisse,  hervortretende,  bedeutende  Menschen, 
welche  große  Veränderungen  ankündigen  oder  bewirken:  ein  Ver* 
fahren,  das  ihnen  keineswegs  so  zu  verargen  ist,  weil  sie  dasjenige 
von  Grund  aus  gefährdet  sehen,  dem  sie  ihr  eigenes  Dasein  und 
Bildung  schuldig  geworden.«  (Dichtg.  u.  Wahrht.  XIV.)  Nicolai 
hat  seit  dem  Ende  der  siebziger  Jahre,  nicht  zum  mindesten  durch 
die  feindselige  Haltung  der  jungen  Generation  veranlaßt,  im  wesent* 
liehen  seine  Position  verteidigt,  Bildung  und  Dasein,  die  innere, 
wie  die  äußere  Existenz.  Denn  auch  die  äußere  Existenz  galt  es 
gegen  die  Jungen  zu  verteidigen,  die  mit  Werther  auf  die  hommes 
d'affaires  schimpften,  die  aber  auch  gern  den  sozialen  Typ  des 
Literaten,  —  und  Nicolai  war  so  gut  homme  d'affaires,  wie  er  nach 
dem  großen  Vorbild  Lessings  Literat  sein  wollte  —  für  das  tinten* 
klecksende  Säculum  verantwortlich  machten.  Er  ist  auf  seinen  Beruf 

'  Göckingk  S.  145. 

-  An  F.  Jacobi,  ed.  Zoeppritz  I,  37  und  Deutsches  Museum  1787,  März,  S.  292. 

'  »Gelehrte  Bildung«  S.  78  9. 

11 


stolz,  der  es  ihm  ermöglicht,  die  persönliche  Freiheit  und  Unab^« 
hängigkeit  zu  bewahren;  wie  der  verfolgte  Sebaldus  Nothanker  bei 
dem  Buchhändler  Hieronymus  geborgen  ist,  und  dieser  ihm  mit 
Stolz  erklärt,  daß  ihn  hier  keiner  seiner  Feinde  stören  könne,  da 
»weder  der  Präsident,  noch  der  Superintendent  im  Buchladen  etwas 
zu  tun  haben« ^  so  fühlte  sich  Nicolai  in  seinem  Wirkungskreis  vor 
jedem  unrechtmäßigen  Eingriff  der  weltlichen  und  kirchlichen  Ge* 
walt  geschützt.  Im  Bewußtsein  dieser  Unabhängigkeit  schreibt  er 
an  den  Konsistorialrat  Boysen  in  Quedlinburg,  der  ihm,  durch  eine 
abfällige  Rezension  seines  »Auszuges  der  Weltgeschichte«  gekränkt 
mit  der  Beschwerde  bei  der  obersten  Kirchenbehörde  gedroht  hatte: 
»Ich  suche  weder  ein  Amt,  noch  will  ich  mich  gegen  Nebenbuhler 
verwahren,  ich  suche  weder  Projekte  durchzusetzen,  noch  habe  ich 
einen  gelehrten  Ruhm  zu  erhalten,  dessen  Verlust  mir  im  Weltleben 
schädlich  sein  könnte«^;  deshalb  brauche  und  suche  er  niemanden, 
und  habe  niemanden  zu  fürchten.  Und  im  Gegensatz  zu  der  üb* 
liehen  Darstellungsweise,  daß  er  sich  »an  Lessings  Rockschöße  ge* 
hängt«  habe,  mag  hier  darauf  hingewiesen  werden,  daß  er  es  freudig 
begrüßt,  als  Lessing  —  im  zweiten  Teil  der  »Antiquarischen  Briefe« 
—  öffentlich  erklärt,  daß  er  an  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  keinen  Anteil 
habe^.  Wie  er  selbst  frei  und  unabhängig  —  in  geistiger  wie  sozialer 
Hinsicht  —  sein  will,  so  möchte  er  auch  seine  Freunde  so  gestellt 
wissen;  daher  rät  er,  um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen,  Thomas  Abbt 
dringend,  sich  nicht  in  ein  Abhängigkeitsverhältnis  zum  Grafen 
von  Lippe  zu  begeben  oder  doch  auf  die  Wahrung  der  persönlichen 
Würde  streng  zu  achten*. 

Ein  tätiger  und  selbständiger  Geist  mußte  es  sein,  der  nach  der 
Freiheit  vom  Zwang  jeder  geistigen  und  gesellschaftlichen  Autori* 

'  Sebaldus  Nothanker  I,  7,  S.  71. 

'  10.  VI.  71.N.  N. 

^  Nicolai  an  Lessing  29.  VIII.  69  =  Lachmann^Muncker  19,  314.  Bemerkenswert 

ist  in  diesem  Zusammenhang  auch,  daß  Nicolai  es  im  Streit  mit  Wieland  über 

den  Bunkel  ablehnte,  ein  ihm   bekannt  gewordenes  Lessingsches  Zeugnis  zu= 

gunsten  des  angegriffenen  Romans  öffentlich  zu  verwerten,  mit  der  Begründung, 

er  wolle  nicht  ein  »iudicium  auctoritatis  etablieren« :  vgl.  R.  Hering,  J .  C.  Höpfner 

usw.  =  Jhb.  d.  Fr.  Dtsch.  Hochstifts,  Frkft.  1911,  329. 

*  25.  XI.  65  =  Abbts  Verm.  Werke  (1780)  3,  383  ff.  u.  5,  1817.  (Die  Datierung  vom 

23.  XI.  ist  Druckfehler,  vgl.  Moses  Mendelss.  Sämtl.  Schriften  5,  355.) 

12 


tat  verlangte.  Ist  Nicolai  auch  in  den  Erzeugnissen  seines  Geistes 
überall  durchaus  abhängig  —  in  welchem  Maße,  wird  sich  noch  oft 
im  Laufe  dieser  Untersuchung  zeigen  —  so  konnte  er  doch  überall 
den  guten  Glauben  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  Eigenes  gegeben 
zu  haben.  So  viel  Anregungen  er  auch  empfing,  oder  besser,  so  viel 
Anregungen  sein  unermüdlicher  Geist  auch  suchte,  überall  ergriff 
er  mit  starker  Aktivität  das  Dargebotene  und  formte  es  den  Be# 
dürfnissen  seines  Geistes  gemäß  um.  Ein  solches  Verfahren  setzt 
einen  seiner  selbst  gewissen,  stets  bewußten  Geist  voraus;  nicht 
einen  Geist,  der  über  festen  Grund  verfügt,  aber  einen,  der  ohne 
starke  Schwankungen  seinen  Weg  geht;  keine  Natur,  die  einer 
starken  Entwicklung  fähig  ist,  aber  eine  unablässig  entwickelnde; 
eine  Natur,  die  geistige  Widerstände  nur  auf  dem  Wege  der  kri* 
tischen  Auseinandersetzung  zu  überwinden,  nicht  durch  das  Er* 
lebnis  für  das  eigene  Schaffen  fruchtbar  zu  machen  vermag.  Sich 
selbst  gegenüber  kritisch  \  und  doch  stets  bereit  und  fähig  zu  Selbst* 
darstellungen,  die  sein  Wesen  und  Wirken  rechtfertigen  sollen,  und 
die  er  denn  auch  recht  oft  wiederholt  hat;  mit  seinem  Schicksal  oft 
unzufrieden-,  und  doch  stolz  auf  die  Bedingungen  und  Leistungen 
seines  Lebens,  wenn  er  sie  objektiv  mißt;  äußerlich  frei  und  seine 
Unabhängigkeit  betonend,  und  innerlich  vielfältig  gebunden  und 
abhängig  —  in  diesen  Widersprüchen,  die  ihn  doch  nie  zum  Pro* 
blematiker  des  subjektiven  oder  objektiven  geistigen  Lebens  mach* 
ten,  ist  die  Statik  seines  Lebensgefühles  gewährleistet. 

Das  gleiche  gesetzmäßige  feste  Beharren  auf  dem  eigenen  Stand* 
ort  zeigt  auch  die  objektiv  verfestigte  Lebensanschauung  Ni* 
colais:  Der  Sinn  und  Wert  des  Lebens  liegt  für  ihn  in  einem  engen 
Bezirk,  aus  dem  nur  spärliche  Fäden  nach  den  Polen  laufen,  von 
denen  her  das  empirische  Leben  bestürmt  wird.  Metaphysische 
Fragen,  starke  religiöse  Zweifel,  die  Ansprüche  überschäumender 
eigener  Kraft  auf  hemmungslose  Auswirkung  haben  ihn  nie  gequält. 

'  Beachte  seine  öfters  bezeugte  Unzufriedenheit  mit  eigenen  Werken,  so  z.  B. 

über  die  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  an  Hagedorn  (N.  N.  16.  VIII.  58)  und 

ähnliches. 

'  So  schreibt  er  am  7.  V.  93  an  Eschenburg:  »Es  scheint,  ich  bin  vom  Schicksal 

verurteilt,  immer  das  tun  zu  müssen,  was  ich  nicht  gern  wollte,  das  nicht  tun  zu 

können,  was  ich  gern  möchte,  und  niemals  zur  Ruhe  zu  kommen.«  (Bei  O.  v. 

Heinemann,  Zur  Erinnerung  an  G.  E.  Lessing,  Leipzig  1870,  S.  171.) 

13 


Wohl  ist  seine  Religiosität,  wie  Karl  Aner  dargetan  hat\  nicht  rein 
intellektualistisch  gefärbt;  wohl  hat  er,  besonders  in  den  »Philo* 
sophischen  Abhandlungen«,  auch  zu  metaphysischen  Fragen  Stel* 
lung  genommen,  aber  nirgends  sind  diese  Fragen  in  einer  tieferen 
Schicht  fruchtbar  geworden.  Wie  sich  bei  den  Nachfolgern  und 
Schülern  Christian  Wolffs  im  allgemeinen  das  Bestreben  geltend 
macht,  die  philosophische  Vernunftwissenschaft  einzig  auf  den  tat* 
sächlichen  Befund  des  einzelmenschlichen  Lebens  anzuwenden^,  so 
tritt  auch  NicolaisWeltanschauung  in  der  spezifischen  Färbung  einer 
Lebensanschauung  auf.  »Das  Philosophieren  in  concreto«  ist  die 
Philosophie,  der  er  sich  zuwenden  will\-  und  was  er  gegen  Rein* 
hold  einmal  scherzhaft  äußert  —  »meine  Philosophie  ist  nur  so  fürs 
Haus«*  — ,  läßt  sich  auch  in  einem  weiteren  Sinn  über  seine  ge* 
samten  theoretischen  Anschauungen  vom  Sinn  und  Wert  des  Lebens 
sagen. 

»Die  Welt  ist  so  groß  und  die  Menschheit  ist  so  perfektibel . . .; 
um  so  mehr  muß  es  jedes  kleine,  einzelne  Ich  sein«,  sagt  Adelheid, 
die  Sprecherin  Nicolais,  in  den  »Vertrauten  Briefen«  ^,  Diese  Per* 
fektibilität  des  Ich  wird  aber  nach  Nicolais  Anschauung  nicht  durch 
das  eigene,  sich  selbst  befördernde  Stre'ben  erreicht,  sondern  nur  in 
der  ständigen  Wechselwirkung  mit  der  menschlichen  Gesellschaft. 
»Im  Müßiggange  vegetieren  und  im  inneren  Ich  Grillen  fangen 
ohne  Tätigkeit, . . .  heißt  nicht  leben.  Leben  ist,  in  und  für  die 
menschliche  Gesellschaft  tätig  wirken,  wäre  es  auch  nur  im  kleinsten 
und  unbedeutendsten  Wirkungskreise^,«  So  setzt  es  auch  ein  Spre* 
eher  Nicolais  im  »Sempronius  Gundibert«  auseinander' ;  nicht  über 
das  Leben  spekulieren,  sondern  leben  müsse  der  Mensch;  »leben 
aber  ist:  mit  Wohlwollen  gegen  andere  tätig,  nach  vernünftiger 

'  K.  Aner  S.  47  ff. 

*  Vgl.  R.  Unger,  »Hamann  und  die  Aufklärung«  S.  53  ff. 

"  Einl.  zu  den  »Philosophischen  Abhandlungen«  S.  VIII. 

*  An  K.  L.  Reinhold  20.  X.  90  (=  Reinholds  Leben  ed.  E.  Reinhold  Jena  1825, 
S.  354). 

'  S.  47.  Vgl.  auch  Nicolai  an  Lavater  19.  II.  74;  NN.:  »Daß  Sie  mir  Perfekt 
tibilität  zutrauen,  halte  ich  für  ein  größeres  Lob,  als  Sic  vielleicht  intendiert 
haben.« 

*  »Über  meine  gelehrte  Bildung«  S.  39. 
^S.  313f. 

14 


Überlegung  mit  sich  zufrieden  sein,«  nach  dem  Maßstab  von  Pflich== 
ten  und  Rechten  alles  Gute  und  Angenehme  genießen.  Und  wenn 
auch  die  Anschauung  hier  mir  Rücksicht  auf  den  Charakter  des 
junkerlichen  Sprechers  ganz  quietistisch  gefaßt  ist,  so  hat  Nicolai 
den  Grundgedanken  seiner  Lebensanschauung,  die  nur  gegenüber 
den  letzten  Fragen  sich  quietistisch  verhält,  den  Gedanken,  daß  der 
Sinn  des  Lebens  sich  in  der  sozialen  Eingliederung  erschöpft,  wieder* 
holt  ausgesprochen.  »Ich  lebe,  weil  ich  leben  muß  und  tue  das  Beste, 
was  ich  im  Leben  tun  kann;  weiß,  daß  ich  einmal  sterben  muß,« 
bekennt  er  einmal ^  »Ich  prüfe  einen  Menschen,  der  sich  seiner 
Weisheit  rühmt,  ob  er  für  seine  Nebenmenschen  etwas  empfindet, 
oder  vielmehr,  ob  er  etwas  für  sie  tut;  ist  dies  nicht,  so  besteht  seine 
Weisheit  bloß  aus  schönen  Worten  . .  .■^«.  —  In  diesem  Satz  deutet 
er  an,  daß  auch  der  Wert  des  menschlichen  Lebens  in  dem  sozialen 
Wirken  wie  in  dem  Grad  der  sozialen  Bedingtheit  zu  suchen  ist. 
Die  Arbeit,  auch  die  unscheinbarste,  ob  sie  nun  äußerlich  oder 
innerlich  pflichtmäßig  geschieht,  ist  die  Verwirklichungsmöglich* 
keit  der  sozialen  Beziehungen,  die  den  Menschen  ursprünglich  und 
natürlich  zum  Menschen  gesellen.  Mit  wohltuender  Einfachheit 
faßt  die  Grabinschrift  für  den  »Pflanzer«  Joachim  Heinrich  Campe  ^ 
diese  für  die  deutsche  Aufklärung  so  bezeichnende  Richtung  ihrer 
Lebensanschauung;  ein  solcher  »Pflanzer«  war  auch  Nicolai.  Die 
Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  ist  durch  mehr  als  drei  Jahrzehnte 
hindurch  der  Ort  dieser  seiner  Wirksamkeit  gewesen.  An  diesem 
größten  seiner  Werke  betrachtet  er  sich  als  die  »Hebamme«;  »man 
hat  gut  der  Hebamme  sagen:  ,sei  fruchtbar!'  wenn  sie  alle  Nächte 
ausgehen  muß,  die  Geburten  anderer  zu  befördern  und  zum  Emp* 
fangen  entweder  aus  Arbeitsamkeit  nicht  Zeit  oder  aus  Müdigkeit 
nicht  Lust  haben  kann;«  es  habe  ihn  die  ganze  Zeit  seines  Lebens 
genug  Verleugnung  gekostet,  das  nicht  tun  zu  können,  was  er  gern 
getan  hätte*.  In  der  Tat  beanspruchte  dieses  Werk,  das,  wie  dessen 

'  Göckingk  S.  151. 

^  Vertraute  Briefe  S.  62.  Vgl.  von  hier  aus  seine  Invektive  gegen  die  »schönen 

Geister«  in  Weimar,  die,  zumal  Herder  als  Generalsuperintendent,  für  Musäus 

nichts  taten;  »wahr  ist  es  indessen,  Herder  hielt  ihm  eine  schöne  Leichenrede«. 

(Göckingk  S.  122.) 

'  J.  Leyser,  Jo.  H.  Campe,  Braunschweig  1877  1,  S.  88. 

*  »Schreiben  an  den  Herrn  Professor  Lichtenberg  in  Göttingen«  =  Lessings 

15 


Mitarbeiter  Unzer  einmal  an  Nicolai  schreibtS  »ein  halbes  Dutzend 
fleißiger  Buchhändler  allein  beschäftigen  könnte,«  mehr  und  mehr 
seine  ganzen  Kräfte.  Aber  wie  er  die  Untätigkeit  und  Faulheit 
haßte-,  so  ermöglichte  ihm  die  rege  Arbeitsamkeit  das  Hinweg* 
kommen  über  schwere  Stunden^  und  das  Bewußtsein,  der  Sache 
der  Menschheit  durch  die  Beförderung  der  Wissenschaften  zu 
dienen,  half  ihm  über  aufkommende  Unlustgefühle  bald  wieder 
hinweg*;  und  als  ihm  Joh.  Baptist  Alxinger,  über  arge  Enttäu* 
schungen  verdrossen,  einmal  schreibt^,  man  möchte  bisweilen  die 
Mühe  bereuen,  die  man  auf  die  Wissenschaften  wende,  bemerkt 
Nicolai  am  Rande:  »Ja  wohl,  wenn's  nicht  wäre,  daß  man  selbst 
dadurch  besser  würde  und  andere  besser  machte.«  Denn  für  eine 
Beschäftigung  mit  den  Wissenschaften  um  ihrer  selbst  willen  hat  er 
wenig  übrig,  wie  er  von  Lessings  Sich* Vertiefen  in  die  Archäologie 
und  historische  Theologie  befürchtet,  daß  sie  ihn  vom  Gemein* 
nützigen  ableite^.  Weil  Nicolai  das  aber  von  aller  einseitigen  und 
abseitigen  Arbeit  befürchtet,  wünscht  er,  daß  die  deutschen  Ge* 
lehrten  nicht  nur  an  ihrem  Schreibtisch,  sondern  in  der  Welt  hei* 
misch  seien;  so  rühmt  er,  daß  Thomas  Abbt  die  Professur  mit  der 
Stelle  eines  Regierungsrates  ausgetauscht  habe',  rühmt  er  anJ.J. 
Engel,  daß  er  stets  bemüht  gewesen  sei,  Welt  und  Menschen  kennen 
zu  lernen  und  ihnen  zu  dienen*.  Denn  Nicolais  Streben  ist  überall 
auf  Verwirklichung  gerichtet;  wie  man  in  den  Mittelpunkt  seiner 
Polemik  gegen  Kant  die  Frage  stellen  muß,  die  er  zum  Titel  einer 
Abhandlung  macht,  ob  Kants  Moralprinzip  »bei  der  Ausübung  . . 
hinreichend«  sei,  so  hat  er  stets  nur  solche  Lebensanschauungen 

Sämtliche  Schriften,  herausgegebeij  von  ...  F.  Nicolai  Bd.  26  (1794),  S.  XVI ;  ähn^ 
lieh  an  Denis  20.  VI.  70  =  Aus  Denis  Nachlaß,  Wien  1802,  S.  161. 

*  N.  N.  3.XII.71. 

-  Vgl.  »Anhang  zu  Fr.  Schillers  Musenalmanach«  S.  144  und  an  L.  Tieck  19.  XII. 
97  =  Briefe  an  Tieck  ed.  Holtei  S.  59. 

"  Vgl.  an  Eschenburg  6.  VIII.  1803  =  Z.  f.  d.  Phil.  12,  221  und  an  v.  Halem  24. 
V.99  =  ed.  Strackerjan,  Oldenburg  1840,  II,  168. 

*  Vgl.  an  Lessing  8.  VIII.  71  =  Lachmann*Muncker  20,  24. 

*  N.  N.8.XII.  87. 

*  An  Herder  17.  VI.  71 ;  in  gleichem  Sinn  auch  wiederholt  an  Lessing. 
■^  Ehrengedächtnis  für  Thomas  Abbt  S.  14. 

*  Ehrengedächtnis  für  J.  J.  Engel  S.  6 f. 

16 


gelten  lassen,  die  sich  in  der  Verwirklichung  bewährten^;  nicht  in 
der  richtigen  Maxime  des  Handelns,  sondern  in  der  richtigen  Hand* 
lung  selbst  will  er  den  Wert  sehen.  — 

Von  diesem  sozialen  Pflicht*  und  Wertbegriff  aus  fällt  einiges 
Licht  auf  den  Toleranzbegriff  der  deutschen  Aufklärer.  In  diesem 
Zusammenhange  wird  zugleich  deutlich,  weshalb  der  Toleranz* 
begriff  ihnen  nicht  das  Fortschreiten  zum  Individualismusgedanken 
der  Genieperiode  gestattete,  sie  sogar  denselben  bekämpfen  ließ, 
obgleich  der  Toleranzgedanke,  der  jedem  Individuum  das  Recht 
auf  die  Verwirklichung  des  Ich  zugesteht,  wennschon  er  diese  nicht 
fordert,  dem  Individualismusgedanken  eng  verwandt  ist.  Denn  wie 
etwa  Moses  Mendelssohn  in  einer  Abhandlung,  die  aus  Nicolais 
Nachlaß,  mit  Anmerkungen  von  Nicolai  versehen,  von  Göckingk 
veröffentlicht  wurde-,  erst  die  Toleranzforderung  »jeder  hat  seinen 
eigenen  Geschmack«  und  »über  Sachen  des  Geschmacks  läßt  sich 
nicht  streiten«  psychologisch  und  objektiv*ästhetisch  begründet,  um 
dann  doch  zu  dem  Schluß  zu  gelangen,  unter  allen  Arten  des  Ge* 
schmacks  müsse  ein  einziger  »der  Vollkommenheit  und  Glückselig* 
keit  der  Menschen  am  zuträglichsten  sein«,  so  hat  auch  Nicolai  den 
Toleranzgedanken  überall  da  aufgegeben,  wo  ein  extremer  Indivi* 
dualismus  seine  Ansprüche  mit  Hinweis  auf  die  Toleranzforderung 
geltend  zu  machen  schien.  Der  Nicolaische  Toleranzbegriff  ist  nun 
von  vorneherein  so  gefärbt,  daß  er  nur  eine  Trennung  des  Menschen 
von  der  gegensätzlichen  Anschauung  oder  Leistung  bedeutet;  wo 
sich  die  Toleranz  auf  eine  gegensätzliche  Anschauung  bezieht, 
werden  wir  sie  noch  als  ein  äußeres  Kompromiß  zu  kennzeichnen 
Gelegenheit  haben.  Wohl  erkennt  er  also  beispielsweise  an,  daß 
nicht  alle  Orthodoxen  intolerant  und  herrschsüchtig  sind^,  oder  er 
bezeugt  Denis  seine  unverminderte  Hochachtung,  obwohl  er  weiß, 
daß  Denis  mit  ihm  nicht  in  allen  Anschauungen  übereinstimmt; 
allein  indem  er  hier  hinzusetzt*:  »Verständige  und  ehrliche  Leute 
gehören  zusammen  ohne  Rücksicht  auf  Stand,  auf  Religion  und 

'  Vgl.  das  Schlußkapitel  seines  »Dicken  Mann«,  II,  237 ff. 

'■'  Göckingk  S.  184ff. :  »Zufällige  Gedanken  über  die  Harmonie  der  inneren  und 

äußeren  Schönheit«;  die  zitierte  Stelle  S.  193 f. 

■■'  Sebaldus  Nothanker  III,  1,  S.  12 f. 

*  An  Denis  18.V. 83 a.a.O.  S.  165f.;  vgl. auch  ebenda  S.  167, und  Reisebeschreibg.il. 

2  Sommerfeld,  Friedrii.h  Nicolai  1  / 


auf  andere  Nebensachen(l)«  und  sich  vorbehält,  soweit  Denis  ihm 
hierin  gegensätzHch  erscheine,  ihn  anzugreifen  und  zu  bekämpfen, 
zeigt  er  schon  den  wahren  Charakter  seiner  Toleranz,  der  sich  völlig 
erweist,  wenn  er  in  dem  Schreiben  an  Biester  Ȇber  a  priori  und 
Kants  Sittengesetz« ^  sagt:  »Ich  halte  jede  Philosophie  sowie  jede 
Theologie  für  um  so  schlechter,  je  intoleranter  sie  ihrer  Natur 
nach  ist.«  Mußte  ihm  nicht  jedes  System,  das  andere  ausschließt, 
ja  jede  ganz  individuell  gefärbte  Leistung  »intolerant«  erscheinen, 
mußte  er  sie  nicht  schlecht  finden  und  demgemäß  bekämpfen,  wie 
er  es  tatsächlich  getan  hat? 

Der  ausgesprochene  Elektizismus,  der  mit  einem  Toleranzbegriff 
dieser  Art  Hand  in  Hand  geht,  die  System*  und  Dogmenfeindschaft, 
bestimmt  auch  seinen  Wahrheitsbegriff.  Wahr  kann  nur  sein,  was 
einer  Vielheit  von  Gesichtspunkten  standhält  —  er  »widerlegt«  gern, 
indem  er  die  andern  »Augenpunkte«  einer  Sache  zeigt;  Wahrheit 
kann  nur  gewonnen  werden  durch  Entwicklung  der  Gedanken  im 
Für  und  Wider,  niemals  intuitiv,  axiomatisch  oder  kritisch  im  Sinne 
Kants;  Prüfstein  und  Korrektiv  jeder  Wahrheit  ist  das  Leben.  Das 
Bedürfnis  nach  Wahrheit  ist  weniger  intellektuell  als  moralisch  be* 
dingt;  es  ist  der  Grundzug  der  moralischen  Natur,  und  »der  Wert 
eines  Menschen  beruht  auf  seiner  Wahrheit«  ^  Es  ist  das  Gebot,  das 
er  insbesondere  seiner  literarischen  Persönlichkeit  vorschrieb,  und 
er  hat  es  nicht  übertreten.  »Es  ist  mein  Schicksal  schon  von  meiner 
ersten  Jugend  an  gewesen,  öffentlich  importune  Wahrheiten  zu 
sagen,  und  am  Ende  meiner  Laufbahn  scheint  es  noch  eben  dasselbe 
zu  sein,«  klagt  er^.  Auch  von  hier  aus  war  die  selbst  gesteckte  Grenze 
der  Toleranz  zu  eng  gezogen.  Von  seiner  kleinen  Erstlingsschrift  an, 
der  »Untersuchung,  ob  Milton  sein  verlorenes  Paradies  aus  latei* 
nischen  Schriftstellern  ausgeschrieben  habe«  (1753),  bis  zur  Schrift 
gegen  Buhle  (1806)  nimmt  fast  jeder  seiner  Schriften,  die  Romane 
eingeschlossen,  für  oder  gegen  etwas  Stellung.  Hinter  dieser  stän* 
digen  Bereitschaft  zur  Auflehnung  und  Ablehnung  steckt  eine 
kämpferische  Natur,  deren  Streitlust  sich  freilich  rationell  beschränkt. 
Lessing  ruft  er  zu:  »Gehen  Sie  in  ein  Gefecht,  wo  man  mit  Schwer* 

'  Philosophische  Abhandlungen  I,  6,  235. 

-  Vertraute  Briefe  S.  114. 

^  Vorrede  zur  Reisebeschreibung  1,S.  XV.  Ähnlich  an  ßlankenburg  18.  X.  86.  NN. 

18 


tern  um  sich  hauet,  oder  wo  man  sich  mit  Knütteln  prügelt  und 
mit  Fäusten  schlägt«;  nur  ein  Gefecht  mit  Sändsäcken  heimtücki* 
scher  Gegner  sei  weder  rühmlich  noch  angenehm^.  Aber  es  ist  auch 
hier  ein  kaum  auszumessender  Gegensatz  der  Naturen:  in  Lessings 
kämpferischer  Natur  liegt  ein  faustischer  Grundzug,  die  Einsamkeit 
des  Alternden  gehört  zu  ihr  und  ein  »ergreifender  Mangel  an  Glück« 
(Dilthey).  Zu  Nicolais  kämpferischer  Natur  bildet  das  natürliche 
Korrelat  eine  ausgesprochene  Lebensfreude,  die  sich  in  freundlichem 
Behagen  Genüge  tut,  und  ein  Bedürfnis  nach  umgänglicher  Freund* 
Schaft.  In  der  Figur  des  Buchhändlers  Hieronymus  im  »Sebaldus 
Nothanker«  hat  Nicolai  sich  gezeichnet:  Hieronymus  »pflegte  auf 
Reisen  die  Pistolen  für  seine  Feinde  und  den  Wein  für  seine  Freunde 
bei  sich  zu  führen«^.  Nicolai  konnte  auch  ein  Freund  sein,  an  dem 
die  Freunde  durch  Jahrzehnte  einen  Halt  und  eine  Stütze  fanden. 
Lessing  darf  man  freilich  hier  nicht  nennen.  Aber  der  Freundschafts* 
bund  mit  Moses  Mendelssohn  war  auf  beiden  Seiten  echt  und  ganz, 
und  die  Freundschaft  mit  Männern  wie  Eschenburg  und  Eberhard, 
mit  Thomas  Abbt  und  Meinhard,  mit  Spalding,  Biester,  Göckingk 
und  Voß,  mit  Johannes  v.  Müller,  Campe  und  v.  Rochow  —  um  nur 
diese  zu  nennen  —  zeigt  wenigstens,  daß  er  auch  geben  konnte.  — 
Alle  diese  hier  gezeichneten  Züge,  im  Lebensgefühl  wie  in  der 
objektiven  Lebensauffassung  Nicolais  zeigen  schon  bei  flüchtiger 
Vergegenwärtigung  die  Gegensätzlichkeit  zum  Sturm  und  Drang. 
Dabei  wird  man  jenen  höchst  begabten,  lebendigen,  zur  Tiefe  stre* 
benden  Individuen  Nicolai  nur  als  Typ  gegenüberzustellen  haben, 
der  auch  bei  ungleich  reicherer  Beanlagung,  als  Nicolai  sie  hatte, 
genug  Gegensätzlichkeit  aufgewiesen  hätte.  Zeigt  Nicolais  Lebens* 
gefühl  auch  in  seiner  Jugend  eine  gewisse  Festigkeit  und  subjektive 
Sicherheit,  so  ist  für  die  Stürmer  die  tiefgehende  Problematik  ihrer 
Existenz,  der  rasche  Ablauf  ihrer  ekstatischen  Lebenserhöhungen, 
das  ziellose  Umherschweifen,  die  unbedenklich  sich  bindende  und 
trennende  Schnellkraft,  die  planlosen  Begegnungen  mit  Welt  und 
Leben  charakteristisch.  Zeigt  sich  in  der  objektiven  Lebensauffassung 
Nicolais  eine  soziale,  verpflichtende,  eingliedernde  Tendenz,  so  ver* 
herrlichen  die  Stürmer  den  Rausch  der  Verbrüderung,  die  prome* 

'  An  Lessing  10.  XI.  70  =  Lachmann^Muncker  19,  399. 
-  Sebaldus  Nothanker  I,  6.  S.  68. 

2*  19 


theische  Geste  stürmischen  Aufwallens,  fühlen  sie  den  Zusammen* 
bruch  der  von  Schmerz,  Haß  und  Hohn  Zerquälten  nach.  Es  gibt 
kaum  einen  größeren  Unterschied  als  etwa  Goethes  Art,  durch  das 
Elsaß  zu  streifen  oder  Herders  Reisetagebuch  aus  Frankreich,  und 
Nicolais  Frucht  seiner  einzigen  größeren  Reise:  die  zwölf  bändige 
»Beschreibung  einer  Reise  durch  Deutschland  und  die  Schweiz. 
Nebst  Bemerkungen  über  Gelehrsamkeit,  Industrie,  Religion  und 
Sitten«.  VC^ährend  die  Stürmer  von  einer  Frau  zur  andern  flattern, 
spielt  in  Nicolais  geistigem  Leben  nicht  einmal  die  eine  Frau  eine 
Rolle,  an  deren  Seite  er  dreißig  Jahre  glücklich  dahinlebte;  der 
Briefwechsel  mit  jener  geistreichen  Rokokodame  aber,  den  der 
Sechzigjährige  führte,  und  der  sich  in  reichlich  sentimentalen  Er* 
güssen  ergeht,  liegt  in  Nicolais  Nachlaß  wohl  eingeordnet  zwischen 
Geschäftsbriefen  und  gelehrten  Korrespondenzen  mit  der  Auf* 
Schrift  »Madame  Augspurg«.  Man  vergegenwärtige  sich  ferner  die 
Darmstädter  »Gemeinschaft  der  Heiligen«  —  und  das  männliche 
Triumvirat  Lessings,  Mendelssohns  und  Nicolais;  die  Gespenster* 
Stimmung  des  Göttinger  Kreises  —  etwa  Bürgers  Verkehr  mit  der 
gespenstergläubigen  Hofrätin  Listn^  und  die  Wirkung  der  »Le* 
nore«  auf  den  jüngeren  Stolberg  — ,  und  Nicolais  Brief  an  Iselin"^, 
in  dem  er  schreibt,  daß  auch  er  bisweilen  »einen  lebhaften  Fluß 
von  Vorstellungen  ohne  Ordnung  und  Beziehung«  empfinde,  den 
er  durch  ein  »niederschlagend  Pulver«  zu  beruhigen  suche.  Bürgers 
Lebensgang,  der  einige  äußere  Umstände  mit  demjenigen  Nicolais 
gemeinsam  hat,  verdeutlicht  vollends  den  Unterschied  des  Lebens* 
gefühles  und  der  Lebensauffassung  Nicolais  von  derjenigen  der 
Genieperiode.  Auch  Bürger  wird  auf  dem  Pädagogium  zu  Halle 
vorgebildet,  ohne  indessen  unter  dem  pietistischen  Zwang  so  zu 
leiden  wie  Nicolai;  auch  Bürger  wird,  wie  Nicolai,  kaum  daß  er 
sich  den  Wissenschaften  ganz  hingegeben  hat,  herausgerissen,  und 
in  eine  fremde  Sphäre  versetzt;  aber  während  Nicolai  ohne  Murren 
sich  in  den  veränderten  Pflichtenkreis  fügt,  und,  die  Hoffnung  auf 
ein  Gelehrtenleben  begrabend,  Buchhändler  wird,  seufzt  Bürger 
unter  dem  Druck  der  x\scherslebener  Verhältnisse  und  klagt,  daß 
er  »wie  von  Furien  entflammet  einhergetrieben  werde«,  da  er  ge* 

'  Vgl.  A.  Sauer,  »Gottfried  August  Bürgers  Gedichte«,  DNL  49.50,  S.\1II  f. 
^' 26.  XI.  68  NN. 

20 


zwungen  sei,  »die  Blüte  seiner  Jugend  in  solch  einem  Nest  zu  ver# 
geuden«  und  auf  der  begonnenen  Laufbahn  still  zu  stehen^;  aber 
kaum  aus  dieser  Lage  befreit,  stürzt  er  sich  in  Göttingen  in  tausend 
Zerstreuungen  und  vergißt  die  Qual,  die  begonnene  Laufbahn 
nicht  vollenden  zu  dürfen.  Und  während  Nicolai  die  ungeheure 
Last  der  Geschäfte  geduldig  trägt  und  eine  Korrespondenz,  die  an 
Umfang  vielleicht  nur  noch  von  derjenigen  Lavaters  übertroffen 
wird,  mit  größter  Gewissenhaftigkeit  und  Pünktlichkeit  erledigt, 
seufzt  Bürger  als  Amtmann  von  Altengleichen  »unter  der  Last  seiner 
Geschäfte  wie  ein  Galeerensklave  in  seinen  Handschellen«;  die 
dringendsten  Angelegenheiten  müssen,  wenn  er  seine  üblen  Tage 
hat.  Tage  und  Wochen  lang  der  Erledigung  harren;  Briefe  und 
Papiere  liegen  »wie  Kraut  und  Rüben«  auf  seinem  Tische^ ;  in  keiner 
strengen  Arbeitsweise  vermag  er  Befriedigung  zu  finden.  —  Und 
alle  diese  Gegensätze  gelten,  mit  gewissen  Abwandlungen,  auch 
für  die  Lenz,  Klinger  und  Wagner,  ja  für  Hamann,  den  jungen 
Herder  und  den  jungen  Goethe  im  Verhältnis  zu  Nicolais  Vitalität. 
Gegenpoliges  Lebensgefühl,  gegensätzliche  Lebensanschauung 
haben  vielfache  Widerstände  auf  beiden  Seiten  geweckt  und  genährt. 


'  Zitiert  nach  Sauer  a.  a.  O.  S.  IX. 
'  Ebenda  S.  XXIII. 


21 


ZUR  KUNSTANSCHAUUNG   NICOLAIS 

Was  wir  bei  der  Darlegung  der  wichtigsten  Elemente  von  Nicolais 
Welts  und  Lebensanschauung  erkannten,  daß  es  vergeblich  sei, 
mehr  als  den  Rahmen  zu  zeigen,  in  den  sich  das  Bild  einspannen 
läßt,  muß  bei  der  Erörterung  von  Nicolais  Kunstanschauung  noch 
schärfer  betont  werden.  Nicolai  hat  die  verschiedensten  Ansätze 
gemacht,  seine  Kunstanschauungen  in  systematischer  Form  vorzu* 
bringen,  nirgends  aber  schließt  sich  der  Kreis  seiner  Gedanken  zum 
System,  und  nur  wenige  dieser  Gedankenkomplexe  sind  in  seiner 
Stellungnahme  zu  literarischen  Erscheinungen  —  und  diese  bildet 
ja  den  eigentlichen  Gegenstand  unserer  Untersuchung  —  wirklich 
fruchtbar  geworden.  Was  Ludwig  Goldstein  in  seiner  Untersuchung 
über  Moses  Mendelssohns  Ästhetik^  erkennt,  daß  Mendelssohn 
durch  krasse  Widersprüche  in  seinen  Schriften  oft  in  Verlegenheit 
setze,  und  daß  nicht  überall  ein  Fortschritt  zu  tieferer  Erkenntnis 
zu  verzeichnen  ist,  gilt  in  weit  höherem  Maße  von  Nicolais  ästhe« 
tischen  Anschauungen.  Besteht  doch  nicht  einmal  Gewißheit  dar* 
über,  inwieweit  Nicolai  Systematiker  sein  wollte!  Zwar  hat  er  — 
abgesehen  von  der  einzigen  systematischen  Äußerung,  die  er  abge* 
schlössen  hat,  der  »Abhandlung  vom  Trauerspiel«^  —  wiederholt 
Ansätze  zu  solchen  gemacht;  so  beabsichtigte  er,  der  Abhandlung 
vom  Trauerspiel  eine  besondere  über  das  bürgerliche  Trauerspiel 
folgen  zu  lassen^  und  für  das  fünfte  Stück  der  Bibl.  d.sch.Wiss. 
eine  Abhandlung  »Von  den  Quellen  der  Künste«*  fertig  zu  machen ; 
»den  deutschen  Liebhabern  der  schönen  Künste«  wollte  er,  wie  er 
an  Chr.  L.  v.  Hagedorn  schreibt^  ein  »Lehrbuch«  in  die  Hand  ge* 
ben,  das  ihnen  zum  Leitfaden  dienen  könnte,  —  aber  diese  Pläne 

^  a.  a.  O.  S.  19. 

-  1757.  Zuerst  in  Bibl.  d.  sch.Wiss.  erschienen;  abgedruckt  bei  Minor,  DNL  72, 

S.  327  ff.,  hier  zitiert  nach  letzterem. 

'  An  Lessing  31.  VIII  1756  und  am  Schluß  der  »Abhandlung«. 

*  Brief  an  Lessing  7.  IX.  57  =  Lachmann  «Muncker  19,  111.  Vgl.  den  Titel  der 

Mendelssohnschen  Abhandlung:  »Betrachtungen  über  die  Quellen  und  Verbind 

düngen  der  schönen  Künste  und  Wissenschaften«  =  Bibl.  d.  seh.  Wiss.  I,  2. 

'  Nicolai  an  Hagedorn  20.  IV.  58.  NN.  =  Torkel  Baden,  Briefe  über  die  Kunst 

an  Hagedorn  [Leipzig  1797],  S.  240. 

22 


zerschlugen  sich.  Zwar  setzt  Nicolai  in  der  »Vorläufigen  Nach* 
rieht«  vor  dem  ersten  Stück  des  ersten  Bandes  der  Bibl.  d.  seh. 
Wiss.  auseinander,  daß  zur  »Genauigkeit  des  Geschmacks,«  welche 
ihm,  »die  höchste  Staffel  der  Blüte  der  schönen  Wissenschaften« 
ist,  theoretische  Grundlegung  derselben  notwendig  sei;  indessen 
läßt  der  programmatische  Charakter  der  »Nachricht«  diese  Äuße* 
rung  als  in  ihrem  Werte  zweifelhaft  erscheinen,  um  so  mehr,  als  er 
der  theoretischen  Grundlegung  hier  nicht  das  eigentlich  kritische 
Urteil  gegenüberstellt,  sondern  das  instinktmäßige,  das  ihm  jedoch 
sehr  fern  lag,  so  daß  der  hier  aufgestellte  Gegensatz  kein  für  sein 
Denken  eigentlich  fruchtbarer  sein  konnte.  Wichtiger  wäre  schon 
etwa  seine  Polemik  gegen  Sulzers  Satz^,  daß  man,  um  ein  Kunst* 
werk  beurteilen  zu  können,  nicht  in  der  Theorie  der  Kunst  unter* 
richtet  zu  sein  brauche,  wie  es  bei  der  Beurteilung  Wissenschaft* 
lieber  Werke  der  Fall  sei:  »Dies  ist,«  sagt  Nicolai,  »eine  Folge  aus 
dem  falschen  Satze,  daß  alles  in  den  schönen  Künsten  auf  die  Emp* 
findung  ankomme«;  er  will  die  Anschauung,  die  Sulzer  nur  auf  die 
Beurteilung  wissenschaftlicher  Leistungen  angewandt  wissen  will, 
auch  auf  die  Kunst  beziehen:  »Es  ist  eine  sehr  große  Torheit,  wenn 
man  durch  einen  Blick  alles  umwerfen  will,  was  nicht  anders  als 
durch  eine  Menge  miteinander  verbundener  Ideen  hat  können  zur 
Wirklichkeit  gebracht  werden.«  —  Indessen  stehen  solchen  die 
Notwendigkeit  ästhetischer^Fundamentierung  behauptenden  Sätzen 
andere  entgegen,  die  aller  systematischen  Grundlegung  des  kriti* 
sehen  Urteils  widersprechen.  So  verteidigt  er  die  lose  Form  seiner 
»Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  gegen  den  Einwurf  der  mangeln* 
den  systematischen  Ordnung  der  vorgetragenen  Gedanken,  und 
spöttelt  über  die  Zumutung,  »ein  artig  metaphysisch*ästhetisches 
Tractätgen«  zu  schreiben,  »worinnen  doch  wenigstens  jeder  Ab* 
schnitt  in  seine  Paragraphen  eingeteilet  wäre^;«  ja  er  sagt  ausdrück* 
lieh,  daß  seine  Absicht  nicht  war,  ein  »Lehrgebäude«  zu  liefern, 
sondern  »bloß  Gelegenheit  zur  Bestreitung  gewisser  allgemeiner 
Vorurteile  zu  geben«.  Und  gerade  gegen  Sulzer  wendet  er  ein,  daß 
er  »die  Künste  einem  theoretischen  System  unterwerfen«  wolle:  »so 

'  In  Sulzers  »Pensees  sur  l'origine  et  les  emplois  des  sciences  et  de  beaux  arts«, 
die  Nicolai  Bibl.  d.  seh.  Wiss.  I,  2,  388  bespricht. 
-  Briefe  itz.  Zust.  S.  6. 

23 


soll  man  niemals  verfahren,  sondern  vielmehr  Aestetiken  allemal 
a  posteriori  aus  praktischen  Bemerkungen  zusammensetzen'«. 
Oder  er  bemerkt,  Shaftesbury'sche  Folgerungen  aus  ästhetischen 
Grundsätzen  als  »ziemlich  seicht«  tadelnd :  »es  gehet  sehr  leicht  also, 
wann  ein  Philosoph  aus  der  Theorie  allzuweit  schließen  will-.«  Er 
macht  sich  darüber  lustig,  daß  ein  Franzose,  der  Professor  Cacault, 
in  den  wiederholten  Gesprächen  mit  Nicolai  immer  wieder  auf  die 
obersten  Prinzipien  des  kritischen  Urteils  —  allerdings  die  dogmati» 
sehen  des  französischen  Klassizismus  —  zurückgehen  will  \  wie  er  im 
Alter  über  die  intellektuelle,  zum  System  strebende  Ästhetik  ins* 
besondere  Friedrich  Schlegels,  spottet*.  So  tadelt  er  »die  Erforscher 
der  Ursachen,  was  rühren,  gefallen  oder  mißfallen  könne,«  weil  sie 
für  die  Begründung  der  Prinzipien  ihrer  Ästhetik  »die  Menschen 
alle  zusammen  in  eine  Klasse  zwingen«^;  und  in  logischer  Konse* 
quenz  dieses  Standpunktes,  der  sich  gegen  die  abstrahierende,  nor« 
mierende  Ästhetik  verwahrt,  will  er  höchstens  eine  induktiv  empi? 
risch  gewonnene  Kunsttheorie^.  »Wenn  man  die  Gedichte  der  be* 
rühmtesten  (!)  Meister  untersuchte,  und  entwickeln  wollte,  wie  sie  es 
angefangen,  um  uns  zu  gefallen,  und  zugleich  mit  Genauigkeit  zu  be* 
stimmen  suchte,  was  in  unserer  Seele  vorgeht,  wenn  uns  ein  komisches 
Heldengedicht  von  dieser  und  jener  Art  gefällt,  so  würde  man  zu 
einer  sicherenTheorie  dieser  Art  von  Gedichten  gelangen  können''.« 
So  ist  denn  auch  sein  einziger  systematischer  Beitrag  zur  x\sthetik, 
die  Abhandlung  vom  Trauerspiel,  stark  psychologisch  gerichtet. 

'  An  Chr.  L.  v.  Hagedorn  19.  I.  60  =  Torkel  Baden  S.  262. 

-  In  s.  Anmerkung  zu  s.  Übersetzung  der  Betrachtungen  Shaftesburys  »Über  das 

Gemälde  vom  Urteil  des  Hercules«  ^=  Bibl.  d.  sch.Wiss.  II,  1,  S.  37. 

^  Nicolai  an  Lessing:  »Febr.  1773«  =  LachmannsMuncker  20,  243. 

*  »Hohe  Ästhetik,  so  nennt  er  —  Gustav,  das  .Genie'  —  das  Ding,  womit  er 
über  den  Wert  der  Maler  und  Dichter  en  dernier  ressort  entscheidet,  und  uns 
belehrt,  was  uns  ausschließlich  gefallen  soll,  und  sonst  nichts  bei  Strafe  zu  mil^= 
fallen.«  Vertraute  Briefe  S.  55.  — Vgl.  auch  seinen  Spott  gegen  die  kritisch;ästhe= 
tischen  Philosophen  im  »Sempronius  Gundibert«  (S.  175),  die  in  dem  philo« 
sophischen  Reichstag  »ohne  Rücksicht  auf  die  empirischen  Poeten«  »jede  urs 
sprüngliche  Dichtart  in  ihre  ewigen  Grenzen  feststellen  wollten«. 

°  Nicolai  im  —  gemeinsam  mit  Th.  Abbt  verfaßten  —  205  ten  Literaturbrief. 

*  Dieselbe  Forderung  erhebt  Mendelssohn  gegenüber  Baumgartens  Methode 
Bibl.  d.  sch.Wiss.  III,  1.  vgl.  Braitmaier  II,  S.  144. 

■  Bibl.  d.  sch.Wiss.  IV,  1,  539. 

24 


Wenn  trotz  dieses  schwankenden  Verhaltens  Nicolais  gegenüber 
systematischer  Begründung  seiner  ästhetischen  Urteile  dennoch 
hier  der  Versuch  gemacht  wird,  die  ästhetischen  Urteile  einer  tiefer 
liegenden,  umfassenderen  Schicht  seiner  Gedankenwelt  zuzuführen, 
so  läßt  sich  dieses  Verfahren  methodisch  rechtfertigen.  Moses 
Mendelssohns  ästhetische  Anschauungen  bilden  hier  eine  will* 
kommene  Stütze,  da  seine  ästhetischen  Urteile  durchweg  mit  den? 
jenigen  Nicolais  in  Übereinstimmung  sind;  man  muß  aber  freilich 
Nicolais  Elektizismus  gerecht  werden  und  kann,  auf  die  Systemati* 
sierung  seiner  Kunstanschauungen  verzichtend,  nur  seine  Stellung* 
nähme  zu  einigen  allerdings  entscheidenden  ästhetischen  Problemen 
darlegen,  die  durch  seine  ganze  geistige  Entwicklung  durchgehen, 
wobei  man  ihre  Betontheit  und  Wirksamkeit  in  Nicolais  einzelnen 
ästhetischen  Urteilen  berücksichtigen  muß. 

Die  ästhetische  Gedankenwelt  Nicolais  ist  durch  die  Namen 
Boileau,  Batteux,  Brumoy  und  Dubos,  Shaftesbury  und  Burke, 
Breitinger,  Baumgarten,  Sulzer  und  Moses  Mendelssohn  abgesteckt. 
Eine  philosophische  Begründung  der  Kunst  hat  er  nirgends  auch 
nur  andeutungsweise  versucht.  Kunst  wird  von  ihm  schlechthin 
vorausgesetzt;  da,  wo  er  ein  wenig  tiefer  gräbt,  handelt  es  sich  für 
ihn  um  psychologische  Fragen.  Batteux'  Nachahmungstheorie 
bildet  die  Grundlage  seiner  Kunstanschauungen;  der  fundamentale 
Grundsatz  lautet:  Die  Kunst  ist  Nachahmung  der  Natur,  aber  nicht 
die  Natur  selbst^.  Demnach  würde  die  theoretische  Bestimmung 
dieser  Differenz  zwischen  Urbild  und  Abbild  die  Theorie  der  Kunst 
bedeuten;  statt  dieser  theoretischen  Bestimmung  indessen  tritt  bei 
Mendelssohn,  und  noch  mehr  bei  Nicolai,  die  psychologische  Frage* 
Stellung  ein,  die  auf  den  Grund  des  Vergnügens  an  künstlerischen 
Werken  gerichtet  ist  und  einzig  die  psychische  Differenz  zwischen 
der  Reaktion  auf  das  »natürliche«  Urbild  und  derjenigen  auf  das 
künstlerische  Abbild  zu  ermitteln  strebt.  Hier  ist  Mendelssohns 
Illusionstheorie,  deren  Bedeutung  für  die  Mendelssohnsche 

'  Auf  dem  Boden  dieses  Grundsatzes  steht  Nicolai  mit  voller  Bewußtheit  z.  B. 
in  der  Polemik  am  Beginn  des  239.  Literaturbriefes.  Ergibt  dort  dem  anerkannten 
BatteuxschenSatz  die  Mendelssohnsche  Fassung,  daß  es  sich  bei  der  Nachahmung 
nicht  um  »schöne  Gegenstände  in  der  Natur«,  sondern  um  schöne  Nachahmung 
handele. 

25 


Ästhetik  zuerst  Ludwig  Goldstein  erkannt  hatS  eine  Lösung,  der 
sich  auch  Nicolai  angeschlossen  hat,  ja  anschließen  mußte.  In  einer 
seiner  ausführlichen  Anmerkungen,  die  Nicolai  seiner  Übersetzung 
der  Shaftesburyschen  Abhandlung  »Über  das  Gemälde  vom  Urteil 
des  Hercules«  beigefügt  hat^,  verteidigt  er  die  Verwendung  der 
Allegorie  in  Gemälden  gegen  Shaftesbury  mit  dem  Nachweis,  daß 
die  »Illusion  der  Malerei«,  die  Shaftesbury  gefordert  hatte,  durch 
Allegorien  nicht  gestört  werde,  und  daß  sie  daher  dem  Kunstwerk 
als  solchem  nicht  schädlich  seien;  und  nur,  wenn  er  sich  auf  den 
Boden  der  Mendelssohnschen  Illusionstheorie  stellte,  konnte  Ni* 
colai  das  Problem  des  spezifischen  Kunstgenusses  lösen:  denn  ist 
die  Erhöhung  des  Realitätsbewußtseins  durch  Affekte,  die  Erregung 
der  Leidenschaften  an  sich,  ohne  Hinblick  auf  die  Wirkungen  dieser 
Erregung,  die  er  in  seiner  »Abhandlung  vom  Trau  erspiel  «^  als  Sinn 
der  Kunst  (d,  h.  hier  der  Tragödie)  hinstellte,  nicht  in  höherem 
Maße  auch  als  Reaktion  auf  Naturobjekte  oder  *begebenheiten 
denkbar?  Einzig,  wenn  die  Erregung  der  Leidenschaften  von  den 
oberen  Seelenkräften ^  als  ästhetische  Illusion  erkannt  wird*,  ist  eine 
besondere  Kunstwirkung  von  der  Wirkung  , natürlicher*  Eindrücke 
unterscheidbar  —  und  an  der  Tatsache  dieser  besonderen  Wirkung 
hing,  wie  wir  uns  vergegenwärtigten,  Nicolais  Begründung  der 
Kunst  überhaupt.  —  Stand  aber  Nicolai  auf  dem  Boden  der  Mendels* 

*  L.  Goldstein  a.  a.  O.  S.  124  ff.  Auch  R.  Petsch  in  seiner  Einleitung  zu  Bd.  121 
der  Philosophischen  Bibliothek  sieht  in  der  Illusionsästhetik  Mendelssohns  den 
Kern  seiner  ästhetischen  Anschauungen. 

-  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  II,  1,  44;  den  Plan  einer  vollständigen 
Shaftesbury=Übersetzung  in  Verbindung  mit  Mendelssohn,  mit  ausführlichen  Er^ 
läuterungen  und  Zusätzen  bezeugt  Nicolai  im  Brief  an  Gerstenberg  vom  21.111. 
67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  52  und  im  Ehrengedächtnis  für  Th.  Abbt,  S.  16. 

*  Nicolai  akzeptiert  diese  ihm  zum  mindesten  durch  Mendelssohn  geläufige 
Unterscheidung  zwischen  den  unteren  und  oberen  Seelenkräften:  Bibliothek 
der  schönen  Wissenschaften  1,  2,  388  (gelegentlich  der  Rezension  von  Sulzers 
Pensees  sur  l'origine  et  les  emplois  .  .  .). 

*  Vgl.  §  12  der  »Herrschaft  über  die  Neigungen«.  Schriften  ed.  G.  B.  Mendels* 
söhn  IV,  1,  S.  39 ff.  Zuerst  aus  Nicolais  Nachlaß,  mit  Anmerkungen  von  Nicolais 
Hand  versehen,  von  Göckingk  fS.  175 ff.)  veröffentlicht.  »Soll  eine  Nachahmung 
schön  sein,  so  muß  sie  uns  ästhetisch  illudieren,  die  oberen  Seelenkräfte  aber 
müssen  überzeugt  sein,  daß  es  eine  Nachahmung,  und  nicht  die  Natur  selbst 
sei.« 

26 


sohnschen  Illusionstheorie,  so  ergibt  sich  daraus  nach  zwei  Seiten 
hin  eine  eigentümliche  formale  Beschaffenheit  seiner  Kunstanschau= 
ungen.  Einmal  die  Behauptung  und  folgerechte  Vertretung  eines 
Realismus,  der  zwischen  den  Ansprüchen  des  Naturalismus  und 
phantastischer,  oder  im  Ausdruck  der  Zeit,  , imaginativer'  Kunst 
nicht  vermittelnd,  sondern  nach  beiden  Richtungen  abwehrend,  die 
Mitte  hielt;  andererseits  die  Begründung  einer  Auffassung,  die  das 
Kunstwerk  nicht  als  fertiges,  unabänderliches,  auf  sich  beruhendes 
Gebilde  hinnehmen  will,  sondern  als  etwas  Unverbindliches,  leicht 
in  fremde  Beziehungen  zu  Versetzendes;  die  das  Bestimmbare,  das 
Genetische  des  Kunstwerks  ins  Auge  faßte  und  sich  vom  Werk  zum 
Künstler  wandte.  Mendelssohn  hat  selbst  diese  Folgerungen  aus 
seiner  Illusionstheorie  gezogen;  diese  letztere  im  13.  Paragraphen 
der  »Herrschaft  über  die  Neigungen«  \  wo  er  folgert,  daß  nicht  die 
Nachahmung  an  sich  uns  vergnüge,  sondern  »die  Geschicklichkeit 
des  Künstlers,  der  sie  zu  treffen  gewußt  hat«;  jene  erstere  hat  Lud= 
wig  Goldstein  nach  Sätzen  der  Mendelssohnschen  »Rhapsodie«- 
treffend  zusammengefaßt:  »Alle  Kunst,  welche  die  Natur  nachahmt, 
soll  das  möglichst  getreu  tun,  dabei  aber  doch  die  ihr  gesteckten 
Grenzen  nie  überschreiten,  vielmehr  den  Schein  materieller  Wesen* 
heit,  den  ihre  Werke  hervorrufen,  auch  selbst  aufrichtig  zerstören. 
Ästhetische  Illusion  ist  ihm  nicht  grobe  Sinnestäuschung,  die  Nach* 
ahmung  als  Natur  vorspiegelt,  sondern . . .  die  intuitive  Überzeugung 
von  der  größtmöglichen  Ähnlichkeit  zwischen  Vorbild  und  Abbild, 
ohne  daß  zur  Erreichung  dieses  einen  Zieles  der  nachahmenden 
Kunst  andere  Mittel  angewandt  worden  wären,  als  die  ihr  eigentüm* 
liehen  und  erlaubten.«  — 

Mendelssohn  wehrt  sich  überall,  wo  er  die  Nachahmungstheorie 
vertritt,  entschieden  gegen  die  Ansprüche  des  Naturalismus. 
X'C'enn  er  in  dem  Aufsatz  »Über  die  Hauptgrundsätze  der  schönen 
Künste  und  Wissenschaften«  »das  Wesen  der  schönen  Künste  und 
Wissenschaften«  als  »künstliche  sinnlich  vollkommene  Vorstellung« 
oder  als  eine  »durch  die  Kunst  vorgestellte  sinnliche  Vollkommen* 
heit«  definiert,  so  bemerkt  er  gleich  ausdrücklich:  »Die  Vorstellung 

'  Schriften  IW^. 

-  »Rhapsodie  oder  Zusätze  zu  den  Briefen  über  die  Empfindungen«  1761   ers 

schienen.  L.  Goldstein  S.  133. 

27 


durch  die  Kunst  kann  sinnlich  vollkommen  sein,  wenn  auch  der 
Gegenstand  derselben  in  der  Natur  weder  gut,  noch  schön  sein 
würde ;«  und  in  der  für  seine  (wie  für  Nicolais)  ästhetischen  Grund* 
sätze  so  außerordentlich  wichtigen  Besprechung  von  Rousseaus 
»Nouvelle  Heloise«  (im  166.70.  Literaturbrief)  sagt  er  noch  aus* 
drücklicher:  »In  der  Natur  kann  vieles  sein,  das  in  der  Nachahmung 
unnatürlich  ist.«  Diese  Abwehr  des  Naturalismus  ist  auch  ein  we= 
sentliches  Kennzeichen  der  Nicolaischen  Kunstanschauung,  die  ja 
gleichfalls  auf  dem  Boden  der  Nachahmungstheorie  steht.  Er  unter* 
scheidet,  wiederum  in  einer  seiner  Anmerkungen  zu  der  Shaftes* 
bury*Übersetzung-,  ausdrücklich  eine  poetische  Wahrscheinlichkeit 
im  Gegensatz  zur  »historischen«,  d.  h.  ereignismäßig*natürlichen. 
So  tadelt  er  die  Reiseerzählung  »Hercynia«  von  Zachariae,  weil 
darin  die  dargestellte  Reise  »so  historisch  erzählet  wird,  als  sie 
vorgegangen  sein  mag,  fast  ohne  die  geringste  poetische  Anlage«^. 
Und  in  der  —  gemeinschaftlich  mit  Mendelssohn  verfaßten  — 
ausführlichen  Besprechung  von  Jacobis  »Winterreise«  wird  der 
Naturalismus  zwar  nicht  theoretisch  abgewehrt,  aber  seine  charak* 
teristischen  Ausprägungen  als  unkünstlerisch  dargestellt  in  dem 
Satze*:  »Der  Mann  von  reifer  Vernunft  und  tiefer  Kenntnis  des 
menschlichen  Herzens  wird  die  Natur  nehmen  wie  sie  ist,  in 
ihrer  großen  Vermischung  von  Gutem  und  Bösem,  von  Schö* 
nem  und  Häßlichem;  aber  er  wird  in  die  Tiefe  des  menschlichen 
Herzens  eindringen  und  die  sanften  Empfindungen  der  Menschlich« 
keit  aus  den  geheimsten  Winkeln  hervorsuchen,  wo  sie  zuweilen 
unter  dem  Scheine  des  Niedrigen  und  Unanständigen  verborgen 
liegt.« 

Die  Abwehr  nach  der  anderen  Seite,  der  phantastischen,  ,imagi* 
nativen'  Kunst,  die  ihre  Berechtigung  ebenfalls  aus  der  Illusions* 
theorie  herleiten  könnte,  in  dem  sie  die  Imagination  als  entschei* 
dendes  objektives  wie  subjektives  Unterscheidungsmerkmal  der 
Nachahmung  von  der  nachgeahmten  Natur  setzt,  ist  für  Nicolai 
ebenso  notwendig.  »Der  Poet  ist  niemals  berechtigt,  dem  Hange 

'  Zuerst  erschienen:  Bibl.  d.  sch.Wiss.  II,  1. 
•  ^  Bibl.d.  sch.Wiss.  II,  1.  S.  38. 
■'•  A  D  Bibl.  IV,  1,  218. 
'  A  D  Bibl.  XI,  2,  S.  16  17. 

28 


einer  wilden  Hitze  zu  folgen,«  sagt  Nicolai  im  7.  der  »Briefe  über 
den  itzigen  Zustand  .  .  .«^;  »die  ganze  Natur  ist  reich  und  uner* 
schöpflich  genug  (den  Künstlern)  Stoff  zu  ihrer  Erfindung  zu  ge* 
ben;  wozu  ist  es  denn  nötig,  eine  Sache  mit  lauter  Hirngespinsten 
zu  verzieren?«  fragt  er  im  47.  Literaturbrief;  es  ist  der  Standpunkt, 
den  Lessing  mit  psychologischer  Wendung  im  8.  Literaturbrief 
formuliert  hat:  »Sind  Ausschweifungen  der  Einbildungskraft  Emp* 
findungen?  Wo  diese  so  geschäftig  ist,  da  ist  ganz  gewiß  das  Herz 
leer,  kalt.«  So  verurteilt  Nicolai  die  »Schöpfung  der  Hölle«  von 
Zachariae,  weil  sie  reine  Imagination  sein  wolle"-;  so  wendet  er  sich 
im  184.  Literaturbrief  dagegen,  daß  Dichter,  ihrem  religiösen  Ge* 
fühl  freien  Lauf  lassend,  aus  reiner  Phantasie  »auf  Gottes  Rech* 
nung  Sachen  erdichten«.  Und  in  Überlegungen  über  die  Imagi* 
nation,  die  Göckingk  aus  Nicolais  Nachlaß  veröffentlicht  hat^,  er* 
kennt  er,  »daß  die  menschliche  Imagination  überaus  dürftig  ist, 
wenn  sie  nicht  von  Gegenständen  der  wirklichen  Natur  ausgeht«; 
und  der  Satz  »man  weiß,  was  für  Sprünge  die  Einbildungskraft 
tut,  wenn  sie  einmal  anfängt,  mit  dem  Verstände  davon  zu  laufen*,« 
ergänzt  diese  Betrachtung  nach  der  anderen  Seite.  Diese  Abwehr 
verschärft  sich  mit  zunehmendem  Alter,  bis  er  an  Tieck  schreiben 
kann:  »Das  Reich  der  exzentrischen  Imagination  ist  einförmiger 
als  es  dem  Faulen  scheint,  der  gern  selbstgefäUig  darin  herum* 
spazieret;  das  Reich  der  Natur  ist  höchst  mannigfaltig,  aber  es  ist 
nicht  so  leicht  zu  erforschen;  wer  es  aber  zu  erforschen  und  inte* 
ressant  (1)  darzustellen  weiß,  findet  Wahrheit  und  Leben,  da  jener 
bloß  Träume  findet^.« 

Zwischen  diesen  beiden  Extremen,  der  imaginativen  Kunst  und 
dem  Naturalismus,  liegt  das  eigentliche  Feld  von  Nicolais  Kunst* 
anschauungen  ;  er  sucht  jedoch  nicht  bewußt  zu  vermitteln,  sondern 
betrachtet  vielmehr  seine  Anschauungsweise  als  den  Ausgangs* 
punkt,  von  dem  aus  durch  vernunftwidrige  Übertreibung  jene  Ex* 
treme  erreicht  werden  können.  Wie  Theokies  im  dritten  der  Men* 

'  S.  66. 

'  Litbrief  184/5. 

'  Göckingk  S.  111. 

^  ADBibl.  26,  1,272. 

'  An  Tieck  19.  IL  97,  ed.  Holtei  S.  59. 

29 


delssohnschen  »Briefe  über  die  Empfindungen«  (1755)^  ausein* 
andersetzt,  daß  weder  ein  völlig  deutlicher,  noch  ein  völlig  dunkler 
Begriff  sich  mit  dem  Gefühl  der  Schönheit  verträgt,  und  daß  zwi* 
sehen  den  Grenzen  der  Klarheit  also  alle  Begriffe  der  Schönheit 
eingeschlossen  sein  müssen,  so  hat  auch  Nicolais  Kunstanschauung 
sich  einzig  zwischen  diesen  Grenzen  bewegt.  »Meine  Art  zu  den* 
ken,«  heißt  es  in  den  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  (Nr.  13) 
»ist  nicht  sowohl  Mittelmäßigkeit,  als  vielmehr  die  Mittelstraße 
zwischen  den  Ausschweifungen,  die  zum  Schwulst  und  Unsinn 
leiten,  und  der  Furchtsamkeit,  die  uns  niemals  erlaubet,  uns  über 
unsere  alten  Vorurteile  zu  erheben.«  Die  richtige  Beobachtung  des 
empirischen  Lebens  führt  diese  Mittelstraße.  Eine  solche  Beobach* 
tung  aber  verlangt  er  vom  Dichter;  die  Wahl  des  Stoffes,  wie  die 
Darstellungsweise  soll  diesem  Grundsatz  entsprechen.  Denn  die 
Poetik  der  Aufklärung  verbindet,  wenn  sie  die  Nachahmung  der 
Natur  fordert,  mit  dem  Begriff  »Natur«  keine  sinnlich* plastische 
Vorstellung,  sondern  die  abstrakte  Vorstellung  des  »Natürlichen'-; 
das  subjektiv  Natürliche  mit  dem  objektiven  Naturleben  zu  ver» 
binden,  war  der  Sinn  ihrer  Forderungen  an  den  Künstler,  Diese 
Forderung  erhielt  bei  Nicolai  eine  spezielle  Färbung  dadurch,  daß 
er  den  Deutschen  eine  allgemeine  UnvoUkommenheit  in  der  Beob*  • 
achtung,  ja  in  der  Kenntnis  des  objektiven  Naturlebens  vorwerfen 
muß.  Immer  wieder  weist  er  darauf  hin,  daß  die  deutschen  Dichter 
»aus  dem  Innern  ihres  Kabinetts«  schreiben.  »\X^lr  Deutsche  sind 
Buchmenschen,  eine  schreibende  Nation,«  klagt  er  einmaP;  »alle 
Empfindungen  gehen  für  uns  verloren  oder  werden  nur  mangelhaft 
ausgedrückt,  die  nicht  können  gelesen  werden.«  »Weder  unsere 
Wissenschaft  .  .  .  noch  unsere  Poesie  entspricht  unserer  Welt.« 
Demgegenüber  betont  er,  seit  dem  7.  seiner  »Briefe  über  den  itzigen 
Zustand«  die  Notwendigkeit,  das  reale  Leben  zur  Grundlage  des 
dichterischen  Ausdrucks  zu  machen,  die  »Kenntnis  der  Welt  und 
des  menschlichen  Herzens«  als  Vorbedingung  für  alles  ersprieß* 

^  Auf  die  »vortrefflichen  Briefe  über  die  Empfindungen«  beruft  sich  Nicolai 

wiederholt  in  der  »Abhandlung  vom  Trauerspiel«. 

-  Vgl.  Erwin  Kircher,  »Volkslied  und  Volkspoesie  in  der  Sturm=  und  Drangzeit 

=  Zeitschrift  für  deutsche  Wortforschung  (1903)  4,  S.  14  u.  S.  17. 

'  Göckingk  S.  128  f. 

30 


liehe  dichterische  Schaffen \  zumal  wenn  der  Dichter  originale  Ge* 
stalten  prägen  wolle  ■'.  Dementsprechend  soll  auch  die  Darstellungs« 
weise  realistisch  sein,  d.  h.  sich  nur  solcher  Mittel  bedienen,  die 
durch  den  StofiF  gerechtfertigt  sind'^.  — 

An  der  Stellungnahme  zu  einem  besonderen  Problem,  der  Frage 
nach  dem  Verhältnis  von  Kunst  und  Moral,  die  innerhalb  der 
Nicolaischen  Kunstanschauung  besonders  einheitlich  gelöst  wor* 
den  ist,  erweist  sich  dieser  Realismus  wirkungsvoll. 

Nicolais  Stellungnahme  ist  auch  in  dieser  Frage  von  derjenigen 
Moses  Mendelssohns  stark  abhängig.  Zwar  scheint  es,  als  ob  er  in 
der  »Abhandlung  vom  Trauerspiel«  gegen  Mendelssohns  in  den 
»Briefen  über  die  Empfindungen«  geäußerte  Ansichten  über  das 
Verhältnis  von  Kunst  und  Moral  polemisiere;  in  Wahrheit  sucht 
er  dort  nur  den  Anschluß  an  Mendelssohns  Ansichten:  Mendels* 
sohns  Dualismus  der  Moralität  des  Lebens  und  der  Bühne,  —  daß 
das  moralisch  Gute  nicht  ohne  weiteres  auch  theatralisch  gut  sei  — 
wird  von  Nicolai  hier  seiner  Allgemeingültigkeit  entkleidet  und 
im  übrigen  dahin  erläutert,  daß  die  der  wahren  Sittlichkeit  wider* 
streitenden  theatralischen  Handlungen  gewissermaßen  durch  »die 
starke  Bewegung,  worin  sich  die  handelnde  Person  befindet,  ent* 
schuldigt  werden«.  Gehöre  es  auch  nicht  zum  Zweck  der  Tragödie, 
»die  Tugend  als  belohnt  und  das  Laster  als  bestraft«  darzustellen, 
so  werde  doch  ihr  eigentlicher  Zweck,  die  Erregung  der  Leiden* 
Schäften,  nur  unvollkommen  erreicht,  wenn  ein  Widerspruch  zwi« 
sehen  unserer  Anteilnahme  und  der  erhofften  Rührung  bestünde, 
vvas  z.  B.  der  Fall  wäre,  wenn  der  Tugendhafte  unterginge  usw. 
Zwar  ist  also  der  eigentliche  Zweck  der  Tragödie,  den  Nicolai  mit 
größtem  Nachdruck  betont,  einzig  die  Erregung  der  Leidenschaften 
an  sich,  ohne  die  Bewirkung  einer  irgendwie  verstandenen  »Reini* 
gung«  von  den  vorgestellten  Leidenschaften  —  es  sei  nun  die  Reini* 
gung^n  den  dargestellten  Personen  oder  im  Zuschauer;  indessen 
setzt  er  die  Übereinstimmung  dieses  wahren  Zweckes  der  Tragödie 
mit  den  Ansprüchen  der  wahren  Sittlichkeit  voraus;  denn  die  Wir* 
kung,  welche  die  Erregung  der  Leidenschaften  hervorbringen  soll, 

■  AD  Bibl.  ]4,  1,214. 

-  Vgl.  d.  224.  Literaturbrief. 

'  Vgl.  Briefe  itz.  Zust.  Nr.  7,  S.  58  u.  S.  66. 

31 


die  Erhöhung  unseres  ReaHtätsbewußtseins,  wird  durch  den  Wider* 
streit  von  poetischer  und  wahrer  Sittlichkeit  aufgehob(5n  oder  doch 
erhebHch  beeinträchtigt.  Auch  hier  also  eine  Stellungnahme,  die 
zwei  Extremen  die  Mitte  hält:  den  Ansprüchen  einer  Kunst,  die 
den  Menschen  einzig  als  leidenschaftlich  bewegten  oder  leiden* 
schaftlichen  Beweger  sieht,  —  wie  es  die  Dramen  des  Sturms  und 
Drangs  tun  —  und  den  rein  rationalistischen  Forderungen  gegen* 
über,  welche  die  Leidenschaften  des  Menschen  durch  die  Gesetze 
der  Moral  besiegt  sehen  wollen,  —  wie  etwa  Sulzer,  dessen  Betrach* 
tungsweise  er  im  14.  seiner  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  ab* 
lehnt  — vertritt  Nicolai  einen  »realistischen«  Standpunkt;  das  Kunst* 
werk,  das  er  meint,  bedeutet  eine,  durch  die  Kunst  des  Dichters^ 
herbeigeführte  Ausgleichung  zwischen  dem  leidenschaftlichen 
Drang  des  Menschen  und  seiner  Unterwerfung  unter  die  Moral. 
In  diesem  Kunstwerk  fallen  Kunst  und  Moral  zusammen:  »Unter 
dem  Moralischen  verstehen  wir  alle  vernünftige  Schilderungen 
der  menschlichen  Leidenschaften,«  konnte  der  Übersetzer  mit 
Shaftesbury  sagen  ^,  dieses  Kunstwerk  erreicht  den  Zweck  der  un* 
getrübten  Erregung  der  Leidenschaften  am  vollkommensten,  da 
hier,  um  mit  Mendelssohn  zu  sprechen,  die  Empfindungen  der 
oberen  und  der  niederen  Seelenvermögen  zusammenfallen.  So  ist 
für  Nicolai  die  Schaubühne  keine  moralische  Anstalt  —  aber  auch 
keine  um  die  Moral  ganz  unbekümmerte.  »Die  Grille,  daß  die 
Schaubühne  eine  Sittenschule  sei,«  sagt  er  im  201.  Literaturbrief, 
»wird  alle  Tage  durch  die  Erfahrung  widerlegt;  wann  sie  es  wäre, 
so  müßten  die  Stücke,  welche  sehr  moralisch  sind,  auch  die  besten 
Stücke  sein.  Es  ist  wahr,  man  fordert  mit  Recht  von  der  Schaubühne, 
daß  sie  gesittet  sei;  das  ist,  daß  sie  den  guten  Sitten  nicht  hinder* 
lieh  sei,  sondern  vielmehr  dieselben,  wo  es  die  Gelegenheit  zulasset, 
befördere;  sonst  beruhet  die  Anordnung  eines  Schauspiels  auf  Re* 
geln,  die  mit  der  Sittenlehre  nicht  das  geringste  gemein  haben ^. 

'  Das  betont  auch  Thomas  Abbt  im  231.  Literaturbrief  (S.  258). 

-  Nicolais  Übersetzung  von  Shaftesbury  erwähnter  Abhandlung.  Bibl.  d.  seh. 

Wiss.  II,  1,  S.42. 

■'  Vgl.  hierzu  Briefe  über  den  itzigen  Zustand  Nr.  15,  S.  119,  und  s.  Brief  an 

Lessing  v.  7.  IV.  72  (=  Lachmann^Muncker  20,  157 f.),  wo  er  sich  darüber  lustig 

macht,  daß  einige  Kunstrichter  sich  beschweren,  in  der  »Emilia  Galotti«  sei 

32 


Noch  klarer  formuliert  er  seinen  Standpunkt  Herder  gegenüber^: 
»Wenn  in  unsern  zivilisierten  und  durch  systematische  Wissen* 
Schäften  aufgeklärten  Zeiten  die  Poesie  nur  bloß  eine  erlaubte  Er? 
götzung  ist,  so  verliert  sie  dennoch  nicht  allen  moralischen  Nutzen, 
wenn  sie  auch  nicht  geradezu  die  Moral  predigt.  Jede  Entwick* 
lung  von  Geisteskräften,  jede  Zurückrufung  von  rauhern 
und  kindischen  Vergnügungen  zu  solchen,  die  einer  senti* 
mentalen  Wendung  fähig  sein  (sie),  jede  vermehrte  Emp* 
findsamkeit,  hat  einen  moralischen  Nutzen.«  Hier  zeigt 
sich  deutlich,  daß  er  keine  moralische,  sondern  eine  gesittete  Kunst 
wünscht;  daß  die  Erregung  der  Leidenschaften  weder  Selbstzweck 
ist,  noch  zur  unmittelbaren  Hervorbringung  moralischerWirkungen 
dienen  soll;  vielmehr  dient  sie  einer  Bereicherung,  Erweiterung  und 
Veredlung  des  geistigen  Lebens.  — 

Es  wurde  oben  schon  angedeutet,  daß  aus  dem  Standpunkt  der 
Illusionsästhetik,  gemäß  Mendelssohns  eigener  Folgerung,  sich  noch 
nach  einer  anderen  Seite  hin  ein  bestimmter  formaler  Zug  der  Nico* 
laischen  Kunstanschauung  logisch  herleiten  läßt;  ein  kausaler  Zu* 
sammenhang  läßt  sich  freilich  auch  hier  nicht  nachweisen.  Es  handelt 
sich  hier  um  diejenige  Richtung  seiner  prinzipiellen  Anschauungen 
über  die  Kunst,  die  Mendelssohn  dahin  aussprach,  daß  nicht  die 
Nachahmung  an  sich  uns  vergnüge,  sondern  die  Geschicklichkeit 
des  Künstlers,  der  sie  zu  treffen  weiß.  So  wird  der  Schwerpunkt  des 
Anschauungskernes  vom  Kunstwerk  fortgerückt;  überall  wird  das 
Bestimmbare,  das  Genetische  ins  Auge  gefaßt,  nicht  das  Ruhende, 
Fertige,  Abgeschlossene.  Nicht  das  Werk  an  sich,  sondern  ,der 
Künstler  und  sein  Werk'  ist  das  Thema  von  Nicolais  Überlegungen 
über  die  Theorie  der  Kunst.  Es  handelt  sich  für  den  Theoretiker 
Nicolai  nicht  mehr  wie  etwa  für  Gottsched  um  die  Maßstäbe,  mit 
denen  mehr  oder  minder  schematisch  die  Grenzen  der  Kunst  ge« 
messen  werden  können,  sondern  um  die  Theorie  der  dichterischen 
Produktion.  Mit  dieser  Wendung  seiner  Ästhetik  stand  Nicolai  frei* 
lieh  nicht  allein;  sie  erscheint  vielmehr  als  das  eigentliche,  bezeich* 
nendste  Moment  der  Zeitströmung  im  engeren  Sinne,  die  Nicolai 

die    poetische    Gerechtigkeit    zu    kurz    gekommen,    weil    Marinelh    nicht    be= 

straft  sei. 

1  Nicolai  an  Herder  21.  III.  72  =  O.  Hoflfmann  S.  74. 

3  Sommer  Feld,  Friedlich  Nicolai  33 


vertrat;  das  Erbe  der  Schweizer,  Baumgartens  und  J.E.Schlegels, 
wird  von  Mendelssohn  und  Nicolai  höchst  fruchtbringend  ver« 
waltet^. 

Bestimmte  Gedankenkomplexe,  durch  die  öffentliche  Diskussion 
mit  dem  —  gerade  auf  die  stark  journalistisch  veranlagten  »Berliner« 
einwirkenden  —  Reiz  der  Aktualität  ausgestattet,  haben  diese  Wen» 
düng  zudem  verstärkt.  Sie  traten  losgelöst  aus  einer  umfassenden 
Kunstlehre  als  selbständige  Probleme  an  den  unsystematischen  Ni= 
colai  heran.  Der  Originalgedanke  und  der  Geniegedanke, 
durch  Youngs  Cbnjectures  on  Original  Composition  (1759)^  in  ein 
neues,  in  Zukunft  fruchttragendes  Stadium  getreten,  wurde  bald 
allgemein  aufgegriffen,  und  die  Auseinandersetzung  mit  diesen  Ge* 
danken  hat  Nicolai  so  sehr  in  Anspruch  genommen,  daß  alle  anderen 
Blickrichtungen  für  ihn  zeitweilig  verdeckt  waren. 

Die  Auseinandersetzung  Nicolais  mit  diesen  Gedanken  mußte 
um  so  intensiver  sein,  als  er  selbst  in  den  »Briefen  über  den  itzigen 
Zustand«  sie  mit  achtungswertem  Verdienst  vier  Jahre  vor  Young 
vertreten  hatte.  »Könnten  Leute,  die  nur  einen  Funken  des  göttlichen 
Feuers  haben,  das  in  einem  Dichter  lodern  soll,  so  viel  matte  und 
prosengleiche  Reime,  so  viel  kalte  und  nichts  bedeutende  Prose  her* 
fürbringen,  als  wir  von  allen  Seiten  her  um  uns  sehen  ?  DasGenie, 
die  vivida  vis  animi,  ist  die  einzige  Tür  zu  dem  Vortrefflichen 
in  den  schönen  Wissenschaften;  Gelehrsamkeit  und  x\rbeitsamkeit, 
mit  der  unsere  schlechten  Schriftsteller  dasselbe  ersetzen  wollen, 
dienen  nur  den  Mangel  desselben  zu  verraten;«^  in  diesem  Satze  ist 
das  Problem  des  Geniegedankens  ausgesprochen  und  anscheinend 
im  Sinne  Youngs  gelöst:  Das  Genie  wird  als  die  ursprüngliche  An* 
läge  gesetzt,  deren  der  große  Künstler  bedürfe,  und  ohne  die  er  trotz 
aller  Bemühungen  nur  Mittelmäßiges  leisten  wird.  In  einem  anschau* 
liehen  Bilde  umschreibt  er  die  Bedeutung  einer  ursprünglichen  na* 
türlichen  Anlage:  »Es  gehet  dem  Herrn  Prof.  (Gottsched)  mit  den 
Deutschen,  wie  der  Flenne,  die  junge  Entchen  ausgebrütet  hatte; 

^  Vgl.  E.  Braitmaier  I,   35  und  II,   188.  Diese  psychologische  Wendung  in  der 

Kunsttheorie  der  Zeit  hebt  auch  R.  Unger,  Hamann  und  die  Aufklärung,  S.  95ff., 

insbesondere  S.  100  hervor. 

'  Vgl.  Literaturbrief  172. 

'  Brief,  itz.  Zust.  Nr.  18.  S.  146. 

34 


sie  fliehen  der  Stiefmutter*Stimme . . .  und  wagen  sich  ohne  Bedenken 
in  die  Wellen,  zwischen  denen  der  Herr  Prof.  zu  ertrinken  befürchtet; 
nun  kann  er  sich  nicht  enthalten,  aus  patriotischem  Eifer  wider  diese 
Kühnheit  zu  rufen  —  und  dieser  Eifer  verhindert  ihn  zu  bemerken, 
daß  die  Natur  diesen  Wagehälsen  das  verliehen  hat,  was 
sie  ihm  zu  versagen  für  gut  befunden  hat\«  Indessen  stehen 
diese  Sätze  allein,  und  sind  von  Nicolai  später  sehr  eingeschränkt 
worden ;  die  Gegenprobe,  daß  das  Genie  allein,  ohne  jede  Schulung 
den  Künstler  zu  großen  Leistungen  begäbe,  vertrugen  sie  wohl 
nicht.  Diese  Ergänzung  ist  es  besonders,  die  Dubos  in  den  von 
Nicolai  in  der  »Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften«  -  übersetzten 
»Reflexions  sur  la  Poesie  et  sur  la  Peinture«  betont.  »Das  Genie 
gleichet  einer  Pflanze,  welche  sozusagen  von  selbst  hervorkeimet; 
soll  sie  aber  gute  und  viele  Früchte  tragen,  so  muß  sie  sorgfältig 
gewartet  werden.  Das  glücklichste  Genie  kann  nicht  anders  als  durch 
eine  vieljährige  Bemühung  vollkommen  werden,«  heißt  es  da;  das 
Genie  müsse  sich  am  Stoffe  bilden;  freilich  könne  nur  das  Genie 
sich  des  Stoffes  eben  auf  die  Weise  bemächtigen,  die  es  zu  vortreff= 
liehen  Leistungen  befähige.  Es  ist  also  eine  Wechselwirkung  von 
natürlicher  Anlage  und  schulmäßiger  Bildung  notwendig.  Aber  wie 
eng  erscheintDubos' Geniebegriff  gegenüber  dem  Hamann^Herder* 
sehen,  von  wie  ganz  anderer  Art,  da  er  im  Menschen  nicht  als  wir* 
kende  Kraft  auftritt,  sondern  nur  als  eine  Fähigkeit,  die  demgemäß 
auch  nur  auf  ein  Gebiet  beschränkt  bleibt!  Wie  viel  fruchtbringen* 
der  war  deren  philosophisch^religiöse  Begründung  als  Dubos'  phy* 
siologische!  Nicolai  aber  scheint  seinen  Geniebegriff  an  Dubos  re* 
vidiert  zu  haben,  oder  die  oben  erwähnte  Bezeichnung  des  Genies 
als  der  »vivida  vis  animi«  war  eben  nur  eine  Floskel  —  eine  innere 
Wandlung  ist  hier  kaum  anzunehmen ;  denn  nun  vertritt  er  einen 
Standpunkt,  der  wohl  praktisch  gelegentlich  weitherziger  ist  als  der* 
jenige  Dubos',  aber  stets  in  dessen  Geist  die  Wechselwirkung  von 

'  In  Brief,  itz.  Zust.  Nr.  2,  S.  11.  Vgl.  auch  Sempronius  Gundibert  S.  323:  »Mit 
der  Philosophie  ist  es  ebenso  beschaffen,  wie  mit  der  Poesie.  Man  muß  dazu 
geboren  sein,  und  ein  mittelmäl^iger  Philosoph  ist  gar  kein  Philosoph,  so  wie 
ein  mittelmäßiger  Poet  gar  kein  Poet  ist.« 

^  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  111,  1.  Bes.  Abschnitt  5—7:  »von  der 
Beschaffenheit  des  Genies  einiger  Dichter  und  Maler«, 

5'  35 


natürlicher  Anlage  und  schulmäßiger  Bildung  betont.  Auf  Dubos' 
Standpunkt  zeigt  ihn  der  einschränkende  Satz:  »Ein  Genie,  das  sich 
außer  seinen  Zirkel  macht,  sollte  bedenken,  wie  leicht  es  in  solchen 
Fällen  ist,  bei  allen  übrigen  Talenten  wenig  Ehre  einzulegen^«;  oder 
wenn  er  den  Satz  eines  Ästhetikers  »die  gelehrten  Theoreten  ver* 
derben  die  besten  Genies«  höhnisch  glossiert'-.  Zwar  erkennt  er: 
»Was  einmal  in  der  ersten  Anlage  verfehlet  worden,  pflegt  selten 
zur  gänzlichen  Vollkommenheit  zu  gedeihen,^«  aber  er  entscheidet 
sich  doch,  wenn  er  die  Entwicklung  des  Künstlers  ins  Auge  faßt, 
dahin:  »Niemand  wird  auf  einmal  ganz  vollkommen;  jedermann 
muß  erst  Lehrlingsstücke  machen,  und  selbst  die  größten  Geister 
sind  hiervon  gar  nicht  ausgenommen.«  Und  wenn  Lessing,  auf 
Shakespeare  hinweisend,  erkennt,  daß  »ein  Genie  nur  von  einem 
Genie  entzündet  werden  kann,  und  am  leichtesten  von  so  einem, 
das  alles  bloß  der  Natur  zu  danken  zu  haben  scheint  und  durch  die 
mühsamen  Vollkommenheiten  der  Kunst  nicht  abschrecket«,  so  hebt 
Nicolai  diesen  Satz  auf,  wenn  er  sagt^:  »weil  Shakespeare  mehr 
Genie  hat,  ist  aus  ihm  mehr  zu  lernen«.  Hier  wird  das  »Genie« 
Shakespeare  nicht  als  etwas  Beglückendes,  wegen  seiner  unmittel* 
baren  Wirkung  auf  den  Leser  oder  Zuschauer  empfunden  wie  von 
Herder  und  Goethe,  sondern  als  ein  Vorbild  —  für  die  Nachahmer! 
Und  in  dem  von  Nicolai  gemeinsam  mit  Abbt  verfaßten  204.  Lite* 
raturbrief  wird  zwar  erkannt,  daß  »nichts  schädlicher  ist  als  Regeln, 
die  das  Genie  einschränken  und  es  so  zu  sagen,  hindern  auf  seine 
eigenen  Füße  zu  treten«,  aber  Youngs  Satz:  »Die  Regeln  sind 
Krücken,  welche  nur  der  Kranke  gebraucht,  der  Gesunde  hingegen 
wegwirft,«  wird  »als  nicht  völlig  richtig«  angezweifelt;  und  der  un* 
mittelbar  folgende  Satz  —  »nirgend  sind  solche  Regeln  häufiger  als 
in  Systemen,  die  Leute  von  seichter  Einsicht  bauen«  —  spricht  nur 
die  schon  dargestellte  Ablehnung  systematischer  Ästhetik  aus  und 
setzt  zudem  den  möglichen  Fall,  daß  ein  Mensch  von  vollkommener, 
tiefer  Einsicht  solche  Regeln  aufstellen  könnte,  die  auch  das  Genie 
nicht  einschränken.  Es  zieht  sich  durch  die  ganzen  Erörterungen 

'  Im  278.  Literaturbrief. 

-  A  D  Bibliothek  12,  2,  95.  Rezension  von  »Theoretischen  Abhandlungen  über 

die  Mahlerey  und  Zeichnung«,  Frankfurt  und  Leipzig  1769. 

'  AD  Bibliothek  V,  1,  295. 

36 


dieses  Literaturbriefes  das  Bestreben,  die  Mitte  zu  halten  zwischen 
der  Anschauung,  die  dem  Genie  alle  Rechte  zugestehen  will,  und 
derjenigen,  die  es  in  strenge  Grenzen  gebannt  wissen  will  —  wenn 
auch  die  Anerkennung  einer  ursprünglichen,  natürlichen  Veran* 
lagung  des  »Genies«  bestehen  bleibt.  Vergegenwärtigt  man  sich 
außerdem,  daß  Nicolai  —  Ramler  ein  »Genie«  nennt S  daß  er  auch 
Geßner^,  Iselin  und  Wieland''  diese  Bezeichnung  gibt;  bemerkt  man, 
daß  er  mit  Dubos*  meint,  der  gute  Dichter  könne  seine  vorzüg« 
lichsten  Leistungen  erst  im  mittleren  Lebensalter  hervorbringen^, 
so  wird  man  den  Wert  des  Nicolaischen  Geniebegriffes  für  seine 
Kunstanschauungen  gewiß  nicht  zu  hoch  veranschlagen  können; 
auf  jeden  Fall  zeigt  sich,  daß  er  im  Geist  weit  entfernt  ist  von  dem« 
jenigen  des  Sturms  und  Drangs;  doch  soll  das  Vorhandensein  ge* 
wisser  Ansätze,  zumal  bei  dem  jugendlichen  Nicolai,  nicht  ge* 
leugnet  werden,  um  so  weniger,  als  es  die  scharfe  Ablehnung  der 
Genielehre  des  Sturms  und  Drangs  durch  den  älteren  Nicolai  psy* 
chologisch  erklärt^. 

Mit  dem  Geniegedanken  eng  verwandt  ist  der  Originalgedanke. 
Entscheidet  der  Geniegedanke  in  dem  Verhältnis  von  Kraft  und 
Stoff,  Organischem  und  Unorganischem  in  der  dichterischen  Pro* 
duktion  zugunsten  der  organischen  Kraft,  so  fordert  der  Original* 

^  Literaturbrief  333. 

-  Literaturbrief  278. 

'  Nicolai  an  Iselin  20.  X.  67.  NN.  »Das  Urteil  eines  Genies  (Iselins)  von  dem 

anderen  (Wieland)  ist  mir  eine  gewiß  erwartenswürdige  Sache.«  (Er  erwartet  eine 

Wieland=Rezension  von  Iselin.) 

*  In  der  Übersetzung  von  Dubos'  »Reflexions«  =  Bibliothek  der  schönen  Wissen^ 

Schäften  IV,  1,  S.  426. 

"  Göckingk  S.  134.  Nach  Göckingks  Angabe  zwischen  1755—60  geschrieben;  ähn= 

lieh  »Leben  Justus  Mosers«  ed.  Abeken  S.  16:  »Die  Zeit  zwischen  dreißig  und 

vierzig  Jahren  —  das  Alter,   wo  gewöhnlich   die  Bildung  eines  Schriftstellers 

Festigkeit  zu  bekommen  pflegt.« 

'  Worte  des  alten  Nicolai,  wie  diejenigen  im  »Anhang  zu  Fr.  Schillers  Musen« 

almanach«  (S.  136),  Werke  des  echten  Genius  schienen  »von  einer  mehr  als 

menschlichen  Schöpfungskraft  hervorgebracht«,  oder  »das  echte  Genie  gleicht 

Gott«  scheinen  —  abgesehen  davon,  daß  sie  zeitlich  jenseits  unseres  Gebietes 

liegen  —  kaum  irgendwie  von  Bedeutung  für  Nicolais  Geniebegriff,  soweit  er 

für  seine  Stellungnahme  fruchtbar  wurde  (und  nur  solche  Äußerungen  wurden 

hier  angeführt);  sie  sind  zudem  in  polemischer  Form  ausgesprochen,  und  der 

letztere  Satz  zeigt  deutlich  die  Abhängigkeit  von  Shaftesbury. 

37 


gedanke,  gewissermaßen  den  Blickpunkt  vom  Dichter  auf  den  Lite* 
raten  im  Dichter  verschiebend,  die  freie  Entfaltung  dieser  Kraft. 
Fallen  beide  Gedankenkomplexe  für  den  Sturm  und  Drang,  wie 
schon  bei  Hamann,  zusammen  ~  was  sich  schon  an  der  Bezeich? 
nung  »Originalgenies«  zeigt  —  so  handelt  es  sich  für  Nicolai  um 
getrennte  Erwägungen;  der  Geniegedanke  behandelt  das  Wie?  der 
dichterischen  Produktion,  der  Originalgedanke  das  Was?  V^erbürgt 
das  Genie  eine  graduelle  Stufe  der  dichterischen  Leistung,  so  er* 
möglicht  das  Original  sie  überhaupt  erst.  Für  ihn,  der  auf  dem 
Boden  der  Nachahmungstheorie  steht,  gewinnt  der  Originalgedanke 
die  Bedeutung  eines  klärenden,  regulativen  Prinzips:  denn  wer  die 
Natur  nachahmen  soll,  muß  sie  selbst  zum  Vorwurf  nehmen,  nicht 
ihr  schon  geformtes  Abbild;  er  muß  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
selbst  von  den  Formen  der  ihm  bekannten  Abbilder  unabhängig 
sein.  Dementsprechend  ist  die  Stellungnahme  zum  Originalgedan* 
ken  stärker  bejahend  als  zum  Geniegedanken.  Er  bekennt,  daß  er 
lieber  ganz  schlechte  als  mittelmäßige  Schriftsteller  läse,  denn  »ein 
ganz  schlechter  Schriftsteller  hat  öfters  eine  gewisse  Gattung  von 
Originalwesen;  ...  er  entwickelt  seinen  ganzen  eigenen  Geist«; 
der  mittelmäßige  Schriftsteller  habe  große  Vorbilder,  werde  aber 
»aus  Mangel  an  Genie«  zum  »Nachahmer«.  »Daher  kommt  die 
ekelhafte  Einförmigkeit,  das  wässerige  Wesen,  der  unertragHche 
Gernwitz,  kurz,  daher  stammt  es,  daß  jedermann  von  einem  solchen 
Buche  sagt,  es  sei  abgeschmackt,  ohne  daß  man  recht  weiß,  wie 
man  es  beweisen  solP.«  »Die  Begierde  nachzuahmen,  zeigt  unwider* 
sprechlich  den  Mangel  eines  eigentümlichen  Genies«  heißt  es  ein 
anderes  Mal".  Er  verlangt  aber  nicht  nachgeahmte,  ordnungsmäßige 
Kunstwerke,  sondern  solche,  die  aus  einer  tieferen  Einsicht  in  das 
einzige  Vorbild  des  Dichters,  die  Natur,  entsprungen  sind.  »Was 
soll  man  solchen  Leuten  entgegensetzen?  Sie  steifen  sich  immer 
darauf,  daß  ihre  Stücke  regelmäßig  sind  . . .  aber  sie  können  nicht 
begreifen,  daß  ein  Werk  des  Witzes  regelmäßig  schlecht  sein  kann« 
lieißt  es  in  den  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«^;  wenn  die 

'  Im  —  nicht  unterzeichneten  —  121.  Literaturbrief,  der  aber  nach  E.  Ahenkrügers 

Nachweis  (»Fr.  Nicolais  Jugendschriften«,  Berlin  1894)  von  Nicolai  ist. 

-  Literaturbrief  266. 

"  Br.  itz.  Zust.  Nr.  11,  S.  84. 

38 


meisten  deutschen  Dichter  eine  tiefere  Einsicht  in  die  Charaktere 
der  darzustellenden  Personen  hätten,  diese  Notwendigkeit  als  die 
oberste  erkennten,  so  »würden  wir  nicht  Gefahr  laufen,  nach  allen 
Regeln  des  Aristoteles  eingeschläfert  zu  werden«  ^  »Oh,  —  wenn 
doch  kein  Dichter  Empfindungen  ausdrücken  wollte,  die  ihm  fremd 
sind!«  schließt  er  den  59.  Literaturbrief;  so  fordert  er  auch,  daß 
jeder  Dichter  nur  die  ihm  eigenen  Stoffe  in  die  ihm  eigenen  For* 
men  gieße,  und  will  es  Uz  ebensowenig  anrechnen,  daß  er  statt 
Oden  bisweilen  Lehrgedichte  schreibe,  wie  Klopstock,  daß  er  bis* 
weilen  Lieder  statt  Oden  dichte"^.  Aber  wie  weit  sieht  er  seine  For* 
derungen  von  der  Wirklichkeit  entfernt:  »Deutschland  hat  wirk* 
lieh  Originalköpfe;  aber  es  sind  derselben  so  wenige,  daß  man  bei 
der  allgemeinen  Wut  nachzuahmen  —  unsern  mittelmäßigen  Köp* 
fen  wirklich  wünschen  möchte,  daß  sie  besser  nachahmen  lernten.« 
Zum  mindesten  aber  wünscht  er  originale  Nachahmung^.  Das  Ur* 
bild  des  originalen  Dichters  ist  ihm  Shakespeare,  der  seine  Pläne 
»original  imaginiere«,  und  »nach  eigener  Art«  ausführe*;  und  er 
scheint  dieses  Original  denen  empfehlen  zu  wollen,  die  einen  Be* 
griff  von  originaler  Dichtung  zu  erhalten  wünschen. 

Aber  auch  hier  möchte  Nicolai  das  Extrem  vermeiden.  »Viel* 
leicht  ist  es  gefährlich  für  den  Dichter,  überlegt  er  ^,  allzusehr  original 
zu  sein,  wenn  alles  allzu  unbekannt  ist.  Vielleicht  findet  man,  daß 
gewisse  Regeln  ja  sogar  gewisse  willkürlich  angenommene  Conve* 
nienzen,  auch  ihren  Nutzen  haben.  Zur  Ersteigung  eines  hohen 
Berges  ist  ein  gebahnter  Weg  und  ein  Stab  sehr  nützlich,  obgleich 
derjenige  nie  einen  hohen  Berg  ersteigen  wird,  welcher  nur  an  einem 
Stabe  gehen,  oder  nur  auf  einem  gebahnten  Wege  fortkommen 
kann.«  Zum  mindesten  aber  hält  er  daran  fest:  »Regeln,  die  nicht 
aus  Convenienz,  sondern  aus  der  Natur  der  Sache  entstehen,  rächen 
sich  an  dem  Schriftsteller,  der  sich  über  sie  hinwegsetzt^.«  Schon 

'  Brief,  itz.  Zust.  Nr.  11,  S.  86. 

'  Literaturbrief  140. 

'  Br.  itz.  Zust.  Nr.  7,  S.  56  insbes. 

'  An  Gerstenberg  21.  III.  67. 

'  GöckingkS.  111. 

*  Nicolai  gibt  diese  seine  Äußerung,  die  er  in  einer  Unterredung  mit  Lessing 

über  die  Emilia  Galotti  Lessing  entgegengehalten  habe,  als  Lessing  sich  in  bezug 

auf  den  Vorwurf  mangelnder  Motivierung  der  Orsina  mit  dem  Wort  »heraus 

39 


in  den  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  nennt  er  es,  »auf  das 
gelindeste  zu  sprechen,  eine  große  Unvorsichtigkeit,  wenn  ein 
Schriftsteller  affectiret,  alle  seine  Vorwürfe  aus  einem  besonderen 
Augpunkte  anzusehen,  und  wann  er  das  Publikum  nicht  allein 
zwingen  will,  alle  Sachen  aus  eben  diesem  Augpunkte  zu  betrach* 
ten,  sondern  es  zu  überreden  sucht,  daß  dies  der  einzig  richtige 
Augpunkt  sei . .  .^«  Und  er  befürchtet,  daß  das  Streben  nach  Ori* 
ginalität  dadurch  unmöglich  gemacht  werden  könnte,  das  sich  »ge« 
wisse  Formen  der  Schönheit«  erschöpfen  könnten.  »In  der  Baukunst 
ist  es  durch  die  Erfahrung  ausgemacht,  schreibt  er  an  Herder^,  daß 
es  nur  wenige  Proportionen  sind,  die  dem  Auge  gefallen,  die  zu* 
gleich  Festigkeit  und  Annehmlichkeit  haben.  Die  Griechen  haben 
diese  Proportionen  erschöpft,  und  wir  folgen  ihnen.«  Als  ab* 
schreckendes  Beispiel  originaler  Kunst  führt  er  hier  die  Gotische 
Baukunst  an.  Er  befürchtet  auch  von  einer  allzusehr  auf  das  Recht 
der  Originalität  pochenden  Kunst,  daß  ihr  niemand  folgen  kann, 
der  nicht  ebenso  original  wie  sie  sei;  und  dann  »richten  unsere 
Autoren  bloß  für  die  Köche  und  gar  nicht  für  die  Gäste  an«^.  So 
stark  er  also  auch  das  Recht,  ja  die  Pflicht  des  Dichters  betont,  den 
eigenen  Fähigkeiten  gemäß  den  Vorwurf  zu  wählen  und  ihn  original 
zu  gestalten,  so  möchte  er  doch  verhindern,  daß  der  Dichter  den 
Anspruch  auf  eigene  Formengebung  und  Stoffwahl  auf  Kosten  des 
Lesers  zu  weit  ausdehnt,  gemäß  seiner  Stellungnahme  gegen  eine 
zu  stark  .imaginative'  Kunst.  Die  Konsequenz  des  Originalgedan* 
kens  nach  dieser  Seite  hin  hat  er  also  abgelehnt,  und  zwar  gerade 
in  der  Zeit,  in  der  diese  Konsequenz  nicht  mehr  theoretisch  be* 
gründet  wurde,  sondern  sich  in  den  Dichtungen  des  Sturms  und 
Drangs  darstellte. 

Nicolais  Kritik  ist  aber  zu  dieser  Zeit  —  und  das  begründet  die 
in  der  vorangegangenen  Darstellung  erstrebte  Zurückhaltung  — 
nicht  ein  einfaches  Ergebnis   seiner  theoretischen  Kunstanschau* 

helfen«  wollte,  er  habe  sich  nun  einmal  über  die  Regeln  hinwegsetzen  wollen, 

in  einer  Anmerkung  z.  s.  Briefe  an  Lessing  v.  7.  IV.  72  (=  Lessings  Werke  hrsgb. 

V. ...  F.  Nicolai,  Berlin  1794,  S.  335  ff.)  wieder. 

'  Briefe  itz.  Zust.  Nr.  7,  S.  51. 

=  An  Herder  19.  XI.  71  =  O.  Hoffmann  S.  66. 

'  An  Herder  24:  VIII.  72  =  O.  Hoffmann  S.  81. 

40 


ungen.  Es  tritt  vielmehr  eine  Umsetzung  ein.  Das  Objekt  der  Ni* 
colaischen  Kritik  ist  nicht  die  Dichtung,  sondern  die  Literatur.  Und 
diese  Umsetzung  wird  mit  der  Vollendung  seiner  Entwicklung  und 
mit  zunehmendem  Alter  immer  sichtbarer.  Der  jugendliche  Nicolai 
steht,  wie  er  das  im  Alter  selbst  einmal  ausgesprochen  hatS  dem 
spezifisch  Literarischen  gegenüber  sehr  kühl  und  ziemlich  hilflos 
gegenüber.  Er  sieht  Streit  um  Dinge,  die  er  gegenüber  ernsteren, 
tieferen  Kunstfragen  für  belanglos  hält.  Die  »Briefe  über  den  itzigen 
Zustand«  zeigen  ihn  zwar  schon  als  gewandten  literarischen  Kämp# 
fer,  indessen  weisen  sie  doch  noch  auf  jene  erste  Position  zurück, 
die  sich  durch  den  Verkehr  mit  Mendelssohn  insbesondere,  aber 
auch  mit  Lessing,  wieder  verstärkte;  die  Beiträge  in  der  Bibliothek 
der  schönen  Wissenschaft  bezeichnen  ihren  Höhepunkt,  wie  sie 
auch  den  Höhepunkt  seiner  kunsttheoretischen  Bemühungen  bil* 
den.  Von  da  ab,  sicherlich  nicht  unbeeinflußt  durch  die  Übernahme 
des  väterlichen  Verlages,  wird  nicht  die  Dichtung,  sondern  die 
Literatur  in  steigendem  Maße  Gegenstand  seiner  theoretisch* 
kritischen  Bemühungen,  und  zumal  seit  der  Gründung  der  All* 
gemeinen  Deutschen  Bibliothek  ist  sie  der  einzige,  so  daß  die 
Poesie  nur  mehr  als  »eine  bloß  erlaubte  Ergötzung« ^  gilt,  und  bis 
er  an  Joh.  Müller,  den  Plan  seiner  Allgemeinen  Deutschen  Biblio* 
thek  verteidigend,  am  12.  VL  72  schreiben  kann^:  »Der  schlechte 
Teil  unserer  Literatur  gehört  aber  so  gut  dazu,  als  der  gute;  sich 
über  jenen  zu  ärgern  ist  zur  Verbesserung  (!)  der  Literatur  vielleicht 
ebenso  notwendig,  als  sich  über  den  guten  Teil  zu  freuen«;  die 
Journale  müßten  die  Chronik  sein,  aus  der  die  Nachwelt  die  Ge* 
schichte  der  gegenwärtigen  Literatur  schöpfen  werde;  »wenn  der 
Chronikenschreiber  allzusehr  die  Fakta  auswählen  will,  so  bekömmt 
der  künftige  Geschichtsschreiber  allzuwenig  Stoff.«  Wenn  Nicolai 
selbst  einmal,  die  literarische  Entwicklung  im  18.  Jahrhundert  über* 
schauend^,  zwei  Perioden  unterscheidet  —  eine  frühere,  in  der  »die 
Literatur  bloß  an  den  Universitäten  hing«,  und  eine  spätere,  in  der 

^  »Schreiben  an  den  Herrn  Hofrat  Lichtenberg«  =  Lessings  Ges.  Werke  hersgb. 

V. ...  F.  Nicolai  26,  S.  XX. 

'  An  Herder  21.  III.  72  =  Hoffmann  S.  74. 

'  Briefe  an  Joh.  v.  Müller,  Schaffhausen  1840,  4,  S.  lOf. 

*  Göckingk  S.  47.  Die  zitierte  Stelle  stammt  aus  dem  Jahre  1810. 

41 


sich  »durch  Klopstock,  Wieland,  Goethe  und  Schiller  Poesie  bil* 
dete«  —  so  gehört  er  selbst  der  ersteren  Periode  an;  bezeichnend 
genug  fährt  er  ja  auch  an  dieser  Stelle  mit  den  Worten  fort:  »und 
nun  tat  die  deutsche  Literatur  einen  starken  Fortschritt«. 

Der  Gesichtspunkt,  unter  dem  diese  Umsetzung  sich  bei  Nicolai 
am  frühesten  bemerkbar  macht,  ist  der  nationale.  Das  Vorhanden* 
sein  eines  Nationalgedankens  in  der  deutschen  Aufklärung,  ja  das 
Wirken  derselben  für  die  Entwicklung  des  deutschen  National* 
gedankens  kann  nach  Friedrich  Meineckes  Forschungen^  nicht  mehr 
abgeleugnet  werden.  »Der  Universalismus  des  18.  Jahrhunderts«, 
erkennt  Meinecke,  »war  zugleich  kräftiger  Nationalismus;«  er  hat 
sich  unter  den  Zeitgenossen  Lessings  auf  eine  doppelte  Art  ge* 
äußert:  in  einer  das  Ganze  der  deutschen  Welt  umfassenden  leb* 
haften  Empfindung  und  in  einer  bestimmten  praktischen  Tätigkeit". 
Diese  warme  und  lebhafte  Empfindung  ließ  ihn  die  Dichtung  als 
Angelegenheit  des  deutschen  Geistes,  als  deutsche  Nationalliteratur 
sehen,  und  die  praktische  Tätigkeit  galt  deren  Förderung.  Schon 
der  Jugendliche  sieht  mit  Verdruß  die  dichterischen  Leistungen  der 
Deutschen  hinter  denen  der  Franzosen  zurückstehen,  erkennt,  daß 
Bouhours  Urteil,  der  Deutsche  könne  kein  bel*esprit  sein^,  und 
demgemäß  nur  schwache  künstlerische  Leistungen  hervorbringen, 
noch  nicht  durch  Taten  widerlegt  ist,  wenn  er  sich  auch  bemüht,  in 
allen  Gattungen  solche  namhaft  zu  machen,  die  sich  den  anerkann* 
ten,  auch  von  ihm  bewunderten  französischen  Meisterwerken  an 
die  Seite  stellen  ließen*.  Mit  Schmerz  muß  er  erkennen,  dal^  Gott* 
sched  mit  seinen  Sammlungen  die  wahrhaft  patriotischen  Bemüh* 
ungen  um  die  Nationalliteratur  in  den  Augen  der  Franzosen  eher 
lächerlich  gemacht,  als  ihre  Anerkennung  gefördert  habe^.  So  sehr 
er  aber  die  Überlegenheit  der  Franzosen  empfindet,  hat  er  doch  stets 

'  Friedrich  Meinecke,  \X'eItbürgertum  und  Nationalstaat,  3.  Auflage,  München 

1911.  —  Ich  glaube,  hier  auch  auf  die  Darstellung  verweisen  zu  dürfen,  die  ich 

selbst  nach  Qiaellenstudien  im  Literat.  Echo  1915  (X\TI),  22  gegeben  habe. 

-  Vgl.  Hermann  Baumgart,   Ges.  bist,  und   politische  Aufsätze.  Straßburg  94. 

»War  Lessing  ein  Patriot?«  S.  230. 

'  Das  von  Nicolai  noch  AD  Bibliothek  9,  1,  207  höhnisch  zurückgewiesen  wird. 

*  Vgl.  den  77.  Brief  in  der  »Sammlung  freundschaftlicher  Briefe«  von  J.  S.  Patzke 

(Frankfurt  und  Leipzig  1754),  der  bei  Altenkrüger  S.  38 ff.  mitgeteilt  ist. 

'  Briefe  über  d.  itz.  Zust.,  insbesondere  Nr.  11. 

42 


das  richtige  Gefühl  dafür,  daß  ihre  Kunstwerke  nur  vollkommener 
Ausdruck  ihres  Geistes  sind,  die  von  den  Deutschen  nicht  ohne 
weiteres  nachgeahmt,  sondern  nur  als  Vorbilder  des  Grades  der 
V^ollkommenheit  betrachtet  werden  dürfen;  und  mit  aller  Schärfe 
tritt  er  dagegen  auf  \  daß  französische  Schriftsteller  die  Führer»  und 
Richterrolle  in  literarischen  Fragen  ohne  weiteres  in  Anspruch 
nehmen-.  Mit  Vergnügen  ergreift  er  daher  die  Gelegenheit,  dem 
M.  de  FremontvaP  gegen  die  Überschätzung  des  französischen  Ge* 
schmacks,  der  französischen  Dichtung  und  Sprache  besonders  durch 
den  deutschen  Adel  zu  sekundieren*,  wie  denn  auch  die  Gestalt  der 
Frau  von  Hohenauf  in  seinem  »Sebaldus  Nothanker«  eine  kräftige, 
recht  gut  gelungene  Satire  gegen  diese  übergroße  Vorliebe  für  fran* 
zösisches  Gesellschaftswesen  und  französischen  Geschmack  ist.  So 
brandmarkt  er  das  Verfahren  vieler  Verleger,  die  reine  Übersetzungs* 
manufakturen  haben  ^.  Er  wünscht  edlere,  freie  Formen  der  Gesellig* 
keit,  in  denen  sich  der  Deutsche  natürlich  bewegen  lernt,  damit  die 
deutsche,  gesellige,  leichtgeschürzte  Dichtung  die  Großen  fessele, 
wie  es  in  Frankreich  und  England  der  Fall  sei^;  so  sollen  auch  die 
deutschen  Gelehrten  statt  verknöcherter  Pedanten  Männer  werden, 
die  den  Sinn  aufs  Ganze  richten,  wie  es  die  französischen  und  eng? 
liehen  Gelehrten  zum  Wohle  des  Ansehns  ihrer  Wissenschaft  tun''; 
er  will  keine  Streitereien  deutscher  Literaten  vor  dem  Ausland^,  er 
will  nicht,  daß  die  mühsam  um  ihre  Anerkennung  ringende  deutsche 
Literatur  vor  Friedrich  dem  Großen  durch  Hamanns  »Au  Salomon 
du  Prusse«,  wie  er  fürchtet,  blamiert  werde^.  Aber  nicht  um  das 

'  Briefe  über  d.  itz.  Zust.  Nr.  4  und  16. 

■  Bemerkenswert  ist  in  diesem  Zusammenhang,  daß  er  zur  Verherrlichung  des 
Sieges  bei  Roßbach  selbst  eine  Denkmünze  entwarf,  die  aber  nicht  geprägt 
wurde  (an  Chr.  L.  v.  Hagedorn  20.  IV.  58  =  ed.  Torkel  Baden  [1797],  S.  231). 
'  »Preservativ  contre  la  corruption  de  la  Langue  Fran^ois  ...  et  dans  les  Pays  ou 
eile  est  le  plus  en  usage  . . .«  etc.  1756. 

*  125.  Literaturbrief. 

*  »Sebaldus  Nothanker«  II,  S.  80 ff. 

*  Brief  itz.  Zust.  insbesondere  Nr.  8. 
"  Göckingk  S.  131. 

*  So  sagt  er  in  der  »Nachricht«  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  37,  1.  312  mit  Bezug  auf 
seinen  Streit  mit  Wieland,  er  sei  im  Interesse  des  Ansehens  der  deutschen  Literatur 
»äußerstgeneigt«,die»partiehonteuse«derselben»nachMöglichkeit  zu  verdecken«. 
"  An  Herder  2.  III.  73. 

43 


äußere  Ansehen  allein  ist  es  ihm  zu  tun.  Wie  er  von  den  Deutschen 
Kenntnis  ihres  Landes  und  ihrer  Verfassung  fordert,  und  durch  seine 
»Reisebeschreibung«  für  die  Beförderung  dieser  Kenntnis  sorgen 
will;  wie  er  urteilt,  daß  der  gebildete  Deutsche,  der  sich  schäme,  die 
Kunstschätze  des  Palais  de  Luxembourg  oder  des  Palais  Royal  nicht 
zu  kennen,  sich  viel  mehr  schämen  müsse,  wenn  ihm  die  Kunst* 
schätze  der  Dresdner  Galerie  und  überhaupt  des  deutschen  Vater* 
landes  unbekannt  seien,  so  ist  sein  Bestreben  überhaupt  auf  die 
Festigung  des  Bewußtseins  von  der  eigenen  Art  und  den  eigenen 
Aufgaben  gerichtet.  An  einem  besonderen  Gegenstand  seiner  Be# 
mühungen,  der  Sprache  als  dem  vorzüglichsten  Werkzeug  des 
Dichters,  läßt  sich  dieses  Bestreben  deutlich  erkennend 

Mit  dem  Nationalgedanken  in  engem  Zusammenhang  steht  ein 
zweiter  Komplex,  der  die  Umsetzung  der  Dichtung  zur  Literatur 
beförderte :  der  Entwicklungsgedanke ;  er  bestätigt  zugleich  den  oben 
dargestellten  formalen  Zug  der  Nicolaischen  Kunstanschauung,  der 
ihn  auf  das  Bestimmbare  und  Genetische  des  Kunstwerkes  weist. 
Der  jugendliche  Nicolai  deutet  die  Verbindung  von  National* 
gedanken  und  Entwicklungsgedanken  an:  »Wir  müssen  itztpatrio* 
tisch  denken  und  für  die  Nachwelt  schreiben,  und  wenn  wir  den 
schlechten  Schriftstellern  forthelfen  wollen,  was  sollen  wir  denn  mit 
den  mittelmäßigen  machen?^«  Das  Mittelmäßige  wird  als  Feind  des 
Guten  erkannt  —  so  ist  also  eine  Entwicklung  zum  Guten  voraus* 
gesetzt;  und  schon  der  nationale  Ehrgeiz  sollte  Ansporn  zur  Ver* 
vollkommnung  sein.  Nicolai  erkennt  aber  sogar,  daß  durch  das 
Mittelmäßige  der  Geschmack  »weit  zuverlässiger«  verdorben  wird, 
als  durch  das  ganz  Schlechte'^;  er  will  dieser  »schimpf liehen  Mittel* 
mäßigkeit«*  entgehen,  und  die  ihm  vorschwebende  höchste  »Staffel 

'■  Hier  sei  auf  Adolf  Schachs  Darstellung  verwiesen,  insbesondere  den  Abschnitt, 

in  dem  als  einer  der  Hauptbestandteile  der  Nicolaischen  Sprachbemühungen 

»die  Ausbreitung  der  deutschen  Sprache  gegenüber  der  französischen«  erkannt 

wird. 

^  Sammlung  Freundschaftlicher  Briefe  von  S.  J.  Patzke  Nr.  38  =  Altenkrüger 

S.38ff. 

'AD  Bibliothek  10,  1,  S.  298  (gelegentlich  der  Rezension  der  Wochenschrift 

»Der  Glückselige«). 

'  Briefe  itz.  Zust.  S.  133,  Nr.  17,  Vgl.  auch  s.  Brief  v.  31.VI11.  1756  an  Lessing 

(=  LachmannsMuncker   19,  43):  »Es  ist  nichts  besonderes  Gutes  neu  heraus^ 

44 


der  Feinigkeit,  der  Richtigkeit  des  guten  Geschmacks  ersteigen«. 
Er  glaubt  an  eine  Entwicklung  des  Geschmacks,  wie  er  an  die  Ab* 
hängigkeit  der  Dichtkunst  von  dem  Zeitalter  glaubt,  in  dem  der 
Dichter  lebt^;  Picanders  Scherzgedichte,  sagt  er  in  einer  Rezension 
des  neu  auferlegten  »Deutsch*Franzos«^,  die  einst  mit  Recht  beliebt 
sein  mochten,  könnten  jetzt  nur  noch  vom  Pöbel  gelesen  werden: 
»doch  wir  befürchten,  in  allen  Provinzen  Ober*  und  Nieder* 
deutschlands  gibt  es  noch  sehr  viel  Leute,  die  jetzt  noch  immer  ums 
Jahr  1736  leben.«  Und  an  anderer  Stelle  freut  er  sich  der  Vervoll* 
kommnung  der  deutschen  Literatur  in  den  letzten  20  Jahren :  »Unsere 
Sprache«,  sagt  er  da^,  »hat  seit  20  Jahren  ungemein  viel  Revolutionen 
erlitten,  wir  haben  seit  1741  spruchreiche,  einbildungsvolle,  kühne, 
ja  auch  seltsame  Dichter  erhalten;  dies  hat  unserer  Sprache  eine 
ganz  neue  Bildung  gegeben,  die  zwar  noch  nicht  völlig  geendigt  ist, 
aiber  die  wenigstens  anfängt,  unsern  Schriften  einen  Originalcharakter 
zu  geben.«  So  verlangt  er  auch  von  dem  einzelnen  Dichter,  daß  er 
unablässig  an  sich  arbeite,  und  tadelt  beispielsweise  Zachariae,  daß 
dieser  in  der  Vorrede  zu  seinen  gesammelten  »Poetischen  Schriften«* 
verspricht,  weiter  keine  Veränderungen  zu  machen.  —  Die  Ent* 
Wicklungsmöglichkeit,  die  er  so  erkennt,  will  er  durch  eigene  Tätig* 
keit  zum  besten  der  deutschen  Literatur  verwerten;  ja  seine  ganze 
literarische  Tätigkeit  ist  eigentlich  daraufgerichtet,  die  Entwicklung 
der  Literatur  zu  befördern.  So  erkennt  auch  Lessing  an^,  daß  Ni* 
colais  Hauptsatz  in  der  »Abhandlung  vom  Trauerspiel«,  die  Tra* 
gödie  solle  Leidenschaft  erregen,  ohne  daß  sie  ihre  Reinigung  zu 
bewirken  braucht,  der  geeignetste  sei,  um  gute  Trauerspiele  hervor* 
bringen  zu  helfen,  geeigneter  jedenfalls,  als  der  von  Nicolai  ver* 
worfene,  das  Trauerspiel  solle  die  Leidenschaften  reinigen.  Erüh  hat 

gekommen;  darüber  könnte  ich  mich  trösten.  Aber  es  ist  viel  Mittelmäßiges 

herausgekommen,    das    man    als    etwas    besonderes    anpreist;    und    das   ärgert 

mich.« 

'  Joh.  Chr.  Günther,  sagt  er  A  D  Bibliothek  3,  1,  253,  wäre  »in  erleuchteteren 

Zeiten«,  wo  die  Ansprüche  höher  sind,  unzweifelhaft  ein  guter  Dichter  geworden. 

-  Nürnberg  1772.  Nicolais  Rezension:  A  D  Bibliothek  23,  1,  306. 

'AD  Bibliothek  10,  1,  S.  301,  gelegentlich  der  Rezension  der  Wochenschrift 

»Der  Eremit«;  darin  war  eine  Probe  aus  dem  Jahre  1741  gegeben. 

*  9  Bände;  ohne  Jahr  und  Ort.  Nicolais  Rezension:  A  D  Bibliothek  4,  1,  217. 

'  Lessing  an  Nicolai  13.  XI.  56  =  Lachmann^Muncker  17,  64. 

45 


er  die  Kritik  als  Mittel  zur  Beförderung  der  Literatur  erkannt^ 
Durch  das  bekannte  Preisausschreiben  im  Frühjahr  1756,  das  er  mit 
der  Ankündigung  der  »Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften« 
verband",  suchte  er  das  Drama  zu  fördern:  ein  Unternehmen,  das 
mittelbar  und  unmittelbar  bedeutenden  Nutzen  stiftete,  so  äußer* 
lieh  auch  das  hier  angewandte  Mittel  war.  Die  Entwicklung  der 
deutschen  Literatur  sollten  auch  die  Literaturbriefe  befördern,  deren 
eigentlicher  Urheber  Nicolai  war^,  wenn  sie  auch  ihre  fruchtbare 
Wirkung  nur  durch  Lessings  Mitarbeit  ausüben  konnten,  wie  auch 
die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  diesem  Zwecke  dienen  sollte, 
auf  die  er  »den  besten  Teil  seines  Lebens«  verwandt  hat*. 

Auf  das  vorzüglichste  Mittel  zur  Förderung  der  Entwicklung 
der  deutschen  Literatur  weisen  fortgesetzte  theoretische  Über* 
legungen  hin,  die  als  ein  drittes  Moment  der  Umsetzung  der  Dich* 
tung  zur  Literatur  gleichfalls  schon  sehr  früh  in  Nicolai  rege  wer* 
den.  Die  zielbewußte  Entwicklung  der  Literatur  setzt  ihre  Organi* 
sation  voraus;  und  das  Prinzip  der  Organisation,  das  Nicolai  in 
der  französischen,  aber  auch  in  der  englischen  Literatur  wirken 
sieht,  heißt  Zentralisation^.  Es  gilt,  eine  Zentralstätte  zu  schaffen, 
deren  Geschmack  tonangebend  ist,  deren  Wünsche  an  den  entle* 
genen  Stätten,  ohne  Rücksicht  auf  die  landschaftliche  und  Stammes* 
eigenart  erfüllt  werden.  Sehr  mißverständlich  ist  es  darum  zum 
mindesten,  wenn  Hermann  Hettner^  die  Aufklärer  und  Populär* 
Philosophen  mit  den  Kleinhändlern  vergleicht,  auf  die  sich  das 
eigentlich  geschäftliche  Leben  gründe;  Nicolai  war,  wie  alle  Auf* 
klärer',  um  im  Bilde  zu  bleiben,  durchaus  Großkaufmann,  am  lieb* 

'■  Briefe  über  d.  itz.  Zust.,  Nr.  17. 

-  Über  dieses  Preisausschreiben  vgl.  Minors  »Vorwort«  zu  »Lessings  Jugend; 

freunde«  DNL  72,  S.  If. 

'  Vgl.  seine  Darstellung  im  »Schreiben  an  den  Herrn  Professor  Lichtenberg«. 

*  A  D  Bibliothek  32,  1,  293.  »Nachricht.« 

^  Es  ist  in  diesem  Zusammenhange  besonders  bemerkenswert,  daß  Frau  v.  Stael 
in  ihrem  Buche  »De  l'Allemagne«  an  zahlreichen  Stellen  (bes.  im  2.  Kap.)  eben* 
falls  die  mangelnde  Zentralisation  als  Grund  des  trotz  hoher  Einzelwerke  ver* 
hältnismäßig  niedrigen  Gesamtstandes  der  deutschen  Literatur  erkennt. 

*  Hettner  5.  Aufl.  II.  552;  das  Bild  des  Großhändlers  braucht  Gervinus,  Gesch. 
d.  dtsch.  Dichtg.  4.  Aufl.  1853,  IV,  372. 

'  Dementsprechend  erwarteten  ihre  volkswirtschaftlichen  Theorien  die  Förde* 
rung  des  Handels  von  der  Vereinigung  der  Kapitalien;  vgl.  über  Joseph  v.  Son* 

46 


sten  wäre  er  Trustmagnat  gewesen.  Der  Ausspruch,  den  sein  Freund 
Biester  bei  einer  scherzhaften  Gelegenheit  über  ihn  tat,  daß  er  »für 
den  Club  geboren«  sei\  läßt  sich  auf  den  Herausgeber  der  »Allge* 
meinen  Deutschen  Bibliothek«  auch  ernsthaft  anwenden.  Schon 
die  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  sind  voll  beweglicher  Klagen 
über  den  Mangel  an  Zentralisation  der  deutschen  Literatur,  wie  des 
geistigen  Lebens  überhaupt.  »Wir  vermissen  vielleicht  nirgends  so 
sehr  den  Mangel  einer  Hauptstadt,  deren  Geschmack  den  allge* 
meinen  Geschmack  der  übrigen  bildet,  als  in  den  Umständen,  die 
die  theatralische  Dichtkunst  angehen«,  heißt  es  im  H.  der  Briefe '^ 
»Aus  Mangel  einer  Hauptstadt,«  überlegt  er  später ^  »kann  unsere 
Komödie  niemals  vollkommener  werden«.  Der  Zentralisations* 
gedanke  spielt  auch  in  die  Vorschläge  hinein,  die  er  hinsichtlich 
eines  deutschen  Wörterbuches  im  12.  der  »Briefe  über  den  itzigen 
Zustand«  macht;  er  will  das  Wörterbuch  nach  dem  Vorbild  des 
Dictionnaire  der  Academie  Fran^aise  eingerichtet,  und  deshalb 
Provinzialwörter  ausgeschaltet  wissen,  wie  er  sich  auch  im  125.  Lite* 
raturbrief  gegen  die  Aufnahme  von  Provinzialidiotismen  in  ein 
deutsches  Wörterbuch  ausspricht;  und  so  schreibt  er  an  Iselin*, 
wenn  er  dessen  Schriften  in  Verlag  nehmen  sollte,  würden  sich 
kleine  Änderungen  in  der  Schreibart  nötig  erweisen,  die  am  besten 
im  Verlagsort  Berlin  vorgenommen  würden,  was  sich,  da  er  den 
Stil  Iselins  im  selben  Brief  rühmt,  nur  auf  die  Beseitigung  von 
Dialektworten  und  ^Formen  beziehen  kann.  Mit  Recht  erkennt 
man  daher  als  Ziel  der  Nicolaischen  Sprachbemühungen  die  Fort== 
führung  der  Gottschedischen  Bestrebungen  um  die  Einheitssprache, 
die  Reinigung  von  den  mundartlichen  Elementen,  die  Förderung 
einer  nicht  nur  geschriebenen,  sondern  auch  gesprochenen  hoch* 
deutschen  Sprache^.  Dieselben  Zentralisationsbestrebungen  Nico* 
lais  bemerken  wir  dem  »gelehrten  Leben«  gegenüber.  Die  »deut* 
sehen  Gesellschaften«,  nach  dem  Vorbild  der  Leipziger,  der  Gott* 

nenfels'  »Grundsätze   der  Handlungswissenschaften«,  der  diese  Theorie  nacht 

drücklich  vertritt,  Franz  Kopetzky  »Jos.  u.  Franz.  v.  Sonnenfels«  S.  152  ff. 

'  Göckingk  S.  77. 

^  Br.  itz.  Zust.  Nr.  II  S.  85. 

'  Göckingk  S.  134;  ähnlich  S.  135  ebenda. 

*  19.  III.  67.  NN. 

^  Dies  ist  auch  das  Ergebnis  der  Untersuchung  von  A.  Schach  a  a.  O. 

47 


scheds  überragende  Stellung  neuen  Glanz  gegeben  hatte,  bald  an 
zahlreichen,  auch  kleineren  Orten  gegründet,  sind  Gegenstand 
seines  Hohnes,  da  ihr  kleinstädtischer  Provinzialismus  der  um* 
fassenden  Zentralisation  einen  wesentlichen  Widerstand  entgegen 
zu  setzen  schien;  so  striegelt  er  sie  denn  an  den  verschiedensten 
Stellend  Daneben  sind  es  die  Universitäten  in  den  kleinen  Städten 
der  Provinz,  die  er  für  Hindernisse  der  Zentralisation  hält,  und 
die  er  deshalb  bespöttelt.  »Der  größte  Teil  (sc.  der  Gelehrten),« 
klagt  er  einmaP,  »sitzt  in  kleinen  Städten  auf  Universitäten  . . .  hat 
nur  einseitige  Ideen,  und  die  er  eifrig  fortzupflanzen  sucht,  weil  sie 
die  paar  Leute,  die  um  ihn  sind,  ausschließend  billigen.  Er  kann 
also  gar  nicht  begreifen,  daß  jemand  anders  denke  . . .  Lebten  diese 
Männer  in  einer  großen  Stadt  zusammen,  wo  sie  mehrerlei  Ideen 
bekämen  und  öftern  Widerspruch  erführen,  so  würden  sie  weniger 
entscheiden  können  und  leichter  andere  Ideen  auffassen.«  Die  Klein* 
Stadt,  der  enge  Kreis  einer  Provinzialuniversität  mache  einseitig  und 
unfruchtbar^.  »Warum  sollte  denn  notwendig  der  Ton  der  Gelehr* 
ten  in  Weimar  oder  in  Hamburg  auch  in  Köln  gelten  müssen?« 
fragt  er  ironisch.  »Köln  ist  groß  genug  und  der  Rhein  ist  wohl  die 
Elbe  oder  die  Um  wert;  also  darf  auch  Köln  seinen  eigenen  gelehr* 
ten  Ton  haben*.«  Der  Überwindung  dieses  Provinzialismus  dient 
in  erster  Linie  seine  Reisebeschreibung;  die  Deutschen  sollen  sich 
kennen  lernen,  alsdann  wird  es  möglich  sein,  eine  Zentralstätte  zu 
schaffen;  so  verweilt  er  denn  auch  in  seiner  Reisebeschreibung  mit 
Vorliebe  an  den  großen  Zentren  des  geistigen  und  wirtschaftlichen 
Lebens^.  Das  wichtigste  Mittel  der  Zentralisation  des  deutschen 
geistigen   Lebens   ist  sein  Lebenswerk,  die  Allgemeine  Deutsche 

'  Briefe  üb.  d.  itz.  Zust.  Nr.  12;  257.,  288.  und  299.  Literaturbrief;  Vorrede  zum 

2.  Teil  des  »Vademecum  für  lustige  Leute«  (1766) ;  Sebaldus  Nothanker  I,  16  und 

II,  116  und  148,  u.  a.  m.  O. 

-  Göckingk  S.  131. 

^  Vgl.  Litbr.  200.  »Ein  Mensch,  der  sich  auf  die  geringe  Anzahl  von  Ideen  ein; 

schränken  will,  die  eine  Universität  oder  eine  Provinzialstadt  darbieten,  »könne 

unmöglich  Kunstwerke  hervorbringen. 

*  Dicker  Mann  II,  28,  S.  92. 

"  Vgl.  Boie  an  Bürger  6.  X.  81  =  Strodtmann  III,  62:  »Für  den  deutschen  Dich* 

ter  ist  noch  in  keiner  einzigen  Stadt  die  Welt,  die  er  kennen  muß;  sie  ist  durch 

ganz  Deutschland  zerstreut;«-  er  ermuntert  Bürger  zu  Reisen. 


Bibliothek.  Schon  am  Titel  zeigt  sich  das.  Herder  gegenüber  betont 
er^  diese  Tendenz  als  dasjenige,  was  sie  von  den  Literaturbriefen 
unterscheiden  soll:  der  Zweck  der  Bibliothek  ist,  wie  er  zu  wieder* 
holten  Malen  in  den  Ankündigungen,  »Vorreden«  und  »Nach* 
richten«  betont,  eine  Stätte  zu  schaffen,  an  der  die  deutsche  Literatur 
in  ihrer  Gesamtheit  übersehen  werden  kann,  die  den  Gelehrten  in 
den  Ostseeprovinzen  die  Neuerscheinungen  in  der  Schweiz,  den 
Westfalen  die  in  Österreich  vermittelt.  Dabei  ist,  obgleich  die  Re* 
zensenten  »durch  nichts  als  durch  die  Liebe  zur  Wahrheit«  ver* 
bunden  sind",  die  Einheit  dennoch  gewährleistet,  weniger  durch 
Nicolais  Einfluß,  da  er  ja  immer  wieder  die  Beeinflussung  der  Re* 
zensenten  ablehnt,  ja  zu  wiederholten  Malen  —  eine  oft,  z.  B.  von 
Schach  übersehene  Tatsache,  —  betont,  daß  er  nicht  einmal  alle 
Rezensionen  im  Manuskripte  läse^,  als  vielmehr  durch  die  Einheit 
der  kritischen  Methode,  wie  sie  in  den  Literaturbriefen  zum  ersten* 
mal  vorbildlich  erschienen  war*.  Wohl  kann  es  auf  diese  Weise 
geschehen,  daß  der  Bock  zum  Gärtner  gemacht  wird,  wie  durch 
die  Mitarbeit  von  Klotz  oder  später  von  v.  Wöllner;  doch  zeigt  die 
Mitarbeit  späterer  Widersacher  recht  deutlich  das  starke  Vorherr* 
sehen  des  Zentralisationsgedankens.  Die  Allgemeine  Deutsche 
Bibliothek  sollte  die  Hauptstadt  vertreten;  sie  sollte  im  geistigen 
Leben  Deutschlands  die  Rolle  spielen,  die  Paris  und  London  im 
französischen  und  englischen  spielten^.  »In  einem  Reiche,  wo  eine 
Hauptstadt  ist,«  sagt  Nicolai  einmal^,  »wird  einem  Dichter  gleich* 

•  An  Herder  19.  XI.  66  =-  Hoffmann  S.  2. 

-  Nicolais  Vorrede  zum  2.- Stück  des  4.  Bandes  der  A  D  Bibl. 
'  An  Herder  24.  XII.  68  =  O.  Hofifmann,  S.  28;  an  Wieland  5.  V.  75  =  A  D  Bibl. 
37,  1  »Nachricht«.  S.  307.  Vorrede  zum  ersten  Band  des  Anhanges  zu  Band  1  —  12 
der  A  D  Bibl.;  A  D  Bibl.  55,  1,  290  u.  a.  m.  O. 

*  Vgl.  die  beiGöckingk  S.35  mitgeteilten  zeitgenössischen  Urteile  über  die  »Einheit 
des  Strebens«  in  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  —  In  diesem  Sinne  ist  auch  Mercks  Urteil  auf* 
zufassen,  Nicolai  habe  sich  seine  Rezensenten  selbst  erzogen  (an  Nicolai  7.  XI.  72). 
°  Vgl.  Weiße  an  Klotz  14.  VI.  68  =  Hagen,  Briefe  dtscher.  Gel.  an  Klotz  I,  71 :  er 
habe  Nicolai  vorhergesagt,  daß,  so  lange  es  in  Deutschland  keine  Hauptstadt  wie 
Paris  oder  London  gebe,  ein  Unternehmen  wie  die  Allg.  Dtsch.  Bibl.  zu  kühn 
wäre;  Nicolai  habe  ihm  nicht  geglaubt  —  daher  jetzt  die  Schwierigkeiten  in  der 
Gewinnung  von  Mitarbeitern.  —  Nicolais  ungedruckter  Briefwechsel  mit  Hopf* 
ner  gibt  ein  sehr  anschauliches  Bild  dieser  Schwierigkeiten. 

'  Göckingk  S.  135. 

4  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  49 


sam  ein  Stempel  aufgedrückt,  wodurch  er  überall  für  gut  erkannt 
wird.  In  Deutschland  hat  jede  Provinz  ihren  Nebenpoeten,  den  sie 
für  gut  und  berühmt  hält«.  Die  »Nebenpoeten«  in  ihrer  Unzuläng* 
lichkeit  darzustellen  und  den  guten  Dichtern  den  Stempel  der  An* 
erkennung  durch  den  hauptstädtischen  Geschmack  aufzudrücken, 
ist  mit  zvmehmendem  Alter  in  steigendem  Maße  die  Tendenz  des 
Kritikers  Nicolai  gewesen. 

Diese  drei  Momente  der  Umsetzung  sind  es  denn  auch  gewesen, 
die  seine  kritische  Stellungnahme  recht  eigentlich  beeinflußt  haben; 
an  ihnen  entzündet  sich  derWiderstand  gegen  den  Sturm  und  Drang. 
Er  schien  Nicolai  die  mühsamen  Errungenschaften  der  literarischen 
Entwicklung  in  Frage  zu  stellen,  da  er  auf  eine  folgerechte  Weiter? 
entwicklung  verzichtend,  ja  eine  solche  bekämpfend,  es  unternahm, 
das  geistige  Leben  der  Deutschen  von  Grund  aus  umzubilden;  und 
während  er  sich  bemühte,  zu  organisieren  und  zu  zentralisieren, 
schienen  ihm  die  Stürmer  durch  enge  brüderliche,  aber  ausschlies* 
sende  Gemeinschaften,  bald  in  Straßburg,  bald  in  Wetzlar,  Frank* 
fürt,  in  Darmstadt  und  in  Göttingen,  jedenfalls  in  provinzieller  Ab* 
seitigkeit,  das  erschaffene  Gefüge  zu  verwirren  und  abzubauen: 
»Jeder  (von  den  Originalgenies)  geht  seinen  Weg  und  keiner  von 
diesen  Wegen  stößt  zusammen«,  bemerkt  er  tadelnd  zu  Herder \ 
Wertvolle  Gedanken,  bei  denen  die  Mitte  alles  war,  und  das  Ex* 
trem  unvernünftige  Übertreibung,  wie  den  Genie*  und  Original* 
gedanken,  schienen  sie  ihm  durch  einseitige  Betonung  überhaupt 
in  Frage  zu  stellen.  Daß  die  Gegensätze  nicht  sofort  in  aller 
Schärfe  aufeinanderprallten,  sondern  wie  der  zweite  Teil  der  Unter* 
suchung  erweisen  wird,  sich  erst  im  Lauf  einiger  Jahre  herausstell* 
ten,  muß  zunächst  bei  der  kämpferischen  Art  Nicolais,  der  ständigen 
Bewegtheit  seines  Geistes,  die  alles  Feindselige  und  Fremde  sofort 
als  solches  erfaßt  und  stets  das  Bedürfnis  hat,  sich  mit  allen  neuen, 
bedeutenden  Erscheinungen  kritisch  auseinanderzusetzen,  sonder* 
bar  erscheinen.  Indessen  erklärt  es  sich  aus  einer  Tatsache  seiner 
geistigen  Entwicklung,  die  ein  letztes  Moment  jenes  oben  darge* 
stellten  Umsetzungsprozesses  bedeutet,  und,  so  sehr  sie  auch  ob* 
jektiv  den  Gegensatz  verschärfen  konnte,  Nicolai  zunächst  den 
Blick  auf  diese  neuen  Erscheinungen  entzog.  Denn  gerade  in  der 
1  Nicolai  an  Herder  19.  XI.  71. 

50 


Periode  der  ersten  Äußerungen  des  Sturms  und  Drangs  vom  Ende 
der  sechziger  bis  zum  Anfang  der  siebziger  Jahre,  verlor  die  Be* 
schäftigung  mit  der  Kunst  in  Nicolais  Geist  die  Stellung,  die  sie 
bis  dahin  innegehabt  hatte. 

Am  3.  November  1771  schreibt  Nicolai  an  den  Baron  v.  Gebiert- 
»Seit  mehreren  Jahren  nehmen  weitläufige  Handlungsgeschäfte  den 
besten  und  größten  Teil  meiner  Zeit  weg,  und  seitdem  noch  dazu 
die  weitläufige  und  mühsame  zur  Allgemeinen  Deutschen  Biblio* 
thek  gehörige  Korrespondenz  gekommen,  finde  ich  täglich  mehr 
Ursachen,  meine  Lectur  einzuschränken  und  sie  mir  nutzbar  zu 
machen.  Seit  dieser  Zeit  habe  ich  die  schönen  Wissenschaften  und 
Künste  . . .  fast  gänzlich  verlassen,  und  mich  auf  Studien  einschrän* 
ken  müssen,  die  den  Menschen  noch  näher  angehen.«  Ganz  ähnlich 
schreibt  er  zwei  Jahre  später  an  Herder^,  daß  er  seine  Studien  auf 
diejenigen  einschränken  müsse,  »die  den  Menschen  und  die  Mensch* 
heit  betreffen«,  und  daß  daher  ein  gewisser  Teil  der  Poesie  »inso* 
fern  sie  die  Geisteskräfte  und  die  Gesellschaft  nicht  unmittelbar 
verbessert  oder  verschlimmert«,  »außer  seinem  Wege«  liege;  und 
auch  eine  briefliche  Äußerung  an  Denis ^  aus  dieser  Zeit  hat  den* 
selben  Sinn.  Diese  Wendung  hat  sich  schon  lange  vorbereitet.  In 
Fragmenten,  die  nach  Göckingks  Angabe  zwischen  1755—60  ent* 
standen  sind,  erkennt  er,  der  sich  kurz  zuvor  noch  mit  aller  Kraft 
für  die  Schaffung  einer  deutschen  Nationalbühne  eingesetzt  hat: 
»Das  Theater  ist  ein  Werk  des  Luxus«,  und  mit  weiterer  Perspek* 
tive:  »Diejenigen,  die  die  Erde  bebauen,  beschreiben  sie 
nicht«*.  Wie  sich  schon  bei  den  Nachfolgern  Christian  Wolffs  das 
Bestreben  zeigt,  »nicht  mehr  das  Weltganze  und  die  Gesamtheit 
der  Dinge,  sondern  den  Menschen  mit  seinem  tatsächlichen  see* 
lischen  Befinden,  seinen  Aufgaben  und  Zielen  als  vornehmsten 
Gegenstand  des  wissenschaftlichen  Interesses«  zu  setzen ^  so  hat 


»  An  Gebier  3.  XI.  71  =  R.  M.Werner,  »A.  d.  Josephin.  Wien«  Berlin 

'  An  Herder  18.111.73. 

'  An  Denis  28.  XII.  72  =  Denis"  Nachlaß  S.  164. 

*  Göckingk  S.  133.  Eine  Umkehrung  und  Fortsetzung  dieses  Satzes,  im  Sinne 

von:  »Diejenigen  die  die  Erde  beschreiben,  sollten  sie  auch  einmal  bebauen«, 

findet  sich  Sempronius  Gundibert  S.  25:  »Wer  weiß,  ob  es  nicht  gut  wäre,  wenn 

manche,  die  (Ordens=)Bänder  tragen,  auch  Bänder  webten«. 

^  R.  Unger,  Hamann  und  die  Aufklärung  S.  54  insbes.  Vgl.  auch  die  Schrift  von 

4*  51 


auch  Nicolai,  Schüler  Chr.  Wolffs  und  Baumgartens  \  sich  immer 
mehr  zum  Anhänger  des  Popeschen  Satzes:  »Das  eigentliche  Stu* 
dium  der  Menschheit  ist  der  Mensch«  bekannt.  Diese  Anhänger* 
Schaft  führt  ihn  aber  nicht  wie  den  jungen  Goethe,  der  diesen  Satz 
ebenfalls  tief  ins  Herz  gegraben  hatte,  zum  liebevollen  Erfassen  des 
Menschen  in  seinem  prometheischen  Drang  und  seinem  Leid,  nicht 
zu  exakt  naturwissenschaftlichen  Studien,  sondern  zu  dem  Ideal 
einer  streng  wissenschaftlichen  Physiognomik,  die,  wie  im  zweiten 
Teil  der  Untersuchung  gezeigt  werden  wird,  im  Gegensatz  zur  La« 
vater*Goethischen  steht;  und  nicht  zur  Geschichtsauffassung  des 
Sturms  und  Drangs,  die  sich  in  sympathetischem  Lebensgefühl  dem 
Großen  in  der  Geschichte  verwandt  fühlt,  oder  dankbar  der  Quelle 
des  eigenen  Seins  in  der  Vergangenheit  nachspürt,  sondern  zu  exakt 
kulturhistorischen  Studien'-;  nicht  zu  religiösen,  sondern  zu  theolo* 
gischen  Kämpfen. 

Auch  aus  dieser  »Einstellung  auf  den  Menschen«,  der  die  Dich* 
tung  und  die  Literatur  aus  seinem  Gesichtskreis  verdrängt,  ergibt 
sich  ein  Gegensatz  zum  Sturm  und  Drang.  Denn  diese  Entwicklung 
fand  ihren  glücklichen  —  wenn  auch  nicht  vom  ästhetischen  Stand* 
punkt  glücklichen  —  Ausdruck  in  seinem  1773  erschienenen  Roman 
»Das  Leben  und  die  Meinungen  des  Herrn  Magister  Sebaldus  Noth* 
anker«;  und  die  Ablehnung  dieses  Romans  durch  die  Geniebewe* 
gung  ist  ein  wesentHches  Moment  in  seinem  Kampf  gegen  den  Sturm 
und  Drang. 


Felix  Guenther,  »Die  Wissenschaft  vom  Menschen«  (in  Lamprechts  Gesch.  Unter* 

suchungen.  V.),  bes.  S.  23ff. 

'  Vgl.  »Über  meine  gelehrte  Bildung«  S.  10 ff". 

-  Für  das  erwachende  kulturhistorische  Interesse  vgl.  den  152.  und  219.  Lite* 

raturbrief. 

52 


NICOLAI  ALS  KRITIKER 


Die  Darstellung  der  Grundlagen,  die  Nicolais  Verhältnis  zum 
Sturm  und  Drang  bestimmen,  vervollständigt  sich  durch  die  Frage 
nach  dem  Kritiker  Nicolai;  wurde  im  vorangegangenen  Abschnitt 
versucht,  das  Objekt  seiner  kritischen  Auseinandersetzung  mit  dem 
Sturm  und  Drang  näher  zu  bestimmen,  so  handelt  es  sich  jetzt  um 
die  Methode  derselben.  Einer  Untersuchung  der  kritischen  Tätig* 
keit  Nicolais,  die  gemäß  der  Absicht  dieses  Teils  der  Darstellung 
sich  einzig  auf  die  formalen  Züge  des  kritischen  Verfahrens  richten 
kann,  hat  voranzugehen  eine  Bestimmung  ihres  Maßstabes;  und 
dieser  Maßstab  liegt  in  den  Anschauungen  Nicolais  über  das  Wesen 
und  die  Aufgaben  der  Kritik  und  seinen  dementsprechenden  Forde* 
rungen  an  den  Kritiker. 

Eine  irgendwie  tiefere  Begründung  der  Kritik  hat  Nicolai  nirgends 
gegeben;  er  erläutert  nur  eine  vorhandene  Institution.  Die  öffent« 
liehe  Kritik  ist  »die  einzige  gelehrte  Kommunikation,  die  einzige 
Art,  wie  der  Verfasser  (eines  Buches)  die  Meinung  der  Leser  er* 
fahren  kann«^;  der  Kritiker  unterscheide  sich  vom  Leser,  sagt  er  an 
anderer  Stelle  ^  einzig  durch  die  öffentliche  Bekanntgabe  seines  Ur* 
teils,  das  an  sich  jedem  Leser  zustehe.  Die  gelehrte  Republik  sei  eine 
vollkommene  Demokratie ;  jeder  Bürger  habe  das  Recht  zu  sprechen, 
aber  nicht  alle  wollen  und  können  sprechen.  Es  werfen  sich  daher 
einige  zu  Sprechern  auf,  solche,  die  am  begabtesten  sind,  oder  die 
an  einem  Orte  stehen,  wo  man  sie  gut  hören  kann,  oder  solche,  die 
sich  am  unverschämtesten  vordrängen.  So  gebe  es  gute  und  schlechte 
Kritiker,  ohne  daß  die  schlechten  ein  Einwand  gegen  die  Institution 
der  Kritik  wären.  So  sehr  auch  »das  viele  Geschwätze  und  Gestreite 
öfters  beschwerlich  wird,  so  ist  es  dem  Wachstum  der  menschlichen 
Kenntnis  doch  noch  vorteilhafter  als  eine  tote  Stille«,  wie  die  Ge* 
Seilschaft  fördernder  sei  als  die  Einsamkeit;  der  Kritiker  aber  ist 
nichts  anderes  als  »ein  Gesellschafter,  der  sich  mit  mir  über  neue 
Werke  unterhalten  und  mich  zu  fernerer  Untersuchung  auffrischen 
will«.  Halte  man  demnach  aber  die  kritische  Tätigkeit  für  unter* 

'  Göckingk  S.  130. 

-AD  Bibliothek  10,  2,  103  ff.  gelegentlich  der  Rezension  eines  »Anticriticus«. 

53 


geordnet,  glaube  man,  daß  der  Kritiker  als  bloß  reproduktiv  und 
unschöpterisch  unter  dem  Kritisierten  stehe,  so  müsse  man  sich  ver* 
gegenwärtigen,  daß  eine  gute  Beurteilung  eines  schlechten  Buches 
besser  sei  als  das  schlechte  Buch  selber;  eine  gute  Beurteilung  aber 
ist  ihm  eine  solche,  die  »Anlaß  gibt,  besser  zu  verstehen,  richtiger 
zu  empfinden«,  die  in  jeder  Beziehung  »weitere  Aussicht  öffnet«. 

Man  sieht,  daß  er  den  prinzipiellen  Kern  der  Frage  nach  der  Be* 
rechtigung  öffentlicher  Kritik  kaum  berührt;  Erörterungen,  wie  sie 
etwa  in  Hamanns  »Schriftsteller  und  Kunstrichter«  und  »Leser  und 
Kunstrichter«  angestellt  werden,  wird  man  bei  Nicolai  vergeblich 
suchen.  Etwas  weiter  reichen  schon  seine  Gedanken  über  die  x\uf* 
gaben  der  Kritik.  Die  öffentliche  Kritik  ist  ihm  das  Mittel,  den  all* 
gemeinen  Geschmack  zu  heben.  »Die  Kritik  ist  es  ganz  allein,  die 
unseren  Geschmack  läutern  und  ihm  die  Feinheit  und  die  Sicher* 
heit  geben  kann,  durch  die  er  sogleich  die  Schönheiten  und  die 
Fehler  eines  Werkes  einsieht;  und  ein  feiner  Geschmack  ist  nichts 
anderes, als  eine  Fertigkeit,  die  Kritik  jederzeit  auf  die  beste  Art  an* 
zuwenden ;«  das  instinktive  Geschmacksurteil  müsse  jederzeit  durch 
die  Gründe  der  Kritik  bestätigt  werden  können^;  daher  sei  es  »eine 
ebenso  würdige  Beschäftigung  der  Kritik,  feine  Fehler  zu  entdecken 
als  feine  Schönheiten  zu  entwickeln«"-.  Die  Hebung  des  allgemeinen 
Geschmacks,  die  zur  Beförderung  der  schönen  Wissenschaften  in 
Deutschland  notwendig  ist,  wird  durch  die  Kritik  erreicht;  ihre 
zweite,  nicht  minder  wichtige  Aufgabe  in  Hinsicht  auf  dieses  Ziel 
ist  die  Aufdeckung  und  Bloßstellung  dünkelhafter  Unzulänglich* 
keit  und  »poetischer  Kabale«;  auf  diese  beiden  Aufgaben  weist  der 
17.  seiner  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  die  deutschen  Kri* 
tiker,  wie  auch  die  »Vorläufige  Nachricht«  vor  dem  ersten  Band 
der  »Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften«. 

Diesen  Aufgaben  der  Kritik  entsprechen  auch  seine  Forderungen 
an  den  Kritiker.  Ist  Kritik  nichts  als  eine  »gelehrte  Kommunikation«, 
so  muß  ihr  jede  Überheblichkeit  fern  sein.  Wie  er  sich  in  der  »Nach* 
rieht«  vor  seinen  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  dagegen  ver* 
wahrt^,  »im  Ton  eines  Gesetzgebers«  zu  sprechen,  da  er  von  »einem 

'  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  I,  1,  S.  3. 
-  Ebenda  IV,  1,  592. 
'■"  Briefe  itz.  Zust.  S.  2. 

54 


so  hohen  Grad  des  Eigendünkels  weit  entfernt  sei«,  so  betont  er 
auch,  daß  die  Rezensenten  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek 
sich  nicht  unterfangen,  den  Ton  anzugeben,  in  dem  das  Publikum 
urteilen  soll,  da  es  nicht  geraten  sei,  den  Lesern  »Staub  in  die  Augen 
zu  streuen«'.  Da  die  Kritik  »weitere  Aussichten«  eröffnen  soll, 
fordert  er,  daß  der  Kunstrichter  »den  ganzen  Umfang  der  schönen 
Wissenschaften  einsehen«  soll'"';  als  er  einen  Mitarbeiter  der  All« 
gemeinen  Deutschen  Bibliothek,  Ebeling,  bittet,  ihm  einen  Rezen* 
senten  für  das  Fach  der  schönen  Wissenschaften  zu  empfehlen, 
fordert  er  einen  »philosophischen  Geist« ^;  und  an  Schlözer,  der 
ihm  Johannes  Müller  empfohlen  hatte,  schreibt  er*,  das  Feuer  und 
der  jugendliche  Überschwang  desselben  seien  ihm  als  Rezensenten 
sicher  hinderlich,  denn  ein  Kritiker  müsse  »ein  gesetztes,  kalt* 
blutiges  Geschöpf  sein«,  wie  er  ja  auch  in  den  »Briefen  über 
den  itzigen  Zustand«  dem  Kritiker  vorschreibt:  »Man  untersuche 
gründlich  und  nicht  in  einer  Art  von  Enthusiasmus,  der  dem  Leser 
keine  Zeit  lassen  will  zu  überdenken,  ob  man  ihm  Wahrheiten  oder 
Gaukelwerke  vorlege®.«  Der  gründlich  Untersuchende  wird  freilich 
strengere  Maßstäbe  anlegen  als  der  durch  ein  »geblendetes  Staunen«** 
Eingenommene;  so  erkennt  Nicolai  im  Namen  der  Verfasser  der 
Literaturbriefe  es  als  Pflicht,  eine  Schrift  »nach  dem  vollkommensten 
Grad«  abzumessen,  »dessen  sie  fähig  sein  könnte«"^.  Die  Summe 
seiner  Forderungen  an  den  Kritiker  zieht  Nicolai  in  einer  Rezension^, 
in  der  er  gegen  eine  ungerechte  und  mangelhafte  Beurteilung  Vol* 
taires  polemisiert;  der  Kritiker  müsse  sich  die  folgenden  Fragen  vor* 
legen:  »Was  darf  man  von  den  Talenten  dieses  Schriftstellers  den* 
ken  ?  Wie  groß  ist  der  Einfluß  seiner  Werke  auf  seine  Nation,  fremde ' 
Nationen  und  auf  die  deutsche  Nation?  Was  hat  er  für  Verdienste 
um  den  edlen  Zeitvertreib  seiner  Leser,  um  ihren  Geschmack,  um 
ihre  Verfeinerung?  Was  hat  er  der  Religion  und  den  Sitten  geholfen 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek.  Vorrede  z.  2.  Stck.  d.  8.  Bds.  S.  6. 

'  Briefe  itz.  Zust.  Nr.  3,  S.  14. 

"  Wie  aus  der  Antwort  Ebelings  an  Nicolai  v.  29.  IX.  71  hervorgeht.  NN. 

*  Kopie  an  Schlözer  23.  XL  71.  NN. 

»  Briefe  itz.  Zust.  Nr.  7.  S.  55. 

«  Ebenda  Nr.  5,  S.  43. 

'  Literaturbrief  243. 

«  A  D  Bibliothek  21.  2.  367. 

55 


oder  geschadet?«  Erst  nach  Beantwortung  dieser  Fragen,  müssen 
wir  in  Nicolais  Sinn  ergänzen,  kann  eine  speziell  ästhetische  Kritik 
Platz  finden. 

Denn  Nicolai  als  Kritiker  steht  weit  über  den  von  ihm  objektiv 
gesetzten  Grenzen;  seine  kritische  Tätigkeit,  um  das  vorweg  zu 
nehmen,  ist  reicher  und  geht  tiefer,  als  er  es  im  allgemeinen  fordert. 
Aus  dieser  Tatsache  ergibt  es  sich,  was  schon  oben,  im  ersten  Ab* 
schnitt,  angedeutet  wurde,  mit  voller  Deutlichkeit,  daß  sein  kri* 
tisches  Bedürfnis  aus  seinem  ursprünglichen,  tiefsten  Wesen,  nicht 
aus  abgeleiteten  Erwägungen  erwuchs,  so  daß  ihm  erst  kritische 
Auseinandersetzung  ein  Verhältnis  zu  geistigen  Dingen  ermöglichte. 
Wenn  man  in  Lessing  mit  Recht  den  geborenen  Kritiker  erkennt, 
den  kritischen  Menschen  im  weitesten  Sinne,  so  läßt  sich  das  auch 
von  Nicolai  sagen;  in  um  so  höherem  Maße  vielleicht,  als  seine  rein 
schöpferischen  Kräfte  weit  weniger  stark  und  mannigfaltig  sind  als 
diejenigen  Lessings.  Es  ergibt  sich  daher  die  Notwendigkeit,  sein 
Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  auch  an  der  Beschaffenheit  seines 
allgemeinen  kritischenVerfahrens,  seinen  Zielen  und  seinen  Grenzen, 
der  Verwirklichung  seines  kritischen  Ideals  zu  untersuchen;  denn 
Nicolai  will,  gemäß  seinem  ganzen  auf  Verwirklichung  abzielenden 
Denken,  auch  in  der  Kunsttheorie  beinahe  noch  mehr  Wert  auf  die 
Richtigkeit  ihrer  Anwendung  als  auf  die  absolute  Richtigkeit  ge« 
legt  wissend 

Es  mag  zunächst  gestattet  sein,  einige  äußere  Züge  seines  kriti* 
sehen  Verfahrens  zu  zeichnen,  schon  um  das  allgemeine  Bild  Nico* 
lais  an  diesen  Stellen  zu  berichtigen.  Minor  insbesondere  hat  es  so 
dargestellt,  als  ob  Nicolais  Kritik  des  Sturms  und  Drangs  die  leicht* 
fertige  Arbeit  eines  Besserwissers  sei.  Demgegenüber  muß  hier  die 
große  Gewissenhaftigkeit  des  Kritikers  Nicolai  hervorgehoben 
werden.  Von  mehreren  Werken  berichtet  Nicolai,  daß  er  sie  zu 
wiederholten  Malen  durchgelesen  habe,  ehe  er  sich  kritisch  geäu* 
ßert  habe;  so  hat  er  Joh.  Jak.  Duschs  »Tempel  der  Liebe«  »mehr 
als  dreimal«  durchgelesen,  um  den  Faden  der  Erzählung  fassen  zu 
können^;  Gerstenbergs  »Gedicht  eines  Skalden«  hat  er  etwa  fünf* 

'  A  D  Bibliothek  26,  2, 478;  gelegentlich  der  Rezension  von  C.L.Junkers  »Grunde 

Sätzen  der  Malerei«. 

»  Bibl.d.sch.Wiss.  III.  2,  365. 

56 


mal  durchgelesen,  ehe  er  die  Rezension  desselben  niederschrieb'; 
Lavaters  Physiognomik  hat  er  für  seine  Rezension  derselben  vier* 
mal  durchstudiert^.  Wie  er  genau  und  sorgfältig  liest,  will  er  auch 
so  schreiben,  »daß  sich  der  Leser  von  dem  ganzen  Werke  selbst! 
aus  der  Rezension  einen  Begriff  machen  kann«''.  Und  wie  er  gemäß 
seiner  schon  zitierten  Äußerung  an  Johannes  Müller*  aus  gewisser? 
maßen  literarhistorischem  Gesichtspunkt  auch  den  schlechten  Teil 
der  Literatur  in  seiner  Bibliothek  behandeln  will,  damit  die  Leser 
ein  richtiges  Bild  von  dem  Gesamtstand  der  Literatur  erhalten 
sollen,  so  möchte  er  auch  dem  einzelnen  Schriftsteller  gegenüber 
nicht  ohne  weiteres  absprechend  verfahren.  »Bodmer«,  schreibt  er 
an  Herder^,  dem  er  eine  Bodmerrezension  aufträgt,  »ob  er  wohl 
freilich  nicht  zu  lesen  ist,  kann  doch  nicht  ganz  kurz  abgefertigt 
werden,  weil  unter  seinem  Mist  doch  hin  und  wieder  ein  Gold* 
körnchen  liegt«.  Und  während  etwa  der  Herausgeber  des  »Teut* 
sehen  Mercur«  an  Merck  schreibt®:  »In  einem  solchen  Artikel  ist 
alles  gut,  wenn's  nur  mit  Witz  oder  Laune,  oder  etwas  philosophi* 
schem  Teufelsdreck  assaisoniert  ist,«  und  ihn  auffordert,  sich  »alle 
Abend  vor  Schlafengehn  ein  Viertelstündchen  hinzusetzen  und  auf 
ein  Fetzchen  Papier  einen  Artikel  »hinzuwerfen«,  in  dem  Rezen* 
sionen  mit  selbständigen  Einfällen  vermischt  sein  könnten,  äußert 
sich  Nicolai,  als  Blankenburg  ihn  um  eine  Rezension  seiner  Theorie 
des  Romans  gebeten  hatte'':  »Um  ein ...  nützliches,  ausführliches 
Urteil  zu  fällen,  zumahl  über  eine  Materie,  von  der  noch  so  wenig 
gesagt  ist,  würde  in  der  That  mehr  Zeit  erfordert  werden,  als  ich 
leider  habe.  Beym  aufmerksamen  Lesen,  beym  vielfachen  Über* 
legen  und  beym  Aufschreiben  und  Ordnen  der  Gedanken,  gehet 
leicht  ein  Monat  weg.« 

Die  Gewissenhaftigkeit  des  Lesens  und  Schreibens  ist  Voraus* 
Setzung  eines  Kritikers,  der  sein  Urteil  von  äuf^eren  Rücksichten 

'  AD  Bibl.V.  1,210. 

-  An  Lavater  30.  IV.  76  s.  u.  Anhang;  vgl.  s.  Brief  an  Merck  v.  8.  X.  75  =  Wagner  II, 

S.  74,  nachdem  er  das  Lavatersche  Werk  »schon  zweimal  gelesen  hatte«. 

'  »V'orbericht«  zum  1.  Bd.  der  Allg.  Dtsch.  Bibl. 

'  Vgl.  oben  S.  41  Anm.  3. 

^  An  Herder  2.  V.  67. 

«2.111.1781. 

■  Konzept  eines  Briefes  an  Blankenburg,  Jan.  1775.  NN. 

57 


reif  abgeben  will.  Wie  der  Mensch,  so  will  aber  auch  der  Kritiker 
Nicolai  frei  sein,  nicht  eingeengt  durch  die  Rücksichten  auf  »poe* 
tische  Kabale«;  und  hierin  besteht,  wie  alle  Beurteiler  einmütig  zu* 
geben,  seine  literarische  Großtat.  In  einer  Zeit,  da  dem  lobenden 
Kritiker  im  allgemeinen  mehr  zu  mißtrauen  war  als  dem  tadelnden, 
weil  dieser  »nur«  durch  persönliche  Abneigung,  jener  aber  durch 
Sold  oder  indirekte  materielle  Abhängigkeit  zu  seinem  Urteil  be* 
stimmt  war;  in  der  Zeit,  da  der  Streit  der  Schweizer  und  Leipziger 
von  den  kleineren  Geistern  als  Kampf  um  die  literarische  Macht 
geführt  wurde,  trat  Nicolai  mit  seinen  »Briefen  über  den  itzigen 
Zustand«  hervor  und  erregte  das  größte  Aufsehen  dadurch,  daß 
er  es  noch  deutlicher  und  entschiedener  als  Lessing  im  »Neuesten« 
wagte,  sich  zu  keiner  der  beiden  Parteien  zu  bekennen.  Das  Recht 
unvoreingenommener  Kritik  hat  er  stets  vertreten,  wie  er  nur  den 
als  Kritiker  gelten  ließ,  und  insbesondere  an  der  Allgemeinen  Deut* 
sehen  Bibliothek  nur  solche  Rezensenten  duldete,  deren  unpartei* 
ischer  Urteilsweise  er  gewiß  war.  Die  materielle  Unbestechlichkeit 
des  Kritikers  Nicolai  ist  nie,  auch  von  den  Zeitgenossen  nicht,  an* 
gezweifelt  worden;  wer,  wie  ein  Wiener  Schriftsteller,  den  Versuch 
machte,  durch  Bestechung  Nicolais  Urteil  zu  beeinflussen,  wurde 
von  Nicolai  sogleich  öffentlich,  wenn  auch  unter  Verschweigung 
des  Namens  gebrandmarkt ^  Ebensowenig  darf  auch  seine  geistige 
Unbestechlichkeit  angezweifelt  werden.  So  bittet  er  Herder,  dem 
er  die  Rezension  der  in  seinem  Verlage  erschienenen  »Romantischen 
Briefe«  (von  Leonhard  Meister)  aufträgt,  obwohl  er  selbst,  wie 
Herder,  Mendelssohn  und  Iselin  sehr  günstig  über  sie  dachten,  mit 

'  Vgl.  Allg.  Dtsch.  Bibl.  43,  2,  616.  Nicolai  ließ  die  ihm  zugedachte  Bestechungs= 
summe  Spalding  für  die  Armen  überweisen;  die  Quittung  Spaldings  liegt  im 
Nicolaischen  Nachlaß  unter  Spaldings  Briefen.  —  Hier  sei  auch  erwähnt,  daß 
er  es  ablehnte,  Bücher  in  seinem  Verlage  erscheinen  zu  lassen,  in  denen  ihm 
selbst  Ruhmeskränze  geflochten  werden  sollten;  als  z.  B.  Prof.  Baidinger  aus 
Marburg  ihm  in  einem  ungedruckten  Brief  aus  dem  Jahre  1792  ein  Buch  zum 
Verlage  anbietet,  in  dem  die  vorzüglichsten  Männer  des  Zeitalters,  darunter  auch 
Nicolai  Ehrendenkmäler  erhalten  sollten,  schreibt  Nicolai  an  den  Rand:  »Ich 
würde  das  Buch  schon  deshalb  nicht  verlegen,  weil  etwas  von  mir  darin  vor* 
kömmt.«  Demgemäß  hat  er  auch  in  dem  Gelehrtenverzeichnis,  das  er  seiner 
»Beschreibung  der  Kgl.  Residenzstädte  Berlin  und  Potsdam«  (1779)  im  dritten 
Anhang  beifügte,  sich  selbst  übergangen  —  zu  Unrecht,  wie  der  Rezensent  der* 
selben,  v.  Schmidt:=Phiseldeck,  A  D  Bibl.  39,  2,  545  meint. 

58 


dem  Lobe  eher  zu  sparsam  als  zu  häufig  umzugehen:  »ich  mag  auch 
gern  den  allergeringsten  Schein  vermeiden,  daß  ein  Buch  gelobt 
werde,  weil  es  in  meinem  Verlage  gedruckt  ist«  ^  Und  wenn  er  auch 
gelegentlich  eines  seiner  Werke  (ohne  Namensunterschrift)  selbst 
anzeigt^,  so  geschieht  das  mit  ganz  objektiven  Wendungen,  jeden* 
falls  ist  er  vorsichtiger  und  zurückhaltender  als  etwa  Lessing  in  der 
Selbstanzeige  seiner  Ausgabe  von  Logaus  Sinngedichten  und  seiner 
Fabeln^;  und  wir  dürfen  es  ihm  wohl  glauben,  wenn  er  etwa  in 
seiner  Auseinandersetzung  mit  Wieland  schreibt*:  »Was  mich  an= 
betrifft,  so  bin  ich  mir  wohl  bewußt,  daß  ich,  wenn  ich  Bücher  an? 
zeige, . . .  keine  andere  Absicht  habe,  als  meine  Meinung  davon  frei 
heraus  zu  sagen.  Dies  darf  ich,  so  wie  Sie  es  dürfen  und  jeder  Ge* 
lehrte  es  darf.  Ich  kann  sehr  wohl  geschehen  lassen,  daß  man  sage, 
ich  habe  geirrt;  aber  niemals  werde  ich  stillschweigen,  wenn  man 
mich  beschuldigt,  daß  ich  hämisch  und  parteiisch  gewesen^.« 
Wie  er  das  kritische  Urteil  unabhängig  machen  will  von  der  lite* 

'  An  Herder  11.  IV.  69. 

'  Wie  das  »Vademecum  für  lustige  Leute«,  zu  dem  er  die  Vorreden  geschrieben 
hat  (Allg.  Dtsch.  Bibl.,  1,  1,  298  9),  sein  »Ehrengedächtnis«  für  Thomas  Abbt 
(AUg.  Dtsch.  Bibl.  VI,  2,  254)  und  den  3.  Teil  seines  »Sebaldus  Nothanker«  A  D 
Bibl.,  Anhang  zum  25.-36.  Band  2,  878,  wo  er  sagt:  Ȇber  den  Wert  desselben 
weiter  nichts  zu  sagen  haben  wir  gegründete  Ursachen,  die  der  Leser  leicht  er= 
raten  wird;«  ebenda  S.  883  zeigt  er  die  Übersetzung  seiner  »Freuden  Werthers« 
ins  Holländische  an  als  »eine  Übersetzung  eines  in  Deutschland  genug  bekannt 
ten  Werkchens«. 

'  Im  43.,  44.  und  70.  Literaturbrief. 
'  A  D  Bibl.  57,  1,  »Nachricht«  S.  306. 

"  Mit  einem  Beispiel  mag  der  Vorwurf  der  parteiischen  Voreingenommenheit, 
der  gleichwohl  gelegentlich  gegen  Nicolai  erhoben  wird,  entkräftet  werden. 
Franz  Kopetzky  wirft  in  seinemWerk  über  »Joseph  und  Franz  Sonnenfels«  (S.  164) 
Nicolai  vor,  daß  sein  Urteil  gegen  Sonnenfels  unsachlich  war:  »Daß  die  strenge 
Objektivität  bei  der  Besprechung  der  verschiedenen  Werke  nicht  selten  der  sub= 
jektiven  Voreingenommenheit  weichen  mußte,  darf  an  Buchhändlerjournalen 
nicht  auffallen«;  Nicolai  habe  anfänglich  günstige  Urteile  über  Sonnenfels  ge^ 
fällt,  dann,  als  der  freundschaftliche  Briefwechsel  mit  Sonnenfels  aufhörte,  un? 
günstige;  »Sonnenfels  fand  es  daher  an  der  Zeit,  Nicolais  Freundschaft  wieder 
aufzufrischen,  weshalb  er  sich  mit  demselben  in  eine  Korrespondenz  einließ;  die 
Wirkung  dieses  Briefwechsels  trat  bald  zutage«  (nämlich  in  einer  günstigen  Re? 
zension  von  Sonnenfels  »Grundsätzen  der  Polizeiwissenschaft«)  (S.  175).  Abge= 
sehen  von  der  zweifachen  Unrichtigkeit,  daß  erstens  Nicolai  mit  den  Rezen= 
senten  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  von  Kopetzky  ohne  weiteres  identifiziert  wird,  und 

59 


rarpolitischen  Konstellation,  so  will  er  den  Menschen  nicht  die  Lei* 
stungen  des  Dichters  oder  des  Philosophen  entgelten  lassen,  so  will 
er  überhaupt  Leistung  und  Person  trennen.  »Was  geht  es  mich  wohl 
an,  wer  ein  Blättchen  geschrieben  hat,  wann  ich  nur  weiß,  ob  eine 
Wahrheit  oder  Falschheit  darauf  geschrieben  stehet,«  sagt  er  im 
76.  Literaturbrief.  In  seinem  Brief  an  Wieland  \  in  dem  er  sich  gegen 
dessen  »persönlichen  Ausfall«  (gelegentlich  der  Besprechung  von 
Nicolais  »Freuden  Werthers« ^)  verteidigt,  fügt  er  die  »clausula  sa* 
lutaris«  hinzu:  »Es  geschehe  was  wolle,  so  wird  dadurch  in  der 
großen  Hochachtung  gegen  Ihre  Talente  nichts  verändert  werden . . .«; 
das  aber  verübelte  Wieland  ihm  gerade  und  antwortet\  es  sei 
schlimm  für  Nicolai,  wenn  er,  ungeachtet  ob  Wieland  nun  nach 
Nicolais  Meinung  als  ein  »ehrlicher  Kerl  zur  gesagten  Wahrheit 
halte«,  oder  »wie  ein  Schurke  rekantiere«,  dennoch  seine  Talente 
hochachten  wollte;  Wieland  polemisiert  also  dagegen,  daß  Nicolai 
den  Dichter  vom  Menschen  trennen  will,  Nicolai  aber  hält  an  seiner 
Ansicht  fest*.  Lavater  verlangt  —  eine  für  den  Sturm  und  Drang 
charakteristische  Forderung  —  in  bezug  auf  seinen  »Pontius  Pila* 
tus«:  »Es  ist  Abdruck  meines  Geistes  und  Herzens,  Schimmer  oder 
Dämmerung  von  mir,  allemal  von  Individualität  und  ohne  das  Me* 
dium  meiner  selbst  eine  im  ganzen  ungenießbare  Speise.  Wer  dieses 
Buch  haßt,  muß  mich  hassen;  wer  dieses  Buch  liebt,  muß  mich 
lieben  . . .  Wem  es  durchaus  gefällt,  der  muß  ein  Herzensfreund 
von  mir  sein«^;  Nicolai  aber  scheidet  da,  wo  er  anerkannten  Wer* 
ken  aus  innerer  Gegensätzlichkeit  widersprechen  muß,  das  Werk 
vom  Autor  und  will,  wo  er  ein  Buch  angreift,  ja  parodiert,  dem 

zweitens,  daß  es  Nicolai  war,  der  den  Briefwechsel  beendet  hatte,  nicht,  wie 

Kopetzky  annimmt,  Sonnenfels,  —  war  hier  nicht  eher  Sonnenfels  der  Vorwurf 

einer  Unredlichkeit,  als  Nicolai  derjenige  der  Voreingenommenheit  zu  machen, 

um  so  mehr,  als  Kopetzky  zugibt,  daß  Sonnenfels,  »als  ihm  die  Unterstützung 

der  Literatur  schon  entbehrlich  schien«,  Nicolais  Reisebeschreibung  öffentlich 

hart  verurteilt  habe? 

1  5.  V.  75  =  Allg.  Dtsch.  Bibl.  37,  1308. 

-  Im  »Teutschen  Mercur«  März  1775. 

3  8.  V.  75  =-  Allg.  Dtsch.  Bibl.  37, 1,  309. 

^  An  Wieland  16.V.75  =  Allg.  Dtsch.  Bibl.  37,  1,  311. 

■^  Sauer,  D  N  L  79;  vgl.  Hamann  an  Herder  (3.  IV.  74  =  Roth  V,  62)  über  Merck: 

»Ich  merkte  gleich  Unrat,  da  er  mir  dreimal  mit  seiner  verfluchten  Distinc  = 

tion  zwischen  Mensch  und  Autor  ins  Gesicht  schlug.« 

60 


Autor  die  Hochachtung  und  Bewunderung  seiner  Talente  nicht 
versagen.  Diese  Tendenz,  die  sich  schon  früh  zeigt,  mußte  natür# 
Hch  um  so  stärker  hervortreten,  je  mehr  sich,  wie  das  oben  ange= 
deutet  wurde,  das  reine  Interesse  für  die  Poesie  speziell  wissen? 
schaftlichen  Interessen  unterordnete,  und  je  mehr  sich  Nicolai  in 
eine  Abwehrstellung  gedrängt  fühlte. 

Diese  Kennzeichnung  des  kritischen  Verfahrens  Nicolais  bedarf 
indessen  noch  einer  Berichtigung.  Die  Sachlichkeit,  die  ihm  ermög* 
licht,  die  innere  Abneigung  gegen  ein  Werk  mit  der  Anerkennung 
eines  Autors  zu  vereinen,  den  Menschen  vom  Schriftsteller  zu  tren* 
nen,  wird  ergänzt  durch  ein  psychologisch  gerichtetes  Verfahren, 
das  ein  Werk  auf  den  Urheber,  eine  Anschauungsweise  auf  die  sub# 
jektiven  Bedingungen  derselben  zurückführen  will.  Es  handelt  sich 
dabei  für  Nicolai  aber  nicht  um  einen  Widerspruch,  sondern  um 
zwei  verschiedene  Stufen,  Jene  erste  Trennung  ermöglicht  ihm  in 
den  literarischen  Fehden  —  und  an  welches  bedeutende  Werk  jener 
Zeit  knüpften  sich  nicht  unfehlbar  gleich  nach  seinem  Bekannt* 
werden  solche  an?  —  sein  Urteil  vor  der  Trübung  zu  bewahren,  die 
aus  dem  Ruf,  der  einem  Schriftsteller  voranging,  sich  auch  für  selb* 
ständigere  Geister  ergab.  Dieses  Verfahren  aber  erlaubt  ihm  eine 
nicht  mehr  äußerliche  Sachlichkeit,  die,  um  das  Werk  in  seiner 
Ganzheit  erfassen  und  es  von  der  ihm  eigenen  Grundlage  aus  kriti* 
sieren  zu  können,  den  Dichter  als  Maßstab  der  Dichtung,  den  Men* 
sehen  als  Maßstab  der  Anschauung  setzt,  ohne  daß  freilich  der 
Dichter  oder  der  Mensch  an  sich  Objekt  seiner  Kritik  wird.  Steht 
doch  im  Mittelpunkt  seiner  Kunstanschauungen,  wie  wir  erkannten, 
ni^ht  das  Werk,  sondern  »der  Künstler  und  sein  Werk«,  ohne  daß 
er  den  Künstler  an  sich  irgendwie  in  dogmatische  Fesseln  einengen 
will;  es  kommt  ihm  einzig  auf  die  Erkenntnis  des  Zusammenhanges 
zwischen  subjektiven  Bedingungen  und  objektiver  Gegebenheit  an, 
nicht  auf  dieses  oder  jenes  gesondert.  Nicolai  besaß  ein  gutes  Organ 
für  psychologische  Zusammenhänge,  das  sich  zumal  seit  der  Zeit, 
da  die  »Wissenschaft  vom  Menschen«  immer  stärker  sein  Interesse 
in  Anspruch  nahm,  natürlich  innerhalb  der  durch  die  Tempera* 
mentspsychologie  seiner  Zeit  abgesteckten  Grenzen,  betätigte.  Man 
könnte  seine  Romane  wegen  des  starken  Hervortretens  der  seeli* 
sehen  Bedingungen  zu  jeder  Handlung  seiner  Personen  psycho* 

61 


logische  nennen;  freilich  reicht  sein  dichterisches  Vermögen  nicht 
aus,  um  sie  zu  gestalten,  er  räsonniert  vielmehr  über  die  psycholo* 
gischen  Faktoren  der  Handlungen  seiner  Helden.  Umständlich, 
aber  mit  dem  richtigen  Gefühl  für  die  Notwendigkeit  der  Begrün? 
düng  einer  wichtigen  Handlung  aus  der  seelischen  Zuständlichkeit 
entwickelt  er  z.  B.  den  Entschluß  Sophiens  im  »Dicken  Mann«, 
ihren  Jugendfreund,  der  sie  einst  verschmäht  hat,  zu  heiratend  Ja 
in  der  ganzen  Anlage  dieses  Romans  zeigt  sich  das  Bestreben,  die 
Schicksale  des  Helden  —  und  damit  der  heruntergekommenen  philo* 
sophischen  Gecken  Kantischer  Schule  —  aus  dem  »Milieu«,  der  Er* 
ziehung,  den  äußeren  Lebensumständen  seiner  Jugendjahre,  dem 
Charakter  der  Eltern  usw.  psychologisch  zu  erklären.  Besonders 
stark  spricht  sich  dieses  Bemühen  in  den  »Vertrauten  Briefen«  aus, 
doch  zeigt  es  sich  auch  im  »Sempronius  Gundibert«  und  im  »Se* 
baldus  Nothanker«,  hier  besonders  in  den  Charakteren  Säuglings 
und  Marianes.  Dieses  Organ  für  die  psychologischen  Zusammen* 
hänge  hat  sich  denn  auch  in  seinem  kritischen  Verfahren  funktionell 
betätigt.  So  verlangt  Nicolai  etwa  von  Herder^  daß  er  bei  der  ihm 
aufgetragenen  Bodmerrezension  »untersuchen«  solle,  »woher  es 
kommt«,  daß  diese  Gedichte  so  »unwohlklingend  und  so  unlesbar 
sind.  Die  harte  Prosodie  und  die  närrischen  Epithete  u.  dgl.  sind 
freilich  eine  von  den  Ursachen  mit,  aber  selbst  in  den  Gedanken 
liegt,  wie  mich  dünkt,  nicht  die  Hauptursache.  Bodmers  Einbil* 
dungskraft  ist  kalt  und  er  sucht  durch  locos  communes  seine  Ge* 
dichte  aufzustutzen.«  Und  im  allgemeinen  Überblick  über  die  zeit* 
genössische  Literatur,  den  der  Magister  Matthesius  im  Gespräch 
mit  Sebaldus  Nothanker  gibt^,  erklärt  er  sich  im  Sinne  Nicolais: 
»Wir  wollen  uns  die  Fehler  unserer  Literatur  und  unserer  Gelehr* 
ten  nicht  verhehlen,  aber  wir  wollen  auch  das  entschuldigen,  was, 
ohne  die  Schuld  unserer  Gelehrten,  nicht  anders  sein  kann.«  »Was 
wäre  Kant  geworden«,  urteilt  er  demgemäß*,  »wenn  er  wie  Hume 
hätte  schreiben  können.  Und  er  würde  so  geschrieben  haben,  wenn 
er,  wie  Hume,  hätte  Menschen  kennen  lernen,  statt  daß  er  bloß 

1  Dicker  Mann  II,41.233f. 

-  An  Herder  2.  V.  67  =  Hoffmann  S.  9. 

^  Sebaldus  Nothanker  II,  S.  106. 

'  Göckingk  S.  130. 

62 


Studierstube  und  Katheder  kannte«.  So  leitet  er  den  Subjektivismus 
der  Fichteschen  Ich*Philosophie  aus  dem  engen  klösterHchen  Leben 
des  Tübinger  Stifts  ab,  die  spekulative  Hypertrophie  der  Kantianer 
aus  der  übertriebenen  rationalistisch*dogmatischen  Jugendbildung 
in  theologicis^  Scheint  es  nicht  geradezu  eine  Umkehr  aller  Begriffe, 
wenn  er  Friedrich  Schlegel,  der  allerdings  damals  in  der  Periode 
seiner  konstruierenden  »Objektivitätswut«  sich  befand,  die  Worte 
entgegenruft ■*:  »Lessings  Werke  wollen,  so  wie  die  Werke  aller 
guten  Schriftsteller,  in  dem  eigenen  Geiste  des  Verfassers 
gelesen  sein;  der  fremde,  besonders  der  rein  vonvornige  dunkel* 
volle,  nach  eigenem  Bedürfnisse  postulierende  Geist  unterdrückt 
jeden  Geist,  der  in  den  Schriften  eines  vorzüglichen  Verfassers  zu 
Hause  ist«^.  Und  er  fordert  dieses  kritische  Verfahren  nicht  nur, 
sondern  wendet  es  auch  an.  So  ist  z.  B.  in  der  Zeit  seines  Kampfes 
gegen  den  Sturm  und  Drang  die  Bezeichnung  »schielend«  ein 
typischer  Ausdruck  seines  Tadels,  der  uns  oft  begegnen  wird. 
So  sucht  er  sich  Thomas  Abbts  Stil,  dem  er  ablehnend  gegenüber* 
steht,  psychologisch  zu  erklären.  Je  mehr  er  es  überlege,  schreibt 
er  an  Justus  Moser*,  scheine  ihm  Abbts  Stil  »aus  einer  mißlungenen 
Nachahmung  des  Tacitus«  entstanden  zu  sein;  er  wollte  wichtige 
Sentenzen  in  wenig  Worten  ausdrücken;  zuweilen  seien  aber  seine 
Gedanken  entweder  noch  nicht  reif  genug  gewesen,  oder  er  habe 
nicht  Geduld  genug  gehabt,  sie  so  zu  wenden,  daß  sie  sich  natürlich 
ausdrücken  ließen,  und  habe  dann  der  deutschen  Sprache  die  Schuld 
gegeben,  deren  vorhandene  Mittel  ihm  als  unzureichend  galten, 
und  die  er  durch  eigene  Wortfügungen  und  Metaphern  ersetzte; 
bald  habe  er  sich  indessen  so  an  diese  willkürliche  Schreibart  ge* 
wohnt,  daß  er  sie  auch  verwandte,  »wenn  die  Ursachen,  die  sie  zu* 
erst  veranlaßten,  nicht  da  waren«.  —  So  hebt  er  auch  hervor,  daß 

'  Reisebeschreibung  XI,  103ff.  u.  120ff.,  gelegentlich  s.  Darstellung  des  Tübinger 

Stifts. 

-  Vorrede  zu  den  »Gesprächen  Chr.  Wolfts  mit  einem  Kantianer«,  S.65;  im  Hin= 

bhck  auf  Schlegels  Emilia  Galotti=Kritik. 

■'  Vgl.  »Vertraute  Briefe«  S.  118:  »Der  wahre  Kenner  schätzt  jedes  Geisteswerk  in 

seiner  Art;  wer  alles  willGoethisch  und  Shakespearisch  haben,  ist  genau  so  klein. 

lieh  und  einseitig,  als  die  Franzosen,  welche  meinen:  que  le  bon  goüt  ne  se 

trouve  qu'en  France«. 

*  19.  III.  67  =  Mosers  Werke,  ed.  Abeken  10,  146. 

63 


der  Dichter  nur  da  Vollkommenes  leisten  könne,  wo  er  seinen  eigen* 
sten  Bedingungen  folgt,  und  wie  er  es  Uz  so  wenig  anrechnen  will, 
wenn  er  statt  Liedern  bisweilen  Lehrgedichte  macht,  als  Klopstock, 
wenn  dieser  statt  Oden  Lieder  dichtet,  so  bemerkt  er  beispielsweise 
von  der  Karschin,  daß  sie  nur  da  Vollkommenes  leiste,  wo  sie  »in 
der  Hitze  der  Einbildungskraft«,  —  die  sie  sich  selbst  als  eigentliches 
Produktionsmittel  in  der  Vorrede  zu  ihren  gesammelten  Gedichten 
zugewiesen  hatte,  —  nicht  aber  »aus  Vorsatz  und  mit  ruhiger  Über* 
legung«  dichtet;  ihre  dichterische  Stärke  beruhe  in  der  Improvisa* 
tion,  nicht  aber  in  der  —  von  Nicolai  einzig  geschätzten  —  Verbin* 
düng  planvollerÜberlegung  und  ursprünglicher  dichterischerKraft^ 
Dieses  Eingehen  auf  die  psychologischen  Grundbedingungen  ist 
so  stark,  so  sehr  nimmt  er  in  dem  zu  kritisierenden  Werk  Platz,  daß 
er  mitunter  die  Selbständigkeit  seines  Urteils  aufgibt  und  sich  ganz 
an  das  zu  Beurteilende  verliert.  — 

Auch  an  der  Art  des  kritischen  Verfahrens  Nicolais  haben  sich 
die  Widerstände  gegen  den  Sturm  und  Drang  entzündet.  Die 
gegenpoligen  Anschauungen  über  das  Wesen  der  Kritik  haben 
sich  in  Nicolais  Auseinandersetzung  mit  Gerst2nberg  und  Hamann 
recht  früh  geäußert,  wie  sie  später  im  Streit  mit  Voß  hervortraten; 
die  Gegensätze  des  kritischen  Verfahrens,  die  vorhin  schon  an 
einer  Stelle  durch  die  Erwähnung  der  Lavaterschen  Äußerung 
über  seinen  »Pontius  Pilatus«  angedeutet  wurden,  haben  sich  in 
seinem  Briefwechsel  mit  Herder  und  Lavater  bemerkbar  gemacht. 
Die  gekennzeichnete  Sachlichkeit  des  Kritikers  Nicolai  im  Verein 
mit  seinem  psychologischen  Verfahren  hat  wiederholt  die  Ablehnung 
und  den  Spott  der  Stürmer  erfahren.  Der  junge  Goethe  stellt  ein* 
maP  als  die  beiden  Arten  des  Kunstbetrachters  den  »Kenner«  und 
den  »Enthusiasten«  gegenüber;  das  kritische  Ideal  der  Stürmer  ver* 
körpert  der  Enthusiast;  Nicolai  war  und  galt  mit  Recht  als  »Ken* 
ner«.  Aber  mehr:  Nicolais  individuelle  Organisation  mußte  da  ver* 
sagen,  wo  —  wie  bei  den  Werken  und  Versuchen  der  jungen  Gene* 
ration  —  bei  aller  Abgewogenheit  des  Urteils  eine  unbegrenzte 
Schmiegsamkeit   und   Anpassungsfähigkeit,   bei    ausgesprochener 


'  Nicolai  im  276.  Literaturbrief,  der  von  Mendelssohn  herrührt,  dem  Nicolai  je^ 
doch  nach  Altenkrügers  Angabe  (S.  100)  die  hier  zitierten  Stellen  eingefügt  hat. 
'  Weimarer  Ausgabe.  I.  Bd.  II,  187  f. 

64 


Richtung  auf  das  Monumentalische  der  Sinn  für  Detail  und  Kolo* 
rit,  für  das  Vereinzelte,  ja  Fragmentarische  gefordert  war  —  eine 
Kritik,  die  durch  Zutat  und  Beiwerk  hindurch  die  Ganzheit  erfaßte, 
mit  einer  Schnellkraft  und  Intensität,  die  der  »Sphäre  des  Genius« 
(Gerstenberg)  gleichzukommen  suchte.  Merck  schreibt,  über  Lenz' 
Liebesgedichte,  die  er  in  Gemeinschaft  mit  Goethe  gelesen  hatte  ^: 
»Sie  waren  dem  äußeren  Schnitt  nachMenantisch,Talandrisch,Gott* 
schedisch,  dafür  hätte  sie  gewiß  Ramler  gebrandmarkt.  Aber  in« 
nen  wehte  der  große  Wind  heraus,  der  uns  mitschaudern 
machte.«  So  urteilt  der  berufene  Kritiker  der  Jungen.  Nicolai  hat 
den  »großen  Wind«  nur  bei  einem  Werk  der  jungen  Generation 
gespürt:  bei  Goethes  Werther  —  aber  mit  diesem  Werk  ist  sein 
Name  als  Kritiker  auf  eine  unrühmliche  Weise  verbunden. 


'  An  Lenz  8.  III.  76  =  Briefe  an  Lenz  ed.  FreyesStammler  I,  193. 

5  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  <5 


ZWEITER  TEIL: 

ENTWICKLUNGSMÄSSIGE  DAR= 
STELLUNG  VON  ETWA  1765  BIS  1780 


ERSTES  KAPITEL 


Wenn  die  außerordentliche  Stellung  berechtigt  ist,  die  man  Klop* 
Stocks  Messias  in  der  Entwicklung  der  deutschen  Literatur  des 
18.  Jahrhunderts  zuweist,  so  verdient  Lessings  kritische  Auseinander* 
Setzung  mit  dem  Messias,  gemäß  der  engen,  gesetzmäßigen  Verbin= 
düng  von  Kritik  und  dichterischer  Produktion  in  jener  Zeit,  eine 
gleichfalls  hervorragende  Beachtung.  Es  ist  weniger  der  Wert  dieser 
kritischen  Auseinandersetzung  an  sich,  nicht  die  Aufdeckung  neuer, 
fruchtbarer  Prinzipien,wie  später  in  den  Literaturbriefen,  im  Laokoon 
und  der  Hamburgischen  Dramaturgie,  was  ihr  diese  Bedeutung  zu* 
kommen  läßt,  als  vielmehr  das  an  dieser  Stelle  deutlich  erkennbare 
Hervortreten  zweier  verschiedener  geistiger  Strömungen,  die  das 
Jahrhundert  hindurch  im  Kampfe  lagen  und  beide  die  vornehmsten 
Früchte  desselben  gezeitigt  haben.  Der  bürgerliche  Realismus,  der 
streng  rationalistischen  Schulzucht  schon  entwachsen,  der  seit  den 
dreißiger  Jahren  des  Jahrhunderts  sich  deutlich  offenbart,  um  in 
Lessing  und  den  »Berlinern«  seinen  eigentlichen  und  bedeutungs* 
vollen  Ausdruck  zu  erlangen,  und  der  hier  in  Klopstocks  Messias 
zur  großartigen  Ausprägung  gekommene,  den  Individualismus  der 
Genieperiode  vorbereitende  Pietismus,  die  hier  einzig  religiös  orien* 
tierte  Gefühlsbetontheit  stehen  sich  hier  an  entscheidender  Stelle 
gegenüber,  und  in  der  nicht  gerade  starken  Leistung  des  jüngeren 
Kritikers  Lessing  gegenüber  dem  großen  Werk  des  älteren  Klop* 
stock  deutet  sich  das  Schicksal  einer  Generation  an,  die  »frühen 
Ruhm  mit  herbem  Altersgeschick  bezahlen  mußte«  \  seigt  sich  das 
starke  Unbehagen,  das  eine  mächtig  aufstrebende  Jugend  gegenüber 
den  unbestreitbar  großen  Leistungen  der  Zeitgenossen  empfand,  die 
einer  anderen  Geistigkeit  entstammten. 

Denn  allerdings  ist  Lessings  erste  Stellungnahme  zu  Klopstock 
stark  von  diesem  Unbehagen  beeinflußt.  »Der  junge  Lessing«,  er* 
kennt  Erich  Schmidt^,  »machte  bei  den  vornehmen  neuen  Denk* 

'  R.  Unger,  »Hamann  und  die  Aufklärung«  S.  10.  Für  diese  ganzen  Zusammen^ 
hänge:  vgl.  ebenda,  Kap.  2  und  6,  und  Franz  Muncker,  »Klopstock,  Geschichte 
seines  Lebens  und  seiner  Schriften,«  Stuttgart  1888,  S.  178  f. 
^  Erich  Schmidt,  »Lessing«  I,  S.  96. 

69 


mälern  didaktischen  Tiefsinns  und  erhabener  Begeisterung  mit  sehr 
gemischten  Gefühlen  Halt.  Der  Schalk  in  ihm  spöttelte  über  so  viel 
Gedanken*  und  Gefühlsaufwand,  aber  die  rasche  Erkenntnis,  daß 
diese  Poesien  Hallers  und  Klopstocks  Zukunft  atmeten,  und  das 
leidenschaftliche  Verlangen,  mit  ihnen  zur  Unsterblichkeit  empor* 
zusteigen,  schrie  solche  kritischen  Regungen  nieder.«  War  so  ein  auf 
reines  Nachempfinden  gegründetes  Urteil  für  Lessing  unmöglich, 
so  traten  andere  Gesichtspunkte  ein,  um  die  nun  einmal  objektiv 
feststehende  Größe  Klopstocks  zu  begründen;  der  getrübte  Blick 
des  Kritikers  stellte  sich  literarpolitisch  ein:  »Lessing  betrachtete 
Klopstock  unter  historischen  Gesichtspunkten,  die  hier  mit  den 
patriotischen  zusammenfielen,«  urteilt  Franz  Muncker^  Es  ist  daher 
bei  Lessings  geistiger  Organisation  nicht  verwunderlich,  daß  er, 
wenn  der  persönliche  Antrieb  zu  solcher  Stellungnahme  fortfiel,  das 
Unzulängliche  derselben  einsah,  und  etwa  gegen  die  seiner  Kritik 
verwandten,  ja  von  ihr  abhängigen  kritischen  Äußerungen  Nicolais 
gegen  Klopstock,  sein  Mißfallen  bezeugte^. 

In  der  Tat  sind  die  ersten  kritischen  Äußerungen  Nicolais  im 
Geist  den  Lessingschen  verwandt,  was  nicht  nur  aus  der  starken 
äußeren  Abhängigkeit  von  Lessing  zu  erklären  ist.  Man  muß  aller* 
dings  betonen,  daß  Nicolai  im  Gegensatz  zu  Lessing  ein  gewisses 
ursprüngliches  positives  Verhältnis  zu  Klopstock  gehabt  hat.  Zwar 
darf  das  Lobgedicht  des  vierzehnjährigen  Schülers  auf  Klopstock, 
auf  das  zuerst  E.  Altenkrüger  hinweisen  konnte  \  ein  fades,  trocken* 
lehrhaftes  Elaborat,  in  dieser  Hinsicht  nicht  überschätzt  werden; 
aber  die  außerordentliche  Bedeutung,  die  die  ersten  Bände  der 
Bremer  Beiträge  in  seinem  Bildungsgange  als  erste  und  fruchtbarste 
literarische  Anregung  besitzen*,  und  der  von  Nicolai  später  ge* 
rühmte  starke  Eindruck,  den  Miltons  »Verlorenes  Paradies«  auf 
den  heranwachsenden  Jüngling  als  »Muster  moderner  Poesie« 

'  Franz  Muncker,  »Lessings  persönliches  und  literarisches  Verhältnis  zu  Klop; 

stock«  S.  74. 

-  Vgl.  Lessing  an  Nicolai  3.  VlI.  57  =  Lachmann^Muncker,  XVII.  111  und  im 

18.  Literaturbrief,  wo  er  sagt,  er  habe  gegen  wenig  Rezensionen  in  der  Biblio* 

thek  der  schönen  Wissenschaften  so  viel  einzuwenden,  wie  gegen  die  des  Messias 

(von  Nicolai). 

'  F.  Nicolais  Jugendschriften  S.  28  f. 

*  Vgl.  Göckingk  S.  10. 

70  .  ' 


machte  \  lassen  auch  seine  ursprüngHche  Stellung  zu  Klopstocks 
Messias  als  positiv  erschließen.  Wenngleich  auch  damals  schon 
gegenüber  der  vom  Pietismus  stark  genährten  Empfindungswelt 
des  Messias  leise  Bedenken  aufgestiegen  sein  werden,  da  der  Knabe 
den  Pietismus  in  Halle  hassen  gelernt  hatte,  so  vermochte  er  wahr* 
scheinlich  den  dichterischen  Ausdruck  rein  und  gesondert  von  den 
pietistischen  Elementen  zu  genießen.  Dieses  frühe  Verhältnis  muß 
man  heranziehen,  wenn  man  Nicolais  erste  größere  kritische  Äuße* 
rung  gegen  Klopstock  richtig  beurteilen  soll. 

Nicolais  Rezension  der  Klopstockschen  »Abhandlung  von  der 
Nachahmung  des  griechischen  Silbenmaßes«  und  des  achten  bis 
zehnten  Gesanges  der  Messiade  erschien  im  zweiten  Stück  des  ersten 
Bandes  der  »Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  und  freyen 
Künste«-.  Im  ersten, der  »Abhandlung«  gewidmeten  Abschnitt  tritt 
Nicolai  dem  Klopstockschen  Satz  entgegen,  der  dem  epischen 
Dichter  nur  die  Prosa  oder  den  Hexameter  gestatten  will.  Nicolai 
findet  diese  Forderung  nicht  notwendig,  nicht  im  Wesen  des  Epos 
begründet;  doch  vermeidet  er  es,  offenbar  aus  Rücksicht  auf  Klop# 
Stocks  Autorität,  seinem  Widerspruch  weitergehenden  Nachdruck 
zu  geben.  Vielmehr  setzt  er  hier  die  Verwendung  des  Hexameters 
voraus,  da  Klopstock  sich  nun  einmal  dafür  entschieden  habe  und 
sich  »nebst  dem  Herrn  von  Kleist«  des  deutschen  Hexameters  »am 
besten  zu  bedienen  und  ihm  den  meisten  Wohlklang  zu  geben  ge* 
wüßt  habe«.  Der  zweite  Teil  der  Rezension  ist  ebenso  zurückhaltend 
im  Urteil,  nicht  nur  wegen  des  oben  hervorgehobenen  Ursprung* 
liehen  Verhältnisses  zur  Klopstockschen  Dichtung,  sondern  auch 
weil  es,  wie  Nicolai  sagt,  schwer  sei,  ohne  Kenntnis  des  ganzen 
Planes,  die  nur  der  Dichter  habe,  zu  urteilen,  weshalb  er  seinen 
kritischen  Anmerkungen  hinzufügt,  er  hoffe,  daß  Klopstock  sie  »ge« 
neigt  aufnehmen«  werde.  Demgemäß  besteht  die  Nicolaische  Kritik, 
nächst  einer  Wiedergabe  des  Inhalts  der  drei  Gesänge,  aus  einer 
Anzahl  untereinander  nicht  zusammenhängender,  sehr  vorsichtiger 
Einzelbemerkungen;  so  meint  er,  daß  die  Einführung  Satans  und 

^  »Ich  erinnere  mich  noch  sehr  lebhaft,  welchen  gewaltigen  Eindruck  die  gigan^ 
tischen  Bilder  dieses  Gedichts  auf  meine  jugendHche  Einbildungskraft  machte,« 
heißt's  in  der  Schrift  »Über  meine  gelehrte  Bildung«.  S.  19. 

-  1757,  S.  297  bis  331. 

71 


Adramelechs  (im  8.  Gesang)  hätte  vorbereitet  werden  müssen,  da 
»der  Dichter  lange  von  ihnen  geschwiegen  hat  und  uns  den  Faden 
ihrer  Geschichte  beinahe  hat  verHeren  lassen«  (S.  311) ;  es  wäre  aber 
nicht  nur  Gelegenheit  gewesen,  sie  vorher  zu  erwähnen,  sondern  es 
hätte  auch  die  dichterische  Wirkung  unzweifelhaft  erhöht,  wenn  sie 
»als  unmittelbare  Werkzeuge  der  schrecklichen  Taten,  welche  in  den 
vorigen  Gesängen  vorgegangen  sind«  —  z.  B.  bei  der  Geißelung  und 
Krönung  des  Heilands  —  dargestellt  worden  wären ;  denn  die  Er* 
niedrigung  des  Erlösers  würde  uns  dadurch  noch  stärker  gerührt 
haben.  Ein  zweiter  Einwand  Nicolais  richtet  sich  dagegen,  daß 
Eloa,  nicht  der  Messias  selbst,  beide  vertreibt;  es  würde  ein  stär* 
kerer  Beweis  für  die  Erfüllung  der  Weissagung:  »Du  sollst  der 
Schlange  den  Kopf  zertreten«  sein,  wenn  der  Messias  nicht  die  Tat 
des  Seraphs  mit  einem  Blick  verstärkte,  sondern  sie  selbst  voll« 
brächte.  Den  Mangel  an  Handlung  im  achten  und  neunten  Gesang 
findet  Nicolai  dem  epischen  Charakter  widersprechend;  jedoch  will 
er  nicht  entscheiden,  ob  dieser  Mangel  »aus  der  Beschaffenheit  der 
Geschichte  selbst  oder  aus  einem  Fehler  im  Plan  des  Dichters  her« 
rühre«.  Er  vermochte  also  die  tieferen  Gründe  nicht  zu  fassen,  aus 
denen  der  Messias  eigentlich  epischen  Charakter  entbehren  mußte, 
aus  denen  seine  Handlung  nur  eine  scheinbare  sein  konnte;  denn  die 
Feinde  des  Messias,  die  ihm  den  Tod  wünschen,  befördern  nur  seine 
x\bsicht,  für  die  Menschen  zu  sterben;  Klopstock  als  Epiker  hätte 
die  Handlung  auf  den  Boden  der  Geschichte  stellen  müssen,  was 
eine  menschliche  Darstellung  des  Erlösers  bedingt  hätte;  und 
dies  eben  wollte  Klopstock  vermeidend  Besonderes  Lob  spendet 
Nicolai  —  wohl  nach  Lessings  Vorgang  —  den  Gleichnissen  Klop* 
Stocks,  in  denen  er  eine  Stärke  besitze,  »die  bloß  mit  dem  Homer 
verglichen  werden  kann«;  das  Lied  im  zehnten  Gesang,  das  Simeon 
und  Johannes  der  Täufer  »gegeneinander  singen«,  sei  »im  ächten  Ge* 
schmack  der  alten  hebräischen  Poesie,  ein  Meisterstück  der  Einfalt 
und  Hoheit«,  »das  allein  schon  Klopstock  zum  großen  Dichter 
machen  würde«.  (S.  322.)  Ohne  Klopstock  »heruntersetzen«  zu 
wollen,  wagt  er  es,  »noch  einige  Anmerkungen  über  einige  Fehler  in 
der  Schreibart«  herzusetzen,  wie  er  sagt  »Sommersprossen  in  einem 
vollkommen  schönen  Gesicht«.  Er  tadelt  die  Verwendung  unnötiger 
'  Vgl.  Muncker,  Klopstock  S.  89  ff. 

72 


oder  falscher  Beiwörter,  den  häufigen  Gebrauch  metaphorischer 
Wendungen  (»die  endHch  unbestimmt  und  dunkel  werden«);  und 
schließHch,die  schwerwiegendste  und  in  der  Folgezeit  für  Nicolais 
Verhältnis  zu  Klopstock  fruchtbarste  Anmerkung,  daß  der  Dichter 
»öfters  Empfindungen  auszudrücken  sucht,  wo  keine  sind,  und  dann 
ins  Süße  und  Spielende  verfalle«  —  eine  Behauptung,  für  die  Nicolai 
hier  allerdings  sehr  wenig  beweiskräftige  Beispiele  anführt. 

Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  den  Ton  ehrfürchtiger  Bewunde* 
rung  des  Dichters,  die  aus  dieser  Nicolaischen  Rezension  spricht, 
als  unecht  und  unglaubwürdig  anzuzweifeln;  aber  es  läßt  sich  auch 
nicht  verkennen,  daß  dem  bewunderten  Dichter  nicht  eigenthch 
die  Liebe  des  Kritikers  gehört.  Hat  Nicolai  auch  nicht,  wie  Lessing, 
sich  die  Bewunderung  Klopstocks  abgerungen,  so  war  sie  doch 
auch  bei  ihm  nicht  ungetrübt;  und  die  tieferliegende,  Nicolai  zu* 
nächst  vielleicht  gar  nicht  bewußte  Fremdheit  gegenüber  der  Klop= 
stockschen  Dichtkunst  hat  sich,  wie  bei  Lessing,  in  nüchterner  Er« 
wägung  von  Licht  und  Schatten  in  der  im  ganzen  bewunderten 
Dichtung  niedergeschlagen.  Es  ist  nun  schon  oben  darauf  hinge* 
wiesen  worden,  wie  die  Entwicklung  Nicolais  in  der  Bewußt* 
machung  tieferliegender  und  zunächst  nicht  im  Geist  wirkender 
Inhalte  bestand.  In  seinem  Verhältnis  zu  Klopstock  können  wir 
diesen  Weg  recht  deutlich  verfolgen;  denn  jene  letzte  Fremdheit 
gegen  die  Klopstocksche  Dichtung  findet  schrittweise  bei  Nicolai 
bewußtere  Begründung,  bis  sie  alle  anderen  Momente  seiner  Stel* 
lungnahme  zu  Klopstock  verdrängt  und  das  einzige  wird.  Im 
173.  Literaturbrief  noch  hält  er  Zachariaes  mißlungener  Milton* 
Übersetzung  die  formale  Vollendung  der  Messiade  entgegen.  Im 
299.  Literaturbrief  fragt  er  gelegentlich  seiner  Besprechung  von 
C.  F.  V.  Mosers  »Geistlichen  Gedichten«:  »Was  hat  denn  die  Reli* 
gion  von  mittelmäßigen  poetischen  Versuchen  für  Nutzen,  und 
können  sie  ihr  nicht  mit  der  am  besten  gemeinten  Absicht  wirklich 
schaden?«  Milton,  Young  und  Klopstock  sollten  allerdings  von 
seinem  Tadel  nicht  betroffen  werden;  sie  dienten  der  Dichtkunst 
und  der  Religion.  —  Allein  die  Frage  war  einmal  gestellt,  und 
mußte  da,  wo  die  dem  Messias  zugrundeliegende  religiöse  Stim* 
mung  einen  besonders  starken  Ausdruck  erlangte,  eine  Antwort  er* 
fahren,  die  jene  Fremdheit  stark  betonte.  Einen  solchen  Ausdruck 

73 


fremder,  ja  Nicolai  widerwärtiger  religiöser  Stimmung  sah  er  in  den 
»Fragmenten  aus  dem  20.  Gesang  des  Messias«  \  über  die  er  sich 
denn  auch  sogleich  in  einem  verloren  gegangenen  Briefe  abfällig 
gegen  Gerstenberg  äußerte,  und  zwar,  wie  aus  dessen  Antwort- 
ersichtlich  ist,  in  ziemlich  deutlicher  Weise.  »Sie  beschuldigen  Klop* 
stock«,  schreibt  Gerstenberg  da,  »daß  er  sich  allmählich  mehr  zum 
Abenteuerlichen  und  zur  Schwärmerei  lenke  .  .  .  Sie  befürchten, 
wenn  gewisse  Hymnen,  die  Sie  gesehen  haben,  wirklich  in  den 
letzten  Gesang  des  Messias  kommen  sollten,  daß  die  Kritik  sich 
allenthalben  in  Deutschland  laut  hören  lassen  werde  .  .  .«;  er  be* 
schuldigt  hingegen  Nicolai,  daß  er  »Urteile  über  detachierte  Stücke« 
fälle,  ohne  den  Plan  des  Ganzen  zu  kennen,  und  ohne  zu  bedenken, 
daß  Klopstock  Ursachen  gehabt  haben  werde,  diese  Töne  anzu* 
schlagen.  Nicolai  repliziert^,  er  habe  nicht  geglaubt,  daß  Klopstock 
»ohne  alle  Ursachen  sich  entschlossen  habe,  Hymnen  in  den  Mes> 
sias  zu  setzen«;  es  frage  sich  aber,  ob  diese  Gründe  zwingend  ge* 
nug  seien  —  was  er  bestreiten  müsse.  »Das  schlimmste,«  fährt  er 
sodann  fort,  »ist,  daß  in  den  Hymnen  selbst  so  viel  Fanaticismus 
(sie!)  herrscht,  daß  ich  aufrichtig  gestehen  muß,  daß  ich  zuweilen 
wirklich  Widerwillen  beim  Lesen  empfunden  habe«.  Er  wisse,  daß 
Klopstock  im  Leben  nicht  der  Schwärmer  sei,  wie  hier  in  diesen 
Hymnen,  »aber  was  bringt  ihn  dazu,  solche  innerliche  Aufwallun* 
gen  zu  dichten«?  Wir  sehen,  wie  seine  Kritik  der  religiösen  Gesin* 
nung  des  Messias^Dichters  hier  schon  zu  einer  Kritik  der  Dich* 
tung  Klopstocks  überhaupt  wird.  Und  wenn  er  auch  bemerkt,  daß 
er,  je  freier  er  jetzt  mit  seinem  Urteil  dem  Freunde  gegenüber  ge* 
wesen  sei,  um  so  behutsamer  sein  werde,  »wenn  das  ganze  Werk 
herausgekommen  sei«,  und  er  sein  Urteil  öffentlich  sagen  sollte, 
und  seine  Äußerungen  so  zu  entkräften  sucht;  wenn  er  auch 
Gerstenbergs  Verteidigung  Klopstocks  und  seinen  Hinweis  darauf, 
daß  Klopstock  »seinen  Glückseligen  Denkart  und  Begeisterung 
beilegt,  wie  er  glaubt,  daß  sie  ihnen  natürlich  sind«,  seinen 
Hinweis  darauf,  daß  diese  religiöse  Stimmung  normierender  Ein* 
rede  sich  entziehe,  anscheinend  nicht  beantwortet  hat,  so  hat  er 

'  Vgl.  Muncker,  »Klopstock«  S.  485. 

-  Gerstenberg  an  Nicolai  31. 1.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  47. 

'  Nicolai  an  Gerstenberg  21.  III.  67  =  ebenda  S.  50. 

74 


doch  einige  Jahre  später  Herder  gegenüber  seine  Antwort  auf  diese 
Gerstenbergschen  Behauptungen  in  aller  Schärfe  geltend  gemacht. 
Es  sei  dem  Dichter  zwar  leicht,  unsere  Aufmerksamkeit  von  den 
Mängeln  des  Stoffes  auf  die  Vollkommenheiten  des  dichterischen 
Ausdrucks  zu  richten;  »was  hilft  aber  alle  Kunst  Klopstocks,  wenn 
ein  philosophischer  Kopf  den  Begriff  Gottmensch  für  eine  Contra* 
dictio  in  adiecto,  den  Begriff  einer  blutigen  Genugtuung  für  dem 
höchsten  Wesen  unanständig  hält?  Hier  kommt  Vernunft  beständig 
in  Kollision  mit  Empfindung,  wodurch  diese  gewiß  geschwächt 
wird  ^  I«  Schon  ein  Jahr  vor  dieser  Äußerung  hatte  er  ebenfalls  Her* 
der  gegenüber  die  Gegensätzlichkeit  ihrer  religiös* theologischen 
Gedankenwelt  als  Grund  der  Entfremdung  von  Klopstock  ange* 
geben:  »Vielleicht  sind  mir  viele  geistliche  Oden  des  Hrn.  Klop* 
Stocks  darum  nicht  angenehm,  weil  ich  das  theologische  System, 
worauf  sie  sich  gründen,  nicht  verdauen  kann^.«  So  sind  ihm  denn 
auch  die  biblischen  Dramen  Klopstocks  verschlossen:  »Der  Tod 
Adams  von  Hrn.  Klopstock  ist  unter  uns  sattsam  bekannt«,  be* 
ginnt  eine  kurze  Anzeige  der  Gleimschen  Versifizierung  des  Klop* 
stockschen  Dramas,  die  sich  dahin  ausspricht,  daß  Klopstocks 
Drama  noch  das  wenige  Gute  in  der  Gleimschen  Bearbeitung  ver* 
liere^.  Den  schärfsten  Ausdruck  aber  findet  das  Bewußtsein  dieser 
Gegensätzlichkeit  in  einer  brieflichen  Äußerung  an  Höpfner  aus 
dem  Jahre  1775*.  Höpfner  hatte  ihm  mitgeteilt",  daß  Klopstock 
(dessen  Simplizität  im  Gegensatz  zu  seiner  schwärmerischen  Dich* 
tungsart  Höpfner  bei  dieser  Gelegenheit  rühmt)  ihm  gegenüber 
bei  einem  Besuch  seine  Unzufriedenheit  mit  der  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek  bezeugt  habe.  Nicolai  erwidert:  »Herrn 
Klopstock  verehre  ich  sehr,  obgleich  ein  großer  Teil  seiner  Schrif* 
ten  für  meine  Lektüre  nicht  ist.  Daß  er  im  ganzen  mit  der  Biblio* 
thek  nicht  kann  zufrieden  sein,  begreife  ich  auch.  Bei  ihm  hat  das 
gangbare  theologische  System  eine  poetische  Wahrheit,  und  wenn 
die  Verbesserung  der  Theologie,  die  die  Bibliothek  verlangt,  immer 

'  Nicolai  an  Herder  24.  VIII.  72. 
-  Nicolai  an  Herder  19.  XI.  71. 
'  AD  Bibl.  10,2,  S.  238  ff. 

*  Nicolai  an  Höpfner  17.V111.  75  ==  K.Wagner  »Briefe  aus  dem  Freundeskreis«. 
Höpfner  an  Nicolai  NN.  »Empf.  12.  VIII.  75.« 

75 


weiter  geht,  so  verliert  sein  Messias  den  größten  Teil  seines  Inter* 
esses.«  Denn  inzwischen  hat  sich  für  Nicolai  die  zweifelnde  Frage, 
die  er,  wie  oben  erwähnt,  im  Anschluß  an  v.  Mosers  »Geistliche 
Gedichte«  erhob:  was  die  Religion  von  der  Poesie  für  einen 
Nutzen  haben  könne,  zu  der  Fragestellung  verändert,  die  in  der 
Rezension  der  Klopstockschen  Gelehrtenrepublik  in  die  Worte  ge* 
kleidet  ist:  »Was  kann  die  Aufklärung  der  Religion  von  dem 
Dichter  als  Dichter  erwarten?'«  Und  da  er  der  Meinung  ist,  daß 
den  Dichtern  »die  öffentliche  Glaubenslehre  als  Mythologie  ein 
ganz  gutes  Ding  sei,  wobei  es  aber  gar  nicht  auf  Richtigkeit  und 
Aufklärung  der  Begriffe  ankomme«,  daß  sie  vielmehr  glaubten, 
der  Volksglaube  könne  »nicht  dunkel  und  verwirrt  genug  erhalten 
werden«,  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  daß  seine  Antwort  gegen 
die  Dichter  ausfällt,  die  aus  religiöser  Stimmung  heraus,  unbe* 
kümmert  um  die  Einwände  gegen  die  rationale  Anfechtbarkeit  ihres 
Vorwurfs  gestalten. 

Die  religiös*theologische  Gegensätzlichkeit,  die  mit  der  zuneh* 
menden  Bewußtwerdung  Nicolai  sich  immer  weiter  von  der  Klop* 
stockschen  Dichtkunst  entfernen  läßt,  wird  nun  durch  ein  anderes 
Moment  der  Gegensätzlichkeit,  das  aus  dem  zuletzt  zitierten  Urteil 
schon  recht  deutlich  sprach,  noch  ergänzt.  Der  Kampf  um  die  My* 
thologie,  der  sich  durch  das  18.  und  19.  Jahrhundert  hindurch» 
zieht,  scheidet  die  geistigen  Strömungen  bald  als  bewegendes  Mo* 
ment,  bald  nur  als  akzidentelles  Unterscheidungsmerkmal^.  Nir* 
gends  ist  aber  die  Gegensätzlichkeit  in  der  Stellung  zur  Mytho* 
logie  stärker  als  in  dem  Verhältnis  der  Aufklärung  und  des  Sturms 
und  Drangs.  Die  Genieperiode  beginnt  recht  eigentlich  mit  dem 
Kampf  um  die  Mythologie.  Handelt  es  sich  für  die  Vorläufer  der 
Genieperiode  um  das  Wie?  der  Mythologie,  um  den  Streit  zwischen 
griechich^römischer,  alttestamentarischer,  orientalischer  und  altger* 
manisch^keltischer  Mythologie,  so  ist  für  Nicolai  die  Mythologie 
überhaupt  zunächst  Gegenstand  seiner  Fragen  und,  wie  gleich  hin= 
zugefügt   werden  soll,  seiner  Beantwortung   im   negativen    Sinn; 

'  Allg.  Dtsch.  Bibl.  28,  1,  117.  Ich  nehme  die  Rezension  der  Gelehrtenrepublik 
für  Nicolai  in  Anspruch,  vgl.  S.  81  Anm.  3  dieses  Kapitels. 

=  Vgl.  Fritz  Strich,  »Die  Mythologie  von  Klopstock  bis  Wagner«,  2  Bde.  Halle  1910, 
bes.  I,  92. 

76 


auch  hier  findet  seine  Stellungnahme  eine  Parallele  zu  derjenigen 
Moses  Mendelssohns'.  Von  dieser  tiefwurzelnden  Abneigung  aus 
hat  er  diejenigen  Dichtungen  Klopstocks  abgelehnt,  in  denen  die 
mythologischen  Intentionen  poetischen  Ausdruck  erhielten:  seine 
Bardiete  und  Oden.  Diese  Gegensätzlichkeit  spricht  sich,  da  hier 
kein  ursprünglich  positives  Verhältnis  besteht,  fast  ohne  Über* 
gangsstufen  gleich  mit  aller  Schärfe  aus.  Zwar  in  der  lobprei* 
senden  Rezension  von  Gerstenbergs  »Gedicht  eines  Skalden« - 
nimmt  er  die  Möglichkeit  eines  »nordischen  Arioste«  an,  eines 
großen  Dichters,  dessen  Stärke  die  »wilde  Imagination«  ist;  aber 
er  gesteht  hier  höchstens  ein  Stoffgebiet  zu,  und  die  Entmateriali* 
sierung  der  Mythologie  zur  .Imagination',  die  Ersetzung  der  von 
bestimmter  Stofflichkeit  erfüllten  Phantasie  durch  die  dichterische 
Funktion  läßt  dieses  Zugeständnis  als  rein  äußerliches  in  seinem 
Wert  sinken.  Schon  in  dem  Ausdruck  spricht  sich  der  geringe  Wert 
dieses  Zugeständnisses  aus:  »Die  Imagination  in  diesem  Gedichte 
ist  so  sonderbar  als  die  Versart . . .  inzwischen  hat  uns  dieses  Son* 
derbare  an  beiden  eben  nicht  mißfallen.  Es  hat  uns  vielmehr,  da 
wir  dieses  Gedicht  das  vierte  und  fünftemal  durchlasen,  immer  mehr 
gefallen.«  Und  er  faßt  seine,  aus  diesem  Satz  sprechenden  ersten 
Bedenken  nochmals  deutlich:  »Vielleicht  wenn  die  nordische  My# 
thologie  in  Gedichten  öfter  gebraucht  würde,  würde  sie  bei  den 
Lesern  mehr  Wirkung  tun  können,  weil  sie  derselben  gewohnter 
wären.«  Indessen,  wenn  er  das  Stoffgebiet  auch  äußerlich  zugesteht, 
innerlich  ist  er  unbeteiligt;  und  vor  allem  ist  ihm  der  Gebrauch, 
den  Klopstock  und  die  Bardendichtung  davon  machen,  in  höchstem 
Maße  zuwider.  Was  zunächst  Klopstocks  Bardiete  anbetrifft,  so  hat 
er  sich  über  sie  nicht  nur  wegen  ihrer  Form^  sondern  vor  allem 
wegen  des  mythologischen  Elementes  höchst  abfällig  geäußert.  »Ich 
habe  Hermanns  Schlacht  bewundert,  kann  sie  aber  nicht  lieben«, 
schreibt  er  an  Lessing^.  Eingehender  und  für  sein  wahres  Empfinden 

'  Vgl.  F.  Braitmaiers  kurze  aber  treffende  Darstellung :  Geschichte  der  poetischen 

Theorie  und  Kritik,  II,  S.  227f. 

'  Allg.  dtsch.  Bibl.  5.  l,210flF. 

'  Außer  in  dem  noch  zu  erwähnenden  Brief  an  Uz  (s.  S.  78  Anm.  1)  im  Briefe 

von  Gerstenberg  v.  31.  I.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  50.  es  sei  ihm  unmöglich  »sie 

mehr  als  einmal  durchzulesen«,  was  er  auch  öffentlich  gestehen  wolle. 

*  Nicolai  an  Lessing  12.  II.  71  =  Lachmann*Muncker  20,  15. 

77 


zutreffender  hat  er  sich  vorher  gegen  Uz  geäußert:  »Was  sagen  Sie 
von  Klopstocks  Hermannsschlacht?  Fast  möchte  ich  davon  sagen, 
was  jener  von  der  Pucelle  sagte:  Cela  est  bien  beau,  mais  cela  est 
bien  ennuyant.  Ich  meine  es  aber  in  einem  anderen  Verstände.  Das 
Stück  istw^irklich  sehr  schön,  doch  kann  man  es  nicht  zum  zweiten 
oder  dritten  Male  lesen,  man  kann  nicht  Teil  daran  nehmen.  Solche 
Gesinnungen,  wie  darin  herrschen,  wünsche  ich  unseren  Zeiten 
nicht'«.  Daß  aber  die  Verbindung  zwischen  der  Verwendung  alt* 
germanischer  Mythologie  und  einer  dem  gegenwärtigen  Zeitemp* 
finden  widersprechenden  Gesinnung  nach  Nicolais  Meinung  nicht 
zufällig  ist,  darauf  deuten  seine  Äußerungen  an  Herder,  die  zugleich 
auch  ganz  deutlich  seine  endgültige  Stellung  zur  Mythologie  wider* 
geben.  »Ich  halte  nichts  von  Schönheiten«,  schreibt  er  da^  die  sich 
bloß  auf  die  Mythologie  gründen,  es  sei  nordische  oder  griechische. 
Inzwischen,  da  freilich  die  Mythologie  in  der  Hand  des  Odendich* 
ters  ein  Werkzeug  ist,  das  er  nicht  wohl  entbehren  kann,  so  wünschte 
ich  lieber,  daß  er  die  griechische  Mythologie  wählte,  die  wir  bei 
Lesung  unserer  Meister,  der  Alten,  schon  lernen,  und  die  uns  durch 
die  bildenden  Künste  täglich  wieder  für  die  Augen  gebracht  wird.« 
Zudem  könne  er  »die  Nationalempfindung,  die  in  der  nordischen 
Mythologie  liegen  soll,  noch  nicht  nachempfinden.«  »Die  alten  Kel* 
ten,  wohnten  auf  dem  Flecke  wo  wir  wohnen  (!);  aber  sie  waren 
nomadische  oder  gar  barbarische  Völker,  an  die  (siel)  ich  wahrhaftig 
weniger  Anteil  nehmen  kann,  als  an  Athen  und  Sparta.«  Noch 
schärfer  hatte  er  einige  Monate  vorher  sich  ebenfalls  an  Herder 
über  das  Widersinnige  der  Barden*Mythologie  geäußert.  »Ich  ge« 
stehe,  mir  scheint  er  (der  Bardengeschmack)  eine  poetische  Üppig» 
keit  zu  sein.  Er  fordert  Gesinnungen,  die  weder  unserer  Regierungs* 
form,  noch  unserer  Lebensart,  unsern  philosophischen  Begriffen  und 
unseren  Empfindungen  entspricht.  Wir  wohnen  in  Palästen,  tragen 
goldene  und  seidene  Kleider,  essen  gewürzte  Speisen  und  trinken 
feine  Weine,  und  unsere  Poeten  sollten  alle  ihre  Beschreibungen 
und  Gleichnisse  von  Eichenwäldern,  von  Felsen  von  Morgennebeln 
hernehmen.  Wir  suchen  menschenfreundliche  Gesinnungen  fort* 
zupflanzen,  und  unsere  Gedichte  sollten  wie  Hermanns  Schlacht  eine 

'  Nicolai  an  Uz  8.  X.  69  NN. 
'  Nicolai  an  Herder  19.  XI.  71. 

78 


kriegerische  Tapferkeit  respirieren,  die  selbst  für  unsere  itzige  Sol* 
daten  zu  rauh  ist'«.  Wenn  diese  Sätze  auch  mehr  gegen  die  sog. 
Bardendichter  gerichtet  sind,  wenn  Nicolai  auch  in  den  unmittelbar 
folgenden  Worten  Herder  auffordert,  sich  durch  diese  Einreden  in 
seinem  Urteil  nicht  beeinflussen  zu  lassen:  die  Schärfe  der  Gegen* 
sätzlichkeit  der  Gesinnungen  bleibt  bestehen,  und  die  Gegensatz* 
lichkeit  bezieht  sich  ebenso  wie  auf  die  Bardendichter  auf  Klop* 
stock^.  In  den  kritischen  Äußerungen  gegen  seine  Oden  können 
wir  diese  Stellungnahme  gegen  die  dem  Zeitempfinden  widerstre* 
bende  Gesinnung  der  altgermanischen  Mythologie  bemerken.  Denn 
Einwände  gegen  den  dichterischen  Ausdruck  hatte  er  nicht.  Hatte  er 
doch  selbst  im  140.  Literaturbrief  eine  Ode  getadelt,  weil  ihr  »der 
kühne  Flug  der  Muse  fehlt,  die  ,sich  wirrt,  doch  nie  verirret'«;  warf 
er  doch  der  Karschin  vor^,  daß  ihre  Oden  nur  historische  Erzäh* 
lungen  in  Stanzen  seien,  da  ihr  die  erhabene  Imagination  fehle  und 
eine  schöne,  poetische  Sprache  allein  für  den  Odendichter  nicht  aus* 
reiche.  Wenn  er  dennoch  an  Herder  schreiben  konnte :  »Solche  Oden 
(sc.  wie  die  Klopstockschen)  scheinen  mir  entweder  Ungeheuer  — 
oder  Meisterstücke  einer  neuen  Art  zu  sein,  welche  gehörig  zu  emp* 
finden,  ich  noch  entweder  nicht  Kenntnis  noch  Geschmack  genug 
habe*«,  so  ist  dieses  Urteil  einzig  aus  dem  Nicolai  bewußt  gewor* 
denen  Gegensatz  zu  Klopstocks  Mythologie  zu  verstehen;  weist  er 
selbst  doch,  in  einem  anderen  Briefe  an  Herder^,  darauf  hin,  daß 

'  Nicolai  an  Herder  15.  VI.  71. 

-  Die  Tatsache  dieser  Beziehung  erhellt  besonders  aus  der  noch  unten  eingehen; 
der  zu  betrachtenden  Rezension,  die  Nicolai  in  seinem  Exemplar  der  Klopstocks 
sehen  Oden  nnch  1787  auf  den  leeren  Blättern  niederschrieb  (vgl.  Franz  Muncker, 
Lessings  persönliches  und  literarisches  Verhältnis  zu  Klopstock,  S.  208) :  »Über 
die  abgeschmackte  Mythologie  des  Herrn  Klopstock  ist  wohl  kaum  nötig  ein 
Wort  zu  verlieren.«  Die  Mythologie  eines  rohen  Volkes  passe  nicht  für  die  »fei* 
ner  und  besser  gebildeten  Enkel.«  »Die  griechisch*römische  Mythologie  (die  doch 
ungleich  mehr  Reize  für  die  Phantasie  hat)  wird  uns  schon  im  Ramler  zum  Ekel ; 
wie  viel  mehr  denn  nicht  die  rohe  ungebildete,  ganz  den  Stempel  des  unkulti^ 
vierten,  phantasiearmen  Bewohners  rauher  Gegenden  (sc.  tragende),  dessen  An* 
denken  längst  verloschen  und  nur  durch  die  Affektation  einer  zu  weit  getriebe* 
nen  Vaterlandsliebe  erweckt  worden  ist.« 
'  Allg.Dtsch.Bibl.lv,  1,271. 
'  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73. 
'  Nicolai  an  Herder  24.  VIII.  72. 

79 


»die  Neigung  zum  Raisonnement«  ihn  vielleicht  »gegen  die  Schön* 
heiten  der  Poesie,  besonders  der  hohen  Ode,  weniger  empfindlich« 
gemacht  habe:  mußte  er  da  nicht  um  so  stärker  gegen  die  gegen* 
sätzliche  Gesinnung  in  einer  so  wichtigen  Frage,  bei  dem  allgemeinen 
Für  und  Wider  um  die  Mythologie,  reagieren,  zumal,  wie  wir  sahen, 
diese  Gegensätzlichkeit  noch  durch  die  religiös^theologische  ver* 
stärkt  wurde? 

Das  ursprüngliche  positive  Verhältnis  des  jugendlichen  Nicolai 
zu  dem  Messiasdichter  wurde  aber  noch  von  einer  dritten  Seite  her 
erschüttert,  durch  eine  dritte  Gegensätzlichkeit,  die  einen  Haupt* 
bestandteil  des  allgemeinen  Gegensatzes  zwischen  Aufklärung  und 
Sturm  und  Drang  bildete:  die  Auffassung  von  den  Rechten  und 
Freiheiten  des  Dichters,  wie  sie  Klopstock  in  seiner  Person  und 
seinem  Werk,  und  im  einzelnen  in  der  »Gelehrtenrepublik«  vertrat, 
erregten  NicolaisWiderspruch ;  es  ist  hauptsächlich  derWiderspruch 
gegen  den  Originalgedanken,  wie  ihn  der  Sturm  und  Drang  auf* 
faßte.  Schon  in  seinem  Brief  an  Gerstenberg  vom  21.  III.  67  be* 
dauert  Nicolai,  daß  Klopstocks  Dichtungen  oft  über  seine  Fassungs* 
kraft  gingen,  und  wirft  die  Frage  auf,  ob  der  Dichter  berechtigt  sei, 
solche  »raffinierten  Empfindungen«  in  der  Dichtung  auszudrücken. 
Gerstenberg  antwortet  höchst  nachdrücklich':  »Ein  großes  Genie 
kann  und  muß  seinem  eigenen  Urteil  folgen;«  die  Leser  (und  Kri* 
tiker)  müßten  sich  fragen,  ob  »die  Sphäre  ihrer  Einsicht  der  Sphäre 
des  Genius  gleich«  sei.  Trotz  dieser  Abwehr  Gerstenbergs  wieder* 
holt  Nicolai  seine  Ansicht  einige  Jahre  später  Herder  gegenüber. 
»Einem  Originalkopf  wie  Klopstock  kann  niemand  folgen,  der  nicht 
eben  so  original, als  er  ist.  Zuletzt  richten  unsere  Autoren  bloß  für 
die  Köche,  und  gar  nicht  für  die  Gäste  an^;«  und  er  legt  Herder 
bekümmert  die  Frage  vor,  »ob  bei  dem  allgemeinen  Gange  aller 
unserer  großen  Köpfe,  neueWege  zusuchen,  um  Original  zu  werden, 
es  nicht  endlich  mit  unserer  allgemeinen  Lectur,  und  selbst  mit  dem 
Ruhme  unserer  Originalgenies  mißlich  aussehen  werde«.  Hatte 
schon  der  jüngere  Nicolai  sich  über  manche  allzukühnen  Wort* 
fügungen  und  Satzkonstruktionen  Klopstocks  geärgert,  so  empfand 
er  jetzt  die  gegensätzliche  Denkungsart  unangenehm,  aus  der  eine 

'  Gerstenberg  an  Nicolai  6.  IV.  67. 
-  Nicolai  an  Herder  24.  VIII.  72. 

80 


um  das  Verständnis  des  Lesers  unbekümmerte,  nur  sich  selbst  ver* 
antwortliche  und  nur  das  eigene  Urteil  zum  Maßstab  nehmende 
Dichtungsweise  wie  die  Klopstocksche  erwuchs.  Die  unangenehme 
Empfindung  gewann  an  Schärfe,  als  Klopstock  seine  Auffassung 
von  der  Stellung  des  Dichters  und  den  Aufgaben  der  Kritik  in  der 
»Gelehrtenrepublik«  theoretisch  begründete,  diesem  mit  Spannung 
erwarteten  Werke,  das  bei  den  Jungen,  zumal  im  Göttinger  Freund? 
Schaftskreis,  einen  Sturm  des  Enthusiasmus  hervorrief;  nannte  es 
doch  Voß  ein  Werk,  das  der  ganzen  Nation,  je  nach  dem  Grad  ihrer 
Anteilnahme,  »Ehre  oder  ewig  Schande  machen  wird'«;  und  der 
junge  Goethe,  dem  es  »neues  Leben  in  die  Adern  gegossen«,  pries  es 
als  »die  Einzige  Poetik  aller  Zeiten  und  Völker«^.  Aber  schon  die 
Fundamente  der  Gelehrtenrepublik  erregen  Nicolais  Widerspruch. 
Gegenüber  der  innungsmäßigen,  überall  verpflichtenden  und  eigen* 
mächtig  richtenden,  intolerant  ausschließenden  Art  der  Klopstock* 
sehen  Gelehrtenrepublik  macht  Nicolai^  gemäß  seiner  schon  zitierten 
i.\nschauung:  »Die  gelehrte  Republik  ist  eine  vollkommene  Demo* 
kratie*«,  mit  Nachdruck  geltend,  daß  die  Gelehrtenrepublik  eine 
freie  Einrichtung  sein  müsse, deren  Richterden  Bürgern  der  Repu* 
blik  verantwortlich  sein  müßten;  er  will  in  seiner  Rezension  »ein 
Denkmal  der  Freiheit«  errichten  helfen.  Nicolais  Ideal  ist  der  keinem 
Innungszwang  unterliegende  freie  Schriftsteller,  für  dessen  Ermög* 
lichung  er  sein  Leben  lang  gekämpft  hat^;  er  befürchtet,  der  deutschen 

'  \'oß  an  Brückner  13.  VI.  73  =  Briefe  ed.  Abraham  Voß  I,  140.  Die  abfällige 
Aufnahme  der  Gelehrtenrepublik  durch  die  ältere  Göttinger  Generation  (Feder, 
Meiners,  Kästner)  bezeugen  die  Briefe  des  jüngeren  Boie  =  H.  Uhde,  »In  Göt^ 
tingen  vor  hundert  Jahren«,  Im  neuen  Reich,  1875,  S.  283.  Vgl.  auch  Voß  anErne; 
stine  12.  VI.  74  =  Briefe  I,  247. 

•  An  Schoenborn  10.  VII.  74  =  Weimar.  Ausg.  Br.  II,  175. 

'  Diese  —  nicht  signierte  —  Rezension  der  »Gelehrtenrepublik«  A  D  Bibl.  28, 
102 ff.  scheint  von  Nicolai  herzurühren;  Stil  und  Inhalt  machen  Nicolais  Autor? 
Schaft  wahrscheinlich ;  ein  Beleg  für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme  konnte  nicht 
gefunden  werden,  aber  auch  nichts,  was  gegen  die  Richtigkeit  spräche.  Da  Nicolais 
Autorschaft  jedoch  immerhin  angezweifelt  werden  kann,  ist  auf  die  in  der  Rezen* 
sion  zutage  tretenden  Anschauungen  an  keiner  andern  Stelle  dieser  Arbeit  zu= 
rückgegriffen  worden. 

*  A  D  Bibliothek  10,  2,  104. 

■  So  steht  er  auch  Klopstocks  Plan  mit  der  Unterstützung  Josephs  II.  inWiea 
eine  Akademie  zu  gründen,  sehr  skeptisch  gegenüber.  Später  [in  »Lessings  Wer* 

6  Sommerfeld  ,  Friedrich  Nicolai  81 


Gelehrtennation  bei  der  Annahme  der  Klopstockschen  »Vorschläge' 
nicht  nur  äußere  Abhängigkeit  und  Unfreiheit,  sondern  auch  »Rotten 
und  Tyrannei«  weissagen  zu  müssen.  Die  Stellung,  die  Nicolai  sich 
selbst  in  der  Klopstockschen  Gelehrtenrepublik  zuweist,  ist  die  eines 
»Altfranken«  \  »Wir  Altfranken  verstehen  freilich  die  Sprache  der 
Zünfte  nicht,«  schreibt  Nicolai  an  Herder^  und  bezeichnet  sich  da* 
mit  ganz  deutlich  als  außerhalb  der  »Gelehrtenrepublik«  stehend.  — 
Noch  von  einem  anderen  Punkte  aus,  der  zwar  ganz  abseits  von 
den  allgemeinen  Gegensätzen  zwischen  Nicolai  und  dem  Sturm 
und  Drang  liegt,  indessen  hier  im  speziellen  die  Entfremdung  Ni* 
colais  von  Klopstock  beförderte,  und  der  deshalb  hier  erwähnt 
werden  möge,  ist  das  Bewußtsein  des  Gegensatzes  zu  Klopstock 
verstärkt  worden.  Klopstock  galt  als  Autorität  auf  dem  Gebiete 
der  Prosodie,  zumal  der  antiken;  nicht  nur  in  der  einzigartigen  Be* 
wältigung  antiker  Versmaße  im  »Messias«  und  in  den  Oden,  son* 
dern  auch  in  theoretischen  Abhandlungen  aus  diesem  Gebiet  war 
seine  Kennerschaft  zutage  getreten  und  gefeiert  worden.  Nicolai 
hielt  sich,  in  verzeihlicher  Schwäche,  ebenfalls  für  einen  hervor* 
ragenden  Kenner,  nicht  weil  er  irgendwelche  Leistungen  aufzu* 
weisen  gehabt  hätte,  aber  weil  er  auf  die^  wie  er  glaubte,  seltene^ 

ken«  hrsgb.  v. .  .  Fr.  Nicolai,  Berlin  1794,  Bd.  27,  S.  242  ff.]  gibt  er  allerdings  an, 
daß  er  Klopstocks  Pläne  nicht  für  realisierbar  gehalten  habe;  jedoch  blickt  auch 
dort  noch,  wie  hier  in  der  Rezension,  insbesondere  S.  108,  durch,  dal^  er  ihnen 
ablehnend  gegenüber  gestanden  hat. 

'  In  der  Gelehrtenrepublik  (Ausg.  Göschen  1817  S.  64)  sind  Altfranken  »diej. 
Deutschen,  die  nicht  zu  der  Republik  gehören«.  »Die  Benennung  Altfranken 
drückt  auf  keine  Weise  Geringschätzung  aus.«  Die  Benennung  komme  daher, 
weil  die  Franken  nicht  die  Wissenschaften  gepflegt  hätten.  Daher  werden  die? 
jenigen  damit  gemeint,  »die  uns  nur  in  Absicht  auf  die  Wissenschaften  nicht  an= 
gehören«. »Wir  schätzen  die  Altfranken:  denn  man  kann  Verdienste  haben,  ohne 
mit  den  Wissenschaften  bekannt  zu  sein,  aber  wir  verachten  sie  auch  von  ganzem 
Herzen,  sobald  sie  es  sich  herausnehmen,  deswegen,  weil  sie  unwissend  sind, 
mit  Stolz  auf  uns  herabsehen  zu  wollen.  Und  hier  schützet  sie  nichts  gegen  uns.« 
"  Nicolai  an  Herder  13.  VI.  74.  Vgl.  auch  Nicolais  Anmerkung  zu  Diez'  Rezen- 
sion des  »Enzyklopäd.  Journ.«  1774:  A  D  Bibliothek  24,  1,  297.  »Man  sehe  Klop^ 
Stocks  Gelehrtenrepublik,  aus  welcher  alle,  die  die  Wissenschaften  im  gemeinen 
Leben  anwenden,  ohne  eigentlich  Schriftsteller  zu  sein(l),  Leute,  die  man  in  Eng= 
land  .  .  für  den  schätzenswertesten  Teil  der  Nation  hält,  unter  der  Benennung 
Altfranken  ausgeschlossen  werden.« 
"  Nicolai  an  Herder,  24;  VIII.  72:  Nicolai  schreibt  dort,  er  fürchte,  seine  Ab* 

82 


Verbindung  von  literarischer  und  musikalischer^  Bildung  stolz  sein 
zu  dürfen  meinte.  Demgemäß  hat  Nicolai  auch  die  verschiedensten 
Ansätze  zu  eigenen  Abhandlungen  über  die  Zusammenhänge  von 
Rhythmik  und  Musik  der  Alten  und  der  Neueren,  über  Prosodie 
und  Metrik  gemacht.  Es  läßt  sich  freilich  weder  aus  Göckingks 
Andeutungen'^  noch  aus  den  Briefstellen,  in  denen  diese  Pläne  er* 
wähnt  werden,  der  Sinn  seiner  Bemühungen  ganz  deutlich  erkennen ; 
und  auch  über  die  Bedeutung,  die  diesen  Plänen  innerhalb  der 
Nicolaischen  Kunstanschauung  zukommt,  läßt  sich  nichts  aus? 
machen.  Sicher  ist,  daß  die  Nicolaischen  Gedanken  von  vornherein 
im  Gegensatz  zu  Klopstocks  Anschauungen  entstanden  sind.  Schon 
über  die  1764  als  Manuskript  gedruckten  »Lyrischen  Silbenmaße« '^ 
äußerte  sich  Nicolai  in  einem  nicht  erhaltenen  Briefe,  wie  aus 
Gerstenbergs  Antwort*  ersichtlich  ist,  dahin,  daß  »das  Publikum 
über  sie  die  Achseln  zucken«  werde.  In  einem  weiteren,  ebenfalls 
verlorenen  Briefe  an  Gerstenberg  deutete  Nicolai  sodann  seine  Ge* 
danken  über  die  griechische  Musik  in  Vergleichung  mit  der  neueren 
an.  Gerstenberg  hebt  in  seinem  Antwortsbriefe ^  die  Unterschiede 
der  Nicolaischen,  im  Zusammenhang  damit  entwickelten  Gedanken 
über  die  alte  und  neue  Metrik  von  denjenigen  Klopstocks  hervor, 
wahrscheinlich  durch  eine  Nicolaische  Andeutung  über  diesen 
Gegensatz  angeregt.  Danach  stimme  Nicolai  mit  Klopstock  darin 
überein,  daß  die  Alten  unter  Arsis  und  Thesis  etwas  anderes  ver* 
standen  hätten,  »als  unsere  heutigen  Musikgelehrten«;  Nicolai 
schiene  sich  schon  über  die  eigentliche  Bedeutung  dieser  Worte 
klar  geworden  zu  sein,  Klopstock  habe  in  seiner  »Abhandlung  vom 
Silbenmaße  ^«  »anderthalb  Seiten  von  Fragen  über  gewisse  zweifei* 

Handlung  würde  nicht  verstanden  werden;  denn  verstehen  könnte  sie  nur,  »wer 

mit  dem  Innern  der  Musik  sowohl  als  der  Poesie  vertraut  ist,  also  in  Deutschs 

land  vielleicht  zwanzig  Personen  .  .  .« 

'  Über  seine  musikalische  Bildung  vgl.  Göckingk  S.  95;  ferner  die  objektive 

Nachprüfung  von  Georg  Ellinger  in  seiner  Einleitung  zum  Neudruck  der  Briefe 

über  den  itzigen  Zustand,  S.  IV. 

-  Göckingk,  S.  48. 

'  Vgl.  Muncker,  Klopstock  S.  485. 

*  Gerstenberg  an  Nicolai,  31.  I.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  47. 

'  Gerstenberg  an  Nicolai,  5.  XII.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  56ff. 

•  Dazu  bemerkt  Gerstenberg,  daß  diese  Abhandlung  demnächst  »in  Hrn.Lessings 

6*  83 


hafte  Stellen  in  den  Schriften  der  Alten  beigefügt«.  Nicolai  unter* 
scheide  sich  von  Klopstock  in  den  Ansichten  über  die  alten  Silben* 
maße;  er  brauche  eine  andere  Methode,  da  er  Beobachtungen  über 
das  Schema  eines  Verses  anstelle;  Klopstock  aber  scheine  durch 
seine  Einteilung  in  »Wortfüße«  und  »Versfragmente«  »auf  ein  viel 
fruchtbareres  Feld  geraten  zu  sein«.  In  seinem  nächsten  Briefe^ 
bemerkt  Gerstenberg  jedoch,  er  müsse  sich  undeutlich  ausgedrückt 
haben,  da  Nicolai  vermute,  Klopstock  habe  nicht  bei  den  ersten 
Elementen  des  Verses  angefangen.  Ob  er  nun  nur  weitere  Mißver* 
Ständnisse  fürchtete,  oder  ob  er  eine  weitere  Diskussion  mit  Nicolai 
über  dieses  Thema  für  unfruchtbar  hielt,  da  das  von  Nicolai  Vor* 
getragene  ihn  vielleicht  zu  dilettantisch  dünkte,  —  er  schloß  jeden* 
falls  die  Unterredung  mit  Nicolai  über  dieses  Thema,  indem  er 
Nicolai  auf  das  baldige  Erscheinen  des  Klopstockschen  Aufsatzes 
vertröstete.  Einige  Jahre  später  äußert  sich  Nicolai  gegen  Herder 
über  dieses  Thema.  Er  nimmt  eine  Äußerung  Herders"-  über  die 
gewissermaßen  innere  Musik  der  Klopstockschen  Oden  auf  und 
erklärt  sich^,  da  er  Herders  Worte  »ganz  dunkel  findet«,  dahin 
deutlicher,  daß  eine  Musik  der  Verse  in  der  gegenwärtigen  Dich* 
tung,  im  Gegensatz  zu  derjenigen  der  Alten,  überflüssig  sei,  da  »die 
alten  griechischen  rhythmischen  Gebäude  der  Musik  zu  Gefallen 
erdacht  sind  und  mit  ihr  verbunden  werden  sollten«;  die  moderne 
Dichtung  solle  nicht  neue,  den  alten  rhythmisch  ähnliche  Vers* 
gebäude  »ausdenken«,  »da  teils  unsere  Sprache  bei  weitem  nicht 
so  bestimmt  in  der  Quantität  ist,  und  auf  ganz  andere  Art  bestimmt 
wird,  teils  da  unsere  Versgebäude  nicht  mit  Musik,  am  wenigsten 
mit  griechischer  Musik  sollen  begleitet  werden«.  Aber  auch  hier 
war  eine  weitere  Diskussion  unmöglich*,  da  Nicolai  erkannte'': 
»Übrigens  können  meine  Gedanken  vom  Rhythmus  den  Ihrigen 
bisher  weder  entsprechen  noch  widersprechen,  denn  ich  gehe  ganz 
von  der  Musik  aus«  (sc.  Herder  nachfühlend  von  der  Rhythmik 

periodischer  Schrift«  erscheinen  werde,  womit  er  das  von  Lessing  und  Bode  ge= 

plante  Deutsche  Museum  meint.  \'gl.  Muncker,  Klopstock  S.  388. 

'  Gerstenberg  an  Nicolai,  27.  IV.  68  =  Z.  f.  d.  Phil.  25,  61. 

-  Herder  an  Nicolai  2.  VII.  72. 

^  Nicolai  an  Herder  24.\1II.  72. 

*  Vgl.  Nicolai  an  Herder  24.  MII.  72  mit  Herder  an  Nicolai  23.  XI.  72. 

^  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73. 

84 


der  Klopstockschen  Oden).  Kurze  Zeit  darauf  setzte  Nicolai  dem 
Philologen  Heyne  seine  Ansichten  und  den  Plan  seiner  Abhand* 
lung  auseinander.  Heyne  erwiderte  zwar^:  »Auf  die  Abhandlung 
über  die  Musik  und  Rhythmik  der  Alten  bin  ich  sehr  begierig«; 
aber  auch  er  mochte  die  Äußerungen  Nicolais  über  dieses  Thema 
für  dilettantisch  halten,  da  er  der  Bemerkung,  daß  er  vorläufig  »die 
Sache  im  Ganzen«  noch  nicht  einsehe,  das  Anerbieten  hinzufügte, 
Nicolai  mit  Material  zu  versehen.  Immerhin  pflichtete  er  Nicolai 
in  seiner  Wendung  gegen  Klopstock  bei:  »Sie  finden  Klopstock  in 
seinen  Abhandlungen  vom  Silbenmaß  dunkel;  so  ist  es  mir  lieb, 
daß  ich  nicht  allein  so  schwach  an  Fassungskraft  bin.«  Die  Tatsache 
steht  also  fest,  wenn  sie  auch  mangels  geeigneten  Materials  nicht 
näher  umschrieben  werden  kann,  daß  Nicolai  gegen  Klopstocks 
theoretische  Stellungnahme  zur  Prosodie  sich  ablehnend  verhalten 
und  auch,  wie  insbesondere  aus  der  erwähnten  Briefstelle  an  Herder 
hervorgeht,  den  Klopstockschen  Oden  die  innere  Notwendigkeit 
der  rhythmischen  Form  abgesprochen  hat.  — 

Die  Entfremdung  Nicolais  von  Klopstock,  der  Widerspruch 
gegen  einzelne  dichterische  oder  schriftstellerische  Äußerungen, 
die  starke  Abneigung  gegen  den  Geist  seiner  Dichtungen  —  aus* 
gehend  von  der  religiös=theologischen,  der  mythologischen  und 
der  Gegensätzlichkeit  in  den  Anschauungen  über  die  Stellung  des 
Dichters  —  stellt  die  erste  Stufe  in  dem  Verhältnis  Friedrich  Nicolais 
zum  Sturm  und  Drang  dar.  Es  ist  nun  notwendig,  diese  Stufe  ge= 
nauer  zu  begrenzen  und  deshalb  die  Frage  nach  dem  Charakter 
dieser  Ablehnung  zu  erheben. 

Der  Ausdruck,  den  Nicolai  dieser  ihm  zu  Ende  der  sechziger  und 
und  zu  Beginn  der  siebziger  Jahre  des  Jahrhunderts  bewußt  ge* 
wordenen  Gegensätzlichkeit  lieh,  war  völlig  bestimmt  durch  das 
Bestreben,  den  eigenen,  abbiegenden  Weg  zu  sichern.  So  schreibt 
er  über  die  Klopstockschen  Oden,  die  ihm  nicht  »schmecken«  wol* 
len,  an  Herder^:  »Zuweilen,  wenn  ich  solche  Stücke  in  der  Zeitung 
so  sehr  gelobt  sehe,  so  schäme  ich  mich  zuweilen,  zuweilen  glaube 
ich,  ich  muß  allen  Geschmack  an  der  Poesie  verloren  (haben).  Ich 
glaube,  dies  ist  sehr  leicht  möglich,  wenn  man  älter  wird,  und  seine 


*  Heyne  an  Nicolai  15.  II.  74  NN.  Nicolais  Brief  ist  verloren. 
-■  Nicolai  an  Herder  19.  XI.  74. 


85 


Vernunft  mehr  übt  als  seine  Einbildungskraft.  Aber  ich  merke  doch, 
daß  ich  manche  andere  Gedichte  mit  Vergnügen  lese,  und  also  muß 
es  noch  an  etwas  anderes  (sicl)  liegen«;  er  führt  sodann  die  schon 
oben  dargestellten,  religiös  «theologischen  und  mythologischen 
Gegensätze  an  und  fährt  fort:  »doch  ist  (dies)  nur  meine  Meinung, 
womit  freilich  alle  meine  hiesige  Freunde,  die  ich  für  Kenner  halte, 
übereinstimmen;  doch  sage  ich  dies  nicht  laut,  vestigia  enim  me 
terrent.«  Kaum  ein  Jahr  später  bezeugt  er  in  einem  Brief  an  Herder^ 
abermals  sein  Mißtrauen  gegen  den  eigenen  Geschmack  Klopstocks 
Oden  gegenüber  und  bemerkt,  daß  ihm  diejenigen  Oden  am  meisten 
gefielen,  »die  eine  sentimentale  und  philosophische  Wendung  ha* 
ben«  (wie  Ramlers  Ode  an  die  Könige,  an  den  Frieden  und  Klop* 
stofks  »Welchen  König  der  Gott  über  die  Könige«-),  er  setzt  jedoch 
gleich  hinzu:  »Ich  begreife,  daß  andern,  andere  Gedichte  mit  Recht 
gefallen  können,  eben  deshalb  mag  ich  meinen  besonderen  Ge* 
schmack,  in  einer  Rezension  nicht  als  allgemein  ausgeben.  Ich  lasse 
jedem  Dichter  seine  Manier,  und  jedem  Leser  seinen  Geschmack.« 
Es  besteht  kein  Grund,  die  subjektive  Wahrhaftigkeit  dieser  Äuße* 
rungen  in  Zweifel  zu  ziehen;  aber  es  kann  nicht  geleugnet  werden, 
daß  sie  in  schroffem  Widerspruch  zu  der  von  Nicolai  geübten  Pra* 
xis,  dem  sicheren,  selbstbewußten  Richten  seiner  Rezensionen  — 
aus  früherer,  gleicher  und  späterer  Zeit  —  stehen.  Die  Erklärung 
diesesWiderspruches  ist  darin  zu  suchen,  daß  Nicolai  sich  der  völlig 
gegensätzlichen  Organisation  Klopstocks  bewußt  geworden  ist  und 
seine  geniale  Begabung  anerkennt,  daß  er  aber  zur  gleichen  Zeit,  in 
der  sich  diese  Bewußtwerdung  vollzog,  auch  sich  selbst,  wie  schon 
oben  angedeutet,  eigene  Aufgaben  und  Verwirklichungsmöglich* 
keiten  zugewiesen  hat.  Sein  eigenes  Zeugnis  weist  auf  diese  Erklä* 
rungsmöglichkeit  hin.  »Ich  will  allenfalls  lieber«,  schreibt  er  an 
Herder^,  »daß  ein  Mann  wie  Klopstock,  der  so  sehr  große  Talente 
hat,  in  der  Bibliothek  nach  den  Empfindungen  eines  Mannes,  der 
ihn  nachempfunden  hat,  zu  sehr  gelobt  als  nach  den  Grundsätzen 
eines  andern,  der  ihn  nicht  hat  nachempfinden  können,  allzufrüh* 

'  Nicolai  an  Herder  24.  VIII.  72. 

-^  Gemeint  ist  die  1750  entstandene  Ode  »Friedrich  der  Fünfte«,  Werke  ed.  Hem  = 

pel  5,95. 

'  Nicolai  an  Herder,  18.  III.  73. 

86 


zeitig  (?)  getadelt  werde ...  Es  gibt  viele  Dinge  in  der  Welt,  die 
schätzbar  sind,  die  ich  aber  nicht  brauchen  (!)  kann  und  auch  nichts 
davon  verstehe.  Von  der  Infinitesimalrechnung  verstehe  ich  gar 
nichts,  aber  ich  glaube  Eulern,  daß  sie  eine  vortreffliche  Wissen* 
Schaft  ist;  warum  sollte  ich  Herdern  nicht  glauben,  daß  in 
der  Klopstockischen  Bardenpoesie  eine  Reihe  voj-treff* 
lieber  Empfindungen  herrsche,  die  er  nachempfinden 
kann.  Kann  ich  es  nicht,  so  bin  ich  immer  noch  besser,  wenn  ich 
gestehe,  daß  ich  nicht  nachempfinden  kann,  als  viele  die  sagen, 
sie  könnten  nachempfinden,  und  doch  nichts  empfinden.  Es  ist, 
bei  meiner  Ehre,  weder  falsche  Bescheidenheit,  noch  Satire,  wenn 
ich  sage,  daß  ich  verschiedene  Dinge  nicht  begreife,  die  andere 
zu  begreifen  versichern«.  Hinzu  komme,  daß  er  ein  geschäftiges 
Leben  voll  Zerstreuungen  führe,  und  sich  auf  die  Studien  ein* 
schränken  müsse,  die  ihm  die  liebsten  seien.  »Dies  sind  haupt* 
sächlich  diejenigen,  die  den  Menschen  und  die  Menschheit  be* 
treffen.  Ein  gewisser  Teil  der  Poesie,  Imagination,  insofern  sie  die 
Geisteskräfte  und  die  Gesellschaft  nicht  unmittelbar  verbessert 
oder  verschlimmert,  liegt  also  außer  meinem  Wege;  wenn  ich  spa* 
zieren  laufe,  so  komme  ich  zuweilen  auch  darauf;  wenn  ich  mich 
aber  besinne,  daß  ich  aus  Absicht  einen  auch  einen  Weg  zu  wan* 
dern  habe,  und  daß  die  Zeit  kurz  ist,  so  ziehe  ich  mich  davon  ab, 
und  lasse  vieles  dahingestellt  sein,  weil  ich  nicht  alles  untersuchen 
kann.«  Ähnlich  schreibt  er  an  Denis  \  daß  er  sich  von  der  »schönen 
Welt  der  Imagination  so  weit  entfernt«  habe,  daß  es  ihn,  wie  er  mit 
Verdruß  bemerkte,  einige  Anstrengung  koste,  sich  wieder  darein 
zu  versetzen,  und  alsdann  selbst  finde  er  sich  so  betreten,  »als  ein 
Fremder,  der  zum  erstenmal  in  eine  unbekannte  Gesellschaft 
kommt«;  doch  wie  dies  gemeiniglich  die  Schuld  des  Fremden  und 
nicht  der  Gesellschaft  sei,  so  gestehe  er  gern,  daß  die  Schuld  an 
ihm  liege,  wenn  er  einen  als  gut  anerkannten  Dichter  nicht  nach* 
empfinden  könne;  indessen  lese  er  alle  neuen  guten  Gedichte  we* 
nigstens  »als  Patriot,  nur  um  meinem  gerechten  deutschen  National* 
stolze  Nahrung  zu  geben.«  Wenn  man  also  die  Ablehnung  Klop* 
Stocks  duych  Nicolai  mit  einem  Worte  näher  charakterisieren  will, 
so  muß  man  sie  als  kompromißhaft  bezeichnen,  als  eine  Fernhaltung 
'  Nicolai  an  Denis  28.  XII.  72:  Denis'  Nachlaß  S.  164. 

87 


solchen  dichterischen  Ausdrucks,  dessen  Geist  er  widersprechen 
muß,  ohne  daß  er  deshalb  den  dichterischen  Ausdruck  bekämp  f t. 
Er  steht  Klopstocks  Dichtung  innerlich  feindlich  —  mit  der  Feind* 
Schaft  des  nicht  Verstehenden  —  gegenüber,  ist  jedoch  von  anderen 
Aufgaben  zu  sehr  erfüllt,  entbehrt  der  Berührung  mit  diesem  Fremd* 
artigen  zu  sehr,  um  es  kritisch  bekämpfen  zu  können;  so  gibt  er  denn, 
nicht  aus  einfachen  Opportunitätsgründen,  sondern  in  der  dem 
Kompromiß  geneigten,  äußerlichen  (weil  nur  auf  der  Voraussetzung 
realen  Vorhandenseins  gegründeten)  Toleranz,  der  Klopstockschen 
Dichtung  ihre  Berechtigung  und  sogar  ihr  objektives  Verdienst  zu. 

Diese  Stellungnahme  ermöglichte  denn  auch  Nicolais  späteres 
Verhältnis  zu  Klopstock,  auf  das  hier,  schon  weil  es  noch  einen  er* 
läuternden  Rückschluß  auf  die  eben  skizzierte  Stellungnahme  ge* 
stattet,  noch  ein  Blick  gestattet  sein  mag. 

Die  Rezension,  die  Nicolai  jedenfalls  nach  dem  Jahre  1787  in 
sein  Exemplar  der  Klopstockschen  Oden  schrieb^  äußert  sich,  un* 
ter  dem  unmittelbaren  Eindruck  der  Lektüre,  recht  schroff  gegen 
Klopstocks  Dichtwerke  überhaupt;  hier  zog  Nicolai  aus  der  inneren 
Feindschaft,  die  wir  aus  seinen  um  15  Jahre  zurückliegenden  Auße* 
rungen  erschlossen  haben,  die  Konsequenz  auch  einer  äußeren 
scharfen  Ablehnung.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  bei  der  Lektüre 
gemachten  Anmerkungen  Nicolais,  die  seine  Empfindungen  fest* 
halten,  den  rein  lyrischen  Oden  gegenüber,  —  den  Freundschafts* 
und  Liebesoden,  sowie  denjenigen,  die  eine  Naturstimmung  zum 
Gegenstand  haben  —  »schön«,  »herrlich«,  »vortrefflich«  lauten;  daß 
hingegen  solche  Dichtungen,  die  eine  der  oben  hervorgehobenen 
Gegensätzlichkeiten  berühren,  von  ihm  mit  den  Bemerkungen 
»elend«,  »erbärmlich«,  »komisch«  bedacht  werden.  Die  zusammen* 
hängenden  Gedanken,  die  er  auf  die  leeren  Blätter  vor  dem  Titel* 
blatt  schrieb,  gehen  bezeichnenderweise  einzig  auf  diese  Gegensatz* 
lichkeiten  ein  und  begründen  eine  schroffe  Abfertigung  des  Dich* 
ters,  dem  er  prophezeit,  daß  seine  Werke  das  Jahrhundert  nicht  über* 
leben  werden.  »Wer  für  die  Nachwelt  leben  will,  muß  denken, 
ehe  er  dichtet,  Philosoph  sein,  ehe  er  Poet  wird.  Sonst  ist  alles  nur 
poetischer  Flitterstaat,  der  nicht  der  Mode  trotzet.«  Nicolai  meint 

*  Abgedruckt  bei  Muncker,  »Lessings  persönliches  und  literarisches  Verhältnis 
zu  Klopstock,  S.  209  f.  (vgl.  S.  79  Anm.  2). 

88 


aber,  daß  Klopstock  nicht  denkender  Dichter  sei,  weil  er  den  Inhalt 
von  Klopstocks  Denken  ablehnt.  Ja  Nicolai  scheint  anzunehmen, 
daß  Klopstock  Denken  affektiere,  wie  er  durch  »leere  Zusammen* 
Stellung  schallender  Worte  und  erhabener  Leidenschaften«  Begei* 
sterung  affektiere.  »Man  findet  einzelne  schöne  Gedanken  in  diesen 
Oden,  sie  sind  aber  so  einzeln  und  zerstreut,  so  sehr  mit  schwärme* 
rischen  und  abgeschmackten  Ideen  gepaart,  daß  man  schwerlich  eine 
einzige,  ganz  gut  gedachte  Ode  finden  wird.«  Von  der  Toleranz 
seines  früheren  Urteils  ist  nichts  geblieben,  als  das  Zugeständnis, 
daß  Klopstock  sehr  fromm  sei;  aber,  heißt  es  hier  bezeichnender* 
weise,  Frömmigkeit  mache  nicht  den  Dichter. 

Diese  Wandlung  in  Nicolais  Urteil  über  Klopstock  wird  sich 
noch  durch  die  Darstellung  in  den  folgenden  Kapiteln  dieser  Arbeit 
weiter  auf  hellen.  Vorwegnehmend  sei  hier  darauf  hingewiesen,  daß 
zwischen  der  positiven  Ablehnung  zu  Beginn  der  siebziger  Jahre  und 
dieser  abfälligen  Rezension  vom  Ende  der  achtziger  Jahre  Nicolais 
Kampf  mit  dem  Sturm  und  Drang  liegt  —  ein  Hinweis  zugleich  auf 
die  Wichtigkeit  dieses  Kampfes  für  Nicolais  Entwicklung;  sie  ist 
aber  nicht  der  Ausdruckeines  Verbitterten,  sondern  eines  Kritikers, 
der  sich  in  langer  und  heftiger  literarischer  Fehde  gewöhnt  hat, 
einzig  zwischen  den  Polen  Anerkennung  und  Ablehnung  zu  wählen, 
dessen  ästhetisches  Urteil  die  Widerstände  im  Geistigen  nicht  mehr 
als  solche,  sondern  vielmehr  als  bestimmendes  Prinzip  annimmt. 
Fielen  diese  Widerstände  fort,  oder  veränderte  sich  ihre  Richtung, 
so  war  eine  abermalige  Wandlung  seiner  Stellungnahme  möglich, 
ja  sie  konnte  notwendig  werden;  so  erklärt  sich  denn  auch  die  An* 
erkennung  Klopstocks  durch  Nicolai  zu  einer  Zeit,  wo  der  Kampf 
mit  dem  Sturm  und  Drang,  wenn  auch  nicht  vergessen,  so  doch 
durch  andere  Fehden  in  Nicolais  Bewußtsein  verdrängt  war.  So 
konnte  es  kommen,  daß  er  in  den  »Vertrauten  Briefen«  (1799) 
Klopstock  gegen  Pandolfo  =  Friedrich  Schlegels  geringschätziges 
Urteil,  Klopstock  sei  ein  »grammatischer  Poet«,  verteidigte^,  weil 
Pandolfos  Held  —  der  Dichter  des  »Wilhelm  Meister«  war.  Ja,  er 

'  »Vertraute  Briefe«  S.  75;  vgl.  auch  seine  Widerlegung  des  Schlegelschen  Satzes 
(Jenaische  Litztg.  1796,  Nr.  170),  daß  auf  den  großen  Dichter  die  sogenannte  gute 
Gesellschaft  nachteilig  wirke,  u.  a.  durch  Anführung  des  Gegenbeispiels  Klop; 
stock:  ebenda  S.  169. 

89 


nannte  einige  Jahre  vorher,  in  der  Darlegung  früherer  Pläne  zu  einem 
deutschen  Wörterbuch,  die  er  in  der  von  ihm  besorgten  Ausgabe  des 
Lessingschen  Briefwechsels  (1794)  in  einer  langen  Anmerkung  gab  \ 
Klopstock  einen  »klassischen  Schriftsteller«,  dessen  Sprachgebrauch, 
zum  mindesten  dessen  Sprachmächtigkeit  vorbildlich  sein  müßten-. 
Die  Ablehnung  Klopstocks  durch  Nicolai  zu  Ende  der  sech* 
ziger  und  beim  Beginn  der  siebziger  Jahre  gewinnt  an  Bedeutung, 
wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  daß  es  sich  hier  um  keine  verein« 
zelte  Tatsache  handelt;  was  in  Dichtung  oder  Gesinnung  Klop* 
stock  verwandt  war,  traf  bei  Nicolai  auf  ähnlichen  Widerstand. 
Hier  war  zudem  seine  Stellungnahme  von  vornherein  durch  ein 
anderes  Moment  beeinflußt:  Klopstock  machte  »Schule«,  und  wir 
vergegenwärtigten  uns,  was  dem  Urteil  des  Autodidakten  und 
Antisystematikers  dieser  Umstand  bedeutete.  So  möchte  Nicolai 

—  in  diesem  Falle  sicher  von  Lessing  beeinflußt  —  Klopstock 
von  den  Klopstockianern  trennen^;  er  möchte  Klopstock  davor 
schützen,  durch  seine  Nachahmer  kompromittiert  zu  werden,  und 
kritisiert  die  von  Klopstock  abhängigen  literarischen  Erscheinun* 
gen  durch  den  Hinweis  auf  diese  Abhängigkeit.  Schon  in  seiner 
ersten  Klopstockrezension*  wünscht  er,  »daß  diejenigen,  welche 
den  Namen  unseres  Dichters  zum  Deckmantel  ihres  Unsinns 
brauchen,  auch  nicht  den  geringsten  Schein  von  Autorität  bei  ihm 
finden  möchten«.  »Klopstock  führte,  ohne  seine  Schuld,  Hexameters 
und  Unsinn  bei  der  ganzen  Nation  ein,«  urteilt  er  im  121.  Literatur* 
brief.  Der  183.  Literaturbrief,  der  einigen  —  recht  unbedeutenden  — 
»Klopstockianern«  gewidmet  ist,  zieht  gegen  die  Poeten  nach  der 
neuesten  Mode  los:  »Wahrhaftig,  die  Leutchen  dichten  von  der* 

'  Bd.  27,  S.  228  ff. 

-  Ein  klassischer  Schriftsteller,  sagt  er  dort,  wird  »nicht  leicht  ein  neues  Wort 
gemacht  (!)  oder  ein  bekanntes  auf  eine  ungewöhnliche  Art  gebraucht  haben, 
ohne  irgendeinen  guten  Grund«.  Zu  beachten  ist,  daß  auch  die  Rezension  der 
Klopstockschen  Gelehrtenrepublik  (A  D  Bibl.  28, 1,  S.  102;  s.  Anm.  3  S.  81)  Klop^ 
stock  einen  »so  großen  Meister  der  deutschen  Sprache«  nennt. 

■"'  So  verteidigt  Biester,  wiederum  von  Nicolai  beeinflußt,  Klopstock  zwar  gegen 
Bodmers  Angriffe;  aber  in  derselben  Rezension  (A  D  Bibl.  Anh.  IIl,  3360)  be^ 
merkt  er  gegen  K.  Fr.  Cramers  »Klopstock«  (Hamburg  1777),  daß  diese  Lob= 
preisung  »in  schreiendem  Knabenton«  Klopstock  nur  heruntersetzen  könne. 
*  Bibl.  d.  sch.Wiss.  I,  2,  329. 

90 


gleichen  sieben  Sachen  —  wie  Gräbern,  Totengerippen,  Nacht  und 
dergleichen  mehr  —  bloß,  weil  sie  glauben,  es  ließe  schön,  weil 
Klopstock  und  Zachariae  es  auch  getan  haben;  sonst  sind  sie  keines? 
wegs  so  finstere  melancholische  Köpfe  . . .  Ach  nein!  es  sind  liebe 
süße  Herrchen,  die  tändeln  können,  daß  es  eine  Lust  ist!«  Wenn 
auch  die  tatsächliche  Abhängigkeit  an  dieser  Stelle  recht  gering  sein 
mag\  so  ist  doch  die  an  die  Beobachtung  der  Abhängigkeit  ge* 
knüpfte  Invektive  recht  bemerkenswert,  und  wird  uns  in  derselben 
Art  noch  in  seinen  Ausfällen  gegen  die  Wertherschwärmer  und 
«Nachahmer  wieder  begegnen. 

Die  bedeutenderen  literarischen  Erscheinungen  waren  freilich 
nicht  auf  diese  Formel  zu  bringen;  konnten  aber  die  J oh.  Andr. 
Gramer,  K.  Fr.  v.  Moser,  die  Bardendichter,  Fr.  W.  Zacha* 
riae  und  Gerstenberg  auch  nicht  schlechthin  als  Klopstockianer 
gelten,  so  wurde  doch  seine  Ablehnung  oder,  in  früherer  Zeit,  sein 
inneres  Unbeteiligtsein  Klopstock  gegenüber,  zu  einem  Faktor,  der 
seine  Stellungnahme  zu  ihnen  erheblich  beeinflußte.  Der  dreifach 
gegensätzliche  Geist  der  Klopstockschen  Dichtung  trat  Nicolai  in 
jedem  der  Genannten  in  gewissem  Maße  gesondert  entgegen.  — 
Nicolais  abfällige  Rezension  von  K.  Fr.  v.  Mosers  »Geistlichen  Ge* 
dichten«,  im  299.  Literaturbrief,  wurde  schon  oben  erwähnt.  Joh. 
Andr.  Cramers  Übersetzung  der  Psalmen  beurteilte  Nicolai  in  der 
Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften^  im  ganzen  lobend,  später^ 
sagt  er  von  ihr,  sie  werde  »beständig  einen  Platz  unter  den  besten 
deutschen  Schriften  erhalten«;  wichtiger  ist  in  unserem  Zusammen* 
hange,  weil  Nicolai  hier  das  Abhängigkeitsverhältnis  von  Klopstock 
hervorhebt,  die  Besprechung,  die  er  Cramers  Oden  »Luther«  und 
»Melanchton«  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek*  widmet. 
Er  tadelt  hier  eine  »Amplifizierung  desselben  Gedankens  bis  zum 
leeren  Wortgepränge«;  die  Empfindungen  würden  künstlich  ge« 
steigert  und  verlören  dadurch  an  Kraft.  Das  Zuviel  der  Empfindung 
ist  Nicolai  gerade  im  Religiösen  zuwider.  —  Was  die  Bardendichtung 
anbetrifft,  so  ist  sein  Urteil  über  sie  gleichfalls  schon  oben  gekenn* 

'  Die  rezensierten  Gedichte  habe  ich  nicht  gesehen. 

*  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  und  freien  Künste  I,  1,  S.  84  ff. 

'  A  D  Bibl.  IV.  1,  272. 

'  AD  Bibl.  Anh.  II.  2,  S.  1138  ff. 

91 


zeichnet  worden.  In  einem  Brief  an  Herder  \  in  dem  er  über  Barden* 
dichtung  ebenfalls  abfällig  urteilte,  sendet  er  zwar  Herder  dessen 
Rezension  von  Kretschmanns  Bardengesängen  zurück  mit  dem  Vor* 
geben,  Herder  habe  einen  (die  »Klage  Ringulphs«)  anzuzeigen  ver* 
gessen.  »Wollen  Sie  bei  dieser  Gelegenheit  ein  paar  Worte  ändern,« 
fügt  er  aber  hinzu,  »um  den  P.  Denis  und  Herrn  Kretschmann  etwas 
zu  schonen^,  so  wird  es  mir  angenehm  sein.  Ihr  Urteil  ist  zwar  völlig 
wahr,  aber  diese  beiden  Herren  sind  von  allen  Leuten  so  laut  gelobt 
worden,  daß,  wenn  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  sie  ex  ab* 
rupto  so  laut  tadelt,  viele  Leute  wieder  Parteilichkeit!  ausrufen 
werden.  Doch  dies  alles  bleibt  Ihnen  überlassen«^.  Man  braucht 
nicht  anzunehmen,  daß  die  Rücksicht  auf  den  freundschaftlichen 
Briefverkehr,  den  er  seit  1769  mit  Denis  pflog,  Grund  zu  dieser 
Rücksichtnahme  war;  ebensowenig  scheint  der  von  Nicolai  ange* 
gebene  Grund  maßgebend  gewesen  zu  sein :  denn  geschah  nicht  jede 
Rezension  »ex  abrupto«?  Es  zeigt  sich  auch  hier  jene  Toleranz,  die 
wir  schon  in  seinem  Verhalten  Klopstock  gegenüber  als  Kompromiß 
erkannten.  Diese  Annahme  wird  noch  durch  die  Briefe  Nicolais  an 
Denis  verstärkt.  In  seinem  Briefe  an  Denis  vom  14.  XL  69*  preist 
er  dessen  Ossian*Übersetzung  als  »eines  der  wichtigsten  neuen 
Werke«,  das  er  »mit  großem  Vergnügen«  gelesen  habe;  Denis'  Bild 
stand  vor  dem  13  Bande  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek, 
doch  galt  diese  Ehre  sicher  mehr  dem  vorzüglichen  Gelehrten,  als 
dem  Dichter.  Aber  im  übrigen  galt  auch  Denis'  Gedichten,  vielleicht 
gerade  ihnen  gegenüber,  sein  oben  mitgeteiltes  Urteil  über  den 
»Bardengeschmack«,  empfand  er  sich  ihnen  gegenüber  als  Fremd* 
ling,  wie  es  die  oben  gleichfalls  zitierte  Stelle  aus  seinem  Briefe  an 
Denis  vom  28.  XII.  72  (vgl.  Anm.  1  S.  87)  umschreibt;  und  wo  er 
dessen  dichterische  Leistungen  anerkannte,  geschah  es  in  objektiv* 
unverbindlicher  Form.  »Es  ist  in  der  Tat  einem  Patrioten  erfreu* 


'  Nicolai  an  Herder  25.  I.  72. 

-  Um  so  bemerkenswerter,  als  Nicolai  auf  der  Rückseite  von  Herders  undatierten, 

nach  O.  Hoffmanns  Vermutung  »spätestens  Mitte  März«  1769  geschriebenen  Brief 

bemerkt:  »Gesang  Ringulphs  von  dem  Moses  nicht  viel  hält.« 

^  Herder  schreibt  an  Nicolai  (Empf.  10.  II.  72  =  Hoffmann  1,  S.  71):  »Aus  den 

Rezensionen  sollen  alle  herbe  und  eckigte  Stellen  weg.« 

*  Denis'  Nachlaß  S.  159. 

92 


lieh,«  schreibt  er  da\  »daß  bei  der  großen  Kälte,  die  unsere  Lands* 
leute  bei  Werken  des  Geistes  zeigen,  dennoch  hin  und  wieder  noch 
einiger  Eifer  und  einige  Neugier  danach  bemerkt  wird,«  wie  nach 
Denis'  Gedichten;  oder,  viele  Jahre  später'^,  Denis  habe  sich  durch 
seine  Gedichte  ein  »monumentum  aere  perennius«  gestiftet.  Sind 
diese  Worte  nicht  ein  Ausdruck  seines  Bemühens,  das  allgemeine 
Lob  da  gelten  zu  lassen,  wo  das  eigene  Empfinden  schwieg?  — 
Auch  Zachariae  galt  Nicolai  als  von  Klopstock  abhängig,  zumal 
in  seiner  »Schöpfung  der  Hölle«.  Hier  war  es  ein  Gegensatz  in  der 
Kunstanschauung,  der  Nicolai  zur  Ablehnung  veranlaßte.  In  spä* 
teren  Überlegungen,  die  Göckingk  veröffentlicht  hat^,  stellt  Nicolai 
es  so  dar,  als  ob  Zachariae,  weil  (nach  Klopstocks  Vorgang)  die 
Imagination  als  Zeichen  des  Dichters  verkündet  worden  sei,  nun 
gemeint  habe,  ein  Gedicht,  das  aus  lauter  Imagination  bestünde, 
müsse  besonders  vortrefflich  sein.  So  tadelte  er  auch  schon  in  der 
Besprechung  der  »Schöpfung  der  Hölle«  (im  184.  und  185.  Literatur* 
brief)  Zachariaes  Absicht  der  »reinen  Imagination«,  die  eine  Über* 
treibung  und  ein  Mißverständnis  der  Milton*Klopstockschen  Dich* 
tung  darstelle.  Die  —  übrigens  eher  lobende  als  tadelnde  —  Be* 
sprechungaber,die  er  Zachariaes  gesammelten  »Poetischen  Schriften« 
in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek*  widmete,  war  gleichfalls 
der  Ausdruck  seines  Bemühens,  das  allgemeine  Urteil  an  die  Stelle 
des  eigenen  passiven  Abseitsstehens  zu  setzen.  »Herr  Zachariae  vers 
dienet  immer  einen  Platz  unter  unsern  besten  Dichtern,«  heißt  es 
da •\  und  mit  besonderem  Bezug  auf  seine  Oden  und  Lieder:  »Keines 
von  diesen  Stücken  ist  im  Ganzen  vorzüglich  schön  zu  nennen,  ob* 
gleich  sich  in  jedem  etwas  finden  wird,  das  verrät,  daß  der  Verfasser 
kein  schlechter  Dichter  sein  müsse  ^. 

Diese  Urteilsweise  Nicolais,  die  als  charakteristisch  für  die  erste 

'  An  Denis:  20.  VI.  70. 

-  Ebenda:  4.V.  1783. 

"  Göckingk  S.  111. 

'  IV,  1,  S.  217ff. 

'  IV,  1,  S.  224. 

'  Ebenda  S.  219.  Erwähnt  mag  noch  werden,  daß  er,  analog  dem  späteren  Ver; 

hältnis  zu  Klopstock,  an  der  schon  zitierten  Stelle   in   s.  Ausgabe   v.  Lessings 

Briefen  (vgl.  Anm.  1  S.  90)  Zachariae  unter  die  »guten«  Schriftsteller  rechnet, 

in  eine  Klasse  mit  Geliert. 

93 


Periode  von  Nicolais  Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  erkannt 
wurde,  hat  sich  natürlich  allmählich,  nach  langsamer  Verdrängung 
der  in  den  Literaturbriefen  geübten  Methode  des  fast  draufgänge* 
rischen,  unbekümmerten  Bejahens  oder  Verneinens  herausgebildet; 
wurde  oben  versucht,  den  psychologischen  Zusammenhang  zwi* 
sehen  dieser  Urteilsweise  und  derjenigen  der  kompromißhaften 
Ablehnung  aufzuhellen,  so  hilft  die  nun  folgende  Darstellung  des 
Verhältnisses  von  Nicolai  und  Gerstenberg,  die  zeitliche  Ablösung 
aufzuzeigen,  wie  sie  zugleich  einen  abschließenden  Rückblick  auf 
Nicolais  Verhältnis  zu  Klopstock  gestattet. 

Die  Literaturbriefe  haben,  wie  uns  das  noch  öfter  begegnen  wird, 
auch  dem  späteren  Verhältnis  Nicolais  zu  Gerstenberg  die  Rieh* 
tung  gegeben.  »Der  Verfasser  der  .Tändeleien'  ist  ein  Genie,  das 
viel  verspricht,«  erkannte  Lessing  im  35.  Literaturbrief.  Nicolai 
widmet  den  Tändeleien  bei  einer  Neuauflage  den  156.  Literatur* 
brief.  »Ich  will  gern  gestehen,«  urteilt  er  da,  »daß  ich  den  Herrn 
V.  Gerstenberg  und  seine  Tändeleien  ungemein  bewundere«.  Er 
rühmt  ihnen  vortreffliche  Gedanken,  zarte  Empfindungen,  unge* 
künstelten  Witz  nach  und  erkennt  diese  für  damalige  literarische 
Erscheinungen  seltene  Verbindung  bewundernd  »bei  einem  jungen 
Manne,  der  kaum  von  der  Universität  entwöhnt  ist«.  Er  meint 
schließlich,  wenn  Gerstenberg  »mit  fernerem  Herausgeben  langsam 
eilen  möge,  so  wird  ihn  auch  die  Nachw^elt  den  besten  Schrift« 
stellern  Deutschlands  beigesellen«.  Die  Vorbedingungen  für  eine 
freundschaftliche  Privatkorrespondenz  waren  damit  gegeben.  Wie 
sie  zustande  kam,  läßt  sich  bei  der  überaus  geringen  Anzahl  der 
erhaltenen  Briefe^  nicht  erkennen;  der  erste  erhaltene  Brief  Gersten* 
bergs,  aus  Kopenhagen  vom  2.  August  1766  datiert,  braucht  schon 
die  Anrede:  »Liebster  und  geehrtester  Freund«  und  entschuldigt 
sich  über  Gerstenbergs  »außerordentliches  Stillschweigen«,  das, 
nach  den  vorgebrachten  Entschuldigungen  zu  schließen,  in  der  Tat 
eine  längere  Unterbrechung  des  freundschaftlichen  Briefwechsels 
bedeutet  haben  muß.  Dieser  erste  Brief  Gerstenbergs  ist  nun  gleich 
eine  Absage  an  Nicolai,  der  ihn  zur  Teilnahme  an  der  neugegrün* 
deten  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  aufgefordert  hatte.  Es  sei 

'  die  R.  M.  Werner  im  23.  Band  der  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  mit* 
geteilt  hat. 

94 


ihm  nicht  möglich,  an  einem  Journale  teilzunehmen,  »in  dem  einige 
meiner  geliebtesten  und  ruhmwürdigsten  Freunde^  so  sehr  zu  ihrem 
Nachteil  zur  Schau  gestellt  werden«;  in  seiner  weltmännischen,  ver* 
bindlichen  Art  fügt  er  aber  hinzu, daß  seine  Unzufriedenheit  mit  der 
Bibliothek  vielleicht  auch  daher  rühre,  daß  Nicolai  nicht  der  einzige 
X'erfasser  derselben  sei;  als  äußeren  Grund  der  Ablehnung  gibt  er 
außerdem  an,  daß  er  sich  mit  den  »Briefen  über  die  Merkwürdig* 
keiten  der  Literatur«  eine  zu  große  Bürde  aufgeladen  habe,  als  daß  er 
vorläufig  an  andere  literarische  Arbeiten  denken  könne,  indessen 
verspricht  er  doch  in  seinem  zweiten  Briefe  Nachrichten  von  »hiesi* 
gen  Neuigkeiten«  für  die  Bibliothek,  was  wahrscheinlich  macht,  daß 
Nicolai  seine  Aufforderung  inzwischen  wiederholt  hat.  Nicolai  hat 
diese  Absage  denn  auch  nicht  verübelt;  der  freundschaftliche  Ton 
ihrer  Korrespondenz  bleibt  bestehen.  Gerstenberg  versichert  in  den 
folgenden  Briefen  Nicolai  seiner  unveränderten  Freundschaft,  und 
schon  der  Ton  seiner  Briefe  könnte  diese  Versicherungen  als  mehr 
denn  bloße  Höflichkeitsfloskeln  erscheinen  lassen,  auch  wenn  nicht 
Gerstenberg  zudem  so  warmherzige  Anerkennungen  der  Verdienste 
Nicolais  um  die  deutsche  Literatur  einfließen  ließe,  wie  z.  B.  an 
jener  Stelle,  wo  er  sich  über  die  epochemachende  Bedeutung  der 
Nicolaischen  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand  der  schönen  Wissen* 
Schäften«  äußerte,  deren  beabsichtigte  Umarbeitung  Nicolai  ihm 
mitgeteilt  haben  muß^.  Indessen  schon  im  zweiten  der  mitgeteilten 
Briefe  beginnt  Gerstenbergs  oben  erwähnte  Abwehr  der  Nicolai* 
sehen  Einwendungen  gegen  Klopstock,  und  neben  den  Freund* 
Schaftsbezeugungen,  deren  Wahrhaftigkeit  nicht  in  Zweifel  gezogen 
werden  kann,  finden  sich  von  da  ab  Töne  leiser,  sich  mehr  und 
mehr  verstärkender  Ironie,  die  erst  gegen  den  Schluß  des  erhaltenen 
Briefwechsels,  wo  die  Briefe  ganz  unliterarische  Themata  behandeln, 
verschwindet.  So,  wenn  Gerstenberg  die  Anrede  »mein  kunst* 
richterlicher  Korrespondent«  braucht^  oder  wenn  er  Nicolai  im 
'  Gemeint  sind  insbesondere  Dusch  und  Zachariae,  die  er  im  12.  seiner  »Briefe 
über  die  Merkwürdigkeiten«  gegen  die  absprechende  Kritik  der  Literaturbriefe 
in  Schutz  nimmt. 

-  Gerstenberg  an  Nicolai  vom  31.  I.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  25,  49.  Er  nimmt  vom  Er= 
scheinen  der  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand«  »den  ersten  Zeitpunkt  der  frei^ 
redigen  heutigen  Kritik«  an. 
'  Gerstenberg  an  Nicolai  6.  IV.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  53. 

95 


selben  Briefe  ironisiert,  weil  dieser  »mit  einer  der  ersten  Posten« 
habe  wissen  wollen,  welche  Literaturbriefe  Gerstenberg  »für  Muster 
.eines  festen  Stiles'  halte:  eine  Aufgabe,  die  eine  sehr  tiefsinnige 
Untersuchung  im  Geschmack  der  A.  B.  (^  Allg.  Dtsch.  Bibl.)  vers 
anlassen  könnte,  wenn  ich  weitläuftig  über  Dinge  schwatzen  möchte, 
die  ich  schon  für  bekannt  annehme«.  Oder  man  beachte  die  iro* 
nische  Überlegenheit,  die  aus  Gerstenbergs  Worten  spricht,  mit 
denen  er  diesen  Brief  schließt:  »Ich  liebe  Sie  mit  allen  Ihren  Feh* 
lern«.  —  Im  Urteil  über  Klotz,  den  Gerstenberg  einen  Tropf  nennt\ 
sind  sich  die  beiden  Korrespondenten  hingegen  wieder  einig, 
und  in  der  Liebe  zur  Musik  finden  sie  sich  vollends.  Im  letzten 
der  erhaltenen  Briefe  (vom  6.  VII.  68),  sendet  Gerstenberg  Nicolai 
einen  für  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  bestimmten  Bericht 
über  seine  »Briefe  über  die  Merkwürdigkeiten«,  aus  dem  das  Publi* 
kum  erfahren  sollte,  »aus  welchem  Gesichtspunkte  sie  hätten  be« 
urteilt  werden  sollen«;  wenn  Nicolai  sie  also  rezensiere,  so  habe 
er  es  in  seiner  Gewalt,  »von  meinen  Gründen  soviel  anzuführen«, 
als  er  für  richtig  erkenne.  Die  Mercksche  Rezension  der  Briefe  im 
2.  Stück  des  22.  Bandes  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  hat 
aber  von  diesem  »Bericht«  keinen  Gebrauch  gemacht. 

Dieser  letzte  Gerstenbergsche  Brief  hat  jedoch,  wie  wir  mit  Sicher* 
heit  annehmen  können,  keineswegs  das  Ende  der  Korrespondenz 
bedeutet.  R.  M.  Werner  deutet  die  Spur  eines  weiteren  Gersten* 
bergschen  Briefes  an  Nicolai  an^;  in  jedem  Falle  ist  die  hier  ver* 
öffentlichte  Korrespondenz  nur  ein  Bruchstück,  allerdings  gerade 
für  unsere  Fragestellung  außerordentlich  aufschlußreich.  Welchen 
Abschluß  das  persönliche  Verhältnis  mit  Gerstenberg  auch  gefun* 
den  haben  mag:  der  prinzipielle  Kern  dieses  Verhältnisses  scheint 
in  dem  Vorhandenen  gegeben  zu  sein. 

Bei  einem  von  beiden  Seiten  mit  so  seltener  Offenherzigkeit  ge* 
führten  Briefwechsel  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  sich  die  Gegen* 
sätze  der  Strömungen,  von  denen  beide  beeinflußt  sind,  offenbarten. 
»Wir  sind  nichts  weniger  als  Rivalen«,  bemerkt  der  Verfasser  der 

'  Gerstenberg  an  Nicolai  27.  IV.  68  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  61 :  »Herr  Klotz  ist  ein 

Gul<s  was  R.  M.Werner  ebenda  S.  61,  Anm.  1  ^=  engl,  .gull'  deutet. 

-  R.  M.Werner  Z.  f.  d.  Phil.  23,  67.  Diesen  Brief  konnte  ich  mir  nicht  zugänglich 

machen. 

96 


Schleswigschen  Literaturbriefe ^  gegen  den  Herausgeber  der  Allge* 
meinen  Deutschen  Bibliothek;  und  Nicolai  antwortet":  »ob  wir 
gleich,  wie  Sie  bemerken,  nicht  Rivalen  sind,  so  können  wir  doch 
auch  nicht  Freunde  sein,  weil  unsere  Korrespondenz  das  Ansehen 
gewinnt,  als  ob  wir  uns  tapfer  zanken  würden.«  Indessen  sei  Ger* 
stenberg  im  Vorteil,  da  er  »auf  eigenem  Grund  und  Boden«  streite, 
»wie  der  König  von  Preußen  bei  Leuthen  auf  seinem  gewöhnlichen 
Manoevre^Platz«.  Gerstenberg  hatte  sich  dazu  bekannt,  in  seinen 
»Briefen«  »dem  Geschmack  des  Publici  eine  andere  Wendung« 
zu  geben,  während  er  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  nicht 
unzutreffend  als  ein  Organ  der  »Betrachtungen«  erkannt  hatte,  das 
im  wesentlichen  in  den  alten  Geleisen  fortfahre.  Nicolai  mochte 
wohl  die  Richtigkeit  dieses  Gegensatzes  anerkennen,  indessen  hielt 
er  doch  den  Kampfplatz  für  Gerstenbergs  eigenen  Grund  und  Bo* 
den  und  deutete  damit  an,  daß  ihn  dieser  Gegensatz  nicht  weiter 
beschäftige.  »Ich  bin  seit  einiger  Zeit«,  setzt  er  diesen  Gedanken 
fort,  »in  der  Gelehrsamkeit  ein  Fremdling  worden^,  und  von  vielen 
Beschäftigungen  zerstreuet,  lese  ich  wenig  und  gerade  das  am  wenig* 
sten,  was  ich  am  liebsten  lesen  sollte  und  wollte«.  Die  Tatsache 
aber,  daß  er  an  diesen  Satz  unmittelbar  die  —  schon  oben  zitierte  — 
Verteidigung  seiner  Stellungnahme  gegen  Klopstocks  »Hymnen« 
anschließt,  offenbart,  daß  der  von  Gerstenberg  hervorgehobene 
Gegensatz  zugleich  den  in  der  Stellung  zu  Klopstock  einschließt: 
die  literarische  Gegensätzlichkeit  in  engerem  wie  im  weiteren  Sinn, 
schriftstellerische  und  Kunstanschauungs*Gegensätze  werden  von 
Nicolai  und  Gerstenberg  erkannt. 

»Die  besten  Köpfe  haben  ihre  Epochen«  sagt  Gerstenberg  in  be* 
zug  auf  Winckelmann*.  Im  selben  Brief  aber  erinnert  er  auch  Ni* 
colai  an  seine  literarische  Vergänglichkeit.  Nachdem  er  schon  im 
vorhergehenden  Brief  Nicolais  Urteil  über  Klopstock  für  vereinzelt 
erklärt  hat,  da  Nicolai  und  seine  Freunde  noch  nicht  das  deutsche 

'  Gerstenberg  an  Nicolai  31.  I.  67  =  Z.  f.  d.  Phil.  23,  49. 

-  Nicolai  an  Gerstenberg  21.  III.  67. 

'  Der  von  Nicolai  gewöhnlich  nur  ironisch  gebrauchte  Archaismus  »worden« 

statt  »geworden«  deutet  darauf  hin,  daß  »Gelehrsamkeit«    hier  für  »schöne 

Wissenschaften«  steht,  im  Gegensatz  jedenfalls  zu  den  Studien,  die  »recht  eigents 

lieh  den  Menschen«  betreffen. 

'  Gerstenberg  an  Nicolai,  31.  I.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,49. 

7  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  9Z 


Publikum,  ja  nicht  einmal  alle  Berliner  darstellten,  schreibt  er  jetzt 
über  Nicolais  »Rezept,  zu  einem  Stil  zu  gelangen«  und  dessen 
»grave  Betrachtungen  über  die  Mißlichkeit  meines  Unternehmens, 
meinen  Stil  auf  Kosten  des  Publici  auszubilden«:  »Lassen  Sie  mich 
Ihnen  ein  paar  Worte  ins  Ohr  sagen  . . .  Wenn  Sie  so  etwas  drucken 
ließen,  so  würde  mancher  in  dem  Verdacht  bestärkt  werden,  daß  es, 
wie  die  Schweizer  hier  einmal  aussprengten,  in  Berlin  wirklich  eine 
Nicolaische  Schule  gebe,  die  mit  einigen  Verbesserungen,  nur  eine 
Erneuerung  der  weiland  gottschedischen  sei.«  Gerstenberg  tritt  hier 
also  gegen  die  von  ihm  als  dogmatisch^lehrhaft  empfundene  Urteils* 
weise  Nicolais  auf.  Diesen  Gegensatz  in  der  kritischen  Urteilsweise 
verschärft  Gerstenberg  in  dem  erwähnten  »Vorbericht«  zu  den 
Schleswigschen  Literaturbriefen,  den  er  Nicolai  mit  dem  letzten 
Brief  übersendet.  Er  unterscheidet  dort  den  »Kritiker«  —  den  er  in 
den  früheren  Briefen  mit  der  ironischen,  gegen  Nicolai  gerichteten 
Bezeichnung  »Criticus«  benannt  hat^,  von  dem  »Sammler  kritischer 
Briefe«.  Und  wenn  dieser  Unterscheidung  auch  aus  dem  Grunde 
für  Gerstenbergs  Anschauungen  keine  tiefere  Bedeutung  zukommt, 
weil  Gerstenberg,  wie  auch  Nicolai  erkannt  hatte'- in  seinen  Briefen 
den  Stil  und  die  Urteilsweise  anderer,  wie  z.  B.  Sturz  nachgeahmt 
hatte  ^,  so  war  doch  die  Gegenüberstellung  des  verschiedenen  Gei* 
stes,  aus  dem  sich  die  beiden  Arten  des  kritischen  Urteilens  nach 
Gerstenberg  herleiten,  eine  Gegenüberstellung  von  Nicolais  und 
Gerstenbergs  kritischer  Methode.  Gerstenberg  bezeichnet,  in  einer 
an  Hamanns  Unterscheidung  sokratischer  und  sophistischer  kri* 
tischer  Methode*  anklingenden  Wendung,  die  seinige  als  »eine 
Folge  sokratischer  Bescheidenheit«,  diejenige  Kritik  dagegen,  die 
ihre  Stimme  für  die  allgemeine  ausgebe,  als  eine  Folge  »der  sophi* 
stischen  Zuversicht«;  ihm  gilt  die  objektiv^normierende  Kritik  als 
ein  Sophisma,  da  alle  Kritik  letzthin  doch  subjektiv  sei.  Nicolais 
Kritik  gilt  ihm  aber  als  objektiv^normierend,  und  er  hat  schon  in 
einem  seiner  vorangehenden  Briefe,  gelegentlich  Nicolais  Einwen* 

'  Gerstenberg  an  Nicolai,  31.  I.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  47. 

^  Nicolai  an  Gerstenberg  21.  III.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  51. 

'  Vgl.  Max  Koch,  »H.  P.  Sturzes  München  1879  S.  95;  vgl.  R.  M.  Werners  Einlei* 

tung  zum  Abdruck  der  Briefe  Gerstenbergs  an  Nicolai,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  41. 

*  »Sokratische  Denkwürdigkeiten«,  ed.  F.  Roth  2,  12. 

98 


düngen  Klopstock  gegenüber,  Nicolai  auf  das  Haupterfordernis 
des  Kritikers  hingewiesen,  daß  die  »Sphäre  seiner  Einsicht  der 
Sphäre  des  Genius«  gleich  sein  müsse,  wobei  die  Frage,  ob  diejenige 
des  Genies  »exzentrisch«  sei,  eine  cura  posterior  darstelle,  die  er 
womöglich  überhaupt  nicht  gestellt  wissen  will'. 

Traf  dieser  Hinweis  Nicolai,  dessen  kritische  Methode  wir  oben 
als  psychologisierend  erkannt  haben,  auch  nicht  eigentlich,  so  zeigt 
er  doch  mit  aller  Deutlichkeit  Gerstenbergs  gegensätzlichen  Stand* 
punkt  zu  dem  Kritiker  Nicolai. 

Der  eben  erwähnte  Hinweis  Gerstenbergs  führt  indessen  schon 
zu  dem  von  beiden  Korrespondierenden  erkannten  tieferen  Gegen* 
satz  der  Kunstanschauungen.  Er  äußerte  sich  auch  in  der  an 
Gerstenbergs  Urteil,  die  Karschin  sei  ein  »Genie  ohne  Geschmack«^, 
anknüpfenden  Diskussion,  in  der  wir  allerdings  von  Gersten* 
bergs  Seite  einen  Versuch  am  untauglichen  Objekt  sehen  müssen. 
Gerstenberg  meint,  die  Karschin  besitze  eigenen  Ausdruckswillen; 
daß  derselbe  sich  bei  ihr  nicht  in  wilder  Imagination  äußere,  be* 
sage  gegen  seine  Annahme  nichts.  Für  Nicolai  aber,  dem  der  Ori* 
ginalgedanke  letzthin  doch  etwas  Äußerliches  ist,  gilt  sie  nicht  als 
Original,  weil  ihr  die  »großen  und  rauhen«  Züge  fehlen;  er  exem* 
plifiziert  auf  Shakespeare,  der  ihm  —  eine  von  Nicolai  nicht  be* 
merkte  contradictio  in  adiecto  —  die  Norm  des  Originalgenies  dar* 
stellt.  Ein  Genie  ohne  Geschmack  sei  ein  solches,  das  zwar  das 
Vermögen  habe,  »original  zu  imaginieren  und  nach  eigener  Art 
auszuführen,  große,  starke  aber  rauhe  Züge  und  hingegen  einen 
gänzlichen  Mangel  der  kleinen  Zärtlichkeiten  der  poetischen 
Sprache,  des  Anständigen,  des  Neuen  und  dergl.«;  die  Karschin 
dagegen  hätte  gerade  das  letztere,  hingegen  fehle  ihr  das  erstere: 
er  bedenkt  nicht,  daß  eine  solche  normierende  Deduktion  dessen, 
was  seinem  Wesen  nach  sich  eben  der  Deduktion  entziehen 
soll,  einen  Widerspruch  in  sich  bedeutet  und  sein  Zugeständnis, 
daß  es  große  Dichter  geben  könne,  die  »Genie  ohne  Geschmack« 
besitzen,  eigentlich  wertlos  macht.  Aber  auch  an  diesem  Punkt 
ist  Nicoiai  von  vorneherein  geneigt,  seine  gegensätzliche  Mei* 
nung  auf  sich   beruhen   zu  lassen;  jede  weitere  Erörterung  ab* 

'  Gerstenberg  an  Nicolai,  6.  IV.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  55. 
*  Gerstenberg  an  Nicolai,  31.  I.  67,  ebd.  S.  48. 

7*  99 


schneidend,  sagt  er:  »Ich  merke  wohl,  auch  über  diesen  Punkt 
(sc.  wie  über  ihre  Meinungsverschiedenheiten  inbetreff  Klop* 
Stocks)  werden  wir  nicht  einig,  weil  wir  in  den  Prinzipiis  allzusehr 
differieren«^. 

Dieselbe  Stellungnahme  kennzeichnet  denn  auch  seine  Rezen* 
sionen  Gerstenbergscher  Werke,  und  sie  tritt  um  so  mehr  hervor, 
als  eine  Beeinflussung  durch  den  Tadel,  den  Gerstenberg  im  12.  der 
»Briefe  über  die  Merkwürdigkeiten«  gegen  die  Literaturbriefe,  ins* 
besondere  gegen  Nicolais  Zachariae*  und  Dusch*Rezensionen  ge* 
richtet  hatte,  nicht  nachweisbar  ist.  Obwohl  er,  worauf  schon  oben 
hingewiesen  ist,  die  Imagination  in  Gerstenbergs  »Gedicht  eines 
Skalden«  so  »sonderbar«  findet  wie  die  Versart^  bedenkt  er  es  den* 
noch  mit  jenem  sachlichen  Lob,  das  wir  schon  einmal  als  Kompro* 
miß  bezeichneten:  er  zählt  es  zu  den  »Originalwerken,  dergleichen 
nur  selten  erscheinen«.  Und  wenn  er  eine  hervorragende  Stelle 
rühmt,  die  ihn  ganz  »mit  süßer  Empfindung  überschüttet«  habe, 
so  entschuldigt  er  gewissermaßen  dieses  Lob  mit  dem  Hinweis  auf 
objektive  Wertbestimmungen:  »nicht  als  ob  sie  die  erhabenste  oder 
beste  wäre;  aber  sie  ist  allen  Lesern  die  verständlichste«.  Und  wenn 
er,  das  Ganze  überschauend,  zugibt,  daß  »diese  wilde  Imagination 
uns  vielleicht  einmal  einen  Nordischen  Arioste  bringen«  könnte, 
»wenn  ein  großes  Genie,  die  Schranken  des  Regelmäßigen  verach* 
tend,  sich  bloß  seiner  Einbildungskraft  überließe«,  so  besagt  doch 
der  Nachsatz,  daß  er  diesen  möglichen  Fall  auf  sich  beruhen  lassen 
will.  »Aber  wirklich  ein  großes  Genie  müßte  es  sein,  sonst  — «, 
schließt  er,  und  überhebt  sich  mit  einem  Gedankenstrich  weiterer 
Erörterung.  —  Eine  kurze  Anzeige  der  Gerstenbergschen  Wochen* 
Schrift  »Der  Hypochondrist« '  beruft  sich  auf  das  allgemeine  Urteil: 
Gerstenbergs  Name  allein  sei  Bürge,  »daß  dieses  Werk  nicht  in  die 
gemeine  Klasse  der  Wochenschriften  gehöre«.  Bezeichnender  fast 
noch  ist  es,  daß  er  Herders  lobpreisende  Rezension  des  »Ugolino« 
stillschweigend  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  aufnahm*, 
ja  sogar  Herder  für  die  Sendung  der  Rezensionen,  unter  denen  sich 

'  Nicolai  an  Gerstenberg  21.  III.  67,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  23,  51. 

^  In  der  schon  erwähnten  Rezension:  Allg.  Dtsch.  ßibl.  V,  1,  S.  210. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibl.  9,  2,  296. 

*  Allg.  Dtsch.  Bibl.  11,  1,S.  8ff. 

100 


diejenige   des  Ugolino  findet,  mit  freudiger  Anerkennung  ihres 
Wertes  dankte'.  - 

Unzweifelhaft  scheint  somit  der  Charakter  dieser  ersten  Periode  in 
Nicolais  Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  festzustehen :  ein  Wider* 
stand,  der  die  eigene  Art  sichern  will,  die  sich  bedroht  fühlt  durch 
lTnverstanden*Fremdes ;  eine  Ablehnung,  die  um  jeden  Breis  Feind* 
Schaft  vermeiden  und  die  Gegensätze  mit  tolerantem  Kompromiß 
ausgleichen  möchte.  Ein  Verhältnis  übrigens,  das  sich  nur  von  seiner 
subjektiven  Seite  her  zeichnen  läßt,  da  schöpferisch  ^  intuitive  Lei* 
stungen  auf  einen  reflektorischen,  und  in  seiner  Produktion  sich 
gehemmt  fühlenden  Geist  stielten.  Ein  allgemein  zusammenfassen* 
des  Bekenntnis  Nicolais  mag  diese  Periode  und  dieses  Verhältnis 
—  beides  gehört  zusammen  —  beleuchten  helfen:  An  Johannes 
Müller,  dessen  er  sich  väterlich  annehmen  zu  müssen  glaubt, 
schreibt  Nicolai^:  »Wenn  man  ein  nicht  ganz  schaler  Kopf  ist, 
so  ist  es  leicht,  durch  fremde  Sprünge  in  Gedanken  und  Verbin* 
düng  der  Gedanken  Aufmerksamkeit  zu  erwecken;  aber  wie  sehr 
viel  schwerer  ist  es,  Moses  Mendelssohns  edle  Einfalt  im  Rai* 
sonnement,  Lessings  philippische  Stärke,  Humes  Nachdruck  und 
Wielands  philosophische  Empfindsamkeit  zu  erreichen!«  Er  ziehe 
diese  Schreibart  »Gerstenbergs  dunkeln  Anspielungen,  Klop* 
Stocks  feierlicher  unaufhaltsamer  Nachdruckbeeiferung,  Her* 
ders  kühn  zusammengesetzten,  kühn  abgebrochenen  noch  nicht 
genug  sagenden  und  doch  noch  mehr  sagen  wollenden  Orakel* 
Sprüchen  weit  vor«,  —  »ob  mir  gleich  Gerstenberg,  Klopstock  und 
Herder  sehr  schätzenswürdige  Leute  sind«.  Hier  ist  auf  einem 
Nicolai  so  wichtigen  Gebiet  wie  dem  des  Stils  ein  allgemeiner 
Gegensatz  mit  großer  Schärfe  hervorgehoben;  aber  auch  hier  noch 
zeigt  sich  jene  Anerkennung  des  gegnerischen  Lagers,  die  wir  als 
rein   äußerlich   erkannten^    Sie   mußte   einer    entschiedenen    Ab»' 

'  Nicolai  an  Herder  11.  IV.  66.  Interessant  wäre  es,  die  Rolle  zu  kennen,  die  so; 

wohl  Nicolai  wie  Gerstenberg  in  der  Bodmerschen,  in  dessen  Nachlaß  befinde 

liehen  Parodie :  »Das  Parterre  in  der  Tragödie  Ugolino«  spielten ;  vgl.  Jak.  Baecht^ 

hold,  Gesch.  d.  dtsch.  Literatur  in  der  Schweiz,  S.  203  der  Anmerkungen.  Ich 

konnte  sie  leider  nicht  heranziehen. 

'  Nicolai  an  Joh.  v.  Müller,  2.  VII.  73  =  Briefe  an  Joh.  v.  Müller  .  .  .  herausgeg. 

von  M.  Constant,  Schaffhausen  1839  ff.  Bd.  4  (1840)  S.  68. 

'  Noch  1777,  in  einer  weiter  unten  zu  behandelnden  Rezension,  die  von  Enthu* 

101 


lehnung  Platz  machen,  wenn,  wie  es  in  den  folgenden  Jahren 
geschah,  Nicolais  geistige  Richtung  durch  die  Gegenpartei  ab; 
gelehnt  wurde;  der  latente  von  Nicolai  gern  verdeckte  Gegensatz 
wurde  von  den  Jungen  eröffnet,  und  Nicolai  war  damit  vor  die 
unabweisbare  Aufgabe  des  Kampfes  gegen  den  Sturm  und  Drang 
gestellt.      ■* 


siasmus  und  Schwärmerei  handelt  (AUg.  Dtsch.  Bibl.  30,  2,  366")  hat  Nicolai  »in 
der  Klassifikation  der  Genies«  Klopstock  den  Platz  »über  so  viel  tausend  sich 
so  nennende  Philosophen«  zugewiesen. 


102 


ZWEITES  KAPITEL 


»Wollte  Gott,  ich  dürfte  an  die  deutsche  Bibliothek  gar  nicht  mehr 
denken]  Ich  bin  von  neuerer  Literatur  so  voll,  daß  ich,  wie  jeder, 
der  den  Magen  zu  voll  hat,  nicht  verdauen  kann.  Ich  habe  schon  oft 
aufhören  wollen;  wissen  Sie,  was  mich  zurück  hält?  Die  theolo* 
gischen  Artikel.  Sie  haben  eine  so  merkwürdige  Revolution  in 
deutschen  Köpfen  verursacht,  daß  man  sie  nicht  muß  sinken  lassen« 

—  schreibt  Nicolai  am  8.  IIL  71  an  Lessing^  In  demselben  Brief,  in 
dem  er  diese  bedeutsame  Wandlung  feststellt,  teilt  er  dem  Freunde 
den  Plan  seines  Romans  »Sebaldus  Nothanker«  mit.  Aus  dem  Kern 
einer  Satire  gegen  Klotz  und  seine  Anhänger^  war  ihm  der  Plan  zu 
einem  Romane  erwachsen,  der,  gemäß  seiner  Erkenntnis:  »die* 
jenigen,  die  die  Erde  bebauen,  beschreiben  sie  nicht«,  ein  »Werk 
der  Darstellung^«  in  dem  Sinne  werden  sollte,  daß  die  Darstellung 
eines  Seins  ein  Soll  aussprach.  Es  war  für  Nicolai,  wie  schon  oben 
darzustellen  versucht  wurde,  die  Zeit,  da  das  reine  Interesse  an  der 
Poesie  einer  wissenschaftlichen  Einstellung  Platz  machte,  die  ihren 
Ausdruck  in  Studien  fand,  »die  den  Menschen  näher  betreffen«; 
da  er  die  Poesie  für  eine  »bloß  erlaubte  Ergötzung«  hielt,  die  dem 
übergeordneten  Wirken  für  die  Menschheit  sich  einzugliedern  habe. 
Seine  Bemühungen  um  die  Nationalliteratur  wurden,  wenn  auch 
nicht  verdrängt,  so  doch  aufgesogen  von  einem  weitschichtigeren 
Komplex,  der  ihn,  den  Anhänger  des  Popeschen  Satzes  »das  eigent* 
liehe  Studium  der  Menschheit  ist  der  Mensch«,  zu  kulturhistorischen, 
theologischen,  physiognomischen,volkswirtschaftlichen,  politischen 
Studien  führte.  Wohl  fand  im  »Sebaldus  Nothanker«,  dessen  erster 
Band  in  der  Ostermesse  1773  erschien  —  die  beiden  folgenden  kamen 
1775  und  76  heraus  —  hauptsächlich  das  theologische  Interesse  einen 

—  mehr  extensiven  als  intensiven  —  Ausdruck;  doch  zeigt  dieser 
Roman  den  ganzen  Umfang  seiner  neuen  und  bald  beherrschenden 
Interessenssphäre.  Richard  Schwinger  hat  in  seiner  trefflichen  Unter* 
suchung  über  den  Sebaldus  Nothanker  diesen  Roman  mit  Recht 

'  An  Lessing  8.  III.  71. 
^  An  Lessing  13.  VIII.  73. 
"  Göckingk  S.  125. 

103 


als  den  Ausdruck  einer  neuen  Periode  in  Nicolais  Entwicklung 
angesehen;  doch  hat  er,  —  wohl  mit  Rücksicht  auf  seine  Haupt* 
aufgäbe,  die  Würdigung  des  Nothanker  als  eines  Zeitromans,  — 
die  Stellung,  die  dem  Sebaldus  in  der  Entwicklung  Nicolais  zu* 
kommt,  nicht  genügend  gekennzeichnet,  indem  er  einmal  einzig 
die  Stellung  des  Romans  zu  der  vorangegangenen  Periode  Nicolais, 
nicht  aber  zu  der  folgenden  Entwicklung  hervorhob,  andererseits 
die  Tendenzen  der  beiden  Perioden  hinsichtlich  Nicolais  V^erhaltens 
zur  schönen  Literatur  rein  äußerlich  als  positive  und  negative,  oder 
doch  beiden  verschiedenen  Polen  zustrebende,  erkannte.  Was  den 
ersteren  Mangel  anbetrifft,  so  wird  die  Bedeutung  des  Nothanker 
und  seiner  Wirkungen  für  Nicolais  Entwicklung  im  weiteren  Ver* 
lauf  dieser  Arbeit  gekennzeichnet  werden.  Hier  sei  nur  darauf  hin* 
gewiesen,  daß  der  Geist  des  Sebaldus  nicht  nur  in  der  Form  und 
der  Tendenz  der  beiden  späteren  Romane  Nicolais,  in  der  »Ge* 
schichte  eines  dicken  Mannes«  und  im  »Sempronius  Gundibert« 
nachwirkt,  sondern  daß  er  überhaupt  die  ganze  Polemik  gegen  den 
Kantianismus  befruchtet  hat,  so  daß  diese  schon  hier,  im  Sebaldus 
Nothanker,  ihre  Wurzeln  findet.  Die  Verse,  die  sich  in  Nicolais 
Nachlaß  fanden \  und  die  den  Geist  des  Nothanker  sehr  glücklich 
—  wenn  auch  nicht  in  einer  vom  ästhetischen  Standpunkt  sehr  glück« 
liehen  Ausdrucksform  —  zu  umschreiben  scheinen,  geben  letzthin 
auch,  entsprechend  umgewandelt,  den  Geist  seiner  Polemik  gegen 
den  Kantianismus,  gegen  die  mißbräuchliche  Systematisierung  der 
»unveränderlichen  Philosophie«  wieder: 

»Theologie  ist  oft  nur  Ton, 

Den  dreht  man,  bald  zum  Zeitvertreibe, 

Und  bald  ums  Brod,  auf  seiner  Töpferscheibe, 

Wie  und  wozu  ein  jeder  will. 

Und  freilich  hält  der  Ton  auch  jedem  Stümper  still, 

Doch  unveränderlich  bleibt  die  Religion.«  — 

Die  Richtigstellung  der  Schwingerschen  Auffassung  aber,  die  mit 
dem»Sebaldus  Nothanker«  einenegative  Stellungnahme  Nicolais  zur 
Poesie  ansetzt,  ist  implicite  schon  in  den  Ausführungen  des  ersten 
Teiles  dieser  Darstellung  versucht,  wo  die  Einstellung  Nicolais  auf 

'  Göckingk  S.  165. 

104 


»den  Menschen  und  die  Menschheit«  zeitHch  und  sachHch  be* 
leuchtet  wurde.  Es  handelte  sich  dabei,  wie  wir  erkannten,  um 
einen  Umsetzungsprozeß,  der  die  schöne  Literatur  jenem  obersten 
Interesse  unterzuordnen  suchte;  es  handelte  sich  für  Nicolai  nicht 
um  eine  Verneinung  der  Poesie,  sondern  nur  darum,  sie  einer  tieferen 
Schicht  zuzuführen,  sie  umfassender  zu  begründen. 

Diese  festgegründete  Anschauungsweise  hat  im  »Sebaldus  No* 
thanker«  einen  freilich  ganz  ungenügenden  ästhetischen  Ausdruck 
gefunden.  Das  mannigfache  begeisterte  Lob,  das  dem  Sebaldus  als 
Kunstwerk  entgegentönte,  und  das  uns  weit  unbegreiflicher  ist,  als 
die  Ablehnung  des  Sebaldus  aus  religiösen  oder  Weltanschauungs* 
gründen,  mußte  in  Nicolai  den  Eindruck  erwecken,  der  Sebaldus 
habe  der  Zeit  aus  der  Seele  gesprochen.  Nennt  ihn  doch  Gebier 
den  »ersten  Nationalroman«  \  spricht  doch  Schubart  von  ihm  als 
dem  »besten  deutschen  Roman« ^.  Die  überaus  zahlreichen,  begei* 
Sterten  Zustimmungen  von  literarischer  Seite  wie  aus  dem  großen 
Publikum,  die  wenigstens  eingehende  Auseinandersetzung  mit  dem 
Nothanker  an  den  Stellen,  von  denen  widersprochen  wurde,  hat 
Richard  Schwinger^  mit  wünschenswertester  Vollständigkeit  zu* 
sammengetragen.  Ein  Ergebnis  aus  diesem  mannigfachen  Echo, 
besonders  die  Rückwirkung  desselben  auf  Nicolai  hat  er  jedoch 
nicht  dargestellt.  Gerade  hierauf  kommt  es  uns  aber  bei  unserer 
Aufgabe  an;  denn  diese  Rückwirkung  auf  Nicolai  hat  naturgemäß 
seine  Stellung  in  dem  an  den  Nothanker  sich  anschließenden  Streit 
mit  Hamann,  Jung  Stilling  und  Fr.  H.  Jacobi  beeinflußt,  der  eine 
wichtige  Phase  in  seinem  Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  dar* 
stellt. 

Die  unbedingt  lobende,  mitunter  enthusiastisch  begeisterte,  brief* 
liehe  Zustimmung  von  Thümmel,  Eschenburg,  Ebeling,  Riedel  (der 
bei  dieser  Gelegenheit  —  Brief  vom  22.  IX.  73  —  Anknüpfung  an 
Nicolai  sucht),  Zimmermann  (der  den  Sebaldus  "Wielands  Agathon 
gleichstellt),  Iselin,  Denis,  Gebier,  Springer  in  Erfurt  (der  den  Ro* 

^  Gebier  an  Nicolai  15.  VII.  75  =  Werner  S.  66. 

*  Schubart:  Deutsche  Chronik  1774.  S.  142.  (R.  Schwinger  S.  154.)  Erst  bei  Ge* 

legenheit  von  »Werthers  Freuden«  hat  Schubart  dieses  Lob  zurückgezogen  und 

ins  Gegenteil  verkehrt. 

'  Richard  Schwinger  S.  161  ff.,  S.  195  ff. 

105 


man  über  Wielands  Goldenen  Spiegel  stellt),  v.  Bretschneider  (in 
dessen  Roman  Familiengeschichte  und  Abenteuer  des  Junker  Fer* 
dinand  v.  Thon  sich  Nothankers  Einfluß  sehr  stark  erweist),  und 
Justus  Moser  hat  Nicolai  mit  freudigem  Dank  quittiert;  wir  dürfen 
annehmen,  daß  er  auch  die  lobende  Zustimmung  in  Zeitschriften 
und  Zeitungen,  soweit  sie  Nicolai  bekannt  wurde,  ebenfalls  dankend 
annahm.  Besonders  wertvoll  mußte  ihm  natürlich  schon  wegen  des 
folgendes  Streites  mit  F.  H.  Jacobi,  aber  auch  in  seinem  späteren 
Streit  mit  Wieland  selbst,  die  lobende  Rezension  des  Teutschen 
Mercurs  von  Wieland  (Juni  1773  S.  231f.)  sein,  der  den  Sebaldus 
ein  »in  seiner  Art  ganz  neues  und  originales  Buch«  nennt,  für  das 
er  »dem  Genius  des  Geschmacks  und  des  Menschenverstands« 
»herzlich  dankt«.  Eine  Reihe  von  Einwänden,  die  in  brieflichen 
Äußerungen  an  Nicolai  laut  wurden,  hat  er  zu  widerlegen  gesucht, 
wie  z.  B.  Lessings  Einwand  ^  gegen  das  Motiv  der  »Seelen  verkäuferei« 
im  dritten  Teil  des  Sebaldus  mit  Hinweis  auf  die  reale  Wahrschein* 
lichkeit  des  Motivs"".  Moses  Mendelssohn^  zieht  seine  ästhetischen 
Einwände  gegen  die  erste  Hälfte  des  zweiten  Bandes  mit  Rücksicht 
auf  die  Vollkommenheit  der  zweiten  Hälfte  zurück,  (ebenso  einen 
Einwand*  gegen  eine  fast  irreligiös  klingende  Wendung  in  dem  ihm 
zur  Durchsicht  übergebenen  Manuskript  des  3.  Teils,  die  er  jedoch 
lediglich  als  ungeschickten  Ausdruck  ansieht),  und  versieht  sie  mit 
einem  »Imprimatur«.  Nicolai  sah  also  auf  dieser  Seite,  die  ihm  noch 
immer  die  maßgebendste  war,  leicht  zu  widerlegende,  im  wesent* 
liehen  rein  ästhetische  Einwände;  mit  dem  Geist  des  Romans  iden* 
tifizierten  sich  seiner  Meinung  nach  Lessing  und  Moses  unbedingt; 
Lessings  Stirnrunzeln,  das  wir  hinter  dessen  Worten:  »ich  schreibe 
Ihnen  bei  meiner  nächsten  Erwachung  alles  das  weitläufig,  was  ich 
bei  verschiedenen  Stellen  gedacht  habe;  und  ich  denke,  ich  habe 
mancherlei  gedacht«^  zu  sehen  glauben,  hat  Nicolai,  wie  aus  seinem 
Antwortsbrief  vom  13.  VIII.  hervorgeht,  nicht  bemerkt.  Er  hat  nur 
die  Zustimmung  Lessings  herausgehört,  die  ihm  um  so  lieber  war, 

'  Lessing  an  Nicolai  16.  VI.  76. 

-  Nicolai  an  Lessing  29.  VI.  76. 

=•  3.  X.  74  =  Moses  Ms.  Ges.  Schriften  V,  S.  529. 

'  20.  II.  75  =  Moses  Ms.  Ges.  Schriften  V.  S.  532. 

'  Lessing  an  Nicolai  18.\1I.73. 

106 


als  er  Lessings  Urteil  gefürchtet  hatte;  und  so  schreibt  er  dort  den 
für  seine  eigene  Stellung  zum  Sebaldus  Nothanker  äußerst  bezeich* 
nenden  Satz  nieder:  »Fast  sollte  ich  glauben,  daß  mir  etwas  darin 
(sc.  im  Nothanker)  gelungen  wäre,  weil  es  einigen  Leuten  gefällt, 
von  denen  ich  sehr  befürchtete,  daß  es  ihnen  nicht  schmecken  würde. 
Sie  waren  darunter  —  die  Ursachen  würden  zum  Teil  für  Sie  ein 
Kompliment  sein,  und  das  wollen  wir  einander  nicht  machen.«  Zu 
diesen  »Leuten«,  über  deren  Urteil  Nicolai  zweifelhaft  gewesen  war, 
gehörte  vor  allem  Herder.  Soll  dessen  Urteil^  über  den  Sebaldus 
auch  erst  im  folgenden  Abschnitt  gewürdigt  werden,  so  mag  doch 
hier  schon  darauf  hingewiesen  werden,  daß  es  in  Nicolais  Ohren 
als  unbedingtes  Lob  klang;  die  von  Herder  angekündigte  ausführ* 
lichere  Beurteilung  des  Nothanker  hat  er  vergebens  erwartet;  kaum 
ein  Jahr  später^  wies  Herder  »Nothnagels  Sandwüsten«  kalt  und 
höhnisch  ab.  —  Sicher  gehörte  auch  Merck  zu  denjenigen,  deren 
Urteil  über  den  Sebaldus  Nicolai  zunächst  zweifelhaft  war.  Auch 
Mercks  briefliches  Urteil  hat  ihn  angenehm  enttäuscht,  und  Nicolai 
vermerkt  auch  hier  offenherzig^:  »So  wenig  ich  literarischen  Ruhm 
suche,  so  werde  ich  doch  oft  verdrießlich,  wenn  ich,  indem  mir  das 
Lob  des  großen  Haufens  vor  den  Ohren  gellet,  mir  vorstelle,  daß 
vielleicht  Kenner  die  Köpfe  schütteln.«  Und  nun  konnte  er  glauben, 
nicht  nur  die  literarischen  »Kenner«,  sondern  auch  die  theologischen 
auf  seiner  Seite  zu  haben.  Semler,  Resewitz,  Schroeckh,  Lüdke,  J.  A. 
Hermes,  Pistorius,  Walch,  Theologen,  die  Nicolai  äußerst  hoch* 
schätzte,  und  die  —  bis  auf  Semler  —  die  Hauptstütze  der  theolo* 
gischen  Artikel  der  A  D  Bibliothek  waren,  an  denen  überhaupt, 
wie  wir  oben  aus  Nicolais  Äußerung  an  Lessing  gesehen  haben, 
Nicolais  Interesse  für  die  Fortführung  der  A  D  Bibliothek  hing, 
versicherten  ihn  nach  dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes  ihrer 
wärmsten  Anteilnahme  an  Sebaldus'  weiteren  Schicksalen.  Und 
das,  obwohl  ein  vorurteilsfreier  Mann,  wie  Iselin,  befürchten  zu 
müssen  glaubte,  daß  die  Geistlichkeit,  der  im  Sebaldus  übel  mit* 
gespielt  sei,  da  der  beste  Geistliche  des  Romans,  Sebaldus  selbst, 
ein  Narr  sei,  den  Roman  heftig  bekämpfen  werde!  Seinem  Rat  nach 

^  Herder  an  Nicolai  19.  VI.  73. 

*  Herder  an  Nicolai  29.  VII.  74. 

"  N.  an  Merck  (Wagner  I,  S.  73  f.)  8.  X.  76. 

107 


dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes,  »die  Orthodoxen  gehen  zu 
lassen«  und  sie  nicht  weiter  an  den  Pranger  zu  stellen,  glaubte  Ni* 
colai  nicht  folgen  zu  können  und  nicht  folgen  zu  brauchen.  Und 
wie  Iselin  gegenüber,  so  lehnte  Nicolai  auch  gegen  Merck,  der  ihn 
vor  den  »Herren  des  geistlichen  Ordens«  gewarnt  hatte,  alle  Mah? 
nungen  zur  Rücksichtnahme  und  Schonung  überlegen  ab^  Wir 
dürfen  annehmen,  daß  auch  die  Streitschriften  gegen  den  Nothanker 
von  orthodox  theologischer  Seite^  Nicolai  nur  insoweit  berührt 
haben,  als  sie  ihn  eher  in  der  Fortsetzung  des  begonnenen  Werkes 
bestärkten. 

So  fühlte  sich  denn  Nicolai  nach  dem  Erscheinen  des  Nothanker 
in  sehr  sicherer  Position.  Die  Bescheidenheit  eines  sicheren  Bewußt* 
seins  spricht  aus  seinem  schon  erwähnten  Brief  an  Herder  vom 
25.  VI.  73,  nicht,  wie  K.  Aner  meint,  das  Geständnis  der  Unter* 
Ordnung  unter  Herder.  In  dieser  sicheren  Position,  in  der  er  ästhe* 
tische  Einwände  durch  ästhetische  Gegenemwände  oder  durch  den 
Hinweis  auf  die  vorherrschende  Tendenz  des  Romans  widerlegen, 
Widerspruch  gegen  die  Tendenz  als  tief  unter  ihm  stehend  unbe* 
achtet  lassen  zu  können  glaubte,  traf  ihn  Hamanns  »An  die  Hexe 
zu  Kadmonbor«,  Jung  Stillings  »Schleuder  eines  Hirtenknaben«, 
wurde  Friedrich  Heinrich  Jacobis  Abneigung  gegen  Nicolai  zur 
offenen  Feindschaft.  Hatten  wir  im  vorangehenden  Kapitel  eine 
Diposition  Nicolais  festgestellt,  die  das  Neue,  von  ihm  Unver* 
standene  bisweilen  bedauernd  und  im  Bewußtsein  der  Schwäche, 
bisweilen  im  Hinblick  auf  seine  abweichende,  ihm  andere  Auf* 
gaben  zuweisende  Wesensart  ohne  zu  verneinen  abwies,  so  traf  ihn 
hier,  wo  das  Bewußtsein  seiner  ihm  eigentümlichen  Aufgaben  sich 
verobjektiviert  und  dadurch  an  Festigkeit  gewonnen  hatte,  ein  ihm 
unverständlicher,  aber  äußerst  heftiger  Widerspruch  von  der  Gegen* 
Seite,  der  eine  tiefe  Kluft  zwischen  ihr  und  Nicolai  zu  schaffen 
schien.  Die  Zuordnung  Hamanns,  Jung  Stillings  und  Fritz  Jacobis 

'  Nicolai  an  Merck  8.  X.  76. 

^  Schwinger  S.  224f.  Hierzu  ist  die  Denunziation  des  ins  Holländische  über= 
setzten  »Sebaldus  Nothanker«  in  der  Neederland.  Bibl.  nachzutragen,  die  eine  Auf* 
Forderung  enthielt,  das  Buch,  in  dem  die  »Prediger  so  höllisch  gelästert  werden«, 
in  Holland  zu  verbieten.  Afsprung  teilte  Nicolai  einen  Auszug  aus  dieser  »Res 
zension«  18.  III.  76  NN  mit. 

108 


zu  der  Geniebewegung  konnte  ihm,  wie  wir  sehen  werden,  nicht 
zweifelhaft  sein.  Es  ist  daher  die  Frage,  wie  dieser  Widerspruch  in 
seiner  damaHgen  Lage  auf  sein  subjektives  Verhältnis  zum  Sturm 
und  Drang  eingewirkt  hat,  und  wie  dieses  das  objektive  beeinflußt 
hat.  Die  Verschiedenheit  des  Angriffs  muß  dabei  in  Betracht  gezo« 
gen  werden.  Der  Widerspruch  Hamanns  hat  natürlich  nicht  nur 
durch  seine  eigenartige,  echt  Hamannische  Form,  sondern  auch 
durch  die  Tatsache  eines  vorangegangenen  jahrelangen  freund* 
schaftlichen  Briefwechsels  erheblich  anders  auf  Nicolai  gewirkt,  als 
derjenige  Jung  Stillings.  Es  ist  daher  notwendig,  den  Widerstand 
der  drei  gesondert  zu  behandeln,  und  in  jedem  Falle,  insbesondere 
aber  bei  Hamann,  das  persönliche  literarische  Verhältnis  in  der  Zeit 
vor  dem  Streit  zur  Beurteilung  heranzuziehen. 


NICOLAI  UND  HAMANN 

»Eine  zusammenfassende  und  eingehende  Darstellung  von  Hamanns 
Verhältnis  zu  Nicolai  .  .  .  würde  nur  in  monographischer  Form 
möglich  sein,«  urteilt  Rudolph  Unger^.  Doch  scheint  Nicolais  Ver* 
hältnis  zu  Hamann  mit  leichterer  Mühe  aus  dem  Knäuel  von  Schrif* 
ten  und  Gegenschriften,  von  liebenswürdig*launiger  Polemik  und 
tiefwurzelnder  Abneigung,  von  Freundschaftsbezeugungen  und 
gleichzeitigen  boshaften  Sticheleien  herausgehoben  werden  zu  kön* 
nen.  Die  von  Unger  betonte  Schwierigkeit  mindert  sich  für  unsere 
Zwecke  auch  insofern,  als  wohl  Hamann,  nicht  aber  Nicolai  eine 
Zeit  lang  Verstecken  spielte.  — 

Das  frühe  Verhältnis  Nicolais  zu  Hamann  kann  nicht  anders  als 
im  Zusammenhang  desjenigen  von  Mendelssohn  zu  Hamann  be* 
trachtet  werden.  Wie  Abbts  Briefe  an  Moses  oder  Nicolai  immer 
an  beide  gerichtet  sind,  so  auch  Hamanns  Briefe"-;  Moses  ist  für 
Hamann  oft  der  Mittler  zu  Nicolai,  Nicolai  spricht  durch  den 
Mund  Mendelssohns  zu  Hamann. 

Moses  Mendelssohn,  den  Hamann  seit  seiner  Ende  Oktober  1756 
erfolgten  persönlichen  Bekanntschaft  gleich  »mit  entscheidendem 

'  R.  Unger,  »Hamann  und  die  Aufklärung«  S.  452. 

'-'  So  liegt  z.  B.  im  Nachlaß  Nicolais  Hamanns  Brief  lu  Moses  vom  6.  XI.  64. 

109 


Geschmack«  geliebt  hatte  \  hat  wohl  Nicolai  zunächst  auf  Hamanns 
von  ihm  sofort  erkannte  Begabung  aufmerksam  gemacht.  Hamann 
hat  Nicolais  Bekanntschaft  bei  dem  regen  Interesse,  das  er  Lessing, 
Moses  und  den  1759  begonnenen  Literaturbriefen  entgegenbrachte, 
sicher  gesucht;  wenn  wir  seiner  später  gegebenen  Versicherung^ 
glauben  dürfen,  hat  er  an  Nicolai  schon  lange,  bevor  er  zu  ihm 
persönliche  Beziehungen  angeknüpft  hatte,  unter  dem  »vertrauten 
Titel«  »Geliebtester  Freund«  gedacht.  Die  literarischen  Beziehung 
gen  Hamanns  zu  Nicolai  beginnen,  worauf  Rudolph  Unger  zuerst 
hingewiesen  hat^  mit  einer  Parodie  der  »Zueignung  an  Madame 
Publicum«  von  Nicolais  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  in 
Hamanns  Einleitung  zu  seinen  »Sokratischen  Denkwürdigkeiten«. 

—  Mit  der  Mendelssohnschen  Rezension  der  »Sokrat.  Denkwürdig* 
keiten«  im  113.  Literaturbrief  beginnt  das  Hin  und  Her  von  Kri* 
tiken  und  Metakritiken.  Mendelssohns  lobende  Hervorhebung 
seines  »ungemeinen  Witzes«,  seine  Vergleichung  der  Hamannschen 
mit  der  Winckelmannschen  Schreibart,  sein  so  ausführliches  Ein* 
gehen  auf  ein  an  Umfang  so  geringes  Schriftchen  hinderte  Hamann 

'  Hamanns  Schriften,  ed.  F.  Roth  III,  127. 

-  21.  XI.  69  an  Nicolai  =  O.  Hoffmann,  Vierteljahrschrift  für  Literatur* 
geschichte  1,  123. 

'  Die  Einleitung  »An  das  Publikum  oder  Niemand  den  Kundbaren«  scheint 
späterhin  wiederum  von  Moses*Nicolai  parodiert  zu  sein.  Zu  seinem  Brief  an 
Lessing  vom  26.  IV.  73  (=  Lachmann*Muncker  20,  251)  mit  dem  Anfange:  »Ob 
Sie  gleich  ein  tauber  und  stummer  Götze  sind,  der  nicht  antwortet,«  bemerkte 
Nicolai  in  seiner  Ausgabe  von  Lessings  Schriften  1794,  Bd.  27,  S.  348,  Moses 
habe  die  zweibändige  Ausgabe  seiner  philosophischen  Schriften  mit  einer  Zu* 
eignungsschrift  an  Lessing  versehen,  die  nur  diesem  einen  Exemplar  beigefügt 
wurde  (abgedruckt  ist  sie:  Karl  Lessings  »Leben«  seines  Bruders,  I,  233).  In 
dieser  Zueignungsschrift  sagte  Moses  u.  a.  »die  Schriftsteller,  die  das  Publikum 
anbeten,  beklagen  sich,  es  sei  eine  taube  Gottheit«.  »Ich  lege  meine  Blätter  zu 
Füßen  eines  Götzen,  der  den  Eigensinn  hat,  harthörig  zu  sein.  Ich  habe  gerufen 
und  er  antwortet  nicht«  usw.  »darauf«,  bemerkt  Nicolai  a.  a.  O.,  »zielt  Obiges«. 
Nicolai  weist  dort  Lichtwers  Fabel  »Die  seltsamen  Menschen«  als  Vorbild  dieser 
Mosesschen  Zueignungsschrift  nach,  doch  scheint  ihn  sein  Gedächtnis  getäuscht 
zu  haben;  vielmehr  geht  diese  Zueignungsschrift,  und  also  auch  Nicolais  Brief* 
anfang,  auf  Hamanns  Vorrede  »An  das  Publikum«  zurück:  ein  Beispiel,  wie 
stark  diese  Hamannsche  Schrift  in  Moses  und  Nicolai  haftete,  und  wie  seine 
beziehungsreiche  Sprache  von  beiden  fast  im  Sinne  heutiger  »Geflügelter  Worte« 
gebraucht  wurde. 

110 


nicht,  so  sehr  er  auch  die  ihm  angetane  Ehre  würdigte,  zu  erkennen, 
daß  Mendelssohns  Lob  seicht  sein  müsset  da  der  Rezensent  dem 
wesentlichsten  Kern  der  Denkwürdigkeiten  nicht  nahegekommen 
sei.  In  der  Tat  müssen  wir  zugestehen,  daß  Mendelssohns  Kritik, 
wenn  auch  nicht  seicht,  so  doch  unzureichend  war.  Wohl  erkennt 
Moses,  überall  behutsam  nachfühlend,  das  »Feine,  Edle«  des  Spottes 
gegen  die  überzeitlichen  Sophisten,  erkennt  er,  daß  Hamann  über 
Sokrates  »auf  eine  sokratische  Weise«  habe  schreiben  wollen;  wohl 
bemüht  er  sich  da,  wo  »der  gemeine  Leser  nichts  als  Schimmel 
sehen  möchte«,  »ein  mikroskopisch  Wäldchen  zu  entdecken«,  ja 
er  kommt  hier  dem  Autor  zu  Hilfe  und  sagt,  daß  selbst  ein  so  ge* 
meiner  Leser  wie  er  das  mikroskopische  Wäldchen  habe  entdecken 
können.  Was  seine  Kritik  indessen  unzulänglich  macht,  ist  die  Ver* 
kennung  des  subjektiven  Anteils  des  Autors  an  der  Schrift.  Moses 
übersieht,  daß  es  sich  für  Hamann  einzig  um  die  Herausstellung 
persönlichsten  Geistes  am  objektiven  Beispiel  handelt;  und  so 
wünscht  Mendelssohn  am  Schluß  seiner  Kritik  von  dem  typischj» 
sten  Fragmentisten  der  deutschen  Literatur,  daß  er  »sein  Miniatur* 
gemälde  ins  Große  bringen  wolle,  damit  die  edlen  Züge  desto  deut# 
lieber  werden,  die  er  itzt  hat  kaum  anzeigen  können«.  Dieser  Schluß* 
satz,  für  sich  betrachtet,  erscheint  freilich  seicht;  im  Zusammenhang 
der  Mendelssohnschen  Kritik  ist  er  jedoch  der  objektive  Schluß* 
stein  einer  subjektiv  gehaltenen  Anpreisung;  macht  man  Mendels* 
söhn  die  Verkennung  der  letzten  Wurzel  der  Denkwürdigkeiten 
zum  Vorwurf,  so  muß  man  ebenso  betonen,  daß  Hamann  diesen 
Standpunkt  der  Mendelssohnschen  Kritik  letzthin  verkannt  hat. 
Nur  so  ist  es  auch  zu  erklären,  daß  er  die  Rezension  der  Literatur* 
briefe  als  »Antidot«^  zu  derjenigen  der  »Hamburgischen  Nach* 
richten«^  empfunden,  und  Lober  und  Tadler  in  dem  »aristophani* 
sehen  Drama«  »die  Wolken«  abgefertigt  hat*,  dessen  prinzipiell 
wesentlichster  Teil,  der  Nachweis,  daß  das  von  den  Rationalisten 

'  Vgl.  Hamann  an  Lindner  7.  II.  61  =  Roth  3,  50. 

*  Ebenda. 

■■"  Hamburg.  Nachrichten  aus  dem  Reiche  der  Gelehrsamkeit  1760,  Stück  57. 

*  Ob  Moses  diese  Metakritik  nicht  vorausgeahnt  hat?  Vgl.  den  Anfang  des 
113.  Literaturbriefes:  »Einen  Schriftsteller  tadeln  ist  eine  Beleidigung.  Sollte 
nicht  einen  anderen  loben,  weit  größere  Beleidigung  sein?  Ich  müßte  die  Schrift* 
Stellereitelkeit  wenig  kennen«  usw. 

Hl 


als  krankhaft  Angesehene  In  Wahrheit  der  »afflatus  divinus«  des 
Genies  sei,  freiHch  nicht  gegen  Moses,  sondern  gegen  den  Rezensent 
ten  der  Hamburgischen  Nachrichten  gerichtet  war,  und  das  deshalb 
hier  nicht  weiter  berührt  werden  soll.  Wie  viel  Moses  und  Nicolai 
von  dieser  selbst  für  Hamannsche  Schreibart  —  besonders  in  der 
dritten  »Handlung«  —  ungemein  verwickelten  Satire  verstanden 
haben,  bleibe  dahingestellt ;  Moses  hat  sie  jedenfalls  als  des  Verfassers 
der  Denkwürdigkeiten  nicht  würdig  erachtet \  was  Hamann,  wie 
R.  Unger  meint"^,  nicht  wenig  gekränkt  hat;  denn  es  handelt  sich  bei 
den  »Wolken«  wie  bei  allen  Hamannschen  Metakritiken  nicht  um 
die  Nörgelei  verletzter  Eitelkeit,  wie  Kayserling  annimmt^;  Hamann 
polemisiert  —  in  diesem  speziellen  Falle,  wie  wir  sahen,  ohne  Grund 
—  dagegen,  daß  es  »heutzutage  entbehrlich  ist,  eine  Abhandlung 
zu  verstehen,  die  man  auslegen  und  richten  soll«,  und  zeigt  viel* 
mehr,  daß  seine  schriftstellerische  Ehrlichkeit  solche  Polemik  not* 
wendig  mache.  Freilich  scheint  diese  Polemik  nicht  besonders  tief 
und  eingehend;  tiefer  und  prinzipieller  hat  Hamann  in  den  kleinen 
Schriftchen  »Schriftsteller  und  Kunstrichter«  und  »Leser  und  Kunst* 
richter«*  »die  Aspekten  des  deutschen  Horizontes  mit  den  Grund* 
sätzen  Ihrer  Kritik«,  wie  er  an  Mendelssohn  schreibt^,  verglichen, 
und  in  einer  dem  Leser  allerdings  außerordentliche  Schwierigkeiten 
darbietenden  Verknüpfung  von  platonisch  gefärbten  Staatsideen^ 

'■  »Von  den  Wolken  haben  wir  aus  Nachsicht  gegen  den  schätzbaren  Verfasser 
der  Denkwürdigkeiten  niemals  ein  Urteil  gefällt«,  schreibt  er  2.  III. 62  an  Hamann 
(Roth  3.  131). 
=  Unger  S.  357. 

'  M.  Kayserling,  »Moses  Mendelssohn,  sein  Leben  und  seine  Werke«  Leipzig 
1862,  S.  173.  Viel  bedeutsamer  ist  die  Interpretation,  die  Unger  diesen  bestän= 
digen  Auseinandersetzungen  Hamanns  mit  seinen  Kritikern  gibt:  »Ihm,  dem 
eigenwilligen,  genialisch  sonderartigen  und  insofern  höchst  unzeitgemäßen 
Schriftsteller  mußte  in  hohem  Grade  daran  gelegen  sein,  scharfsichtige  und  ver* 
ständnisvolle  Kritiker  zu  finden,  welche  als  Dolmetscher  seine  , wenigen  gewo* 
genen  Goldworte'  in  .Scheidemünzen'  für  das  Publikum  umzusetzen  fähig  und 
willig  wären.«  »Aber  wieviel  fehlte  daran,  daß  ihm  solche  Gunst  .  .  .  von  dem 
zünftigen  Kunstrichtertum  widerfahren  wäre.«  (S.  357.) 

*  Über  den  Zusammenhang  dieser  Schriften  mit  Hamanns  Polemik  gegen  die 
Literaturbriefe,  vgl.  R.  Unger  366  ff. 

'  An  Mendelssohn  11.  II.  62  =  Roth  3,  128. 

*  Vgl.  über  diese  Elemente  der  zitierten  Schrift  R.  Unger,  S.  360. 

112 


mit  denen  einer  ebenso  utopischen  Gelehrtenrepublik  Ideal  und 
Wirklichkeit  des  Kunstrichtertums  scharf  gegenübergestellt.  »Leser 
und  Autor«,  beginnt  die  erste  der  beiden  Schriften  \  »sind  der  Herr 
oder  vielmehr  der  Staat,  dem  ein  Kunstrichter  zu  dienen  sich  an* 
heischig  macht«.  Diese  Dienerrolle  darf  der  Kunstrichter  nicht  ver* 
leugnen;  nie  darf  er  sich  den  Schaffenden  gleichberechtigt,  noch 
weniger  gebietend  entgegenstellen^;  der  Kunstrichter  unterliege 
demselben  Gesetze,  wie  alle  Schreibenden:  »Daß  man  nicht  wie 
ein  Cato  oder  Varro  von  der  Viehzucht  schreiben  kann,  wenn  man 
nicht  selbst  e  grege  ein  Ehrenmitglied  und  ein  Kuhhirte  gewesen 
ist"^.«  Wenn  dennoch  zahlreiche  Kunstrichter  täglich  ihre  Urteile 
über  die  mannigfaltigsten  Gebiete  abgäben,  so  ist  solche  »Fertig* 
keit«,  wie  Hamann  ironisch  sagt*,  eben  »ein  unerkanntes  Wunder* 
werk  unseres  Jahrhunderts«.  Wer  der  »unüberwindlichen  Ver* 
suchung«  nicht  widerstehen  könne,  »die  Einsicht  eines  jeden  Schrift* 
stellers  und  die  Einsicht  eines  jeden  Lesers  durch  die  Überlegenheit 
seiner  eigenen  zu  übertreffen  und  auszustechen,  den  macht  die 
Stärke  seines  Ruhmes  gänzlich  zum  Kunstrichter  untüchtig«  — 
diese  Sätze  bildeten  die  praktische  Ergänzung  seiner  einleitenden 
Forderung:  »Zu  der  Würde  eines  Kunstrichters  gehören  entweder 
zwo  Schultern,  die  Ajax  in  der  Iliade  zum  Wächter  darstellen, 
oder  ein  Mantel,  den  man  auf  beiden  Achseln  zu  wechseln  weiß. 
Die  heroischen  Zeiten  sind  an  Riesen,  und  die  philosophischen  an 
Betrügern  fruchtbar^.«  Für  Betrüger  hielt  nun  Hamann  Moses  und 
Nicolai  nicht,  noch  viel  weniger  aber  für  Riesen.  Moses*Nicolai 
verstanden  jedoch  diese  Distinctionen  nicht,  oder  vermochten 
wenigstens  nicht  ihre  Beziehung  auf  die  Objekte  zu  deuten.  So 
schreibt  Moses  im  254.  Literaturbrief  gelegentlich  der  Besprechung 
der  »Kreuzzüge«,  auf  die  wir  weiter  unten  zu  sprechen  kommen 
werden,  von  diesen  beiden  Schriften^:  »Wir  lasen  diese  Blätter,  ver* 

•  Roth  2,  381. 

-  R.  Ungers  Interpretation  von  »Leser  und  Kunstrichter«,  vgl.  S.  361. 
-■'  Roth  2,  385. 

*  Roth  2.  384. 
'  Roth  2,381. 

'  Hamann  gibt  in  seiner  —  unten  weiterhin  erwähnten  —  Metakritik  dieses 
254.  Literaturbriefes  (Roth  2,  498)  in  seiner  Anmerkung  »H«  zu  dieser  von 
ihm    zitierten   Mendelssohnschen  Äußerung    an,   daß    diese    beiden   Schriften 

8  Sommerfeld,  Friedticli  Nicolai  113 


standen  wenig  davon,  schüttelten  die  Köpfe,  und  schwiegen.  Hier 
und  da  erbHckte  man  einen  trefflichen  Gedanken,  der  aber  wie  der 
Blitz,  nach  Shakespeares  Beschreibung,  noch  ehe  ein  Freund  zum 
anderen  sagen  kann,  siehe!  schon  verschwunden  war.« 

Das  Schweigen  der  Literaturbriefsteller  unterbrach  Hamann  schon 
kurze  Zeit  nach  dem  Erscheinen  der  Mosesschen  Kritik  seiner  Denk* 
Würdigkeiten.  Wieder  war  es  eine  Rezension  von  Mendelssohn,  die 
Hamann  zu  einer  Entgegnungsschrift  veranlaßte,  einer  Polemik,  die 
hier,  obwohl  sie  schon  bei  Unger^  eine  eingehende  und  tiefgründige 
Darstellung  erfahren  hat,  doch  um  so  weniger  übergangen  werden 
darf,  als  sie  an  einer  anderen  Stelle  dieser  Untersuchung  zum 
Verständnis  der  polemischen  Auseinandersetzung  Nicolais  mit 
Goethes  Werther  herangezogen  werden  soll;  zudem  wurde  die  Be> 
deutung  dieser  Polemik  für  das  weitere  Verhältnis  der  Berliner  zu 
Hamann  bei  Unger,  seinem  Plane  entsprechend,  naturgemäß  nicht 
berührt,  und  dann  weicht  hier  im  einzelnen  meine  Auffassung  von 
derjenigen  Ungers  ab.  —  Im  Juni  1761  hatte  Moses  Mendelssohn  (im 
166/70.Literaturbrief )  eine  Besprechung  der  »Nou  velleHeloise«  Jean 
JacquesRousseausveröffentlicht.DerVerehrerdesPhilosophenRous« 
seau  war  von  dem  Dichter  wider  Erwarten  enttäuscht  worden.  An 
der  Erfindung  des  Romans  tadelte  er  den  »geringen  Vorrat  von  Be* 
gebenheiten«,  der  willkürlich  »weit  ausgedehnt«  sei,  und  dessen 
»Lücken  mit  langen  moralischen  Predigten  und  verliebten  Spitz* 
findigkeiten«  ausgefüllt  seien;  die  Charaktere  findet  er,  mit  Aus* 
nähme  Wolmars,  schwach  und  unnatürlich.  Schroff  lehnt  er  Rous* 
seaus  »Affektensprache«  ab,  die  er  »spitzfindig,  affektiert  und  voller 
Schwulst«  nennt.  Rousseau  scheine  über  die  Natur  der  Leiden* 
Schäften  »wohl  raisonniert,  sie  selbst  aber  niemals  gefühlt  zu  haben«. 
Daher  fiele  es  ihm  schwer,  die  echte  Sprache  der  Leidenschaften  zu 
reden;  was  der  Dichter  aber  nicht  kenne,  könne  er  auch  nicht  ge* 
stalten,  wenn  er  auch  »durch  Ausrufungen  und  Hyperbolen«  sich 
in  einen  Zustand  ihm  unbekannter  Empfindungen  zu  zwingen  ver* 
suche.  Und  so  wenig  der  Dichter  durch  die  reine  Imagination  den 
Mangel  objektiver  Gegenständlichkeit   des  Darzustellenden  ver* 

außer  den  »Wolken«  (und  den  »Essais  ä  la  Mosaique«)  von  Moses  hier  ge= 

meint  seien. 

1  R.  Unger,  S.  340ff. 

114 


decken  kann,  so  wenig  gilt  die  Begründung  oder  Entschuldigung  des 
Dargestellten  mit  dem  Hinweis  auf  das  Vorbild  in  der  Natur,  Dieses 
Ausweichen  vor  dem  Naturalismus  haben  wir  oben  als  wchlbegrün* 
dete  Äußerung  der  Nicolai*Mendelssohnschen  Kunstanschauung 
kennen  gelernt.  »In  der  Natur  kann  vieles  sein,  was  in  der  Nach* 
ahmung  unnatürlich  ist.  Ehe  die  Natur  denVirtuosen  zur  Richtschnur 
dienen  kann,  muß  sie  sich  erst  selbst  den  Regeln  der  ästhetischen 
Wahrscheinlichkeit  unterwerfen«,  heißt  es  hier  in  einem  Irrationalis, 
denn  die  Natur  wird  sich  eben  nie  diesen  Regeln  unterwerfen.  Diese 
Anschauung,  die  die  dichterische  Freiheit  zwar  nicht  um  ihrer  selbst 
willen  statuiert,  wohl  aber  als  konstituierendes  Element  des  Kunst* 
Werkes  setzt,  wird  in  den  folgenden  Sätzen,  die  keineswegs  über* 
gangen  werden  dürfen,  verstärkt.  Leidenschaften,  sagt  Moses  darin 
etwa,  sind  nicht  a  priori  genau  bestimmbar  und  bewertbar,  sondern 
sie  »nehmen  die  Natur  des  Bodens  an,  aus  welchem  sie  hervor* 
wachsen«,  und  »verändern  nach  der  verschiedenen  Beschaffenheit 
der  Charaktere  ihre  Farben«;  dieselbe  »Gemütsbewegung«,  könne 
diesen  geschwätzig,  jenen  niedergeschlagen  machen,  diesen  sanft, 
jenen  ungestüm  sich  äußern  lassen.  St.  Preux  sei  nun  ein  Mensch, 
der  alle  seine  Empfindungen  äußerst  stark  akzentuiere;  dement* 
sprechend  werden  auch  seine  Affektäußerungen  in  der  Sprache 
äußerst  stark  betont  sein:  »er  wird  also  von  seiner  Leidenschaft  mit 
einer  Begeisterung  reden,  die  der  Schwärmerey  nahe  kömmt«.  »AI* 
lein  seine  Begeisterung  ist  ansteckend,  sie  reißt  die  Einbildungs* 
kraft  des  geringsten  Lesers  mit  sich  fort,  und  erhebt  sie  auf  den  Ge* 
Sichtspunkt,  von  welchem  er  selbst  den  Gegenstand  seiner  Leiden* 
Schaft  zu  betrachten  gewohnt  ist.  —  Es  kömmt  also  bloß  darauf 
an:  Ist  die  verliebte  Sprache  des  Sankt  Preux  von  dieser 
Beschaffenheit ';  so  habe  ich  mit  Unrecht  getadelt.«  Sodann 
untersucht  er,  oder  vielmehr  führt  Beispiele  an,  um  zu  erläutern, 
daß  St.  Preux'  Affektensprache  den  Leser  eben  nicht  zu  jenem  Ge* 
sJchtspunkt  führt,  daß  diese  Affektensprache  also  nicht  Ausdruck 
eines  wahrhaft  so  empfindenden  St.  Preux,  nicht  echten  dichte= 
Tischen  Feuers  sein  kann.  Das  Urteil  Mendelssohns  ist  hier  rein 
ästhetische  Begründung  eines  Geschmacksurteils,  nicht  normierende 

^  Sc.  daß  sie  den  Leser  zu  dem  Punkt  fortreißt,  von  dem  St.  Preux  seine  Leiden? 
Schaft  betrachtet. 

8*  '  115 


Einschränkung  der  dichterischen  Freiheit;  und  wenn  er  etwa  zu 
dieser  Begründung  den  »abenteuerHchen«  Aufenthalt  des  St.  Preux 
im  winterlichen  Gebirge,  die  »frostige  Unnatur«  seiner  Briefe  her* 
anzieht,  wenn  er  (im  170.  Literaturbrief)  tadelt,  daß  Julie  sich  nicht 
als  eine  Sterbende  zeige:  so  ist  sein  Tadel  nicht  gegen  den  dichte* 
rischen  Vorwurf  als  solchen  gerichtet,  sondern  gegen  die  Inkon* 
gruenz  von  Rousseaus  Gestaltungswillen  und  dem  im  Roman  Ge* 
stalteten.  Es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  seine  Kritik,  wenn 
man  sie  einer  von  Hamann  nicht  beeinflußten  Beurteilung  unter* 
zieht,  nirgends  auf  rationalistischen  Dünkel,  nirgends  auf  den  un* 
bekümmert  normierenden,  selbstherrlich  bestimmenden,  die  Frei* 
heit  des  Dichters  vergewaltigenden  Ton  gestimmt  ist;  wohl  ist  seine 
Kritik  in  dem  Sinne  »befangen«,  daß  sie  die  notwendige  Äußerung 
seiner  realistischen  Kunstanschauung  ist:  aber  ist  Hamanns  Entgeg* 
nung  nicht  ebenso,  ja  stärker  in  der  seinigen  »befangen«?  Ja,  ver* 
teidigt  Moses  die  Rechte  des  Dichters  nicht  eher,  als  daß  er  sie  ein* 
zuschränken  sucht?  Rousseau  ist  ihm  zu  sehr  Philosoph,  zu  wenig 
Dichter:  liegt  in  dieser  seiner  Feststellung  —  ob  sie  nun  zutreffend 
ist  oder  nicht,  —  nicht  die  höchste  Forderung  an  die  Gestaltungs* 
kraft  des  Dichters,  und  also  eine  hohe  Wertung  der  schöpferi* 
sehen  Kräfte  im  Dichter? 

Sicher  lassen  sich  gegen  diese  Mendelssohnsche  Kritik  einige 
wesentliche  Einwände  erheben,  wenn  auch  gerade  nicht  der  Ein* 
wand  eines  tadelsüchtigen,  weil  auf  die  fruchtbare  Grundstimmung 
des  Romans  nicht  eingehenden,  nörgelnden  Kritisierens;  sicherlich 
sind  auch  die  Einwände,  die  Hamann  in  seiner  Entgegnungsschrift 
»Abälardi  Virbii  Beylage  zum  zehnten  Teile  der  Briefe  die  neueste 
Literatur  betreffend«^  erhebt,  subjektiv  richtig,  und  wie  Unger 
dargetan  hat,  im  Rahmen  seiner  ästhetischen  Anschauungen  von 
hervorragender  Bedeutung.  Es  muß  jedoch  betont  werden,  daß 
Hamann  hier  so  wenig  wie  bei  der  Mosesschen  Rezension  der 
Denkwürdigkeiten  Mendelssohn  Standpunkt  völlig  verstanden  und 

'  So  der  ursprüngliche  Titel  mit  dem  Zusatz:  »Gedruckt  am  24.  des  Herbst» 
monats  1761«  und  mit  dem  Motto  »Citoyen,  tätons  votre  pouls«:  R.  Unger, 
II,  S.  703,  Anm.66.  In  den  »Kreuzzügen«  (Roth,  11,  S.  185)  als  »Abälardi  Virbii 
Chimärische  Einfälle«  usw.  Ich  zitiere  die  Stellen  hier  nach  den  Literat ur» 
b riefen  (Originalausg.). 

116 


esoterisch  kritisiert  hat^  Gewiß  ist  Hamanns  Metrakritik  eine  wich* 
tige  Kundgebung  seines  ästhetischen  und  psychologisch^ethischen 
Irrationahsmus ;  indessen  im  Zusammenhang  mit  der  Mendelssohn«^ 
sehen  Kritik  betrachtet,  eine  rein  äußerhche  Entgegenstellung  seiner 
abweichenden  Anschauungen;  das  theoretische  Raisonnement,  das 
er  hier  verwandte,  vertieft  weder,  noch  widerlegt  es  die  Mendels« 
sohnschen  Anschauungen,  sondern  setzt  ihnen  ganz  heterogene  enU 
gegen.  Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Berechtigung 
Hamanns  zu  den  seinigen  zu  erweisen  oder  zu  widerlegen ;  es  kommt 
hier  einzig  darauf  an,  aufzuzeigen,  daß  beide  Anschauungen  eben 
heterogen  sind,  und  daß  Hamann  an  Mendelssohn  vorbeiredete, 
wobei  die  »Schuld«  eher  an  Hamann  als  an  Mendelssohn  lag;  denn 
wie  Hamanns  Urteile,  nach  R.  Ungers  Wort^  »wesentlich  durch  den 
Gegensatz  zu  den  Urteilen  des  Berliner  Kunstrichters  bestimmt« 
sind,  so  ist  der  Sinn  seines  Schriftchens  im  wesentlichen  die  Ne* 
gation  der  Mendelssohnschen  Standpunkte  —  eine  Negation  aller«: 
dings  auf  höchst  positiver  Grundlage.  So  stark  war  die  Tendenz  zu 
solcher  Negation,  daß  Hamann  Moses'  Standpunkte  —  sicher  un* 
absichtlich  —  verzerrte  und  mißdeutete.  So  wenn  Hamann  ihm  sei* 
nen  Subjektivismus  vorwarft,  der  sicherlich  weniger  stark  war  als 
der  Hamannsche,  und  dessen  Ergebnisse  bei  Moses,  wie  wir  gesehen 
haben,  durch  ästhetische  Begründung  befestigt  waren ;  wenn  er  gegen 
Moses  seine  von  Diderot  (!)*  überkommenen  Hinweis  auf  den 

^  R.  Unger,  S.  348,  betont,  daß  Hamann  sich  in  seiner  Antikritik  einer  bei  ihm 
sonst  ungewöhnhchen  Form  bedient  habe,  und  daß  er  den  Gegner  »mit  dessen 
eigenen  Waffen«,  »mit  theoretischem  Raisonnement«  angegriffen  habe.  Diese 
Feststellung  ist  natürlich  kein  Widerspruch  gegen  meine  Behauptung,  daß  er 
den  Sinn  dieses  theoretischen  Raisonnements  falsch  erfaßt  hat.  Übrigens  ist  es 
wohl  nicht  nötig  zu  betonen,  daß  mit  dieser  Behauptung  Hamann  nicht  der 
Vorwurf  einer  Verfälschung  der  M.schen  Kritik  gemacht  werden  soll,  und  daß 
die  von  Hamann  in  seiner  Antikritik  vorgetragenen  ästhetischen  Anschauungen 
als  solche  dadurch  in  keiner  Weise  berührt  werden. 
=  R.  Unger,  S.  347. 

^  »Ihrer  eigenen  Sicherheit  wegen  vermeiden  Sie  also  lieber  jeden  gar  zu  all* 
gemeinen  Schluß  von  Ihren  Empfindungen  auf  den  Werth  eines  Buches  . . .« 
Literaturbrief  S.  196  97. 

^  Über  den  Einfluß  von  Diderots  dramaturgischen  Theorien  auf  den  Abälardus 
Virbius  vgl.  R.  Unger  S.  348  u.  350  (letzte  Zeile).  Diderots  ästhetische  Theorien 
hatte  schon  der  junge  Nicolai  als  »seichtes  Geschwätz«  abgelehnt. 

117 


Unterschied  zwischen  dem  Romanhaften  und  Dramatischen  gel* 
tend  machen  zu  müssen  glaubte,  wobei  dem  Romanhaften  das  Wun* 
derbare  und  Unwahrscheinliche  als  charakteristische  Eigentümlich* 
keit  zukäme,  was  gegenüber  der  Mendelssohnschen  Auffassung 
sogar  eine  Einschränkung  bedeutet,  da  Mendelssohn,  wie  wir  ge# 
sehen  haben,  dem  Dichter  das  Recht  zur  Darstellung  des  Wunder* 
baren  und  Real*Unwahrscheinlichen  nicht  bestritten,  sondern  nur 
Rousseaus  dichterische  Unzulänglichkeit  im  vorliegenden  Fall  be* 
mangelt  hatte.  Wenn  Hamann  also  weiterhin  Mendelssohn  den 
Begriff  der  ästhetischen  Wahrscheinlichkeit  überhaupt  vorwirft  und 
denselben  als  einen  Ausfluß  des  »aufgeklärtesten  Jahrhunderts« 
darstellt,  dem  »ein  demütiger  Beobachter  der  Natur  und  Gesell* 
Schaft  mit  tiefsinniger  Bündigkeit  und  Unerschrockenheit«  seinen 
Wahlspruch:  »Incredibile,  sed  veruml«^  entgegenstellen  muß,  so 
ist  diese  Verkündigung  seines  Irrationalismus  jedenfalls  nur  psy* 
chologisch  durch  die  Mendelssohnsche  Kritik  hervorgerufen,  als 
Entgegnung  trifft  sie  diese  jedoch  keineswegs.  Hamanns  Polemik 
gegen  einzelne  ästhetische  StandpunkteMendelssohns  verfehlt  eben* 
so  ihr  Ziel:  so  wenn  Hamann  einen  Widerspruch  konstruieren 
möchte  zwischen  Moses'  allgemeiner  Schätzung  der  Spekulation 
und  dessen  Tadel,  daß  Rousseaus  Kenntnis  des  menschlichen  Her* 
zens  nur  »spekulativisch«  sei"  — :  Moses  hatte  ja  ausdrücklich  und 
psychologisch  aus  guten  Gründen  den  Dichter  und  den  Philo* 
sophen  für  die  Beurteilung  getrennt.  Und  ebenso  wenig  trifft  Men* 
delssohn  der  Hamannsche  Einwand:  »Und  warum  sollte  man  sich 
schämen  durch  Ausrufungen  und  Hyperbolen  ein  Glück  zu  erhal* 
ten,  das  sich  durch  Erklärungen  und  Schlüsse  weder  ergrübein,  noch 
genießen  läßt?«^  Mendelssohn  hatte  ja  gerade  bedauert,  daß  ihm 
die  Rousseauschen  »Ausrufungen  und  Hyperbolen«  jenes  Glück 
nicht  verschafften!  So  konnten  Moses*Nicolai  mit  gutem  Gewissen 

'  Alles:  Literaturbrief,  S.  199. 

-  So  möchte  ich,  abweichend  von  R.  Unger,  diesen  Hamannschen  Einwurf  fas^ 
sen.  Unger  meint  (S.  351),  Hamann  habe  den  »Widerspruch,  daß  Moses  den  Ver< 
fasser  zu  sehr,  seinen  Helden  aber  zu  wenig  spekulativisch  findet«,  treffen  wol* 
len;  vgl.  aber  S.  201  bei  Hamann:  »Man  sollte  also  fast  meinen,  daß  Ihrem 
eigenen  Urteil  zum  Trotz,  der  spekulativische  Charakter  eines  Weltweisen  Sie 
gegen  den  Roman  der  neuen  ^Heloise  gefälliger  gemacht  haben  würde.« 
^  Literaturbriefs.  203. 

US 


den  »Abälardus  Virbius«  den  Lesern  der  Mendelssohnschen  Kritik 
vorstellen;  so  konnte  dem  Kritiker  eine  Beantwortung  der  Hamann* 
sehen  Antikri<"ik  sehr  leicht  fallen:  er  brauchte  nur  nachzuweisen, 
daß  Hamanns  Einwürfe  seine  Kritik  nicht  trafen,  denn  auf  die  völlig 
gegenpolige  Welt*  und  Kunstanschauung,  wie  sie  im  Abälardus 
Virbius  zutage  trat,  ging  er  nicht  ein,  wahrscheinlich,  weil  er  sie, 
wie  auch  Unger  meint  ^  nicht  als  solche  erfaßt  hat.  Zunächst  para* 
lysiert  er  Hamanns  ironischen  Hinweis  auf  seine  Verehrung  des 
Philosophen  Rousseau  mit  dem  Bemerken,  daß,  wie  der  alte  Abä* 
lard,  so  auch  Rousseau  »Gallorum  Sokrates«  sei,  eben  ein  franzö* 
sischer  Philosoph^.  Sodann  geht  er  auf  die  einzelnen  ästhetischen 
Einwürfe  Hamanns  ein.  Hamanns  Erage:  »Sollte  es  nicht  wenigstens 
einen  charakteristischen  Unterschied  zwischen  dem  Romanhaften 
und  Dramatischen  geben«  pariert  er  mit  einem  leichten:  »Warum 
nicht  ?«^  Es  kann  ihm  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  ein  Unterschied 
besteht,  so  wenig  Wert  er  auch  darauf  zu  legen  braucht:  denn  er 
hat  ja  das  Recht  des  Dichters,  Unwahrscheinliches  und  Wunder* 
bares  zu  gestalten,  in  seiner  Kritik  nicht  angetastet.  Wenn  aber  Ha* 
mann  meint,  Rousseau  habe  vielleicht  »die  wahre  Natur  des  Ro* 
manhaften  tiefer  eingesehen«  als  sein  Beurteiler,  so  entgegnet  Men* 
delssohn,  daß  die  »wahre  Natur  des  Romanhaften  ein  Galimathias« 
sei  und  setzt  hinzu :  »Besser,  die  romanhafte  Natur  des  Wahren . . .« ; 
der  geglaubten  ästhetischen  Gefühlsdogmatik  setzt  er  seinen  skep* 
tischen  Wahrheitsbegriff  entgegen,  jedenfalls  bestreitet  er  die  dog* 
matische  Festlegung  einer  gattungsmäßigen  Theorie  und  will  vom 
Dichter  einzig  die  beispielsweise  romanhafte,  jedenfalls  dichterische 
Erfassung  der  Wirklichkeit.  Ist  Rousseau  »Esprit  createur«  genug, 
»diese  romanhafte  Natur  aus  dem  Nichts  hervorzurufen«,  und  wenn 
(an  Hamann  gewandt)  »Sie  sich  getrauen,  das  erschaffene  Chaos 
auf  Ihre  Schultern  zu  nehmen,  so  will  ich  anbeten  und  schweigen*«. 
Noch  deutlicher  kennzeichnen  seine  Stellungnahme,  die  nur  Rous* 
'  Unger,  S.  359. 

-  Auf  Mendelssohns  Antipathie  gegen  das  französische  Geistesleben,  insbeson= 
dere  die  Philosophie  hat  Ludwig  Goldstein  hingewiesen.  Vgl.  auch,  um  nur  ein 
Beispiel  aus  dieser  Zeit  hervorzuheben,  s.  Brief  an  Abbt  vom  22.  II.  62  =  Abbts 
Werke  3,  insbes.  S.  50/51. 
•'  Literaturbrief  S.  213. 
^  Literaturbriefe  S.  214. 

119 


seaus  unzulänglicher  dichterischer  Gestaltungskraft  gegolten  hatte, 
die  folgenden  Sätze:  »Wenn  der  ästhetische  Zauberer  mir  seine 
Wunder  zeigen  will,  so  muß  sein  erstes  Wunder  sein,  meinen  Glau* 
ben  zu  fangen,  und  ihm  die  Augen  auszustechen  um  nach  Belieben 
seinen  Spott  mit  ihm  treiben  zu  können.  Als  Kunstrichter  habe  ich 
ein  Recht  den  starken  Geist  zu  spielen.  Er  muß  entweder  meine 
Empfindungen  bezaubern,  oder  ich  bin  ungläubig ^«  Daß  er  die 
UnWahrscheinlichkeit  nicht  an  sich  bemängelt,  sondern  nur  die 
mangelnde  Gestaltungskraft,  die  das  Unwahrscheinliche  dichterisch 
fruchtbar  macht,  zeigt  am  klarsten  sein  Satz:  »Wer  unglaubliche 
Dinge  vorbringt  (sagt  der  irrgläubige  Prophet  Mahomet),  muß 
Wunder  tun,  um  sie  zu  bestätigen^.«  Ein  solches  Wunder,  eine 
Überwältigung  seiner  Ungläubigkeit,  verlangt  er  vom  Dichter:  ist 
das  der  rationalistische  Dünkel?  Und  konnte  Moses,  wenn  er  die 
völlig  gegenpolige  Weltanschauung,  wie  sie  aus  dem  AbälardusVir* 
bius  sprach,  nicht  als  solche  erfaßte,  überhaupt  etwas  Klareres  und 
tiefer  Begründetes  sagen? 

Mit  Recht  hielt  daher  Nicolai,  der  die  Einleitung  zum  192.  Lite* 
raturbrief  besorgte,  in  dem  Abälardus  Virbius  und  Fulberti  Culmii 
Antwort  erschienen,  die  Replik  Hamanns  durch  Mendelssohns 
Duplik  hinsichtlich  der  ästhetischen  Kritik  der  Neuen  Heloise,  wie 
überhaupt  der  Literaturbriefe  für  widerlegt;  daß  er  jedoch  Replik 
und  Duplik  für  ein  sich  ergänzendes  Ganze  hielt,  ist  nur  zu  ver* 
stehen,  wenn  man  bedenkt,  daß  Nicolai  ebensowenig  wie  Moses 
die  unter  der  launigen  Form  des  Abälardus  Virbius  sich  verbergende 
entgegengesetzte  Weltanschauung  erfaßt  hat.  Dann  allerdings  mußte 
ihnen  Hamann  als  ein  geistreicher  Schriftsteller  erscheinen,  der  aus 
Widerspruchsgeist  die  Literaturbriefe  zu  bemängeln  suchte,  ohne 
ihre  Auffassungen  widerlegen  zu  können  oder  zu  wollen.  Dieser 
Eindruck,  daß  Hamann  in  seiner  Replik  nur  eine  Ergänzung  der 
Mendelssohnschen  Kritik  habe  geben  wollen,  mußte  in  Nicolai  und 
Moses  noch  erheblich  durch  Hamanns  Briefe  bestärkt  werden,  in 

'  Ebd.  Vgl.  Lessings  entsprechende  Stellungnahme  im  elften  Stück  der  Hamburg. 

Dramaturgie. 

*  Literaturbriefe  S.  214. 

»  Hamann  an  Mendelssohn  11.  II.  62  =  Roth  3,  123  ff.  (auch  Th.  Abbts  Verm. 

Werke  [1771]  3,  74). 

120 


dem  dieser  für  die  übersandten  »zwei  ersten  Bogen  des  12.  Teiles« 
dankte  und  Moses  versicherte:  »Sie  haben  Recht,  mein  lieber  Moses, 
daß  Sie  mich  für  Ihren  Freund  ansehen  und  der  Ahndung  des  Her* 
zens  mehr  als  dem  Blendwerk  des  Witzes  trauen,  aber  die  Mensch* 
lichkeit  meiner  Seele  macht  mir  meine  Grillen  so  lieb,  daß  ich  oft 
der  Versuchung  unterliege,  diesen  Grillen  meine  nächsten  Bluts* 
und  Mutsfreunde  im  Apoll  aufzuopfernd«  Auf  Moses'  Aufforde* 
rung  zu  einer  Palinodie^  erwidert  er^,  daß  er  das  Stillschweigen  für 
ratsam  halte,  wenn  »das  Lächeln  des  Public!  über  die  wechseis* 
weisen  Torheiten  des  Fulbert  und  Abälard  nicht  in  einen  Scandal 
ausarten«  soll*.  Auf  das  »Kleeblatt  hellenistischer  Briefe«  und  die 
»Rhapsodie  in  kabbalistischer  Prosa«  hindeutend^,  gibt  er  sich  den 
Anschein,  als  ob  er  ganz  wider  Willen  »abermal  Schimmel«  ge* 
liefert  habe,  was  natürlich  ironisch  gemeint  war,  jedoch  von  Men* 
dellssohn  vielleicht  ernsthaft  aufgefaßt  wurde;  zum  mindesten  hat 
Mendelssohn,  wenn  er  auch  Hamanns  Versicherung,  er  meide  das 
Licht  aus  Feigheit  und  Furcht  vor  sich  selbst,  den  Lesern  und  den 
Kunstrichtern,  nicht  wörtlich  ausgelegt  haben  wird,  doch  mehr  die 
absichtliche  Eigenwilligkeit,  als  die  notwendige  Äußerung  eines 
vollkommenen  in  sich  zentrierten  Organismus  herausgehört.  Die 
Lehre,  die  er,  wie  Nicolai  hervorhebt®,  Hamann  durch  die  absieht* 
liehe  —  wenn  auch  nicht  vollendet  geglückte  —  Nachahmung  seiner 
Schreibart  hatte  erteilen  wollen,  und  die  direkten  Ermahnungen 
Fulberti  Culmii  an  Hamann,  sein  »Gebet«  nicht  »in  kurzen  ge* 
heimnisvollen  Seufzern«  auszustoßen,  sondern  seine  Brust  »lieber 
zu  einem  längeren  Othem«  zu  »gewöhnen« ',  würdigere  Gegenstände 
1  Roth  3.  124. 

-  In  Mendelssohns  verlorengegangenem  Briefe,  mit  dem  er  den  12.  Teil  d.  Litbr. 
übersendet  hat. 
'  Roth  3,  125. 

*  In  ähnlichem  Sinne,  Hamann  bestätigend:  Moses  an  Abbt  22.  11.62  =  Abbts 
Werke  3  S.49,50. 

'  Roth  3,  126.  Die  beiden  Schriften  kamen  Mendelssohn  wohl  erst  in  den  »Kreuz* 
Zügen  eines  Philologen«  zu  Gesicht. 

"  Litbr.  Nr.  192  (Einl.),  S.  192  3.  Vgl.  auch  Moses  in  seiner  Duplik  (Litbr.  S.  219): 
»Da  Sie  wie  aus  den  Wolken  (satirische  Anspielung  auf  Hamanns  »Wolken«) 
zu  mir  herab  geredet,  so  müßte  ich  mir  aus  meinem  Staube  eine  ähnliche  Wolke 
aufblasen,  um  Ihnen  zu  antworten.« 
'  Litbr.  Nr.  192,  S.  219 

121 


der  Natur  nachzuahmen,  als  den  »Schimmel«,  aus  seiner  »Maschine« 
hervorzutreten  und  sich  »in  menschlicher  Bildung«  zu  zeigen^  — 
alle  diese  Ermahnungen  sah  Moses  also  eigensinnig  in  den  Wind 
geschlagen.  Ja  noch  mehr:  Hamann  teilt  ihm  mit,  daß  er,  durch  ein 
anonymes  »Billet^doux«,  das  er  den  Literaturbriefstellern  zu? 
schreiben  zu  müssen  glaubte",  gereizt,  »in  einer  müßigen  Stunde 
die  Aspekten  des  deutschen  Horizontes  mit  den  Grundsätzen  Ihrer 
Kritik«  verglichen  habe,  erklärt  die  »Strenge  gegen  Andere«,  wie  sie 
die  Kritiker  der  Literaturbriefe  zum  Schaden  der  deutschen  Literatur 
anwendeten,  —  die,  ein  schwaches  Reis,  mehr  der  Gießkanne  bedürfe, 
als  der  Jäthacke  — ,  als  Ergebnis  ihrer  Nachsicht  gegen  sich  selbst 
und  will  ein  »blaues  Auge«  wagen,  »um  einen  homerischen  Schlum- 
mer nicht  einwurzeln  zu  lassen,  der  Ihnen  selbst . . .,  der  Ehre  des 
deutschen  Namens  und  der  Unsterblichkeit  der  neuesten  Literatur 
nachteilig  sein  könnte«^.  Auch  hier  hörte  Mendelssohn  nicht  wirk* 
liehen  Unwillen  gegen  seine  Stellung  als  Kritiker,  sondern  Eigen* 
willen  heraus*;  daß  er  diese  Invektive  überhaupt  bemerkt  hat,  kann 
nach  den  ersten  Sätzen  seines  Antwortbriefes  an  Hamann^  nicht 
zweifelhaft  sein.  »Moi,  votre  ami?  Rayez  cela  de  vos  papiers,«  ruft 
er  Hamann  mit  den  Worten  des  Moliereschen  Misanthropen  ent* 
gegen.  Aber  »die  angeborene  Gramschaft«  hält  er  wohl  für  eine 
Koketterie,  für  eine  geistreiche  Betonung  der  schriftstellerischen 
Eigenart  Hamanns;  nun  habe  er  sie  kennen  gelernt,  habe  er 
Hamann  »das  Feldgeschrei  abgelockt«,  jetzt  müsse  Hamann  sich 
gefangen  geben  und  Dienste  nehmen,  Hamann  antwortet  auf  diesen 

1  Litbr.  Nr.  192,  S.  219. 

-  Roth  3,  127.  Vgl.  Abbt  an  Moses  28.  IV.  62  =  Abbts  Verm.  Werke  (1771)  3,  92: 

»Ich  möchte  wohl  wissen,  wer  das  Billet  doux  an  ihn  geschrieben.  Er  scheint 

darüber  aufgebracht  zu  sein.«  Hamanns  Vermutung  war  falsch,  zeigt  aber  sein 

Mißtrauen  gegen  die  Berliner. 

^  Vgl.  für  die   Aufnahme,   die   Fulberti  Culmii    Antwort  bei    Hamann    fand, 

seinen  Brief  an  Lindner  v.  11.  II.  62   (also  dem  gleichen  Tage   seines  Briefes 

an  Mendelssohn!).  »Fulbert   hätte  seine  Sachen   besser  machen   können«;   er 

fängt  an  zu  zergliedern,  kommt  aber  nicht  weit,  und  »nachdem  man  meine 

Fragen  vorbeigegangen,  d.  i.  beantwortet  hat,  so  kommt  die  Reihe  an  Ful* 

bert.  .  zu  fragen«  usw.  (Roth  3,  S.  121.)  Im  ganzen  sei  er  »gut  genug  durchge; 

kommen«. 

*  Vgl.  Moses'  Brief  an  Abbt  v.  22.  II.  62  =  Abbts  Werke  3,  48  ff. 

^  Roth  3,  129  und  Abbts  Werke  3,  80.  (2.  III.  62.) 

122 


Werbebrief  Mendelssohns'  mit  dem  einzigen  Satz:  »Kein  Frei* 
geborener  nimmt  Dienste  in  einer  Rotte  von  Unbekannten,  die  das 
Tageslicht  scheuen  . . .«  Im  übrigen  wiederholt  er  seine  Vorwürfe 
gegen  das  kritische  Verfahren  der  Literaturbriefsteller  mit  größerem 
Trotz  und  weist  die  Angriffe  Fulberti  Culmii  gegen  seine  schrift* 
stellerischen  Eigenarten  heftig  zurück;  wer  ihn  beurteilen  wolle, 
müsse  ihn  ganz  hören:  er  habe  aber  »diese  Woche«  einen  »Strich 
unter  seine  Juvenilia  gezogen«  und  »sehne  sich  von  der  Bühne 
nach  seiner  Zelle«.  Mendelssohns  »Moi,  votre  ami?«  hat  er  eingangs 
mit  dem  prophetischen:  »Wenn  das  Weizenkorn  unserer  Freund* 
Schaft  nicht  in  die  Erde  fällt  und  erstirbt,  so  bleibt  es  allein;  wo  es 
aber  erstirbt,  so  bringt  es  viel  Früchte«  beantwortet,  und  damit  den 
von  Mendelssohn  halb  ironisch  gemeinten  Trennungsstrich  scharf 
nachgezogen.  Wie  ganz  anders  aber  ist  sein  Brief  an  Nicolai^  ge* 
halten,  dem  er  kurze  Zeit  darauf  gewissermaßen  offiziell  antwortet. 
Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  er  die  Bekanntschaft  des  Verlegers 
gesucht  hat;  zwar  motiviert  er  diese  Anküpfung  mit  äußerst  feinem 
Witz ;  aber  wie  seine  Anrede :  »Sie  sind  doch  der  Verleger  der  Briefe, 
die  neueste  Literatur  betreffend,  und  zugleich  ein  Mann,  der  die 
kleinen  Angelegenheiten  des  Autorstandes  näher  kennt,  als  durch 
den  bloßen  Verlag  fremder  Werke,«  die  doppelte  Deutung  auf  die 
Autorschaft  des  Verlegers  Nicolai  und  die  Bemühungen  des  Ver* 
legers  um  fremde  Autorschaft  zuläßt,  so  ist  auch  der  Hamannsche 
Witz  nur  die  Verhüllung  seines  Annäherungsversuches,  nirgends 
eine  Ironisierung  Nicolais,  wie  auch  die  Höflichkeitsfloskeln  hier 
einen  durchaus  individuellen  Ton  verraten  und  wahrhaft  und  ernst 
gemeint  sind.  Freilich  lehnt  er  ab,  »Dienste  zu  nehmen«;  aber  wenn 
auch  seine  Entschuldigung  mit  den  »gegenwärtigen  Umständen« 
nur  ein  Vorwand  des  im  Tiefsten  alles  Rezensionswesen  Hassenden 
ist,  so  schien  diese  Entschuldigung  doch  wenigstens  aufrichtig,  um 
so  mehr,  als  Hamann  mit  dem  Gegenvorschlag  hervortrat,  wenn 
schon  nicht  »handelnde  Person«,  so  doch  wenigstens  »Ohrenbläser« 

'  ^X'eshalb  O. Hoffmann  (Vierteljahrschrift  f.  Litgesch.I,  117)  einen  »anonymen 
Werbebrief«  annimmt,  ist  mir  nicht  erklärlich.  Sollte  er  jenes  »Billet  doux«  so 
aufgefaßt  haben?  Oder  hat  er  sich  durch  die  Anfangsworte  des  Hamannschen 
Antwortbriefes  an  Nicolai  (s.  folgende  Anmerkung)  täuschen  lassen? 
■  21.  III.  62.  Roth  3,  140.  (In  Abbts Werken:  27.  III.  62,  Abbt  III,  87.) 

123 


der  »Acteurs«  an  den  Literaturbriefen  zu  sein,  und  gelehrte  Nach* 
richten  aus  Preußen  nach  seinem  Beheben  zu  senden;  eine  glatte 
Absage  mit  dem  offenen  Bekenntnis,  allem  Rezensionswesen  ab* 
geneigt  zu  sein,  wie  sie  Georg  Chr.  Lichtenberg  später  der  A  D 
Bibliothek  gab,  haben  die  Literaturbriefe  von  Hamann  weder  in 
diesem,  noch  m  dem  zweiten,  auf  Nicolais  wiederholtes  Werben^ 
erfolgenden  Brief  Hamanns  an  Nicolai^  erhalten;  zwar  scheint  Ha* 
mann  in  den  Eingangssätzen  einen  prinzipiellen  Gegensatz  aufzu* 
stellen  ^  aber  er  verstärkt  doch  in  diesem  Brief  die  vorgebrachte  Ent^ 
schuldigung  am  Schlüsse,  in  dem  er  als  die  Umstände,  die  ihm 
eine  Mitarbeit  an  den  Literaturbriefen  fast  unmöglich  machen,  seine 
»Gemütslage«  bezeichnet;  »schon  viele  Wochen«  habe  er  »in  einer 
halben  Vernichtung  seiner  selbst«  gelebt,  die  ihn  über  jede  Kleinig* 
keit  »so  unruhig  und  verlegen«  werden  ließe,  als  wenn  vor  ihm 
»ein  rotes  Meer«  wäre.  Seine  Mitarbeit  an  den  Literaturbriefen 
war  dementsprechend  ebenfalls  eine  Halbheit;  nur  ein  einziges  Mal 
hat  er,  »ein  wenig  ruhiger«  lebend,  »die  Erstlinge  seines  Vater* 
landes«  an  Nicolai  übersandt*;  »sollte  alles  Maculatur  in  den  Augen 
der  Kunstrichter  sein,«  schreibt  er,  »so  ist  wenigstens  meiner  Pflicht 
und  meinem  Willen  (!)  ein  Genüge  geschehen«.  Im  übrigen  ist 
dieser  Brief,  von  einer  nicht  sehr  tief  gehenden,  und  zudem  schief 
gefaßten  Bemerkung  über  Kritik^,  einer  Fortsetzung  der  schon 
früher  gemachten  Anmerkungen  abgesehen,  durch  nichts  von 
den  übrigen  Korrespondenzbriefen  der  späteren  Mitarbeiter  der 
i\llgemeinen  Deutschen  Bibliothek,  oder   demjenigen  Abbts   an 

'  In  einem  verloren  gegangenen  Brief  Nicolais  vom  1.  VII.  62,  wie  aus  dem  An* 
fange  von  Hamanns  Antwortbriefe  hervorgeht. 
=  Ham.  an  Nie.  3.\1II.  62  =  Roth  3,  172. 

'  Roth  3,  172:  »Ihre  Vergleichung  mit  einer  Demokratie  hat  mir  viel  Licht  über 
die  Beschaffenheit  des  Werks  (fehlt:  gegeben),  aber  desto  schwerer  wird  es  mir, 
den  Plan  und  die  Absichten  zu  verstehen.« 

*  Brief  Hamanns  v.21.  XII.  62  =  O.  Hoffmann,  VierteljahrschriH  f.  Litgesch.1, 120. 
"  Gelegentlich  der  Abbtschen  (=  B  signiert)  Kritik  der  »Schulhandlungen«  von 
J.  Lindner  (zu  Riga  1762,  Königsberg)  in  den  Literaturbriefen  131  und  32.  Ha* 
mann  tadelt  hier  das  gewissermaßen  induktive,  von  den  »bloßen  Symptomen 
des  verdorbenen  Geschmacks«  ausgehende  kritische  Verfahren,  das  den  Kunst; 
richterscharfsinn  zwar  in  helleres  Licht  setzt,  ohne  daß  es  jedoch  den  Kern  der 
Sache  näher  führte,  oder  —  wenigstens  das  kritische  Urteil  des  Kunstrichters  zu 
schulen  vermöchte. 

124 


Moses  M.,  unterschieden.  Dieser  Brief  ist  von  Nicolai,  nach  Hoff* 
manns  sicher  zutreffender  Vermutung,  nicht  beantwortet  worden'. 
Nicolais  Schweigen  ist  der  Ausdruck  einer  Stimmungsänderung 
der  Berliner  gegen  Hamann,  die  mit  der  Ablehnung  der  Mitarbeit, 
besonders  durch  den  Brief  Hamanns  an  Mendelssohn  (s.  S.  121) 
beginnt,  und  durch  die  »Kreuzzüge«  wesentlich  verstärkt  wird.  Der 
Verfasser  der  Denkwürdigkeiten  war  als  neue,  originale  Erschein 
nung  willkommen  geheißen:  Abälardus  Virbius  prangte  als  »hei* 
teres  Intermezzo«  in  den  Literaturbriefen  und  gab,  wie  Abbt  an 
Mendelssohn  schreibt^,  »den  Briefen  der  Litteratur  wieder  neue 
Munterkeit,  welches  besonders  beim  Anfang  eines  Teils  (sc.  des 
zwölften)  gut  ist,  um  zu  zeigen,  daß  wir  noch  nicht  erschöpft  sind«*. 
Als  Anreger,  durch  seinen  Widerspruchsgeist  und  seinen  Witz  die 
schon  stockenden  Literaturbriefe  belebender  Briefsteller  sollte  Ha= 
mann  willkommen  sein;  nicht  als  eigentlicher  Mitarbeiter,  wie  es 
Abbt  äußerst  naiv  gegen  Mendelssohn  ausdrückt:  »Ihr  Einfall,  daß 
er  Dienste  nehmen  soll,  ist  vortrefflich.  Und  kann  noch  besser  wer 
den,  wenn  wir  folgendes  beobachten.  In  einem  Briefe  von  H** 
liegen  Ideen  zu  wenigstens  zehn  Briefen.  W^enn  er  also  nun  alle 
Vierteljahre  einen  schickt,  so  können  wir  ihn  zerlegen,  und  mit  ge# 
höriger  Ökonomie  zehnmal  traktieren*.«  Aber  schon  im  selben 
Briefe  erwägt  Abbt,  ob  die  von  Moses  Mendelssohn  zutreffender 
und  genauer  als  in  der  Rezension  der  »Sokrat.  Denkwürdigkeiten« 
(113.  Litbr.)  jetzt  in  Fulberti  Culmii  Antwort  charakterisierte 
Schreibart^  Hamanns  nicht  Ergebnis  einer  eigenartigen,  um  nicht 
zu  sagen  anomalen  geistigen  Struktur  sei:  »Wenn  ich  gewiß  wäre, 
daß  sich  die  Verbindung  der  Ideen  durch  die  Anatomie  entdecken 
ließe;  so  möchte  ich  H**  Gehirn  noch  lieber  sehen,  als  Maupertuis 
(das)  eines  Lappländers.^  Und  in  einem  echt  Hamannischen  Ver< 

'  Die  von  Hoffmann  angeführten  Briefstellen  (Roth  3, 185  u.87)  beziehen  sich  auf 

dieselbe  Sendung,  etwa  September  1762;  sie  enthielt  u.  a.  den  15.  Teil  der  Litbr., 

worin  sich  die  Rezension  der  »Kreuzzüge«  befand ;  es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  die 

begleitendenBücher  einGeschenk  an  den  Verf.d.  AbäL  rd.  Virbius  darstellen  sollten . 

-  Abbt,  Werke  3,  46,  9.  II.  62. 

'  Vgl.  Moses  an  Abbt:  22.  II.  62.  Abbts  Werke  3,  48  u.  49. 

*  Abbt  an  Moses:  28.  IV.  62. 

'  Litbr.  192.  S.  218  ff. 

"  Abbts  Werke  3,  95. 

125 


gleich^  fährt  er  fort,  er  hätte  »Lust  es  (sc.  Hamanns  Gehirn)  mit 
dem  Archipelagus  zu  vergleichen,  wo  alles  Nachbar  ist,  aber  nur 
durch  Schiffe  zusammen  kommen  kann«.  Der  Schritt  von  diesem 
Vergleich  bis  zur  Wertung  Hamanns  auf  Grund  dieses  Vergleiches 
ist  leider  nicht  genau  festzustellen,  da  Mendelssohns  Brief  an  Abbt, 
in  dem  er  über  den  Eindruck  berichtet,  den  die  inzwischen  erschie« 
nenen  »Kreuzzüge  des  Philologen«  auf  ihn  gemacht  haben,  verloren 
gegangen  ist^.  Nach  dem  jetzt  vorliegenden  Material  ist  es  Abbt, 
der  zuerst  auf  Grund  der  erkannten  eigenartigen  Organisation  des 
Hamannschen  Geistes  ein  Werturteil  abgibt,  zunächst  freilich  mehr 
allgemein  und  rückblickend,  als,  wie  Moses  tat,  vorwärtsschauend. 
Die  Kreuzzüge  seien  »eine  offenbare  Nachahmung  vom  Young. 
Stil,  Gedanken,  Übergang  auf  andere  Materien«.  Hamann  habe 
sich  jedoch  geschämt,  nur  nachzuahmen,  und  sei  »durch  seine  feu* 
rige  Einbildungskraft  unterstützt,  auf  seinen  seltsamen  Stil  geraten, 
davon  unstreitig  seine  Rhapsodie  das  non  plus  ultra  ist«.  Bezeich« 
nend  fährt  er  fort:  »Ein  Glück  ist,  daß  er  keine  Nachahmer  finden 
kann,  sonst  möchte  Gott  uns  gnädig  sein.  Manchmal  habe  ich  dabei 
gedacht:  wenn  Jacob  Böhme''  studiert  hätte*]« 

'  Vgl.  Vorrede  »An  die  Zween«  in  den  »Sokrat.  Denkwürdigkeiten«  Roth  II,  12: 
»Ein  Zusammenfluß  von  Ideen  und  Empfindungen  .  .  .  machte  desselben  Sätze 
vielleicht  zu  einer  Menge  kleiner  Inseln,  zu  deren  Gemeinschaft  Brücken  und 
Fähren  der  Methode  fehlten.« 

-  Abbt  (in  dem  Brief  an  Moses  vom  21. MI.  1762:  Abbts  Werke  3,  114)  schreibt: 
»Die  Kreuzzüge  eines  Philologen  habe  ich  gelesen.  Hierüber  meine  Mutmaßung!« 
usw.  Im  vorhergehenden  Brief  Mendelssohns  vom  4.  \TI.  62  (a.  a.  O.  S.  102 ff.) 
sind  die  Kreuzzüge  nicht  erwähnt,  unzweifelhaft  hat  aber,  nach  der  Art  der 
Bezugnahme  Abbts  auf  die  Kreuzzüge,  Moses  diese  vorher  ihm  gegenüber  er« 
wähnt  und  wahrscheinlich  in  einem  früheren  Briefe,  da  in  der  kurzen  Zeit  vom 
Eintreffen  dieses  Briefes  bis  zum  21.  desselben  Monats  Abbt  die  Kreuzzüge  sich 
kaum  verschafft  und  gelesen  haben  konnte.  Zum  vorangegangenen  Brief  Abbts 
vom  23.  VI.  62  bemerkte  Fr.  Nicolai  als  Herausgeber  der  Werke  (Anm.  zu  S.  98 
ebenda):  »Der  Brief  Abbts  (vielmehr  Mendelssohns),  worauf  sich  Hr.  Abbt  be* 
zieht,  ist .  . .  verloren  gegangen.«  Vermutlich  hat  Moses  in  diesem  verloren  ge* 
gangenen  Brief  Abbt  auf  die  »Kreuzzüge«  hingewiesen,  und  mit  einem  vor* 
läufigen  Urteil,  eine  Rezension  derselben  in  den  Literaturbriefen  in  Aussicht 
gestellt,  wie  aus  Abbts  Antwort  hervorgeht. 

■*  Jacob  Böhme  auch  von  Nicolai  oft  als  Gipfel  der  Dunkelheit  und  Verstiegen? 
heit  zitiert;  s.  unten  die  Rezension  der  Herderschen  »Altesten  Urkunde«. 
*  Alles  in  Abbts  Brief  an  Moses:  21.  VII.  62  =  Abbts  Werke  3,  114. 

126 


Mendelssohns  Rezension  der  »Kreuzzüge«  erschien  im  254.  Lite* 
raturbrief.  Sie  beginnt  mit  einer  Auseinandersetzung  über  die  »Tu* 
genden  eines  Prosaskribenten«,  als  deren  vornehmste  er  »Leichtig* 
keit  und  nachdrückliche  Kürze«  erkennt;  die  Gefahr  sei  —  ein  Sei* 
tenblick  auf  Thomas  Abbts  Stil  — die  Übertreibung  der  nachdrück* 
liehen  Kürze  zur  spruch*  und  beziehungsreichen  Dunkelheit;  nach 
der  andern  Seite  bestehe  die  Gefahr  der  Weitschweifigkeit.  »Das 
Mittel«  zwischen  beiden  sei  das  Ergebnis  eines  disziplinierten  Ge* 
schmacks.  Das  Genie  könne  nach  seiner  ganzen  Wesensart  dieses 
Mittel  nicht  finden;  es  kenne  nur  seine  eigenen  Kräfte  und  nehme 
diese  und  nur  diese  zum  Maßstab.  »Daher  scheinen  die  großen 
Genies  bald  für  Engel,  bald  für  Kinder  zu  schreiben.«  Der  geläu* 
terte  Geschmack  führe  auch  das  Genie  an  dieser  Klippe  vorbei,  die 
ohne  seine  Hilfe  dem  Schriftsteller  um  so  gefährlicher  wird,  »je 
mehr  Genie  er  hat,  so  wie  uns  ein  edles  Roß  weiter  vom  Wege  ab* 
führen  kann,  als  ein  gemeines  Zugpferd«.  Sei  aber  vollends  die 
Triebkraft  des  Genies  nicht  eine  natürliche,  sondern  nur  »die  Be* 
gierde,  sich  einen  eigenen  Weg  zu  bahnen,  um  ein  Original  zu 
sein«,  so  sei  sie  die  schlimmste  Verführerin.  Sodann  exempfliziert 
Moses  auf  Hamann. 

Man  hat  es  so  dargestellt^  als  ob  Moses  hier  den  Geniegedanken 
zu  bekämpfen  gesucht  habe;  das  scheint  jedoch  nicht  zutreffend  zu 
sein,  vor  allem  nicht  in  der  Weise  —  und  hierauf  kommt  es  an  dieser 
Stelle  an  —  wie  Hamann  sie  in  seiner  Metakritik  dargestellt  hat. 
Moses  trifft  vielmehr  hier  nur  die  Distinktion  zwischen  dem  Genie 
als  natürlicher  ursprünglicher  Anlage,  und  dem  gebildeten,  diszi* 
plinierten  Geschmack,  ohne  jedoch  einen  logischen  Gegensatz  der 
beiden  zu  formieren,  sondern  er  nimmt  nur  psychologisch  ver* 
schiedene  Stufen  an^;  es  wurde  schon  oben  darauf  hingewiesen, 
daß  Moses*Nicolai  den  Geniegedanken  lediglich  zu  einer  psycho* 
logischen  Erkenntnis  umgebogen  haben,  während  er  bei  Hamann* 
Herder  und  dem  Sturm  und  Drang  durch  die  vitale,  kosmologische 
und  religiöse  Ausdeutung,  nicht  als  analytisches,  sondern  als  syn* 

^  Auch  R.  Unger,  S.  296,7  vertritt  diese  Anschauung. 

'  Ich  vermag,  der  Auffassung  R.  Ungers  (S.  300),  daß  das  ».-rnunor  iftcdo;«.  der 
Mosesschen  Ausführungen  »die  Schiefheit  des  Gegensatzes  von  Geschmack  und 
Genie«  sei,  nicht  beizupflichten. 

127 


thetisches  Element  fruchtbar  wurde.  Eine  solche  psychologische 
Analyse  liegt  nun  hier  vor.  Hamann  wird  nicht  zum  Objekt  oder 
gar  zum  Beispiel  theoretischer  Erwägungen  gebraucht,  sondern 
diese  werden  angestellt,  um  die  Erkenntnis  seiner  Eigenart  psycho* 
logisch  zu  fundieren;  nur  die  Mosessche  Art  der  Darstellung,  — 
die  er  mit  Nicolai  teilt  — ,  einen  Standpunkt  zu  explizieren,  anstatt 
auf  die  Gewinnung  eines  solchen  hinzuarbeiten,  macht  scheinbar 
Hamann  zum  Objekt  vorgefaßter  Betrachtung;  in  Wahrheit  soll 
die  Gefahr,  die  Hamann  sich  selbst  und  der  deutschen  Literatur 
bedeutet,  durch  Gegenüberstellung  seines  besseren  Selbst  mit  dem 
in  denKreuzzügen  vorliegenden  Ausdruck  seiner  schriftstellerischen 
Persönlichkeit  verdeutlicht  werden,  und  zum  Zwecke  dieser  Ver* 
deutlichung  stellt  Moses  jene  allgemeine  Distinction  voran.  Auch 
hier  muß  man  also,  wenn  Hamann  in  seiner  Metakritik  Moses 
wiederum  rationalistische  Überhebung  vorwirft,  erkennen,  daß 
Hamann  die  Mosessche  Kritik  unzutreffend,  obwohl  auch  hier  sub* 
jektiv  richtig  und  höchst  bedeutungsvoll,  interpretiert  hat. 

Die  eigentliche  Rezension  Mendelssohns  muß  freilich  als  un* 
bedeutend  erkannt  werden,  jedoch  frei  von  Überhebung  und  Eng* 
sichtigkeit.  Moses  tadelt  hier  weniger  Hamanns  eigentümliche 
schriftstellerische  Formen,  als  daß  er  sie  bedauert.  Im  übrigen  er* 
kennt  er  an,  daß  »der  Verf.  bei  allen  seinen  Fehlern  Genie  verrate«, 
und  daß  ihm  nichts  als  Erziehung  seines  Geschmacks  fehle.  Hamann 
könne  sich  erziehen;  so  lange  er  das  aber  verschmähe,  behalte  sein 
Antipode  (der  Rezensent  der  »Hamburger  Nachrichten«,  der  »deut* 
lieh  wie  ein  Kräuterweib  wasche«)  der  sich  nicht  bessern  könne, 
»die  schönste  Gelegenheit  zu  triumphieren«.  Mit  Hamann  gemein* 
sam  also  möchte  er  die  dumme,  anmaßende  Beschränktheit  be* 
kämpfen:  die  »Wolken«  haben  ihn  nicht  darüber  belehrt,  daß  Ha* 
mann  nicht  auf  das  Maß  des  Geistes,  sondern  auf  den  Geist  selbst 
sieht,  und  intellektuell  Hoch*  und  Tiefstehende  in  gleicherweise 
bekämpft,  sofern  sie  Vertreter  der  gegensätzlichen  Weltanschauung 
sind.  Hamann  äußert  über  den  Ton  der  Mendelssohnschen  Kritik 
zwar  zunächst  seine  Zufriedenheit;  »sie  ist  mit  vielem  Nachdruck 
und  Fleiß  und  Kunst  aufgesetzt,  daß  ich  vollkommen  rriit  dem  Re* 
zensenten  zufrieden  sein  kann«,  schreibt  er  an  Lindner  ^  Aber  un* 
^  5.  III.  63  =  Roth  3,  187. 

128 


mittelbar  darauf  ist  schon  der  Plan  zu  einer  Metakritik  gereift;  je* 
doch  will  er  derselben  den  Boden  ebnen  und  beantwortet  die 
Mendelssohnsche  Kritik  zunächst  an  Nicolai,  als  den  spiritus  rector 
der  Literaturbriefe,  offensichtlich  in  der  Absicht,  den  Verkehr  mit 
dem  einflußreichen  Verleger  nicht  einschlafen  zu  lassen,  wie  er  den 
Ton  des  Briefes  auch  etwas  gewaltsam  recht  vertraulich  stimmt. 
»Erst  muß  man  ins  Ohr  reden,  und  hernach  das  Dach  zur  Kanzel 
machen«,  rechtfertigt  er  dieses  Verfahren  Lindner  gegenüber^  Der 
Brief  an  Nicolai^  hebt  demgemäß  schon  einiges  aus  seiner  in  der 
Metakritik  geäußerten  Stellungnahme  hervor.  »Die  Wahrheit  ist 
die  Wagschale  der  Freundschaft,  und  das  Schwert  bahnt  den  Weg 
zur  Freiheit  des  Friedens;«  schreibt  er;  er  belastet  die  Wagschale  in 
diesem  Briefe  jedoch  noch  nicht  sehr  stark.  Er  sei  auf  eine  Unter* 
drückung  oder  Ausschließung  seiner  Grillenfängereien  auf  einem 
aristrokratischen  Grund  und  Boden  schon  gefaßt  gewesen;  um  so 
angenehmer  sei  er  enttäuscht,  daß  er  »mit  so  viel  Glimpf«  beurteilt 
worden  —  so  beginnt  er  diplomatisch;  ja  er  verstärkt  das  Verhältnis 
zu  den  Literaturbriefstellern  noch  erheblich:  indem  er  von  ihrer 
Beurteilung  des  Philologen  sagt,  »daß  die  Verfasser  der  Briefe  den 
Vater  der  Geister  nachahmen,  der  einen  jeglichen  Sohn  stäupt,  den 
er  aufnimmt«.  Jedoch  deutet  er  schon  auf  die  Absicht  seiner  »Pa* 
linodie«  hin,  und  mit  festem  Mut  setzt  er  Moses'  Unterscheidung 
der  echt  genialen  Triebkraft  und  der  blinden,  eiteln  Originalitäts* 
sucht  das  Bekenntnis  entgegen:  »Wenn  mich  die  Eitelkeit  ein  Mu« 
ster  zu  werden  anfechten  sollte:  so  würde  ich  der  erste  sein,  darüber 
zu  lachen.  Von  der  Schuldigkeit,  ein  Original  zu  sein,  soll  mich 
nichts  abschrecken.  Ein  Original  schreckt  Nachahmer  ab  und  bringt 
Muster  hervor.«  Aus  diesem  wuchtig*überlegenen  Ton  aber  fällt 
Hamann  rasch  in  ironisches  Witzeln  und  komisch  übertriebene,  be= 
kümmerte  Klage  und  verflüchtigt  so  die  Wirkung  jenes  großartigen 
Satzes.  Erst  gegen  den  Schluß  erhebt  er  sich  wieder  zu  prinzipieller 
Schärfe:  »Spinnen  und  ihrem  Bewunderer  Spinoza  ist  die  geome* 
trische  Bauart  natürlich.  Können  wir  alle  Systematiker  sein?  Und 
wo  bleiben  die  Seidenwürmer,  diese  Lieblinge  unseres  Salomo?« 

'  29.  III.  63:  Roth  3,  190. 

-  4.  III.  63  =  H.Weber,  »Neue  Hamanniana»,  München  1904,  S.  51  ff.  Die  Ab= 

Sendung  dieses  Briefes  ist  erheblich  verzögert:  Roth  3,  189  f. 

9  So  mm erfeld,  Friedrich  Nicolai  1Z9 


Aber  auch  hier  zersetzt  witziger  Spott  wieder  die  Wirkung  seiner, 
wenn  auch  nicht  objektiv  zutreffenden,  so  doch  subjektiv  höchst 
bedeutungsvollen  Polemik.  —  Die  unter  dem  Titel  »Hamburgische 
Nachrichten,  Göttingische  Anzeige,  Berlinische  Beurteilung  der 
Kreuzzüge  des  Philologen  Mitau  1763^«  erschienene  Metakritik  Ha* 
manns  leidet,  was  die  Berliner  Beurteilung  anbetrifft,  an  demselben 
Mangel;  auch  hier  werden  prinzipiell  wichtige  Gegensätze  durch 
witziges  Licht*  und  Schattenspiel  verdeckt^;  und  auch  von  dieser 
Antikritik  Hamanns  läßt  sich  dasselbe  sagen,  wie  von  den  »Wolken« 
und  dem  »Abälardus  Virbius«,  daß  sie  die  Mosesschen  Gesichts* 
punkte  mißdeutet  und  verkennt.  Es  wurde  schon  berührt,  daß  die 
psychologische  Abstufung,  die  Moses  statuiert,  von  Hamann  als 
logische  Gegensätzlichkeit  aufgefaßt  wird;  hier  sei  noch  darauf  hin* 
gewiesen,  daß  sein  Versuch,  Moses  einen  Widerspruch  zwischen  der 
subjektiven  Grundlage  des  »Geschmacks«  und  seiner  prätendierten 
Allgemeingültigkeit  nachzuweisen,  mißglückt,  da  Moses  eben  nir* 
gends  Allgemeingültigkeit  des  Geschmacksurteils,  sondern  hoch* 
stens  Allgemeingültigkeit  der  Begründung  desselben  fordert.  Ganz 
klar  erweist  hier  aber  dies  methodische  Verfahren  Hamanns  die  Un* 
zulänglichkeit  seiner  Polemik  als  solcher;  das  Glossieren  einzelner 
Mendelssohnscher  Sätze  —  wenngleich  auch  im  Abdruck  die  Kon* 
tinuität  des  Textes  der  Mendelssohnschen  Rezension  bis  dahin  ge* 
wahrt  wird,  wo  »Text  und  Noten  zusammenfließen«  —  beweist,  daß 
es  Hamann  nicht  um  Widerlegung,  sondern  um  möglichst  schroffe 
Aufstellung  seiner  abweichenden  Standpunkte  zu  tun  war.  In  einem 
Brief  an  Lindner  ^  bezeugt  Hamann  seine  Absicht,  diese  Standpunkte 
umfassender  und  tiefer  »in  einem  Sendschreiben  an  den  Verleger  der 
Literaturbriefe«  zu  begründen;  freilich  hat  er  diesen  Plan  bald  fallen 
lassen.  Es  war  aber  jedenfalls  sein  Wunsch,  die  Beziehungen  zu 
Nicolai  fester  zu  knüpfen;  es  lag  in  seiner  Natur,  den  am  festesten 
an  sich  zu  ziehen,  der  ihm  zunächst  instinktmäßig,  wie  später  offen* 
bar,  als  der  Bekämpfenswerteste  erschien.  Tatsächlich  beobachten 
wir  während  der  folgenden  Jahre  eine  weit  eifrigere  Korrespondenz 

'  Roth  2,  451  ff.  Von  Hamann  »Mitausches  Intermezzo«  genannt:  Roth  3,  195. 
^  Damit  soll  die  »Rekonstruktion«  der  Hamannschen  »Gedankentrümmer«,  die 
R.  Unger  S.  297  ff.  gibt,  natürlich  nicht  angetastet  werden. 
^  Brief  Hamanns  an  Lindner  vom  14.  V.  63  =  Roth  3,  195. 

130 


mit  Nicolai  als  mit  Moses S  während  doch  Abbt  und  Herder,  um 
nur  diese  beiden  zu  nennen,  nach  kurzer  Zeit  häufiger  und  inniger 
mit  Mendelssohn  als  mit  Nicolai  verkehrten^.  Allerdings  endete 
der  kurze  persönliche  Verkehr  mit  Nicolai,  den  Hamann  im  Septem« 
ber^  1764  auf  seiner  Rückreise  von  Frankfurt  a.  M.  nach  Berlin 
kennen  lernte,  mit  einer  Unstimmigkeit;  Hamann  berichtet  an  Lind« 
ner*,  daß  er  Nicolai  »entweder  beleidigt  wider  ^X^illen,  oder  gleiches 
mit  gleichem  vergolten«  habe.  »Dieser Verleger«,  fährt  er  jedoch  fort, 
»ist  aber  ein  Mann  von  vielen  Fähigkeiten,  von  geschwinden  Ein« 
fällen,  und  Moses  gibt  seiner  Ehrlichkeit  und  den  Gesinnungen 
seines  Herzens  ein  sehr  gutes  Zeugnis«.  Jedenfalls  hat  die  persön« 
liehe  Bekanntschaft  nicht  dazu  beigetragen,  die  Bande  zwischen 
Hamann  und  den  Berlinern  fester  zu  knüpfen;  eher  kann  man  sogar 
eine  gewisse  Lockerung  ihrer  Beziehungen  feststellen,  eine  leichte 
Entfremdung,  die  sich  nicht  nur  aus  dem  Stocken  des  Briefwechsels, 
sondern  auch  aus  anderen  äußeren  Umständen  erschließen  läßt, 
wie  z.  B.  dem,  daß  Nicolai,  der  in  den  Anfängen  der  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek  nach  allen  Himmelsrichtungen  Bittbriefe  um 
Mitarbeit  auch  an  ihm  Unbekannte  sandte,  Hamann  überging.  Aus 
dieser  Zeit  haben  wir  zudem  einige  Äußerungen  Nicolais  an  Her« 
der^  in  denen  Nicolai  sein  Bedauern  äußert,  daß  Herder,  »der  so 
gut  schreiben  kann«,  »sich  zu  Hamannischem  Cant  und  spitz« 
findigen  Anspielungen  herablasse«  —  was  übrigens  Herder  sofort 
Hamann  mitteilte",  —  einen  Vorwurf,  den  Nicolai  auf  Herders  — 
verlorengegangene  —  Rechtfertigung  nochmals  dahin  mit  allgemei« 

'  Den  sechs  uns  erhaltenen  Briefen  Hamanns  an  Moses  entsprechen  13  Briefe 

Hamanns  an  Nicolai. 

^  Bei  Abbt  erkennt  dies  Nicolai  selbst  an;  vgl.  den  Schluß  seiner  Vorrede  zu 

Abbts  Werken,  Bd.  3  (unpaginiert),  1771. 

"  O.  Hoflfmann  (S.  118)  gibt  »Oktober«  an;  vom  3.  Oktober  64  ist  aber  schon 

Hamanns  Brief  aus  Königsberg  datiert,  den  er  sogar  erst  einige  Tage  nach  seiner 

Rückkehr  (über  Stettin)  geschrieben  hat;  demnach  wird  er  Mitte  September  in 

Berlin  gewesen  sein,  da  er  noch  am  27.  August  aus  Frankfurt  a.  M.  an  seinen 

Vater  schreibt  (Roth  3,  298),  von  wo  er  über  Leipzig  (kurzer  Aufenthalt  dort) 

nach  Berlin  fuhr. 

*  Vom  3.  X.  64  =  Roth,  3,  301. 
'  An  Herder  19.  XI.  66. 

•  Hoflfmann,  »Herders  Briefwechsel  mit  Hamann«,  S.  34.  Brief  »Anfang  Ja» 
nuar  1767«. 

9*  131 


nerer  Fassung  begründet:  »Die  Verführung  zu  Allusionen  ist  dem 
Witze  des  Schriftstellers  freilich  nur  gar  zu  angenehm,  aber  der 
Leser,  der  diese  Anspielungen  entweder  nur  halb  erklären  kann, 
oder  falsch  deutet,  leidet  darunter.  Wie  weit  die  Liebe  zu  den 
Anspielungen  führen  kann,  davon  ist  Hamann  ein  betrübtes  Bei* 
spieP«.  Freilich  wissen  wir,  wie  tief  Hamanns  Stil  in  seiner  Gesamt* 
Organisation  begründet  ist,  nicht  nur,  weil  die  Unordnung,  um  sein 
eigenes  Wort^  zu  gebrauchen,  der  »allgemeine  Grundfehler«  seiner 
»Gemütsart«  war,  sondern  weil  der  Zustand  der  schriftstellerischen 
Produktion  für  ihn  einen  Paroxysmus  darstellt,  den  er  oft  mit  den 
Geburtswehen  vergleicht,und  weil  allem  seinem  Schaffen  ein  wahrer 
»furor  uterinus«  vorangeht^;  dem  Zeitgenossen  freilich  konnte  das 
entgehen,  und  er  mußte  um  so  weniger  Fähigkeit  haben,  diesen 
Stil  nachzuempfinden,  wenn  er  so  fest  wie  Nicolai  auf  einem  nicht 
minder  umfassend  begründeten  Stilprinzip,  dem  des  »lucidus  ordo« 
stand.  In  den  »Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  zwar  hatte  der 
junge  Nicolai  die  ordentliche,  gelehrte  Schreibart  verworfen,  fast 
ein  Recht  auf  Unordnung  proklamiert  und  gew  ünscht,  daß  seine 
Briefe  wirken  möchten  »velut  amnis,  imbres  quem  super  notas  alu* 
ere  ripas«,  und  dieses  ursprünglichere  »Ideal«  —  es  scheint  sich  dort 
aber  vielmehr  um  eine  vereinzelte,  und  im  Trotz  gegen  die  feierliche 
Pedanterie  der  Gottschedianer  übersteigerte,  mutwillige  Äußerung 
zu  handeln  —  das  sich  erst  langsam  nach  dem  entgegengesetzten  Pol 
richtete,  mag  ein  Grund  sein,  weshalb  Nicolais  Ablehnung  des  Ha* 
mannschen  Stiles  erst  so  spät  erfolgte.  Schon  in  den  sechziger  Jahren 
ist  der  Wandel  in  Nicolais  Stilbegriff  jedenfalls  vollzogen;  jetzt  ver* 
deutlicht  er  sein  stilistisches  Ideal  vielmehr  immer  wieder  an  dem 
Bilde  eines  ruhigen  klaren  Flusses,  und  wendet  es  auch  gerade  gegen 
Hamann.  Freilich  werden  wir  uns  hüten  müssen,  jene  scharfen,  tief 

■  Nicolai  an  Herder  30.  XII.  66. 
■'  Roth  1,  173. 

•'  Vgl.  Nicolais  Bemerkung  zu  seinem  Plane  eines  Trauerspiels  (GöckingkS.  50): 
»Erfindung  ist  Empfängnis  und  folglich  wollüstig,  ausführen  und  schreiben  ist 
Geburt  und  kostet  manchen  harten  Stand«.  Diese  scheinbare  ähnliche  Äußerung 
—  der  freilich  der  psychologische  Bezug  der  Hamannschen  fehlt  —  konnte  in 
Wahrheit  ein  Moment  der  kritischen  Ablehnung  von  Hamanns  Schriftsteller 
rischer  Produktion  werden,  wie  es  gegen  Lavater^Herder  dann  tatsächlich  ge= 
braucht  wurde  (Nicolai  an  Lavater  über  Herder:  24.  IV.  74  NN). 

132 


ins  Wesen  der  Stilbildung  führenden  Worte  des  alten  Goethe  (Dich* 
tung  und  Wahrheit  XII)  über  den  Stil  Hamanns,  wenn  sie  auch 
scheinbar  in  Nicolais  Sinne  sind,  mit  dieser  Nicolaischen  Ablehnung 
zu  identifizieren.  Goethe  weist  dort,  gegenüber  der  Hamannschen 
Maxime,  die  alles  Vereinzelte  für  verwerflich  erklärt  und  nur  dem* 
jenigen  Wert  zuerkennt,  was  aus  dem  großen  Confluxus  aller  Kräfte 
entspringt,  auf  die  »große  Schwierigkeit«  hin,  daß  das  Wort,  wenn 
es  »nicht  gerade  poetisch«  ist,  »sich  ablösen,  sich  vereinzeln  muß, 
um  etwas  zu  bedeuten«,  und  daß  »der  Mensch,  indem  er  spricht, 
für  den  Augenblick  einseitig  werden  muß«;  »es  gibt  keine  Mittei* 
lung,  keine  Lehre  ohne  Sonderung«.  Auch  Nicolai  hat  solche  Auf* 
fassung  von  der  »Mitteilung  durch  das  Wort«,  als  nur  durch  Son* 
derung,  durch  Distinktion  möglich,  gelegentlich  eindrucksvoll  be* 
kündet;  wir  werden  dieser  Auffassung  in  seiner  gegen  Lavater* 
Herder  gerichteten  Stilpolemik  noch  begegnen.  Aber  diese  Tiefe 
des  Goetheschen  Hinweises  —  eine  Tiefe,  zu  deren  Ausmessung 
freilich  die  ganze  Polarität  der  Kunstanschauung  des  jungen  und 
des  alten  Goethe  gehört  —  hat  er  natürlich  nicht  erreicht  und  nicht 
erreichen  können,  da  ihm  schon  das  eigentlich  Treibende  zu  solchem 
Ansatz,  die  Fähigkeit  eines  Bildners  der  Sprache,  mangelte.  Doch 
mag  unser  Hinweis  auf  diese  kritische  Besinnung  Goethes  gegen 
Hamann  —  diese  gewichtige  und  nicht  vereinzelte  Goethesche 
Kundgebung  —  hier  dazu  dienen,  jenem  Stilideal  Nicolais,  das 
seine  Vorbilder  in  Hume,  Lessing,  Wieland  suchte,  eine  weit  tiefere 
Perspektive  zu  geben,  als  sie  Nicolai  selbst  je  zu  zeichnen  vermocht 
hätte.  Und  gegen  diesen  Hintergrund  gewinnen  allerdings  die  un* 
zulänglichen  Nicolaischen  Bemühungen  erheblich  an  Bedeutung; 
ein  tieferer  Grund  zu  seiner  immer  deutlicher  werdenden  Ableh* 
nung  des  Hamannschen  Stiles,  als  es  Unverständnis  oder  überheb* 
liches,  schulmeisterliches  Dogmatisieren  wäre,  erscheint  nun  unver* 
kennbar. 

Freilich  kamen  diese  Gegensätze  erst  fünf  Jahre  später  zum  Aus* 
trag.  Es  tritt  eine  Entfremdung  ein,  die  zwar  durch  gelegentlichen 
Briefwechsel  in  freundschaftlichenFormen  unterbrochen  wird.jedoch 
das  Verhältnis  weder  fortgestaltet  noch  abbricht;  die  Gegensätze 
zeigen  sich  hier  nur  in  sehr  verhüllter  Form^  Zwei  Hamannsche 
'  Beachtenswert  sind  Hamanns  abfällige  Äußerungen  gegen  die  Allg.  Dtsch. 

133 


Briefe  und  die  Zusendung  der  Hamannschen  Schrift  »Des  Ritters 
von  Rosencreuz  Letzte  Willensmeinung«  (Roth  4,  21  ff.)  scheint 
Nicolai  nicht  beantwortet  zu  haben.  Um  so  überraschter  mußte  er 
sein,  als  Hamann  ihm  bald  darauf  ein  richtiges  Verlagsangebot 
macht:  es  betraf  die  »Philologischen  Einfälle  und  Zweifel«  (Roth 

4,  37 ff.)  —  die  Herders  preisgekrönter  Schrift  »Über  den  Ursprung 
der  Sprache«  galten  —  und  die  kleine  Denkschrift  »Au  Salomon 

Bibl.  aus  dieser  Zeit:  Roth  3,  388;  7,  77.  — ■  Ein  verlorener  Brief  Nicolais  vom 
August  1769  versuchte  wohl  Hamanns  Anhängerschaft  für  eine  drohende  Fehde 
mit  Klotz  zu  gewinnen.  Aus  Hamanns  Antwortbrief  vom  21.  XI.  69  =  Viertel« 
Jahrschrift  1, 123  und  besonders  dem  vorher  bei  Roth  «Wiener  8,  1, 174  als  Bruch« 
stück  aus  einem  Brief  an  einen  Unbekannten  nicht  genau  abgedruckten  Fragment 
ergibt  sich  nichts  Genaues  (ebensowenig  ergab  nochmalige  Vergleichung  des 
Originaltextes  Bestimmteres)  über  die  fragliche  Beziehung  auf  die  »Klotzischen 
Händel«.  Hamann  war  in  Klotz'  Deutscher  Bibliothek  1768,  I,  51,  162,  164f.,  173 
angegriffen  worden  (was  Nicolai  wohl  bekannt  war),  hielt  aber  nichts  für  über« 
flüssiger,  als  einen  Streit  gegen  diesen  Mann,  der  sich  von  selbst  erledigte ;  wie 
er  es  auch  Lessing  (Unger  S.  345)  und  Herder  (Roth  3,  376;  3,  399 f.)  verdenkt, 
daß  sie  sich  an  solchen  »Froschmäusekriegen«  beteiligen ;  mit  einer  gewissen 
Schadenfreude  weist  er  darauf  hin,  daß  ihn  sein  »blindes  Gefühl«  diesem  »latei« 
nischen  Gottsched«  gegenüber  besser  geleitet  habe,  als  die  kundigen  Berliner 
(Roth  3,  376).  —  Im  selben  Brief  hat  Nicolai  sich  bei  Hamann  nach  Herders 
Aufenthalt  erkundigt;  Hamann  weiß  seit  jenem  »Valetbriefe«  nichts  von  ihm 
(Viertel].  I,  124).  Ein  dritter  Punkt  des  Nicolaischen  Briefes  betraf—  was  O.  Hoff« 
mann  übersehen  hat  —  die  Bitte  des  Herausgebers  von  Abbts  Freundschaftl. 
Korrespondenz,  Hamanns  Briefe  abdrucken  zu  dürfen  (wie  sich  aus  Hamanns 
Sätzen  »was  die  Sache  selbst  betrifft«  ergibt);  bemerkenswert  mußte  dann  für 
Nicolai  Hamanns  Geständnis  sein,  daß  er  sich  an  nichts  mehr  erinnern  könne; 
Abbts  freundschaftl.  Korresp.  erschien  danach  im  3.  Teil  s.  Verm.  Werke  1771 
»mit  Genehmhaltung  des  Herrn  H**«  (ebenda  S.  71,  Anm.).  —  Über  Nicolais 
Abfertigung  Klotzens  in  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  belustigte  sich  Hamann  (an 
Herder:  Roth  3,  399),  daß  Nicolai  »so  kläglich  frostig  und  ehrlich  tue«,  aber  es 
scheint,  als  ob  er  an  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  wieder  mehr  Interesse  genommen  hat, 
seit  er  von  Herders  Mitarbeiterschaft  weiß  (H.  an  Herder  6.  X.  72  =  Roth  5,  17). 
—  Nicolai  beantwortete  Hamanns  Brief  vom  21.  IX.  69  mit  der  Übersendung 
des  zweiten  Teils  der  Antiquarischen  Briefe  Lessings,  wofür  Hamann  27.  I.  70, 
Viertelj.  I,  124,  dankte.  An  diesem  Brief  mochte  für  Nicolai  nur  bemerkenswert 
sein,  daß  Hamann  Moses  empfahl,  auf  die  Lavatersche  Herausforderung  nicht  zu 
antworten.  Ein  weiterer  Brief  Hamanns  vom  12.  IX.  70  enthielt  die  Empfehlung 
eines  ärztlichen  Freundes,  die  in  ähnlicher  Form  auch  an  Mendelssohn  ging  (Roth 

5,  3  f.).  Nicolai  beantwortet  beide  anscheinend  erst  mit  der  Übersendung  von 
Abbts  Korrespondenz,  wofür  Hamann  22.  IX.  71  =  Dorow  I,  121,  dankt. 

134 


de  Prusse«.  (Roth*Wiener  8,  1,  191  £f.)  Über  Hamanns  Rosenkreuz 
hatte  Nicolai  sich  Herder  gegenüber  in  einem  Tone  geäußert,  der 
deutlich  zeigt,  daß  er  nur  aus  Höflichkeit  gegen  Herder  und  in 
Erinnerung  an  das  heitere  Intermezzo  des  Abälardus  Virbius  äußer* 
lieh  zweifelt,  wo  er  im  Grunde  nur  Ablehnung  und  Spott,  vielleicht 
auch  Mitleid  für  Hamann  übrig  hat.  Er  habe  sich,  schreibt  Nicolai 
an  Herder\  mit  Moses  gestritten,  ob  Hamann  in  der  »Letzten 
Willensmeinung«  Herder  nur  habe  erläutern,  oder  widerlegen  wol* 
len;  Moses  glaube,  Hamann  habe  den  Ursprung  der  Sprache  nicht 
aus  göttlicher  Emanation  erklären  wollen,  er,  Nicolai,  dagegen  sei 
der  Meinung,  Hamanns  Absicht  laufe  einzig  darauf  hinaus,  den 
göttlichen  Ursprung  der  Sprache  zu  erweisen;  bezeichnend  fährt 
er  fort:  »Es  kann  sein,  daß  ich  unrecht  habe,  denn  nach  Hr.  M. 
(=  Herrn  Moses)  Erklärung,  wußte  er  sehr  sinnreich  zu  erklären, 
wie  die  Accise:=Regie  . . .  nebst  den  Mastupratoren  und  Sodomitern 
in  diese  Abhandlung  über  die  Sprache  kommen,  welches  ich  wahr* 
haftig  gar  nicht  erklären  kann.  Entscheiden  Sie,  welcher  unter  uns 
Recht  hat,  und  sagen  Sie  uns  auch,  warum  der  seelig  ist,  der  drei 
oder  vier  Jahre  warten  soll,  bis  sich  die  Meinung  dieses  letzten 
Willens  aufschließt;  denn  das  haben  wir  beide  nicht  verstanden.« 
Herder  entscheidet  zugunsten  beider:  Hamann  habe  eigentlich  gött* 
liehen  Ursprung  der  Sprache  behaupten  wollen,  »ihn  in  der  Tat 
aber  menschlich  behauptet«^;  über  die  anderen  Zweifel  Nicolais 
gleitet  er  mit  nichtssagenden  Worten  hinweg,  sei  es  nun,  daß  er  die 
von  Nicolai  angedeuteten  Stellen  wirklich  ebenfalls  nicht  verstand, 
oder  daß  er  —  was  wahrscheinlicher  ist  —  es  für  verlorene  Mühe 
hielt,  Nicolais  Verständnis  zu  Hilfe  zu  kommen;  der  Erfolg  war, 
daß  Nicolai  einen  ihm  zur  Weiterbeförderung  an  Herder  über* 
sandten,  mit  dem  Vermerk  »citissime«  versehenen  Brief  Hamanns 
nicht  gerade  sehr  eilig  besorgte,  da  er  durch  Hamanns  Schriften  ge* 
wohnt  worden  sei,  »in  seinen  Worten  immer  einen  ganz  andern 
Verstand  zu  suchen,  als  den  die  simplen  Worte  besagen«^.  Nun 
aber  bietet  ihm  Hamann,  durch  Nicolais  Schweigen  anscheinend 
nicht  berührt,  die  »Philologischen  Einfälle  und  Zweifel«  und  »Au 

•  An  Herder  24.  VI.  72. 

-  Herder  an  Nicolai  2.  VII.  72. 

=•  An  Herder  12.  XI.  72. 

135 


Salomon  de  Prusse«  zum  Verlage  an.  Daß  Nicolai  das  erstere 
Schriftchen  nicht  verlegen  konnte,  das  gegen  Herder,  unter  dessen 
Namensnennung,  gerichtet  schien,  ist  erklärlich;  haben  wir  doch 
auch  feststellen  zu  können  geglaubt,  daß  Nicolai  glauben  mußte, 
Abälardus  Virbius  habe  Fulbertum  Culmium  weder  widerlegen 
können,  noch  im  Ernst  recht  widerlegen  wollen.  Die  Ablehnung 
des  an  Friedrich  d.  Gr.  gerichteten  Schriftchens  aber  ist  erklär* 
lieh,  wenn  wir  uns  an  das  oben  (s.  S.  42 ff.)  dargestellte  Streben 
Nicolais  erinnern,  die  deutsche  Literatur  mit  allen  Mitteln  gegen« 
über  dem  französischen  Einfluß  zu  befördern.  Nicolai  fürchtet 
aber,  wie  wir  aus  seinem  Brief  an  Herder  vom  2.  III.  73  entnehmen 
können,  daß  Hamanns  Schriftchen  nicht  nur  Herder,  für  dessen 
Wahl  in  die  Preußische  Akademie  sich  Hamann  einsetzt,  beim 
Könige  schaden,  sondern  daß  es  die  ganze  deutsche  Literatur  vor 
Friedrich  dem  Großen  diskreditieren  werde;  er  befürchtet  ferner, 
daß  Hamann  sich  selbst  schaden  werde,  da  der  König  Hamann 
»des  Tollhauses  würdig«  halten  würde  —  eine  Befürchtung,  die 
Nicolais  eigentliches  Urteil  über  Hamann  recht  deutlich  wider« 
spiegelt.  Hamanns  »patriotische  Philippica«,  wie  Nicolai  sich  aus« 
drückt,  erscheint  ihm  mit  Hinblick  auf  ihre  sicher  zu  erwartende 
Wirkung  also  als  unpatriotisch,  und  er  bittet  Herder,  wenn  dieser 
Einfluß  auf  Hamann  habe,  denselben  aufzuwenden  und  Hamann 
zu  überreden,  daß  er  das  Schriftchen  »im  Pulte  ruhen«  lasse. 

Nicolais  wahres  Urteil  über  diese  Hamannschen  Schriften  geht 
aber  am  deutlichsten  aus  dem  Umstände  hervor,  daß  er  das  Angebot 
Hamanns  fast  ein  Jahr  lang  unbeantwortet  ließ ;  nicht  nur  der  Buch« 
händler  Nicolai,  dem  Hamann  »im  Ernst«  »drei  Bogen  .  .  .  für 
dreißig  Friedrichd'or  verkaufen  wollte«  \  auch  der  Literat  Nicolai 
glaubte  wohl,  sich  jede  Antwort  ersparen  zu  können.  Da  aber 
sandte  ihm  Hamann,  der,  wie  er  sich  selbst  ironisierend,  schreibt, 
seine  Ungeduld'^,  »ein  öffentlicher  Autor  in  Großquart  zu  werden«^ 
nicht  bemeistern  konnte,  das  »Selbstgespräch  eines  Autors«.  In 
Ausführungen,  die  er  in  seinem  Exemplar  des  »Selbstgespräches« 

^  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73.  Im  folgenden  »Selbstgespräch  eines  Autors«  fors 

dert  Hamann  sogar  50  Friedrichd'ors. 

-  Vgl.  Hamann  an  Herder  13.  1.  73  =  Roth  5,  22. 

'  Roth  4,  75. 

136 


in  späterer  Zeit  auf  zwei  Blättern  angefügt  hat,  schreibt  Nicolai 
über  das  »Selbstgespräch«:  »Ich  zweifle,  daß  ich  damals  alles  ver* 
standen  habe;«  wie  alle  Schriften  Hamanns,  so  hätte  auch  diese  für 
jeden  Satz  »einen  Kommentar  nötig«;  den  tatsächlichen  Zweck  des 
Schriftchens  hat  er  freilich,  wie  diese  Erläuterungen  und  seine  Ant* 
wort  »An  den  Magum  im  Norden«  bezeugen,  wohl  verstanden. 
Er  besteht  in  einer  nochmaligen  dringlichen  Aufforderung  Hamanns, 
sich  seiner  beiden  Werke  anzunehmen,  deren  erstere  ein  »Embryon 
von  Encyklopädie«  ist,  eine  Arbeit,  der  er  »neun,  wo  nicht  zwölf 
Jahre«  seines  Lebens  gewidmet  hat.  In  der  Maske  eines  »Chinesers«, 
der  als  Mandarin  nach  Peking  zurückzukehren  »auf  dem  Sprunge« 
ist,  bietet  er  Nicolai  diese  beiden  Handschriften  »nach  sibyllini* 
scher  Steigerung  im  Buchhandel«  für  nunmehr  50  Friedrichsd'or 
an;  schon  das  »orphische  Ei«  der  ersten  Abhandlung  sei  »selbst 
unter  Brüdern  eines  Weltteils«  soviel  wert;  es  sei  »nach  dem  streng* 
sten  Gesetz  der  Sparsamkeit  geschrieben«.  Nochmals  erläutert  er 
die  Absicht  der  beiden  Schriften  und  setzt  in  der  Vorfreude  der 
öffentlichen  Autorschaft  den  Titel  mit  großen  Lettern  in  den  Text 
des  »Selbstgesprächs«.  Die  Antwort  bittet  er  »An  den  Magum  im 
Norden  zu  richten«,  —  erwartet  jedoch,  daß  diese  Antwort  eine 
»Assignation«  ist.  — 

Nicolai  war,  wie  er  in  seinen  Erläuterungen  schreibt,  in  großer 
Verlegenheit,  wie  er  »die  Antwort  einrichten  solle«;  »denn  er  (Ha* 
mann)  war  ein  hypochondrischer  und  seltsam  empfindlicher  Mann«. 
Ein  kleiner  Unglücksfall,  der  Nicolai  einige  Wochen  ans  Ruhebett 
fesselte,  verschaffte  ihm  Muße  und  —  Laune  zur  Antwort.  Der  Auf* 
forderung  Hamanns  gemäß  richtete  er  sie  »An  den  Magum  im 
Norden.  Haussässig  am  alten  Graben  Nr.  758.  Sonst  auch  zu  er* 
fragen  im  Kanterschen  Buchladen«  ^  »Von  der  Schnecke,  die  über 
den  Weg  kriecht,«  beginnt  er,  »verlangt  man  nicht,  daß  sie  tanze, 
und  von  einem  Manne  wie  ich,  ,occupato  et  ad  litteras  scribendas, 
ut  nosti  pigerrimum',  erwartet  niemand,  daß  er  mit  der  ersten  Post 

'  Als  Manuskript  in  25  Exemplaren  1773  gedruckt.  Hinz  in  Mitau  veranstaltete 
allerdings  einen  Nachdruck  und  fügte  Nicolais  Antwort  dem  »Selbstgespräch« 
bei  (Nicolais  Erläuterungen).  Da  das  Schriftzeichen  sehr  selten  ist,  wurde  hier 
etwas  ausführlicher  darauf  eingegangen,  um  so  mehr,  als  R.  Schwinger  S.  216f. 
es  nur  mit  wenigen  Worten  berührt. 

137 


antworte.«  —  Indessen  gibt  Nicolai  noch  eine  andere  Entschuldig 
gung  für  sein  langes  Schweigen;  Hamann,  sagt  er,  hätte  noch  lange 
auf  Antwort  warten  können,  wenn  ihm  (Nicolai)  nicht  zu  vor* 
zeitiger  Stunde  das  alchymistische  Experiment  gelungen  wäre  — 
nämlich,  wie  sich  aus  den  Schlußsätzen  ergibt,  die  Beendigung  des 
ersten  Bandes  des  »Sebaldus  Nothanker«;  in  Wahrheit  liebe  er  Ha* 
mann  herzlich  und  sehe,  »wie  Lucrezens  Liebhaber«  auch  seine 
Fehler  »bloß  von  der  schönen  Seite«  an.  Freilich  sei  Hamann  in 
seinen  Autornöten  damit  nicht  geholfen;  er  wisse  diese  wohl  zu 
würdigen,  müsse  aber,  im  Gegensatz  zu  Hamann \  daran  festhalten, 
daß  Kritik  und  Politik  absolute  Gegensätze  seien,  so  wenig  verein* 
bar  wie  Plus  und  Minus,  Gutes  und  Böses,  »anschauende  Kenntnis 
mit  Wundern  und  Zeichen«;  »von  dieser  Seite  ist's  also  verlorene 
Mühe,«  Nicolai  überreden  zu  wollen.  Ob  Hamann  aber  glaube, 
daß  es  möglich  sei,  »einen  Brouillon  in  hohem  Geschmack,  nur 
3  Bogen  stark,  woran  man  9  bis  12  Jahre  gearbeitet  hat,  mit  Gold 
aufzuwiegen?«  Ebenso  ironisch  weist  Nicolai  darauf  hin,  daß  Ha* 
mann  im  Begriff  sei,  sich  in  schlechte  Gesellschaft  zu  begeben,  da 
die  Hamburger  Nachrichten  die  A  D  Bibliothek  »eine  Legion  von 
Teufeln«  genannt  hätten.  Hamannsche Metaphern  aufgreifend  formt 
er  das  Bild:  eine  Gesellschaft  (sc.  die  Autoren  des  Nicolaischen 
Verlages),  die  »nach  einer  feisten  Schweinsleiche  . .  mit  beiden  Hän* 
den  greift,  hingegen  winzige  Nachtigallen  und  orphische  Eier  im 
Winkel  liegen  läßt«,  könne  Hamann  unmöglich  gefallen.  Was  sei 
aber  Hamann  in  einer  so  glänzenden  Gesellschaft?  Ein  »Philaleth« 
—  und  man  habe  Beispiele  in  der  Geschichte,  daß  es  gerade  Phila* 
lethen  sehr  schlimm  ergangen  sei,  besonders  wenn  sie  arme  Stümper 
waren,  die  weder  auf  der  Börse  (sc.  des  Buchhändlers)  noch  in  der 
Antichambre  (sc.  des  Königs)  sonderlich  viel  gelten«.  Hier  findet 
er  Gelegenheit,  Hamann  auf  das  nicht  ganz  Ungefährliche  seiner 
Denkschrift  »Au  Salomon  de  Prusse«  hinzuweisen;  vielleicht  würde 
»jenes  Weib  zu  Thekoa«,  wenn  es  nicht  »einen  Generalfeldmarschall 
zum  Croupier«  gehabt,  sondern  »aus  eigenem  Triebe  für  den  schönen 
Absalom«"^  gesprochen  hätte,  statt  einer  Reise  nach  Pekim  unver* 
mutet  eine  Reise  »mit  verhülltem  Kopf  und  mit  Manschetten  an 

1  Auf  Roth  IV,  S.  82  bezüglich.  ~ 

*  Darunter  verstand  Hamann,  nach  Nicolais  Erläuterungen,  Herder. 

138 


den  Händen«  nach  —  Spandau  oder  Stettin  angetreten  haben.  Auch 
Nicolai  wisse  sehr  wohl,  daß  »unsere  besten  Streiter  im  Heere  der 
deutschen  Musenmänner  nicht  einmal  recht  öffentlich  ihre  Spieße 
und  Pfeile  führen  durften,  allein,  was  hülfe  es,  »daß  wir  beide  dies 
wissen  und  beklagen«?  So  müsse,  wie  der  deutsche  Plato^  »seidene 
Zeuge  webt«,  wie  »unser  Sophokles^  alte  Manuskripte  flickt«,  wie 
unser  Terenz  »Steuern  eintreibt«^,  auch  der  schöne  Absolom  in  die 
Fremde  ziehen*:  »alle  diese  Sachen  werden  Sie  und  ich  nicht  ändern«. 
»Wollen  Sie  sich  aber  nicht  warnen  lassen,  so  ziehe  ich  mich  zurück 
und  löse  den  Knoten  mit  einem  Hiebe.«  Freilich  wolle  er  edel  sein 
und  Hamann  sogar  königlich  belohnen :  wie  Augustus  einem  Poeten 
für  dessen  Dichtungen  eigene  Verse  geschenkt  habe,  wolle  auch  er, 
Nicolai,  Hamann  nicht  mit  Friedrichsd'ors,  sondern  mit  einem 
eigenen  Opus  aufwarten.  Und  noch  einen  speziellen  Wunsch  Ha* 
manns  wolle  er  damit  erfüllen:  Die  Auflösung  der  Frage,  warum 
Schriftsteller  den  Verleger  bald  als  überirdisches  W^esen,  bald  als 
Amanuensis^  betrachten.  —  Zweierlei  Hinweise  also  gibt  Nicolai 
auf  das,  was  er  speziell  Hamann  gegenüber  im  »Nothanker«  be* 
merkbar  machen  will:  die  Selbstdarstellung  im  Buchhändler  Hiero* 
nymus  und  die  Betonung  seines  Ideenkreises,  wie  er  im  »No* 
thanker«  zum  Ausdruck  gelangt;  sein  persönliches  Lebensgefühl, 
die  Auffassung  von  einem  tätigen,  dienenden  Leben  —  wie  wir  sie 
oben  darzustellen  suchten  —  im  Gegensatz  zu  Hamanns  —  von  Ni= 
colai  geglaubter  —  grillenhafter  Abseitigkeit  einerseits;  sodann  aber 
die  objektive  Verfestigung  seiner  Anschauungen  über  Welt  und 
Leben,  Theologie  und  Geschichte,  Glauben  und  Wissen,  Liebe  und 
Haß,  wie  sie  der  Roman  darstellt,  alles  im  Gegensatz  zu  Hamanns 
im  tiefsten  Grunde  irrationaler  Anschauungsweise.  Eine  Heraus* 
forderung  Hamanns  lag  Nicolai  fern  —  so  sehr  wir  auch  in  diesem 

'  Gemeint  ist  Moses  Mendelssohn,  der  die  Fabrik  seines  Schwiegervaters  betrieb. 
-  Lessings  Tätigkeit  in  Wolfenbüttel  gemeint. 

*  Chr.  F.Weiße,  der  Kreissteuereinnehmer  in  Leipzig  war. 

*  Herder  befand  sich  damals  auf  der  Reise  durch  Frankreich. 

*  In  den  Erläuterungen  bezieht  sich  Nicolai  auf  Hamanns  ShaftesburysZitat  im 
»Selbstgespräch«  (Roth  IV,  76,  Anm.  4),  wonach  der  Verleger  nur  der  »Ama* 
nuensis«  des  Autors  ist;  er  verweist  auf  s.  Sebaldus  Nothanker  I,  112  (gemeint 
ist  das  Gespräch  Seb.  Nothankers  mit  dem  Buchhändler  Hieronymus,  der  Ni; 
colais  Ideen  entwickelte). 

139 


Verfahren  eine  solche  sehen;  mit  der  Sicherheit  und  Bewußtheit 
eines,  der  in  jeder  Beziehung,  in  geistiger  wie  in  vitaler  und  sozialer 
Hinsicht,  festen  Grund  unter  den  Füßen  fühlt,  mit  der  Überlegen? 
heit  des  Freien  gegenüber  dem  vermeintlich  Unfreien  und  Un* 
sicheren,  tritt  Nicolai  hier  auf;  und  die  übermütige  Laune,  mit  der 
sein  Schriftchen  abgefaßt  ist,  sollte  nur  den  Menschen  Hamann  für 
das  entschädigen,  was  dem  Schriftsteller  und  Denker  von  Nicolai 
abgesprochen  wurde. 

Die  Übersendung  des  Nothanker  an  Hamann  verzögerte  sich  ein 
wenig.  Der  Ungeduldige,  der  erst  das  angekündigte  Xenion  ab* 
warten  muß,  ehe  er  urteilt,  dankt  inzwischen  Nicolai '^  für  die  einst* 
weilige  Antwort  und  mahnt  zur  pünktlichen  Übersendung  des 
»sauber  gedruckten,  mit  Kupferstichen  gezierten  Buches«;  »ob  fu* 
gam  vacui«  fügt  er  dort  freilich  einige  Anmerkungen  hinzu,  die 
Nicolais  Unfähigkeit  treffen  sollen,  den  Hamannschen  Stil  nach* 
zuahmen,  einen  Stil,  der  eben  mit  der  Persönlichkeit  des  Schreiben* 
den  innig  verwachsen  ist.  Am  26.  ApriP  sendet  ihm  Nicolai  den 
»Sebaldus  Nothanker«  mit  einer  Zuschrift,  in  der,  wie  aus  Ha- 
manns gleich  zu  erwähnendem  Antwortbriefe  hervorgeht^,  Nicolai 
ihr  Verhältnis  an  der  Fabel  vom  Fuchs  und  vom  Storch  verdeut* 
lichte.  Und  Hamann  dankt  in  einem  langen  Briefe  vom  7.  Juni  1773* 
für  das  »angenehme  Andenken  Ihrer  Freundschaft«.  Schon  in  diesem 
Briefe  ironisiert  Hamann  aber  den  Nicolaischen  Roman,  wenn  man 
seine  Worte  zu  deuten  weiß,  aufs  schärfste.  Er  spöttelt  über  die 
mangelnde  dichterische  Gestaltungskraft  Nicolais,  indem  er  auf  die 
plumpe  Naturtreue  hinweist,  mit  der  sich  der  Roman  auf  »geschrie* 
bene  Urkunden«  stütze  —  gemeint  ist,  neben  der  Anknüpfung  an 
Thümmels  »Wilhelmine«,  vor  allem  die  stark  realistische  Färbung 
des  Milieus,  die  stetige  Verweisung  auf  wirklich  vorhandene  Per* 
sonen  und  insbesondere  die  Zitate  aus  der  theologischen  Literatur; 
und  er  gibt  Nicolai*Mendelssohn  den  Rousseau  gegenüber  ge* 
äußerten  Vorwurf,  daß  der  Dichter  der  Neuen  Heloise  ihren  Glau* 
ben  an  seine  Darstellung  nicht  erzwungen  habe,  zurück:  er  sei 

'  Hamann  an  Nicolai  27.  III.  73  =  Hoffmann.  Vierteljahrschrift  I,  127ff. 

-  So  nach  Hamanns  Antwortbrief  v.  7.  VI.  73. 

^  H.  Weber,  Neue  Hamanniana,  S.  56. 

*  Jetzt  in  vollständiger  Fassung  bei  Weber,  a.  a.  O.  S.  54 ff. 

140 


»stock  und  ,Damm'  ungläubig«  gegenüber  diesen  geschriebenen 
Urkunden;  auch  eine  noch  so  realistische  Motivierung  vermag  die 
dichterische  Gestaltungskraft  nicht  zu  ersetzen.  Es  ist  also  Hohn, 
wenn  er  sagt,  daß  »der  poetische  Erfindungsgeist  des  Heraus* 
gebers«  »bei  der  flüssigen  Simplizität  des  historischen  und  rezita* 
tivischen  Stils  nur  desto  stärker  in  die  Augen  schimmert«.  —  Ebenso 
ironisch  weist  er  auf  die  triviale  Psychologie  hin,  mit  der  Sebaldus 
selbst  uns  nahe  gebracht  werden  soll,  nämlich,  daß  Nicolai  sich  zur 
Verlebendigung  dieses  »so  durchtriebenen  Crusianers  und  Benge* 
listen«  in  äußerer  Nachahmung  Sternes  des  »Steckenpferdes«  be* 
dient  —  nämlich  der  Liebhaberei  des  Magister  Sebaldus  für  die 
Apokalypse.  Die  Weitschweifigkeit  des  Romans  glossiert  Hamann 
mit  dem  scheinbar  ganz  nebensächlich  einfließenden  Hinweis,  daß 
er  seine  »Handschrift«  (die  »Philologischen  Einfälle  und  Zweifel«), 
sobald  er  Lust  dazu  habe,  »in  vier  KleinsOktavbänden^  auf  dem 
neuesten  Fuß  auszumünzen  imstande«  sei.  Das  aber  unterscheide 
seine  Autorschaft  von  derjenigen  Nicolais,  daß  er  »trotz  Cession 
und  Entäußerung«  dennoch  stets  »Eigentümer«  seiner  Werke 
bleibe. 

Diese  Standpunkte,  die  Hamann  ungeschminkter,  mit  größerei 
persönlicher  Schärfe  in  gleichzeitigen  Äußerungen  an  Herder"-  ver* 
trat,  sind  denn  auch  vornehmlich  in  seiner  Entgegnungsschrift  »An 
die  Hexe  zu  Kadmonbor.  Geschrieben  in  der  jungen  Fastnacht 
Berlin  1773«^  zum  Ausdruck  gebracht. 

Hamann  will  mit  seiner  Satire  vor  allem  den  Geist  treffen,  der 
sich  »das  heilige  Amt  der  Schlüssel . . .  über  alle  deutschen  Schrift* 
steller«  anmaßt,  der  die  »orphischen  Eier  wie  Skorpionen  und  Ba* 
silisken«  unter  seinen  Fersen  zertritt.  Die  persönliche  Liebenswürdig* 
keit  Nicolais  ist  ihm  letzthin  gleichgültig,  da  sich  der  Literator  ihm 
versagt  hat,  ja,  noch  mehr,  da  er  ihn  mit  einer  »Assignation«  von 
»Floccinaucipilinihilidoren«*  abgespeist  hat.  Hamann  haßt  das  von 

'  dem  Format  des  Nicolaischen  Romans. 

'-  Hamann  an  Herder  21.  VIII.  73  =  RothV,  42  3. 

'  Roth  IV,  169  ff. 

'  Eine  Zusammensetzung  der  Synonyma  floccus,  naucum,  pilus,  nihil  zurKenn= 

Zeichnung  der  Nichtigkeit  des  Nothanker  (so  nach  Roth  ^Wiener  8,  1,  S.  233  und 

Schwinger  S.  222,  Anm.  5). 

141 


Nicolai  vertretene  »Synedrium  der  neuen  und  deutschen  Literatur«. 
Er  weist  darauf  hin,  daß  der  —  von  ihm  empfundene  —  Dogmatis* 
mus  der  Aufklärung  eng  verwandt  ist  mit  dem  Dogmatismus  der 
Orthodoxie,  weshalb  Nothanker  sich  zu  Unrecht  über  den  Gewalt* 
Spruch  des  Konsistoriums  beklage:  die  »Meinungen,  die  hier  im 
Chorhemd  gehen,  haben  dort  Sebaldus  um  sein  Priesterkleid  ge* 
bracht«;  wie  der  orthodoxe  Dogmatiker,  so  lehrt  auch  der  neolo* 
gische  Aufklärer  den  Glauben  »aus  frostigen  Wörterbüchern«,  die 
»im  rechten  Ernst  nichts  als  Sammlungen  der  lustigsten  Wortspiele« 
sind.  Er  verabscheut  den  loyalen  Anstrich,  den  sich  dieser,  in  "Wahr* 
heit  intolerante  Geist  gibt,  der  sich  bemüht,  mit  dem  verabscheuten 
und  beiseite  gestoßenen  »irrenden  Konfucianer«  in  dessen  Sprache 
zu  sprechen.  Recht  deutlich  weist  er  darauf  hin,  daß  Nicolai  damit 
nur  sich  selbst  zu  Gefallen  sein  wolle,  darum  läßt  er  in  seinem 
Schriftchen  die  briefliche  Unterredung  Nicolais  mit  der  Hexe  sich 
plötzlich  in  ein  »Selbstgespräch«  verwandeln.  Die  ganze  Fabel  des 
Schriftchens  aber  deutet  darauf  hin,  daß  Hamann  Nicolai  nicht  jene 
Selbstsicherheit  glaubt,  von  der  Nicolai  dem  äußeren  Anschein  nach 
erfüllt  ist:  Nicolai  steht  vielmehr  nach  Hamanns  Darstellung  Ha* 
mann  so  gegenüber,  wie  ein  redlicher  Mann  einer  alten  Hexe,  mit 
der  er  sich  freilich  durch  »Ludovici*Kaufmanns*Lexiko«  nicht  ver* 
ständigen  kann;  ja  er  muß  plötzlich  entdecken,  daß  er  es  mit  einer 
»doppelgesichtigen  Alecto«  zu  tun  hat,  »zusammen  geantlitzet  mit 
einem  junonischen  Kalbsauge  und  einem  triefenden  Kautzäugelein«. 
Und  nun,  wo  er  »faule  Fische  riecht«,  verflucht  der  Händler,  der 
sich  in  Goldmacherhoffnungen  mit  der  »weisen  Frau«  eingelassen 
hat,  die  »vermaledeyte  Hexe«  recht  derb  und  entflieht  sich  bekreu* 
zigend.  Nicolai  ist  in  der  schwarzen  Kunst,  —  womit  Hamann  seine 
Denk*  und  Schreibweise  ironisch  versinnbildlicht  —  eben  doch  nur 
ein  Laie,  so  sehr  er  sich  auch  brüstet,  sie  zu  verstehen  und  zu  hand* 
haben.  Deshalb  weist  er  auch  immer  Nicolai  auf  dessen  eigenes  Ge* 
biet,  das  er  ihm  gewiß  nicht  streitig  machen  wolle,  und  dessen  Be* 
herrschung  Nicolai  ja  im  Sebaldus  Nothanker  so  vielseitig  und 
glänzend  erwiesen  habe.  Hamann  wiederholt  hier  jene  Anwürfe 
gegen  den  Roman  vom  ästhetischen  Gesichtspunkt,  der  ja  für  Ha* 
mann  zugleich  immer  den  allgemein  weltanschaulichen  erraten  läßt, 
die  wir  oben  aus  seinem  Brief  an  Herder  herausgehört  haben.  Er 

142 


macht  sich  lustig  über  dieses  »Meisterstück  einer  pragmatischen' 
Geschichte« ;  Nicolais  »statistische  Absicht«,  Nothankers  »Historie* 
graph«  zu  sein,  werde  ihm  bald  einen  Platz  neben  dem  deutschen 
Strabo  (Büsching)  anweisen.  Gern  gibt  er  zu,  daß  »die  stattlichsten 
Säulen  unserer  salomonischen  Halle  in  den  Sebaldischen  Legen* 
den  mehr  Erbauung  und  Seelenweide  finden  werden,  als  im  ganzen 
Buche  Ruth«  —  denn  diese  Säulen  dünken  ihm  schadhaft  wie  der 
ganze  Bau  des  Jahrhunderts.  — 

Nicolai  hatte  es  leicht  zu  antworten:  während  Hamann  in  bezug 
auf  die  »Hexe«  klagt,  es  sei  »kein  Amanuensis  in  ganz  Norden,  der 
dies  glühende  Eisen  anfassen  will«^  hat  Nicolai  für  seine  Duplik 
die  »Allgemeine  Deutsche  Bibliothek«  zu  seiner  Verfügung.  So  er- 
schien im  24,  Bande  derselben  (S.  287  ff.)  eine  unzweifelhaft  von 
Nicolai^  herrührende  Sammelrezension  Hamannscher  Schriften  — 
und  hier  gewinnt  Nicolais  Ablehnung  der  Hamannschen  Art  prin= 
zipielle  Bedeutung,  denn  zwischen  der  Schrift:  »An  den  Magum  im 
Norden«  und  dieser  Rezension  liegt  seine  Verfeindung  mit  Jung 
Stilling  und  Fr.  H.  Jacobi,  der  Bruch  mit  Herder,  die  ersten  Differenz 
zen  mit  Lavater.  Der  äußere  und  innere  Zusammenhang  Hamanns 
mit  ihnen  mußte  Nicolai  bekannt  sein.  Christian  Heinrich  Schmid 

'  Als  Antwort  auf  Mendelssohns  Tadel  gegen  Rousseau,  daß  er  mehr  spekulati« 
vische  als  pragmatische  Menschenkenntnis  habe,  s.  o. 
-  An  Herder  21.  VIII.  73  =  Roth  5,  43. 

^  Die  Rezension  ist  mit  Dh.  Hd.  unterzeichnet;  weder  Parthey,  noch  die  in  Ni= 
colais  Nachlaß  befindlichen  Zeichenbücher  erklären  dieses  Signum  oder  seine 
Teile.  Hamann  selbst  hat  für  diese  Rezension  Nicolais  Autorschaft  angenommen. 
(Vgl.  Roth  4,  292 f.  Die, Stelle  aus  Hamanns  Brief  an  Herder  vom  14.' VII.  75  = 
Roth  5,  159  oben  kann  nicht  dahin  geltend  gemacht  werden,  daß  Hamann 
zwei  Verfasser  für  diese  Rezension  angenommen  hat;  es  handelt  sich  hier  wohl 
um  eine  scherzhafte  Anknüpfung  Hamanns  an  das  zusammengesetzte  Signum. 
R  Unger  und  R.  Schwinger  nehmen  gleichfalls  Nicolais  Autorschaft  an.  Der  Stil 
der  Rezension  ist  für  Nicolai  durchaus  charakteristisch:  einzelne  bildhafte  Aus* 
drücke  sind  auch  sonst  mehrfach  bei  Nicolai  zu  belegen.  Vgl.  auch  Herder  an 
Hamann  25.  VIII.  75:  »Den  langen  Nickel,  Hd.  und  Dh.  halte  ich  alles  für  unum 
idemque.«  Da  aber  das  zusammengesetzte  Signum  nie  ohne  Grund  gebraucht  wird, 
muß  man  annehmen,  daß  Nicolai  eine  von  einem  anderen  Mitarbeiter  gelieferte 
Rezension  stark  überarbeitet  hat,  zumal  die  rein  theologischen  Erörterungen 
schwerlich  auf  Nicolai  allein  zurückgehen;  dieses  Gerüst  stammt  wahrscheinlich 
von  Eberhard,  der,  nach  seinem  im  Anhang  dieser  Untersuchung  wiedergegeben 
nen  Brief  auch  die  Hamann*Rezension  in  A  D  Bibl.  25,  1,  306  verfaßt  hat. 

143 


hatte  inzwischen  im  Teutschen  Mercur  (November  1774)  in  seinen 
»Kritischen  Nachrichten  vom  Zustande  des  Deutschen  Parnasses« 
die  »Sekte«  dargesteUt  und  organisiert,  deren  »Chef«  Hamann  sei: 
neben  Hamann  sei  Herder  das  Haupt:  Klopstock  nähere  sich  den 
Hamannianern,  ihm  folgten  die  Stollbergs  und  Claudius;  Goethe 
stehe  danach  mit  Hamann*Herder  in  engster  Verbindung,  Lenz  sei 
Goethes  Trabant,  Gerstenberg  und  Hippel  seien  dem  Kreise  eben* 
falls  nahe.  Die  Bekanntschaft  Nicolais  mit  diesem  Aufsatz  kann 
nicht  geradezu  nachgewiesen  werden.  Sicher  aber  hat  Merck,  der 
auf  seiner  Rückreise  von  Petersburg  und  Königsberg  Nicolai  in 
Berlin  aufgesucht  hat,  diesen  in  ähnlicher  Weise,  speziell  über  Ha* 
mans  Stellung  zu  Herder  und  die  Abhängigkeit  der  Jungen  von 
Hamann  unterrichtet;  ja  Hamann  vermutet  sogar,  daß  dieser  »Bei* 
letrist,  Virtuos  und  Scherenschleifer«^  »im  Finstern  Infamiam  . . .  in 
Berlin  (und  Darmstadt)  gesäet«-,  ihn,  wie  bei  dem  »treuherzigen 
Laienbruder«  in  Darmstadt  (bei  C.  F.  v.  Moser),  so  in  Berlin  bei 
Nicolai  diskreditiert  habe.  Die  scharfe  Tonart  der  Nicolaischen 
Rezension,  die  prinzipielle  Wendung  seiner  Ablehnung  Hamanns 
im  letzten  Teil  der  Rezension,  wie  schließlich  die  psychologische 
Fundierung  derselben  in  den  Eingangssätzen  sind  sicher  auf  solche 
Einflüsse  zurückzuführen,  denen  Nicolai  Hamann  gegenüber  seit 
der  Ablehnung  seines  Nothanker  recht  zugänglich  war. 

Die  Rezension  gilt  fünf  Hamannschen  Schriftchen:  der  »Beilage 
zu  den  Denkwürdigkeiten  des  seligen  Sokrates«^,  dem  »Selbstge* 
sprach  eines  Autors«,  der  »Neuen  Apologie  des  Buchstabens  H«*, 
der  »Hexe  zu  Kadmonbor«  und  der  »Lettre  perdue  d'un  Sauvage 
du  Nord«^;  auch  die  Nicolaische  Entgegnung  »An  den  Magum  im 
Norden«  ist  mit  einbezogen.  —  Nicolai  beginnt  mit  einer  psycho* 
logischen  Feststellung.  Wer  die  Dinge  um  sich  mit  gewöhnlichen 
Augen  ansehe,  betrachte  viele  Vorfälle  und  die  Veränderung  der 
Dinge  meist  gar  nicht  für  merkwürdig;  »wer  aber  beständig  seinen 
eigenen  Weg  sucht  und  dabei  in  sich  selbst  und  seine  Betrachtungen 
so  eingewickelt  ist,  daß  er  niemals  um  sich  herum  siehet  und  hö* 

'  Hamann  an  Herder  3.  IV.  74,  Roth  V,  62. 

-  Hamann  an  Herder  Ende  Mai  1774  =  0.  Hoffmann,  Herders  Briefe  an  Ha^ 

mann  S.  247  f. 

■■■  Roth  4,  97  ff".  *  Roth  4,  115  ff.   •  Roth  4.  149  ff. 

144 


ret, . . .  der  starrt  gemeiniglich  die  Gegenstände  . . .  wild  an«  und 
glaube,  »sie  wären  durch  eine  Art  Wunder  so  zusammengestellt«; 
sogleich  falle  er  in  seine  »Lieblingssünde,  die  Spekulation«  und 
schließe:  »post  hoc,  penes  hoc,  ergo  propter  hoc«.  So  sei  es  auch 
Hamann,  »einem  der  berühmtesten  Spekulanten  unserer  Zeit«  oft 
gegangen,  zumal  hier  in  der  »Beilage«  und  in  der  »Apologie«;  die 
Tatsachen,  daß  Eberhard  »alle  Heiden  seelig  wissen  wolle«  und 
daß  Damm  »in  seinen  Betrachtungen  über  die  Religion  selten  den 
Buchstaben  H.  schriebe«,  verknüpfe  er  ohne  weiteres  »nach  dem  (!) 
Lege  continui«.  Was  die  von  Hamann  hier  behauptete  enge  Ver* 
bindung  zwischen  Orthographie  und  Orthodoxie  betreffe,  so  wolle 
er,  Nicolai,  lieber  trennen:  die  »Aufklärung  der  Orthographie« 
könne  »aufhören«,  nicht  aber  die  »Aufklärung  der  Religion«.  Hier, 
in  der  »Aufklärung  der  Dogmatik  durch  die  Vernunft«  seien  keine 
»babylonischen Verwirrungen«  durch  die  Aufklärung  zu  befürchten, 
wie  sie  auch  durch  die  Reformation,  trotz  der  Weissagungen  der 
damaligen  Orthodoxen,  nicht  herbeigeführt  worden  seien.  Seinem 
Standpunkt  »die  Geschichte  trägt  der  Aufklärung  die  Fackel  vor« 
auch  hier  getreu,  weist  Nicolai  darauf  hin,  daß  die  dogmatischen 
Grundsätze,  wenn  sie  auch  zur  Zeit  ihrer  Annahme  notwendig  ge* 
wesen  sein  mögen,  doch  unter  veränderten  Verhältnissen  keinen 
Anspruch  auf  Gültigkeit  erheben  könnten.  Nach  der  scherzhaften 
Erörterung  der  Wichtigkeit,  die  unter  gewissen  Umständen  der 
Buchstabe  H,  haben  könne,  wendet  Nicolai  sich  sodann  wieder 
einer  prinzipiellen  Frage  zu:  ob  eine  Religion  ohne  willkürliche 
Grundsätze  —  wie  Hamann  behauptet  hatte ^  —  wirklich  ebenso 
beschaffen  sei,  wie  ein  »Backofen  von  Eis«,  oder  wie  Nicolai  dafür 
lieber  sagen  möchte,  »als  eine  Kälte,  mit  der  man  wärmen  wollte«. 
Wenn  Religion  für  die  Seele  das  sei,  was  für  den  Körper  eine  Magen« 
Stärkung  bedeute,  so  sei  Hamanns  Standpunkt  nur  einer  von  drei 
möglichen  Standpunkten;  wie  man  nun  eine  Magen  wärmung,  Ma* 
generhitzung  oder  Magenkühlung  als  Stärkungsmittel  anwenden 
könne,  so  sei  nicht  ausgemacht,  daß  das  Hamannsche  Mittel,  »fein 
warme  dogmatische  Suppen  . . .  recht  reichlich  zu  genießen«,  das  ein» 
zig  heilkräftige  sei.  Vielmehr  bedienten  andere  sich  anderer  Mittel: 
aber  »seit  einiger  Zeit  steht  eine  Gattung  feuriger  Jünglinge  auf,  die 
'  Roth  4, 131  ob. 

10  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  145 


Suppen,  so  wie  alles,  was  nicht  stark  ist,  äußerst  verachten«;  »um 
ihrem  Magen  die  Kraft  zu  geben,  die  vielen  harten  Speisen,  die  sie 
verschlucken,  zu  verdauen,  bedienen  sie  sich  hitziger  Getränke«; 
»sie  trinken  unablässig  Punsch,  Bischoff  und  Kardinal,  nebst  glühen- 
den Weinen  und  allen  Branntweinen  . . .  gewürzt  . . .  mit  dunkeln 
Gefühlen,  inbrünstigen  Empfindungen,  Weissagungen  und  Aus- 
sichten, ja  mit  Kabbala  und  Unsinn«  ^  Ihnen  gegenüber  habe  es 
aber  auch  immer  »vernünftige  Leute«  gegeben,  »welche  das  kalte 
Wasser  getrunken  haben,  kalt,  wie  es  aus  der  Mutter  Erde  kommt«, 
und  Tissot,  der  berühmte  Mediziner,  urteile,  daß  dies  die  auf  die 
Dauer  zuträglichste  Magenstärkung  sei,  zuträglicher  auch,  als  die 
»feinen,  warmen  Suppen«.  Damit  glaubt  er  Hamanns  Satz  wider* 
legt  zu  haben,  wie  er  ja  jede  Behauptung  für  widerlegt  hält,  wenn 
er  die  möglichen  abweichenden  Standpunkte  geltend  gemacht  hat.  — 
Nach  einer  kurzen  Erwähnung  des  »Selbstgesprächs«  und  seiner 
Antwort  »An  den  Magum«  ironisiert  Nicolai  die  »Lettre  perdue« 
mit  glücklicher  Laune,  insbesondere  da,  wo  er  Hamanns  Geheimnis« 
tuerei  wegen  der  mystischen  Ziffern  seiner  Hypothekenschuld  spöU 
tisch  abtut;  doch  darf  der  hierbei  fallenden  Bemerkung,  daß  Ha* 
mann  den  Sebaldus  Nothanker  nur  deshalb  so  scheel  ansehe,  weil 
er  gewisse  Züge  mit  Hamann  gemein  habe,  nicht  weiterreichende 
Bedeutung^  beigelegt  werden.  —  Von  der  »Hexe  zu  Kadmonbor« 
sagt  Nicolai,  er  könne  ihren  Inhalt  nicht  näher  bestimmen,  da  er 
sich  auf  Geisterbeschwörungen  nicht  verstehe;  im  übrigen  müsse 
er  es  den  Lesern  überlassen,  zu  urteilen,  ob  in  diesem  Schriftchen 
»convicium  oder  urbanitas  anzutreffen  sei,  oder  keines  von  bei* 
den«;  deutlich  weist  er  mit  diesen  Worten  —  freilich  die  Ab* 
sieht  des  Hamannschen  Mottos  mißverstehend  —  darauf  hin,  daß 
er  sich  in  der  »Hexe  zu  Kadmonbor«  nicht  als  Mensch  getroffen 
fühlt. 

Der  eigentlichen  Rezension  aber  folgen  Ausführungen,  die  un* 
zweifelhaft  machen,  daß  Nicolai  sich  nunmehr  über  Hamanns  Stel* 
lung  klar  war,  und  demgemäß  über  die  Stellung,  die  er  selbst  zu 

'  Deutliche  Hinweise  auf  Herder,  Goethe,  Lavater  (»Aussichten  in  die  Ewig* 
keit«)  und  Hamanns  »Rhapsodie  in  Kabbahstischer  Prosa«. 
*  etwa  in  dem  Sinne,  daß  Hamann  das  Vorbild  für  den  Sebaldus  abgegeben 
habe;  es  handelt  sich  hier  vielmehr  um  einen  nachträglichen  Scherz  Nicolais. 

146 


Hamann  einzunehmen  hatte.  Die  »Anmerkungen  über  undeutHche 
und  unverständHche  Schreibart«,  die  er  hier  macht,  sollen  »nix;ht 
Hrn.  Hamann  allein  a  ngehen,  sondern  manche  andere  Schriftsteller, 
die  uns  seit  einiger  Zeit  im  Übermute  ihres  Mutes  mit  Schriften  be* 
schenken,  bei  denen  der  Leser  nicht  selten  ausrufen  muß: 

.Wahrhaftig,  das  ist  schön! 

Der  Teufel  selbst  kann's  nicht  verstehn!'« 

Er  verdeutlicht  sein  Ideal  der  Darstellungs*  und  Schreibweise  an 
einem  Bilde;  »ein  Buch,  das  nützliche  Wahrheiten,  wo  nicht  neue 
Erfindungen  deutlich  vorträgt,  gleicht  einer  Sänfte,  in  der  uns 
verständige  Träger  nach  einem  bestimmten  Orte  tragen«;  »aber  ein 
Buch  . . .  das  vorsätzlich  unverständlich  ist .  . .  und  wenn  es  noch  so 
voll  von  den  stärksten  Flügen  der  Imagination  wäre,  ist  ebenso  be* 
schaffen,  wie  eine  Sänfte  ohne  Boden,  mit  der  euch  berauschte 
Träger  durch  dick  und  dünn,  über  Stock  und  Stein  schleppen«. 
Darum  dächten  verständige  Männer  über  solche  Bücher  so  wie  jener 
Bauer  über  die  Sänfte:  daß  das  Vergnügen  die  Mühen  und  Be* 
schwerlichkciten  nicht  wert  wäre.  — 

Die  höchst  nachdrückliche  Verwahrung,  die  Hamann  in  zum  Teil 
recht  beleidigender  Form  gegen  diese  Rezension  einlegte  \  insbeson* 
dere  gegen  die  Identifizierung  mit  der  von  Nicolai  gekennzeichneten 
Sekte,  aber  auch  gegen  die  Identifizierung  seiner  Person  mit  Ortho? 
doxen  wie  Goeze  und  Damm,  der  Hinweis  auf  die  enge  Verwandt* 
Schaft  zwischen  Orthodoxie  und  »gesunder  Vernunft«'^  haben  Ni* 
colai  in  seinem  Urteil  nicht  wankend  gemacht.  Er  hat  das  Schrift* 
chen  nur  von  der  humoristischen  Seite  aufgenommen,  wozu  ihm 
allerdings  die  bemerkenswerte  Grobheit  desselben  eine  Handhabe 
bot,  ohne  auf  die  darin  zutagetretenden,  für  Hamanns  Persönlich* 
keit  wieder  äußerst  wichtigen  Anschauungen  irgendwie  einzugehen  ^. 
Den  Briefwechsel  mit  Hamann  hat  er  freilich  fortgesetzt,  aber  äugen« 
scheinlich  weil  ihm  diese,  von  Nicolai  mehr  und  mehr  so  aufge* 
faßte  humoristische  Korrespondenz  rein  ästhetisches  Vergnügen 

'  »Zweifel  und  Einfälle  über  eine  vermischte  Nachricht  der  AUg.  Dtsch.  Biblio? 

thel*<  =  Roth  4,  289  ft. 

'  Roth  4,  325. 

^  Vgl.  s.  Brief  an  Hamann  vom  11.  X.  77  =  Vierteljahrschrift  I,  132ft. 

10*  147 


bereitete^;  er  wurde  darin  um  so  weniger  gestört,  als  die  folgenden 
Briefe  Hamanns^  sich  mehr  an  der  Oberfläche  hielten,  und  immer 
wunderlichere  Züge  Hamanns^  berichteten.  Die  Ablehnung  des 
Schriftstellers  Hamann  blieb  bestehen.  Nicolai  hat  mehrere  Jahre 
später,  wahrscheinlich  durch  Hamanns  —  gegen  Mendelssohns 
»Jerusalem«  gerichtete  —  Schrift  »Golgatha  und  Scheblimini«*  und 
durch  den  »Fliegenden  Brief  an  Niemand  den  Kundbaren« ^  mit 
dem  Hamann  sich  gegen  die  äußerst  abfällige  Rezension  von  »Gol* 
gatha  und  Scheblimini«  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek® 
zu  wehren  suchte,  in  seiner  Ablehnung  noch  bestärkt,  seiner  end* 
gültigen  Stellungnahme  zu  Hamann  in  scharfen  Worten  Ausdruck 
verliehen;  wir  dürfen  den  Sinn  dieser  Sätze,  die  Göckingk  mitge* 
teilt  hat",  obwohl  sie  erst  in  den  achtziger  Jahren  des  Jahrhunderts 
niedergeschrieben  sein  können,  doch  schon  für  die  vorangehenden 
Jahre,  für  die  Zeit  seit  der  »Hexe  zu  Kadmonbor«,  in  Anspruch 
nehmen.  In  diesen  Sätzen  erscheint  Hamann  als  der  von  Nicolai 
so  heftig  bekämpfte  Typus  des  Provinzialschriftstellers^,  der  sich 

'  Ähnlich  empfand  Hamann  etwa  gegenüber  Nicolais  »Feynem  kleynem  Alma; 

nach«,  den  er  »mit  unschuldiger  Freude«  liest,  und  der  ihm  »das  Gegengift  eines 

schwermütigen  Abends«  ist  (an  Nicolai  24.  XII.  76  =  Dorow  I,  123). 

=  Vom  18.  VIII.  76  =  Vierteljahrschrift  S.  130;  24.  XII.  76  =  Dorow  1,  123  und 

4.  V.  83  =  Vierteljahrschrift  S.  134  sind  uns  erhalten. 

'  So  sendet  er  im  Brief  vom  18.  VIII.  76  Nicolai  einen  Katalog  seiner  Bibliothek, 

dessen  Anfertigung  er  als  eine  wahre   Herkulesarbeit  hinstellt;  in  demselben 

Brief  bekennt  er,  daß  er  nicht  imstande  sei,  Ordnung  in  seinen  Angelegenheiten 

zu  halten,  obwohl  ihm  Unordnung  recht  verhaßt  sei;  oder  er  bekennt,  er  hätte 

bisweilen  Lust,  seine  3  Kinder  dem  Dessauer  Fhilanthropin  »zu  Experimenten 

zu  vermachen«  und  ähnliches  mehr. 

'  Roth  7.  17  ff. 

'  Roth  7,  71  ff. 

*  AUg.  Dtsch.  Bibliothek  63,  l,33ff.  Die  Rezension  ist  nicht  signiert;  Hamann 
vermutete  mit  Recht,  wie  R.  Unger  (S.  454)  meint  —  Eberhard  als  Verfasser;  in* 
dessen  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  Nicolai  die  Eberhardsche  Rezension  auf* 
gestutzt  hat,  da  sie  sich  auf  die  Polemik  Hamanns  mit  den  Literaturbriefen  bezieht, 
über  die  Eberhard  doch  wohl  nicht  genügend  unterrichtet  war;  an  den  mit  dieser 
HamannsRezension  verbundenen  Anzeigen  der  Predigten  Fr.  Zöllners  und  J.  H. 
Schulz  hatte  Nicolai  jedoch  sicher  keinen  Anteil. 

'  Göckingk  S.  129,30. 

*  Vgl.  dazu  Hamanns  Brief  an  Nicolai  vom  4.  III. 63  (Weber  S.  51)  über  die  »Kreuz= 
züge« :  »Der  Titel  dieser  ungezogenen  Sammlung  ist  ein  P  r  o  v  i  n  z  i  a  1  s  c  h  e  r  z«  usw. 

148 


um  die  großen  allgemeinen  Aufgaben  nicht  kümmert \  und  dem 
die  Schriftstellerei  nur  zur  Selbstbefriedigung  dient,  der  die  Autor* 
Schaft  im  Gegensatz  zu  Nicolais  auch  hier  sozialisierender  Denk* 
weise  für  eine  private  und  nur  private  Angelegenheit  hält.  Als  der 
sichtbarste  Ausdruck  einer  solchen  Auffassung  erschien  Nicolai 
die  mangelnde  Einstellung  der  Hamannschen  Schriften  auf  den  un; 
vorbereiteten  Leser,  ein  Mangel,  der  sich  in  der  allgemeinen  Form, 
wie  im  einzelnen  stilistischen  Ausdruck  zeigt.  Ganz  kalt  urteilt  Ni* 
colai  hier  über  »die  falsche  Originalität«  ab,  über  »die  Laune  voll 
Dunkelheit  einiger  herrlichen  Köpfe,  z.  B.  des  Verfassers  der  Kreuz* 
und  Querzüge«  (sic!)^;  »dieses  sonst  schätzbare  Buch  kann  kein 
Mensch  durchlesen,  der  seine  Zeit  liebt;«  Hamann  habe  »mehr  als 
einen  guten  Schriftsteller  verdorben«.  —  Die  Wandlung  in  der  Be* 
urteilung  Hamanns,  von  der  freudigen  Begrüßung  des  Abälardus 
Virbius  in  den  Literaturbriefen  bis  zu  diesem  kaltherzigen  allge* 
meinen  Absprechen,  zeigt  sich  auch  in  der  Rezension  von  Hamanns 
»Golgatha  und  Scheblimini«  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biblio* 
thek.  Die  Literaturbriefsteller,  heißt  es  da,  hätten  Nachsicht  ge* 
übt;  sie  hätten  angenommen,  daß  Hamann  scherze  und  wisse,  wo 
Scherz  hingehöre.  Allmählich  aber  sei  Hamann  statt  »launig  und 
kaustisch«  nur  »grillenhaft  und  beleidigend«  geworden ;  nun,  da  er 
seine  Grillen  auch  in  »subtile«  Dinge  mische,  müsse  man  sich  ener* 
gisch  von  ihm  abwenden.  »Mit  einem  solchen  Gegner  sich  einzu* 
lassen,  würde  ebenso  gefährlich  als  vergeblich  sein.«  So  wenig  diese 
Feststellung  auch  Hamann  objektiv  zu  charakterisieren  vermag  — 
stellte  sich  Hamanns  »Entwicklung«  in  Nicolais  Bewußtsein  nicht 
so  dar?  Den  Mittelpunkt  dieser  Wandlung  aber,  den  Punkt,  an  dem 
Nicolais  eigenes  Wesen  von  Hamann  in  Frage  gestellt  und  abgelehnt 
wurde,  notwendig  auch  die  erste  Ablehnung  Hamanns  durch  Nicolai 
in  sich  einschließend,  bezeichnet,  wir  wir  sahen,  die  gegen  den  »Se* 
baldus  Nothanker«  gerichtete  Satire  »An  die  Hexe  zu  Kadmonbor«. 

'  Vgl.  Hamanns  Äußerung  in  s.  Brief  an  Nie.  vom  21.  III.  62  =  Roth  3,  141,  er 
lebe  »als  ein  Fremdling«  im  Gebiet  der  zeitgenöss.  Literatur. 
'  Diese  Verwandlung  d.  Züge  »i.  Zeichen  d.  Kreuzes«  (Minor,  Hamann  S.  33)  in 
»Kreuzs  u.  Querzüge«  beruht  auf  einem  Gedächtnisirrtum  Nie.  und  ist  wohl  kein 
absichtlicher  Spott;  der  Irrtum  Nicolais  ist  jedoch  recht  bezeichnend.  Die  Deu^ 
tung  auf  Hippels  »Kreuz;  u.  Querzüge  des  Ritters  A  bis  Z«  ist  schon  wegen 
der  unmittelbar  folgenden  Namensnennung  Hamanns  ausgeschlossen. 

149 


JUNG  STILLING 

Der  Ablehnung  des  Sebaldus  Nothanker  durch  Hamann  im  Jahre 
1774  folgte  nach  dem  Erscheinen  des  zweiten  Bandes  des  Nicolai* 
sehen  Romans  Heinrich  Jung  Stillings  »Schleudereines  Hirten* 
knaben  gegen  den  hohnsprechenden  Philister  den  Verfasser  des 
Sebaldus  Nothanker«  im  Jahre  1775  —  gerade  noch  rechtzeitig 
genug,  um  Nicolai  auch  in  seiner  Ablehnung  Hamanns  zu  be* 
stärken.  Jung  Stillings  Zugehörigkeit  zur  »Hamann^Partei«  hatte 
Chr.  H.  Schmid  in  dem  erwähnten  Mercuraufsatz  hervorgehoben; 
zudem  wurde  Nicolai  über  Jung  Stillings  Zusammenhang  mit  den 
Jungen,  insbesondere  mit  Goethe,  durch  Bretschneider  und  einen 
Krefelder  Korrespondenten,  Engelbert  vom  Brück,  unterrichtet. 
Bretschneider  setzte  Nicolai  auseinander,  »wie  das  zusammenhängt, 
daß  der  Hirtenknabe  Jung  ein  Freund  Goethes  sein  kann«^  und 
beide  versichern  ihn  sogar,  daß  Goethe  Jung  Stilling  zur  Heraus* 
gäbe  der  »Schleuder«  ermuntert  habe-. 

Richard  Schwinger  ist  auf  diese  wie  die  folgenden  Schriften  Jung 
Stillings^,  sowie  auf  die  Entgegnungsschriften  aus  dem  Nicolaischen 
Kreise*  bereits  ausführlich  eingegangen^;  sie  mögen  daher  hier  nur 
kurz  berührt  werden. 

Jung  Stilling  geht  davon  aus,  daß  Nicolai  sich  der  »aufgeweckten 
Schreibart«  des  Romans  nur  bedient  habe,  weil  er  vorausgesehen 
habe,  daß  sein  »trockener  dogmatischer  Stil«  bei  den  deutschen 
Jünglingen  keinen  Beifall  finden  werde.  Demgemäß  hält  er  sich  auch 
nicht  lange  mit  einer  ästhetischen  Kritik  des  Romans  auf,  sondern 
tut  ihn  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  kurzerhand  als  »Lehrjungen* 

'  Bretschneider  an  Nicolai,  16.  X.  75  NN. 

^'  Bretschneider  an  Nicolai :  18.  IX.  und  25.  IX.  (NN)  und  E.  v.  Brück  15.  XI.  75 
(ebd.).  Auch  R.  Schwinger  (S.  238)  verzeichnet  diese  Tatsache.  —  Nicolai  gibt  diese 
Nachricht  übrigens  an  Merck  weiter  (28.  XII.  75  =  Wagner,  Briefe  an  Merck,  S.  80). 
"^  »Die  große  Panacee  wider  die  Krankheit  des  Religionszweifels«,  Frankfurt  1776 
und  die  »Theodicee  des  Hirtenknaben  als  Berichtigung  und  Verteidigung  des^ 
selben«,  Frankfurt  1776. 

*  Insbesondere  Engelbert  vom  Brucks  »Anmerkungen  über  die  Schleuder  eines 
Hirtenknaben  dem  verständigen  Publikum  zur  Einsicht  mitgeteilt«  (1776)  und 
»Abbitte  an  das  einsichtsvolle  Publikum  wegen  der  Anmerkungen  über  die 
Schleuder  eines  Hirtenknaben«  usw.  (1776). 
^  R.  Schwinger,  S.  233  ff. 

150 


arbeit«  ab.  Denn  der  vornehmste  Gegenstand  seiner  Kritik  ist  die 
religiöse  Grundlage  des  Romans,  den  er  als  Vorzeichen  des  Anti* 
Christ  betrachtet.  Insbesondere  tritt  Stilling  gegen  die  Verhöhnung 
des  Pietismus  auf,  wie  er  sie  im  Nothanker  sah:  Deismus  kann  er 
Nicolai  freiHch  nicht  geradezu  nachsagen,  aber  gerade  das  Schwan* 
keh  zwischen  echtem,  d.  h.  pietistischem  Christentum  und  deistischer 
Aufklärerei  wirft  er  Nicolai  vor;  wie  Lavater  gleichzeitig  Goethe 
vor  das  Dilemma  stellt:  »Entweder  Christ  —  oder  Atheist!«,  so  for* 
dert  Stilling:  »Wir  müssen  entweder  Christen  .  . .  oder  Deisten  sein ; 
diejenigen,  welche  zwischen  beiden  den  Mantel  nach  dem  Winde 
hängen,  sind  Nothankers«  (S.67).  Dieses  Schwanken  recht  eigentlich 
erscheint  ihm  als  der  Ausdruck  einer  im  Grunde  irreligiösen  Natur, 
wie  der  Nothanker  ihm  deshalb  religionsfeindlich  erscheint,  weil  er 
gegen  den  offenbarten  Glauben  lau  mache.  Vor  dem  höchsten  Tri* 
bunal  aber  gibt  es  eine  solche  Halbheit  nicht;  und  darum  wird  Ni* 
colai,  wenn  er  dereinst  vor  Gottes  Richterstuhl  gefordert  wird,  wo 
»keine  Berliner  Schule,  kein  schöngeisterisches  Tribunal«  mehr  ist, 
das  gestrenge  Urteil  hören  müssen:  »Weiche  von  mir.  Du  gehörst 
in  mein  Reich  nicht!«  —  Im  einzelnen  polemisiert  er  sodann  mit 
ätzender  Schärfe  gegen  einige  Wendungen  des  Nothanker,  die  ihm 
geeignet  scheinen,  das  Ansehen  der  Geistlichen  zu  schädigen,  und 
verdeutlicht  in  einer  zusammenfassenden,  an  symbolisierender 
Bibelhermeneutik  genährten  ParabeF  den  zersetzenden  Geist  des 
Romans.  Diese  Einzelpolemik  konnte  ihn  freilich,  wie  er  selbst 
befürchtet^,  in  eine  Reihe  mit  den  »Dumm#Orthodoxen«  stellen; 
daher  sieht  er  sich  genötigt,  in  der  »Panacee«  (s.  o.  S.  150,  Anm.  3) 
seine  religiösen  Überzeugungen,  und  in  der  »Theodicee«  im  spe: 
ziellen  die  gegen  seine  Nothanker^Abwehr  vorgebrachten  Be* 
schuldigungen  nochmals  zu  erweisen.  Bemerkenswert  mußte  für 
Nicolai  in  der  letzteren  Schrift  die  von  der  Erkenntnis,  daß  er  sich 
recht  gefährliche  Feinde  zugezogen  habe^,  veranlaßte  förmliche  Ab* 
bitte*  wegen  etwaiger  persönlicher  Beleidigungen  Nicolais  sein. 

^a.  a.  O.  S.91ff. 

-  »Heinrich  Stillings  häusliches  Leben«,  1789,  S.  95;  hier  zitiert  nach  R.  Schwin» 

ger,  S.  239. 

'  ebd. 

"*  »Theodicee«,  Vorwort  S.  Vlll. 

151 


Auch  hier  aber  forrauHert  StiHing  seinen  Standpunkt  äußerst  scharf, 
»daß  dieses  Buch  .  .  .  (sc.  der  Nothanker)  ein  der  Kirche  Christi 
und  der  wahren  Menschenverbesserung  zuwiderlaufendes  und  we* 
gen  seines  großen  Abganges  höchst  schädHches  Buch  sei«,  daß  der 
Roman  durch  seine  Forderung  der  Toleranz  in  Glaubensdingen  zur 
Gleichgültigkeit  verführe,  und  daß  er  die  »Verfeinerung  und  Ver« 
geistigung  der  Sinnlichkeit«  erstrebe,  der  »wahren  Menschenver* 
besserung«  aber  schade  —  viel  stärker  sogar  als  etwa  Wielands 
»Agathon«,  der  zwar  zur  »Wollust,  aber  auch  zur  Wiederkehr«  reize, 
während  der  Sebaldus  Nothanker  »Religionsspötter  die  Menge« 
»ohne  Hoffnung  der  Besserung«  erzeuge  S.  194). 

Was  wir  bei  allen  Hamannschen  Streitschriften  gegen  die  »Ber* 
liner«  erkannten,  daß  ihre  Tendenz  zwar  subjektiv  höchst  bedeu? 
tungsvoll  ist,  indessen  ihren  Gegenstand  objektiv  verfehlt,  läßt  sich 
auch  hier  feststellen.  Nicolais  Religiosität  war  keineswegs  bloß  er* 
kenntnismäßig  orientiert,  seine  Dogmenkritik  entsprang  nicht  einer 
irreligiösen  Überheblichkeit,  sondern  religiösem  Bedürfnis,  und 
speziell  in  den  Jahren  der  Entstehung  des  Nothanker  läßt  sich 
eine  stärkere  Hinneigung  zum  geschichtlichen  Christentum  bei  ihm 
nachweisen^;  dem  Pietismus  allerdings  stand  er,  wie  wir  schon  im 
ersten  Kapitel  dieser  Untersuchung  erkannten,  feindlich  gegenüber^. 
Von  dieser  Stellung  aus  wird  die  kühl  abwehrende  Rezension  ver* 
ständlich,  die  Nicolai  den  Stillingschen  Schriften  in  der  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek^  zuteil  werden  ließ.  Nicolai  glaubt  es  nicht 
nötig  zu  halben,  sich  gegen  die  Stillingschen  Angriffe  zu  verteidigen. 
Er  hält  es  vielmehr  für  unmöglich,  mit  Stilling  zu  streiten,  weil 
dieser  seinen  Roman  derart  ,willkürlich  verzerrt  habe.  Stilling  sei 
aber  um  so  weniger  zu  überzeugen,  als  er  ein  »Schwärmer«  sei,  bei 
dem  »die  Erleuchtung  des  inneren  Lichtes  . . .  immer  stärker  sein 
werde,  als  alle  Aufklärung  der  gesundenVernunft«.  Denn  inzwischen 
hat  Nicolai  an  Lavater  die  Erfahrung  gemacht,  daß  das  »innere 

'  Wie  auch  Nicolais  Gegensatz  zu  Bahrdt  als  der  des  historischen  Christentums 
zum  ungeschichtlichen  Standpunkt  Bahrdts  zu  erklären  ist:  vgl.  Aner  S.  103. 
-  Dementsprechend  deutet  Aner  (S.  78)  auch  seine  »Zurückhaltung  gegenüber 
der  Persönlichkeit  Jesu«  als  »Reaktion  gegen   die  Überschwenglichkeiten  des 
Pietismus«.  jp^ 

'  Anhang  zum  25.  36.  Bd  S.  879. 

152 


Licht«  sich  eben  nicht  ohne  weiteres  ausblasen  läßt;  wir  dürfen  an* 
nehmen,  daß  diese  spezielle  Erkenntnis  sich  auf  die  »Kraft*  und 
Wunderpartei«  im  allgemeinen  bezieht. 

Stilling  war  nach  diesen  Streitschriften  jedenfalls  für  Nicolai,  wie 
überhaupt  für  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  abgetan.  Höpfner 
suchte  Nicolai  für  Jung  Stillings  Jugendgeschichte  durch  einen  Ver* 
gleich  mit  Werthers  Leiden  einzunehmen^;  Nicolai  überging  diesen 
Vergleich,  fertigte  aber  die  Jugendgeschichte  mit  kurzen  Worten  ab -. 
Die  Rezension  derselben,  an  der  Höpfner  Anstoß  nahm^,  war 
ihm  freilich  ziemlich  unangenehm*;  sie  stand,  zusammen  mit  der* 
jenigen  der  Stillingschen  »Wanderjahre«  im  ersten  Stück  des  50.  Ban* 
des  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  (S.  204 ff.)  und  stammte 
von  Biester,  der  seinen  früheren  Göttinger  Freunden  unter  dem  Ein* 
fluß  Nicolais  immer  mehr  entglitt;  sie  war  ganz  im  Sinne  jener  Ni* 
colaischen  Rezension  gegen  den  pietistisch  *  mystischen  Zug  des 
Stillingschen  Buches  gerichtet.  Auch  eine  spätere  Rezension  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^  gegen  den  Stillingschen  Ro* 
man  »Geschichte  Florentins  von  Fahlendorn«,  vermutlich  von 
Rüling  verfaßt^,  ist  trotz  mancher  Anerkennung  im  einzelnen  ab* 
lehnend  gehalten  und  tadelt  besonders  heftig,  daß  Stilling  »Cha* 
raktere  aufstellt,  die  den  Glauben  an  uns  selbst  überspannen,  und 

'  An  Nicolai  20.  VII.  78  NN. 

-  Nicolai  an  Höpfner  21.  XII.  78.  Hs.  im  Hochstift,  Frankfurt. 

'  Höpfner  an  Nicolai  16.  XII.  78  NN. 

*  Zu  den  »verdrießlichen  Dingen«  gehöre  »die  Rezension  von  Stillings  Jugend, 
die  mir  sehr  unangenehm  ist,  unerachtet  sie  im  Grunde  wahr  und  richtig  ist«. 
»Nachdem  sie  abgedruckt  worden«  —  ohne  daß  er  sie  im  Manuskript  gesehen 
hätte  —  »schrieb  ich  dem  Rezensenten:  ich  wünschte,  daß  sie  gelinder  gewesen 
wäre,  weil  D.  Jung  mich  so  feindlich  angegriffen  habe,  und  man  glauben  könnte, 
ich  hätte  mich  dadurch  rächen  wollen,  wovon  ich  weit  entfernt  bin.  Aber  der 
Rezensent  hatte  nicht  einmal  gewußt,  daß  Jung  der  Verf.  war,  und  die  Rezension 
verteidigte  er  durch  solche  Gründe  und  Anführung  von  Stellen  aus  dem  Buche, 
daß  ich  nichts  dagegen  zu  sagen  wußte«.  »An  der  Rezension  habe  ich  keinen 
Anteil.  Soll  ich  den  Rezensenten  zwingen,  wider  seine  und  sogar  wider  meine 
Überzeugung  zu  reden?«  (An  Höpfner  21.X1I.78,  Hs.  im  Hochstift,  Frankfurt.) 

•  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  58,  1,  121  ff. 

'  Sie  ist  mit  deutschen  Buchstaben  »Mg«  unterzeichnet,  was  sich  bei  Parthey  und 
in  den  Zeichenbüchern  nicht  erklärt  findet;  »Mg«  mit  latein.  Buchstaben  ist 
V.  Rülings  Zeichen,  der  in  diesen  Jahren  mehrere  Rezensionen  zum  Artikel 
»schöne  Wissenschaften«  beigesteuert  hat. 

153 


so  einen  Enthusiasmus  anzündet,  der  am  Ende  nichts  als  Leere, 
tötende  Kleinmut  und  Ekel  des  Lebens  zurückläßt«.  Wenn  Stilling 
aber  »das  Zehrungsfieber  der  Empfindelei«  bekämpfen  wolle,  so 
komme  er  zu  spät;  »seit  10 Jahren«  habe  man  so  »Öl  ins  Feuer«  ge= 
gössen  —  ein  deutlicher  Hinweis  darauf,  wie  sehr  ihn  die  Allgemeine 
Deutsche  Bibliothek  zur  »Wertherpartei«  rechnete.  — 


FR.  H.  JACOBI 

Am  Sebaldus  Nothanker  entzündete  sich  auch  die  Feindschaft 
Friedrich  Heinrich  Jacobis,  Wenn  diese  sich  auch  zunächst  nicht  in 
öffentlicher  Fehde  geäußert  hat,  wie  Jung  Stillings  Ablehnung,  so 
hat  sie  doch  dazu  beigetragen,  Nicolai  zu  isolieren.  Fr.  H.  Jacobis 
Einfluß  ist  es  zuzuschreiben,  wenn  die  Halberstädter,  wenn  be* 
sonders  Wieland  sich  von  Nicolai  abwandten,  und  dieser  letztere 
Nicolai  in  einen  literarischen  Streit  verwickelte,  in  dem  die  Jungen 
schadenfroh  Wielands  Partei  nahmen.  Ja,  er  schürte  Goethes  Haß 
gegen  Nicolai,  reizte  Voß  zur  Fortsetzung  seiner  »Verhöre«  Nicolais 
und  mischte  sich  in  die  Streitigkeiten  Nicolais  und  Lavaters^.  Es 
zeigt  sich  hier  wiederum,  daß  der  äußere,  ereignismäßige  Verlauf 
Nicolais  Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  beeinflußt  hat;  theore* 
tische  Erwägungen  könnten  vermuten  lassen,  daß  die  böse  Kari* 
kierung  Johann  Georg  Jacobis  im  »Sebaldus  Nothanker«,  die  seinen 
Bruder  Friedrich  Heinrich  zur  Bekämpfung  des  Romans  eigentlich 
veranlaßten,  Nicolai  und  den  Sturm  und  Drang,  wegen  der  beiden 
gemeinsamen  Ablehnung  des  süßlichen  Anakreontikers"  sich  hätten 
einander  nähern  lassen;  das  gerade  Gegenteil  aber  war  der  Fall. 

'  Vgl.  Felix  V.  Kozlowski,  »Zum  Verhältnis  zwischen  Fr.  H.  Jacobi,  Wieland, 
Nicolai«  Euphorien  XIV,  38 ff.;  Wilhelm  Herbst.  »Joh.  Heinrich  Voß«,  S.  243f. 
-  Über  die  Ablehnung  Johann  Georgjacobis  durch  die  Stürmer  vgl.  etwa  Goethes 
im  Herbst  1772  entstandene,  nicht  erhaltene  Posse  »Das  Unglück  der  Jacobis« 
(dazuWeim.  Ausg.  38,  S.  420f.;  Biedermann,  Goethes  Gespräche  I,  S.  29ft.  undV, 
8  f.),  und  die  etwas  spätere  Goethesche  Rezension  in  den  Frankf.  Gel.  Anz.  von 
1772  (S.  670  des  Neudrucks  D.  L.  D.  7  8);  ferner  satirische  Hinweise  im  »Jahres= 
marktsfest  zu  Plundersweilen«  (vgl.  W.  Scherer,  D.  L.  D.  7,8,  S.  XLVf.),  Goethe 
an  Kestner  März  1774;  Schubart,  Deutsche  Chronik  1774,  I,  S.  142;  H.L.Wagner 
in  »Prometheus,  Deukalion  u.  s.  Rezensenten«.  Nicolai  stichelt  noch  im  Feynen 
kl.  Almanach  gegen  Joh.  G.  Jacobis  »Iris«  (vgl.  EUingers  Neudruck  S.  XVII, 

154 


Die  Karikatur  J.  G.  Jacobis  in  der  Figur  des  empfindsam  tändeln* 
den  Säugling  im  Sebaldus  Nothanker  wurde  von  Friedr.  H.  Jacobi 
sofort  erkannt ;  die  Beleidigung  seines  Bruders  mußte  gerächt  werden, 
und  Fritz  Jacobi  erhoffte  von  Wielands  Seite  hier  tatkräftige  Unter* 
Stützung.  Wieland  aber  veröffentlichte  im  Gegensatz  zu  Jacobis 
Hoffnungen  jene  schon  oben  (S.  106)  erwähnte  lobende  Rezension 
des  Sebaldus  Nothanker,  die  Jacobi  nur  noch  mehr  in  Harnisch 
brachte.  Wielands  Entschuldigungen^  überhörte  er,  glossierte  viel* 
mehr  in  einem  Brief  an  Gleim^  Wielands  Verhalten  als  zweideutig 
und  der  bis  dahin  gepflogenen  Freundschaft  geradezu  ins  Gesicht 
schlagend.  Gleim,  wie  überhaupt  die  Halberstädter,  waren  nun 
schon  ohnehin  durch  das  Verhalten  Wielands  gegen  Heinse,  ins* 
besondere  sein  absprechendes  Urtei4  gegen  dessen  Fetron*Über* 
Setzung  gereizt^.  Als  daher  Gleim  seinen  Freunden  vorschlägt,  sich 
ein  »Wintervergnügen«  zu  machen  und  eine  Sammlung  von  Epi* 
grammen  gewissermaßen  als  Bundesumlage  zu  veranstalten,  in  denen 

Anm.  2),  wie  er  auch  in  einem  Epigramm,  das  im  Göttingischen  Musenalmanach 
von  1772  erschien,  Jacobi  recht  arg  mitnahm  (vgl.  hierüber  auch  s.  Brief  vom 
14.  VIII.  72  an  Joh. Georg  Zimmermann  =  Ed.Bodemann,  »Joh.S.Zimmermann«- 
S.  502).  \gl.  ferner  die  vorangegangene  abfällige  Besprechung  von  Jacobis  »Som= 
merreise«  und  »Winterreise«  in  der  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  XI,  2,  169 ff.  Daß 
die  Charakterisierung  Joh.  G.  Jacobis  im  Nothanker  den  Zeitgenossen  sehr  ein* 
leuchtete,  beweist  z.  B.  die  Tatsache,  daß  die  Rezension  einer  Wertherparodie 
(»Leiden  des  jungen  Franken,  eines  Genies«,  Minden  1777  =  Appell  S.  178)  im 
Berliner  Literar.  Wochenblatt  vom  4.  V.  77  »Säugling«  als  Typ  des  süßlich=weich* 
liehen  Gecken  bei  ihren  Lesern  als  bekannt  voraussetzen  durfte;  schon  hieraus 
sieht  m.an  übrigens,  wie  sehr  dieser  erste  Nicolaische  Angriff  in  den  späteren 
Wertherstreit  hinüber  wirkte.  Vgl.  auch  Voß  an  Ernestine  16.  V.73  (=  Briefe  von 
und  an  Voß  ed.  Abraham  Voß  1,  212),  der  »Säugling«  =  Jacobi  ebenfalls  als  Typ 
des  süßlichen  Gecken  annimmt  und  weitergibt. 

^  Wicland  an  Fr.  Jacobi  16.  VII.  73  =  »Fr.  H.  Jacobis  auserles.  Briefwechsel«  ed. 
F.  Roth,  Leipzig  1825  1,  116ff.  Wieland  beteuert  dort,  daß  er  die  Satire  gegen  Joh. 
Georg  nicht  bemerkt  habe  (!);  in  s.  Brief  vom  14.  VIII  73  (ebenda  S.  133f.)  urteilt 
er,  daß  die  Figur  des  Säuglings  »kein  Pasquill«,  »ja  kaum  eine  PersonaUSatire» 
darstelle;  vgl.  aber  die  im  Anhang  wiedergegebene  Stelle  aus  Boies  Brief  an 
Nicolai  vom  14.  IX.  73,  wo  Boie  mitteilt,  Wieland  habe  die  Gleichung  Säugling* 
Jacobi  sehr  wohl  bemerkt. 

*  Fr.  H.  Jacobi  an  Gleim  6.  VIII.  73,  mitgeteilt  von  Felix  v.  Kozlowski  Eupho* 
rion  XIV,  38  ff. 

'  Vgl.  H.  Proehle,  »Die  Büchse«  =  Schnorrs  Archiv  für  Literaturgeschichte  IV 
3  23  ff. 

155 


über  »Kritiker  und  Journalisten«  zu  Gericht  gesessen  werden  sollte, 
muß  Wieland  arg  herhalten.  Das  Bezeichnende  aber  —  und  in  unse* 
rem  Zusammenhange  Merkwürdige  —  ist,  daß  hier  weit  schärfer  als 
gegen  Wieland  von  den  Bundesdichtern  gegen  Nicolai  Stellung  ge» 
nommen  wurde.  In  den  Epigrammen,  die  H.  Proehle  aus  dieser 
Halberstädter  »Büchse«  mitteilt,  finden  sich  weit  zahlreichere 
und  schärfere  Glossen  gegen  Nicolai,  als  gegen  die  anderen  hier 
mitgenommenen  Kritiker^;  zumal  der  Sebaldus  Nothanker  wird 
immer  wieder  zum  Gegenstand  des  Spottes  gemacht,  daneben  haupt« 
sächlich  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  und  Nicolais  eigene 
Person.  Ob  Nicolai  etwas  von  der  »Büchse«  als  solcher  bekannt 
wurde,  kann  nicht  ausgemacht  werden,  wenngleich  es  immerhin 
wahrscheinlich  ist,  daß  ihm  Einzelheiten  bekannt  wurden,  wie  er 
auch  z.  B.  Kästners  Epigramm,  mit  dem  dieser  nach  Herders  Aus* 
druck^  »Sebald  angestochen«,  von  Gülcher  und  dem  Allerwelts* 
freund  Bretschneider  zu  hören  bekam  ^;  ebenso  wahrscheinlich  ist, 
daß  Wieland  von  diesen  Angriffen  etwas  vernahm.  In  jedem 
Falle  zeigte  Nicolais  bald  darauf  erscheinende  Rezension  von  Wie= 
lands  »Teutschem  Mercur«  *  das  Bewußtsein  der  Zusammengehörig? 
keit  mit  Wieland  gegen  gemeinsame  Gegensätze,  wie  denn  auch  bei* 
spielsweise  Herder  sich  schon  kurz  vorher  gelegentlich  Nicolais 
Besuch  bei  Wieland  in  Weimar  (1773)  zu  Hamann  dahin  geäußert 
hatte,  daß  »die  Sprosse  der  toten  Wurzel  aus  Berlin,  Hr.  Fr.  Nicolai, 
mit  der  Weide  an  den  Wasserplätzen  Weimars«  zusammengehöre^. 

*  Weiße,  Unzer,  Mauvillon,  Sturz,  Raspe  u.  a. 

=  Herder  an  Hamann  29.  VII.  75  =  O.  Hoffmann  S.  105. 

^  Gülcher  an  Nicolai  15.  VIII.  75  u.  Bretschneider  8.  III.  76,  was  schon  R.  Schwing 

ger  S.  211  erwähnt. 

*  AUg.  Dtsch.  Bibliothek  21,  1,  300ff.  Die  Rezension  ist  mit  Kf  unterzeichnet, 
was  Parthey  und  das  Original  der  Zeichenbücher  nicht  erklären.  Nicolais  Autors 
Schaft  ist  aber  durch  seine  Notiz  (Göckingk  S.  55)  belegt,  daß  Wieland  durch 
eine  Rezension  seiner  Alceste  und  dadurch  erbittert  gewesen  sei,  »daß  ich  (Ni= 
colai)  über  den  Mercur  mit  einer  feinen  Wendung  (!)  meine  Meinung  gesagt 
hatte«.  Die  »feine  Wendung«  besteht  in  der  Parabel  von  den  samischen  Ge= 
fäikn,  die  bisweilen  recht  viel  größer  waren,  als  die  darin  versandten  Wein= 
krüge,  und  deshalb  mit  »Moos  und  Sand«  ausgefüllt  wurden.  Die  Klage,  daf^ 
Wieland  seinen  Mercur  mit  zu  viel  Ballast  beschwere,  wurde  übrigens  häufiger 
gehört. 

*  Herder  an  Hamann  25.  III.  75  =  O.  Hoffmann  a.  a.  O.  S.  94. 

156 


In  dieser  Rezension,  in  der  Nicolai  sich  nochmals  gegen  Joh.  Georg 
Jacobi  wendet',  findet  sich  der  gemeinsame  Gegensatz  recht  scharf 
angedeutet.  Wieland,  meint  Nicolai,  schreibe  nicht  für  den  »Bürger 
von  Güstrow",  den  Ramlers  Oden  anstinken«,  nicht  für  den  »Ein* 
wohner  Wandsbecks;^  oder  Sachsenhausens*,  der  nur  liebt,  Barden? 
getön  von  den  Bergen  weicher  tönen  zu  hören  und  der  Prose  und 
Verse  für  Spreu  hält,  wenn  sie  nicht  kühnen  Wurfs  Metaphern  und 
Kraftsprüche  unter  didaktischeLehrsätze  und  harte  Konstruktionen, 
und  deutsche  Männlichkeit  unter  Schlemperlieder  werfen,  und  der 
sich  freut,  daß  die  Krankheit  von  Helikonsberge  wie  ein  epidemi* 
sches  Nervenfieber  um  sich  greift  und  einen  Jüngling  nach  dem 
andern  überwältigt«;  ebensowenig  aber  könne  Wieland  mehr  für 
den  »Freund  Halberstadts,  der  mit  den  sieben  Poeten  freundschaft* 
lieh  sympathisiert,  die  Lieder  für  das  Volk  singt«  usw.,  seinen  Mer* 
cur  schreiben;  er  schreibe  ihn  also  »für  sich  und  seine  Freunde«.  Um 
so  schmerzlicher  mußte  Nicolai  dann  von  der  ein  Jahr  später  er* 
folgenden,  schon  erwähnten  Absage  Wielands  berührt  werden; 
\X'ieland  versagte  gerade  dort  seine  Gefolgschaft,  wo  Nicolai  sie 
am  stärksten  erhofft  hatte,  im  Kampf  gegen  die  Jungen;  denn  in* 
dem  er  der  Anzeige  der  Nicolaischen  »Freuden  Werthers«  jenen 
heftigen  Angriff  gegen  Nicolai  anfügte,  der  eine  öffentliche  Fehde 
beider  zur  Folge  hatte,  sah  sich  Nicolai  gerade  hier  isoliert;  und 
Wieland  zerschnitt  nicht  nur  die  Fäden  ihres  zukünftigen  Ver* 
hältnisses,  sondern  suchte  mit  den  Worten:  »Hr.  N.  ist  nie  mein 
Freund  gewesen«,  seiner  Absage  auch  rückwirkende  Kraft  zu  ver* 
leihen^. 

Das  direkte  persönlich  *  literarische  Verhältnis  Nicolais  und 
Fr.  H.Jacobis  ist  ein  wenig  beziehungs*  und  aufschlußreiches  Ka= 
pitel.  Äußerungen  Nicolais  über  Fr.  H.Jacobis  Romane  sind  mir 
nicht  bekannt  geworden.  Die  drei  Briefe  Fritz  Jacobis,  die  sich  in 

'  Nicolai  findet,  dai^  selbst  dessen  von  Wieland  als  schönstes  Stück  gepriesenes 

»Charmides  und  Theone«  noch  recht  weichlich  und  empfindsam  ist. 

-  Joh.  H.Voß  gemeint? 

^  Natürlich  iMathias  Claudius. 

*  Die  Mitarbeiter  der  Frankf.  Gel.  Anz. 

*  Über  den  an  diesen  Angriff  sich  anschließenden  Streit  vgl.  die  Darstellung 
L.  Geigers.  »Wieland  und  Nicolai«  —  »Im  neuen  Reich«  1881,  2,  417ff.,  vgl.  auch 
oben  S.  60. 

157 


Nicolais  Nachlaß  befinden  \  sind  fremd  und  korrekt  geschriebene 
Literatenbriefe  ohne  Bedeutung;  höchstens  der  erste,  der  Nicolai 
Jacobis  enge  Beziehungen  zu  Wieland  erraten  ließ^,  ist  von  einigem 
Interesse;  Nicolai  hat  ihn,  wie  aus  seiner  Notiz  auf  der  Rückseite 
hervorgeht,  mit  der  Übersendung  eines  Bandes  der  Bibliothek  und 
des  Sebaldus  Nothanker  beantwortet.  Jacobi  hat  dafür  später  die 
Pränumeration  für  zwei  Nicolaische  Verlagswerke^  übernommen, 
aber  die  eingesammelten  Gelder  Nicolai  zu  übersenden  verabsäumt; 
einen  Mahnbrief  Nicolais  beantwortet  er  mit  Entschuldigungen 
und  dem  Versprechen,  Nicolai  in  Berlin  aufzusuchen;  ob  es  das  ge« 
tan  hat,  ließ  sich  nicht  feststellen.  Erwähnt  sei  hier  noch,  daßFr.Ja* 
cobis  Bild  vor  dem  54.  Band  der  Allgemeinen  Deutschen  Biblio= 
thek  stand;  Nicolai  hatte  die  Vorlage  für  den  Kupferstecher  durch 
Vermittelung  Justus  Mosers  erhalten*.  Der  letzte  Briefwechsel  Ni* 
colais  mit  Fr.  H.  Jacobi,  aus  dem  R.  Zoeppritz  ein  für  Nicolai  un* 
gemein  charakteristisches  Bruchstück  aus  Nicolais  Nachlaß  ver? 
öffentlicht  hat^,  ist  nur  im  Zusammenhang  der  ganzen  theologischen 
Streitigkeiten  der  späteren  achtziger  Jahre  verständlich,  auf  die  hier 
jedoch  nicht  eingegangen  werden  kann. 


NICOLAI  UND  HERDER 

Die  Ablehnung  des  »Sebaldus  Nothanker«  durch  Hamann,  Jung 
Stilling,  Fr.  H.  Jacobi  hat,  wie  wir  sahen,  eine  Kluft  zwischen  der 
Geniepartei  und  Nicolai  geschaffen,  und  sein  subjektives  Verhält* 
nis  zum  Sturm  und  Drang  arg  erschüttert.  Diese  Erschütterung  al* 
lein  würde  jedoch  bei  der  dem  Kompromiß  geneigten  Art  Nicolais 

'  Sie  sind  vom  3.  IV.  73  aus  Aachen,  vom  27.  III. 78  und  9. VI. 80  aus  Düsseldorf 

datiert. 

-  Fr.  H.  Jacobi  bittet  Nicolai,  auch  seinerseits  zu  verhindern,  dal^Wielands  Agas 

thon  durch  dessen  Verleger  zu  einem  niedrigeren  Preis  als  dem  Pränumerations- 

preis  in  den  Buchhandel  gelangt. 

'  Die  Übersetzung  von  Amorys  »life  of  John  Bunde«  und  das  »Technologische 

Wörterbuch«  von  J.  K.  G.  Jacobsen. 

*  Vgl.  Justus  Moser  an  Nicolai,  Brief  aus  dem  Jahre  1782  (ohne  Datum),  Mit- 
teilungen des  Vereins  für  Geschichte  und  Landeskunde  von  Osnabrück.  Neue 
Folge.  31,  255  ff. 

*  »Aus  Fr.  H.  Jacobis  Nachlaß«,  hrsg.  von  R.  Zoeppritz,  Leipzig  1869,  I,  97 ff. 

158 


nicht  die  in  ihm  ruhenden  Widerstände  zu  jener  konsequenten  und 
hartnäckigen  Bekämpfung  des  Sturms  und  Drangs  sich  haben  ent* 
falten  lassen,  wie  sie  aus  den  Darstellungen  bekannt  ist.  Die  Ab« 
lehnung  Hamanns  beschwerte  Nicolai  wegen  ihrer  grotesken  Form 
nicht  allzusehr,  und  seine  Gegenwehr  hätte  sich  auch  ohne  tief* 
gehende  prinzipielle  Auseinandersetzung  aus  dem  vorangegangenen 
persönlich^literarischen  Verhältnis  ergeben  können;  Jung  Stillings 
Ablehnung  hätte  von  Nicolai  als  natürliche  Reaktion  gegen  den 
pietismusfeindlichen  Standpunkt  des  Nothanker  aufgefaßt  und 
somit  relativ  leicht  abgetan  werden  können,  wenn  nicht,  was  wir 
schon  oben  andeuteten,  wichtige  andere  Faktoren  mitgewirkt 
hätten;  Friedrich  H.Jacobis  Ablehnung  endlich  ist  Nicolai  mög* 
licherweise  erst  später,  und  natürlich  nur  auf  indirektem  Wege 
bekannt  geworden,  und  hat  daher,  so  wichtig  sie  für  das  objektive 
Verhältnis  Nicolais  zum  Sturm  und  Drang  ist,  auf  das  subjektive 
Verhältnis  keinen  Einfluß  haben  können. 

Unter  den  Faktoren,  die  sich  hier  einschoben,  steht  an  erster  Stelle 
die  scheinbar  unvermittelte,  und,  wie  wir  sehen  werden,  Nicolai 
zunächst  unverständliche  Absage  Herders  an  Nicolai,  die  im  Som« 
mer  1774  einem  achtjährigen  freundschaftlichen  Briefverkehr  ein 
Ende  setzte.  An  dieser  Stelle  traten  in  jeder  Beziehung  äußerst 
scharfe  prinzipielle  Gegensätze  auf,  deren  Bedingungen  auf  Herders 
Seite  sich  natürlich  erst  allmählich  gebildet  und  gefestigt  hatten.  Es 
ist  daher  notwendig,  einen  kurzen  Blick  auf  die  Entwicklung  und 
Gestaltung  der  Beziehungen  zu  werfen,  die  beide  Männer  durch 
acht  Jahre  hindurch  miteinander  verknüpft  hatten. 

Die  äußere  Erbschaft  der  Literaturbriefe,  urteilt  Rudolph  Haym\ 
trat  im  Jahre  1766  Nicolais  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek,  ihr 
geistiges  Erbe  Herder  mit  seinen  »Fragmenten  über  die  neuere 
deutsche  Literatur«  an.  Dort  ein  mit  allen  äußeren  Voraussetzungen 
begabtes,  groß  angelegtes  LTnternehmen;  hier  das  Erstlingswerk 
eines  Unbekannten,  abseits  vom  großen  literarischen  Betriebe  ent* 
standen,  und  doch,  trotz  der  Anonymität  des  Autors,  seinen  Namen 
bald  von  Mund  zu  Mund  führend.  Niemand,  von  den  persönlichen 
Freunden  abgesehen,  konnte  den  Fragmenten  regeres  Interesse  ent* 
gegenbringen  als  die  Literaturbriefsteller,  und  unter  ihnen  besonders 
'  Rud.  Haym,  »Herder  nach  seinem  Leben  und  seinenWerken<'.  Berlin  1 880. 1,  S.  1 23. 

159 


Nicolai,  der  in  der  Anfangszeit  der  Allgemeinen  Deutschen  Biblio* 
thek  eifrig  nach  allen  begabten,  selbständigen  Köpfen  Ausschau 
hielt.  Merck  witzelt  einmal,  als  er  von  der  zwischen  Nicolai  und 
Herder  geschlossenen  literarischen  Verbindung  hört:  »Es  scheint 
jetzo  die  verkehrte  Welt  zu  sein;  das  Brod  geht  nach  Genie,  und 
nicht  das  Genie  nach  Brod\«  Er  hat  damit  einen  für  den  Charakter 
beider  Männer  recht  bemerkenswerten  Zug  hervorgehoben. 

Am  19.  XI.  66  sendet  Nicolai  »An  den  Verfasser  der  Fragmente 
über  die  neuere  deutsche  Literatur«^  durch  Vermittlung  von  dessen 
Verleger  Hartknoch  einen  Brief,  in  dem  er  Herder  recht  Schmeichele 
haftes  über  die  Fragmente  sagt;  die  Literaturbriefsteller  seien  er* 
staunt  über  die  »Belesenheit«  des  Verfassers  in  den  Literaturbriefen ; 
sie  seien,  wie  erklärlich,  nicht  in  allen  Stücken  seiner  Meinung,  hätten 
aber  »das  reinste  Vergnügen«  über  die  Gedanken  eines  so  »einsichts* 
vollen  Mannes«  empfunden.  Er  stellt  sodann  einige  unwesentliche 
Irrtümer  des  Fragmentisten  nebenher  richtig  und  hebt  einen  Haupt* 
mangel  der  Herderschen  Kritik  an  den  Literaturbriefen  hervor,  in* 
dem  er  daraufhinweist,  daß  Herder  öfters  Stellen  aus  verschiedenen 
Briefen  und  von  verschiedenen  Verfassern  seinen  Bedürfnissen  ge* 
maß  zusammenschiebe,  so  daß  bisweilen  der  Zusammenhang  fehle. 
Er  sieht  in  Herder  —  für  unser  heutiges  Empfinden,  das  von  vorne* 
herein  auf  die  tiefgehenden  Unterschiede  der  Auffassungsweise  in 
Literaturbriefen  und  Fragmenten  eingestellt  ist,  schwer  verständlich 

—  einzig  den  Jünger  der  Literaturbriefe,  gerade  zu  der  Zeit  eine 
willkommene  Ergänzung  des  Kreises,  als  durch  Thomas  Abbts  Tod 
eine  Lücke  gerissen  war'^.  Was  ist  natürlicher,  als  daß  er  diesen  be* 
gabten  jungen  Autor  für  sich  gewinnen  will,  wie  Moses  einst  den 
'  Merck  an  Nicolai  7.  XI.  72. 

-  Wohl  war  Nicolai  Herder  als  Verfasser  der  Fragmente  bekannt,  doch  vermied  er 
es,  mit  dieser  Kenntnis  dem  Verfasser,  der  unbekannt  bleiben  wollte,  zudringlich^ 
vertraulich  entgegen  zu  springen.  O.  Hoffmanns  Urteil  (Vierteljahrsschr.  1,  121), 
Nicolai  habe  hier  »ein  geradezu  lächerliches  Versteckspiel«  mit  Herder  begonnen, 
da  durch  Hamann  Herders  Name  in  Berlin  schon  zwei  Jahre  früher  bekannt  ge= 
worden  sei,  ist  mir  um  so  weniger  verständlich,  als  Herder  doch  damit  noch  nicht 
als  Verfasser  der  Fragmente  in  Berlin  bekannt  geworden  sein  mußte.  Nicolai  be; 
nahm  sich  hier  vielmehr  nur  taktvoll,  wenn  er  erst  im  zweiten  Brief  mit  einer 
launigen  Wendung  Herder  zur  Ablegung  der  Maske  veranlaßte. 

^  Wie  Herder  auch  sogleich  zwei  Abbt  zugedachte  (vgl.  Nicolai  an  Herder 2.V.67) 
Rezensionen,  nämlich  die  zweier  TacitussÜbersetzungen,  aufgetragen  erhält. 

160 


Verfasser  der  Schrift  >A^om  Tode  fürs  Vaterland«  zu  den  Literatur* 
Briefen  eingeladen  hatte,  in  der  Hoffnung,  ihn  in  gemeinsamer  Ar* 
beit  zu  einem  Literaturbriefsteller  zu  erziehen.  Wenn  aber  die  Lite* 
raturbriefsteller  Thomas  Abbt  erst  in  die  Art  der  Literaturbriefe 
einführen  mußten  —  war  es  nicht  leichter,  LIerder,  der  sich  schon 
mit  dem  in  ihrem  Kreise  geübten  Verfahren  so  bekannt  erwiesen 
hatte,  seine  kleinen  Unarten  abzugewöhnen?  Als  solche  galt  Ni* 
colai  vor  allem  Herders  an  Hamann  genährte  Schreibart;  daher  teilt 
er  Herder  in  diesem  Brief,  in  dem  er  ihn  für  die  Allgemeine  Deutsche 
Bibliothek  wirbt,  sogleich  mit,  was  seiner  Meinung  nach  Herders 
Leistungen  herabdrücke:  der  »Hamannische  Cant«,  zu  dem  sich 
Herder  »herablasse«,  obgleich  er  doch  »so  gut  schreiben«  könnet 
»Vous  courez  apres  l'esprit,  comme  si  vous  n'en  aviez  pas«  schließt 
er.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Nicolai  auf  die  ebenso  scharfsichtige 
wie  scharfe  Beurteilung  des  Planes  der  Allgemeinen  Deutschen 
Bibliothek  (in  der  »Einleitung«  der  Fragmente)  nicht  eingeht. 

Herder,  auf  den  »der  Geist  der  Berliner  Gelehrten«  —  insbeson* 
deres  Mendelssohns  und  Abbts  —  »sympathetisch  gewirkt«  hat", 
wie  er  auch  das  Erscheinen  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek 
mit  großen  Hoffnungen  erwartet  hat  und  sie  fleißig  liest^,  ist  über 
das  Nicolaische  Anerbieten  sicher  erfreut;  wenn  er  auch  an  Hamann 
mit  ganz  kahlen  Worten  von  einem  »höflichen  Brief«  Nicolais  voller 
»Schmeicheleien  und  Entschuldigungen«  berichtet,  und  ihm  Nico* 
lais  Wort  vom  Hamannschen  »Cant«  mitteilt,  so  ist  sein  Ton  hier 
mit  Rücksicht  auf  das  ihm  bekannte  Verhältnis  Hamanns  zu  Nicolai 
gestimmt,  das  damals,  wie  wir  sahen,  auch  eine  äußere  Entfremdung 
erfahren  hatte;  von  seinem  Entschluß,  der  Nicolaischen  Einladung 
Folge  zu  leisten,  teilt  er  seinem  Mentor  zunächst  noch  nichts  mit. 
Nicolai  erhielt  seine  Zusage  Ende  Dezember*  als  das  »angenehmste 

'  Noch  am  12. VI.  69  NN.  äußert  sich  Nicolai  zu  Iselin :  »In  den  Fragmenten  über 

die   deutsche   Literatur  ist  wirklich,   der  gekünstelten   Schreibart  uner* 

achtet,  vieles  gute.« 

-  Herder  an  Nicolai  19.  II.  67. 

'  Vgl.  Herder  an  Hamann  21.  V.  65  =  O.  Hoffmann,  Herders  Briefwechsel  mit 

Hamann,  S.  17  und  Juli?  1766  =  ebd.  S.  26.  Vgl.  insbesondere  Suphan  I,  143 ff. 

(Einl.  zur  ersten  Sammlung  der  »Fragmente«). 

*  Der  Brief  Herders  ist  verloren  gegangen;  das  Datum  ergibt  sich  aus  Nicolais 

Antwort. 

n  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  161 


Weihnachtsgeschenk«  S  »glücklich  genug«,  in  Herder  »einen  Mann 
von  Geschmack  und  Talenten  entdeckt  zu  haben.«  Jetzt  freilich 
muß  er  auch  Herder  zu  dem  Gegenvertrauen  veranlassen,  die  Maske 
seiner  Anonymität  abzulegen;  er  wisse  zuverlässig,  schreibt  er,  daß 
»der  Verfasser  der  Fragmente  nicht  Härder  heißt«.  Auf  eine  an? 
scheinend  gereizte  Erwiderung  Herders  wegen  des  Angriffes  auf 
Hamann  entschuldigt  er  seine  Anmerkung  über  Herders  Schreibart 
als  »nur  beiläufig«,  »übrigens  aber  meiner  natürlichen  Offenherzig* 
keit  gemäß«;  doch  gibt  er  dieser  Anmerkung  hier  die  schon  oben 
erwähnte  prinzipielle  Wendung,  und  bleibt  dabei,  daß  Hamann 
»ein  betrübtes  Beispiel«  dafür  sei,  wie  weit  die  Liebe  zu  Allu* 
sionen  den  Schriftsteller  verführen  könne.  Herders  wohl  vorsichtig 
vorgebrachte  Äußerungen  über  die  geringe  Qualität  der  ersten 
Bände  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  widerlegt  er  mit  dem 
Hinweis  auf  die  Jugend  des  Unternehmens  und  die  Schwierigkeit, 
die  geeigneten  Mitarbeiter  zu  finden  —  Widerstände,  die  es  ihm 
unmöglich  machten,  die  von  Herder  gewünschte  »idealische  Form« 
zu  erreichen,  und  ihn  nötigten,  sich  mit  einer  »practicableren«  zu 
begnügen.  Sodann  schlägt  er  Herder  einige  Rezensionen  vor,  und 
zwar  solcher  Werke,  die  des  Interesses  Herders  sicher  zu  sein  schie* 
nen,  wie  Schlegels  Werke  und  Klotzens  »Carmina«  und  »Opuscula«. 

Diese  recht  lose  geknüpfte  Verbindung  —  denn  auch  Herders 
Antwort  vom  19.  II.  67,  »in  Eil«  geschrieben,  bleibt  recht  sehr  an 
der  Oberfläche  —  wird  nun  durch  vier  Momente  befestigt,  die  zum 
Teil  zugleich  schon  einen  Keim  des  späteren  Verhältnisses  enthalten. 

Im  zweiten  seiner  Briefe  beklagt  Nicolai  mit  warmen  Tönen 
Thomas  Abbts  Tod  und  legt  damit  Balsam  auf  eine  Wunde  Her* 
ders.  In  der  Tat:  wer  von  den  Literaturbriefstellern  stand  Herder 
menschlich  näher  als  Abbt?  Wie  er  sich  auch  bemühte,  sich  für 
Lessings  kritische  Schärfe  bewundernden  Beifall  abzuringen,  wie  er 
Moses  Mendelssohns  edles  und  einfaches  Theoretisieren  nachzu* 
ahmen  sich  bestrebte  —  menschlich  stand  ihm  Abbt  am  nächsten. 
Man  muß  beobachten,  wie  Herder,  wenn  er  Abbts  Bildungsgang, 
die  Grenzen  und  die  Möglichkeiten  seiner  Begabung,  die  ihm  ge* 
gebenen  Ausdrucksformen  untersucht,  unwillkürlich  —  bei  sich 
selbst  anlangt ;  wie  die  Schilderung  Thomas  Abbts,  wie  er  sie  später* 
1  Nicolai  an  Herder,  30.  XII.  66. 

162 


hin  im  »Torso«  gibt,  zur  Selbstschilderung  Herders  wird.  Hier,  bei 
Abbts  Namen,  scheinen  sich  auch  die  Menschen  Herder  und  Ni* 
colai  die  Hand  zu  reichen;  aber  es  ist  nur  wie  eine  flüchtige  Bes 
rührung,  der  auf  beiden  Seiten  ein  verlegenes  Schweigen  folgt.  Ni> 
colai  teilt  Herder  die  Absicht  seines  Ehrengedächtnisses  für  Abbt 
mit.  Der  schwere  Verlust  soll  Deutschland  gezeigt  werden,  den  es 
durch  Abbts  Tod  erfahren  hat:  mit  Ausschaltung  des  persönlichen 
Momentes  sollen  alle  Vorzüge  seines  Charakters  und  seiner  Be* 
gabung  dargestellt  werden;  doch  macht  er  das  Erscheinen  der  Bio* 
graphie  davon  abhängig,  daß  er  das  nötige  Material,  von  Abbts 
Vater  insbesondere \  erhält.  Wie  ganz  anders  Herder!  Noch  weiß 
er  nichts  Persönliches  über  Abbt,  oder  doch  höchst  Ungenaues  und 
meist  Erratenes,  kennt  kaum  alle  Werke  desselben  ^  aber  doch 
wünscht  er  durch  ein  Denkmal  bezeugen  zu  können,  was  Abbt 
ihm  war:  »ist  je  ein  Autor  so  ganz  nach  seiner  Denkart  und  Laune 
so  gleichsam  ausfüllend  für  mich  gewesen,  so  war  er's  in  seinen 
Schriften«^.  Mit  einem  skeptischen  Blick  zwar  auf  Nicolai  —  »wie 
wenige  mögen  es  sein,  die  aus  dem,  was  er  geliefert,  so  völlig  auf 
das  schließen  können,  was  er  hätte  tun  können  und  wollen«  —  aber 
im  ganzen  doch,  um  des  Toten  willen,  zufrieden,  wenn  überhaupt 
nur  ein  Monument  zustande  kommt,  ruft  er  Nicolai  zu:  »bauen  Sie 
ihr*  Grabmal,  statt  daß  Lebende  es  sich  selbst  bauen  können!« 
Schon  im  Brief  vom  2.  V.  67,  in  dem  Nicolai  mitteilt,  daß  sein  Ehren« 
gedächtnis  »unter  der  Presse«  sei,  äußert  Nicolai  aber  sein  Befürch* 
ten,  Herder  werde  von  seiner  Schrift  enttäuscht  sein;  er  entschuldigt 
sich  im  voraus  und  bittet  Herder  zu  bedenken,  daß  sie  in  kurzer 
Zeit  während  der  Vorbereitungen  zur  Leipziger  Messe  entstanden 
sei;  zu  der  äußeren  Schwierigkeit  komme  die  innere,  daß  es  im  all« 

'  Wie  dessen  Briefe  an  Nicolai  in  N.  N.  beweisen;  ein  Bückeburger  Korrespon« 

dent  berichtet  (ebenda)  über  die  letzten  Lebenstage  Abbts. 

"  So  fragt  er  im  Brief  an  Nicolai  vom   19.  II.  67,  ob  Abbt  ein  Schüler  Baum= 

gartens  sei,  ob  das  Orakel  und  die  Zweifel  über  die  Bestimmung  des  Menschen 

von  Abbt  verfaßt  seien,  ob  die  im  letzten  Meßkatalog  angekündigte  veränderte 

Auflage  der  Abhandlung  »Vom  Verdienst«  noch  zu  erwarten  sei  usw. 

'■'  Herder  an  Nicolai  ebenda. 

*  »ihr«  in  bezug  auch  auf  A.  G.  Baumgartens  und  J.  D.  Heilmanns  Tod;  Herder 

plante  zunächst  auch  für  diese  beiden  ein  literarisches  Ehrendenkmal;  vgl.  R. 

Haym,  S.  173  f. 

n*  163 


gemeinen  recht  schwer  sei,  das  Leben  eines  Gelehrten  zu  würdigen, 
zumal  das  eines  jungen,  von  dessen  zukünftigen  Leistungen  er  per* 
sönlich  zwar  durchdrungen  sei,  ohne  sein  Gefühl  jedoch  zum  Aus* 
druck  bringen  zu  können,  »aus  Furcht,  für  einen  Schmeichler  ge= 
halten  zu  werden«;  er  selbst  fühle  zwar,  daß  manches  in  seiner 
Schrift  recht  trocken  sei,  »aber  wer's  besser  machen  könnte!«  — 
Auch  Herder  hat  die  Schwierigkeiten  wohl  empfunden,  aber  in  ganz 
anderer  Art.  »Von  der  Kunst,  die  Seele  . . .  des  Anderen  abzubilden« 
ist  die  Einleitung  zu  seinem  »Torso« ^  überschrieben;  und  hier  ent= 
scheidet  er  sich,  daß  es  unmöglich  sei,  das  fremde  Bild  ohne  einen 
Grad  »verliebter  Schwärmerei«  in  sich  aufzunehmen  und  darzu* 
stellen.  Und  doch:  »die  Kunst  ist  neidisch,  daß  sie  das  Beste  nicht 
ausdrücken  kann:  seine  Seele«,  zitiert  er  am  Schluß.  Er  hat  es  aber 
mit  einem  Seelenporträt  zu  tun,  und  »eine  Menschenseele  ist  ein 
Individuum  im  Reich  des  Geistes«;  diese  Erkenntnis  ist  die  Rieht* 
schnür  seiner  Darstellung  auch  dort,  wo  er  die  gesellschaftlichen 
Bezüge  von  Abbts  Existenz,  den  Bürger,  den  Gelehrten  usw.  ein* 
bezieht.  Für  Nicolai  aber  sind  die  gesellschaftlichen  Qualitäten 
Orientierungspunkt,  wenn  nicht  Maßstab  seiner  Darstellung;  er 
schildert  das  Werden,  Leisten,  SichsEinordnen  eines  begabten  Men* 
sehen  in  der  Gesellschaft;  was  sie  verliert,  was  Abbt  ihr  noch 
schuldig  geblieben,  möglichst  objektiv  aufzuzeigen  ist  das  Ziel 
seines  Ehrengedächtnisses.  Herders  Ziel  ist  eher  darzustellen,  was 
die  Gesellschaft  Abbt  schuldig  geblieben  ist:  »Er  trägt  die  Fesseln 
seines  Zeitalters  ...  Je  mehr  er  sich  um  seineWelt  verdient  machen 
will,  desto  mehr  muß  er  sich  nach  ihr  bequemen  .  .  .  um  sie  zu 
bilden«  (S.  265).  Wie  Zeitalter  und  Gesellschaft  ihn  zu  dem  bil* 
deten,  was  er  war,  will  er  »in  allen  Nuancen  erklären«  —  und  »als* 
dann  ergänzen«:  er  will  überall  die  Linien  von  dem  was  Abbt  war, 
weiterziehen  zu  dem,  »was  er  hätte  tun  können  und  wollen«.  Und 
w^enn  Nicolai  Abbt  nur  als  Strebenden,  Nicht*Fertiggewordenen 
darstellt,  und  wenn  seine  Manier,  seine  Eigenart  für  ihn  das  Nicht* 
Vollendete,  das  durch  fortgesetzte  Bildung  zu  Tilgende  ist,  so  will 
Herder  durch  seine  Totengabe  eben  diese  Manier  und  Eigenart  als 
etwas  Beglückendes  festhalten;  er  will  aus  seinen  Schriften  »ein 
Salböl  ziehen,  das  uns  zu  seinen  Nachfolgern  einweiht«  (S.  255). 
^  ed.  Suphan  2,  257. 

164 


Ob  das  Bild,  das  er  gibt,  mehr  ein  »ikonisches  oder  Idealbild«  dar* 
stellt,  will  und  kann  er  nicht  entscheiden  —  Nicolai  hielt  es  jeden* 
falls  für  ein  Idealbild;  er  fand\  daß  Herder  Abbt  auch  da  verteidige, 
»wo  er  sich  selbst  schuldig  erkannt  hat«,  nämlich  in  seiner  stili= 
stischen  »Manier«.  Und  wenn  Herder  bei  der  Betrachtung  dieser 
Manier  ausrief:  »Dank  seinen  Freunden,  daß  sie  ihm  diese  ,Aus* 
wüchse'  nicht  raubten,  ihm  seine  Gestalt  ließen  wie  sie  ist«;  wenn 
er  den  »schleppenden  Paragraphenstil«,  die  »hüft*  und  marklose 
Sprache  der  Wochenblätter«,  »den  artigen  Anstand  unserer  schönen 
Geister«  geißelte  und  schließlich  mit  dem  Wort:  »Den  Gästen  soll 
mein  Gericht  schmecken,  nicht  den  Köchen!«-  sich  ein  anderes  Pu* 
blikum  erwählte  als  die  Popularphilosophen  —  so  antwortete  Nico* 
lai\  alle  Invektiven  Herders  übergehend  und  ohne  den  Versuch 
einer  Widerlegung  Herders,  mit  der  ernsthaften  Mahnung,  sich 
»einen  planeren  Stil  anzugewöhnen«;  Herders  Schreibart  sei  »noch 
immer  allzu  rätselhaft«,  und  er  »verdamme  seine  Schriften,  ehe  noch 
fünfzig  Jahre  ins  Land  gehen,  einen  Kommentator  zu  bekommen«. 
Was  konnte  solcher  Mahnung  gegenüber  Nicolais  kahler  Lobspruch 
sagen,  der  Torso  sei  »voll  bündiger  Bemerkungen  und  kleinerWinke, 
die  zu  vielem  Nachdenken  Anlaß  geben«?  Es  ist  kein  Wunder,  daß 
Herder  den  Verfasser  des  Ehrengedächtnisses  alsbald  mit  dem  trok* 
kenenWort  »Lebensbeschreiber«  bezeichnete*;  der  Gegensatz  wird 
uns  deutlich,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  daß  er  als  Biograph 
nicht  minder  denn  als  Kritiker  »der  Pygmalion  seines  Autors«  sein 
wollte^.  Und  es  ist  erklärlich,  daß  er  wenige  Jahre  später,  als  er  in  den 
»Gefundenen  Blättern  aus  den  neuesten  deutschen  Literaturannalen« 
seinem  Unmut  gegen  Nicolai  Ausdruck  gab,  auch  den  Gegensatz 
von  Torso  und  Ehrengedächtnis  zu  bissigem  Spott  verwandte ''. 

'  Nicolai  an  Herder  14.  VI.  68. 

'  Suphan  2, 280 ;  Herder  legt  diese  Worte  Abbt  in  den  Mund.  Übrigens  hat  Herder 

diese  Stilpolemik  im  nicht  erschienenen  zweiten  Teil  des  Torso  (Suphan  2,325) 

reichlich  abgeschwächt  —  ein  Anzeichen  seines  schwankenden  Verhaltens  in  dieser 

Periode. 

'  Nicolai  an  Herder. 

'  Herder  an  Hamann  »Ende  April  1768«  =  O.  Hoffmann  S.  45. 

•  ed.  Suphan  1,291  (Einl.  z.  zweiten  Sammig.  s.  Fragmente.) 

'  Suphan  5,  265  (1773;  veröffentlicht  1774):  » ob  also  der  Herr  Verleger  nicht 

wohl  täte,  statt  anderer  verunzierten  sein  eigenes  Bildnis  .  .  .  nicht  zu  vergessen 

165 


TL^diV:  enthalten  also  »Ehrengedächtnis«  und  »Torso«  schon  die 
späteren  Gegensätze  im  Keim;  immerhin  wuchs  durch  diese  gemein* 
same  Beziehung  zu  dem  toten  Freund  die  gegenseitige  persönliche 
Anteilnahme.  Wie  durch  die  gemeinsame  Freundschaft  wird  sie 
auch  durch  die  gemeinsame  Feindschaft  verstärkt.  Der  gemeinsame 
Feind  ist  der  berüchtigte  Klotz. 

Zwischen  der  zweiten  und  der  dritten  Sammlung  der  »Frag* 
mente«  liegt  eine  Wandlung  Herders  im  Verhalten  zu  Klotz;  hatte 
noch  die  zweite  Sammlung  Klotz  als  feinsinnigem  Kenner  des  Alter* 
tums  manches  Lob  gespendet,  so  flicht  schon  die  dritte  Sammlung 
kritische  Bemerkungen  gegen  den  Hallenser  ein.  Hatten  dement* 
sprechend  die  Acta  litteraria  noch  Herder  unter  der  Rubrik  der 
»libri  minores«  mit  wohlwollendem,  aber  geringwertigem  Lob  ab* 
gespeist,  so  zog  ihn  die  neugegründete  »Deutsche  Blibliothek« 
Klotzens,  durch  einen  ungeschickten  ^  Brief  Herders  an  Klotz  gereizt, 
in  die  Angriffe  gegen  die  »Königsberger  Sekte«  mit  hinein,  und 
versetzte  Herder  den  schwersten  Schlag,  indem  sie  seine  Anonymi* 
tat  enthüllte.  Herders  natürliche  Gereiztheit  und  Streitsucht  wird 
nun  von  Nicolai,  obwohl  dieser  gerade  immer  wieder  zur  Ruhe 
mahnt,  unwillkürlich  noch  mehr  erregt,  bis  sie  sich  in  den  »Kriti* 
sehen  Wäldern«  gegen  Klotz  und  Riedel  entlädt.  Jenen  »unge* 
schickten«  Brief  an  Klotz  hat  Herder  an  Nicolai  zur  Weiterbeförde* 
rung  nach  Halle  übersandt-;  aber  schon  in  dem  sich  mit  dieser 
Herderschen  Sendung  kreuzenden  Briefe  weist  Nicolai  auf  den 
Antipoden  der  Berliner  Kritiker  hin:  »mich  soll  wundern,  wie  Hr. 
Klotz  Ihre  Kritiken*  aufnehmen  wird;  er  kann  sonst  kaum  auch 
nur  mäßigen  Tadel  vertragen,  sondern  möchte  gern  recht  ins  Ge* 
sieht  gelobt  sein«.  Nicolai  hat  sich  in  dieser  Zeit  von  Klotz,  der 
einige  Rezensionen  zu  den  ersten  Bänden  der  Allgemeinen  Deut* 
sehen  Bibliothek  beigesteuert  hatte,  losgesagt,  und  setzt  sich  kaum 
ein  Jahr  später  —  in  der  Vorrede  zum  2.  Stück  des  8.  Bandes  der 

—  sich  immer  ein  lebendiges  Lebens*  u.  Ehrengedächtnis  —  fehlt«  (d.  h.  fehlt  nach 
der  durch  die  Fiktion  der  »Gefundenen  Blätter«  bedingten  Schreibart). 

'  So  nach  R.  Hayms  Urteil  S.  213. 

-  Herder  an  Nicolai,  Brief  vom  10.  X.  67. 
■'  Nicolai  an  Herder  20.  XI.  67. 

'  sc.  der  Klotzischen  »Carmina«  und  »Opuscula«  =  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  V, 
1  und  2  =  Werke  ed.  Suphan.  4,  239  ff. 

166 


Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  —  mit  Klotz  auch  öffentlich  aus? 
einander.  Seine  Briefe  an  Herder  sind  in  diesem  Jahre  voller  War* 
nungen  gegen  Klotz  und  dessen  Anhänger,  deren  Praktiken  er  dem 
unerfahrenen  Herder  enthüllt,  in  der  Absicht,  diesen  der  verderb* 
liehen  Berührung  mit  den  Hallensern  ganz  zu  entreißen.  Er  warnt 
Herder  vor  Klotz  als  dem  eitelsten  Charlatan,  der  sich  zur  Erreichung 
persönlicher  Zwecke  nicht  scheue,  Gelehrte  durch  Klatschereien 
auseinanderzubringen,  wie  er  ihm  jetzt  Heyne  in  Göttingen  ab* 
spenstig  gemacht  habe;  er  warnt  vor  J.  G.  Jacobi  und  Riedel,  be= 
sonders  aber  vor  Gleim,  der  sich  mit  äußerster  Liebenswürdigkeit 
an  alle  in  der  Hoffnung  heranschleiche,  ihr  Urteil  über  ihn  zu  be* 
einflussen.  Mit  Freude  sieht  Nicolai,  daß  Herder  auf  seine  Er* 
mahnungen  bereitwillig  eingeht  und  bald  in  scharfen  Ausdrücken 
über  die  Klotzianer  urteilt^;  noch  größer  ist  seine  Freude  natürlich, 
als  Herder  dann  in  den  Kritischen  Wäldern  gegen  Klotz  und  Riedel 
anläuft".  Diese  gegenseitigen  Bekenntnisse  gegen  Klotz  lassen  erst 
nach,  als  Herder  in  Frankreich  ist  und  bekennen  kann':  »Was 
Klotz  und  sein  Anhang  von  mir  hält,  ist  mir  in  der  Entfernung 
gleich  viel;  und  wenn  ich  wieder  erscheine,  weiß  ich  meine  Wege«; 
denn  inzwischen  hat  sich  Hamanns  schon  oben  gekennzeichneter 
Standpunkt  Klotz  gegenüber  auch  bei  ihm  geltend  gemacht^.  Mit 
Klotzens  1772  erfolgtem  Tod  ist  diese  Frage  natürlich  gegenstands* 
los  geworden.  — 

Eine  rein  persönliche  Angelegenheit  trägt  ebenfalls  dazu  bei,  dem 
Verhältnis  Herders  zu  Nicolai  eine  freundschaftliche  Note  zu  geben. 
Herder  entschuldigt  die  Verzögerung  seines  Briefes  vom  19.11.67 
mit  einer  »unvermuteten  Brustkrankheit«,  die  ihn  »dem  Tode  nahe 
gebracht«  habe.  Durch  Hartknoch  erfährt  Nicolai  von  dem  ungün* 
stigen  Gesundheitszustand  Herders,  auch  von  seinem  Augenleiden. 

'  Besonders  natürlich,  als  Herder  die  abfällige  Beurteilung   des  Nicolaischen 

Ehrengedächtnisses  in  Klotz'  Bibliothek  (IV,  44)  im  dritten  Kritischen  Wäldchen 

(Suphan  3,  441)  zu  einem  »Maßstab«  des  von  Klotz  geübten  Verfahrens  nahm. 

-  Nicolais  Rat,  in  den  Hamburgischen  Korrespondenten,  ein  von  Klotz  durch 

seinen  Herausgeber,  Wittenberg,  abhängiges  Blatt,  ein  bezahltes  »Avertissement« 

seines  Verlegers  einrücken  zu  lassen,  in  dem  er  gegen  Klotz  öffentlich  vorgehen 

sollte,  hat  Herder  nicht  befolgt. 

'  Herder  aus  Nantes  an  Nicolai  5.;  16. VIII. 69. 

*  Vgl.  seinen  Brief  an  Hamann  schon  v.  November  1768  =  O.  Hofifmann  S.  51. 

167 


Nicolai  äußert  sich  nun  um  Herders  Gesundheit  sehr  besorgt,  wie 
er  auch  später,  als  die  Augenfistel  Herders  trotz  mehrfacher  Opera* 
tionen  sich  nicht  beseitigen  läßt,  seine  Teilnahme  ausdrückt.  Da 
der  Bann  nun  einmal  gebrochen  ist,  imd  Herder  ohnehin,  wie  ge* 
wohnlich  in  seinen  Briefen,  stark  abhängig  von  x\ugenblicksstims 
mungen,  allerlei  unmutige  Äußerungen  über  seine  Rigaer  Verhält* 
nisse,  über  die  Abgeschlossenheit  vom  literarischen  Leben  Deutsch* 
lands,  über  die  »Predigerfalte«,  die  er  mehr  und  mehr  bei  sich  spüre, 
in  seine  Briefe  einfließen  läßt,  äußert  Nicolai  den  Gedanken,  ob 
sich  Herder  nicht  in  Berlin  wohler  fühlen  würde;  und  schon  hat  der 
Unermüdliche  sich  bei  Spalding  und  Teller  für  Herder  verwandt, 
und  Herder  soll  nun  nur  seine  Bedingungen  für  die  Übernahme 
einer  Stellung  als  zweiter  Prediger  und  Alummatsinspektor  in  Berlin 
angebend  Herder,  der  inzwischen  die  Predigerstellung  in  Riga  er* 
halten  hat,  lehnt  zwar  ab,  dankt  indessen  warm  für  Nicolais  Für* 
sorglichkeit.  Auch  späterhin  hat  Nicolai,  trotzdem  Herder  auf  seiner 
Reise  von  Riga  nach  Frankreich  Berlin  in  weitem  Bogen  vermeidet, 
bei  jeder  sich  bietenden  Gelegenheit  Herder  nach  Berlin  zu  ziehen 
versucht.  In  der  fortgesetzten  bündigen  Ablehnung  der  Nicolai* 
sehen  Angebote  durch  Herder,  dessen  Abneigung  gegen  Berlin 
von  Hamannschen  Einflüssen  genährt  ist,  zeigt  sich  freilich  auch 
schon  ein  Anzeichen  der  späteren  Wendung  ihrer  Beziehungen-. 

Die  stärkste  Verknüpfung  erfuhr  das  Verhältnis  zwischen  Herder 
und  Nicolai  naturgemäß  durch  Herders  Tätigkeit  für  die  Allgemeine 
Deutsche  Bibliothek,  wenngleich  sich  auch  in  ihr  schon  von  vorne* 
herein  Momente  der  späteren  Ablehnung  bemerkbar  machen.  Her* 
der  hat  insgesamt  33  Rezensionen  für  die  Allgemeine  Deutsche 

1  Nicolai  an  Herder  24.  XII.  68. 

-  O.  Hoffmann  (»Herder  =  Funde  aus  Nicolais  Allg.  Dtsch.  Bibliothek«,  Berliner 
Progr.  1888,  S.  20)  meint,  daß  es  fraglich  sei,  ob  das  Verhältnis  zwischen  Herder 
und  Nicolai  die  tatsächlich  erfolgte  Wendung  genommen  hätte,  wenn  Herder 
wirklich  nach  Berlin  gekommen  wäre.  Einer  solchen  Auffassung,  die  annimmt, 
geistige  Gegensätze  von  so  starker  Divergenz  ließen  sich  durch  persönliche  Be= 
rührungen  aufheben  —  übrigens  eine  Auffassung  ganz  im  Sinne  Nicolais  (vgl. 
an  F.  H.  Jacobi,  ed.  Zoeppritz  I,  97)  —  muß  ich  entschieden  widersprechen.  Des» 
halb  berührt  diese  Darstellung  auch  die  unmittelbar  persönlichen  Beziehungen 
nur  ganz  kurz,  und  zwar  um  so  kürzer,  je  mehr  sich  die  geistigen  Gegensätze 
geltend  machen. 

168 


Bibliothek  verfaßt  \  Aber  mit  wieviel  Mühe  und  Geduld  hat  "Nu 
colai  sie  aus  ihm  herauspressen  müssen.  Daß  er  nicht  die  Geduld 
verlor,  auch  als  Herder  ihn  von  Termin  zu  Termin  vertröstete  und 
schließlich,  nachdem  die  Werke  schon  alt  und  durch  Rezensionen 
anderer  Zeitschriften  bekannt  geworden  waren,  mit  einem  Feder* 
strich  die  Bürde  von  sich  wälzte,  bezeugt  wohl  am  klarsten,  daß 
Nicolais  wiederholtes  Lob  der  Herderschen  Rezensionen  aufrichtig 
war.  So  schreibt  er  über  die  Rezensionen  von  Schlegels  Werken 
und  von  Klotz'  Carmina  und  Opuscula,  sie  »werden  eine  wahre 
Zierde  der  Bibliothek  sein"^«;  von  der  Rezension  der  Gisekeschen 
Gedichte,  die  Herder  ihm  am  13.  ITI.  68  sendet,  urteilt  er\  sie  ent* 
sprächen  seinen  eigenen  Gedanken  so  sehr,  daß  er  sie  nicht  loben 
könne,  wenn  er  nicht  sich  selbst  loben  wolle.  Nach  dem  Empfang 
der  Rezension  von  Bodmers  »Grundsätzen  der  deutschen  Sprache«, 
die  Herder  selbst  einen  »kahlen  Beitrag«  nennt*,  versichert  er  Her* 
der,  daß  dessen  Rezensionen  »eine  Würze«  seien,  »die  der  ganzen 
Speise  einen  Geschmack  geben«^.  Und  solche  Versicherungen 
wiederholt  er  besonders  eifrig,  als  Herder  nach  fast  zweijähriger 
Unterbrechung  seine  Mitarbeit  wieder  aufnimmt.  Es  gab  hier 
einige  Berührungspunkte:  sie  beide,  Herder  und  Nicolai,  standen 
gegen  die  Gottsched*Gellertsche  Schule,  beide  gegen  Klotz,  beide 
gegen  »Jacobische  Süßigkeiten«,  gegen  Sulzers  MoraHtätssucht, 
beide  traten  für  Lessing  ein,  beide  für  Eschenburg  als  Übersetzer. 
Aber  auch  hier,  wo  sie  gemeinsame  Stellung  einnahmen,  ergaben 
sich  gelegentlich  Differenzen,  die  zwar  nicht  tiefere  Folgen  hatten, 
aber  Herder  die  Freude  an  der  Mitarbeit  —  wenn  sie  je  ganz 
rein  war  —  verleiden  konnten.  Allerdings  hatte  Herder  Nicolai 
die  Erlaubnis  gegeben^  das,  was  aus  seiner  abseitigen  Situation 

'  Sie  sind  abgedruckt:  Werke  ed.  Suphan  4,  232 ff.  und  5,  271  ft".  Über  Herders 

Autorschaft  vgl.  die  Arbeiten  von  Otto  Hoffmann,  »Herder  a!s  Mitarbeiter  an 

der   Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek«  —  Schnorrs  Arch.  f.  Literaturgesch. 

15,  238ff.  und  (derselbe)  »Herder  =  Funde  aus  Nicolais  Allgemeiner  Deutscher 

Bibliothek«.  Berl.  Progr.  1888. 

-  An  Herder  2.  V.  67. 

'  An  Herder  14.  VI.  68. 

*  Herder  an  Nicolai  21.  XI.  68. 

'  Nicolai  an  Herder  26.  XI.  68. 

"  Herder  an  Nicolai  19.  11.67. 

169 


heraus  einseitig  werden  müsse,  oder  was  Nicolai  der  stilistischen 
Form  nach  nicht  behage,  eigenmächtig  zu  ändern,  eine  Erlaubnis, 
die  er  öfter,  und  noch  bis  in  den  Beginn  der  70  er  Jahre,  wieder* 
holt^  Immerhin  mochte  ihn  das  Schicksal  seiner  Ramlerrezension 
ärgern,  die  Nicolai  aus  äußeren  Rücksichten  »zu  streng  fand«  und 
deshalb  Mendelssohn  zur  Überarbeitung  gab '^,  wenngleich  er  seine 
Zustimmung  zu  der  Mischrezension  erteilte',  die  sodann  in  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  (VII,  1,  3  ff.)  erschien.  Unan* 
genehmer  noch  mochte  ihm  das  Schicksal  seiner  Rezension  von 
Duschs  »Poetischen  Werken«  sein.  Nach  der  abfälligen  Herder* 
sehen  Rezension  über  Duschs  »Briefe  zur  Bildung  des  Geschmacks« 
war  dieser,  wie  eine  Randbemerkung  Nicolais  zu  Herders  letztem 
Brief  aus  Riga*  besagt,  »böse  geworden«;  als  nun  Herder  mit  dem 
letzten  Brief  aus  Riga  die  zweite,  ebenso  abfällige  Dusch*Rezension 
einsandte,  stutzte  Nicolai  diese  Rezension,  während  Herder  ein 
halbes  Jahr  nichts  von  sich  hören  läßt,  so  zurecht,  daß  Dusch,  der 
seine  Tätigkeit  an  der  Bibliothek  aufgegeben  hatte,  sich  wieder  mit 
Nicolai  versöhnen  konnte^;  diese  Rezension  —  YG  unterzeichnet 

—  die  sodann  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^  erschien, 
ist  denn  auch,  was  Lob  und  Tadel  anbetrifft,  eine  wahre  Misch* 
rezension. 

Aber  stärker  als  solche  gelegentlichen  Differenzen  machten  sich 
tiefergehende  Anschauungsgegensätze  über  den  Zweck  und  Nutzen 
der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  in  der  Rigaer  Zeit  Herders 
gegen  Nicolai  geltend.  Schon  in  einer  Äußerung  über  ihm  bemer« 
kenswerte  Bücher  aus  dem  Juli  1766'  an  Hamann  heißt  es  von  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  lakonisch :  »wegen  der  Nachrich* 
ten;  sonst  nichts  als  Büchertitel.«  Allerdings  hat  er  die  Bibliothek 

'  Herder  an  Nicolai  bes.  »10.  II.  72  empf.«  =  O.  Hoffmann  a.  a.  O.  S.70.  Vgl. 
Herder  an  Merck,  Okt.  72,  wo  er  Merck  für  seine  Beiträge  zu  den  Frkf.Gel.  Anz. 
dieselbe  Vollmacht  gibt. 

-  Nicolai  an  Herder  20.  II.  68;  vgl.  Mendelssohn  an  Nicolai:  Schriften  V,  450  und 
Haym  I,  269.  Bei  Suphan  IV.  261  ff. 

'  Herder  an  Nicolai  13.  III.  68. 

*  Undatiert;  »10.  IV.  69«  empfangen.  Hoftmann  S.  39. 
"  Vgl.  O.  Hoffmann,  Schnorrs  Archiv  15,  247. 

*  Allg.  Dtsch.  Bibl.  XII,  2,  282  ff. 

'  So  nach  O.  Hoffmanns  Angabe,  »Herders  Briefe  an  Hamann«  S.  26. 

170 


dann  fleißig  gelesen  \  aber  mit  seinem  Urteil  kann  er  bald  selbst 
Nicolai  gegenüber  nicht  zurückhalten.  »Ihre  Gegner«,  so  schreibt 
er  an  Nicolai '^  »fangen  immer  mehr  an  über  Ihr  Journal  zu  kreischen, 
daß  es  sich  verschlimmere,  und  weiß  der  Himmel,  ob  es  Vorurteil 
ist,  oder  etwas  anderes,  ich  finde  selbst  weniger  Anziehendes  darin.« 
Wenn  Nicolai  seinem  »alten  Fragmentenrate«  etwas  folgen  wolle, 
so  müsse  er  »mit  guter  Art  das  Allgemeine  des  Planes  etwas  ein* 
ziehen«;  die  Bibliothek  soll  nicht  mehr  ein  ermüdender  Wald  von 
Rezensionen  sein,  sondern  lieber  weniger,  aber  wichtige  Werke  an* 
zeigen ;  nicht  gut  sei  es  ferner,  daß  Resewitz  und  Heyne  abgegangen 
seien,  daß  Moses  und  Lessing  sich  so  spärlich  beteiligten.  Herder 
tadelt  also  die  mangelnde  Qualität  der  Rezensionen,  die  durch  Quan* 
tität  nicht  ersetzt  werden  könne.  Nicolai  aber  verteidigt  seinen  Plan^. 
Er  gebe  die  Unvollkommenheit  zu;  einzig  mechanische  Schwierig* 
keiten  ständen  der  Verwirklichung  der  größtmöglichen  Vollkom* 
menheit  im  Wege;  zudem  habe  er  noch  nicht  die  Mitarbeiter  ge* 
funden,  die  er  suche;  habe  er  aber  solche  —  wie  z.  B.  Herder  —  ge* 
funden,  so  seien  sie  —  wie  ebenfalls  Herder  —  nicht  verläßlich. 
Sodann  sucht  er  die  Müdigkeit  Herders  aufzufrischen:  Heyne  und 
Resewitz  gingen  nicht  von  der  Bibliothek  ab,  er  hätte  dieses  Ge* 
rücht  nur  mutwillig  ausgesprengt,  da  beide  unerkannt  bleiben 
sollten*;  ebensowenig  dächte  Moses  daran,  ihn  zu  verlassen.  Herder 
müsse  sich  allerdings  bewußt  sein,  daß  es  Ehrenpflicht  der  guten 
Köpfe  sei,  sein  Werk  um  so  mehr  zu  unterstützen,  je  mehr  die 
Gegner  tobten.  Diesen  letzteren  Gedanken  wiederholt  er  noch* 
mals  dringend,  fast  beschwörend  auf  Herders  Schweigen  über  die 
von  ihm  angeschnittene  Frage  in  einem  späteren  Briefe ;  er  verrät 
hier,  daß  er  nicht  so  sehr  Herders  Einwände  gegen  den  Plan  der 
Bibliothek  erwogen  oder  zu  widerlegen  versucht  hat,  als  vielmehr 
den  Grund  dieser  Einwände,  den  er  mit  Recht  in  Herders  Müdig* 
keit  gegen  die  Klotzischen  Händel  erblickt. 

'  Vgl.  O.  Hoffmanns  Nachweis:  »Schnorrs  Archiv«  15,  223. 
-  21.  XI.  68. 
'  24.  XI 1.  68. 

*  Diese  Begründung  trifit  nicht  zu.  Tatsächlich  zog  Heyne  sich  1768  verstimmt 
zurück,  arbeitete  indessen  von  1770  an  wieder  mit,  Resewitz  sandte  in  dieser  Zeit 
allerdings  sehr  wenig,  hat  aber  seine  Mitarbeit  nicht  gänzlich  aufgegeben. 

•  11.  IV.  69. 

171 


Allerdings  waren  diese  Einwände  Herders  an  sich  geeignet,  bei 
ihm  auf  heftigen  Widerstand  zu  stoßen.  Richteten  sie  sich  doch 
letzthin  gegen  die  Tendenz  seines  Wirkens,  die  wir  als  Zentrali* 
sationsgedanken  ansprachen  (s.  o.  S.  46  ff.).  Und  sie  kamen  nicht 
etwa  von  oben  her.  Schon  in  den  Dramaturgischen  Fragmenten,  die 
ursprünglich  für  die  Fragmentensammlung  bestimmt  waren,  indessen 
apokryph  blieben  \  sprach  sich  Herder  gegen  Nicolais  in  den  Lite* 
raturb riefen'-  geäußerte  Anschauung  aus,  das  deutsche  Theater  be* 
dürfe  zu  seiner  Vervollkommnung  einer  Hauptstadt  im  Sinne  von 
Paris  oder  London.  Er  sieht  in  solchem  Bestreben^  einen  Wider* 
Spruch  zum  deutschen  Nationalcharakter,  und  verspricht  sich  viel* 
mehr  von  der  provinziellen,  ungehemmten  Mannigfaltigkeit  ins* 
besondere  für  die  Komödie  günstigere  Entwicklungsbedingunger^. 
Diesen  Widerspruch  Herders  gegen  den  Zentralisationsgedanken 
glauben  wir  auch  aus  seinen  Einwänden  gegen  den  Plan  der  All* 
gemeinen  Deutschen  Bibliothek  herauszuhören,  wenngleich  er  hier 
seiner  prinzipiellen  Schärfe  entkleidet  ist. 

Auch  sonst  fehlte  es  nicht  an  Reibungen,  denen  freilich  die  Ver* 
schärfung  nach  der  prinzipiellen  Seite  hin  mangelte.  Der  Wider* 
Spruch  gegen  Mendelssohns  »Phädon«,  der  das  grundlegende  philo* 
sophische  Bekenntnis  der  Berliner  wurde,  erledigte  sich  freilich 
ziemlich  mühelos,  obwohl  Herder  sich  gegen  Hamann  grund* 
sätzlich  ablehnend  über  diese  Mendelssohnsche  Schrift  äußerte*, 
nachdem  Herder  die  anfängliche  Absicht  eines  kritischen  Epilogs 
in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  aufgegeben  hatte,  in  einer 
Privatkorrespondenz  mit  Mendelssohn^,  die  Nicolai  bei  einer  neuen 
Auflage  des  Phädon  mit  abzudrucken  wünschte^;  der  leicht  mystisch 

1  Jetzt  Werke  ed.  Suphan  2,  207 ff.,  insbes.  212 ff. 

-  Literaturbriefe  XII,  299  ff.  Nicolai  ähnlich  in  den  Br.  itz.  Zustand  11.85  und 

GöckingkS.  133f. 

'  R.  Haym  (S.  171)  nennt  dieses  Bestreben  Nicolais  »Unitarismus«.  Ich  glaube 

aber  an  meiner  Bezeichnung  (»Centralisationsgedanke«)  festhalten  zu  dürfen, 

da  diese  Bezeichnung  mehr  dem  Nicolaischen  Streben  nach  Organisation  ent* 

spricht;  eine  vollkommene  Reglementierung  des  literarischen  Lebens,  eine  Auf= 

hebung  der  provinziellen  Produktion  lag  ihm,  wie  wir  sahen,  fern. 

*  Herder  an  Hamann  »November  1768«  =  O.  Hoffmann  S.  48. 
'  Werke  V,  2,  484 ff.,  vgl.  R.  Haym  S.  295  ff 

*  Herder  an  Nicolai  19.  V.  69. 

172 


gefärbte  Gedanke  der  Palingenesie  als  der  einzig  möglichen  Art 
der  Unsterblichkeit,  den  Herder  hier  in  den  Mittelpunkt  stellt,  hat 
also  bei  Nicolai  keinen  Anstoß  erregt;  immerhin  wünschten  er  wie 
Moses  den  Herderschen  Brief  auch  durch  den  Abdruck  »anderer 
Privatschreiben«  zu  paralysieren  \  —  Über  die  »Kritischen  Wälder« 
urteilte  Nicolai  auf  Befragen  Herders,  der  seine  Autorschaft  hart* 
nackig  in  Abrede  gestellt  hatte",  kurz  und  bündig:  »Mein  kurzes 
Urteil  von  den  kritischen  Wäldern  ist,  daß  Hr.  L(essing)  gegen 
den  Verfasser  in  einigen  Stücken  wohl  zu  verteidigen  wäre,  daß  er 
aber  gegen  Kl(otz)  ganz  frappant  recht  hat,  und  daß  dies  Werk 
eines  der  besten  kritischen  Werke  ist,  das  wir  in  unserer  Sprache 
haben  '.«  Mußte  dieses  kurz  hingeworfene  Urteil  Herder  trotz  des 
darin  enthaltenen  Lobes  nicht  verstimmen?  Zwar  hatte  er  sich  die 
Kürze  des  Urteils  selbst  durch  seine  Ableugnung  der  Autorschaft 
zugezogen,  aber  mußte  es  in  ihm  nicht  den  Eindruck  einer  mecha* 
nistischen  Urteilsweise  Nicolais  erwecken?  Und  dieser  Eindruck 
mußte  sich  verstärken  und  auf  die  Bibliothek  im  allgemeinen  über* 
gehen,  wenn  er  sah,  daß  ein  so  gleichgültiger  Rezensent  wie  Mutzen* 
becher  über  die  Kritischen  Wälder  kaum  zutreffend  referieren,  ge* 
schweige  denn  irgendwie  geistig  urteilen  konnte*.  Hatte  er  je  ge* 
hofft,  durch  die  Verbindung  mit  den  Berlinern  seine  literarische  Posi* 
tion  zu  festigen,  so  war  er  enttäuscht  worden.  Dieser  Verbindung 
hatte  er  die  heftigen  Angriffe  von  Klotzens  Seite  zu  verdanken.  Und 
wo  war  die  von  Nicolai  oft  angekündigte^  Rezension  seiner  Frag* 
mente  durch  Mendelssohn  geblieben?  Er  hatte  sie  nicht  zu  sehen  be* 
kommen;  denn  diese  Mendelssohnsche  Rezension  blieb  apokryph^. 
'  Ebenda. —  Herder  antwortete  erst  aus  Nantes  (5.  16.  VIII)  und  zwar  ablehnend; 
inzwischen  war  auch  die  Auflage  schon  oline  den  Herderschen  Brief  gedruckt 
worden. 

-  Herder  an  Nicolai  10.  I.  69. 
'  Nicolai  an  Herder  11.  IV.  69. 

^  Rezension  der  Kritischen  Wälder:  Anhang  zu  Band  1  —  12  der  AUg.  Dtsch.  Bibl. 
1,2,  983  ff. 

'  Nicolai  an  Herder  30.  XII.  66;  20.  II.  68  usw. 

"  Jetzt  Schriften  IV,  a,  93 ff.  —  Es  sei  deshalb  hier  nur  in  der  Anmerkung  darauf 
verwiesen,  daß  diese  Rezension,  die  auch  Nicolais  Standpunkt  ausführlich  um^ 
schrieb,  Herder  eine  Vorliebe  für  Grundsätze  vorwarf,  die  die  Probe  eines  siehe* 
ren  Gefühls  nicht  bestünden ;  Moses  wendet  sich  insbesondere  gegen  das  Drängen 
Herders  auf  das  Natürliche  und  Unmittelbare  in  der  Poesie;  wohl  läßt  sich  eine 

173 


Die  Rezension  seines  »Torso«  ^  schien  allerdings  von  einem  bedeu* 
tenderen  Kopf  herzustammen;  aber  auch  hier  mußte  er  den  gehei* 
men  Widerstand  gegen  seine  ihm  eigentümliche  stilistische  Aus* 
drucksweise  bemerken,  die  wie  bei  Hamann,  auch  bei  ihm  mehr 
war  als  Zufälligkeit  oder  Laune.  »Wir  dürfen  herzhaft  vermuten«, 
heißt  es  in  dieser  Rezension,  »daß  unser  Verfasser  nach  diesen 
Kränzen  greife  (sc.  wie  Th.  Abbt),  und  daß  er  (sc.  im  Gegensatz  zu 
Abbt)  sie  werde  erreichen  können,  wenn  er  sich  befleißigen  wird, 
der  Natur  zu  folgen,  die  Beispiele  der  Alten  ...  zu  studieren  und 
die  dunkele  Künsteley  zu  vermeiden,  welche  seine  mit  soviel  nütz* 
liehen  Sachen  angefüllte  Arbeit  entzieret«.  Nicht  durch  Geburt 
werde  der  Schriftsteller  bestimmt,  sondern  durch  seine  Arbeit  an 
sich  selbst;  wer  über  Voltaires  Schreibart  aburteilen  will,  muß  erst 
selbst  die  Fähigkeit  haben,  so  wie  Voltaire  zu  schreiben:  solcher 
Ermahnungen  zum  Verrat  an  sich  selbst,  wie  Herder  sie  wohl  auf* 
gefaßt  haben  mag,  war  er  aber  überdrüssig,  wenn  er  auch  ihre  gute 
Absicht  nicht  verkannte. 

Daß  an  dieser  Iselinschen  Kritik  Nicolai,  wenn  auch  nur  indirekt, 
beteiligt  war,  konnte  Herder  wohl  ahnen ;  denn  diese  Vorwürfe  hatte 
er  schon  aus  Nicolais  Briefen  herausgehört.  In  der  Tat  war  Iselins 
Urteil  von  Nicolai  der  Weg  gewiesen  worden.  »Er  ist  ein  Mann 
von  vielen  Talenten«,  äußert  sich  Nicolai  über  Herder  an  Iselin"; 
»seine  sonderbare  Schreibart  wird  er  sich  hoffentlich  wohl  abge* 
wohnen,  wenn  er  mit  Freunden  sich  wird  darüber  besprechen  kön* 
nen.  In  Riga  hatte  er  keinen  einzigen  Menschen  um  sich.  Abbten 
erging  es  in  Rinteln  ebenso.  Ich  merke  es  alle  Tage  mehr,  wenn 
man  nicht  Umgang  mit  einsichtsvollen  Leuten  hat,  die  einem  zu* 
weilen  widersprechen,  so  nimmt  der  Geist  gar  leicht  eine  besondere 
Falte ^  an«.  Diese  Falte  zu  glätten,  ist  seine  Absicht;  Herder  soll 
auch  in  dieser  Beziehung  ein  zweiter  Abbt  werden.  Er  zählte  ihn 
zu  den  Seinigen,  wennschon  nicht  was  die  Gegenwart  betraf,  so 

doch  für  die  Zukunft. 

Naturpoesie  von  der  Kunstpoesie  unterscheiden ;  der  moderne  Mensch  aber  könne 

einzig  diese  schätzen. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibl.  Anhang  zum  1.— 12.  Band  S.  626;  sie  ist  von  Iselin  verfaßt. 

'  26.  XII.  69.  NN. 

'  Vgl.  Herder  an  Nicolai  10.  V.  69  über  die  »theologische  Falte«,  die  er  bei  sich 

befürchte,  und  Nicolai  an  Herder  11.  IV.  69. 

174 


Um  so  überraschter  mußte  er  sein,  nachdem  er  auf  zwei  Briefe 
an  Herder^  keine  Antwort  erhalten  hat,  in  den  Zeitungen  zu  lesen, 
daß  Herder  seine  Ämter  in  Riga  niedergelegt  hat  und  sich  auf  Rei* 
sen  zu  begeben  gedenkt.  Er  schreibt  voller  Ungeduld  an  Herder  \ 
und  bittet  diesen  dringend,  ihn  seinen  wahren  Zustand  wissen  zu 
lassen;  seine  Teilnahme  sei  Herder  sicher.  Auch  in  diesem  Brief 
kann  er  es  nicht  unterlassen,  Herder  an  seine  schon  fast  verjährten 
Rezensionsschulden  zu  erinnern.  Noch  ehe  Herder  diesen  Brief  er= 
hält,  ergreift  er  »schamrot  bis  in  das  Innere  seiner  Seele«  in  Nantes 
die  Feder,  um  sich  über  »tausenderlei  Sachen  zu  entschuldigen«, 
die  ihn  »wahrhaftig  stumm  machen«-.  Aber  trotz  aller  Entschuldi* 
gungen,  trotz  des  merkwürdigen  Hinweises  darauf,  daß  es  ihm  nun, 
wo  er  frei  sei,  eher  und  besser  möglich  sei,  für  die  Bibliothek  tätig 
zu  sein,  entledigt  er  sich  mit  einem  Federstrich  aller  Pflichten,  die 
er  gegen  die  Bibliothek  doch  schon  vor  länger  als  einem  Jahre  über? 
nommen  hat;  leichthin  entscheidet  er  von  einigen  Werken,  daß 
ihre  Rezension,  da  sie  so  lange  ausgeblieben  sei,  nun  auch  noch 
länger  warten  könne;  von  anderen  sagt  er,  daß  sie  rezensieren  möge, 
wer  Lust  habe;  wiederum  andere  seien  aber  Werke  »von  Ewigkeits? 
wert«  und  ihre  Rezension  käme  daher  immer  zur  rechten  Zeit  — 
ein  schwacher  Trost  für  Nicolai,  dessen  Bibliothek  bei  mehreren 
so  wenig  zuverlässiger  Mitarbeiter  hätte  aus  den  Fugen  gehen  kön? 
nen^.  Ein  zweiter  Brief  Herders  aus  dieser  Zeit*  aber  betont,  wie 
kleinlich  alle  literarischen  Sorgen,  msbesondere  die  Klotzischen 
Fehden  sich  aus  der  Ferne  ausnähmen,  und  lockert  auch  von  hier 
aus  die  Beziehungen  zu  Nicolai:  auf  der  Basis  der  gemeinsamen 
Feindschaft  gegen  Klotz  ließ  sich  kein  festeres  Fundament  mehr 
errichten;  und  was  die  gemeinsame  Freundschaft  zu  dem  toten 
Abbt  betrifift,  so  sahen  wir  schon,  wie  die  Inanspruchnahme  dieser 
Freundschaft  durch  die  Berliner  —  in  Nicolais  Ehrengedächtnis, 
wie  in  der  Iselinschen  Rezension  seines  »Torso«  —  Herder  eher 

'  Nicolai  an  Herder  11.  IV.  69  und  19.  V.  69. 

=  Herder  an  Nicolai  5.,' 16.  VI II.  69. 

''  O.  Hoffmann  (Schnorrs  Archiv  15,  249)  zählt  16  Bücher  auf,  die  Herder  wäh= 

rend  seiner  letzten  Rigaer  Zeit  und  seines  Aufenthaltes  in  Frankreich  zur  Res 

zension  erhalten,  aber  nicht  rezensiert  hat. 

*  Aus  Paris  vom  30.  XI.  69. 

175 


verstimmen  konnte'.  Nun  aber  tritt  eine  noch  stärkere  Lockerung 
ein;  denn  anderthalb  Jahre,  vom  November  1769  bis  zum  Mai  1771, 
hört  Nicolai  überhaupt  nichts  von  Herder.  Von  dem  Wege  Herders 
über  Paris  nach  Eutin,  von  Eutin  nach  Straßburg,  von  Straßburg 
über  Darmstadt  nach  Bückeburg  erhält  Nicolai  keine  direkte  Nach« 
rieht  von  Herder;  und  als  Herder,  in  Bückeburg  vorläufig  zur 
Ruhe  gekommen,  im  Brief  an  Nicolai  vom  6.  Mai  1771  über  sein 
Ergehen  in  der  Zwischenzeit  einen  summarischen  Bericht  erstattet, 
kann  er,  da  »die  Partikularien  zu  lang«  würden,  nur  über  die  äuße* 
ren  Etappen  dieses  Weges  berichten. 

Eine  merkwürdige  Wendung  in  diesem  Briefe  mußte  Nicolai 
stutzig  machen.  Herder  bekennt,  daß  er  mit  der  —  von  Nicolai  be* 
sorgten  —  Ausgabe  von  Thomas  Abbts  freundschaftlicher  Korre? 
spondenz  »nicht  ganz  zufrieden«  sein  könne,  und  fährt  fort:  »So 
lehrreich  und  in  vielem  sie  für  Abbts  gelehrten  Charakter  wirklich 
ruhmvoll  sein  mögen,  ans  Annehmliche  ohnedem  nicht  zu  denken: 
so  —  kurz,  lieber  Freund,  wenn  Sie  irgend  Einen  Brief  von  mir 
aufgehoben  haben,  so  verbrennen  Sie  ihn  nicht  blos  —  sondern  mit 
Schwefelfeuer  verbrennen  Sie  ihn,  damit  sich  Niemand  daran  er« 
baue!  Nur  Eins  anzuführen,  so  machen  Sie,  Männer  der  Literatur« 
briefe,  darin  so  gut  Sekte  oder  Bande  oder  wie  Sie's  nennen  wollen, 
als  Gottschedianer,  Bodmerianer,  Klotzianer,  und  wer  sich  künftig 
des  Kranken«  und  Ruhebettes  der  Hl.  Literatur  annehme]  Das 
brauchte  unser  Publikum  nicht  zu  wissen.«  Sofort  aber  schränkt 
er  mit  dem  Satz,  daß  er  vielleicht  nur  als  »reisender  Idiot«  so  ur« 
teile,  seine  Kritik  ein.  Nicolai  greift  diese  Andeutungen  in  seinem 
Antwortbrief-  auf.  Er  bittet  Herder  sich  näher  zu  erklären,  insbe« 
sondere,  welche  Stellen  ihm  anstößig  seien  ;  freilich  hätten  die  Lite* 
raturbriefsteller  eine  Sekte  ausgemacht,  wenn  dies  soviel  bedeuten 
solle,  daß  sie  »verschiedene  Wahrheiten  für  ausgemacht  gehalten 
hätten,  und  sich,  um  über  sie  zu  philosophieren,  einerlei  Art  des 
Raisonnements  bedient«  hätten;  selbst  wenn  Herder  meinte,  daß 
sie  »einerlei  Art  von  Vorurteilen«  gehabt  hätten,  schäme  er  sich 

'  So  lehnt  er  denn  auch  die  Rezension  von  Abbts  »Fragment«  (der  Ältesten  Be= 
gebenheiten  des  Menschlichen  Geschlechts  Halle  1767)  und  seiner  Sallustüber^ 
Setzung  im  Brief  aus  Nantes  mit  durchsichtiger  Begründung  ab. 
-  Nicolai  an  Herder  15.\T.7i. 

176 


dessen  nicht,  sondern  gebe  vielmehr  zu,  daß  nichts  MenschHches 
ihnen  fremd  gewesen  sei.  Das  aber  gehe  aus  der  freundschaftHchen 
Korrespondenz  unzweifelhaft  hervor:  daß  sie  die  »subjektive  Wahr* 
heit«  stets  ohne  Nebenabsichten  gesagt  hätten.  Dieses  Verdienst 
aber  ist  Herder,  nachdem  er  den  Streit  mit  Klotz  für  abgetan 
hält,  nicht  mehr  so  hoch  einzuschätzen  geneigt.  Seine  Andeutungen 
hatten  auch  wesentlich  tiefer  gezielt.  Aus  einem  Wort  der  ver* 
schieiernden  Sätze,  mit  denen  er  über  diese  Nicolaischen  Fragen 
und  Feststellungen  in  seinem  Antwortbrief  ^  hinwegzugleiten  ver^» 
sucht,  können  wir  das  Ziel  seiner  Andeutungen  ablesen;  er  tadelt 
dort  u.  a.,  daß  Abbt  »in  allem  eine  solche  Handwerksmiene  als 
Mitarbeiter  der  Literaturbriefe  annehme«.  Er  hatte  in  Abbt,  in  sei* 
ner  Rigaer  Zeit  zum  mindesten,  sich  selbst  wiedererkannt,  und  nun 
erscheint  ihm  Abbt  hier  in  der  Korrespondenz  mit  Nicolai  und 
Mendelssohn,  sicher  unter  deren  Einfluß,  ungeistig  und  handwerks* 
mäßig;  aber  ließ  Nicolai  nicht  auch  ihn,  wie  jeden  seiner  Korre* 
spondenten,  in  diesen  Ton  verfallen?  Schon  einen  Brief  Nicolais 
aus  dem  Jahre  1769  hatte  er  als  »die  Wiederkauungen  eines  gelehr* 
ten  Handwerkers  bezeichnet-;  jetzt  sieht  er,  daß  auch  Abbt  solchem 
Einfluß  erlag;  und  der  Gedanke,  seine  Korrespondenz  mit  Nicolai 
könnte  einmal  auf  ähnliche  Weise  veröffentlicht  werden,  bestimmt 
ihn  zu  der  Bitte  an  Nicolai,  die  an  ihn  gerichteten  Briefe  »mit 
Schwefelfeuer«  zu  verbrennen. 

Wenn  Herder  hier  aber  in  Bezug  auf  die  Abbtschen  Briefe  sagt, 
daß  sie,  »mit  dem  zusammengehalten,  was  eigentlich.  Abbts  Geist 
im  Leben  gewesen«,  »eine  gewisse  Doppelseite«  offenbarten,  die 
ihm  »auffallend«  sei,  so  hat  er  sich  abermals  verraten.  Das,  was  er 
hier  in  Abbts  Verhalten,  vor  Nicolais  Ohren,  hineininterpretiert,  ist 
der  Grundsatz  seines  weiteren  Verhältnisses  zu  Nicolai  geworden. 
Äußerlich  in  gefällig*freundschaftlichen  Formen  sich  bewegend, 
aber  innerlich  merkliche  Risse  und  Sprünge  auf  beiden  Seiten  auf* 
weisend,  hätte  dieses  Verhältnis  sich  nach  einiger  Zeit  mit  unfehl* 
barer  Sicherheit  klanglos  auflösen  müssen,  auch  ohne  daß  gewisse 
Spannungen  hinzugetreten  wären. 

Seit  Herder  in  Bückeburg  dauernden  Aufenthalt  genommen  hatte, 

'  Undatiert,  bei  O.  Hoffmann  S.  62  ff. 

-  Herder  an  Hartknoch  Lb.  II,  40.  Gemeint  ist  Nicolais  Brief  vom  19.  V.  69. 

12  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  1/7 


beginnt  er  wieder  an  den  Neuerscheinungen  der  deutschen  Literatur 
Anteil  zu  nehmen.  Was  vermochte  ihm  dabei  dienUcher  zu  sein, 
als  seine  Mitarbeit  an  dem  größten  Rezensierunternehmen,  der  All* 
gemeinen  Deutschen  Bibliothek?  So  steuert  er  denn  in  den  nächsten 
zwei  Jahren  eine  größere  Anzahl  ausführlicher  Rezensionen^  zur 
Bibliothek  bei.  Ja,  er  will  sogar  zu  dem  Fach  der  schönen  Wissen* 
Schäften  noch  das  der  »theologiae  liberalis  und  elegantioris«^  über* 
nehmen;  doch  scheint  Nicolai  das  nicht  gern  gesehen  zu  haben, 
und  so  vertröstet  er  Herder  für  solche  Aufträge  auf  spätere  Zeit^. 
Auch  zu  den  jetzt  gelieferten  Rezensionen  äußert  Nicolai  wieder* 
holt  seine  lobende  Zustimmung.  Indessen  zeigt  sich  in  dieser  Herder* 
sehen  Rezensionstätigkeit,  trotz  aller  Achtungs*  und  Freundschafts* 
bezeugungen,  mit  denen  sie  aufgenommen  wird,  eine  Anzahl  von 
Gegensätzlichkeiten.  Wir  bemühen  uns  dabei  nicht  um  die  objek* 
tiven  Gegensätze,  einmal  weil  sie  nicht  eindeutig  zu  fassen  sind,  da 
Herders  Anschauungen  innerhalb  dieser  Beiträge  kein  Ganzes  er* 
geben,  ja,  da  bisweilen  Widersprüche  sich  bemerkbar  machen;  so* 
dann  aber  auch,  weil  sie  nicht  überall  einen  Rückschluß  auf  das 
subjektive  Verhältnis  gestatten,  vielmehr  nur  von  diesem  her  Gültig* 
keit  und  Wert  beziehen*. 

'  ed.  Suphan  5.  309  ff. 

-  Herder  an  Nicolai.  Brief  oJine  Datum  (empf.  7.  IX.  71  O.  Hoffmann  S.  63). 
'  Nicolai  an  Herder  19.  XI.  71. 

*  Als  solche  objektiven  Gegensätze  könnte  man  Herders  hier  wie  im  Ossian^ 
aufsatz  geltend  gemachten  Anschauungen  über  Denis'  Ossian*Übersetzung  her= 
vorheben,  im  Vergleich  etwa  zu  Nicolais  hoher  Schätzung  der  Denischen  Über= 
Setzung  (vgl.  A  D  Bibliothek  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  3009;  an  dieser  Rezension  hat 
Nicolai  starken  Anteil,  wenn  sie  nicht  von  ihm  allein  herrührt);  ferner  Herders 
Rezension  der  Schlegelschen  Batteux*Übersetzung,  die  zugleich  eine  scharfe 
Kritik  der  »vernünftelnden«,  »trocknen  Metaphysik«  Batteux'  darstellt,  dessen 
von  Nicolai  anerkannter  Grundsatz  (s.  o.  S.  25)  eine  »belle  phrase«  genannt  wird. 
Aber  Nicolai  hat  beide  Rezensionen  anstandslos  aufgenommen!  —  Das  Widers 
spruchsvolle  in  Herders  Stellung  mag  hier  illustriert  werden  durch  Gegen; 
überstellung  seiner  Ugolino^Rezension,  wo  er  es  ablehnt,  als  »löblicher  Kunst= 
richter  vom  Handwerk«  zu  fungieren,  und  sich  nur  dem  brausenden  »Strom  der 
Empfindung«  überlassen  will,  und  seiner  zweiten  Denis*Rezension,  wo  es  »dem 
Rezensenten  Zweck  wäre,  wenn  sich  seine  spätere  Stimme  .  .  mit  dem  geprüfteren, 
ausgebrausten  Urteile  der  stillen  Liebhaber  im  Publicum  begegnete«;  der  Sturm- 
und=Drang*Herder  spricht  da,  wo  er  das  »Genie«  Shakespeare  enthusiastisch 
gegen  Duschs  Mißverstehen  preist,  der  Herder  der  Fragmente  aber  in  der  (spä* 

178 


Es  wurde  schon  oben  gelegentlich  der  Darstellung  von  Nicolais 
Verhältnis  zu  Klopstock  bemerkt,  daß  Nicolai,  was  er  über  Klop* 
stock  dachte,  --  über  den  Dichter  nicht  minder  als  über  sein  »theo* 
logisches  System«  —  ohne  Rücksicht  auf  die  Kritik,  welche  die 
Fragmente  an  Lessings  verwandter  Einstellung  geübt  hatten,  offen? 
herzig  gegen  Herder  geltend  machte.  Wir  sahen  allerdings,  daß  Ni* 
colai  dabei  geneigt  war,  seine  eigenen  abweichenden  Anschauungen 
als  privaten  und  unmaßgeblichen  Standpunkt  darzustellen. Immerhin 
konnten  beide  Korrespondenten  sich  ihrer  gegensätzlichen  Auffas* 
sungsweise  bewußt  werden.  Herder  interpretiert  Klopstock,  um  ihn 
dann  —  und  das  ist  eigentlich  nur  ein  Zugeständnis :  seine  nach* 
empfindende  Interpretation  ist  Grund  und  natürliches  Ende  seiner 
Kritik  —  zu  beurteilen.  Nicolai  gelingt  diese  Interpretation  nicht, 
und  wo  er  sein  instinktiv  ablehnendes  Reagieren  begrifflich  aus* 
deuten  möchte,  muß  er  also  konstruktiv  verfahren.  Herder  mit  seinem 
starken  Gefühl  für  das  spezifisch  Lyrische  der  Klopstockschen  Dich* 
tung,  und  Nicolai,  der,  wie  wir  sahen,  zu  dieser  Zeit  wenigstens  die 
rein  lyrischen  Elemente  der  Klopstockschen  Dichtung  ablehnt ;  Her* 
der,  der  auf  das  Wie?  und  Nicolai,  der  auf  das  Was?  der  Klopstock* 
sehen  Dichtung  gerichtet  ist,  stehen  sich  in  der  Beurteilung  der  Klop* 
stockschen  Kunst  diametral  gegenüber.  Hinzu  kommt  der  Gegensatz 

teren!)  Eschenburg^Rezension,  wo  er  im  Ton  der  Untersuchung  über  diesen 
»Versuch  über  Shakespeares  Genie  .  .  .«  referiert,  wie  auch  in  der  Rezension  von 
Lessings  Verm.  Schriften.  —  Die  GisekesRezension,  mit  dem  Satz:  »unser  Zeitalter, 
wie  nahe  scheint  es  diesem  Meteorengeschmack  zu  sein!«  hat  Nicolai  ausdrück; 
lieh  gutgeheißen,  sie  ist  aber  wie  wenige  andere  ein  Zeugnis  des  entstehenden 
Sturms  und  Drangs!  —  Die  Bedeutung,  die  diesen  Rezensionen  für  Herders  Ent? 
Wicklung  zukommt,  und  ihr  Quellenwert  für  die  Geschichte  der  Geniebewegung 
soll  durch  diese  Erwägungen  natürlich  nicht  berührt  werden;  in  dieser  Beziehung 
sind  die  Beurteilungen  dieser  Herderschen  Rezensionen  durch  die  Frankf.  Gel. 
Anz.  (14.  VIll.  72  =  D  L  D  7  8,  S.  426;  20.  XI.  72  =  ebenda  S.616  und  22.  XII.  72 
=  ebenda  S.  673)  äußerst  beachtenswert;  besonders  die  erste  Beurteilung,  wo  es 
von  der  Herderschen  BatteuxsRezension  heißt,  hier  werde  nicht,  wie  so  oft, 
»gaffenden  Jünglingen«  »der  Sand  aufgeraffter  Formen  und  Floskeln«  vom 
Katheder  aus  in  die  Augen  gestreut,  sondern  hier  sei  ein  Mann,  wie  ihn  Deutsch^ 
land  brauche,  der  die  »dunklen  eingeborenen  Gefühle«  zu  Festigkeit,  Bestimmt? 
heit  und  Wahrheit  entwickeln  könne.  »Hier  werden  ihnen  die  Fesseln 
abgenommen,  in  die  ein  hergebrachter  Unterricht  der  schönen 
Wissenschaften  sie  schmiedet.« 

12*  179 


der  religiösen  Anschauungsweise.  Herder  ist  in  dieser  Zeit  in  der 
Revision  seiner  dem  Deismus  geneigten  Epoche  begriffen,  und  muß 
daher  um  so  empfindlicher  gegen  alles  sein,  was  deistischen  Ein* 
schlag  verrät;  dem  Deismus  aber  scheint  sich  Nicolais  religiöse  An* 
schauungsweise  zu  nähern  —  ein  Gegensatz,  der  uns  bald  noch  ver* 
schärft  in  der  »Ältesten  Urkunde«  und  im  »Sebaldus  Nothanker« 
entgegen  treten  wird.  —  Herders  nachempfindende  Klopstockkritik, 
im  Brief  an  Nicolai  vom  2.  VII.  72,  betrachtet  die  Klopstockschen 
Oden  »als  einen  Ausguß  der  Empfindung«  und  als  ein  »musikali* 
sches  Gebäude  von  Sprachtönen«  in  Hinblick  auf  die  »Materie  und 
Silbenmasse  an  sich«,  weniger  als  »künstliches  mythisches  Ganze« 
nach  Konventionsregeln;  vielmehr  will  er  einem  »Odengebäu  nach 
Regeln  der  bloßen  Konvention  mißtrauen«.  Das  einzige,  was  Nicolai 
aber  vom  systematischen  Standpunkt  aus  geltend  machen  kann,  sind 
jene  —  wie  wir  erkannten  (S.  82 ff.)  —  unklaren  Gedanken  über 
den  Rhythmus  im  allgemeinen,  insbesondere  den  griechischen  im 
Vergleich  mit  der  neueren  Rhythmik  —  also  gerade  auf  die  Betrach* 
tung  des  Odengebäudes  als  etwas  Feststehendes  hinzielend.  Wie  er 
selbst  indessen  zugibt,  daß  er  nicht  nur  jede  andere  Meinung,  ins« 
besondere  die  Herdersche,  hier  gern  gelten  lasse,  und  Herder  bittet, 
sich  durch  die  gegenteilige  Auffassung  nicht  in  seinem  Urteil  wan* 
kend  machen  zu  lassen,  so  bittet  auch  Herder  Nicolai,  ihm  seine 
Rezension  zurückzusenden,  falls  er  nicht  mit  ihr  übereinstimme, 
und  versucht  sogar,  die  widersprechenden  Auffassungen  mit  leich* 
ten  Worten  äußerlich  auszugleichend  Demgemäß  erkennt  Nicolai^, 
daß  in  Herders  Klopstockrezension  »viele  schöne  Sachen«  seien, 
daß  er  sie  aber  nicht  völlig  verstehe;  Herder  aber  entschuldigt  sich 
förmlich,  und  gibt  zu,  daß  Nicolai  völlig  Recht  haben  möge;  sein 
»gelehrtes  Gefühl  hierin,  wie  in  manchem  Anderen«  sei  »zu  lange 
unkultiviert  geblieben«  und  habe  sich  »nachher  durch  Sprünge  und 
Versuche  vielleicht  zu  krall  selbst  zu  kultivieren  gesucht«^.  Nicolai 
nimmt  den  Vorwurf  der  Dunkelheit,  den  Herder  aus  seinem  Urteil 
über  diese  Rezension  herausgehört  hat,  ausdrücklich  und  mit  dem 
Hinweis  zurück,  die  Schuld  werde  wohl  auf  seiner,  Nicolais,  Seite 

1  Herder  an  Nicolai  23.  XI.  72. 
-  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73. 
•"  Herder  an  Nicolai  IL  III.  73. 

180 


liegen  \  begegnet  aber  bei  Herder  schon  tauben  Ohren.  Über  das 
gegensätzliche  religiöse  Moment  ihrer  Anschauungen  ist  Herder, 
nachdem  Nicolai  erklärt  hat,  daß  er  den  Begriff  Gottmensch,  wie 
er  im  Mittelpunkt  des  Messias  steht,  für  eine  contradictio  in  ad* 
iecto  halte"-,  schweigend  hinweggeglitten. 

Schärfer  noch  als  diese  gegensätzlichen  Anschauungen  über  Klop* 
stock  haben  diejenigen  über  Hamann  in  das  Verhältnis  Nicolais  zu 
Herder  eingegriffen,  ja,  sie  sind  eine  der  unmittelbaren  Ursachen 
zum  Bruch  desselben  geworden.  Herders  innige  Beziehungen  zu 
Hamann,  die  vorübergehende  Trübung  dieses  Verhältnisses  durch 
die  Auseinandersetzung  über  das  Wesen  und  den  Ursprung  der 
Sprache,  und  die  Wiederbekehrung  Herders  zu  Hamann^  sind  Ni* 
colai  bekannt  gewesen;  um  so  höheren  Wert  werden  wir  seinen  auf 
Hamann  bezüglichen  Äußerungen  an  Herder  beimessen  dürfen. 
Nicolais  zweifelnd*ironischen  Fragen  an  Herder  über  den  ihm  un* 
verständlichen  Sinn  der  »Letzten  Willensmeinung«  Hamanns*  be* 
antwortet  Herder^  mit  betontem  Ernst.  Nicolais  Spott  hat  ihn  an* 
scheinend  verdrossen;  »Sie  sehen«,  schreibt  er  an  Hamann^,  dem 
er  den  Empfang  der  Schrift  durch  Nicolais  Vermittlung  bestätigt, 
»den  edlen,  verstandbaren  Kanal,  durch  den  Ihre  Schrift  zu  mir  ge* 
flössen.«  Noch  mehr  verdroß  ihn  die  Abspeisung  von  Hamanns 
»Au  Salomon  de  Prusse«  und  der  »Philologischen  Einfälle  und 
Zweifel«. durch  Nicolais  briefliche  Äußerungen  an  ihn  selbst  und 
von  dessen  »Selbstgespräch  eines  Autors«  durch  Nicolais  Antwort* 
schriftchen  »An  den  Magum  im  Norden«,  das  dieser  Herder  zu* 
gesandt  hatte'.  Über  dieses  letztere  erklärt  er  sich  sehr  gereizt^. 
Wenn  Hamann  in  seinem  Selbstgespräch  den  Knaben  Absalom 

'  Nicolai  an  Herder  18.  III.  73. 

^  Nicolai  an  Herder  24.  VIII.  72. 

■■'  Hierüber  vgl.  außer  der  Darstellung  Hayms  (S.  494 ff.),  Rudolph  Unger.  »Ha* 

manns  Sprachtheorie  im  Zusammenhange   seines    Denkens«,   München   1905, 

Kap.  VI. 

*  Roth  4,  21  ff.,  gegen  Herders  Preisschrift  über  den  Ursprung  der  Sprache  ge* 
richtet.  Nicolai  an  Herder  24.  VI.  72. 

"  Herder  an  Nicolai  2.  VII.  72. 

*  Herder  an  Hamann  1.  VIII.  72  =  O.  Hoffmann  S.  66. 
'  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73. 

"  Herder  an  Nicolai  11.  III.  73. 

181 


(=  Herder,  s.  o.  S.  138  Anm.  2)  erwähnt,  so  sei  das  berechtigt;  es  sei 
»Patriotismus,  Freundschaft,  und  Visionengefühl  ad  modum  Ha* 
manni«;  »zudem  stehe  Absalom  dort  ganz  im  Schatten«.  Daß  aber 
Nicolai  in  seinem  Antwortschriftchen  »illustrandi  oder  exempli  sta« 
tuendi  causa«  den  Knaben  Absalom  »hervorziehe«,  »um  die  Un« 
nützlichkeit  oder  Torheit,  ich  weiß  nicht,  welches  Plans  oder  Hirn« 
gespinstes  zu  entwickeln,  und  gleichsam  an  ihm  zu  detaillieren«, 
würde  ihm  unbegreiflicher  sein,  wenn  er  nicht  wüßte,  »daß  es  eben 
nur  illustrandi  causa  und  im  Fluge  des  Pegasus  von  Schreibart  ge* 
schehen  wäre,  der,  wenn  er  nicht  seinen  Reiter  fühlt,  oft  gespornt 
werden  muß,  und  wehe  alsdann  dem  Nebengaule,  den  das  Aus* 
holen  mit  trifft«.  Herder  legt  also  Verwahrung  gegen  Nicolais  — 
von  ihm  so  aufgefaßte  —  Herablassung  ein,  mit  der  dieser  Hamann 
wie  einen  Narren  behandeln  zu  können  glaube ;  er  versetzt  —  ganz 
ähnlich  wie  Hamann  selbst  —  Nicolais  Nachahmung  der  Hamann* 
sehen  Schreibart  einen  Hieb;  Nicolai  sei  der  Reiter  nicht,  diesen 
Pegasus  zu  bändigen ;  es  gehe  dabei  nicht  ohne  Unfälle  ab,  wie  seine 
Hineinbeziehung  Herders  in  diesen  Streit  beweise.  Wenn  Nicolai 
aber  erwarte,  heißt  es  in  der  Nachschrift,  daß  Hamann  durch  einen 
Brief  Herders  von  einem  Vorhaben  abgebracht,  von  der  Torheit  einer 
Schrift,  die  er  selbst  für  notwendig  gehalten  habe,  so  leicht  über* 
zeugt  werden  könne,  so  täusche  er  sich ;  »ich  bedaure  und  bewundere 
nur  immer,  wie  man  in  solchem  Falle  Eisen  auf  einen  fremden  Am* 
boß  auch  nur  mit  ein  paar  Schlägen  tun  könne«,  schließt  Herder 
diesen  in  jeder  Beziehung  inhaltsschweren  Brief.  Nicolai  setzt  seinen 
uns  schon  bekannten  Standpunkt  der  Antwort  »An  denMagumim 
Norden«  des  langen  und  breiten  auseinander^;  er  zeigt,  daß  Herder 
ihm  willkürlich  Anschauungen  unterschiebe,  die  er  nie  vertreten 
habe;  er  greift,  um  Herder  vollends  zu  versöhnen,  zu  dem  äußeren 
Mittel,  Herder  um  sein  Bild  zu  bitten,  das  er  neben  Hamanns  Bild 
in  seinem  Studierzimmer  aufhängen  werde,  und  gibt  so  einen  schein* 
baren  Beweis  seiner  Hochschätzung  Hamanns. 

Umsonst!  Herder  übergeht  seine  Erklärungen  wie  seine  Bitte.  Zu 
tief  ist  sein  freundschaftliches  Empfinden  für  Hamann  durch  Ni* 
colai  verletzt  worden.  Zu  sehr  hat  ihn  die  vermeintlich  herablassende 
Art  Nicolais  gegen  Andersdenkende  mit  Widerwillen  erfüllt;  schien 
'  Nicolai  an  Herder  18.111.73. 

182  .  ' 


nicht  die  ganze  tolerante  Denkungsart  Nicolais,  wie  sie  sich  eben 
noch  in  ihren  gegensätzlichen  Anschauungen  über  Klopstock  ge^ 
zeigt  hatte,  hier  als  hochmütiges  Über*den*Dingen*Stehen  enthüllt? 
Hatte  er  hier,  in  Nicolais  betonter  Nachahmung  der  Hamannschen 
Schreibart,  nicht  wieder  jene  mechanisch^handwerksmäßige  Betrieb* 
samkeit  gesehen,  der  Abbt  verfallen  war?  Sein  kurzer  Antwortbrief 
enthält  die  Bitte,  sich  für  einige  Zeit  von  der  Bibliothek  verabschie* 
den  zu  dürfen. 

Nicht  ohne  Grund  hatte  Herder  jenes  spitzige  Gleichnis  über 
Nicolais  Nachahmung  des  Hamannschen  Stiles  gewählt,  nicht  ohne 
Grund  war  er  über  eine  Auffassungsweise  empört,  die  den  Stil  für' 
ein  beliebig  auswechselbares  und  annehmbares  Gewand  hielt.  Eine 
lange  Kontroverse  über  Herders  Schreibart  war  vorangegangen. 
Schon  in  den  Fragmenten  hatte  Nicolai,  wie  wir  erwähnten,  Herders 
»sonderbare  Schreibart«  zu  bemängeln  gehabt;  sein  Tadel  hatte  sich 
gegenüber  der  Schreibart  des  Torso  um  so  mehr  verschärft,  als  Her* 
der  sich  hier  nicht  nur  der  getadelten  Schreibart  selbst  bedient,  son* 
dern  sie  auch  an  Thomas  Abbt  rühmt.  Nicolais  Tadel  ist  aber  nicht 
eine  willkürliche  Nörgelei;  sein  Stilideal  ist,  was  man  oft  zu  über* 
sehen  geneigt  ist,  in  seiner  geistigen  Gesamtanlage  ebenso  fest  be* 
gründet,  wie  etwa  Hamanns  stilistische  Eigentümlichkeiten  in  der 
seinigen.  Wie  der  Begriff  »klar«  bei  Mendelssohn  die  Unmittelbar* 
keit  des  ästhetischen  Eindrucks  bezeichnet,  so  daß  »klar«  geradezu 
mit  »eindrucksvoll«  identisch  ist\  so  auch  bei  Nicolai,  und  um  so 
mehr,  als  er  die  Worte  auch  in  dynamischer  Hinsicht  als  Zeichen 
der  Gedanken  betrachtet^.  Sprache  ist  ihm  lediglich  Kommuni* 
kationsmittel,  nie  musikalisches  Phänomen,  nie  der  Logos  im  Sinne 
Hamanns;  der  beste  sprachliche  Ausdruck  ist  demgemäß  der,  wel* 
eher  die  leichteste  verständlichste  Form  der  Mitteilung  darstellt. 
Stellt  man  auf  der  einen  Seite  die  Übereinstimmung  von  Hamann, 
Herder  und  Lenz  in  ihren  Ansichten  über  die  Sprache  fest^,  so  hat 

'  H.  V.  Stein,  »Die  Entstehung  der  neueren  Ästhetik«.  Stuttgart  1886,  S.  337,  vgl. 
Ludwig  Goldstein  a.  a.  O.  S.  22. 

-  Vgl.  Briefe  über  den  itzigen  Zustand  13,  lOOf. ;  187.  und  276.  Literaturbrief; 
Anhang  zu  Schillers  Musenalmanach,  S.  41  42.  Vgl.  auch  A.Schachs  Darstellung. 
'  J.  F.  Haußmann,  Euphorien  XVI.  S.  256ff.  Für  diese  Zusammenhänge  bezw. 
Gegensätze  vgl.  R.  Unger,  Hamanns  Sprachtheorie.  Kap.  5  und  9. 

183 


Nicolai  in  jener  schon  zitierten  Äußerung  an  Johannes  Müller  (s.  o. 
S.  101)  als  seine  stilistischen  Vorbilder  Hume,  Lessing,  Mendelssohn 
und  Wieland  bezeichnet.  Wenn  also  Hamann  urteilt:  »DieReinigkeit 
einer  Sprache  entzieht  ihrem  Reichtum,  eine  gar  zu  gefesselte  Rieh* 
tigkeit  ihrer  Stärke  und  Mannheit«^;  wenn  Herder  klagt,  daß  das 
hohe  Alter  der  Sprache  statt  von  Schönheit  bloß  von  Richtigkeit 
wisse,  und  die  strengen  Stilisten  den  Lacedämoniern  vergleicht,  die 
attische  Wollust  verbannen^  und  später  in  der  »Ältesten  Urkunde« 
gegen  den  »hölzernen  Abstraktionsstil«  Und  die  »Blindschleichen* 
beredsamkeit«  loszieht;  wenn  Lenz  die  Sprache  durch  Ausdrücke 
bereichern  will,  die  weder  in  der  Grammatik  noch  im  Wörterbuch 
stehen,  —  so  stellt  Nicolai  sein  sprachliches  Ideal  als  »facundia  et 
lucidus  ordo«  dar ;  »blumichte  Schreibart,  Metaphern,  Sprünge,  Aus* 
rufungen  heißen  in  unsern  Zeiten  oft  Zeichen  von  Genie  und  von 
Laune,  und  sind  oft  nichts  als  Behelfe,  um  den  Mangel  des  Zusam* 
menhangs  zu  bedecken^«.  Wie  Mendelssohn  und  Nicolai  es  dem* 
gemäß  für  ihre  wichtigste  Aufgabe  halten,  die  stilistischen  »Aus* 
wüchse«  Thomas  Abbts,  den  sie  zum  Literaturbriefsteller  erziehen, 
in  gemeinsamer  Arbeit  zu  tilgen*,  so  dringt  Nicolai  auch  bei  den 
Mitarbeitern  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  auf  die  er* 
strebenswerte  stilistische  Glätte;  Iselin^,  Johannes  Müller  und  La* 
vater  hören  von  ihm  Anmerkungen  über  ihre  Schreibart,  der  letz* 
tere  sogar  in  prinzipiell  scharfer  Form,  »Es  schleicht  sich  itzt«, 
schreibt  er  an  Lavater®,  »eine  Pest  in  die  deutsche  Schreibart  ein, 
durch  die  Sucht,  original  zu  seyn  und  durch  die  Sucht,  immer 
nachdrücklich,  immer  voll  starker  Empfindung  zu  schreiben.  Da* 
her  fremde  Wendungen,  Metaphern,  neue  ohne  Noth  geprägte 
Worte,  denen  eine  Nuance  von  Nachdruck  ankleben  soll,  dunkle 
Anspielungen,  die  der  Schreiber  lebhaft  zu  empfinden  glaubt, 
schwankende  Ausdrücke,  die  geheimen,  der  gewöhnlichen  Sprache 
unerreichbaren  Sinn  ausdrücken  sollen . . .  Dieses  Gedankenkräuseln 

1  ed.  Roth  2.  151. 

^  Werke  ed.  Suphan  1,  155. 

'  Nicolai  an  Joh.  Müller  2.  VII.  73=  Briefe  an  Joh.  v.  Müller,  herausgegeb.  von 

M.Constant,  Schaflfhausen  1840,  S.72. 

'  Vgl.  Thomas  Abbts  Vermischte  Werke  3,  272;  3,  280;  3,  350. 

^  Nicolai  an  Iselin  über  dessen  »Geschichte  der  Menschheit«.  12.  VI.  69.  NN. 

*  Nicolai  an  Lavater  24.  IV.  74.  NN. 

184 


heißt  süße  Empfindung  beym  Verfasser  und  Leser,  und  beide  .  .  .^ 
sich  in  einer  umbra  voluptatis,  die  alle  Ehrliche  Erzeugung  ietzt 
gewiß  hindert  und  sogar  fürs  künftige  unmöglich  macht«.  — 
Wenn  Nicolai  aber  an  Lavater  oder  Joh.  Müller  derart  schreibt, 
meint  er  die  Adressaten  weit  weniger'-,  als  denjenigen,  der,  weit  ge# 
fährlicher  als  Hamann,  diese  Schreibart  zuerst  »ausgebildet«  hat  und 
sie  auch  in  seinen  Briefen  an  Nicolai  nicht  verleugnet:  Herder.  Er 
glaubt  Herder  gegenüber  um  so  mehr  Grund  zu  solchen  Anmer* 
kungen  zu  haben,  als  dieser  ihm  wiederholt  die  Erlaubnis  gegeben 
hat,  seine  Rezensionen  in  stilistischer  Hinsicht  nach  Belieben  zu 
ändern,  und  sich,  wo  Nicolai  Anmerkungen,  über  seine  Schreibart 
macht,  im  Prinzip  durchaus  mit  ihm  einverstanden  erklärt,  ja  fast 
stets  eine  Art  Entschuldigung  und  die  Bitte  anfügt,  künftighin  weiter 
derart  auf  seinen  Stil  zu  achten.  Zwar  erkennt  Nicolai  einmal,  daß 
Herders  Schreibart  seiner  »Denkungsart«  entspricht,  und  daß  es 
nicht  möglich  ist,  »beide  auf  einmal  umzugießen«^;  indessen  ver* 
sucht  er  doch  wiederum,  die  Schreibart  direkt  zu  beeinflussen  und 
in  seinem  Sinne  umzubiegen.  Besonders  reichlich  ist  der  Brief  Ni* 
colais  vom  24.  VIII.  72  mit  solchen  stilistischen  Anmerkungen  ver-^ 
sehen.  Nicht  nur,  daß  Nicolai  nochmals  die  Herdersche  Schreibart 
breit  charakterisiert;  er  gibt  Herder  auch  zu  verstehen,  daß  von 
solcher  Schreibart  eben  dasselbe  gelte,  was  er  —  gelegentlich  ihrer 
Klopstockkontroverse  —  über  das  Ringen  nach  originalem  Wesen 
gesagt  habe.  Herders  Schreibart  sei  in  ihrer  ursprünglichen  An* 
läge  vortrefflich;  sie  sei  »körnig,  feurig,  ausdrückend,  edel,  nach* 
drücklich«.  Aber  der  Hang,  diese  Eigenschaften  stets  an  den  Tag 
zu  legen,  der  Hang  zur  Emphase  bewirke,  daß  sein  Stil  ermüdend 
und  »fremd«  wirke.  An  einem  einzigen  —  wie  ein  in  Nicolais  Nach* 
laß  gefundener  Zettel*  erweist,  —  nicht  beliebig  herausgegriffenen, 
sondern  aufgesuchten  Beispiel,  einem  Herderschen  Satz  aus  seiner 
Bardenrezension ^,  übt  er  sodann  eine  peinlich  ins  Einzelne  gehende 

'  Unleserlich:  »umarmen«? 

-  Nicolai  gibt  das  indirekt  im  Brief  an  Lavater  vom  12.  V.  74  (unter  ausdrücke 

licher  Bezugnahme  auf  den  ersteren  Brief)  zu. 

■'  Nicolaian  Herder  18.  II.  72. 

*  Vgl.  O.  Hofifmann,  Herders  Briefwechsel  mit  Nicolai  S.  84. 

•  ed.  Suphan.  5,434ff. 

185 


Kritik  und  weist  nach,  daß  in  diesem  einen  Satz  vier  ungebraucht 
liehe  und  schiefe  Wendungen  enthalten  seien.  Herder  antwortet^ 
zwar,  daß  Nicolai  mit  den  Anmerkungen  über  seinen  Stil  leider 
Recht  habe,  daß  sein  Stil  aber  in  dem  Mangel  an  »Simplizität,  Um* 
riß  und  Absatz  im  Denken«  begründet  wäre.  Sein  Nachsatz  aber 
zeigt,  daß  er  in  Wahrheit  Nicolais  Ausstellungen  höchst  übel  auf* 
genommen  hat;  er  arbeite  mit  aller  Kraft,  schreibt  er,  sein  Denken 
simpler  und  planer  zu  gestalten;  »was  soll  mir  aber  a  posteriori  Ihr 
Kram  von  Grammatik  helfen?  Dadurch  würde  alles  nur  so  dürre 
und  blutlos!«  Nicolai  bemerkte  zwar  zu  diesem  Herderschen  Satz 
am  Rande:  »Ich  glaube  doch,  daß  die  Achtsamkeit  auf  die  Gram* 
matik  die  Gedanken  simplifizieren  könne«,  doch  hielt  er  wohl  eine 
weitere  Diskussion  hierüber  für  zwecklos,  da  er  diese  Bemerkung 
in  seinem  folgenden  Brief  nicht  verwertete.  Freilich  kann  er  sich 
dann  nicht  enthalten,  die  Herdersche  Klopstockrezension  als  an  ein* 
zelnen  Stellen  dunkel  zu  bezeichnen"-,  worauf  Herder  recht  bitter 
erwidert*,  daß  ihm  das  so  unvermutet,  wie  unangenehm  sei,  da  er 
bei  Rezensionen  sich  schon  »eben  recht  aufs  Geschwätz  lege,  um 
verständlich  zu  werden.«  Jetzt  stand  die  Wagschale  gleich;  hier 
wurde  Herder  dunkle  und  fremde  Schreibart  vorgeworfen,  dort 
mußte  Nicolai  sich  grammatische  Wortkrämerei  und  Rezensions* 
geschwätz  vorwerfen  lassen. 

Dieser  letztere  Vorwurf  haftete  um  so  stärker  in  Nicolais  Ohr, 
als  er  wußte,  daß  Herder  nicht  über  alle  Rezensionsarbeit  so  dachte. 
Er  hatte  vielmehr  bestimmte  Nachrichten,  daß  Herder  einer  der 
Hauptmitarbeiter  des  Jahrgangs  1772  der  Frankfurter  Gelehrten 
Anzeigen  war^.  Nicolai  hat  die  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen 

'  Herder  an  Nicolai  23.  XI.  72. 
-  Nicolai  an  Herder  2.  III.  73. 
^  Herder  an  Nicolai  11.  III.  73. 

*  Petersen  an  Nicolai  6.  XI.  72  NN.  (bei  W. Scherer,  D.L.D.7  8.  S.XXXV  ist  ein 
Bruchstück  dieses  Briefes  mitgeteilt);  er  wünscht  von  Herder  in  der  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek  ähnliche  Besprechungen  wie  in  den  Frankfurter  Gelehrten 
Anzeigen.  — Ähnlich  Höpfner  an  Nicolai  18.11.73.  NN.  »Daß  Herder  die  Hand 
auch  mit  im  Spiele  gehabt  hat,  war  wohl  sehr  sichtbar.  Vgl.  zu  diesem  Höpfner= 
sehen  Brief  jetzt  Max  Morris,  »Goethes  und  Herders  Anteil  an  den  Frankfurter. 
Gelehrten  Anzeigen  von  1772«,  2.  Aufl.  Stuttgart  1912,  S.  21  ff.  Beide  machen  als 
andere  Mitarbeiter  der  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  Goethe,  Merck,  Schlosser 

186 


gelesen;  er  tadelt  an  ihr  insbesondere  die  unbilligen  Angriffe  gegen 
verdiente  Männer  und  die  dunkle  gezierte  Schreibart  ^  Seine  Kennt* 
nis  teilt  er  Herder  alsbald  in  einer  recht  langen  Nachschrift  zu  den 
wenigen  Zeilen  seines  Konzipienten  an  Herder  vom  12.  XI.  72  mit. 
Auf  die  förmliche  Anrede  des  Konzipienten  scherzhaft  anspielend, 
meint  er,  er  wisse,  seitdem  sich  das  Gerücht  von  Herders  Teilnahme 
an  den  so  weltlichen  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  verbreitet 
habe,  nicht  recht,  ob  die  »Hochwürdige  Zunft«  Herder  bei  sich 
noch  dulden  oder  ihn  nicht  vielmehr  unter  die  Laien  verstoßen 
werde.  Er  tut  so,  als  ob  er  seine  Kenntnis  nicht  einer  bestimmten 
Nachricht  verdanke,  sondern  Herders  Mitarbeit  ohne  weiteres  aus 
seiner  Schreibart  erraten  habe;  wie  Rembrandt  von  einem  seiner 
Bilder  seinen  Namen  umsonst  entfernt  habe,  da  sein  Name  dennoch 
an  allen  Ecken  seines  Bildes  stand,  so  sei  auch  Herder  überall  sofort 
an  seiner  Schreibart  kenntlich.  »Desto  schlimmer  für  Euch  Original* 
köpfe,  daß  Ihr  alles  auf  Eure  eigene  Weise  schreibt«,  folgert  er; 
so  sei  es  auch  Lessing  ergangen,  der  sogar  eine  so  originale  Art 
hatte,  an  die  Türe  zu  klopfen,  daß  jedermann  im  Zimmer,  mochte 
Lessing  nun  jede  beliebige  Art  anzuklopfen  nachahmen,  sofort 
rief:  »Da  kommt  Lessing.«  »Wir  andern  unoriginalen  Schrift* 
steller«,  schließt  er,  »schleichen  unter  der  Menge  weg,  und  haben 
nicht  den  Nachteil,  daß  wir  erkannt  werden,  wenn  wir  unerkannt 
bleiben  wollen.«  Ja,  was  noch  mehr  bedeute,  bei  Untersuchungen, 
die  eher  Schritt  vor  Schritt  vor  sich  gehen,  »als  gleich  dem  Flug  der 
Einbildungskraft  sich  über  die  Erde  erheben  wollen«,  hätten  diese 
unoriginalen  Schriftsteller  den  Vorzug,  »den  zuweilen  der  hat,  der 
den  gebahnten  Fußsteig  betritt,  nämlich,  daß  er  am  bequemsten 
und  auch  wohl  am  kürzesten  zum  Ziele  kommt.«  Jedenfalls  aber, 
um  das  auf  sich  beruhen  zu  lassen,  sei  erklärlich,  »warum  die  subA 


Le  Bret  namhaft.  -  Am  18.  XII.  72  schreibt  Petersen  (NN.):  »Die  vornehmsten 
Mitarbeiter  an  den  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  sind,  wie  mir  versichert 
worden  abgetreten«.  Nicolai  war  also  viel  eingehender  unterrichtet  als  etwa  Ha= 
mann,  der  Nicolai  27.  III.  73  (Vierteljahrsschrift  1,  128)  fragt,  ob  »das  Märchen 
von  einer  gelehrten  Zusammenverschwörung  oder  einem  Triumvirat  im  Reich 
der  deutschen  Literatur  einigen  Grund  hat.« 

'  Randbemerkung  zum  Brief  Höpfners  vom  25.VIII.72  (NN.).  Höpfner  hat  ihm 
einige  Stücke  der  Frankfurter  Anzeigen  übersandt.  Mit  den  »verdienten  Man* 
nern«  meint  Nicolai  »z.  E.  Gessnern«  »in  der  Rezension  seiner  neuen  Idyllen«. 

187 


verzeichneten  Rezensionen«  noch  nicht  in  der  Allgemeinen  Deut* 
sehen  Bibliothek  zu  lesen  wären,  und  »vermutlich  die  sub  B  ver* 
zeichneten  noch  recht  lange  auf  sich  warten  lassen«  würden.  —  Her* 
der,  über  diese  zudringliche  Art  sicher  empört,  trifft  in  seiner,  im 
allgemeinen  wieder  zurückhaltenden  und  nachgiebigen  Antwort^ 
doch  gleich  die  vermutliche  Ursache  dieser  Nicolaischen  Invektiven. 
»Daß  ich  so  kenntlich  in  der  Bibliothek  bin«  schreibt  er,  »ist  mir 
auch  deswegen  nicht  recht,  weil  ichs  fast  für  eine  Sünde  halte,  über 
das  liebe  Ding,  was  Geschmack  heißt,  jemand  auf  der  "Welt  mit 
meiner  Meinung  zu  beleidigen.«  Allerdings  faßt  er  damit  seinen 
Gesichtspunkt  schief  und  unzutreffend:  denn  in  Wahrheit  sind  die 
Rezensionen  der  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  doch  entschieden 
subjektiver  und  selbstherrlicher  gehalten  als  diejenigen  der  Biblio* 
thek;  Nicolai,  der  gerade  Herder  gegenüber  immer  betont  hatte, 
daß  er  die  Bibliothek  nicht  brauchen  wolle,  seine  »persönlichen 
Meinungen  fortzupflanzen«,  wird  von  dieser  Entgegnung  nicht  ge* 
troffen.  Überhaupt  ist  diese  Herdersche  Antwort  gerade  in  ihrer 
Zurückhaltung  und  Nachgiebigkeit-  um  so  schwerer  verständlich, 
als  doch  gelegentlich  ein  gegen  Nicolai  geführter  Hieb  —  wie  z.  B. 
der  Satz:  »so  geht's  dem  lieben  Publikum,  das  so  gern  Stil  und  Ma* 
nieren  kennen  will  und  sich  beinah  selbst  nicht  mehr  kennt«  —  zeigt, 
wie  tief  Nicolais  Angriffe  ihn  berührt  haben.  Die  Zudringlichkeit 
Nicolais  hat  ihn  verletzt;  und  er,  der  seine  Rigaer  Predigerstelle 
nicht  zuletzt  wegen  der  weltlichen  Streitigkeiten  aufgegeben  hatte, 
in  die  ihn  die  Klotzianer  verwickelten,  muß  hier  von  Nicolai  recht 
unverblümt  hören,  daß  er  abermals  sein  geistliches  Amt  durch  seine 
weltlichen  Interessen  in  Gefahr  gebracht  habe.  Besonders  aber  der 
anscheinend  ganz  unvermittelte  Angriff  Nicolais  gegen  falsche  Ori* 
ginalitätssucht  hat  ihm  klar  zu  erkennen  gegeben,  daß  die  Wege 
sich  trennen  mußten. 

Allein  es  gab  der  Gegensätzlichkeiten  noch  mehr!  Im  Frühjahr 

'  Herder  an  Nicolai  15. 1.  1773. 

'  So  behauptet  Herder,  daß  er  schon  »vielfach  gebrummt  und  gelacht«  habe, 
welches  »wunderliche  Zeug«  man  auf  seine  Rechnung  setzte,  während  er  doch 
in  Wahrheit  »vielleicht  im  ganzen  Jahrgang  nur  7  Rezensionen«  geliefert  habe . . . 
Er  bezeugt  Nicolai  auch,  daß  er  seine  Mitarbeiterschaft  mit  Ende  des  Jahres  zu« 
rückgezogen  habe. 

188 


1773  erschienen  die  »Fliegenden  Blätter«  »Von  deutscher  Art  und 
Kunst«.  Von  drei  Gesichtspunkten  aus  mußte  Nicolai  diese  Auf* 
sätze  ablehnen;  der  Shakespeareaufsatz,  der  Aufsatz  über  Ossian 
und  die  Lieder  alter  Völker  und  der  (Goethesche)  Aufsatz  über  die 
deutsche  Baukunst  mußten  im  gleichen  Maße  seinen  Widerstand 
erwecken.  Allerdings  war  Nicolai,  vielleicht  schon  vor  Lessing^  und 
Mendelssohn'-,  jedenfalls  zunächst  unabhängig  von  ihnen,  ein  war* 
mer  Shakespeareverehrer '^  —  aber  ganz  im  Sinne  seiner  Kunstan? 
schauungen.  Auch  das  WildJmaginative,  Original*Unebenmäßige 
Shakespeares  war  ihm  Kunst  —  damit  war  er  über  Gottsched,  ja 
über  Joh.  Elias  Schlegel*  hinausgeschritten;  aber  es  war  Kunst 
doch  nur  insofern  sich  das  scheinbar  Regellose  und  Phantastisch* 
Willkürliche  in  dem  durchaus  einzigartigen  Falle  dieser  Zeit,  dieser 
englischen  Gesellschaft,  dieses  Theaters  —  wie  er  denn  bemerkens* 
werterweise  fast  ausschließlich  auf  die  Shakespearesche  Komödie, 
nicht  auf  die  Tragödie  exemplifiziert  —  sich  als  das  Gesetzmäßige, 

'  Über  diese  wohl  nicht  zu  entscheidende  Streitfrage  neuerdings  Marie  Joachimi= 
Dege,  »Deutsche  Shakespeareprobleme  .  .  .«  Leipz.  1907,  S.  28  u.  30,  Anm.  1,  wo 
das  Material  zusammengestellt  ist,  ferner  Erich  Schmidt,  »Lessing«  1,  413  und 
A.  V.  Weilen  in  seiner  Einleitung  zu  D  L  D  29/30,  S.  XVI.  Wichtig  ist  indessen  für 
uns  nicht  sowohl  die  mit  dem  vorhandenen  Material  nicht  recht  zu  beweisende 
Priorität  Nicolais,  als  vielmehr  seine  Selbständigkeit  im  Ergreifen  des  neuen 
Gedankens  und  Autors;  und  darin  sind  die  drei  genannten  Autoren  (und 
Fr.  Gundolf,  »Shakespeare  und  der  deutsche  Geist«,  Berlin  1911,  S.  121)  gegens 
über  der  älteren  Forschung,  insbesondere  Biedermann,  einig. 
'  Nicolai  schreibt  in  einer  Anmerkung  zu  seiner  Ausgabe  von  Lessings  Werken 
(1794,  Bd.  27,  S.  83),  daß  er  zu  der  Zeit,  als  er  die  Abhandlung  vom  Trauerspiel 
verfaßt  habe  (1757),  Shakespeare  gegen  Moses  habe  »verteidigen«  müssen. 
'  Vgl.  außer  der  bekannten  Darstellung  in  den  Briefen  über  d.  itz.  Zust.  z.  B. 
seinen  Brief  an  Uz  v.  5.X.  1762  (NN),  in  dem  er  das  Projekt  einer  Shakespeares 
Übersetzung,  die  er  alsbald  in  seinem  Verlage  erscheinen  lassen  wollte,  aus« 
einandersetzt;  seine  in  der  Rezension  von  Justus  Mosers  »Harlekin  oder  die  Ver« 
teidigung  des  Grotesk^Komischen«  (204./5.  Literaturbrief,  gemeinsam  mit  Abbt) 
durchblickende  Sympathie  für  die  Shakespearschen  Narren;  seinen  Unwillen 
über  Voltaires  »Verleumdung«  Shakespeares  (Brief  an  Joh.  v.  Müller  14.  XL  72 
=  a.  a.  O.  S.  51).  —  Seine  Inanspruchnahme  Shakespeares  in  späterer  Zeit  da= 
gegen  (wie  in  den  Vertrauten  Briefen  S.  116 ft.  gegen  —  die  Romantiker!),  ist  von 
Herders  Standpunkt  abhängig. 

*  »Vergleichung  Shakespeares  u.  Andreas  Gryphs«,  jetzt  ed.  Antoniewicz,  DLD 
26,  71  ff. 

189 


als  Erfüllung  der  »natürlichen«  Regeln  enthüllte;  so  gab  er  zwar, 
unabhängig  von  Lessing,  das  Gesetz  von  der  Einheit  des  Ortes 
preis,  aber  wenn  es  ihm  auch  kein  Beweis  für  Shakespeares  ver* 
meinte  Un^Kunst  war,  daß  Shakespeare  die  Einheit  des  Ortes 
nicht  beobachtete,  tadelte  er  doch  die  übermäßige  Anwendung  der 
Ortsveränderung  als  »Unwissenheit  in  der  Art  einen  Plan  zu 
machen«  ^  Und  wenn  er  das  Exceptionelle  Shakespeares  gegen  starre 
Regelhaftigkeit  als  solches  erkannt  und  geschützt  hatte  —  seit  Gott? 
sched  im  Bewußtsein  der  Zeit  abgetan  war,  seit  solche  pedantische 
Strenge  nicht  mehr  geltend  gemacht  wurde,  war  diese  Besonderheit, 
die  er  ja  nicht  als  lebendige  Totalität  sondern  als  historisches  Fak- 
tum gewürdigt  hatte,  für  die  wahrhaften  Bemühungen  um  die  Bil« 
düng  einer  deutschen  Nationalliteratur  eher  eine  negative  Folie.  Die 
Bedingungen,  unter  denen  Shakespeares  Werk  erwachsen  war, 
stimmten  nicht  zu  der  deutschen  Gegenwart;  daher  konnte  Shake* 
speare  nur  verwirrend  wirken.  Ja  er  war  eigentlich  nicht  übersetz* 
bar  —  selbst  die  Ausdruckskunst  eines  Wieland  mußte  hier  versagen, 
weil  seine  Ausdrucksmittel  nicht  die  des  elisabethanischen  Zeitalters 
sein  konnten:  Shakespeare,  meint  Nicolai,  ist  nur  dem  wahrhaften 
Kenner  von  Zeit,  Gesellschaft,  Sprache  überhaupt  verständlich  — 
aber  dieser  braucht  keine  Übersetzung;  so  kann  —  diese  Befürch* 
tung  äußert  er  sechs  Jahre  vor  Herders  Shakespeare^Aufsatz  —  der 
Versuch,  sich  Shakespeare  ohne  solche  Voraussetzungen  zu  nähern, 
nur  zu  Mißverstand,  Affektation,  Exzentrizität  führen^.  Wie  skep= 
tisch,  ja  wie  ablehnend  mußte  und  durfte  er  gestimmt  sein  gegen  eine 
Wiedererweckung  Shakespeares  in  toto,  gegen  die  Wendung  ins 
AbsolutsÄsthetische,  die  hier  in  diesem  Dithyrambus  und  mehr 
noch  in  den  hundertfachen  x\ußerungen  und  poetischen  Versuchen 
der  Jungen  geschah,  gegen  die  Verabsolutierung  von  dramatischem 
Stil,  Tempo,  Diktion  und  Psychologie  Shakespeares,  die  Stichwort 
und  Kennzeichen  einer  neuen  Zusammengehörigkeit  wurde;  und 
wie  wenig  —  dürfen  wir  weiterhin  schließen  —  konnte  er,  der 
gerade  an  Shakespeare  selbständig  (und  wohl  als  erster  in  Deutsch* 
land)  den  funktionellen  Zusammenhang  zwischen  Dichtung  und 

^  Abhandlung  von  Trauerspiel  =  DNL  72,  342. 

*  Vgl.  Nicolais  Rezension  der  Wielandschen  Shakespearesübersetzung;  A  D  Bis 

bhothek  1,  300,  und  Göckingk  a.  a.  O.,  bes.  S.  132. 

190 


Gesellschaft  gesehen  hatte,  dem  Begriff  des  Genies  als  einem 
Analogen  zum  göttlichen  Schöpfertum  geneigt  sein,  wie  er  ihm  in 
diesem  Herderschen  Aufsatz  zuerst  entgegentrat.  —  Nicht  minder 
heftig  war  Nicolais  Gegensatz  zu  den  Blättern  von  Deutscher  Art 
und  Kunst  von  einer  anderen  Seite  her.  Wir  hatten  schon  in  seiner 
Polemik  gegen  das  Bardenwesen  seine  Abneigung  gegen  die  Ver# 
ehrung  »rauherer  Zeiten«  kennen  gelernt;  als  solche  erschienen  ihm, 
dem  »Schüler«  Winckelmanns,  aber  nicht  diejenigen  des  klassischen 
Altertums,  sondern  die  der  deutschen  Vergangenheit,  —  zwar  nicht, 
wie  man  gewöhnlich  sagt,  aus  unhistorischer  Denkweise,  aber  aus 
seiner  Auffassung  der  Poesie  als  Funktion  der  Gesellschaft  und 
ihrer  Bildung.  Von  hier  aus  können  wir  bei  ihm,  der  die  »Zurück* 
rufung  von  den  rauheren  und  kindischen  Vergnügungen«  als  eine 
Hauptaufgabe  der  Kunst  angesprochen  hatte,  eine  Abneigung  gegen 
Goethes  »Von  deutscher  Baukunst«  und  Herders  »Über  Ossian 
und  die  Lieder  alter  Völker«  erschließen.  Denn  weder  aus  dem 
Briefwechsel  mit  Herder  noch  aus  anderen  Äußerungen  Nicolais 
haben  wir  für  diese  Zeit  eine  irgendwie  bestimmte  Stellungnahme 
gegen  die  Tendenz  dieser  beiden  Aufsätze.  So  erwähnt  er  Herder 
gegenüber  am  2.  III.  1773,  er  wisse  wohl,  daß  Herder  eine  Abhand* 
lung  von  den  Nationalliedern  schreiben  wolle;  aber  er  begrüßt  diese 
Herdersche  Absicht  eher:  »ich  möchte  ein  Kapitel  von  den  National* 
rhythmis  dazu  schreiben«  (!).  Freilich  hält  er  es  für  nötig  hinzu* 
zufügen,  es  würde  ihm  zwar  leicht  fallen,  »eine  Menge  neu  schei* 
nende,  glänzende  Sätze  darüber  auszukramen,  aber  wer  etwas 
Wahres  darüber  schreiben  wollte,  müßte  sich  in  jedem  Lande 
lange  und  zwar  unter  dem  gemeinen  Mann  aufgehalten  haben \ 
sonst  läßt  sich  auf  nichts  Wahres  kommen  und  was  ist  der  glän* 
zendste  Irrtum?«  Aber  auf  Herders  merkwürdige,  teils  seine  Autor* 
Schaft  ableugnende  und  das  Fragment  als  »das  hingeworfenste 
Stück«  entschuldigende,  teils  spöttisch  abwehrende  Antwort^, 
'  Vgl.  die  Vorrede  seines  F.  kl.  Almanaches. 

^  Herder  an  Nicolai  11.  III.  73.  »Ich  wollte  nicht,  daß  jemand  meinen  Namen 
damit  verbände,  so  nichts  dieser  auch  ist  und  ewig  bleiben  soll :  der  einzige  Zweck 
des  Aufsatzes  ist,  anzutreiben,  daß  man  noch  die  Reste  von  Nationalliedern  aus 
dem  Munde  des  Volkes  sammle.  Und  da  hiezu  eben  das  dunkelste  und  Unkulti^ 
vierteste  der  Ort  ist,  —  Bayern,  Tirol,  Schwaben  —  so  bescheide  ich  mich  gern, 
daß  ich  allen  sch(önen)  Geistern  und  Aesthetikern  Sachsens  und  Berlins  wie  jener 

191 


beteuert  Nicolai  S  er  sei  »weit  entfernt«,  Herder  »von  der  Ab* 
Handlung  über  die  Nationallieder  abzuschrecken«,  »vielmehr  sehr 
begierig  darauf«;  nur  habe  er  beiläufig  gesagt,  man  dürfe  nicht 
so  schließen  wie  einst  gewisse  Leute,  die  den  Kuhreihen  für  eine 
treff  liehe  Musik  hielten,  weil  er  den  Schweizern,  die  in  französi* 
schem  Dienst  standen,  zu  spielen  verboten  war.  Nicolai  wehrt 
sich  also  dagegen,  daß  man  das,  was  man  nicht  kenne,  verherr= 
liehe,  bloß  weil  es  in  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  keinen  Platz 
habe;  er  kämpft  gegen  ein  Ressentiment,  das,  wie  er  mit  Recht 
fürchtet  und  wie  es  ihm  dann  bei  Bürger  entgegentrat,  suggestive 
Kraft  ausübt.  Kaum  vier  Jahre  später  nimmt  sein  »Feyner  kleyner 
Almanach«  diesen  Kampf  gegen  Herder  und  Bürger  auf.  Zu  dieser 
Zeit  freilich  vermag  er  noch  Biesters  Rezension  dieser  Aufsätze,  die 
freilich,  wenn  auch  im  Grunde  freudig  zuzustimmen  bemüht,  recht 
verschwommen  ist,  in  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek^  auf* 
zunehmen.  Aber  er  erkennt  doch  zum  mindesten  klar  die  Gegen* 
sätze.  Von  seinem  »Sebaldus  Nothanker«  bemerkt  er  zu  Herder^: 
»Er  ist  deutsch,  obgleich  nicht  nach  deutscher  Art  und 
Kunst.  Ich  bin  also  neugierig  zu  sehen,  in  welchem  Profile  er 
sich  Ihnen  in  dem  Standpunkte,  in  dem  Sie  stehen,  gezeigt 
hat.« 

Wiederum  tritt  hier  der  »Sebaldus  Nothanker«  an  entscheiden* 
der  Stelle  trennend  auf.  Nicolai  hat  in  ihm  den  Ausdruck  seines 
Denkens  und  Strebens  gefunden,  der,  in  gewissem  Sinne  endgül* 
tig,  ihm  nur  die  Verteidigung  seines  hier  eingenommenen  Stand* 
Punktes  erlaubt.  Und  diese  Verteidigung  wurde  alsbald  Herder 
gegenüber  erforderlich.  Denn  Herder  hatte  —  wie  Nicolai  gegen* 
über  schon  in  einer  diesem  freilich  unverständlichen  Wendung  an* 
gedeutet*  — ,  dem  Sebaldus  Nothanker  seinerseits  einen  nicht  minder 
gewichtigen  Ausdruck  seines  Geistes  in  der  Ȁltesten  Urkunde 
des  Menschengeschlechtes«  gegenüberzustellen,  allerdings  so  ver* 

Böotier  vorkommen  müsse,  der  Laute  des  Tieres  gesammelt  haben  wollte,  die 

seiner  Nation  eben  nicht  den  feinsten  Beinamen  gaben.« 

'  Nicolai  an  Herder  18.  III.  73. 

-  Anhang  zum  13. '24.  Band.,  S.  1169ff.,  hierüber  vgl.  weiter  unten. 

"  Herder  an  Nicolai  25.  VI.  73. 

'  Herder  an  Nicolai  11.  III.  73  =  O.  Hoffmann  a.a.O.  S.94.  »Und  wie,  wenn  er 

(Absalom  =  Herder)  über  ganz  anderen  Plänen  brütete  . .  .«  usw. 

192 


schränkt  in  Herders  Subjektivität,  daß  der  junge  Goethe  urteilte: 
»Es  ist  ein  so  mystisch  weitstrahlsinniges  Ganze,  ein  in  der  Fülle 
verschlungener  Geschöpfsäste  lebend  und  rollende  Welt,  daß 
weder  eine  Zeichnung  nach  verjüngtem  Maßstabe  eini* 
gen  Ausdruck  der  Riesengestalt  nachäffen,  oder  eine 
treue  Silhouette  einzelner  Teile  melodisch  sympathe* 
tischen  Klang  in  der  Seele  anschlagen  kann«;  und  daß  er 
sich  also  damit  begnügte,  es  dem  Freunde  durch  Charakterisierung 
der  polemischen  Tendenz  gegen  die  »Lasterbrut  der  neueren 
Geister«  nahezubringen.^  Die  positive  wie  die  polemische  Ten* 
denz  dieses  Herderschen  Sturm?  und  Drangwerkes  traf  aber  den 
Nicolaischen  Roman.  Wenn  Herder  gegen  das  »begeisterte  System 
der  Menschenliebe,  Toleranz,  Irreligion  und  abstraktionslosen 
Fingerweisheit«  dieses  philosophischen,  den  Menschen  moralisch 
wie  physisch  erniedrigenden  Jahrhunderts  unermüdlich  mit 
Interjektionen  und  Machtworten  anrannte,  wenn  er  die  »Blind* 
Schleichenberedsamkeit«,  die  nie  zum  inneren  Sinn  des  Seins  vor« 
dringende  Demonstration^  heftig  anfiel;  und  wenn  er  mit  macht* 
vollen  Sätzen  die  Gläubigkeit  als  das  neue  Lebenszentrum  pries, 
die  Religion  nicht  als  Erfindung  von  Priestern,  sondern  als  das  Ur* 
sprüngliche  und  aller  menschlichen  Bildung  Vorangehende  ver* 
kündete,  —  überall  schien  der»Sebaldus  Nothanker«  als  das  natür* 
liehe  Widerspiel  der  »Aeltesten  Urkunde«.  Nicolai  spottete  im 
Roman  über  die  alles  geistige  Leben  überwuchernde  dogmatische 
Theologie:  es  war  Satire  —  nicht,  wie  Minor  meint,  ungeschickte 
Führung  der  Handlung  —  wenn  Sebaldus  auf  allen  Landstraßen 
Theologen  traf,  wenn  dogmatische  Grillen  Freundschaften  und 
Feindschaften  stifteten  usw.;  er  verlangte  kritische  Revision  der 
Liturgie,  Lehrbegriffe,  vor  allem  des  (protestantischen)  Kiichen* 
regiments.  Herder  aber  wollte  bewirken,  daß  »Offenbarung  und 
Rehgion  Gottes,  statt  daß  sie  jetzt  Kritik  und  PoHtik  ist,  simple 
Geschichte  und  Weisheit  unseres  Geschlechtes  werde«,  und  gegen* 
über  der  Nicolaischen  Tendenz  zur  Emanzipation  von  der  Theo* 

'  Goethe  an  Schoenborn,  Juni— Juli  1774  =  Morris,  Der  junge  Goethe  IV,  27. 
■  Vgl.  aber  Nicolai  an  Lavater  12.  VI.  74  (NN):  »Die  Demonstration  und  Zer= 
gliederung  der  Begriffe  ist  der  Weg  von  einer  Seele  zur  andern.  Ohne  dieses 
Mittel  können  wir  nicht  in  einander  wirken«  usw. 

13  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  193 


logie  steht  seine  Verkündigung,  deren  Erfüllung  seine  Urkunde 
sollte  herbeiführen  helfen:  »Die  magere  Bibel  wird  alle  sieben 
Wissenschaften  der  alten  und  tausend  der  neuen  Welt,  wie  die 
fetten  Kühe  Pharaos  in  sich  schlucken^«.  Seine  Urkunde  lehrte: 
»Die  positive  Religion  ist  so  alt  als  die  Welt,  älter  als  die  natür? 
liehe,  und  diese  durch  jene  entstanden.«  Aber  das  »Glaubens* 
bekenntnis«,  das  Nicolai  auf  Schlözers  wiederholte  Bitten  vor  diesem 
ablegt^  geht  davon  aus,  daß  »Offenbarung  nicht  in  allen  Fällen 
(=  unbedingt)  als  ein  Vehiculum  der  natürlichen  Religion  not* 
wendig  sei,  oder  daß  etwas  als  falsch  Erkanntes  angenommen  werden 
müsse,  damit  der  Pöbel  ein  vehiculum  für  die  Wahrheit . . .  habe« ; 
das  sei  der  Weg  zur  Hierarchie.  Er  glaube  vielmehr,  daß,  wenn  ein 
Volk  die  reine  natürliche  Religion  hätte,  in  einigen  Generationen 
Zusätze  aus  einer  positiven  Religion  gemacht  werden;  »so  sind 
meines  Erachtens  alle  Offenbarungen  entstanden,  deren  sich  ver- 
schiedene Völker  des  Erdbodens  rühmen«.  Es  liegt  hier  zwar  ein 
allerdings  mit  Rücksicht  auf  Schlözers  Fragestellung  —  »ob  die  ge* 
offenbarte  Religion  dem  Staate  notwendig  sei«  —  besonders  auf= 
klärerisch  gefärbter  Ausdruck  vor,  der  sogar  einen  von  Nicolai 
übersehenen  Circulus  enthält;  indessen  an  der  durchscheinenden 
Grundauffassung,  daß  Religion  ohne  Offenbarung  möglich  sei,  hat 
er  stets  festgehalten,  und  sie  auch  im  Sebaldus  Nothanker  vertreten. 
Natürliche,  zwingende  Folgerung  aus  dieser  Polarität  wäre  es  ge* 
wesen,  wenn  hüben  und  drüben  die  Brücken  abgebrochen  worden 
wären.  Die  Ehrlichkeit,  das  unbedingte  Vertreten  seines  so  gewor= 
denen  Werkes  trotz  aller  halb  oder  ganz  eingestandenen  Schwächen 
gerade  gegen  die  Seite,  der  sein  Kampf  galt,  machte  es  für  Herder 
erforderlich,  auch  die  äußere  Folgerung  aus  seiner  geistigen  Stel* 
lungnahme  zu  ziehen  und  sich  von  Nicolai  zu  trennen.  Zu  all  jenen 
Gegensätzlichkeiten,  die  wir  darzustellen  suchten:  zu  der  Divergenz 
ihrer  Anschauungen  über  Klopstock;  der  x\blehnung  Hamanns,  zu 
dem  Herdersich  eben  wieder  zurückgefunden  hatte,  durch  Nicolai: 
zu  Nicolais  Bekämpfung  dessen,  was  Herder  mit  Recht  für  festge* 
gründeten  Ausdruck  seines  Wesens  hielt,  nämlich  seiner  stilistischen 
Eigenart;  zu  der  durchscheinenden  Ablehnung  von  Herders  Autor* 

•  Herder  an  Hamann  Mai  1774  (Roth  V,  70). 

^  Nicolai  an  Schlözer  14.  III.  72.  Ich  gebe  diesen  Briefwechsel  im  Anhang  wieder. 

194 


Schaft  in  den  »Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen«  und  »Von  deut* 
scher  Art  und  Kunst«  —  zu  allen  diesen  Gegensätzlichkeiten  trat 
hier  der  im  Tiefsten  trennende  Gegensatz  zweierWerke.  Hier  konnte 
Herder  nicht  schweigend  »abbiegen«,  sondern  mußte  seine  Art 
bekennen.  Und  um  so  mehr,  als  Nicolais  mannigfache  Ablehnung 
nunmehr  bestimmte  Stellung  gegen  den  ganzen  Kreis  einnahm  \  auf 
den  und  in  dem  er  zu  wirken  glaubte.  Und  hier,  wo  es  nicht  nur 
mehr  um  die  eigene  Person  ging,  wo  er  seine  Freunde  an  Nicolai 
verraten  hätte,  wenn  er  nicht  Widerspruch  erhob  und  sich  deutlich 
von  ihm  abwandte,  wo  der  Autor  ein  Kompromiß  mit  dem  Manne 
hätte  schließen  müssen,  dessen  Wesen  und  Denken  sein  aus  tiefster 
Inbrunst  erwachsenes  Werk  so  nachdrücklich  und  heftig  bekämpfte 
—  hier  mußte  Herder  Nicolai  eine  Absage  erteilen.  Schon  am 
2.  März  1773  hatte  er  Hamann  die  Lockerung  seines  Verhältnisses 
zu  Nicolai  und  die  Absicht  der  Auflösung  mitgeteilt"-.  Noch  am 
19.  Juni  1773  berichtet  er,  nach  dem  Empfang  des  Nothanker,  an 
Nicolai  ganz  objektiv  über  das  fast  begeisterte  Lob,  das  er  auf  sei* 
ner  Reise  allenthalben  über  den  Sebaldus  Nothanker  gehört  habe. 
»So  verschieden  natürlich«,  bemerkt  er  allerdings,  wie  alles  Götter* 
und  Menschenwerk  auch  dieses  genommen  werden  muß  (I),  so  sind 
wenigstens  alle  darüber  einstimmig,  daß  es  für  Deutschland  so  wahr 
und  genau  aufgenommen,  so  fest  durchgehalten,  und  so  eigentlich 
und  stark  angelegt  sei,  daß  es  von  den  zwei  Seiten  Nutzen  schaffen 
müßte  (!),  von  denen  Deutschland  denn  auch  so  sehnlich  Verände* 

'  Der  bei  O.  Hoffmann  a.  a.  O  S.lOl  abgedruckte  Brief  Nicolais  an  Herder  vom 
25.  VI.  1773  stellt  nur  eine  Nachschrift  zu  dem  mit  gleicher  Post  abgegangenen 
Brief  an  Herder  dar,  der  als  verloren  gelten  muß.  In  diesem  »inliegenden«  Brief 
muß  Nicolai  gegen  Goethe  und  vermutlich  auch  Lavater  polemisiert  haben,  wie 
aus  Herders  noch  zu  erwähnender  Antwort  (vom  14.  VIII.  73)  ersichtlich  ist. 
'■'  Bei  O.  Hoftmann,  Herders  Briefe  an  Hamann,  S.  71  ff.  Er  erklärt  dort  die  Tat* 
Sache,  dai^  er  Hamanns  an  Eberhard  zur  Weiterbeförderung  an  Herder  über* 
sandten  Brief  erst  so  spät  erhalten  habe,  damit,  dal^  Eberhard  den  Brief  Nicolai 
übergeben  hatte,  »den  ich  denn  auch  nicht  so  gar  viel  mehr  kenne«.  Seine  Mit- 
arbeit an  der  Bibliothek  habe  sich  darauf  beschränkt,  alte  Schulden  abzutragen. 
»Neulich  hab  ich  Klopstock  Oden  dahin  gegeben  und  denke  mit  Sulzer  ganz 
den  Tanz  zu  beschließen,  was  auch  Nicolai  gern  sehen  wird,  weil  meine  Rezen* 
sionen,  wie  er  selbst  wehklagt,  seine  andern,  ich  weiß  nicht  ob  verrufen  oder 
auszeichnen.  Genug  wir  sind  Beid'  auf  einem  Punkt,  uns  einander  zu 
segnen.« 

13*  195 


rung  und  Umwechslung  erwartet«;  und  er  verspricht  ein  ausführ* 
Hcheres  Urteil,  sobald  er  den  Roman  selbst  gelesen  haben  werde. 
Alles  in  allem  in  Nicolais  Ohren  jedenfalls  ein  unbedingtes  Lob 
seines  Romanes,  in  Wahrheit  freilich  eine  durch  den  Bericht  der  all* 
gemein  beifälligen  Aufnahme  verschleierte  kühle  Abwehr.  Dann 
aber,  nach  der  Lektüre  des  Romans,  und  nach  Nicolais  Mitteilungen 
über  den  unerwartet  großen  Beifall,  den  derselbe  gefunden  hatte, 
nach  den  schon  erwähnten  gleichzeitigen  Nicolaischen  Angriffen 
gegen  seine  Freunde  sind  alle  Hemmungen  beseitigt;  jetzt,  am 
14.  August,  vollzieht  er  die  Aufkündigung  in  einem  kurzen  und 
kühlen  Brief.  Er  lehnt  die  ihm  aufgetragene  Rezension  der  Blätter 
»Von  deutscher  Art  und  Kunst«  mit  dem  Hinweis  auf  seine  Mit* 
arbeiterschaft  an  denselben  ab,  nimmt  Goethe  gegen  anscheinende 
Invektiven  Nicolais  in  Schutz,  .indem  er  nachdrücklich  bemerkt, 
daß  der  V^erfasser  des  »Götz  von  Berlichingen«,  gegen  den  er  keine 
»Marionette  von  neuerem  Kunstwerk«  eintauschen  möchte,  »ein 
Kopf«  sein  müsse.  Zugleich  bittet  er  »auf  einige  Zeit«  um  Abschied 
von  der  Bibliothek;  er  werde  derselben  »vielleicht  von  Band  zu 
Band  unbequemer«,  da  er  zu  sehr  »in  anderen  Arbeiten  tummle« 
und  sein  ästhetisches  Urteil  vielleicht  »zu  sehr  altere  und  giere«; 
bei  außerordentlichen  Fällen  stehe  er  Nicolai  jedoch  zur  Ver* 
fügung.  Auf  Nicolais  Bitte  um  weitere  Mitarbeit  wiederholt  er 
in  seinem  kurzen  Begleitschreiben  zu  den  letzten  rückständigen 
Rezensionen,  das  Nicolai  am  12,  Januar  1774  empfingt  —  seine 
Absage;  er  sende  die  letzten  Rezensionen,  um  seiner  Pflicht  nach* 
zukommen,  würde  es  aber  gern  sehen,  wenn  er  sie  ungedruckt 
zurück  erhielte;  auch  diese  Rezension  sei  »frei«,  und  er  sei  fast 
müde,  sich  »mit  freien  Rezensionen  Feinde  zu  machen«,  ohne  es 
zu  dürfen  —  ein  vorgeschobener  Grund,  wofern  man  nicht  die 
Herdersche  Müdigkeit  als  eine  Müdigkeit  der  Bibliothek  gegen* 
über  ansieht.  Auf  zwei  weitere  kurze  Briefe  erhielt  Nicolai  keine 
Antwort,  erst  auf  einen  recht  ausführlichen,  der  Herder  nochmals 
zu  einem  letzten,  nunmehr  erregten  Briefwechsel  mit  Nicolai  ver* 
anlaßte. 

Denn  ganz  anders  mußte  sich,  seiner  Art  gemäß,  Nicolai  ver* 
halten,  nachdem  er  —  und  zwar  er,  wie  auch  R.  Haym  urteilt,  zu* 
'  Nach  Nicolais  Empfangsnotiz.  O.  Hoffmann  a.  a.  O.  S.  104. 

196 


erst'  —  die  mannigfachen  Gegensätzlichkeiten  bemerkt  hatte.  Es  lag 
ihm  nicht  sowohl  daran,  die  in  jedem  Falle  beträchtliche,  anregende 
Kraft  Herders  für  die  Bibliothek  zu  erhalten;  ist  er  doch  vielmehr 
sich  bewußt,  daß  Herders  Mitarbeit  durch  die  stilistische  Eigenart 
der  Rezensionen  andauernd,  trotz  der  wechselnden  Zeichen,  ver* 
raten  wird,  und  macht  ihn  doch  Merck  darauf  aufmerksam'-,  daß  es 
nicht  sehr  »politisch«  sei,  Herder  mitarbeiten  zu  lassen,  der  »so  ganz 
allein  dasteht  und  beinahe  den  anderen  Kommiütionen  so  viel  Un* 
heil  zufügt,  als  ob  er  sie  schon  rezensiert  hätte«.  Einzig  die  von  uns 
schon  charakterisierte  kompromißhafte  Toleranz  Nicolais  hat  es 
bewirkt,  daß  er  den  Verkehr  mit  Herder  in  der  alten  Weise  fort* 
setzte,  ja  daß  er  Herder  durch  Zuweisung  neuer  und  wichtiger  Re= 
zensionen,  mochte  er  auch  im  Urteil,  wie  hinsichtlich  der  Klopstock* 
rezension,  erheblich  abweichen,  nur  noch  fester  an  die  Bibliothek 
zu  ketten  suchte.  Nichts  ist  daher  für  ihn  natürlicher,  als  daß  er  auf 
Herders  Absage  in  einem  recht  freundschaftlich  gehaltenen  Brief '^ 
Herder  bittet,  seine  xMitarbeit  fortzusetzen;  er  sei  freilich  in  vielen 
Stücken  ganz  anderer  Meinung  als  Herder;  wenn  er  das  Glück 
hätte,  mit  Herder  persönlichen  Umgang  zu  pflegen,  so  würde  er 
versuchen,  Herder  zu  seiner  Auffassungsweise  zu  bekehren,  da  dem 
aber  nicht  so  sei,  freue  er  sich  wenigstens,  ungeachtet  der  inhalt* 
liehen  Gegensätze,  die  ihm  widerstrebenden  Dinge  von  Herder 
»mit  allem  Feuer  der  Einbildungskraft«  verteidigt  zu  sehen.  Auf 
Herders  schon  erwähnten  zweiten  Absagebrief  fragt  er  nochmals  *, 
ob  wirklich  keine  Hoffnung  mehr  sei,  Rezensionen  von  Herder  zu 
erhalten.  Die  Bibliothek  verliere  durch  Herders  Fortgang  so  sehr, 
daß  er  nur  hoffen  wolle,  Herder  würde  einmal  »in  bessere  Laune 
'  R.  Haym  a.  a.  O.  S.479f.  — Vgl.  Nicolai  an  Herder  19.XI.71,  nachdem  er  gegen 
die  Originalgenies  polemisiert  hat:  »vielleicht  sollte  ich  Ihnen  am  wenigsten  da= 
von  vorschwatzen,  .  .  .  denn  ich  glaube  fast,  Sie  haben  die  entgegengesetzte  Par= 
tei  ergriffen«.  Ähnlich  bemerkt  er  25.  I.  72,  nach  einer  Polemik  gegen  Herders 
Schreibart,  er  könne- sich  schriftlich  nicht  mit  der  wünschenswerten  Klarheit 
ausdrücken;  »wir  sind  zu  weit  auseinander«. 

'  Merck  an  Nicolai  7.  XI.  72  =  Wagner,  Briefe  aus  dem  Freundeskreise.  Nicolai 
hat  diese  Stelle  in  Mercks  Brief  rot  angestrichen  (NN.).  War  dies  eine  Anspielung 
auf  die  schon  erwähnte  auszeichnende  Beurteilung  der  Herderschen  Rezensionen 
durch  die  Frankf.  Gel.  Anz.?  (s.  o.  S.  179,  Anm.) 
'  Nicolai  an  Herder  6.  IX.  73. 
*  Nicolai  an  Herder  14.  I.  74. 

197 


kommen«.  Auf  diesen  Brief,  wie  auf  die  Übersendung  des  zweiten 
Stückes  des  21.  Bandes  der  Bibliothek '^  erhält  er  von  Herder  keine 
Antwort,  wohl  aber,  wie  er  vermutet',  in  Herders  Auftrag  ein  Exem- 
plar der  »Aeltesten  Urkunde«,  ein  »Freundschaftszeichen«,  für  das 
er  Herder  danken  zu  müssen  glaubt.  Dieser  Dankbrief  Nicolais 
aber  (vom  13.  VI.  74)  ist  zugleich  ein  ausdrücklicher  Scheidebrief. 
Er  befürchte  zwar  noch  nicht,  daß  Herder  ihm  seine  Offenherzig* 
keiten  übel  genommen  habe,  allein  er  bemerke  doch,  daß  ihre  Mei« 
nungen,  »je  mehr  sie  sich  entwickeln,  desto  weiter  auseinander* 
gehen«,  und  könne  daher  schwerlich  mehr  von  Herder  Beiträge  zur 
Bibliothek  erwarten;  »wenn  wir  aber  scheiden,  so  sei  es  brüderlich, 
wie  jene  Patriarchen:  ,Wilt  du  zur  rechten,  so  will  ich  zur  linken'.« 
Nach  dieser  Einleitung  geht  er  auf  die  »Urkunde«  ein. 

Am  Tage  vorher  hat  er  in  einem  langen  Brief  an  Lavater  seine 
»nicht  hohe«  Meinung  über  die  »Aelteste  Urkunde«  auseinander* 
gesetzt '.  »Ich  lasse  freilich  so  schreiben,  wer  so  denken  und  so  emp* 
finden  kann  —  aber  dem  menschli(chen)  Geschlecht  ist  meines  Er* 
achtens  damit  gar  nicht  geholfen.  Welche  Dreieinigkeit,  welche 
Menschenwerdung,  welches  Geheimnis,  welche  Schwärmerei  wollte 
ich  nicht  ebenso  rätselhaft,  so  pomphaft  mit  solchem  Raketenfeuer 
vortragen  und  anpreisen.  Wo  will  ich  nicht  geheimen  Sinn  und 
göttliche  Weisheit  finden,  wenn  ich  bloß  die  Blendlaternen  der 
inneren  Empfindung  und  keine  Abstraktion  oder  Demonstration^ 
anwenden  darf,  auf  die  unser  Freund  so  unbilligerweise  schilt.« 
Er  verteidigt  die  Demonstration  und  stellt  sie  über  Herders 
Methode:  »Durch  bloße  Sprünge,  abgebrochene  Gedankenaus* 
rufung  lasse  ich  jeden  vernünftigen  Mann  weit  kälter  als  bei  der 
kältsten  Demonstration, und  wenn  ich  zwölf!!!!  hinsetzte.«  Mit  schar* 
fen  Worten  wendet  er  sich  gegen  Herders  in  der  Tat  höchst  maßlose 
Verächtlichmachung  der  wissenschaftlichen  Leistungen  anderer'; 

^  Nicolai  an  Herder  29.  HI.  74. 

-  Nicolai  an  Herder  13.  VI.  74. 

■  Nicolai  an  Lavater  12.  VI.  74  Copie  in  NN. 

^  So  triumphiert  er  in  einer  Randbemerkung  seines  Exemplars  von  Werthers  Lci= 

den  (Düntzer,  Schnorrs  Archiv  X,  390),  daß  auch  W'erther,  wo  er  sich  ganz  deut= 

lieh  geben  wolle,  »Abstraktionen«  brauche.  Düntzer  hat  diese  Randbemerkung 

mißdeutet. 

■'  Insbesondere  der  Übersetzung  des  Alten  Testaments  von  Michaelis. 

198 


er  wirft  Herder  vor,  daß  er  »zu  viel  z\nstalten  mache«  für  seine 
wenigen  Ergebnisse:  und  die  besten  derselben  seien  nicht  einmal 
neu,  vielmehr  stehe  schon  in  Brydones  »Reise  nach  Sizilien«,  wo 
er  vom  Ätna  die  Sonne  aufgehen  sehe,  »Herders  ganzer  erster  Teil 
auf  einem  Blatte,  ohne  Prunk  und  macht  ein  vortreffliches  Bild.« 
Solches  Verfahren  aber  sei  für  die  deutsche  Wissenschaft  eine  große 
Gefahr:  »Die  leidige  Originalsucht,  wird  endlich  noch  alle  Celehr* 
samkeit  dem  menschlichen  Geschlechte  unnütz  machen ;« ^  besonders 
aber  schade  sie  der  schönen  Literatur  bei  den  Großen,  die  kaum 
angefangen  hätten,  der  deutschen  Literatur  Geschmack  abzugewin* 
nen ;  wenn  sie  »den  David,  die  gelehrte  Republik,  die  Urkunde,  die 
deutsche  Art  und  Kunst,  die  Frankfurter  Zeitungen,  den  Wands* 
becker  Boten«  in  die  Hand  bekämen,  könne  man  ihnen  schwerlich 
»das  Gute,  das  in  der  .Republik',  in  der  .Urkunde',  in  der  ,Art' 
i  st«,  begreiflich  machen ;  »ihr  gelindestes  Urteil«  könne  sein : »,  Paule, 
du  rasest,  deine  große  Kunst  macht  dich  rasen'.  Und  man  muß  still* 
schweigen.«  Lavaters  Lob  der  Urkunde  weist  er  mit  bestimmter 
Entschiedenheit  zurück.  Wenn  Lavater  die  Urkunde  in  »hoher  Ima* 
gination«  einer  Pyramide  vergliche,  so  nehme  er  diesen  Vergleich 
gern  an;  nur  nicht  in  »unbestimmter  Bewunderung«,  sondern  in 
der  klaren  Erkenntnis:  »ein  ungeheures  Gebäude,  von  außen  bau= 
fällig  und  inwendig  leer  und  dunkel,  über  dessen  Anlage  man  er* 
staunt  und  dessen  Absicht  man  nur  ungewiß  vermuten  kann,  das 
der  Neugierige  einmahl  betrachtet  und  schwerlich  zum  zweiten 
mahle  wiederkommt«.  Er  liebe  indessen  keine  Bücher,  die  Stein* 
massen  glichen;  er  wünsche  »wohnbare  Häuser  für  das  Ganze  des 
menschlichen  Geschlechts,  und  Palläste  und  Gärten  für  die  wenigen 
Auserlesenen,  die  den  Aufwand  zu  bestreiten  wissen.« 

Diese  Polemik  gegen  die  »Urkunde«,  gegen  die  Form,  wie  gegen 
den  Geist  der  Schrift,  die  Nicolai  bald  in  einem  Brief  an  Johannes 
Müller  fortsetzt-,  ist  nun  in  ihren  Grundzügen,  wenn  auch  im 
wesentlichen  in  der  äußeren  Form  geglättet  und  gemildert,  der 
Hauptteil  seines  »Patriarchen«briefes  an  Herder.  Die  Polemik  be* 

'  Ganz  ähnlich  Eberhard  an  Nicolai  23.  VII.  74  (NN.)  in  einem  für  die  Stimmung 

der  »Berliner«  gegen  Herder  ungemein  bezeichnenden  Brief,  den  ich  im  Anhang 

wiedergebe. 

-  Nicolai  an  ]oh.  Müller  10.  X.  74  (a.a.O.  S.90) 

199 


ginnt  mit  Angriffen  gegen  die  Form  der  Herderschen  Schrift.  Er  habe 
wohl  gelesen,  nicht  aber  verstanden,  beginnt  er;  freilich  verstehe  er 
als  »Altfranke«  (s.o.  S.82,  Anm.2)  »die  Sprache  der  Zünfte  nicht«, 
aber  selbst  ein  Freund  Herders  hätte  einem  anderen,  wie  er  erfahren 
habe,  geraten,  über  die  Urkunde  erst  zu  urteilen,  wenn  er  dieselbe 
siebenmal  durchgelesen  hätte.  Ob  Herder  es  nicht  so  hätte  einrichten 
können,  daß  sie  wenigstens  beim  drei*  bis  viermaligen  Durchlesen 
verständlich  wäre?  Müsse  er  nicht  fürchten,  daß  »vor  dem  Jahre 
2240  ein  neuer  Michaelis  über  seine  Urkunde«  komme,  und  müsse 
er  nicht  schon  mit  einem  solchen  zufrieden  sein,  da  ein  Kommen* 
tator,  der  nicht  kalt  demonstriere,  sondern  sich  »auf  seine  innere 
Kraft  und  Gegenwart«  berufe,  noch  weif  schlimmer  mit  seiner  Schrift 
umspringen  werde?  Herder  kenne  seine  »Grille«  schon,  daß  er  eine 
Sprache  vorziehe,  die  dem  Lauf  eines  ruhigen  Flusses  in  seinem  na* 
türlichen  Bett  gliche;  zwar  sei  der  Wandsbecker  Bote  anderer  Mei* 
nung  und  zöge  eine  Schreibart  vor,  die  wie  der  Lauf  der  Donau 
einherbrause,  doch  bleibe  er  bei  seiner  Meinung.  Was  aber  könne 
man  in  Herders  Schrift  überhaupt  finden,  was  für  die  Mühe  ent= 
schädige?  »Bilder  eines  Morgenschlummers  glänzen  auf  und  ver* 
schwinden,  wie  ihre  Mutter,  die  Morgenröte,  und  da  metaphorische 
Ausdrücke  einem  Beutel  gleichen,  den  man  nach  Belieben  auf*  und 
zuziehen  kann,  wie  man  will,  so  werden  wir  nicht  so  töricht  sein, 
den  Beutel  weiter  aufzuziehen  als  daß  wir  herauslangten,  was  in 
unseren  Kram  dient,  und  dann  husch!  ist  er  zu.«  Wesentlich  kürzer 
ist  die  Polemik  gegen  den  Geist  der  Herderschen  Schrift.  Aber  hier 
gelangt  Nicolai  zu  einer  Formulierung  der  Gegensätze  von  weit* 
tragendster  Bedeutung.  An  die  schon  im  Brief  an  Lavater  erwähnte 
Stelle  aus  Brydones  »Reise  nach  Sizilien«  anknüpfend,  gibt  er  eine 
Gedankenkette  wieder,  die,  von  einem  zufälligen  und  Herder  zu* 
liebe  gewählten  Ausgangspunkt  fortgesetzt,  da  endet,  wo  Nicolais 
Denken  in  gewissem  Sinrte  überhaupt  mündet.  Wenn  Moses,  über* 
legt  er,  nun  ebenfalls  auf  dem  Ätna  gestanden  hätte,  als  er  die  Schöp* 
fung  beschrieb,  wenn  die  Gesetzgebung  auf  dem  Ätna  statt  auf  dem 
Sinai  vor  sich  gegangen  wäre,  würde  nicht  das  Paradies  anstatt  in 
Kleinasien  in  Sizilien  liegen  können?  Ja,  wenn  es  möglich  sei,  die 
orientalische  Bilder*  und  Hieroglyphenschrift  nach  Europa  zu  ver* 
pflanzen,  so  müsse  »unser  europäischer  Boden  auch  ein  Paradies 

200 


tragen  können«.  —  Zwei  Gedankenkerne  stecken  in  diesen  Sätzen. 
Der  eine  ist  der  Kern  seiner  Geschichtsauffassung  im  Gegensatz  zu 
der  Herderschen.  Nicolai  will  zeigen,  daß  Herder  sich  der  geschieht* 
liehen  Forschung  lediglich  als  eines  ermittelnden  und  interpretieren* 
den  Verfahrens  bedient;  Nicolai  hingegen,  dem  wir  historischen 
Sinn  und  die  Fähigkeit,  ja  Liebe  zur  historischen  Forschung,  wie 
wir  sahen,  nicht  absprechen  können,  will  das  ermittelnde  und  inter* 
pretierende  Verfahren  nur  als  Vorstufe  der  Erkenntnis  gelten  lassen  ; 
die  Erkenntnis  der  Bedingungen  des  Seienden  (oder  Gewesenen) 
soll  absolute  Erkenntnis  ermöglichen,  wie  etwa  Montesquieu  die 
Bedingungen  der  englischen  Freiheit  bestimmt,  um  diese  Verfassung 
als  übertragbar  zu  erweisen.  Die  Ausschaltung  der  bloß  hi* 
storischen  Bedingungen  führt  zur  Erkenntnis  des  Überzeitlichen. 
Auf  diesen  besonderen  Fall  angewandt,  will  Nicolai,  während  Her* 
der  die  alttestamentarische  Schöpfungsgeschichte  interpretiert,  die 
Frage  vielmehr  so  fassen:  was  für  einen  Begriff  der  Schöpfung 
müßten  wir  haben,  wenn  die  Schöpfungsgeschichte  eben  nicht  im 
Alten  Testament  überliefert  wäre?  Ermitteln  wir  die  bloß  histo* 
tischen  Bedingungen  derselben,  um  die  Fragen  nach  einer  Welt* 
Schöpfung  unabhängig  von  dem  einmalig*historischen  Bericht  zu  er* 
heben!  —  Der  andere  der  in  jenen  Sätzen  enthaltene  Gedankenkeime 
zeigt  eine  allgemeinere,  derj  enigen  des  anderen  parallele  Entf altungs  * 
tendenz.  Wenn  sogar  die  orientalische  Bilder*  und  Hieroglyphen* 
Schrift  sich  in  Europa  wiederfinde,  sagt  Nicolai,  so  muß  auch  die 
Paradiesesvorstellung  in  Europa  heimisch  sein  oder  werden  können ; 
nicht  nur  ein  orientalisches  Paradies,  sondern  auch  ein  Paradies  auf 
europäischem  Boden  kann  vorgestellt  werden.  Diesem  Nicolaischen 
Satz  —  »unser  europäischer  Boden  muß  auch  ein  Paradies  tragen  kön* 
nen«  —  ist  aber  nicht  als  ernsthafte  Lokalisationstheorie  aufzufassen ; 
er  ist  vielmehr  der  symbolische  Ausdruck  der  geheimsten  aufkläre* 
rischen  Gedanken.  Ein  Paradies  muß  möglich  sein!  Und  wer  wird 
es  bewohnen  als  die  Menschen  kommender  Zeiten?  Wir  ahnen  die 
Wege  seines  Denkens  von  diesem  Punkt  aus;  sie  münden  sicherlich 
in  die  allgemeinen  aufklärerischen  Gedanken,  wie  sie  insbesondere 
die  französische  Aufklärungsphilosophie  ausgeprägt  hat.  Verfolgen 
können  wir  diesenWeg  bei  Nicolai  nicht;  der  nüchterne  Mann  hat 
diese  Gedanken  an  keinem  Orte  seiner  Schriften  weitergesponnen.  — 

201 


Prinzipielle  Gegensätze  von  der  größten  Schärfe  hatten  sich  aut= 
getan  und  waren  in  diesem  Briefe  von  Nicolai  dargelegt  oder  an^ 
gedeutet.  Die  Geister  trennten  sich.  Mußten  es  auch  die  Menschen? 
Von  Nicolais  Seite  war  hierzu  keine  Nötigung;  hat  er  doch  bei= 
spielsweise  den  freundschaftlichen  Verkehr  mit  dem  Franziskaner* 
pater  Denis  noch  zu  einer  Zeit  fortgesetzt,  da  er  gegen  die  geist« 
liehen  Orden  die  heftigste  Fehde  führte.  Er  selbst  bezeichnete  später  ^ 
diesen  Scheidebrief  an  Herder  als  ein  »freundschaftliches«  Schrei* 
ben,  und  wir  dürfen  ihm  die  subjektive  Wahrhaftigkeit  dieser  Be* 
Zeichnung  glauben,  wenn  wir  sie  auch  nicht  objektiv  zutreffend 
finden.  Herder  aber,  der  wie  Hamann  und  Lavater  Mensch  und 
Autor  identisch  wissen  will,  fühlt  sich  auch  als  Mensch  getroffen - 
und  erwidert  diesen  Scheidebrief  mit  einem  auch  gegen  den  Men* 
sehen  Nicolai  gerichteten.  Es  entsprach  seiner  Natur,  dai^  er  hier 
seine  mannigfache  Gereiztheit  und  Verstimmung  entlud;  eine 
Zwischenträgerei  Lavaters'  mochte  wohl  zu  dieser  Wendung  bei* 
getragen  haben,  hat  sie  jedoch  sicher  nicht  ausschliefMich  herbei* 
geführt;  denn  schon  ein  Jahr  früher  hatten  die  »Gefundenen  Blätter 
aus  den  neuesten  Deutschen  Literaturannalen«  (Suphan  5,  264)  mit 
der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek,  diesem  »Buchdrucker* 
gesellengesang«,  diesem  »stumpfen  Papier  aus  westphälischen  Lum* 
pen  und  Morastwasser«  und  ihrem  Herausgeber  weniger  gründlich 
als  bissig  abgerechnet.  Wenn  ein  Bibliothekenmitglied  von  seinem 
Verleger  (!)  Abschied  nehme,  schreibt  er*,  so  sei  damit  eben  das 
letzte  W^ort  gefallen;  weshalb  aber  glaube  Nicolai  sich  zu  einem 
solchen  »letzten  Patriarchen*Rippenstoß«  berechtigt?  »Literarische 
Feindschaften«  habe  er  mit  Nicolai  nie  gehabt;  hätten  sich  Gegen* 
sätze  in  ihren  Meinungen  offenbart,  wie  schon  seit  langer  Zeit,  so 
hätte  er  es  stets  für  das  Beste  gehalten,  »abzubiegen  und  davon  zu 
schweigen.«  Die  Art,  wie  Nicolai  »den  Handel  ende«,  befremde  ihn 
aufs  äußerste.  Was  habe  er  mit  seiner  Lektion  über  die  »Urkunde« 
eigentlich  bewirken  wollen?  Habe  er  Herder  oder  die  Urkunde  oder 
das  Publikum  ändern  wollen?  Herder  sicher  nicht,  da  Nicolai  ein 

1  In  der  Schrift  gegen  Buhle  (1806)  Anm.  24. 

-  Vgl.  s.  Brief  an  Hartknoch  vom  23.  VII.  74. 

'  Wie  Nicolai  in  der  Schrift  gegen  Buhle  (Anm.  24)  annimmt. 

*  Herder  an  Nicolai  29.  VII.  74. 

202 


maßgebendes  Urteil  um  so  weniger  fällen  könne,  als  er  selbst  zugebe, 
sie  nicht  einmal  verstanden  zu  haben;  die  Urkunde,  das  »phantas* 
tische,  abscheuliche  Ding«,  könne  Nicolais  »phantasieloser  aufge« 
klärter,  ebener  Genius«  ebenfalls  nicht  mehr  ändern;  das  Publikum 
zu  ändern  sei  ein  Brief  an  ihn,den  Autor,  nicht  der  Ort;  einen  solchen 
Brief  hätte  Nicolai  an  den  Rezensenten  der  Allgemeinen  Deutschen 
Bibliothek  schreiben  können,  der  die  »Urkunde«  rezensieren  werde. 
Wenn  Nicolai  aber  immer  wieder  die  Abstände  ihrer  Denkungsart 
betone,  so  müsse  er  endlich  einmal  heraussagen:  »Behüt's  Gott! 
Zumal  in  den  gewissen  Sachen,  die  man  denn  wohl  nicht  gern 
nennt.«  Aber  habe  er  je  so  denken  wollen?  »Und  wer  sind  Sie, 
mein  Herr,  und  all  Ihre  Freunde,  daß  Sie  Ihre  Denkart  zur  Norm(!) 
alles  Wissens  und  Denkens  anschlagen?  Wie  Herr  Nicolai  über 
jenes  Stück  des  ägyptischen,  morgenländischen,  griechischen  Alter* 
tums  denkt  —  wer  ist,  der  je  danach  gefragt  hat,  fragt  und  fragen 
wird  in  saecula  saeculorum  Amen!«  Auf  Nicolais  Vorwürfe  gegen 
seine  Schreibart  erwidert  er  mit  der  Frage:  »habe  ich  Ihnen  je  eine 
Silbe  über  Ihre  Einbildung^  in  Nothnagels  Sandwüsten  etc.  gesagt, 
oder  zu  sagen  es  nötig  gefunden?«  Was  gehe  es  ihn  an,  wie  sich 
die  Aelteste  Urkunde  lese?  »Meinetwegen  lasse  sich  die  Schrift  wie 
Sebaldus  Nothanker  lesen  oder  Eberh(ards)  Pr(edigt)  von  J(esus) 
Ch(ristus)  dem  Gekreuzigten,  oder  Ludovic(i)  Kaufmannslex(i« 
kon)^!  Mit  einer  leeren  Ergebenheitsformel  schließt  dieser  Brief, 
von  dem  Herder  wünscht,  daß  er  »der  erste  und  letzte«  sei,  den  sie 
in  dieser  Art  wechseln. 

Nicolai  aber  fühlt  sich  noch  zu  einem  letzten  Wort  verpflichtet; 
klug  im  gewöhnlichen  Sinne  können  wir  diesen  Brief  nicht  nennen, 
aber  er  zeigt  eine  überlegene  Güte,  die  uns  Nicolai  menschlich 
näher  bringt.  Er  will  Herder  zeigen,  wie  tief  dieser  ihn  verletzt  hat, 
und  will  ihm  das  um  Herders  willen  zeigen.  Einen  solchen  Absage* 
brief  von  Klotz  habe  er  leicht  aufgenommen,  nicht  aber  von  Herder. 
Er  verteidigt  sich  gegen  die  Herderschen  Anw^ürfe  der  Phantasie* 
losigkeit,  des  normierenden  Dünkels  recht  geschickt;  aber  er  zeigt 
auch  den  Widerspruch  in  Herders  letztem  Briefe  auf,  daß  er  trotz  der 

^  =  Einbildungskraft,  Phantasie. 

-  Ludovici  Kaufmannslexikon:  vgl.  Hamann  in  »An  die  Hexe  zu  Kadmonbor«. 

(die  Herder  kannte)  Roth  4,  172. 

203 


persönlichen  Beleidigungen  Nicolai  dennoch  für  manche  Dienste 
seiner  Freundschaft  verbunden  zu  sein  glaube;  er  weist  darauf  hin, 
wie  unwahr  Herders  oft  bezeugte  Freundschaft  gewesen  sein  müsse, 
wenn  er  es  zwei  Jahre  hindurch  fertig  gebracht  habe,  da,  wo  er 
zu  Nicolais  Ansichten  im  Gegensatz  stand,  »abzubiegen  und  zu 
schweigen«;  so  sei  der  ganze  »freundschaftliche«  Briefwechsel  der 
eines  Offenherzigen  gegen  einen  Zurückhaltenden.  Daß  erst  der  ge* 
kränkte  Stolz,  der  Zorn  Herder  zu  diesem  Geständnis  bewege,  das 
ihm  das  Freundschaftsgefühl  hätte  eingeben  sollen,  werfe  auf  den 
Menschen  Herder  kein  gutes  Licht.  Nun  aber  habe  Herder  im 
»Jähzorn«  das  »Signal  zur  Feindschaft«  gegeben;  dann  müsse  er 
wissen,  »daß  derjenige,  der  in  eines  anderen  Gemüte  Feindschaft 
erregen  will  und  erregt,  nichts  Rühmliches  tut,  und  daß  derjenige, 
der  Feindschaft  erregen  will  und  nicht  erregen  kann,  verächtlich 
wird«. 

Die  Wunde,  die  Herder  durch  die  Feindseligkeiten  seines  letzten 
Briefes  Nicolai  beigebracht  hatte,  saß  tief  und  schmerzte  lange. 
Der  Bruch  Herders  mit  Nicolai  ist  auf  dessen  Entwicklung,  insbe« 
sondere  auf  sein  Verhältnis  zum  Sturm  und  Drang  von  nachhaltiger 
Wirkung  gewesen.  Weniger  stark  ist  die  Einwirkung  der  Herder* 
sehen  Kriegserklärung  auf  Nicolais  literarisches  Verhältnis  zu  Her« 
der  selbst  gewesen.  Man  kann  im  allgemeinen  feststellen,  daß  das 
weitere  literarische  Verhältnis  bis  zum  Streit  über  den  Tempel* 
herrnorden  (1782)  auf  dem  Punkt  stehen  bleibt,  wo  beide  die  Un* 
Vereinbarkeit  ihrer  Anschauungen  eingesehen  hatten.  Die  Rezension 
der  » Aeltesten  Urkunde«  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  ^ 

'  Die  Rezension  (Allg.  Dtsch.  Bibl.  25,  1,  23 ft.)  ist  nicht  signiert;  sie  hängt  mit 
der  folgenden,  von  Pistorius  verfaßten,  nicht  zusammen,  ist  vielmehr  durch 
Trennungsstriche  und  Numerierung  auch  äußerUch  abgehoben.  Der  zweite 
Band  der  »Urkunde«  (vierter  Teil)  ist  Allg.  Dtsch.  Bibl.  30,  1,  53  ff.  rezensiert. 
Diese  Rezension  ist  mit  Bl  unterzeichnet,  also  von  Eberhard;  sie  beruft  sich  auf 
dasjenige,  »was  wir  bereits  am  Ende  dieser  Rezension  des  ersten  Bandes  in  un= 
serer  Bibliothek  gesagt  haben«.  Döring,  »Herders  Leben«  2.  Aufl.  Weimar  1829, 
S.  132  Anm.  nimmt  hieraufgestützt  an,  daß  Eberhard  auch  den  ersten  Teil  der 
Urkunde  rezensiert  hat;  ihm  schließt  sich  u.  a.  auch  Ernst  Naumann  »Unter= 
suchungen  über  Herders  Stil«  S.  19  an;  vorsichtiger  drückt  sich  R.  Haym  (S.  614) 
dahin  aus,  daß  Nicolai  »für  eine  Rezension  ...  sorgte,  welche  die  Pointen  sei= 
nes  Briefes  breit  und  gründlich  wiederholte«.  Zunächst  muß  hervorgehoben 
werden,  daß  die  Rezension  des  zweiten  Bandes  sich  im  Stil  und  in  der  Färbung 

204 


vertrat  nochmals  den  schon  im  Brief  an  Herder  zum  Ausdruck  ge= 
langten  ablehnenden  Standpunkt  Nicolais  —  nur  zu  natürlich,  wie 
selbst  Freunde  Herders  fanden;  J.  K.  Pfenninger,  der  in  Lavaters 
Abwesenheit  auf  den  Brief  Nicolais  an  Lavater  eine  vorläufige 
Antwort  erteilt \  schreibt,  daß  ihn  Nicolais  Urteil  über  die  »Ur* 
künde«  anfangs  befremdet  habe,  daß  er  es  aber  schließlich  natürlich 

des  Tadels  erheblich  von  der  ersten  unterscheidet,  so  daß  man  zwei  verschiedene 
X'erFasser,  und  zwar  für  die  erstere  Rezension,  wegen  des  Vorkommens  mancher 
stilistischen  Eigentümlichkeiten  Nicolais,  —  die  Autorschaft  Nicolais  in  An* 
Spruch  nehmen  möchte.  Verfasser  der  Rezension  war  Nicolai  jedoch  nicht  oder 
nicht  ausschlielMich.  Resewitz  schickt  Nicolai  am  23.  IX.  74  (NN)  fünf  Rezen= 
sionen,  darunter  die  unaufgefordert  eingesandte  der  Aeltesten  Urkunde ;  Nicolai 
bemerkt  auf  der  Rückseite:  »es  hat  ein  anderer  Rezensent  unternommen.  Her* 
ders  Urkunde  mit  Jacob  Böhm  (so)  und  anderen  theosophische(n)  Schriften  zu 
vergleichen;  mir  schien  der  Gedanke  lehrreich.  Sie  werden  doch  hoffentlich 
nicht  übelnehmen,  wenn  Ihre  Rezension  nur  zum  Teil  gebraucht  wird. 
Ich  vergüte  Ihnen  doch  indessen  die  ganze  Arbeit«.  Ist  nun  Nicolai 
selbst  jener  »andere  Rezensent?«  Dieser  Annahme  steht  Eberhards  briefliches 
Zeugnis  entgegen  (Brief  am  27.  I.  75  von  Nicolai  empfangen.  N.  N.):  »Vor  allen 
Dingen... schick  ich  Ihnen  meine  Urkundenrezension,  ausgeflickt  nach 
Ihrer  Meinung.  Wollen  Sie  nur  die  letzten  Zusätze  noch  einmal  überlesen, 
damit  Sie  dem  Drucker  so  alles  bezeichneten,  daß  er  keinen  Bock  mache.  Am 
besten  wärs,  sie  würde  noch  einmal  abgeschrieben.«  Die  Rezension  des  ersten 
Bandes  der  Urkunde,  schließen  wir  also,  hatte  demnach  drei  Verfasser:  Resewitz, 
Nicolai  und  Eberhard.  Das  Gerüst  stammte  offenbar  von  Eberhard.  Nicolai  ver= 
anlaßte  Eberhard,  Korrekturen  vorzunehmen  (»ausgeflickt  nach  Ihrer  Meinung«), 
und  verschmolz  dann  die  Rezension  mit  Resewitzschen  und  eigenen  Gedanken. 
Nicolai  hat  also  an  dieser  Rezension  erheblichen  Anteil;  sie  ist  ganz  in  seinem 
Geist  gehalten  und  vermutlich  sind  auch  einzelne  Formulierungen  von  ihm. 
Wie  genau  Nicolai  über  diese  Rezension  unterrichtet  war,  geht  daraus  hervor, 
daß  er  auf  Resewitz'  Anfrage  vom  24.  I.  75  (NN),  ob  es  nicht  zu  hart  sei,  Herder 
mit  Jacob  Böhme  zu  vergleichen,  am  Rande  bemerkte:  »Sie  werden  aus  XXV,  1 
(sc.  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.)  sehen,  daß  diese  Vergleichung  nur  scientifisch  im 
Gegensatz  der  Theosophen  gegen  die  Philosophen  ist«  usw.  Wir  werden  also 
Sätze,  die  auch  sonst  bezeugte  stilistische  Eigentümlichkeiten  Nicolais  aufweisen, 
für  Nicolai  in  Anspruch  nehmen  können,  so  z.  B.  die  ganze  Stilpolemik,  oder 
etwa  Sätze  wie:  »Da  hängt  nun  also  die  ganze  Religion  an  dem  Spinnwebe 
laden  einer  positiv  geoffenbarten  Hieroglyphe«  usw.  Auch  einzelne  polemische 
Wendungen,  wie  z.  B.  die  Verteidigung  Chr.  Wolffs  gegen  Herders  Angriffe 
oder  der  Vorwurf  der  Originalitätssucht  und  des  Eigensinns  gehen  sicher  auf 
Nicolai  zurück;  Invektiven  dieser  Art  fehlen  in  der  Rezension  des  zweiten 
Bandes. 
'  Pfenninger  an  Nicolai  10.  Vn.74.  NN. 

205 


finde:  »denn  die  ganze  vielleicht  mehr  als  dreyssig  Jahre  befestigte 
Form  Ihres  Denkens  ward  auf  so  unangenehme  Weise  angegriffen, 
daß  Sie  nicht  anders  als  empört  werden  konnten«.  Auch  Mercks 
briefliche  Zustimmung  zu  Nicolais  Urteil  über  die  Urkunde  mußte 
diesen  bestärken;  »sein  Buch  von  der  ältesten  Urkunde  ist  nach 
Form  und  Herkommen  das  abscheulichste  Buch,  das  je  geschrieben 
worden  ist«,  sagt  Merck  ^;  nichtsdestoweniger  aber  bleibe  ihm  die 
Urkunde  »als  ein  Abdruck  seines  Geistes  lieb  und  werth«.  Nicolais 
Urteil  verfestigte  sich  immer  mehr;  es  ist  äußerst  bezeichnend,  daß 
sein  ablehnender  Standpunkt  Herder  gegenüber  sich  bis  zur  Tempel== 
herrenfehde  in  keiner  Weise  weiter  entwickelt  hat,  sondern  daß 
die  Ablehnung  späterer  Herderscher  Schriften,  oder  die  Beobach* 
tung  widerwärtiger  Züge  an  dem  Menschen  Herder  nur  zur  Ver= 
festigung  jenes  ablehnenden  Urteils  gegen  die  »Urkunde«  diente. 
Einen  solchen  widerwärtigen  Zug  sah  Nicolai  in  Herders  Ver= 
fahren  gegen  Spalding,  das  Nicolai  sogar  »niederträchtig«  nennt. 
Rudolph  Haym  hat  dieses  Herdersche  Verfahren,  die  sachlichen, 
scharfen  Angriffe  Herders  gegen  Spalding  in  den  »Provinzial- 
blättern«  und  seine  förmliche  Abbitte  an  den  Menschen  Spalding, 
mit  gerechter  Verteilung  von  Licht  und  Schatten  ausführlich  dar* 
gestellt^;  so  sehr  Herder  davon  überzeugt  war,  und  mit  Recht  über== 
zeugt  sein  konnte,  daß  sein  Verfahren  nicht  unmoralisch  war,  ja 
daß  er  für  gute  Absichten  ungebührlich  und  hart  bestraft  worden 
sei,  so  sehr  waren  auch  die  Berliner  zu  ihrem  Herders  moralischen 
Charakter  verdächtigenden  Urteil  berechtigt.  Hatte  nicht  Nicolai 
gerade  von  Herder  gehört,  daß  er  in  zweijährigem  Briefwechsel  nie 
seine  wahre  Meinung  gegen  Nicolai  geäußert  hatte?  Schien  solche 

'  Merck  an  Nicolai  28.  VIII.  74.  NN.  Nicolai  hat  diese  Sätze  rot  angestrichen. 
"  R.  Haym  S.  615ff.  Die  ausführliche,  nicht  signierte  Rezension  der  ProvinziaU 
Blätter  in  der  Allg.  Dtsch.  Bibl.  23,  346  75  nimmt  natürlich  Spalding  gegen  Her; 
ders  »hämische«^  Angriffe  in  Schutz.  Herder  habe  in  einer  »ganz  neuen  Paradoxic 
des  (theologischen)  Geschmacks«  unverdaute  Einfälle  vorgebracht,  in  einem 
Orakelton,  hinter  dem  nichts  stecke.  Stilpolemik  ganz  im  Sinne  Nicolais.  Be^ 
merkenswert  ist  der  Satz  der  Rezension,  daß  »die  Absicht  der  Unterweisung 
Jesu  ganz  eigentlich  war,  den  Verstand  und  das  Gewissen  wieder  in  ihre  Rechte 
zu  setzen,  woraus  sie  durch  die  Schreckbilder  der  Priester  und  Schriftgelehrten 
waren  vertrieben  worden  .  .  .«  Vgl.  Lavaters  abfälliges  Urteil  über  diese  Rezent 
sion.  s.  u. 

206 


Zweideutigkeit  nicht  Tellers  Kombinationen  zu  bestätigen,  daß 
Herders  persönliche  Wendung  an  Spalding  um  äußerer  Vorteile 
willen  geschehen  sei?  Die  eine  dieser  Tellerschen  Mutmaßungen 
verwandte  Nicolai  alsbald.  Im  dritten  Teil  seines  »Sebaldus  Noth* 
anker«  (1776)  ist  die  Figur  des  »Vicegeneralsuperintendenten«' 
eine  Satire  gegen  Herder.  Nicolai  wußte,  daß  Gleim  sich  für  Her* 
der  beim  Minister  von  Zedlitz  eingesetzt  hatte,  um  diesem  die  Stel* 
lung  eines  Generalsuperintendenten  in  Halberstadt  zu  verschaffen; 
er  wußte  auch,  daß  Herder  sich  um  dieselbe  Stellung  in  Göttingen 
bemühte";  hier  gilt  Herder  also  als  ewiger  Kandidat  für  eine  General* 
superintendantur!  Aber  noch  mehr!  Der  »Vizegeneralsuperinten* 
dent«  im  Nothanker  ist  ein  Nachfolger  des  seligen  Stauzius,  der 
unverkennbar  die  Züge  —  Goezes  trägt!  Hier  gab  Nicolai  den 
Vorwurf,  den  ihm  Hamann  (in  der  »Hexe  zu  Kadmonbor«)  ge« 
macht  hatte,  daß  die  Dogmatik  der  Aufklärung  derjenigen  der 
Orthodoxie  eng  verwandt  sei,  Herder  zurück:  seine  Art,  Glaubens* 
fragen  durch  Machtsprüche  zu  entscheiden,  ist  im  Geist  der  Goe* 
zeschen  verwandt:  Herder  ist  ein  äußerlich  angenehmerer,  elegan* 
terer,  fortgeschrittenerer  Goeze,  der  denn  auch  die  Gunst  seines 
Fürsten  bald  erringt:  »ein  schöner  Geist,  welcher,  nach  neuester 
Art,  in  morgenländischen  Bildern  und  in  abgebrochenen  Kraft* 
phrasen,  bloß  für  das  Gefühl  predigte«.  —  Noch  eine  1777  erschie* 
nene  Rezension  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek,  die  wahr* 
scheinlich  von  Nicolai  herrührt\  stichelt  gegen  den  »geheimnis* 
vollen  Hieroglyphenkrämer«,  der,  »nachdem  er  euch  durch  unver* 
ständliche  Redensarten  und  heilige  Winke  wie  durch  einen  dunkeln 

'  Vgl.  insbes.  Sebald.  Nothanker  III,  163 f. 

'  Vgl.  Haym  S.  616t.  Auch  von  den  Bemühungen  Herders  um  eine  theologische 
Professur  in  Göttingen  war  Nicolai  unterrichtet:  vgl.  Nicolai  an  Merck  28. XII. 75 
^=  Wagner,  Briefe  an  Merck  S.  79  und  s.  Randbemerkung  zu  Petersens  Brief  vom 
10.  XI. 75.  Nicolai  spricht  an  dieser  letzteren  Stelle  die  Hoffnung  aus,  ein  Lehramt 
werde  auf  Herder  >jeine  gute  Wirkung  haben«:  »vielleicht,  wenn  er  einen  Zweck 
erlangt,  wird  er  nicht  mehr  seltsames  Zeug  schreiben,  um  Aufsehen  zu  erregen«. 
'  Die  Rezension  von  S.  v.  Goues,  des  Wetzlarer  Freundes  Goethes,  »der  hoeere 
Ruf«  (Allg.  Dtsch.  Bibl.  Anh.  z.  15/24.  Bd.  S.  1466)  ist  mit  =  unterzeichnet,  was 
Parthey  und  das  Original  der  Zeichenbücher  nicht  erklären.  Im  Briefwechsel 
Nicolais  fand  sich  keinerlei  Hinweis  auf  den  Autor  dieser  Rezension.  Stil  und 
Gedankengehalt  machen  Nicolais  Autorschaft  wahrscheinlich. 

207 


Schacht  nach  seinem  Gefallen  immer  tiefer  hineinleitet,  euch  bald 
gebietet,  die  Augen  aufzusperren,  weil  nun  durch  ein  Loch,  das  er 
allein  weiß,  das  Licht  hineinfallen  werde,  bald  euch  gebietet,  das 
Bein  hochaufzuheben,  weil  eine  Stufe  zu  ersteigen  sei,  euch  aber  in 
der  Tat  weder  schauen  noch  steigen  lasset,  sondern  euch  plötzlich 
verläßt,  ob  er  euch  bloß  habe  betören,  oder  auch  zugleich  betrügen 
wollen«.  Es  ist,  mit  neuen  Wendungen,  durchaus  die  alte  Polemik 
gegen  die  »Urkunde«,  die  hier  nach  drei  Jahren  fortgesetzt  wird. 
Auch  die  Rezensionen  anderer  Herderscher  Schriften  in  der  Allge* 
meinen  Deutschen  Bibliothek  sind,  sofern  sie  nicht  ganz  farblos 
und  zurückhaltend  referieren  \  auf  Nicolais  Standpunkt  gegenüber 
der  Urkunde  stehen  geblieben,  insbesondere  die  Kästnersche  Re* 
zension  von  Herders  »Vom  Erkennen  und  Empfinden  der  mensch* 
liehen  Seele«-.  Hier  zeigt  sich,  wie  tief  der  Riß  ist,  den  Herder 
durch  seinen  letzten  Absagebrief  geschaffen  hat. 

Die  Polemik  gegen  die  V'^olksliedtheorie  und  ==  Praxis  des  Sturms 
und  Drangs,  die  Nicolai  zwei  Jahre  nach  dem  Bruch  mit  Herder  in 
seinem  »Feynen  kleynen  Almanach«  (1776 f.)  aufnahm,  und  die, 

'  z.  B.  Anhang  z.  25/36.  Bd.  der  AUg.  Dtsch.  Bibl.  1077  »Ursachen  des  gesun= 
kenen  Geschmacks  bei  den  versch.  Völkern«  (Kästner);  5,  301 3 ff.  »Wie  die  Alten 
den  Tod  gebildet«.  (Diese  Rezension  ist  mit  Lmn  unterzeichnet,  was  Parthey 
nicht  erklärt;  indessen  ist  mir  Nicolais  Autorschaft  nicht  sehr  wahrscheinlich; 
ist  die  Unterschrift  vielleicht  ein  —  allerdings  nicht  berichtigter  —  Druckfehler? 
Mn  ist  zwar  Nicolais  Zeichen,  Lm  das  von  Herz;  dieser  rezensierte  aber  nur 
wenig  philosophische  Werke,  hauptsächlich  solche  aus  dem  Gebiet  der  »prak= 
tischen  Arznei«.  Möglich  ist  immerhin  eine  Mischrezension,  doch  hat  Nicolai 
sicher  nicht  großen  Anteil  daran.)  Ganz  farblos  referiert  auch  Eschenburg  (AUg. 
Dtsch.  Bibl.  49,  2,  321  ff.)  über  Herders  »Über  die  Wirkung  der  Dichtung  auf  die 
Sitten  der  Völker«  und  »Über  den  Einfluß  der  schönen  in  die  höheren  Wissen* 
Schäften«. 

*  Allg.  Dtsch.  Bibl.  41,  2,475ft.  Kästner  wirft  Herder  Unkenntnis  des  Leibniz= 
sehen  Systems  vor;  daher  glaube  Herder  zwar  Neues  gesagt  zu  haben,  er  habe 
aber  Bekanntes  nur  auf  neue  Art  gesagt.  Einzelne  Vorwürfe,  ziemlich  zusammen* 
hanglos  vorgebracht,  richten  sich  gegen  den  Herderschen  Subjektivismus,  gegen 
sein  konstruierendes  Verfahren,  gegen  seinen  unzulänglichen  Kraftbegriff.  Na= 
türlich  fehlte  es  nicht  an  einer  Polemik  gegen  Herders  Stil.  —  Die  in  Klammern 
eingefügten  Sätze  rühren  wahrscheinlich  von  Nicolai  her;  an  einer  Stelle  der^ 
selben  verrät  er  sich:  »Diese  nicht  eben  neuen  Gedanken  hat  Hr.  H(erder)  nach 
seiner  Art  ausgedrückt,  und  über  die  Art  des  Ausdrucks  darfman  nicht 
mit  ihm  streiten.« 

208 


wie  wir  mit  Erwin  Kircher ^  annehmen,  in  demselben  Grade  wie 
gegen  Bürgers  »Herzensausguß  über  Volkspoesie«  sich  gegen  Her* 
ders  schon  im  Ossianaufsatz  von  1773  ausgesprochene  Anschau* 
ungen  richtet,  kann  nur  im  Zusammenhang  der  gesamten  Tenden* 
zen  des  Almanachs  gewürdigt  werden;  ihre  Darstellung  bleibt  da* 
her  dem  folgenden  Kapitel  dieser  Untersuchung  vorbehalten.  Auf 
die  spätere  Fehde  Nicolais  mit  Herder  über  die  Geschichte  des 
Tempelherrnordens  einzugehen,  kann  diese  Untersuchung  sich 
versagen,  nachdem  Karl  Aner  die  Darstellung  R.  Hayms^  in  der 
wünschenswerten  Weise  berichtigt  hat  ^;  das  bedeutsamste  Ergebnis 
der  Anerschen  Untersuchung  ist  zudem  schon  an  anderer  Stelle 
dieser  Arbeit  herangezogen  worden*. 

Ein  Blick  mag  hier  noch  auf  die  spätere  Wandlung  im  literari* 
sehen  Verhältnis  zu  Herder  gestattet  sein.  Sie  ist,  ganz  analog  der 
späten  Wandlung  in  seinem  Verhältnis  zu  Klopstock,  im  Gegen* 
satz  zu  den  Romantikern  erfolgt.  In  seiner  Vorrede  zu  Schwabs 
»Gesprächen  zwischen  Christian  Wolff  und  einem  Kantianer«  (1798) 
schlägt  sich  Nicolai  ganz  auf  Herders  Seite  gegen  Friedrich  Schle* 
gel;  den  »Griechen  und  Römern«  Friedrich  Schlegels,  diesem  Buch 
»voll  vonvorniger  willkürlicher  Grillen«  stellt  er  das  gegenüber"^, 
was  Herder  »mit  echtphilosophischem  Geist«  über  die  Griechen 
sagt^.  Sein  scharfer  Blick  hat  die  mangelnde  Wertschätzung  Her* 
ders  durch  die  Romantiker'  sofort  erkannt;  Herder  wird  ihm.  darum 
ein  Helfer  im  Streit  gegen  sie,  wie  er  den  einst  abgelehnten  Klop* 
stock  nun  gegen  sie  anführt^.  An  seinem  Standpunkt  gegen  die 
»Urkunde«  hat  er  noch  in  der  Schrift  gegen  Buhle  (1806)  festge* 
halten,  »ein  sinnloses  Buch«  nennt  er  sie  auch  dort,  »des  Herders, 
welcher  den  Geist  der  hebräischen  Poesie,  die  Ideen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  der  Menschheit,  die  Briefe  über  die  Humanität  und 
die  Adrastea  schrieb,  ganz  unwürdig«.  Wie  gegen  die  Romantiker 

■  Erwin  Kircher,  Volkslied  und  Volksliedtheorie  usw.  a.  a.  O.  S.  45. 

^  R.  Haym  II,  157fif. 

'  Karl  Aner  a.  a.  O.  S.  159 ff. 

'  S.  oben  S.  6. 

'  a.  a.  O.  S.  59. 

"  »Briefe  zur  Beförderung  der  Humanität«  V  und  VI.   - 

'  Vgl.  O.  F.  Walzel,  »Deutsche  Romantik«  S.  7  ff.,  insbes.  S.  10. 

*  Vgl.  oben  S.  89. 

14  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  209 


wurde  Herder  auch  gegen  Kant  als  Zeuge  aufgerufen.  —  Herder 
machte  nach  dem  Bruch  mit  Nicolai  seinem  Groll  durch  Spottverse 
gegen  den  Nothanker  Luft,  die  er  freilich  nicht  veröffentlichte  \ 
Späterhin  suchte  er  seine  Teilnahme  an  der  Allgemeinen  Deutschen 
Bibliothek  zu  verdecken:  nur  die  ersten  Bände  will  er  »gelesen* 
haben;  und  diese  suchte  er  zwar  in  den  »Briefen  das  Studium  der 
Theologie  betreffend«  gegen  eine  Verurteilung  in  Bausch  und  Bogen 
in  Schutz  zu  nehmen "^  aber  in  der  Übersicht  über  die  deutsche 
Literatur,  die  er  in  der  achten  Sammlung  seiner  Humanitätsbriefe 
gab,  hieß  es,  nach  der  Erwähnung  von  Nicolais  Anteil  an  der  Biblio* 
thek  der  schönen  Wissenschaften  und  den  Literaturbriefen  ^:  »Was 
nach  diesen  Zeiten  geschehen  sei,  weiß  ich  nicht. . .  Vernommen 
habe  ich,  daß  man  seitdem  alles  umfasset  und  dazu  aus  allen  Ecken 
Kunstrichter  versammelt  habe;  wie  sie  gerichtet  haben,  wie  sie  rieh* 
ten  und  richten  werden,  ist  mir  völlig  fremde.  Zu  beklagen  wäre  es 
freilich,  wenn  auf  diesem  Wege  alle  Kritik  in  Deutschland  Gewicht 
und  Glauben  verloren  hätte.«  Freilich  gelang  ihm  diese  Abschütte« 
lung  Nicolais  so  wenig,  daß  der  verstimmte  Schiller  diese  Stellen 
benutzen  konnte,  um  Herders  »Kälte  für  das  Gute«  seiner  »sonder* 
baren  Art  von  Toleranz  gegen  das  Elende«  wirksam  gegenüber* 
zustellen*. 


'  Suphan  29,  540. 
^  Suphan  11,  206. 
'  Suphan  18,  129. 
*  Schiller  an  Goethe  18.  VJ.  96. 


210 


DRITTES  KAPITEL 


NICOLAI   UND   LAVATER 

Als  Nicolais  und  Herders  Wege  sich  zu  trennen  beginnen,  wen? 
det  sich  Nicolai  mehrfach  mahnend,  protestierend,  schließlich  Her* 
ders  Entwicklung  beklagend  an  Lavater.  Konnte  er  im  Ernst  ho£fen, 
durch  Lavaters  Einwirkung  Herder  von  dem  mit  der  Ältesten  Ur* 
künde  und  den  Provinzialblättern  eingeschlagenen  Wege  abzu* 
bringen?  Er  mußte  jedenfalls  sehr  bald  erkennen,  daß  seine  Briefe 
an.  einen  unrechten  Empfänger  gingen,  daß  Lavater,  weit  entfernt 
Nicolais  Stimme  bei  Herder  geltend  zu  machen,  sich  vielmehr  eifri* 
ger  als  dessen  Schüler  und  Freund  bekannte.  Unzweideutiger  noch 
als  Mercks  Absage^  war  die  Lavaters ;  ja  Nicolai  vermutete  später,  daß 
erst  durch  eine  Zwischenträgerei  Lavaters  der  Bruch  zwischen  ihm 
und  Herder  endgültig  geworden  war'.  Die  Wendung  Nicolais  an 
Lavater  wäre  nichts  weiter  als  eine  unbegreifliche  Taktlosigkeit, 
wenn  nicht  der  Briefwechsel  Lavater*Nicolai,  der  schon  sehr  früh 
schroffe  Gegensätze  der  Anschauungen  erkennen  läßt,  unter  dem 
Gesichtspunkt  einer  krampfhaft  von  beiden  Korrespondenten  be* 
tonten  »Offenherzigkeit«  geführt  worden  wäre.  Denn  über  die  Um* 
kehr  der  Herderschen  Beurteilung  Lavaters  —  von  den  ersten  ab* 
sprechenden  Urteilen  an^  über  die  Herdersche  Interpretation  der 
Aussichten*  bis  zu  Herders  überschwenglichen  Lobpreisungen  in 
der  Lemgoschen  Bibliothek  —  war  Nicolai  ebenso  unterrichtet, 

»  Merck  an  Nicolai  28. VIII.  74. 

-  In  seiner  Schrift  gegen  Buhle  (»Einige  Bemerkungen«  usw.,  1806,  Anm.  24) 

vermutet  Nicolai,  Lavater  habe  seinen  Brief  vom   30.  IV.  76  an  Herder  weiter? 

gegeben  und  anscheinend  bemerkt,  Nicolai  habe  Herder  darin  der  Freimaurerei 

beschuldigt;  diese  angebliche  Beschuldigung  bezieht  sich  wohl  auf  den  Satz:  »Es 

hat  ohnedem  mit  der  Urkunde  noch  eine  gewisse  besondereBewandtniß«  usw. 

Nicolai  ähnlich  an  Caroline  Herder  14.  III.  1804  =  O.  Hoffmann  S.  1 17. 

'  Herder  an  Nicolai  30.  XI.  69:  »ein  Enthusiast  und  oft  ein  Verblendeter«,  »ohne 

Kenntnis  der  Bibelsprache«  usw.  Nicolais  Antwort:  »Es  ist  mir  lieb,  dal^  Sic  von 

Lavater  ebenso  denken  wie  ich.« 

*  Herders  Brief  an  Lavater  vom  30.  X.  72. 

14*  21 L 


wie  über  das  wahrhaft  schülerhafte  Verhältnis  Lavaters  zu  Herder ^ 
Ebenso  war  sich  Nicolai  über  die  Beziehungen  Lavaters  zur 
»Kraft  und  Wunderpartei«  schon  sehr  früh  im  klaren.  Merck, 
Höpfner,  Petersen,  v.  Bretschneider  undBlankenburg  unterrichteten 
ihn  hiervon,  wußten  von  den  Beziehungen  Lavaters  zu  Goethe  und 
seinem  Kreis,  zu  Hamann,  Fritz  Jacobi  und  den  Stollbergs  zu  be* 
richten.  Hatte  noch  die  (Goethesche)  Rezension  der  »Aussichten 
in  die  Ewigkeit«  in  den  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  von  1772 
eine  ziemlich  ablehnende  Stellung  eingenommen  —  freilich  aus  an= 
deren,  eher  gegenteiligen  Motiven  als  Nicolai  —  so  wies  eine  An* 
merkung  des  Herausgebers  der  »Leiden  des  jungen  Werthers«  ruh* 
mend  auf  die  Lavaterschen  Predigten  über  das  Buch  Jonas  hin,  und 
Werthers  Brief  vom  15.  September  spielte  Lavaters  »Schwärmereien« 
gegen  die  »neumodisch  moralisch  kritische  Reformation  des  Chri« 
stentums«  aus".  Wenn  die  spätere,  noch  zu  erwähnende  Rezension 
des  vierten  Teils  der  »Aussichten«  (1779)  den  großen  Einfluß  La* 
vaters  »auf  die  Bildung  der  Denkungsart  unserer  jüngeren  Zeit* 
genossen«  bemerkte,  sprach  sie  nur  aus,  was  Nicolai  schon  fünf 
Jahre  früher  empfand.  W^ie  er  den  objektiven  Zusammenhang  des 
religiösen  mit  dem  ästhetischen  Sturm  nnd  Drang  erkannte,  so  sah 
er  auch  psychologisch  in  Lavater  einen  einheitlichen  Prozeß  von 
dem  religiösen  Erlebnis,  das  sich  —  noch  unfertig  —  in  den  Aus* 
sichten  und  dem  Geheimen  Tagebuch  aussprach,  zum  religiös*ästhe* 
tischen  der  »Physiognomischen  Fragmente«.  »Ich  sehe«,  schreibt 
Nicolai  an  Merck^,  »daß  gewisse  schwärmerische  Grillen,  die  schon 
in  seinem  Tagebuch  und  seinen  Aussichten  merklich  wurden,  bei 
ihm  die  Brücke  zur  Physiognomik  geworden  sind.«  »Wahrlich,  Sie 
sind  ein  Prophet«  ruft  Eberhard  ihm  zu*,  »Lavaters  theologisches 
System  entwickelt  sich  so  beinahe,  wie  Sie  es  gesagt  haben.«  Er  hat 

'  wie  es  neuerdings  Chr.  Janentzky.  »Lavaters  Sturm  und  Drang  im  Zusammen^ 
hange  seines  religiösen  Bewußtseins«,  Halle  1916,  S.66ft.  insbesondere,  darge» 
stellt  hat.  Janentzky  hat  (ebenda  S.  92)  auch  die  begeisterten  Urteile  Lavaters  über 
Herders  »Urkunde«  zusammengestellt.  —  Vgl.  Nicolai  an  Joh.  Müller  (10.  X.  74, 
a.  a.  O.  S.  90):  »Jetzt  ist  der  Herderische  Teufel  in  Lavatern  gefahren  .  .  .«  usw. 
-  Nicolai  bemerkte  in  seinem  Handexemplar  von  Werthers  Leiden  (Düntzer, 
Schnorrs  Archiv  X,  391)  zu  dieser  Stelle:  »ä  la  mode  darüber  zu  spotten. <^ 
'  Nicolai  an  Merck  8.  X.  75  =  Wagner  I,  74. 
'  Eberhard  an  Nicolai  27. 1.  75  NN.,  s.  unten,  Anhang. 

212 


in  der  Tat  den  zentralen  Punkt,  aus  dem  sich  Lavaters  Entwicklung 
vollzog,  sehr  frühzeitig  erkannt ^ 

Die  äußere  Möglichkeit,  Lavaters  Persönlichkeit  und  die  Rieh« 
tung  seines  Geistes  frühzeitig  richtig  zu  beurteilen,  mochte  Nicolai 
wohl  —  abgesehen  von  den  Berichten  nicht  namhaft  zu  machender 
Freunde^  —  aus  Äußerungen  Spaldings  bezogen  haben,  der  wohl 
auch  die  persönliche  Bekanntschaft"'  vermittelt  hat.  »Herr  Lavater 
ist  der  Verfasser  der  Schweizerlieder  und  sonsten  ein  guter  Mann« 
äußert  sich  Nicolai  zu  Herder  (20.  XI.  67).  Zu  Iselins  Rezension  der 
Schweizerlieder  will  Nicolai*  mit  Iselins  Erlaubnis  »einen  kleinen 
Zusatz«  machen.  »Unter  uns  gesagt,  mich  dünkt,  H.  Lavater  (hat) 
hier  zwar  hin  und  wieder  glücklich  nachgeahmt,  aber  es  fehlet  ihm 
durchaus  das  Genie  eines  Dichters.  Ich  habe  von  seinem  großen  Lehr= 
gedieht  über  das  Universum  und  das  Unendliche  Stücke  gesehen, 
worüber  ich  erstaunt  bin,  weil  sie  unendlich  schlecht  waren«;  der 
Plan  des  Gedichtes  sei  »zu  groß  und  zu  unbestimmt:  qui  trop 
embrasse,  mal  etreint«.  Ganz  ähnlich  äußert  Nicolai  sich  im  er* 
wähnten  Brief  an  Herder,  man  täte  Lavater  »einen  wahren  Dienst, 
wenn  man  ihn  dahin  bringen  könnte,  diese  Arbeit  ganz  zu  verlassen«. 
Demgemäß  schlägt  eine  spätere  Eberhardsche  Rezension^  Lavater 
vor,  seine  Zeit  nicht  auf  poetische  Versuche,  sondern  auf  die  »Zäh* 
mung  seiner  noch  immer  zu  raschen  Einbildungskraft  zu  verwen» 

'  J.  Minors  Behauptung  (»Joh.  G.  Hamann  in  s.  Bedtg.  f.  d.  Sturm  und  Drang«, 

Frankfurt  1881,  S.56),  die  Auseinandersetzung  der  »neuen  Schule«  mit  der  Auf= 

klärung  habe  sich  »auf  dem  Gebiet  der  Dichtung«  in  den  siebziger  Jahren, 

»auf  dem  Gebiet  der  Theologie  und  Philosophie«  in  den  achtziger  Jahren  ab= 

gespielt,  eine  Behauptung,  die  gerade  bei  demjenigen,  der  Hamann^Herders  Ge= 

dankenkreis  in  den  Mittelpunkt  seiner  Betrachtungen  stellt,  äußerst  befremdlich 

ist,  erscheint  auch  von  hier  aus  in  eigentümlicher  Beleuchtung. 

^  Nicolai  an  Herder  20.  XI.  67  =  Hoffmann  S.  14:  seine  (Lavaters)  »Freunde  aus 

der  Schweiz«  hätten  Nicolai  Stücke  »eines  großen  Lehrgedichts«  gesandt  usw. 

Iselin  wird  von  Nicolai  über  Lavater  belehrt.  Hat  er  sie  bei  Ramler  oder  Spal* 

ding  gesehen?  Ist  Joh. Müller  gemeint? 

'  Auf  persönliche  Bekanntschaft  weist  die  Anekdote  hin,  mit  der  Lavater  Ni= 

colais  persönliche  Redlichkeit  illustriert:  Lavater  an  Nicolai  20.V.  74;  das  noch 

zu  erwähnende  öffentliche  Schreiben  Lavaters  an  Mendelssohn  spielt  auf  ver= 

trauten  persönlichen  Umgang  mit  Mendelssohn  an. 

*  Nicolai  an  Iselin  28.  VIII.67  NN. 

'  Lavaters  Verm.  Schriften  I  zeigt  Eberhard  A  D  Bibl.  25,  171  ft.  (1775)  an. 

213 


den« ;  alsdann  werde  Lavater  Vorzügliches  leisten.  Das  Stichwort  von 
der  überhitzten  Einbildungskraft  hat  unzweifelhaft  Nicolai  gegeben, 
wie  er  auch  Eberhards  Urteil  über  Herder  den  Weg  wies.  »Hern. 
Lavaters  Aussichten  in  die  Ewigkeit  habe  ich  zwar  noch  nicht 
ganz  gelesen,  aber  ich  muß  gestehen,  daß  ich  auch  fast  nicht  weiter 
lesen  mag.  Es  tut  mir  wehe,  wenn  ein  Geist,  der  eine  so  gute  Anlage 
hat,  eine  so  unbegrenzte  Neigung  zur  Schwärmerei  hat.  Wenn  man 
einmal  Träumereien  einer  erhitzten  Einbildungskraft  als  etwas  wahr* 
scheinliches  und  encllich  als  etwas  wahres  annehmen  will,  so  kann 
man  auf  die  abenteuerlichsten  Begriffe  geraten«;  und  er  empfiehlt 
Lavater  »ein  niederschlagend  Pulver«  zu  gebrauchen,  das  er  —  wie 
auch  Mendelssohn  —  nehme,  wenn  er  »einen  lebhaften  Fluß  von 
Vorstellungen  ohne  Ordnung  und  Beziehung«  verspüret  Dieses 
Wort  von  den  »Träumereien  einer  erhitzten  Einbildungskraft«  klingt 
stark  an  das  bekannte  Apercu  Friedrichs  des  Großen  über  die  Mo* 
nadologie  (»der  Roman  eines  großen  Mannes«)  an;  mehr  als  eine 
solche  allgemeine  Stimmung  gegen  die  allzu  rationale,  aber  doch 
aus  gefühlsmäßigem  Bedürfnis  überspitzte  Fortbildung  Leibniz* 
scher  Elemente  in  den  Aussichten  finden  wir  bei  Nicolai  nicht, 
wie  auch  seine  Stellung  zum  Leibnizianismus  an  sich  kaum  zu 
fassen  ist.  Lavaters  Aussichten,  bemerkte  er  später"^,  habe  er  selbst 
nicht  rezensieren  können;  die  Lambertsche  Rezension*  sei  ihm  »übel 
bekommen«  —  vermutlich  ein  Irrtum  Nicolais;  denn  Lavater  er* 

'  Nicolai  an  Iselin  26.  XI.  68  NN. 
-  Göckingk  S.  38. 

■■■  Aussichten  I  und  II  sind  A  D  Bibliothek  11,  1,  32,42,  der  dritte  Teil  ADBi. 
bliothek  20,  2,  510ff.  besprochen.  Das  Signum  der  ersten  Rezension  (E*)  würde 
auf  Hensler  als  Rezensenten  deuten,  Lamberts  Zeichen  ist  E;  der  Irrtum  ist  nicht 
berichtigt,  —  ein  weiterer  Hinweis  auf  die  Ungenauigkeit  der  Zeichengebung 
und  «Korrektur  in  der  A  D  Bibliothek.  Lamberts  Verfasserschaft  kann  hier  aber 
nicht  zweifelhaft  sein;  für  ihn  spricht, außer  Nicolais  späterer  Aussage,  die  Tat= 
Sache,  daß  die  Rezension  in  20,510  das  richtige  (veränderte)  Lambertsche  Zeichen 
Sw  trägt,  daß  Hensler  nur  das  Gebiet  der  praktischen  Medizin  bearbeitete;  und 
schließlich  ist  es  möglich,  daß  Nicolai  absichtlich  das  Zeichen  E  nicht  mehr  ver« 
wenden  mochte,  da  er  im  selben  Bande  (11,309,  in  einer  mit  Raspe  gemeinsam 
verfaßten  Rezension)  bekannt  gibt,  daß  E  das  Zeichen  von  Klotz  war.  Von 
Hensler  folgt  bis  Bd.  12,  wo  die  Zeichen  geändert  wurden,  keine  Rezension 
mehr.  Die  Rezensionen  in  20,  510  und  1 1,  52  sind  ganz  unzweifelhaft  vom  selben 
Verfasser. 

214 


hebt  zwar  gegen  Einzelheiten  der  Rezension  Einspruch,  ist  aber  im 
ganzen  mit  der  Aufnahme  zufrieden  und  bittet  Nicolai,  dem  Ver* 
fasser  der  Rezension  seinen  Dank  zu  übermitteln'.  Nicolai  mochte 
wohl,  wie  schon  Göckingk  vermutet  hat,  mit  dieser  Rezension  nicht 
einverstanden  sein.  Zwar  wenn  Lambert  dem  Lavaterschen  Vorsatz, 
sein  Epos,  zu  dem  die  Aussichten  Bausteine  sein  sollten,  nicht  Ȋ  la 
portee  de  tout  le  monde«  zu  schreiben,  das  popularphilosophische 
Ideal  entgegenhielt,  so  mochte  er  Nicolais  Beifall  finden,  und  nicht 
minder,  wenn  er  bemerkte,  daß  Lavaters  dritter  Himmel  nach  den 
Maßstäben  der  empirisch  sinnlichen  Daten  beschaffen  war.  Allein 
von  dem  geschätzten  Physiker  und  Mathematiker  mochte  Nicolai 
wohl  etwas  anderes  erwartet  haben,  als  eine  Beurteilung  der  Aus« 
sichten  mit  Rücksicht  auf  die  ästhetischen  Bedürfnisse  des  künf* 
tigen  Gedichts;  und  das  ist  der  vornehmste  Gesichtspunkt  der 
Lambertschen  Rezension.  Die  spätere  Eschenburgsche  Rezension 
des  vierten  Teils  der  Aussichten^  mochte  mehr  dasjenige  treffen, 
was  auch  Nicolai  an  den  Aussichten  ablehnte,  wenn  wir  hier,  die 
Entwicklung  der  Gegensätze  —  nicht  zum  mindesten  durch  den 
Briefwechsel  —  außer  acht  lassend,  schon  einiges  vorwegnehmen 
dürfen.  Eschenburg  möchte  Leibniz  auf  die  Methodik  des  Empiris« 
mus  verpflichten,  Lavater,  der  die  Analogieschlüsse  —  und  hiermit 
sind  nicht  nur  die  von  Bonnet  und  Leibniz  her  bestimmten  Speku* 
lationen,  sondern  die  ganze  Lavatersche  Bibelhermeneutik  gemeint 
als  —  »philosophische  Mäntelchen«  um  »poetische  Fiktionen« 
brauche,  unterscheide  sich  darin  sehr  von  Leibniz,  der  den  x\na« 
logieschluß  mit  vorsichtiger  Prüfung  seiner  Tragfähigkeit,  mit  be* 
sonnenerAbschätzung  des  rein  empirisch  zuErkennenden  gebrauche. 
Solche  Gegenüberstellung  von  Original  und  Nachahmer  ist  ein  be* 
liebtes  heuristisches  Prinzip  auch  Nicolaischer  Kritik.  Wichtiger 
aber  als  solche  Erwägungen  über  die  Methode  waren  sachlich  ge* 
bundene  Gegensätze,  die  in  dieser  Rezension  berührt,  schon  wesent* 

'  Lavater  an  Nicolai  9.V.  70NN.  Dies  kann  sich,  dem  Datum  nach,  natürlich 
nur  auf  die  erste  Lambcrtsche  Rezension  beziehen;  die  zweite,  erheblich  milder 
und  unpersönlicher  gehalten,  konnte  Lavater  aber  nicht  gut  so  verstimmen,  daß 
sie  Nicolai  »übel  bekommen«  wäre.  Im  weiteren  Briefwechsel  findet  sich  über 
diesen  Punkt  nichts  mehr;  persönliche  Hochschätzung  Lamberts  bekundete  La= 
vater  noch  25.X.  74  an  Nicolai. 
'  Anhang  z.  25,/36.  Bd.  d.  A  D  Bibliothek  S.  2326  ft. 

215 


lieh  früher  akut  geworden  waren;  freiUch  kommt  hier  wiederum 
nicht  viel  mehr  als  eine  allgemein  abgrenzende,  ablehnende  Stim* 
mung  zum  Ausdruck,  Eschenburg  triumphiert,  daß  Lavater  hier  die 
Lehre  von  der  prästabilierten  Harmonie  eine  »unerweisliche  wo 
nicht  abgeschmackte  Hypothese«  nenne,  während  er  sie  im  zweiten 
Bande  »sinnreich«  und  »erhaben«  gefunden  habe. Was  sich  an  deter* 
ministischen  Elementen  in  der  Leibnizschen  Lehre  fand  und  bei  La* 
vater  in  den  Aussichten  wie  später  in  den  Physiognomischen  Frag* 
menten,  zu  einer  freilich  nicht  konsequenten  Prädestinationslehre 
wurdet  war  der  x\blehnung  Nicolai*Eschenburgs  sicher;  und  gerade 
das  Motiv,  aus  dem  Lavater  noch  am  ehesten  gegen  die  i\nnahme 
einer  durchgängigen  kausalen  Geschlossenheit  gestimmt  war,  erfuhr 
seinen  stärkstenWiderspruch :  Der  LavaterscheWunderglaube.  Dem 
Mendelssohnschen  Schreiben  »An  meinen  Freund  Friedrich  Nico» 
lai«-,  worin  dieser  gerade  unter  ausdrücklicher  Bezugnahme  auf 
Bonnet  sich  gegen  deterministische  Einschränkungen  wehrt,  wird 
der  Empfänger  zugestimmt  haben;  durch  den  ganzen  »Sebaldus 
Nothanker«  hindurch  zieht  sich  eine  an  Voltaire  genährte  spöttische 
Ablehnung  der  Theodicee,  und  die  Lehre  von  der  prästabilierten 
Harmonie  wird  hier  wie  in  den  späteren  Romanen  besonders  gern 
zu  spöttischen  Seitenblicken  bei  unerwarteten  Unglücksfällen  usw. 
benutzt.  —  Nicht  minder  eingenommen  zeigt  sich  die  Eschenburg* 
sehe  Rezension  gegen  die  Stellung  des  Christusgedankens  in  der 
Lavaterschen  Religiosität;  und  die  Lavatersche  Christusreligion  hat, 
bei  Gelegenheit  der  physiognomischen  Fragmente,  die  gegensätz* 
liehe  Einstellung  Lavaters  und  Nicolais  vorzüglich  entwickeln 
helfen. 

Eindringlicher  gestalteten  sieh  die  Gegensätze  bei  Lavaters  »Ge* 
heimem  Tagebuch«.  Ungleich  stärker  als  die  »Aussichten«,  an 
deren  allzu  rationaler  Verknüpfung  irrationaler  Inhalte  die  Goe* 
thesche  Rezension  Anstoß  nahm,  zeigte  sich  hier  die  Verwandtschaft 
mit  dem  religiös*kosmischen,  dem  vitalen  und  ästhetischen  Grund* 
gefühl  der  jungen  Generation;  gerade  da,  wo  Lavater  gewissermaßen 
die  »Aussichten«  verleugnen  möchte  —  er  sei  in  Gefahr  gewesen, 
»ein  geistlicher  Don  Quixote  zu  werden«;  christliehe  Geduld  sei 

^  Vgl.  Janentzky,  a.  a.  O.  Kap.  IV,  114  u.  passim. 

-  Vom  22.  XI.  80,  zuerst  au.s  Nicolais  Nachlaß  von  Göckingk  S.  197 ff.  gedruckt. 

216 


besser  »als  ein  Großhans  sein  und  Aussichten  in  die  Ewigkeit 
schreiben«^  —  gerade  dort  setzt  er  sich  die  Polemik  gegen  »kalte 
Vernünftelei«  —  und  den  »Modeton,  gewisse  Dinge  durch  den 
Verstand  empfinden  zu  wollen«  als  Aufgabe  vor,  und  empfiehlt  en* 
thusiastisch  als  Labsal  gegenüber  so  trockener  Speise  Herders  Schrif  * 
ten.  Der  emotionale  Drang,  die  Unruhe  des  erlösungsbedürftigen 
Herzens,  das  sehnsüchtige  Verlangen,  den  Ablauf  des  inneren  Lebens 
eindrucksvoll  zu  binden,  das  Bedürfnis  nach  unablässig  zum  Höhe* 
punkt  strebenden  Gefühlssensationen,  das  demütige  Gefühl  der 
Niedergeworfenheit  aller  Kreatur,  gepaart  mit  dem  solipsistischen 
Bewußtsein,  in  der  Alleinheit  mit  Gott  den  Kosmos  darzustellen  — 
alle  diese  Elemente  eines  über  den  ursprünglichen  Bezug  hinaus* 
strebenden  Pietismus  vereinigten  sich  zu  diesem  frühesten  Erzeug* 
nis  des  Sturm  und  Drangs.  Gewiß  sind  alle  diese  Keime  bei  Ha« 
mann  tiefer,  trächtiger  gebettet,  haben  einige  dieser  Gedanken  bei 
Herder  —  zumal  in  den  Provinzialblättern  —  weiteren,  lichtvolleren 
Aufriß;  gewiß  strahlen  sie  bei  Lenz  —  in  den  »Lebensregeln«,  dem 
»Tagebuch«  und  der  »Moralischen  Bekehrung  eines  Poeten«  —  viel* 
fältiger  aus,  geben  sie  sich  bei  Lenz  zwingender,  erschütternder, 
schon  weil  sie  gegen  seinen  Charakter  und  seine  Umwelt  erkämpft 
sind.  Aber  hier  formierte  sich  aus  ihnen  zum  erstenmal  eine  schrift* 
steilerische  Persönlichkeit  von  Charakter,  Bereitschaft  und  Aktivi* 
tat;  so  sehr  das  Tagebuch  auch  in  der  f weiten  Erscheinungsform 
Fragment  blieb  und  bleiben  mußte,  war  es  doch  der  Ansatz  zu 
einem  neuen  Ganzen,  geeignet,  Gemeinde  zu  bilden,  und  in  lite* 
rarischem  Betracht  Partei.  Freihch  schien  das  Tagebuch  zunächst 
nicht  ein  bewußtes,  planvolles  Werk  zu  sein;  aber  bald  stellte  sich 
Lavater  ohne  Scheu  neben  sein  Bild,  und  wenn  er  auch  die  poetische 
Ausschmückung  einzelner  Partien  feststellte,  unterstrich  er  doch  die 
naturalistische  Tendenz  des  Porträts  und  hielt  an  dem  »Wesent* 
liehen  der  Moral  des  Beobachters«-  fest. 

Wenn  Lavater  sich  aber  dort  —  in  dem  Schreiben  an  den  Her* 
ausgeber,  vor  den  »Unveränderten  Fragmenten«  —  gegen  die  »er* 
bärmliche  Verfehlung  der  Gesichtspunkte«,  ereifert,  die  »unsere  heu* 
tige  Kritik  oft  so  unerträglich  seicht  macht«  —  so  mochte  er  in  erster 

'  Tageb.  II,  266f.  (an  Zimmermann  4.  III.  73). 
'  Tageb.  II,  S.  XVII. 

217 


Linie  die  Aufnahme  des  Tagebuchs  in  der  Allgemeinen  Deutschen 
Bibliothek  meinen.  Die  von  Pistorius  und  Nicolai  herrührende  Re* 
zension^  biegt  Lavaters  Grundsätze  und  den  Geist  des  Tagebuchs 
in  bemerkenswerter  Weise  schon  da,  wo  sie  referiert,  ins  Aufkläre* 
rische  um.  Sie  stimmt  der  Anmerkung  des  Herausgebers  zu,  »daß 
das  einförmige  Leben  eines  rechtschaffenen  Mannes«,  »die  Ge* 
schichte  seiner  Gesinnungen,  Neigungen,  Absichten  im  täglichen 
Leben,  für  diejenigen,  die  das  menschliche  Herz  gerne  kennen  wollen, 
lehrreicher  und  selbst  interessanter  sein  könne,  als  die  glänzendsten 
Auftritte  des  öffentlichen  Lebens,  oder  die  verwickelten  Begeben== 
heiten  eines  Romans«.  Aber  mit  welcher  Begründung]  Im  Zeitalter 
der  aufkommenden  empirischen  Psychologie  wird  Lavaters  Tage* 
buch  zum  Lehrstoff  für  den  Psychologen,  der  das  Individuelle,  das 
»Zufällige«,  die  »eigentümliche  Beschaffenheit  und  besondere  Lage« 
der  seelischen  Situation  Lavaters  zu  veranschlagen  hat,  um  nach 
Abzug  des  »Zufälligen«  auf  allgemeiner  gültige  Ergebnisse  zu  kom- 
men. Entsprechend  erkennt  die  Rezension  zwar  den  religiösen  Ur* 
grund  der  Lavaterschen  Selbsteinkehr  wie  die  ausschließlich  reli* 
giöse  Bezogenheit  seiner  Selbsterkenntnis,  aber  auch  hier  fordert 
sie  den  Leser  auf,  dem  bloß  Individuellen  ein  Allgemeineres  zu  sub* 
stituieren  und  dieses  Allgemeinere  ist  nach  aufklärerischen  Bedürf* 
nissen  geformt:  die  Lavaterschen  »Grundregeln«,  nach  denen  er 
Tag  und  Tageswerk  zu  Siberschauen  sich  eingangs  vorschreibt, 
werden  höchst  rational  erklärt;  Lavater  hätte  die  Grundregeln  »an* 
genommen«,  um  nicht  »bei  jedem  einzelnen  Fall  lange  und  mühsam 
vernünfteln«  zu  müssen  und  der  Gefahr  überhoben  zu  sein,  im  ein* 
zelnen  Falle  unrecht  zu  entscheiden!  Und  welchem  »Zweck«  dient 
dieses  »sehr  wohlgewählte  undwirksame  Mittel?«  »Seine  sittliche 
Verbesserung  zu  erreichen«  antwortet  die  Rezension  (S.  349),  das 
Erlösungsbedürfnis,  die  Erlösersehnsucht  In  sittliche  Korrektion 

'  A  D  Bibliothek  XVII,  346  58  von  Pistorius,  358  61  von  Nicolai.  Nicolai  wieder^ 
holt  und  ergänzt  sein  Urteil  in  einer  ausführlichen  Randbemerkung  zu  Pistorius' 
Brief,  den  Nicolai  am  29. XII. 73  erhielt  (NN).  Lavater  bezieht  sich  in  der  er- 
wähnten Vorrede  auf  diese  Rezension :  seine  Bemerkungen  zur  »Übertriebenheit«., 
•»Ängstlichkeit«,  »unnötigen  Skrupulosität«  stimmen  wörtlich  mit  den  Einwen= 
düngen  der  Rezension  (S.  351  f.  insbesondere)  überein.  —  Die  Frankf.  Gel.  Anz. 
V.  22.  XII.  1772  (=  DLD.  7'8,  671)  stimmten  übrigens  der  Rezension  der  A.  D. 
Bibl.  zu. 

218 


übersetzend.  Aber  mehr:  die  pietistischen  Elemente  der  Lavater* 
sehen  Selbstschau,  die  »vielen  Beunruhigungen«,  die  er  sich  durch 
seine  »skrupulösen  Bedenklichkeiten  zuzieht«,  das  Streben  nach 
Höhepunkten  des  Christusgefühls,  das  sind  für  den  Rezensenten 
Übertreibungen  eines  vernünftigen  Maßes,  Apparat,  der  das  echte 
Christentum  bisweilen  fördern  kann,  im  allgemeinen  aber  ihm  ab* 
träglich  wird.  Ja,  er  warnt  geradezu  davor,  »nicht  zur  Hauptsache 
im  tätigen  Christentum  die  Erregung  starker,  lebhafter  Gefühle  zu 
machen ;«  das  könne  leicht  den  Grund  zu  »außerordentlicher  Heilig* 
keit,  Klostergelübden  und  der  ganzen  Mönchsmoral«  legen;  »eine 
andere  unrichtige  Meinung«  sei  »der  Gedanke  von  der  wunder* 
tätigen  Kraft  des  Glaubens  und  Gebets  aller  Christen«.  Lavater  sagt ; 
»Das  Evangelium  fordert  nur  mit  Tönen  und  Buchstaben  und  in 
leuchtenden  Beispielen,  was  unser  Herz  durch  Triebe  und  Empfin* 
düngen  fordert.  Das  Evangeliurn  ist  nur  der  Kommentar  (die  Aus* 
legebibel)  über  unser  Herz.«  Die  Rezension  konstruiert:  nur  so* 
weit  das  Evangelium  Kommentar  über  unser  Herz  ist,  ist  es  An* 
leitung  zum  Christentum.  —  Ein  solch  verpflichtendes  Konstruieren, 
solche  Umbiegung  der  Lavaterschen  Standpunkte  schon  im  Referat 
des  Kritikers,  zeigt  sich  nicht  minder  bedeutsam  in  den  Partien,  die 
der  Autorschaft  Lavaters  gelten  und  auf  die  literarische  Persönlich* 
keit  Lavaters  zielen.  Nicolai  tadelt  —  ungleich  schroffer  als  Pisto* 
rius  —  daß  Lavater  den  fiktiven  Charakter  einzelner  Tagebuchstellen 
zwar  im  allgemeinen  feststellt,  jedoch  nicht  genau  angeben  wolle, 
was  Wahrheit,  was  Dichtung  sei;  er  verlangt  streng  wissenschaftliche 
Methode,  —  ganz  natürlich,  denn  es  handelt  sich  für  Nicolai  beim 
Tagebuch  um  psychologischen  Lehrstoff^;  es  genügt  ihm  nicht,  daß 
Lavater  »das  Wesentliche  der  Moral  des  Beobachters«  unbedingt 
als  wahr  annimmt.  Pistorius  meinte,  die  Schreibart  des  Tagebuchs 
sei  »geschmückter  als  man  es  in  einem  Aufsatze,  der  bloß  für  uns 
selbst  gemacht  ist,  erwarten  sollte«;  es  scheint  ihm,  »als  wenn  die 
Situation  in  der  Zeit  eines  Monats  gekaufter  und  sonderbarer  sei, 
als  das  menschliche  Leben  sie  gewöhnlicherweise  herbeizusuchen 
pflegt.«  Nicolai  aber  faßt  seine  Zweifel  auch  recht  derb  positiv:  La* 

'  Noch  viel  später,  Reisebeschreibung  X,  167,  wiederholte  Nicolai  diesen  Tadel 
und  stellte  Lavaters  Tagebuch  die  »pünktliche«  Selbstbeobachtung  Albrecht 
V.  Hallers  gegenüber  (gelegentlich  eines  Exkurses  über  Selbstbiographien). 

219 


Vaters  »hypochondrischeÄngstlichkeitin  der  Beobachtungder  christ« 
Hchen  Vorschriften,  in  der  tägHchen  Ausübung  der  christUchen  Lehre 
könne  an  sich  »sehr  lehrreich«  sein;  »aber  eine  solche  Gewissen« 
haftigkeit,  eine  sorgfältige  Beobachtung  seiner  Handlungen  zu  er* 
dichten,  scheint  uns  gar  nicht  lehrreich.  Eine  großmütige  Handlung 
wirklich  ausüben,  Uneigennützigkeit,  Selbstverleugnung,  Geduld, 
Standhaftigkeit  bei  Gelegenheit  tätig  beweisen  ist  etwas  großes. 
Aber  solche  Gesinnungen  zu  erdichten,  dazu  gehören  weder  viel 
Geisteskräfte  noch  eine  außerordentliche  Tugend.«  Damit  ist  La« 
vaters  literarischer  Persönlichkeit  ihre  Physiognomie  zugewiesen  ; 
er  ist  eingeordnet  zwischen  Hamann,  der  »aus  dem  Inneren  seines 
Kabinet«,  in  grillenhafter  Abseitigkeit  den  Zeitgenossen  (die  sich 
im  tätigen  Leben  bewähren)  den  Spiegel  vorhält,  zwischen-  den 
Klopstockjüngern,  die  »auf  Gottes  Rechnung  Sachen  erdichten» 
und  —  wie  uns  noch  deutlicher  werden  wird  —  den  Wertherjüng« 
lingen,  die  an  maßloser  Überschätzung  ihre  Subjektivität  leiden, 
ihre  Wünsche,  Triebe,  Taten  in  lebhafter  Imagination  und  ohne 
Kenntnis  des  Lebens  für  realisierbar,  ja  eben  durch  den  Willen 
schon  für  realisiert  halten. 

Es  war  nicht  das  erstemal  —  und  das  mag  die  Schroffheit  der 
Nicolaischen  Invektive  erklären  —  daß  die  Allgemeine  Deutsche 
Bibliothek  und  Nicolai  im  besonderen  sich  mit  der  literarischen 
Persönlichkeit  Lavater  beschäftigten.  Die  Lavatersche  »Heraus- 
forderung« an  Moses  Mendelssohn  und  deren  Beantwortung  durch 
Moses,  Lavaters  Duplik  und  einige  der  sich  daranschließenden 
Streitschriften  waren  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  (13, 
2, 370)  von  Eberhard  eindringlich  beleuchtet  worden;  Nicolai  selbst 
mußte  den  Vermittler  zwischen  Lavater  und  Moses  abgeben,  der 
beider  Gegenerklärungen  in  seinem  Verlag  austauschte.  Die  vor« 
nehmsten  Gesichtspunkte  gegen  die  Bonnetsche  Beweisführung  für 
die  Palingenesie,  die  Eberhard  hier  geltend  macht,  galten  wie  für 
Mendelssohn  so  auch  für  Nicolai;  so  wenn  Eberhard  gegen  die 
materialistische  Psychologie,  »die  bloß  körperliche  Erklärung  der 
Seelenkräfte«  (S.  373)  Einspruch  erhob;  wenn  er  die  Frage  nach  der 
Geltung  und  Einordnung  des  Wunders  in  die  kausal  geschlossene 
Weltordnung  für  eine  rein  metaphysische  erklärte,  die  mit  der  Exe* 
gese  nichts  zu  tun  habe  und  schließlich  der  Einwand,  den  wir  schon 

220 


in  der  Kontroverse  Nicolais  mit  Schlözer  und  mit  Herder  kennen 
lernten,  wie  denn  »die  Völker,  zu  denen  die  Offenbarung  nicht ge» 
kommen  ist,  zur  Erkenntnis  der  Unsterblichkeit  ihrer  Seelen  ge* 
langen«  könnten,  wenn  nicht  das  moralische  Gefühl,  sondern  erst 
die  Offenbarung  die  Palingenesie  gewiß  mache  (S.  375),  Aber  wich* 
tiger  wurden  für  Nicolais  Verhältnis  zu  Lavater  in  der  Zukunft 
die  Folgerungen,  die  sich  hier  für  die  Beurteilung  des  Charakters 
der  Lavaterschen  Autorschaft  überhaupt  ergaben.  Eberhards  Be* 
merkungen  über  den  Kommentator  Bonnets  laufen  darauf  hinaus, 
daß  Lavater  Bonnetsche  Ergebnisse  spekulativ  vergröbere ;  galt  diese 
Feststellung  nicht  auch  jener  Auslegung  Bonnets  in  toto,  die  Men- 
delssohns Bekehrung  zu  erreichen  hoffte?  Die  Eberhardsche  Re* 
zension  behandelt  die  Frage  der  Bekehrung  Mendelssohns  sehr 
diskret,  sie  deckt  einen  Schleier  über  Lavaters  »Übereilung«  und 
sucht  hauptsächlich  die  kleinen  Kläffer  abzuschütteln,  die  sich  auf 
die  beiden  Kontrahenten  stürzten.  Auch  Nicolai  ging,  zumal  nach 
Lavaters  öffentlichem  Eingeständnis  seines  »Irrtums«,  über  Lavaters 
Taktlosigkeit  völlig  hinweg,  nachdem  er  Lavater  die  schwierige, 
peinliche  Lage,  in  die  Mendelssohn  durch  seinen  Schritt  gebracht 
worden,  begreiflich  gemacht  hattet  Aber  es  blieb  —  trotz  der 
äußerlich  befriedigenden  Beilegung  des  Streites  —  ein  Rest  zu* 
rück.  Es  mag  nicht  ohne  Grund  sein,  daß  Eberhard  und  Campe 
in  späteren  Besprechungen  Lavaterscher  Schriften  »Irrtümer«  und 
»Berichtigungen«  Lavaters  hämisch  glossierten;  die  allgemeinere 
Einsicht  in  Lavaters  literarische  Persönlichkeit,  die  Nicolai  und 
seine  Genossen  neben  solchem  Mißtrauen  aus  diesem  Fall  ge* 
Wonnen  hatten,  hat  Lichtenberg  gelegentlich  im  »Timorus«  sehr 
glücklich  formuliert:  Lavater  habe  auch  da  »Göttersprüche  in 
der  Hofsprache  des  Himmels  zu  reden  geglaubt,  wo  Mendelssohn 
nur  gut  schweizerisches  Deutsch  und  gute  warme  Absichten 
sah«.  Und  wenn  Lichtenberg  spottete:  »Ich  verbitte  mir  alle  Ein* 
würfe  und  versichere,  daß  ich  sie  alle  heben  kann,  aber  es  er* 
fordert  mehr  Zeit,  als  ich  darauf  zu  verwenden  verbunden  bin,« 
so  hat  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  im  Lavater*Hottinger* 
streit  —  in  der  noch  zu  behandelnden  Rezension  in  30,  2,  311  — 
diesen  Anwurf  zur  Charakterisierung  Lavaters  sich  zu  eigen  ge* 
"  Nicolai  an  Lavater  10. 1II.70NN  (Kopie). 

221 


macht.  Der  »Timorus«  fand  jedenfalls  Nicolais  ungemischten,  ver* 
gnügten  Beifalls 

Schärfer  gab  sich  diese  Einsicht  dort,  wo  Lavater,  nicht  Angreifer 
und  nicht  Angegriffener,  die  Souveränität  seiner  Autorschaft  natür* 
licher  geltend  machte,  wo  der  Prediger  zu  seiner  im  ganzen  Reich 
verstreuten  Gemeinde  sprach.  Vom  Lavaterkult  und  dem,  was  ihm 
in  Lavaters  Wesen  entgegenkam^,  hörten  Nicolai  und  seine  Ge* 
nossen  allerlei  Fabelhaftes:  v.  Bretschneider,  Blankenburg,  Petersen 
waren  geschäftige  Zuträger  solcher  Anekdoten.  Die  Rezension  seiner 
»Vermischten  Gedanken«^,  die  —  ursprünglich  »Manuskript  für 
Freunde«  —  »von  einem  unbekannten  Freunde  des  Verfassers«  ( 1 775) 
herausgegeben  wurden,  ging  entsprechend  prinzipieller  und  deut= 

licher  gegen  Lavaters  literarische  Persönlichkeit  heraus. 

^  wie  aus  Lichtenbergs  Brief  an  Nicolai  vom  20.  VII.  73  =  Briefe  ed.  Leitzmann 
und  Schüddekopf  I,  151  hervorgeht;  vgl.  Nicolais  Rezension  des  Timorus:  Am 
hang  zum  13./24.  Bd.  der  ADBibl,  S.  950 ff.,  die  Form  und  Tendenz  der  Schritt 
gegen  Lavater  stark  bejaht. 

'  Vgl.  die  etwas  spätere  Campesche  Rezension  der  Schrift:  »Zum  Andenken  über 
Hrn.  Lavaters  Aufenthalt  in  Augsburg«  (1778;  Anhang  z.  25./36.  Bd.  d.  A  D  Bi= 
bliothek  S.  2447  ff.),  die  feststellte,  daß  Lavaters  Charakter  und  literar.  Tätigkeit 
solche  Verstiegenheiten  geradezu  hervorriefen. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  28, 1,  82.  Das  Signum  der  Rezension  ist  nicht  ganz  deut= 
lieh;  am  wahrscheinlichsten  Mt,  das  Zeichen  Campes,  der  auch  andere  Lavater- 
rezensionen  verfaßt  hat.  Mn  ist  das  Zeichen  Nicolais  für  diese  Bände.  Die  un^ 
mittelbar  sich  anschließende  Rezension  von  Iselins  Philanthropischen  Aussichten 
trägt  Campes  Zeichen  5lj.  Beide  Rezensionen  unterscheiden  sich  im  Stil  (Satz* 
bildung,  Wortwahl,  metaphorische  Wendungen)  und  im  Gedanklichen  ganz  er* 
heblich,  was  nicht  dadurch  allein  erklärt  werden  kann,  daß  die  eine  Rezension 
tadelnd,  die  andere  lobend  ist.  Wir  finden  in  der  Lavaterrezension  aber  auch 
direkt  Nicolaische  Wendungen:  »der  hellste  Unsinn;  der  Hr.  Verfasser  wird  es 
mir  verzeihen«  (S.  74),  »uns  andere  arme  Weltleute«  (S.  75),  »orakelmäßige  Dunkele 
heit«  (S.74);  die  Unterscheidung  »mysteriöser  und  rätselhafter«  von  den  »unbe= 
stimmten  und  schwankenden  Sentenzen«.  Eine  besonders  beliebte  Nicolaische 
Anspielung  —  auf  den  Don  Quixote  —  findet  sich  ebenfalls.  Vortrag,  Satzbildung 
—  alles  macht  wahrscheinlich,  dal^  die  Rezension,  wenn  sie  nicht  von  Nicolai  her= 
rührt  —  und  das  Signum  wäre  schon  an  und  für  sich,  geschweige  hier, wo  der  Drucke 
fehler  Mt  statt  Mn  wahrscheinlich  ist,  wenn  das  verwischte  Signum  nicht  überhaupt 
Mn  heißen  soll,  kein  Gegenbeweis  —  wenigstens  von  Nicolai  stark  überarbeitet  ist. 
Dagegen  scheint  mir  die  A  D  Bibliothek  26,  2,  596 ff.  erschienene,  mit  Mt  signierte 
Rezension  zum  Hottingerstreit  wenigstens  in  den  Hauptpartien  unzweifelhaft 
von  Campe  herzurühren,  wenn  auch  hier  Zusätze  Nicolais  wahrscheinlich  sind. 
Vgl.  Nicolai  an  Campe  bei  Leyser,  Jo.  H.  Campe,  Braunschweig  1877,  II,  357. 

222 


Die  Rezension  bemerkt  »eine  sehr  große  Complacenz  des  Ver* 
fassers  gegen  sich  selbst«;  könne  Lavater  annehmen,  daß  sein  Buch* 
lein  seinen  Freunden  als  Antwort  auf  ihre  freundschaftlichen  Briefe 
willkommen  sein  werde?  »Viele  der  Freunde  hatten  doch  auch  ge^ 
wiß  viele  vermischte  Gedanken,  die  zum  Teil  vielleicht  reifer,  rieh* 
tiger,  deutlicher,  wahrer,  fruchtbarer  waren  als  Hrn.  Lavaters;  aber 
keinem  ist's  doch  eingefallen,  sie  monatlich  mit  feierlichem  Anstände 
von  einem  Ende  Deutschlands  bis  zum  anderen  als  eine  milde  Gabe 
auszuspenden.«  Es  kann  wohl  sein,  daß  Einfälle,  »Nebenkinder  aus 
Witz  und  Wahrheit«,  edlerer  Art  sind,  als  andere  »mit  Mühe  emp* 
fangene  und  mit  Schmerzen  geborene« ;  wenn  man  sich  aber  hin* 
setze,  um  Einfälle,  vermischte  Gedanken  zu  produzieren,  so  müssen 
»geschrobene  Wortfügungen,  seltsame  Wendungen,  erkünstelte 
Antithesen,  mysteriöse  Dunkelheiten  und  pretiöse  Sentenzen«  an 
die  Stelle  des  echten  Witzes  und  der  »erhabene  Einfalt  liebenden 
Wahrheit«  treten  —  es  ist  Nicolais  Einwand  gegen  Hamanns  schrift* 
stellerische  Produktion,  ebenfalls  psychologisch  konstruiert.  Es  folgt 
ihm  hier  eine  Begründung  in  Form  einer  Beweisführung,  die  völlig 
eklektisch  überall  auf  ein  durchschnittliches  Maß,  eine  geordnete 
Entfaltung  der  Gedanken  dringt.  Einzelheiten  sind  bemerkenswert. 
Wenn  unter  Erkenntnis  Gottes  »die  verworrenen  dunklen  Gefühle 
eines  seiner  sinnlichen  Einbildungskraft  überlassenen  Schw^ärmers 
gemeint  werden:  so  muß  man  allerdings  gestehen,  daß  diese  Art 
der  Erkenntnis  durch  alle  Sprachen  der  Welt  unausdrückbar  sei : 
denn  wie  könnte  man  ein  unbestimmtes  Chaos  von  Empfindungen 
durch  Zeichen  darstellen,  welche  ihre  bestimmte  Bedeutung  haben  ?« 
Welches  auch  der  Ursprung  der  Sprache  sein  mag,  heißt's  hier  gegen 
HamannsHerder,  Sprache  ist  nichts  weiter  als  Kommunikations* 
mittel,  und  kommuniziert  werden  kann  nur,  was  vom  Individuum 
abgelöst  werden  kann.  »Kannst  du  dich  in  der  stürmischen  See  be* 
spiegeln?«  hält  der  Rezensent  Lavater  mit  dessen  Worten  »zu  wei* 
terer  Beherzigung«  dieses  Zusammenhangs  vor.  —  Lavaters  Tendenz 
zur  geheimen  »Sektenbildung«  —  der  Name  Jung  Stillings  wird  hier 
neben  Obereit  und  Oetinger,  Hasencamp  und  v.  Salis  genannt  — 
wird  unterstrichen,  seine  Polemik  gegen  die  »Unvernunft  der  Ver* 
nunftsherolde«  höhnisch  glossiert.  Und  schließHch  wird  Lavaters 
Publikation  an  dem  Ideal  der  christlichen  Demut  und  Einfalt  ge* 

223 


messen.  Aber  Lavater  merke  wohl  selbst  bisweilen,  wie  sehr  er  sich 
von  diesem  Ideal  entferne:  »daher  verfällt  er  plötzlich  in  das  ent= 
gegengesetzte  Extremum  und  setzt  sich  so  tief  herab,  daß  man  das 
, ausgewählte  Werkzeug  zur  Erleuchtung  der  Menschheit',  wovon 
er  kurz  vorher  das  Ansehen  hatte,  ganz  und  gar  nicht  mehr  in  ihm 
erkennt«.  Das  Schwanken  Lavaters  zwischen  beiden  Extremen  wird 
richtig  bemerkt;  aber  Höhe  und  Tiefe  werden  als  gewählte  Mittel 
aufgefaßt,  und  wie  sehr  sie  beide  den  Menschen  Lavater  erst  aus* 
machen,  vermag  der  Kritiker  nicht  zu  fassen.  »Die  Wahrheit  zu  ge* 
stehen,  hält  der  Rezensent  den  Hrn.  Verfasser  weder  für  den  außer? 
ordentlich  großen  Mann,  wofür  ihn  seine  Freunde  ausgeben,  noch 
für  den  außerordentlich  elenden  Menschen,  wofür  er  sich  aus  sehr 
seltsamer  Demut  selbst  ausgibt;«  es  läge  an  Lavaters  Freunden,  auf 
seine  Mäßigung  zu  dringen,  damit  er  nicht  kurze  Zeit  später,  wenn 
er  die  »vermischten  Gedanken«  »mit  abgekühltem  Blute  lese,  sie 
mißbilligen  und  unterdrücken  zu  können  wünschen  werde«  —  eine 
Anspielung,  deren  Bedeutung  wir  uns  bereits  vergegenwärtigten. 
Wenn  aber  diese  Rezension  eingangs  die  »zu  große  Complacenz 
des  Verfassers  gegen  sich  selbst«  feststellte,  so  hatte  sie  noch  eine 
andere  Begründung  als  eine  psychologische  Analyse  Lavaters: 
»Freundschaft  erfordert  Gleichheit.  Wann  der  eine  Teil  auf  Fragen 
und  Mitteilungen,  deren  Beantwortung  der  andere  bedarf,  nicht  ant= 
wortert,  sondern  quasi  ex  tripode  Axiomen  mitteilt,  deren  der  andere 
eben  nicht  so  bedürftig  ist,  so  wird  der  eine  Teil  für  den  anderen  zu 
vornehm.«  Diese  Erfahrung  machte  Nicolai  um  dieselbe  Zeit  an 
seinem  eigenen  freundschaftlichen  Briefwechsel^  mit  Lavater;  er 
habe,  schreibt  er  an  Zimmermann  ^  »seit  Jahr  und  Tag«  mit  Lavater 
über  die  Physiognomik  korrespondiert  »in  Briefen,  die  gemeinig* 
lieh  auf  meiner  Seite  zwei  Bogen  und  auf  seiner  Seite  sechs  Zeilen 

'  Alfred  Stern,  »Mirabeau  und  Lavater«,  Deutsche  Rundschau  118, 424 ff.,  hat 
auch  den  Briefwechsel  Nicolais  und  Lavaters  in  der  Frühzeit  charakterisiert.  Da 
ich  den  Briefwechsel  im  Anhang  veröffentliche,  weise  ich  hier  nur  allgemein  auf 
ihn  hin  und  zitiere  nicht  im  einzelnen.  Ich  bedauere  es  sehr,  daß  mir  die  Zeit= 
umstände  eine  Einsichtnahme  in  die  Nicolaischen  Briefe  im  Lavater^Archiv  in 
Zürich  nicht  gestatten;  für  den  hauptsächlichsten  Gegenstand  des  Briefwechsels, 
die  Physiognomik,  bieten  die  von  Nicolai  eingehend  korrigierten  Kopien  im 
Xicolaischen  Nachlaß  allerdings  genügende  Anhaltspunkte. 
-  Nicolai  an  Zimmermann  15.  IV.  75  =  Ed.  Bodemann,  S.  304. 

224 


lang  waren«;  nun  merke  er,  daß  es  Lavater  gar  nicht  so  sehr  auf 
den,  wie  er  geglaubt  habe,  gemeinsamen  Gegenstand  ankomme, 
sondern  auf  gewisse  »geheime  Nebenabsichten«,  die  »in  unmittel« 
barer  Verbindung  mit  den  , Aussichten'«  stünden,  und  der  wahre 
Grund  seiner  Physiognomik  seien.  Seitdem  Nicolai  Ende  der  sech* 
ziger  Jahre  Lavater  buchhändlerische  und  persönliche  Dienste  ge« 
leistet  hatte,  empfing  er  von  Lavater  einige  Briefe,  die  von  Versiehe* 
rungen  freundschaftlicher  Verehrung  und  einer  fast  demütigen, 
jedenfalls  übertriebenen  Dankbarkeit  Überflossen.  Nicolai  wird  sie 
sehr  freundschaftlich  beantwortet  haben.  Ein  eigentliches  Thema 
gewinnt  die  Korrespondenz  bald  an  Lavaters  physiognomischen 
Studien;  Nicolai  dringt,  zumal  nach  dem  Erscheinen  der  Abhand* 
lung  »Von  der  Physiognomik«,  auf  Vertiefung,  Sorgfalt,  Methode 
des  Lavaterschen  Studiums,  und  Lavater  pflichtet  ihm  bei,  wenn* 
schon  er  bezeugt,  daß  er  äußerlich  und  innerlich  zu  einer  vor« 
schnellen  Publikation  sich  gedrängt  fühle  »Wahrlich,  noch  nicht 
urteilen  sollt'  ich,  sondern  erst  studieren!  je  mehr  ich  beobachte, 
desto  weniger  darf  ich  urteilen«  —  erkennt  Lavater;  aber  er  urteilt 
desto  mehr:  über  Chodowiecki  als  Menschen  und  Zeichner,  über 
Schattenrisse  Friedrichs  des  Großen  und  Moses  Mendelssohns  — 
und  Nicolai  sieht  sich  genötigt,  den  Lavaterschen  Urteilen  ent# 
schieden  zu  widersprechen.  Auch  über  Nicolai  urteilt  Lavater:  »ein 
heiterer,  aber  nicht  profonder,  ein  witziger,  aber  nicht  schöpferischer 
Geist«;  »Geschmack  und  Witz  und  Klugheit«  erkennt  er  mit  Pfen* 
ninger  in  einem  anderen  Nicolaischen  Porträt;  aber  er  vermißt  darin 
den  »Adel«,  er  diagnostiziert  auf  Hypochondrie,  Einseitigkeit,  Ein* 
förmigkeit  des  Denkens  und  fügt  ungebeten  ein  »consilium  medi* 
cum«  an  sein  Urteil.  Nicolai  —  rechtfertigt  sein  Porträt  in  einem 
Brief  von  16  Folioseiten;  die  schlechte  Stellung  und  Beleuchtung 
habe  den  Zeichner  behindert.  Er  ist  enttäuscht  und  verstimmt,  und 
seine  »Offenherzigkeit«  gibt  sich  nicht  minder  bitter  gegen  Lavater; 
auch  er  gibt  Lavater  ein  consilium  medicum,  das  sich  auf  seine 
Schriftstellerei  bezieht  und  ganz  im  Sinne  der  Rezension  der  »Ver* 
mischten  Gedanken«  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  ge* 
halten  ist,  natürlich  ohne  deren  Schärfe.  Bald  ergeben  sich  andere 
Differenzen.  Nicolai  sendet  Lavater  seine  »Freuden  Werthers«;  La« 
vater  findet  zwar  »Unvergleichlichkeiten  in  dieser  Broschüre«,  aber 

1>  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  LLj 


er  fragt:  »ob  Ihr  Zweck  dadurch  erreicht  wird?  Ich  zweifle,  so  wie 
ich  zweifle,  ob  Werther  die  neuerHch  vorgefallenen  Selbstmorde 
veranlaßt  habe«.  Er  verteidigt  Herder  gegen  die  Anwürfe  des  Re* 
zensenten  der  Herderschen  Provinzialblätter  (s.  ob.  S.  206)  und 
spricht  von  »verständlichen  Schwätzern«,  denen  er  den  dunklen 
Herder  vorzöge.  Und  bald  hat  Lavater  sich  wegen  der  Stellung* 
nähme  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  in  seinem  Streit  mit 
Hottinger  zu  beschweren.  Aber  der  eigentliche  Kernpunkt  des 
Briefwechsels  und  der  eigentliche  Scheidepunkt  sind  die  Physiogno* 
mischen  Fragmente.  Zwar  dankt  Lavater  Nicolai  noch  förmlich  für 
seine  erste  Rezension  der  Schrift  »Von  der  Physiognomik«.  In* 
zwischen  verfestigt  beider  Stellungnahme  sich  aber  allgemein  so, 
zumal  seit  Nicolai  sich  von  Lavater  an  Herder  verraten  glaubt  und 
sich  einer  »Kraft  und  Wunderpartei«  gegenübersieht,  die  in  Lavater 
eine  ihrer  Stützen  erkennt  — ,  daß  der  Briefwechsel  gereizte  Formen 
annimmt  und  nur  noch  zur  Hervorkehrung  der  Gegensätze  dient, 
bis  er  völlig  einschläft. 

Daß  sich  die  Gegensätze  an  diesem  Punkte  entzünden,  wo  bei 
Nicolai  zunächst  »eine  gleichgestimmte  Saite«  anklingt\  ist  nicht 
verwunderlich,  wenn  wir  die  verschiedenen  Elemente  betrachten, 
die  Lavaters  Physiognomik  zu  einem  typischen  Werk  des  Sturms 
und  Drangs  machten.  Aber  nicht  minder  stark  sind  Nicolais  eigene, 
gänzlich  Wesens  verschiedene  Ansätze  zur  Physiognomik  zu  betonen; 
man  hat  sie  gewöhnlich  übersehen  und  doch  gibt  die  Tatsache,  daß 
Nicolai  auf  anderen  Wiegen  zu  dem  Versuch  eines  eignen  physiogno* 
mischen  Systems  gelangte,  eine  Möglichkeit,  wesentliche  Gegen* 
sätze  der  beiden  Generationen  auszumessen,  wie  sie  damals  erst  die 
Möglichkeit  der  gegenseitigen  Ablösung  gab. 

FreiHch  ergeben  Nicolais  eigene  Bemühungen  um  die  Physiog* 
nomik,  wie  sie  heute  fragmentarisch  vorliegen-,  kein  Ganzes;  aber 

'  Nicolai  an  Lavater  8.  X.  73.  NN. 

-  Den  Plan  eines  »Bändchens  physiognomischer  Betrachtungen«  bezeugt  Nicolai 
an  Merck  8.X.  75  =  Wagner  I,  72  ff.;  an  Lessing  29.  VI.  76  =  Lachmanri=Muncker 
21,  108  u.a.  m.  Nicolais  physiognomische  Fragmente  hat  Göckingk,  insbesondere 
S.  137 ff.,  in  Auswahl  veröffentlicht;  vgl.  auch  Göckingk  S.  48.  Außer  den  drei 
noch  zu  behandelnden  Rezensionen  der  Lavaterschen  Physiognomik  sind  für 
Nicolais  eigene  Physiognomik  Quelle  die  ausführlichen  Briefe  an  Zimmermann 
vom  15.  IV.  75  und  30.  V.  75  =  Ed.  Bodemann,  S.  304  ff.  Zahlreiche  Erwähnungen, 

226 


die  wesentlichsten  Grundzüge  seines  »Systems«  standen  und  stehen 
fest.  Schon  die  Entstehung  seiner  Bemühungen  deckt  einen  solchen 
Grundzug  auf.  Die  Definition  der  Physiognomik,  die  er  versucht  \ 
ist  in  der  Abgrenzung  gegen  die  Auffassung  und  Darstellung  des 
Menschen  in  Malerei  und  Plastik  gewonnen.  In  der  bildenden  Kunst 
wird  der  Mensch  nach  Maßgabe  der  »Vorstellungsart«  aufgefaßt, 
seine  Darstellung  darf  nichts  haben,  »was  außer  der  Form  ist«,  das 
Ideal  der  Schönheit  verpflichtet  den  Künstler.  »Die  Physiognomik 
nimmt  den  Menschen  ohne  Vorstellung,  ohne  Darstellung,  so  wie 
er  selbst  ist.«  »Sollte  die  Form,  die  wir  nur  durch  Malerei  oder  Bild* 
hauerei  erkennen,  in  der  Natur  unerkennbar  sein?«  Sie  ist  es  nicht; 
nur  müssen  wir  in  ihr  nicht  suchen,  was  Bedürfnis  der  Kunst  ist; 
insbesondere  müssen  wir  in  der  Physiognomik  das  Ideal  der  Form 
vergessen,  weil  wir  sonst  nicht  »Menschen  individualisieren  können, 
welches  eigentlich  der  Zweck  der  Physiognomik  ist«;  demgemäß 
»muß  ich  bei  der  Erklärung  einer  Physiognomie  erstens  auf  das  Ob* 
jekt,  zweitens  auf  mich  selbst  sehen«,  um,  im  Gegensatz  zur  künstleri* 
sehen  Hervorbringung,  die  Subjektivität  auszuschalten,  wie  es  auch 
Nicolais  erste  Rezension  der  Lavaterschen  Physiognomik  ausdrück» 
lieh  fordert.  »Das  große  Gesetz  der  Natur«,  erkennt  er  in  anderem 
Zusammenhang'-,»ist  Mannigfaltigkeit,in  jeder  Ansicht  unbeschreib* 
licheVerschiedenheit  der  Anlagen,  der  Beziehungen  der  Kräfte.  Jedes 
Ideal,  selbst  das  herrlichste  Ideal  der  Schönheit,  ist  nur  einseitig.« 
Wir  dürfen  uns  nicht  damit  begnügen,  in  dem  Ausgangspunkt 
und  der  Manier  dieser  Definitionen  nur  eine  mißglückte  Nach* 
ahmung  Lessingscher  Zergliederungen  zu  sehen;  sie  zeigen  —  selbst 
wenn  wir  Lavaters  Bericht  über  die  Genesis  seiner  Bemühungen 
um  Physiognomik^  zurückhaltend  bewerten  —  einen  gegensätz* 
liehen  Ausgangspunkt  an.  Die  spezifisch  wissenschaftliche  Genesis 
dieser  Bemühungen  weist  auf  den  größeren  Zusammenhang  hin, 
in  dem  bei  Nicolai  die  Physiognomik  der  vorzüglich  ästhetische 

meist  polemischer  Natur,  gelten  Lavaters  Physiognomik  in  vielen  späteren  Schriften 

Nicolais  bis  zu  den  »Vertrauten  Briefen«  hin;  aus  ihnen  ist  für  Nicolais  positiven 

Standpunkt  wenig  zu  lernen. 

■'  GöckingkS.  138. 

'  Göckingk  S.  119. 

"  Im  ersten  Fragment  des  ersten  Wrsuches. 

15*  ,  227 


Einschlag  ist:  das  »Studium  des  Menschen«  in  dem  Sinn  und  Um* 
fang,  den  wir  uns  vergegenwärtigten.  Daß  Nicolai  der  formalen 
Definition,  die  Lavater  von  der  Physiognomik  (besonders  im  ersten 
Abschnitt  der  »Abhandlung«)  gibt,  rückhaltlos  zustimmt\  darf 
uns  nicht  täuschen:  denn  diese  Definition  hat  nichts  Verpflich« 
tendes  für  Geist  und  Gehalt  der  »Fragmente«,  und  das  wenige, 
was  sich  allenfalls  aus  ihr  herleiten  ließe,  findet  in  Nicolai  einen 
entschiedenen  Gegner.  Ausgangspunkt  und  Ziel  der  Lavaterschen 
Physiognomik  werden  von  seinem  religiösen  Empfinden  her  be* 
stimmt;  Herder  sagte  nicht  übertreibend,  Lavater  könne  durch  die 
Physiognomik  »mehr  Prediger  Gottes  werden,  als  durch  alle  Pre* 
digten  auf  Erden«-.  Nicolai  aber  polemisiert  nicht  nur  gegen  ein* 
zelne  theologische  Hypothesen  und  religiöse  Stimmungen  der 
Fragmente,  sondern  überhaupt  gegen  die  religiöse  Bezogenheit  der 
Physiognomik  bei  Lavater.  Nicolais  Bemühungen  sind  eher  auf 
Ästhetik  und  Moral  bezogen;  den  »Nutzen  der  Physiognomik«, 
den  er  im  übrigen  nicht  überschätzen  möchte,  bezeichnet  er  gegen 
Lavater  als  »nähere  Kenntnis  der  wahren  Beschaffenheit  der  Cha* 
raktere  der  Menschen  und  ihrer  vermischten  Eigenschaften  über* 
haupt,  die  durch  Schlüsse  aus  moralischen  Compendien  oft  so  sehr 
verkannt  werden.  Der  Zuwachs  von  Wahrheit,  den  das  mensch* 
liehe  Geschlecht  dadurch  erhalten  kann,  ist  schon  beträchtlich«^. 
»Die  physiognomischen  Kenntnisse  menschlicher  Formen«,  erkennt 
er*,  »sind  wahrer  und  mannigfaltiger  als  die  Kenntnisse  durch  Bild* 
hauerei  und  Malerei,  welche  den  Menschen  nur  kennen  lehren,  in* 
wiefern  er  schön  und  für  den  Augenblick  darstellungsfähig  ist«. 
Der  schöne  Mensch  aber  ist  keineswegs  sein  bevorzugter  Gegen* 
stand:  »ein  Mensch,  bei  dem  alle  Teile  zur  Schönheit  überein* 
stimmen,  ist  an  sich  kein  vorzüglicherer  Mensch,  als  der,  an  dem 
z.  B.  alle  Teile  zur  Empfänglichkeit  der  Begriffe  oder  zum  Geben 
oder  zur  Stärke  übereinstimmen«^.  »Ein  Mensch,  in  dem  zuviel 

'  AD  Bibliothek  23,316. 

■  Aus  Herders  Nachlaß  11,75. 

'  AD  Bibliothek  21,321. 

'  Göckingk  S.  139. 

^  Göckingk  S.  142,  »durch  diese  (und  die  folgenden)  Bemerkungen   wird  das 

ganze  unzulängliche  Geschwätz  Lavaters  über  die  Schönheit,  besonders  auch 

gegen  Winckelmann  auseinandergesetzt«. 

228 


Zeichen  der  Schönheit  im  Gegensatz  gegen  andere  Eigenschaften, 
die  er  notwendiger  haben  muß,  wären,  würde  ein  schlechterer 
Mensch  sein«;  die  besondere  Relativität  der  Schönheit,  die  sich  aus 
besonderen  Bedürfnissen,  aus  Alter  und  Geschlecht  ergibt,  will  er 
berücksichtigt  wissen.  Dem  Lavaterschen  Satz:  je  schöner,  desto 
moralisch  vollkommener,  ist  er  unzugänglicher  als  Mendelssohn, 
seine  Argumentation  deckt  sich  im  wesentlichen  mit  derjenigen 
Lichtenbergs  (in  dessen  Schrift  Ȇber  Physiognomik  wider  die 
Physiognomen«).  Ganz  entschieden  und  fast  entrüstet  weist  er  das 
Lavatersche  Fragment  von  Christusköpfen  zurück;  zu  Zimmer* 
mann^  bemerkt  er,  Lavaters  »geheimes  und  unsinniges  System  der 
Religion«  müsse  ihn  dazu  führen,  den  Christuskopf  für  den  schön* 
sten  denkbaren  Kopf  zu  halten,  wie  gewöhnlichen  Menschen  die 
Gläubigen  die  schönsten  Physiognomien  wären:  »aber  die  Grie* 
chen,  denen  wir  doch  nur  nachäffen  und  nachlallen,  sind  zu  ihrer 
Schönheit  gewiß  durch  einen  anderen  Weg  als  durch  den  Glauben 
gelangt«;  und  nicht  minder  schroff  wendet  er  sich  in  der  Rezension 
gegen  diese  Lavaterschen  Hypothesen.  Was  sich  hier  an  dem  be= 
sonderen  Problem  des  »schönen  Menschen«  zeigt,  ist  indessen  nur 
Ausfluß  einer  gegensätzlichen  Gesamteinstellung.  Der  Mensch  als 
Objekt  der  Physiognomik  ist  hier  und  dort  verschiedene  Qualität. 
Der  Mensch  wird  von  Lavater  im  Grunde  »in  seiner  Isoliertheit« 
(wie  ein  Kapitel  seiner  späteren  Schrift  »Moses  und  Aaron«  [1798] 
überschrieben  ist)  und  als  göttliches  Ebenbild  genommen;  Nicolai 
betrachtet  ihn,  wie  Lichtenberg,  in  seiner  gesellschaftlichen  Bin* 
düng:  bei  Lavater  stehen  im  Vordergrund  des  Interesses  die  außer* 
ordentlichen  Menschen,  Genie,  Prophet,  Dichter;  Nicolai  verlangt 
in  den  Rezensionen  wie  in  seinen  Briefen  an  Lavater  immer  wieder 
als  Objekt  der  Physiognomik  »Menschen  aller  Stände«-.  Lavater 
erhofft  für  den  Physiognomen,  daß  sein  Blick  für  Vollkommen* 
heiten  geschult  werde,  wie  er  gerade  auch  Nicolai  gegenüber  be* 
tont,  der  Physiognom  solle  weniger  Schwachheiten  und  Fehler,  als 
vielmehr  Vollkommenheiten  und  schöne  Züge  entdecken  wollen. 
Nicolai  wehrt  sich  dagegen;  die  Physiognomik  solle  den  Menschen 

'  An  Zimmermann  15.  IV.  75. 

'  Die  Rezension  der  Lavaterschen  Physiognomik  in  den  Frankfurter  Gel.  Anz. 

18.  VIII.  72  =  D.  L.  D.  7  8,  435  unterstreicht  Lavaters  Standpunkt  lobend. 

229 


nehmen  wie  er  ist,  in  seiner  durchgängigen  Vermischung  von 
Gut  und  Böse,  Schön  und  HäßUch,  und  gerade  seine  —  oben 
zitierte  —  Überlegung  über  den  Nutzen  der  Physiognomik  stellte 
die  Erkenntnis  der  »gemischten  Eigenschaften«  obenan  —  eine  un* 
mittelbar  praktische  Ausdeutung  der  Mendelssohnschen  Theorie 
der  gemischten  Empfindungen,  deren  Bedeutung  für  Lessings  Kreis 
Dilthey,  soweit  ich  sehe,  zuerst  hervorhob^.  Man  wird  hierin  — 
zumal  sich  ähnliches  bei  Lichtenberg  findet,  mehr  sehen  müssen, 
als  eine  bloß  »realistische«  Auffassung  des  Menschen,  mehr  jeden* 
falls  als  eine  Wiederspiegelung  seines  Eklektizismus ;  diese  Betrach* 
tungsart  macht  sich  auch  bei  anderen  Gelegenheiten  geltend,  und 
sie  steht  in  genauem  Zusammenhang  mit  dem  hauptsächlichsten 
Problem  seiner  physiognomischen  Bemühungen.  Der  Begriff,  der 
für  ihn  im  Mittelpunkt  der  Physiognomik  steht,  ist  derjenige  der 
Relation  der  Teile;  kein  Teil  des  Körpers  bedeutet  an  sich  etwas, 
jeder  nur  in  Beziehung  auf  andere,  auf  die  Struktur  im  Ganzen; 
und  so  sind  nicht  die  festen,  ruhenden  Teile  und  Züge  der  mensch* 
liehen  Gestalt,  sondern  die  beweglichen  sein  eigentliches  Objekt. 
In  diesem  Zusammenhange  wird  sein  Begriff  des  »Totaleindrucks« 
eigentlich  erst  verständlich,  der  keineswegs  mit  dem  Lavaterschen 
identisch  ist,  wie  es  zunächst  scheinen  möchte;  der  Totaleindruck 
ist  das  Korrektiv  der  Einzelbeobachtung,  und  nur  als  solches  von 
Bedeutung;  und  umgekehrt  (und  diese  Umkehrung  findet  sich 
auch  bei  Lichtenberg):  könnten  wir  alle  Relationen  und  Propor* 
tionen  wahrnehmen  und  aufsummieren,  so  würden  wir  den  Total* 
eindruck  erhalten,  —  ein  einschneidender  Gegensatz  zu  Lavaters 
intuitiver  Gesamtinterpretation !  Es  liegt  hierin  aber  noch  ein  zweites 
beschlossen:  schon  die  rein  organische  Veränderung,  durch  Wachs* 
tum  z.  B.,  verändert  die  Relation  der  Teile;  ist  die  Totahtät  eine 
Summe  veränderlicher  Teile,  so  ist  auch  die  Totalität,  der  Mensch 
im  ganzen  betrachtet,  veränderlich,  nach  der  moralischen  Seite,  wie 
auch  Lichtenberg  sagt,  je  nach  Milieu,  Lebensbedürfnissen,  Erzie* 
hung  perfektibel  oder  korruptibel";  eben  deshalb  wünscht  Nicolai 
auch  die  Beobachtung  des  Physiognomen  vorzugsweise  auf  die 

'  Dilthey,  Erlebnis  und  Dichtung,  4.  Aufl.,  S.  50. 

-  Vgl. die  Polemik  Nicolais  gegen  die  Lavatersche  Stollberg»Charakteristik  »un- 

verführbar«  im  Brief  Nicolais  vom  30.  IV.  76  an  Lavater. 

230 


veränderlichen,  nicht  die  ruhenden  psychischen  Faktoren,  also 
nicht,  wie  Lavater  es  tut,  vorzugsweise  auf  (angeborene)  Talente 
und  Fähigkeiten,  sondern  auf  die  —  leichter  beeinflußbaren  —  Nei* 
gungen  gerichtet.  Angeboren  seien  den  Menschen  die  gleichen 
ersten  Neigungen  und  Begierden,  aber  die  Entwicklung  bedinge, 
daß  sie  ihnen  »in  unendlicher  Verschiedenheit  Genüge  tun«  —  ein 
entschiedener  Gegensatz  zu  der  Auffassung  des  Lenzschen  Auf* 
Satzes  über  Physiognomik S  die  alles  Gewicht  auf  die  »erste  Bil* 
düng  der  Seele«  schon  im  Fötus  legen  will.  Die  moralische  Ent» 
Wicklungsfähigkeit  wird  aber  für  Nicolai  wie  für  Lichtenberg, 
Mendelssohn  und  Garve,  von  höchster  Bedeutung  unter  dem  Ge* 
Sichtspunkte  der  Willensfreiheit.  Lichtenberg  treibt  hier  seinen 
Widerstand  gegen  Lavater  bis  zu  der  Behauptung,  die  Tatsache  der 
Perfektibilität  oder  Korruptibilität  schließe  den  Menschen  für 
ewig  »aus  dem  Sprengel  der  Physiognomik  aus«;  Nicolai  will  ihn 
nur  so  eingerichtet  wissen,  daß  der  Begriff  der  Perfektibilität  darin 
Raum  hat.  »Daß  Sie  mir  Perfektibilität  zutrauen«,  antwortet  er  La* 
vater^  auf  dessen  Urteil  über  seinen  Schattenriß,  »halte  ich  für  ein 
größeres  Lob,  als  Sie  vielleicht  intendiert  haben« ;  er  weiß  sehr  wohl 
den  Wertunterschied  einzuschätzen,  den  dieser  Begriff  bei  ihm  und 
bei  Lavater  hat.  Die  deterministische  Grundansicht,  die  trotz  aller 
Modifikationen  in  den  Fragmenten  durchaus  vorherrscht,  erfährt 
bei  Nicolai  wie  bei  Lichtenberg  entschiedene  Ablehnung,  und  es 
ist  nicht  minder  bedeutsam,  daß  Lenz,  dessen  Aufsatz  hier  wohl 
als  authentische  Interpretation  gelten  kann,  diese  Gegensätze  be* 
merkt  und  unterstrichen  hat. 

Es  ist  notwendig,  daß  wir  uns  diese  Nicolaischen  Standpunkte 
zu  einem  geschlossenen  Bilde  zusammenfügen,  ehe  wir  seine  Re* 
zensionen^  der  Lavaterschen  Physiognomik  betrachten;  denn  diese 

'  Teutscher  Mercur  1777,  Nov.,  S.  106ff.  (J.  M  R.  Lenz),  »Nachruf  zu  der  im 
Götting.  Almanach . .  gehaltenen  Rede  . .  über  Physignomik«  (von  Lichtenberg). 
•  Nicolai  an  Lavater  19.  IL  74  NN. 

'  Ich  nehme  die  mit  N  unterzeichneten  drei  Rezensionen  —  die  erste  in  der  Allg. 
Dtsch.  Bibliothek  23,313-346  behandelt  die  beiden  Abhandlungen  »Von  der 
Physiognomik«;  die  zweite  in  29,379-414  behandelt  den  ersten  und  zweiten  Ver= 
such  der  Fragmente;  die  dritte  in  Anhang  z.  25./36.Bd.,  S.  1251—1281  den  dritten 
und  vierten  Versuch,  sowie  einige  kleinere  Schriften  anderer  Autoren  zur  Phy 
siognomik  (hierunter  Lichtenberg)  -  sämtlich  für  N  i  c  o  1  a  i  in  Anspruch,  obwohl 

231 


Rezensionen  bringen,  da  der  Rezensent  hier  wie  öfter  seinem  Autor 
mit  mehr  als  gewissenhafter  Treue  folgt,  seine  positiven  Stand* 
punkte  nur  sehr  eingeschränkt  und  anmerkungsweise  zum  Aus* 
druck;  und  zudem  weisen  sie  verschiedene  Färbung  auf.  Die  erste 
Rezension  ist  äußerst  vorsichtig  und  behutsam  in  ihren  einschrän* 
kenden  Anmerkungen,  deutlich  und  kräftig  in  der  Hervorhebung 
der  Verdienste  Lavaters.  Freilich  ist  gerade  hier  der  Gegensatz  am 
stärksten:  in  der  unbewußten  Umbiegung  der  Ergebnisse  und  der 
Methode  Lavaters  in  Nicolais  Standpunkte;  was  sich  irgend  an  un* 
stürmerischen  Elementen  bei  Lavater  findet,  trägt  Nicolai  sorgfältig 
zusammen.  Er  hebt  den  wissenschaftlichen  Charakter^  der 
Physiognomik  hervor;  er  kündigt  in  dem  zu  erwartenden  großen 
Werke  eine  genauere  detailliertere  und  systematischere  Behandlung 
des  Gegenstandes  an.  Er  nimmt  sich  Lavaters  gegen  seine  Rezen* 
senten  —  auch  für  die  Zukunft  an  — ,  besonders  gegen  diejenigen,  die 
eine  »bärtige  philosophische  Maske  vorstecken«  und  dabei  doch 
ihre  Philosophie  nur  »auf  einen  sehr  bequemen  sensus  communis 
beziehen«,  den  er  als  »Inbegriff  der  zu  einer  gewissen  Zeit  oder  in 
einem  gewissen  Landstriche  herrschenden  Wahrheiten  und  Vorur* 
teile«  bezeichnet!  Seine  abweichenden  Standpunkte,  bringt  er  in 
Form  von  einschränkenden  Anmerkungen  vor,  in  der  bestimmten 
Überzeugung,  daß  es  nur  einer  aufmunternden  Nachhilfe  bedürfe, 
Lavater  gewisse  Eigentümlichkeiten  —  in  Stil  und  Beweisverfahren  — , 
die  sein  Werk  schädigen  müßten,  abzugewöhnen.  Er  will  Lavater 

N  Petersens  Signum  ist.  In  der  Rezension  29,  S.386  7  ist  das  Fragment  einer  Re= 
zension  eines  anderen  Verfassers  eingeschoben,  eingeleitet  mit  den  Worten:  »ein 
trefflicher  Mann  urteilt  schriftlich  von  diesem  Werke  . .«;  diese  Stelle  möchte  ich 
(nach  Nicolai  an  Joh. Müller  16.  III. 73  =  Briefe  S.  59:  »Ich  sehe  Ihrer  Rezension 
mit  Verlangen  entgegen«  usw.)  Joh.  Müller  zuweisen.  Meine  Annahme  derVer= 
fasserschaft  Nicolais  stützt  sich  für  die  Rezension  in  23  auf  die  Briefe  Nicolais 
an  Zimmermann  vom  15.  IV.  75  =  Bodemann  S.  304  und  an  Joh.  Müller  12.  VII. 
76  =  Briefe  S.  102;  beide  sind  nur  auf  diese  erste  Rezension  zu  beziehen.  Für 
die  zweite  Rezension:  Nicolai  an  Merck  8.X.  75  =  Wagner  111,74;  für  die  dritte 
Rezension  auf  deren  einleitende  Sätze.  Alle  drei  tragen  zudem  unverkennbar 
Nicolaisches  Gepräge;  wörtliche  Anklänge  und  Übereinstimmungen  mit  brief= 
liehen  Äußerungen  Nicolais  an  Zimmermann,  Müller,  Lavater  u.  a.  m. 
'  Vgl.  aber  F.  H.  Jacobi  an  Lavater  13.  VI.  78:  »ich  halte  (Ihr  Werk)  für  eins  der 
heimlichsten  und  nützlichsten,  wenn  auch  an  eigentlicher  Physiognomik,  oder 
vielmehr  an  wissenschaftlicher,  kein  wahres  Wort  sein  sollte.« 

232 


auf  genaue  Beobachtung,  auf  induktives  SchlufWerfahren  verpflich* 
ten,  ja  er  meint,  daß  Lavater  nur  um  die  Leser  in  die  neue  Materie 
einzuführen,  bisweilen  ins  Deduzieren  verfalle!  Zu  der  Erörterung 
»von  dem  Gemälde  des  vollkommensten  Menschen  oder  Jesu 
Christi«  bemerkt  er,  Lavater  möchte,  »die  ohnedies  so  sehr  weiten 
Grenzen  der  Physiognomik  nicht  noch  weiter  ausdehnen«,  als  un* 
bedingt  notwendig  sei;  die  »stärkste  menschliche  Imagination«  ver* 
sage,  »wenn  sie  sich  nicht  unmittelbar  auf  existierende  Natur  stützt« . 
Und  bemerkenswerterweise  spricht  er  nur  an  einer  Stelle,  wo  Lavater 

—  über  die  schöne  Stimme  des  vollkommenen  Menschen  —  in  Her* 
derschen  Tönen  schwelgt,  von  »Gant,  der  kaum  in  Aussichten  in  die 
Ewigkeit  erträglich  ist  und  aus  einem  Werke  ganz  wegbleiben  muß, 
das  bloß  Tatsache  und  Erfahrung  —  oder  nichts  ist«.  (S.  342.) 

Nicht  die  Art,  wohl  aber  die  Anzahl  und  vor  allem  der  Ton  seiner 
Einwürfe  ändert  sich  in  der  zweiten  Rezension.  Der  Bruch  mit  Her« 
der,  dessen  Rückwirkung  auf  Nicolai  man  nicht  stark  genug  ein* 
schätzen  kann,  geht  dem  Erscheinen  desWerks  voran,  das  mit  Sätzen 
aus  der  verabscheuten  »Aeltesten  Urkunde«  demonstrativ  eröffnet 
wurde,  und  das  in  der  ungewöhnlichen,  und  Nicolai  sachlich  wie 
persönlich  unbegreiflichen  Lobpreisung  seiner  Freundie,  mit  dem 
Publikum  zu  spielen  schien.  Merck,  der  doch  diesem  Freundeskreise 
angehörte,  bezeichnet  Nicolai  diese  Lavaterschen  Charakteristiken 
recht  derb:  »die  lächerlichen  Herrlichkeiten,  die  er  bei  den  am  mei= 
sten  verunglückten  Silhouetten  ausgekramt  hat,  haben  mich  an? 
geeckelt  —  denn  was  hilft  das,  was  man  a  priori  weiß,  in  die  stump* 
fen  Umrisse  zu  legen,  und  nachher  zu  fordern,  daß  alle  Menschen, 
die  in  die  Eh*  und  Bettgeheimnisse  seiner  Bekannten  und  Freunde 
nicht  initiiert  worden,  alles  das  auch  sehen  sollen«'.  »Was  hat  Herr 
Goethe  gedacht«,  war  Nicolais  Antwort^  »als  er  das  Lied  am  Ende 
des  ersten  Teils  der  Physiognomik  schrieb!  Im  Ernste  kann  er  so 
etwas  fast  unmöglich  schreiben,  und  war's  Faunenblick,  so  —  doch 
ich  mag  hier  weiter  nichts  sagen.«  Er  muß  erkennen,  daß  Lavater  bei 
'  Merck  an  Nicolai  7.  VII.  75;  vgl.  später  Merck  an  Lavater  (17.  V.  78):  »die  bösen 
Monumente,  die  Sie  allen  jungen  Leuten,  die  noch  nichts  in  derWelt  getan  hatten, 
in  Ihrer  Physiognomik  setzten  . . .« 

-  Nicolai  an  Merck  8.X.  75.  Gemeint  ist  Goethes  »Lied  des  physiognomischen 
Zeichners«  =  Der  jg.  Goethe  4,  153.  Ähnlich  an  Zimmermann  30.  V.  75  =  Bode? 
mann  308. 

233 


seiner  Physiognomik  zwei  »Nebenzwecke«  verfolgt  habe,  die  ihm 
mindestens  ebenso  wichtig  sind,  wie  der  wissenschaftliche  Haupt* 
zweck ;  und  einer  dieser  »Nebenzwecke«  ist,  »die  große  Meinung, 
die  er  von  seinen  Freunden  hat,  auch  seinen  Lesern  beizubringen«'. 
Er  nimmt  Anstoß  daran,  daß  Lavater  und  die  Stollbergs  sich  »das 
Weihrauchfaß  recht  an  den  Kopf  werfen«,  nimmt  Anstoß  an  den 
20  Schattenbildern  von  Freunden  (auf  der  ersten  Tafel  de^  dritten 
Bandes),  an  der  Vergötterung  eines  im  Grunde  unbedeutenden, 
harmlosen  Menschen  wie  Kaufmann,  zu  dessen  Wahlspruch:  »man 
kann  was  man  will«  er  bemerkt,  daß  Lavater  dieser  Sentenz  durch 
die  Umkehr:  man  will  was  man  kann,  gerade  soviel  genommen 
habe,  »als  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Erfolg  der  Weissagung 
nehmen  wird.«  Und  natürlich  läßt  Nicolai  die  Stelle,  wo  Lavater 
begeistert  von  Herder  spricht,  nicht  vorübergehen,  ohne  seinem  Un* 
mut  über  den  dunklen  Herder  und  die  rätselhafte  Urkunde  Luft  zu 
machen.  Nicht  minder  scharf  nimmt  er  gegen  den  zweiten  »Neben- 
zweck« Stellung,  der  Lavater  »auf  Abwege  führe«:  seine  »mystischen 
Grillen«  über  Religion  und  künftiges  Leben,  besonders  über  die  Idee 
von  der  wundertätigen  Kraft  des  Glaubens  und  des  Gebets.  Er  er* 
klärt  sie  kurzerhand  für  den  »gröbsten  Unsinn,  zu  dessen  Entschul* 
digung  oder  gar  Bestätigung  weder  Schrift  noch  Vernunft  Beweis* 
gründe  an  die  Hand  geben  können.«  Nichtsdestoweniger  folgt  er 
den  einzelnen  Abwandlungen  dieser  »Grille«  mit  zornigem  Eifer 
und  zieht  alle  Register  des  Spotts  gegen  Lavaters  Ansichten  vom 
Christuskopf;  und  wenn  er  auch  erklärt,  »jedem  verständigem  Leser« 
müsse  bei  der  Lektüre  der  Physiognomik  »die  Geduld  endlich 
reißen«,  so  hat  er  das  Werk  doch  mehr  als  viermal  sorgsam  durch* 
studiert'^,  und  er  verfehlt  auch  hier  nicht,  Lavaters  Verdienste  da. 
wo  er  mit  ihm  übereinstimmt,  sorgsam  hervorzuheben,  Irrtümer  zu 
berichtigen  und  mangelhafte  Beobachtungen  zu  ergänzen.  Dabei 
macht  sich,  in  allen  drei  Rezensionen,  ein  Widerstand  von  einer 
dritten,  gewissermaßen  beide  andern  umfassenden  Seite  her  geltend: 
gegen  den  Stil  und  das  Beweisverfahren  Lavaters.  »Es  wird  nicht 
leicht  ein  Buch  in  der  Welt  sein,  das  die  Geistesphysiognomie  des 

'  Anh.  z.  25./36.  Bd.  der  A  D  Bibliothek,  S.  1252. 

■  Nicolai  an  Lavater  30.  IV.  76,  dazu  noch  der  Anfang  der  dritten  Rezension; 

vgl.  an  Merck  8.  X.  75. 

234 


Autors  so  deutlich  an  der  Stirn  trägt«  erkennt  er';  aber  er  unter* 
nimmt  es  nichtsdestoweniger,  diese  Physiognomie  zu  modeln, indem 
er  bald  spöttisch,  bald  förmlich  bittend  und  beschwörend  Lavater 
sein  »desultorisches  und  deklamatorisches  Wesen«  vorhält,  »die 
Liebe  zum  Fremden  und  Wunderbaren,  die  Sprünge  der  Einbih 
dungskraft,  das  Raisonnement,  das  oft  auf  die  seltsamste  Art  mit 
inniger  Mystik  verwickelt  ist,  die  helle  Philosophie,  die  oft  unver* 
mutet  in  Andächtelei,  Seelenzückungen  und  .Aussichten'  übergeht«, 
»das  weitschweifigste,  fast  mehr  als  kanzelhafte  Wortgepränge«,  das 
sich  neben  »bündigen,  herzrührenden,  erhabenen  Stellen«  so  breit 
mache.  Wir  kennen  die  Vorhaltungen,  die  Nicolai  hier  und  in  Briefen 
an  Lavater  macht,  schon  aus  der  Stilpolemik  gegen  Hamann  und 
Herder  im  einzelnen,  und  können  sie  daher  hier  übergehen,  bemer* 
kenswert  ist  aber  eine  gewisse  Zusammenfassung:  er  findet  den 
Sprachschatz  und  die  charakteristischen  Wendungen  von  Herder 
und  Hamann,  aber  auch  von  Goethe,  Lenz,  Bürger  u.a.  bei  Lavater 
wieder,  seine  Polemik  gilt  daher  nicht  bloß  dieser  Schrift  und  die* 
sem  Mann,  sondern  auch  seinen  Lehrern,  Freunden  und  Schülern 

—  der  ganzen  »Schule«.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  Nicolai  bei  solchen 
Widerständen  selbst  gegen  das  von  ihm  positiv  Genommene  des 
Werkes  mißtrauisch  wurde  —  mehr  als  seine  Rezension  zugab;  ja  er 
entfremdete  sich  der  geliebten,  hoffnungsfroh  begrüßten  Wissen* 
Schaft.  Wenige  Jahre  später  unterstrich  er  lobend  den  Satz  aus  einem 
»Physiognomischen  Kabinett«^  —  nachdem  er  schon  in  der  dritten 
Lavaterrezension  Lichtenbergs  Skeptizismus  gegen  die  Physiogno* 
mik  sich  zu  eigen  gemacht  hatte  — :  »Physiognomik  ist  nur  ein 
schmaler  Fußsteig  zur  Menschenkunde,  den  man  nur  im  Notfall 
geht,  wenn  die  andern  breiteren  und  gebahnteren  Wege  versperrt 
und  unbrauchbar  sind;  kannst  Du  also  diese  betreten,  so  bedarfst 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  29,  382. 

-  Münster  1776,  von  anonymem  Verfasser.  Die  mit  Vs  unterzeichnete  Rezension 
erschien  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  44,2,  517.  Das  Signum  Vs  ist  keinem  Rezensenten 
zugewiesen.  Vz  ist  Nicolais  Zeichen  für  diesen  Band;  die  Druckfehlerberich^ 
tigungen  schweigen  hierüber;  gleichwohl  möchte  ich  die  Rezension  für  Nicolai 
in  Anspruch  nehmen,  zumal  stilistische  Gründe  dafür  sprechen;  in  den  Korre« 
spondenzen  fand  sich  außer  der  interessierten  Frage  Nicolais  an  Lavater  vom 
30.  IV.  76,  bezüglich  der  Autorschaft  des  Buches,  kein  Anhaltspunkt  für  die  Ver^ 
fasserschaft  der  Rezension. 

235 


Du  des  Fußsteigs  nicht.«  Das  »Studium  des  Menschen«  fand  jetzt 
in  Geschichte,  Kulturgeschichte,  Politik,  Nationalökonomie  und 
empirischer  Psychologie  dankbarere  Gebiete,  je  stärker  er  die  beiden 
»Nebenzwecke«  der  Lavaterschen  Physiognomik  im  literarisch*wis* 
senschaftlichen  und  gesellschaftlichen  Leben  wirksam  sah. 

DieVerbindungder  beiden  Nebenzwecke  eben  durch  die»Schule« 
suchte  Nicolai  alsbald  an  anderer  Stelle  aufzuzeigen.  »Von  der 
Lehre  der  Gebets*  und  Glaubenskraft,  wie  auch  von  Schwärmerei 
und  Enthusiasmus«  war  eine  umfängliche  Rezension  der  Allgemein 
nen  Deutschen  Bibliothek  ^überschrieben,  die  einigen  Schriften  zum 
Lavater^Hottingerstreit,  aber  auch  Leonhard  Meisters  Ȇber  die 
Schwärmerei«,  dem  Stollbergschen  Museumsaufsatz  »Über  Spott 
und  Schwärmerei«  und  jenem  Mercuraufsatz  gegen  dieLukianischen 
Geister  galt,  der  noch  an  anderer  Stelle  dieser  Untersuchung  heran» 
gezogen  werden  soll.  Es  war  natürlich,  daß  die  Allgemeine  Deutsche 
Bibliothek  in  dem  sich  an  Hottingers  »Sendschreiben«  anschließen? 
den  Streit  mit  Vergnügen  die  Gelegenheit  ergriff,  Lavater  bloßzu* 

1  AD  Bibliothek  30.2  (1777),  S.  311-400.  Die  Rezension  ist  Zp  unterzeichnet, 
welches  Signum  weder  in  deutschen  noch  in  lateinischen  Lettern  einem  Rezen= 
senten  zugewiesen  ist.  Die  Druckfehlerberichtigung  am  Schluß  des  30.  Bandes 
sagt:  »S.  327,  zwischen  Z.  14  und  15  I.  Zusatz  eines  anderen  Rezensenten«.  Offen  = 
bar  enthält  diese  Berichtigung  wieder  einen  Druckfehler:  an  der  angeführten 
Stelle  geht  der  Text  ohne  Unterbrechung  weiter,  dagegen  Kndet  sich  S.  397  zwi- 
schen Z.  14  und  15  ein  Absatz;  aber  auch  S.  358  findet  sich  ein  größerer  Absatz. 
Aus  dieser  Druckfehler»berichtigung«  ließe  sich  also  für  die  Verfasserschaft, 
aber  auch  für  die  Anteile  der  Verfasser  nichts  Genaues  erweisen.  Aber  zu  Peter» 
sens  Brief  vom  4.11.77  bemerkt  Nicolai  am  Rande  in  unleserlichem  Zusamm  en« 
hang:  »drey  Rezensionen...  XXX,  2:  1)  über  Lavater,  Pfenninger,  Gedeon.« 
Danach  kann  man  mit  Sicherheit  annehmen,  daß  hier  eine  Mischrezension  von 
Nicolai  und  Petersen  vorliegt.  Die  Anteile  seitenweise  zu  bezeichnen,  möchte 
ich  auf  jene  »Berichtigung«  hin  nicht  wagen;  wahrscheinlich  hat  Petersen  das 
sachliche  Gerüst  geliefert;  Nicolai  hat  die  Partien  hinzugetan,  die  allgemeinere 
Aussichten  eröffnen.  Unzweifelhaft  stammt  z.  B.  die  Beantwortung  der  Lavater= 
sehen  »drei  Fragen«,  die  hier  in  der  Rezension  von  Pfenningers  »Appellation  an 
den  Menschenverstand«  gegeben  wird,  von  Petersen;  die  lange  »Anmerkung« 
zu  derselben,  die  Lavater  entgegen  seiner  Versicherung  doch  die  Inspiration  zu 
dieser  und  anderen  Apologien  nachweisen  will,  von  Nicolai.  Von  Nicolai  rühren 
m.  E.  auch  die  Invektiven  S.  358 ff.  her,  sowie  Einleitung  und  Schluß;  aber  auch 
zu  den  unzweifelhaft  von  Petersen  herrührenden  Partien  scheint  er  Zusätze  ge^ 
macht  zu  haben,  z.  B.  zu  der  Herder  betreffenden  Stelle  in  der  Gedeon=Rezension. 

236 


stellen,  um  so  mehr,  als  Hottinger  sich  ja  mit  seinem  Pamphlet 
»Menschen,  Tiere  und  Goethe«  im  Streit  um  »Werthers  Freuden« 
auf  Nicolais  Seite  geschlagen  hatte;  wir  brauchen  auf  diesen  Streit 
an  sich  hier  um  so  weniger  einzugehen,  als  das  vorzüglichste  Er* 
gebnis  der  ersten  Rezension  von  Schriften  zum  Hottingerstreit^ 
in  Beobachtungen  über  den  Charakter  der  literarischen  Person« 
lichkeit  Lavaters  bestand,  die  den  bisherigen  Erfahrungen  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  und  Nicolais  insbesondere 
nichts  Neues  hinzufügten,  die  alten  Beobachtungen  indessen  zu 
bestätigen  schienen.  Nun  glaubte  aber  diese  zweite  Rezension 
zum  Hottingerstreit  feststellen  zu  können,  daß  Lavater  mit  dem 
»Lammston«  des  Predigers  die  niedrigen  Machenschaften  des 
»Verleumders«  Pfenninger  zu  decken  versuche,  daß  er  unwahr* 
haftig  verfahre,  um  seinem  Charakter  einen  edleren  Anstrich  zu 
geben,  daß  »seine  Charlatanerie  und  Eitelkeit  ihn  beständig  mit 
sich  fortreiße«-,  daß  es  ihm  hier  wie  überall,  mehr  darauf  ankomme, 
»seinen  Prozeß  bei  einem  gewissen  Teil  des  Publikums  zu  gewinnen, 
als  die  Sache  selbst  aufzuklären.«  Hatte  nicht  Nicolai  eben  erst  fest* 
gestellt,  daß  in  der  Physiognomik,  die  Lavaters  wahres  Lebenswerk 
hätte  werden  sollen,  die  persönlichen  »Nebenzwecke«  die  Errei* 
chung  des  Hauptzweckes  verhinderten?  Lavaters  literarisches  und 
menschliches  Bild  schien  gezeichnet  —  so  endgültig,  daß  die  gleich* 
zeitigen  und  späteren  Lavaterrezensionen  sich  auf  ein  constat  be* 
riefen,  und  die  verschiedensten  Rezensenten  —  Campe,  Petersen, 
Eberhard,  Lüdke,  Schatz,  Korrodi  und  Musäus"  —  sich  derselben 
Terminologie  zur  Kennzeichnung  der  Lavaterschen  Autorschaft  be* 
dienen  konnten,  mochte  sie  nun  »Christliche  Lieder«,  Predigten 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  26,  596 ff.  Verfasser  der  Rezension  ist  Campe,  doch  sind 
zahlreiche  Zusätze  Nicolais  mir  wahrscheinlich. 
'  Nicolai  an  Merck  8.  X.  75. 

^  Lüdke  bespricht  »50  Christliche  Lieder  und  deren  Folge«:  AD  Bibliothek  20, 
2,  545  und  30,  1,  167 ff.;  Petersen  A  D  Bibliothek  18, 1,  152  und  25,  2,453  »Bibl. 
Erzählungen  f.d.  Jugend«  (die  noch  am  besten  wegkommen);  Campe  »Nach= 
denken  über  mich  selbst«  A  D  Bibliothek  27, 1,  98;  Schatz  »Verm.  gereimte  Ge^ 
dichte«  AD  Bibliothek  68,  2,  603 ff.;  Musäus  »Die  Messiade«  A  D  Bibliothek  67, 
2,434;  Korrodi  den  »Pontius  Pilatus«  AD  Bibliothek  57, 1  ff.;  zu  der  Korrodischen 
Rezension  v.  Pfenningers  »Christi.  Magazin«  (ebenda  S.  82ff.)  hat  Nicolai  gegen 
Lavater  gerichtete  Zusätze  gemacht. 

237 


Biblische  Erzählungen  für  die  Jugend  betreffen.  Ja  schon  hier  in 
dieser  großen  Rezension  liegt  der  Hauptakzent  weniger  auf  Lavaters 
Subjektivität,  als  auf  deren  Wirkungen,  sie  wird  symptomatisch  ge* 
nommen,  nicht  mehr  bloß  psychologisch,  und  die  Verbindungs? 
linien,  freilich  hauptsächlich  die  äußeren,  zur  Geniebewegung  wer* 
den  gezogen.  Denn  Schwärmerei  und  Enthusiasmus,  welche  die 
Rezension  mit  Lavaters  theologischem  System  in  Verbindung  bringt, 
werden  hier  nicht  bloß  in  religiösem  Verstände  aufgefaßt;  sind  sie 
doch  das  Zeichen,  in  dem  die  junge  Generation  überhaupt  zu  siegen 
glaubt,  gelten  sie  doch  auch  in  Dingen  der  allgemeineren  Weltan* 
sieht,  im  Felde  der  schönen  Wissenschaften  bereits  als  Kampfruf. 
»Die  Sache  erhält  durch  diese  Wendung  ein  interessanteres  Ansehen ; 
wer  an  dem  Wunderstreit  nicht  teilgenommen  hatte,  kann  bei  dem 
Streite  über  die  Vorzüge  und  Rechte  der  Vernunft  (im  allgemeineren 
Bezug)  nicht  gleichgültig  bleiben«  (A.  D.  Bibl.  30, 359).  Die  Schwär* 
merei  in  diesem  allgemeineren  Sinn  hatte  der  Mercuraufsatz  gegen 
die  »lukianischen  Geister«,  unter  die  er  die  »Bibliothekare  in  Berlin« 
ausdrücklich  zählte,  nicht  nur  verteidigt,  sondern  Schwärmerei  ge* 
radezu  als  Parole  im  Kampf  gegen  die  Aufklärung  ausgegeben,  und 
in  so  maßloser  Weise,  daß  der  Herausgeber  Wieland  seinen  Mit* 
arbeiter  nachträglich  desavouierte.  Die  »Bibliothekare«  antworteten 
hier:  »da  strömen  denn  nun  unbesonnene  Jünglinge,  die  mehr  Mut 
als  Kraft  belebt,  dem  Wundertäter  zu,  der  ihnen  den  Weg  zum 
Ruhmestempel  so  eben  und  bequem  macht,  der  sie  allen  mühsamen 
Studierens  entbindet,  anstatt  der  sukzessiven  Entwicklung 
der  Ver Standeskräfte,  sie  zum  Schauen  mit  geschlossen  en 
Augen  führt«,  »statt  des  sukzessiven^  Strebens  nach  Voll* 
kommenheit«  »eine  unmittelbare  physische  Vereinigung 
mit  Gott  lehrt«;  von  dem  sie  nicht  Pflichten  lernen,  sondern  nur 
»ihren  Wirkungskreis  zu  vergrößern«  —  es  sind  die  Anwürfe  Ni* 
colais  gegen  die  Wertherjünglinge:  die  Tragweite  dieser  Angriffe 
werden  wir  uns  noch  zu  vergegenwärtigen  haben.  Lavater  freilich, 
fährt  die  Rezension  fort,  verwahre  sich  gegen  solcheUnterstellungen ; 
aber  »diese  schleichenden  Wendungen  (Lavater* Pfenningers)  glei* 

'  Vgl.  aber  Lenz  in.  den  »Anmerkungen  über  Theater«  (Lewy  IV,  252):  »so  viel 
ist  gewiß,  daß  unsere  Seele  von  ganzem  Herzen  wünscht,  weder  sukzessiv  zu  er* 
kennen  noch  zu  wollen  . .  .«• 

238 


chen  den  listigen  Absprüngen  eines  gejagten  Wildes,  das  seine 
Schwäche  fühlt  und  seine  Jäger  von  der  Spur  bringen  will.  Andere 
Schriftsteller  dieser  Partei  hingegen,  wilden  Hauern  gleich,  die  sich 
dem  Spieße  des  Jägers  entgegenstellen  und  ihn  selbst  zu  Boden  zu 
stürzen  suchen,  voll  Drang  und  Sturm,  eine  neue  Revolution  zu 
erregen,  verwarfen  ohne  Bedenken  alle  gelassene  Vernunft  und 
redeten  geradezu  der  Schwärmerei  das  Wort.«  Auch  hier  ist  natür* 
lieh  in  erster  Linie  Herder  gemeint,  dessen  Provinzialblätter  unmittel« 
bar  darauf  nochmals  in  der  bekannten  Weise  angegriffen  werden, 
sodann  der  Kreis  des  jungen  Goethe,  insbesondere  Fritz  Stollberg. 

Auf  dieser  allgemeinen  Polemik  liegt,  so  viel  Raum  auch  die  Be* 
weisführung  gegen  einzelne  theologische  Hypothesen,  gegen  das 
»geheime  und  unsinnige  System  der  Religion«  Lavaters  einnimmt, 
durchaus  der  Hauptakzent  der  Rezension;  sie  trägt  nicht  mehr  den 
Charakter  bloßer  Abwehr,  sie  stellt  vielmehr  ein  langatmiges  An= 
griffssignal  dar.  Wie  dieser  Angriff  selbst  dann  mehrere  Jahre  später 
gegen  Lavater  insbesondere  geführt  wurde,  haben  wir  hier  nicht 
mehr  darzustellen:  seine  Richtung  ist  bereits  in  dieser  Rezension 
festgelegt;  neue  bewegende  Gegensätze  ergeben  sich  in  diesem,  im 
wesentlichen  im  Anschluß  an  die  Anekdoten  über  Lessings  Tod 
geführten  Streite  nicht  mehr^;  bemerkenswert  ist  für  uns  höchstens 
die  seltene  Erbitterung,  mit  der  ihn  die  ehemaligen  freundschaft- 
liehen  Korrespondenten  austrugen.  Die  Korrespondenz  selbst  war 
nach  dem  Protest,  den  Lavater  bei  Nicolai  wegen  der  Haltung  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  zum  Hottingerschen  »Send* 
schreiben«  einlegte-,  eingeschlafen:  ein  Besuch  Nicolais  bei  Lavater 
(im  Sommer  1781)  konnte  natürlich  die  Entfremdung  und  feind* 
selige  Spannung  ihres  Verhältnisses  nicht  beseitigen,  war  vermut* 
lieh  von  Nicolai  auch  nicht  mehr  zu  diesem  Zweck  geschehen. 

Wie  Nicolai  bereits  um  diese  Zeit  von  Lavater  dachte,  wußten 
seine  Freunde,  und  als  der  Physiker  Böckmann  ihn  nach  Karlsruhe 
einlud,  wo  Nicolai  »auf  dem  Zimmer«  wohnen  sollte,  »wo  Klopstock 
dichtete  und  Lavater  physiognomisierte«,  setzte  er  gleich  besehwich* 
tigend  hinzu:   »aber  ausgelüftet  ist  es  hinlänglich,  daß  Sie   von 

'  Hier  sei  auf  Alfred  Sterns  ausführliche  und  wohlbegründete  Darstellung  ver= 
wiesen:  »Mirabeau  und  Lavater«,  Dtsch.  Rundschau  118,424ft. 
-  Lavater  an  Nicolai  25.  X.  77  NN. 

239 


den  Gespenstern  der  Einbildungskraft  nicht  viel  beunruhiget  wer* 
den«\  Mehr  als  Gespenster  der  Einbildungskraft  sah  Nicolai  in  La* 
vaters  theologischen  »Grillen«  nicht;  für  seine  allgemeine  Kritik  des 
Sturmes  und  Dranges  sind  sie  bedeutungslos  gebHeben,  und  haben 
erst  im  Zusammenhang  mit  neuen  Kämpfen  Wichtigkeit  erlangt. 


DER  JUNGE  GOETHE  UND  SEIN  KREIS 

Am  14.  XL  1774,  kurze  Zeit  nach  seinem  ersten  förmlichen  Scheide* 
brief  an  Nicolai,  schreibt  Herder  an  Hamann,  Lenz'  »Hofmeister« 
und  »Neuen  Menoza«  rühmend,  Goethe  habe  in  Lenz  einen  Neben* 
buhler  erhalten.  »Dünkt  Ihnen  nicht  auch,  daß  die  Stücke  dieser 
Art  tiefer  als  der  ganze  Berliner  Geschmack  reichen?«  Wie  hier  der 
erzürnte  Herder  dem  Freunde  gegenüber,  so  stellt  Merck  in  seinem 
Brief  vom  28.VIII.  74  dem  Gegenspieler  Nicolai  eine  ähnliche  Ver* 
bindung  her;  es  ist  der  Brief,  in  dem  Merck  jenes  schon  erwähnte 
scharfe  Verdikt  von  Herders  »Aeltester  Lirkunde«  gibt,  diesem  »nach 
Form  und  Herkommen  abscheulichsten  Buch,  das  je  geschrieben 
worden  ist«;  aber  derselbe  Brief  eröffnet  Nicolai  mit  der  Ankündi* 
gung  von  »Werthers  Leiden«  den  Schauplatz  eines  neuen  Kampfes. 
Hier  wie  dort  zeigt  Merck  auch  gleichzeitig,  wie  wenig  er  sich  im 
Grunde  als  Bundesgenosse  Nicolais  fühlt.  Wenn  Herder  in  der 
»Urkunde«  sich  auch  gleichsam  »im  Schlafrock  zu  Pferde  setzt, 
durch  die  Gassen  reitet  und  obendrein  noch  verlangt,  daß  es  jeder* 
mann  gut  heißen  soll«,  so  ist  ihm  doch  jene  Schrift  »allzeit  als  Ab* 
druck  seines  Geistes  lieb  und  wert«;  und  hier,  wo  Merck  von  Goe* 
thes  Pasquillenwesen  abrückt,  läßt  er  an  seinen  innigen  Beziehungen 
zu  Goethe  dem  Dichter  und  Menschen  keinen  Zweifel  aufkommen, 
ja  er  berichtet  nicht  ohne  Genugtuung,  daß  Goethe  sich  mit  den 
Jacobis  »ausgesöhnt«  habe.  Wir  sind  hier  mehr  noch  als  an  anderen 
Stellen  unserer  Untersuchung  auf  solche  Bezeugungen  von  Bundes* 
genossenschaft  und  Abwehr  angewiesen;  einmal,  weil  hier  die  Ge* 
gensätze  sich  als  solche  alter  und  junger  Generation  offenbaren,  und 
die  Jungen  wenigstens  in  Nicolais  Augen  als  Partei,  als  Schule  auf* 

'  28.  VIII.  81  =  E.  Ettlinger,  Briefe  Karlsruher  Gelehrter  an  Nicolai,  Zeitschrift 
f.  Gesch.  d.  Oberrheins,  N. F.  24, 118. 

240 


treten,  zweitens,  weil  Nicolais  Gegenäußerungen  nur  in  ganz  ver* 
einzelten  Fällen  literarische  Form  angenommen  haben.  Nicolai,  der 
mehr  als  je  unter  der  Last  der  äußeren  Verpflichtungen,  nicht  zum 
mindesten  der  Herausgeberschaft  der  Allgemeinen  Deutschen  Bi= 
bliothek  seufzte,  der  kaum  die  nötigsten  Mußestunden  für  Lektüre 
aufbrachte,  dessen  tiefere  Interessen,  wie  wir  uns  vergegenwärtigten, 
mehr  und  mehr  anderen  Gebieten  als  dem  literarischen  galten,  hat 
selbst  von  der  Möglichkeit,  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biblio* 
thek  sich  durch  kritische  Anzeigen  Luft  zu  machen,  in  diesem  Kampf 
sehr  wenig  Gebrauch  gemacht.  Es  kommt  hinzu,  daß  die  Rezen* 
sionen  gerade  der  wichtigsten,  uns  heute  am  charakteristischsten 
erscheinenden  Dichterwerke  der  jungen  Generation  unter  mannig* 
fachen  unglücklichen  Umständen  in  der  Bibliothek  nur  sehr  ver* 
spätet  oder  gar  nicht  erschienen  sind;  der  theologische  und  der  real* 
wissenschaftliche  Artikel  der  Bibliothek  nahmen  immer  breiteren 
Raum  und  immer  stärkeres  Interesse  von  Herausgeber  und  Lesern 
m  Anspruch.  So  gewinnt  denn  für  uns  dieses  viel  verzweigte  und 
als  Ganzes  kaum  zu  fassende  System  der  bloß  literatorischen 
und  faktiösen  Geschäftigkeit  eine  durch  nichts  zu  ersetzende  Be« 
deutung;  und  unsere  Aufgabe  erschwert  sich  durch  die  Tatsache, 
daß  die  eitle,  klatschsüchtige  Wichtigtuerei  einiger  Beteiligter  Ni* 
colais  Blick  zeitweilig  trüben  mußten:  ein  Beispiel  hierfür  sind  die 
zahlreichen  ungedruckten  Briefe  v.  Bretschneiders,  der  sich  Ni* 
colai  in  dessen  theologischen  Kämpfen  unentbehrlich  zu  machen 
wußte  und  der  Nicolai  bis  in  die  neunziger  Jahre  hinein  mit  per* 
Hden  Anekdoten  aus  dem  Goethekreise  versorgte  —  ein  »Berliner« 
Gegenstück,  freilich  ungleich  bösartiger  als  dieser,  zu  dem  Darm* 
Städter  Leuchsenring,  dem  Vorbild  des  »Pater  Brey«. 

In  solcher  Atmosphäre  vermochte  sich  das  Bild  des  jungen 
Goethe  Nicolai  nicht  rein  darzustellen ;  es  verlor  hier,  wo  sein  Name 
fast  eher  bekanntwurde  als  sein  Werk,  und  zudem  nicht  immer 
wie  wir  sehen  werden,  in  eindeutiger  Beziehung,  das  Unbezwing* 
lich*Sieghafte,  das  Strahlende,  das  uns  aus  dem  Briefwechsel  und 
den  sonstigen  Aufzeichnungen  von  Goethes  Jugendfreunden  ent* 
gegenleuchtet.  Nur  einmal,  nach  dem  Erscheinen  von  Goethes  Wer* 
ther,  hat  Nicolai  davon  einen  Hauch  gespürt;  aber  eben  bei  dieser 
Gelegenheit  stießen  die  Parteien  aufeinander. 

16  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  241 


In  unserer  Darstellung  von  Nicolais  Verhältnis  zu  Herder  haben 
wir  bereits  bemerkt,  wie  jene  fliegenden  Blätter  »Von  deutscher 
Art  und  Kunst«  den  ersten  Grund  zur  tieferen  Entfremdung  Her* 
ders  und  Nicolais  gelegt  hatten;  wir  erinnern  uns,  daß  Herder  auf 
Nicolais  Anmerkung  hin  seinen  Anteil  als  flüchtig  hingeworfene 
Versuche  verleugnet  hatte.  Am  2.  IV.  72  aber  schreibt  Merck  an  Ni* 
colai:  »Haben  Sie  schon  das  Ding  über  die  Baukunst  von  meinem 
Freunde,  dem  Dr.  Goethe?  Wenn  Sie  es  rezensieren  lassen,  so  sor* 
gen  Sie,  daß  es  keinem  Ungewaschenen  in  die  Hände  fällt,  der  den 
Genius  verkennt.«  Es  sind  jene  Bogen,  über  die  der  alte  Goethe 
sich,  im  zwölften  Buch  von  Dichtung  und  Wahrheit,  so  unwillig 
ausgelassen  hat:  »Hätte  ich  diese  Ansichten,  denen  ich  ihren  Wert 
nicht  absprechen  will,  klar  und  deutlich,  in  vernehmlichem  Stil  ab« 
zufassen  beliebt,  so  hätte  der  Druckbogen  von  deutscher  Baukunst 
D.  M.  Ervini  a  Steinbach  schon  damals . . .  mehr  Wirkung  getan  und 
die  vaterländischen  Freunde  der  Kunst  früher  aufmerksam  gemacht; 
so  aber  verhüllte  ich,  durch  Hamanns  und  Herders  Beispiel 
verführt,  diese  ganz  einfachen  Gedanken  und  Betrachtungen  in 
eine  Staubwolke  von  seltsamen\^^orten  und  Phrasen  und  verfinsterte 
das  Licht,  das  mir  aufgegangen  war,  für  mich  und  andere.«  Fast 
Nicolais  Anwürfe  gegen  die  Herderschen  Aufsätze!  Konnte  ihn 
diese  kleine  Schrift  von  Goethes  Genius  überzeugen?  Die  Biester* 
sehe  Rezension  der  Blätter  »Von  deutscher  Art  und  Kunst«  S  die 
Goethe  als  Verfasser  jenes  Aufsatzes  ebenfalls  namhaft  macht,  wird 
uns  noch  an  anderer  Stelle  unserer  Untersuchung  beschäftigen,  als 
typischer  Ausdruck  für  das  Mißverstehen  Herderscher  Formeln 
durch  den  aufklärerischen  Kreis.  Für  Nicolais  eigene  Stellungnahme 
zu  altdeutscher  Art  und  Kunst,  die  schon  in  seinen  Kontroversen 
mit  Gerstenberg  und  Herder  beleuchtet  wurde,  hier  nur  noch  zwei 
Zeugnisse.  Er  könne  nicht  einsehen,  sagt  er  in  einer  Rezension-, 
wie  das  »Schönbartlaufen«,  die  »vermummten  Aufzüge  des  Nürn* 
bergischen  Pöbels  (!)«  die  Gegenwart  interessieren  könne;  »es  ist 
nicht  abzusehen,was  die  Bekanntmachung  einer  ausführlichen  Nach* 
rieht  davon,  dem  deutschen  Vaterlande  für  sonderlichen  Nutzen 
schaffen  kann.«   Gottscheds   »Nöthiger  Vorrath«,  den  er  in  der 

'  Anhang  z.  7.  12.  Band  der  AUg.  Dtsch.  Bihl.  S.  1169ff. 
'  Allg.  Dtsch.  Bibl.  III,  1,  S.  264. 

242 


Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  (III,  l,85fif.)  mit  ironischen 
Anmerkungen  bespricht,  wird  von  ihm  nur  als  untauglicher  Versuch 
aufgefaßt,  Bouhours  bekanntes  Schmähwort  zu  widerlegen ;  das  alt* 
deutsche  Theater  könne  eher  das  Gegenteil  bewirken;  bei  Gott* 
scheds  Charakterisierung  Hans  Rosenplüts  als  des  »deutschen 
Thespis«  entfährt  ihm  der  Stoßseufzer:  »wie  weit  glücklicher  wäre 
Deutschland,  wenn  es  einen  deutschen  Sophokles  oder  Euripides 
nennen  könnte«.  Daß  er  auf  dem  Gebiete  der  bildenden  Kunst,  wo 
er  in  Winckelmann  seinen  Lehrer  gefunden,  altdeutscher  Art  und 
Kunstübung  womöglich  noch  verständnisloser  gegenüberstand,  ist 
leicht  zu  erschließen;  und  der  Goethesche  Aufsatz  war  am  wenig* 
sten  geeignet,  in  ihm  Verständnis  zu  erwecken.  Ihn  wegen  dieses 
mangelnden  V^erständnisses  schelten  zu  wollen,  wäre  unbillig;  wir 
haben,  so  wenig  uns  seine  Art,  die  altdeutsche  Kunst  lediglich  von 
seinem  Fortschrittsbewußtsein  aus  zu  beurteilen,  auch  behagen 
mag,  diese  Tatsache  als  Ausdruck  einer  Weltansicht  zu  nehmen,  die 
nicht  minder  fest  und  umfassend  begründet  war,  als  die  mit  jener 
Bewegung  einsetzende;  doch  wird  uns  diese  Polarität  noch  an  an* 
derer  Stelle  deutlicher  entgegentreten.  —  Ein  wenig  später  äußerte 
er  sich  zu  Höpfner^  über  die  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen:  er 
lese  sie  mit  vielem  Vergnügen  und  zähle  sie  zu  den  besten  deutschen 
Zeitungen,  doch  wünsche  er,  daß  die  »Schreibart  nicht  so  geziert 
und  dunkel  wäre«,  und  daß  man  gegen  »verdiente  Männer«  nicht 
»aus  allzufeiner  Kritik  unbillig  wäre«  —  und  die  Rezension,  die  er 
als  Beleg  für  seine  Behauptung  anführt,  ist  unzweifelhaft  von  Goe* 
the%  was  Nicolai  freilich  kaum  bekannt  geworden  ist.  Mit  vollem 
Bewußtsein  der  Goetheschen  Autorschaft  trat  Nicolai  aber  dem 
»Götz  von  Berlichingen«  entgegen.  Höpfner  hatte  ihn  Nicolai 

'  Randbemerkung  zu  dessen  Brief  vom  25.\11I.  72  NN.  u.Goethe=Jahrb.VIII,  125. 
-  Es  ist  die  Rezension  von  Geßners  Idyllen;  vgl.  Max  Morris,  »Goethes  und 
Herders  Anteil  an  den  Frankfurter  Gel.  Anz. .  .«  2.  Aufl.,  Stuttgart  1912,  S.  136. 
Wenn  Morris  hier  übrigens  bei  seinem  Nachweis,  daß  die  andere  in  dieser  Ni= 
colaischen  Anmerkung  genannte  Rezension  (von  Beckers  »Responsis«)  eine 
GoethesHöpfnersche  Mischrezension  sei,  sagt,  Goethes  Name  sei  Nicolai  damals 
noch  durch  kein  Druckerzeugnis  bekannt  gewesen,  so  berichtigt  sich  dieser  Irr* 
tum  nach  dem  Datum  des  oben  erwähnten  Briefes  von  Merck  an  Nicolai  (vom 
2.  IV.  72).  Petersen  hatte  übrigens  schon  kurz  vorher  in  s.  Brief  vom  1.  XII. 
72  NN.  Goethe  als  Verfasser  des  Aufsatzes  genannt. 

'^*  243 


begeistert  gerühmt:  »Den  Götz  von  Berlichingen  haben  Sie  doch 
schon  gelesen.  Ich  wünschte,  daß  Sie  den  Verfasser  persönlich  kenn* 
ten,  ein  Mensch,  der  bei  seinem  wahren  Genius  der  beste,  guther* 
zigste,  liebenswürdigste  Sterbliche  ist.  Auf  seine  und  Mercks  Freund« 
Schaft  bin  ich  stolz \«  Aber  zu  der  Mitteilung  Mercks^,  »Goethe 
arbeitet  an  vielerlei  dramatischem  Wesen«,  setzt  Nicolai  am  Rande 
ein  »Un«  hinzu,  und  in  dem  Brief,  in  dem  er  Gebier  über  die  erste 
Berliner  Götz^Aufführung  berichtet^,  äußert  er  sich  unwillig  über 
den  Triumph  dieses  »Unwesens«:  »Götz  von  Berl.  ist  allerdings  in 
Berlin  mit  großem  Zulaufe  aufgeführt  worden,  vielleicht  hatten  die 
Kleider  und  Harnische,  ganz  neu  und  im  vollkommenen  Costüme 
gemacht,  an  diesem  Beifalle  eben  so  viel  Anteil  als  etwas  anders  . . . 
das  Sonderbarste  ist,  daß  selbst  Prinzessinnen  und  Hofleute,  die 
durchaus  französisch  sind,  den  Götz  besucht  haben  . . .  Das  Berli* 
nische  Publikum  ist,  wie  fast  alle  Publika  der  Welt,  ein  vielköpfiges 
Ungeheuer,  davon  sich  einige  Köpfe  mit  den  feinsten  Säften  der 
besten  Pflanzen  nähren,  die  meisten  aber  Distel  und  Stroh  fressen.« 
Die  spätere  Eschenburgsche  Rezension*  hat  dem  Götz  sogar,  wegen 
des  häufigen  Szenenwechsels  wie  aus  inneren  Gründen,  die  Eignung 
fürs  Theater  völlig  abgesprochen,  wofür  sie  freilich  der  allgemeinen 
Begeisterung  durch  den  kahlen  Lobspruch  Rechnung  trug,  die 
deutsche  Nation  könne  auf  dieses  Werk  stolz  sein;  der  für  den  auf* 
klärerischen  Kreis  in  der  Folge  fruchtbarste  Gedanke  dieser  Rezen* 
sion,  der  freilich  nicht  Eschenburgs  geistiges  Eigentum  ist,  mochte 
in  der  Festellung  liegen,  daß  Goethe  mit  den  mechanischen  auch 
die  »essentiellen«  Regeln  »fortgeworfen«  habe.  Er  hätte  Nicolai  zur 
Zurückweisung  einer  Äußerung  Deinets^  dienen  können,  mit  der 

'  24.  II.  73,  jetzt  gedr.  Grenzboten  191 1,  S.  588. 
■'  28.VI.74  =  Wagner  III.  101. 

■'  8.  X.  74  (Werner  S.60);  die  Aufführung  (vgl.  darüber  Goethe^Jahrbuch  II,  96tt.) 
fand  bereits  am  21.  IV.  74  statt.  Dieser  Bericht  Nicolais  stimmt  ganz  mit  dem 
überein,  was  Lessing  über  die  Aufführung  an  s.  Bruder  Karl  schreibt:  »Daß  Götz 
großen  Beifall  in  Berlin  gefunden,  ist,  fürchte  ich,  weder  zur  Ehre  des  Verfassers 
noch  zur  Ehre  Berlins.  Meil  (der  die  Kostüme  entworfen  hatte)  hat  ohne  Zweifel 
den  größten  Teil  daran.  Denn  eine  Stadt,  die  kahlen  Tönen  nachläuft,  kann  auch 
hübschen  Kleidern  nachlaufen.« 
■'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  27,  2.  361  tt. 
■  An  Nicolai  20.  XII.  73  NN. 

244 


dieser  den  Gegensatz  zwischen  dem  neologischen  Eifer  der  All* 
gemeinen  Deutschen  Bibliothek  im  theologischen,  und  ihrem  fast 
orthodoxen  im  ästhetischen  Fach  traf:  »Die  Lehrbücher  der  Reli* 
gion  werden  ja  über  einen  andern  Leisten  geschlagen,  warum  sollte 
sich  das  Aristoteles  nicht  müssen  gefallen  lassen.  Man  lasse  die  Köpfe 
ausbrausen.  Zuletzt  bleiben  doch  die  alten  die  Gewährsmänner. 
Jetzt  heißt  es,  schicke  dich  in  die  Zeit.«  Der  Verleger  der  Allgemei:^ 
nen  Deutschen  Bibliothek  hätte  freilich  seinen  Charakter  verleugnen 
müssen,  hätte  er  sich  dieses  laissez  aller  des  Verlegers  der  Frank* 
furter  Gelehrten  Anzeigen  zu  eigen  gemacht.  Er  hatte  bald  Gelegen* 
heit,  seine  Charakterstärke  zu  erweisen. 

»Wollten  Sie  wohl  zwei  Possenspiele  von  Goethe  verlegen?« 
fragt  ihn  Höpfner  an\  »Es  sind  keine  persönliche  Satiren  darin. 
Göthes  Nähme  ist  statt  alles  Lobes.  Ein  Freund  von  G.^,  der  bey 
uns  studiert,  besitzt  das  Mspt.  als  ein  Geschenk  des  Verfassers.  Seine 
Umstände  nöthigen  ihn  so  gut  er  kann  damit  zu  wuchern .  .  .  das 
ganze  wird  5—6  Bogen ^  stark.  Die  Farce  Götter  Helden  Wieland 
wird  Sie  delektirt  haben  . . .«  Und  bald  darauf*  wiederholt  Höpfner 
sein  Vermittlungsangebot:  »Die  Goethischen  Manuskripte  wachsen 
wie  ein  Schneeball.  Ich  habe  wieder  ein  kleines  Drama  und  einen 
Prolog,  zusammen  drei  Bogen  von  ihm  erhalten.  Schreiben  Sie  mir 
doch  mit  nächster  Post  ob  Sie  Verleger  seyn  wollen  . . .«  Nicolai  hat 
abgelehnt^:  er  möchte  »nicht gern  an  solch  persönlichen  Satiren  auf 
irgend  eine  Art  Theil  nehmen.«  Um  diese  Ablehnung  aber  recht  zu 
würdigen,  muß  man  wissen,  daß  er  diese  Goethesche  Farcen  sehr 
geschätzt  und,  nachdem  er  Goethes  Possen*Manier  in  »Götter  Hei* 
den  und  Wieland«  kennen  gelernt  hat,  den  »Prolog  zu  den  neuesten 
Offenbarungen  Gottes  . . .«  sofort  als  Goethisch  erkennt.  Zu  Hopf* 
ners  Frage ^:  »Haben  Sie  den  Prolog  ...  schon  gelesen?  Er  ist — 
meines  Geschmacks,  meisterhaft«,  setzt  Nicolai  am  Rande :  »Meines 
Erachtens  auch!«,  und  wiederholt  sein  Urteil  in  seinem  Antwort* 

'  Nicolais  Empfangsnotiz  vom  17.VI.74NN.,  vgl.  R.  Hering,  Fr.  J.  Höpfners  Be= 

Ziehungen  .  .  .  Jahrbuch  d.  Fr.  Dtsch.  Höchst.  1911. 

-  Klinger. 

'  »10—12«.  durchstrichen. 

'  14.  VII. 74.  NN. 

■  An  Höpfner  26.  VII.  74  =  Wagner  III,  S.  101. 

*  An  Nicolai  NN.;  Empfangsnotiz  Nicolais  vom  14.  111.  74. 

245 


brief  ^:  »Der  Prolog  zu  Bahrdts  Offenbar,  hat  meinen  Beifall  auch. 
Niemand  als  Goethe  kann  der  Verf.  seyn.  Ich  hoffe  D,  Bahrdt  wird 
doch  Spaß  verstehen.«  Wenn  jene  Anekdote,  die  Nicolai  später  er* 
zählt  hat^',  —  daß  Lessing  nach  dem  Erscheinen  von  »Götter  Helden 
und  Wieland«  Goethe  habe  »in  seiner  bekannten  Manier  zerglie* 
dern«  wollen,  wie  er  es  mit  Klotz  getan,  von  Nicolai  aber  zurück* 
gehalten  worden  sei,  —  nicht  völlig  Nicolaische  Erfindung  ist,  so 
mochte  Nicolai  weniger  durch  die  Erwägung,  die  er  später  geltend 
macht  —  daß  Wieland  dem  jungen  Goethe  gegenüber  keiner  Ver* 
teidigung  bedurft  hätte  —  als  vielmehr  durch  seine  ursprüngliche, 
starke  Freude  an  dem  reizvollen,  lustigen  Spiel  des  Witzes  bestimmt 
worden  sein,  sich  der  Goetheschen  Posse  bei  Lessing  anzunehmen. 
W^ar  auch  der  Goethesche  Witz,  die  derbe  Laune  dieser  Stücke  an* 
derer  Prägung  als  der  Hamannsche :  er  war  so  willkommen  wie  dieser 
einst  den  Literaturbriefstellern  und  wie  speziell  Nicolai  alles  will* 
kommen  war,  was  an  Werken  des  Witzes  sich  durch  bunte,  skurrile 
Einfälle,  originale  Fülle  und  souveräne  Heiterkeit  auszeichnete,  wie 
ihm  Lichtenbergs  Schriften  und  Briefe  eine  unerschöpfliche  Quelle 
des  Genusses  waren,  wie  er  Justus  Mosers  »Harlekin  oder  die  Ver* 
teidigung  des  Grotesk*Komischen«  lebhaft  applaudierte^.  Und  hier, 
wo  Resewitz  Bahrdts  »Neueste  Offenbarungen«  im  ganzen  preisge* 
geben  hatte*,  fiel  es  ihm  leicht,  mitzulachen.  Die  spätere  Nicolaische 
Rezension''  dreier  Goethescher  Farcen  erhebt  allerdings  den  drohen* 
'  An  Höpfner  29.111.74,  Hs.  i.  Fr.  Dtsch.  Hochstift  Frankfurt. 
■  In  s.  »Anhang  zu  SchillersS  iMusenalmanach«  S.  158  ff. 

^  Nicolais  (mit  Th.  Abbt  gemeinsam  verfaßte)   Rezension  im  204.  5.  Literatur; 
brief,  und  Nicolai  Reisebeschreibung  II,  612. 

*  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  XXII,  104  u.  Anhang  z.  13.^24.  Bd.  S.  3  (daß  die  Rezent 
sion  von  ihm  stammt,  bezeugt  Resewitz' in  s.  ungedr.  Brief  an  Nicolai  vom 
29.XIi.73  NN.)  Es  ist  aber  bezeichnend,  daß  Resewitz  nur  das  Allzubedenken* 
lose  und  Eilfertige,  wissenschaftlich  nicht  Haltbare  der  Bahrdtschen  Übersetzung 
heftig  tadelte,  dagegen  das,  was  Herder  und  Goethe  eigentlich  ablehnten,  die 
Entkleidung  vom  jüdischen  und  hellenistischen  Gewand,  im  Prinzip  bejahte.  — 
Übrigens  blieben  spätere  Versuche  Bahrdts.mit  Nicolai  Verbindung  anzuknüpfen 
(Briefe  Bahrdts  an  Nicolai  vom  1.  VII.  79  und  1.VI.78  NN.;  der  letztere  trägt 
Nicolais  Notiz  »nicht  beantwortet«),  erfolglos.  Zu  der  Resewitzschen  Rezension 
vgl.  Höpfner  an  Nie.  14.  VII.  74  NN.:  »Bahrdt  glaubt,  Sie  hätten  es  veranstaltet, 
daß  seine  Neuste  Off.  nicht  mehr  gelobt  worden.  Vermuthlich  glaubt  er,  Sie 
seien  über  seine  theolog.  Bibl.  jaloux.« 
''  »Götter,  Helden  u.  Wieland«,  den  »Prolog«  und  das  »Neueröftnete  moralisch^ 

246 


den  Finger  gegen  Goethes  Ton;  doch  läßt  sich  leicht  erkennen,  daß 
sich  die  Mahnung  dagegen  richtet,  daß  Goethe  daraus  eine  Manier 
mache,  den  Possenton  unterschiedslos  anstimme.  »Wo  kein  Land» 
friede  ist,  unds  Faustrecht  gilt«  —  sagt  Nicolai  dort  dem  Dichter 
des  Götz . .  .  »da  kann  zwar  ein  starker  Kerl  viel  treuherziger  zu« 
schlagen,  als  wenn  auf  den  ersten  Schlag  gleich  die  Wache  geholt 
wird;  aber  nach  kurzer  Zeit  wird  eben  so  treuherzig  wieder  ge* 
schlagen,  und  dann  schlagen  immer  fünf  oder  sechs  auf  den  einen, 
der  ausgeschlagen  hat,  welcher  denn  zuweilen  wohl  eine  gute  Po* 
lizei  herwünschen  möchte«,  Nicolai  war  aber  weit  entfernt,  Polizei 
zu  spielen ;  er  lobt  hier  vielmehr  mit  vergnüglichem  Schmunzeln 
den  frischen,  derben  Witz;  »die  Schrauberei  ist  fein  und  ohne  Bitter« 
keit«  heißt's  über  den  Prolog;  nur  »Götter  Helden  und  Wieland«, 
das  er  für  das  schwächste  Stück  hält,  sei  Goethens,  auch  abgesehen 
von  dem  »plumpen«  Angriff  auf  Wieland;  in  der  Erfindung  nicht 
ganz  würdig,  und  nur  das,  was  zur  Euripideischen  Alkestis  gesagt 
werde,  verrate  den  »guten  Kopf«.  »Überdies  sollte  man  denken,  der 
Mann,  der  im  Stande  wäre,  auch  bloß  nur  die  Scene  von  Martin  (im 
Götz)  zu  machen,  schämte  sich,  so  etwas  Ungereimtes  über  Tugend 
und  Aloral  zu  sagen,  wie  er  hier  den  Hercules  sagen  lasset.«  Im  ganzen 
ist  mehr  freudige,  vergnügte  Zustimmung  als  Widerspruch  in  dieser 
Rezension,  die  Ablehnung  beschränkt  sich  auf  einiges  Formale,  die 
Anerkennung  gilt  dem  Grundzug  der  Goetheschen  Possen. 

Wie  aber  die  Literaturbriefsteller  sich  gegen  den  Hamannschen 
Witz  schwerhörig  zu  stellen  begannen,  sobald  er  ihnen  eine  unter* 
schiedslos  angewandte  Manier  zu  werden  schien,  so  änderte  sich 
a  uch  Nicolais  Haltung  gegen  die  literarischen  Satiren,  sobald  sie  eine 
Sache  der  Nachahmer  wurden.  Doch  zu  gleicher  Zeit  wurde  Nicolai 
Partei  in  diesem  Possen  »Wettstreit,  und  ein  Teil  der  Satiren,  und 
zwar  die  beißendsten  und  zügellosesten  wandten  sich  gegen  ihn,  den 
Verfasser  der  kleinen,  seither  so  berüchtigten  Schrift:  »Freuden  des 
jungen  Werthers.  Leiden  und  Freuden  Werthers  des  Mannes.  Voran 
und  zuletzt  ein  Gespräch«,  die  in  der  Ostermesse  1775  erschien. 

Wenn  nun  irgendwo,  so  bedarf  das  Bild  Nicolais  hier  und  in 
dem  sich  anschließenden  Streit  einer  zutreffenden  Färbung;  und 

polit.  Puppenspiel«  zeigt  Nicolai  —  er  hat  seine  Verfasserschaft  im  Brief  an  Merck 
S.  X.  75  bekannt  -  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  26,  202  ff.  (1775)  an. 

247 


wiederum  nicht  bloß  der  historischen  Persönlichkeit  willen.  Gerade 
hier  wäre  unsere  Aufgabe  so  undankbar  wie  ihre  Lösung  zwecklos, 
handelte  es  sich  nur  darum,  diesem  Leben  nachträglich  mehr  Fülle 
und  Wärme  zuführen  zu  wollen,  als  es  selbst  auswirkte.  Auch  hier 
gilt  unsere  Frage  umfassenderen  Werten,  und  das  Ergebnis  unserer 
Untersuchung  möchte  allgemeinere  Einsicht  vorbereiten.  Dazu  be* 
darf  es  freilich  zunächst  genauer  und  richtiger  historischer  Perspek= 
tive  und  einer  unbefangenen  Würdigung  des  Schriftchens,  die  nicht 
jenem  Kunstwerk  diese  formlose  Parodie  gegenüberstellt,  sondern 
den  Geist,  aus  dem  »Werthers  Leiden«  entsprangen  und  mehr  noch 
den  sie  auswirkten,  und  den  Geist,  der  sich  dieser  Auswirkung 
feindlich  entgegenstellte. 

Denn  dies  muß  zunächst  festgestellt  werden:  Das  Kunstwerk 
»Werthers  Leiden«  hat  bei  Nicolai  ein  dankbares  und  gerührtes 
Echo  geweckt,  und  seine  Kritik  des  Goetheschen  Werther  vom  ästhe* 
tischen  Standpunkt  kann  sich  mit  den  besten  zeitgenössischen  Be* 
urteilungen  messen.  Nicolai  hat  Werthers  Leiden  unmittelbar  nach 
dem  Erscheinen  gelesen,  von  Merck  und  Petersen^  in  dringlicher 
Form  darauf  hingewiesen;  eben  diese  Hinweise  mochten,  durch 
ihre  ein  wenig  sensationslüsterne  Deutung  auf  die  Leidensgeschichte 
des  jungen  Jerusalem  als  Urbild",  einige  Voreingenommenheit  bei 
Nicolai  erregt  haben.  Doch  J:rägt  sein  Handexemplar  eine  Anzahl 
Randbemerkungen,  die  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  der  Lek* 
türe  einige  Stellen  als  besonders  schön,  wahr,  tiefempfunden  fixier- 
ten^. Den  tiefen  Eindruck,  den  Werthers  Leiden  auf  ihn  gemacht 
hat,  bezeugt  er  auch  in  zahlreichen  Briefen,  mit  denen  er  die  Über* 
Sendung  seiner  »Freuden«  an  gute  Freunde  begleitet.  So  schreibt  er 
an  Isehn*,  an  den  Baron  v.  Gebler%  an  Merck®,  an  Lessing'',  daß  er 
Goethes  Genie  schätze,  »seinWerk  tief  empfunden«  habe  (an  Merck) , 

1  Brief  Mercks  v.  28.  VIII.  74  und  Petersens  v.  6.  XI.  74  =  Grenzboten  1911  S.  558. 

-  Eschenburgs  Briefe  vom  17.XI.72  und  1.  XII.  72  (NN.)  hatten  sie  ihm  detail 

liert  und  mit  warmem  Mitgefühl  geschildert. 

'  H.  Düntzer,  »Nicolais  Handexemplar  von  Werthers  Leiden«  Schnorrs  Archiv 

X.  385  ff. 

*  17. 1.  75  NN.  gedr.  bei  Werner,  Der  Berliner  Werther  S.  3. 

5  7.1.75  =  Werner,  A.  D.  Josephin.  Wien,  S.  63. 

6  6.  V.  75  =  Wagner  III,  S.  66. 

■  17. 1.  73  =  Lachmann^Muncker  21,  52. 

248 


daß  er  »den  Geist  und  das  Feuer  und  die  Wahrheit  der  Charaktere« 
der  »Leiden«  bewundere  (an  Iselin),  und  empfiehh  Johannes  Müller, 
dessen  er  sich  wie  ein  väterlicher  Freund  annehmen  zu  müssen  glaubt, 
den  Goetheschen  Roman  unbedingt  zu  lesen;  wenn  er  ihn  noch 
nicht  kenne,  solle  er  ihn  sich  sogleich  »auf  der  Post  senden  lassen«: 
»seit  langer  Zeit  werden  Sie  kein  so  herrliches  Werk  des  Geistes  ge* 
lesen  haben«  ^  So  erkennt  er  selbst,  als  inzwischen  eine  moralisch* 
pädagogische  Kritik  die  erste  gefühlsmäßige  abgelöst  hat,  in  dem 
»Gespräch«  vor  den  »Freuden«  mit  warmen  Worten  Goethes  Meister* 
band  im  Werther:  »Wer  kann  diesem  feurigen,  edlen  Charakter  Be* 
wunderung  und  Liebe,  und  seinem  Schicksal,  zumal  wenns  so  meister* 
haft  erzählt,  so  lebhaft  dargestellt  wird,  seine  Thränen  versagen?« 
Und  so  rühmt  er  auch  die  Komposition  des  Romans :  »Der  Autor 
hat  mit  seltener  Kenntnis  alle  Züge  dieses  schwärmerischen  Cha* 
rakters  so  zusammengesetzt,  mit  bewunderungswürdiger  Feinheit 
alle  Begebenheiten,  auch  die  kleinsten,  so  eingeleitet,  daß  die  schreck* 
liehe  Katastrophe  natürlich  erfolgt. . .-«  Auch  die  lyrisch*elegische 
Stimmung,  in  die  der  ganze  Roman  getaucht  ist,  hebt  er  dort  nach* 
empfindend  hervor.  »Meinst  nicht,«  fragt  Martin,  der  Nicolais  Mei* 
nungen  ausspricht,  »daß  sich  mir  das  Blut  im  innersten  Herzen  be* 
wegt  hat,  als  ich  las,  wie  Werther  neben  Alberten  ging,  .pflückte 
Blumen  am  Wege,  fügte  sie  sehr  sorgfältig  in  einen  Strauß  und  — 
warf  sie  in  den  vorüberfließenden  Strom,  und  sah  ihnen  nach,  wie 
sie  leise  herunterwallten'«.  Nur  an  zwei  Punkten  erhebt  seine  ästhe* 
tische  Kritik  Einwände:  Lottens  Charakter  scheint  ihm  nicht  natur* 
wahr,  oder,  was  für  ihn  damit  gleichbedeutend  ist,  brüchig  zu  sein. 
In  den  ersten  Worten  Alberts  in  den  »Freuden  Werthers  des  Mannes« 
kommt  dieser  Einwand  zum  Ausdruck.  Lotte,  als  »gutes  Landmäd* 
chen«,  »lustig  und  fromm«,  »die  frohen  Muts  tanzen,  aber  auch  den 
Kindern  Brot  schneiden  konnte«,  die  »häusliches  Leben  herzlich 
liebte,  ob  sie  gleich  wußte,  daß's  kein  Paradies,  aber  doch  im  Ganzen 
eine  Quelle  unsäglicher  Glückseligkeit  ist«,  durfte  doch  eigentlich 
■  16.  X.  75  a.a.O.  S.  96. 

-  Zu  der  Stelle  in  Werthers  letztem  Brief:  »Ach  ich  dachte  nicht,  daß  mich  der 
Weg  hierher  führen  sollte«,  setzte  Nicolai  in  seinem  Exemplar  des  Werther  ein 
»falsch!«  am  Rande.  Freilich  ist  dies  ein  arges  Mißverstehen  dieser  seelischen 
Peripetie,  —  aber  es  beweist,  wie  sehr  ihm  der  Selbstmord  Werthers  rein  psycho^ 
logisch  als  zwingender,  natürlicher  Schluß  erschien 

249 


nicht  auf  den  empfindsamen,  »seine  Weise  viel  Töne  höher  hinauf* 
stimmenden«,  lauter  »innige  Empfindung«  und  »starke  Anspan* 
nung«  fordernden  Werther  so  bereitwillig  eingehen,  ja,  er  durfte  ihr 
überhaupt  kaum  der  geeignete  Liebhaber  scheinen;  wenn  Albert  in 
den  »Freuden«  auf  Lotte  verzichtet,  so  dient  die  Erkenntnis  dieser 
Brüchigkeit,  die  ihn  an  Lottens  Wert  irre  macht,  zur  Motivierung. 

—  Und  ebenso  weckt  der  Charakter  Alberts  in  den  Leiden  Nicolais 
Widerspruch,  um  so  mehr,  als  die  durchschnittlich^populäre  und 
zum  Teil  auch  die  literarische  Meinung  ihn  einseitig  beurteilt.  Das 
durchschnittliche  Bewußtsein,  daß  sich  zwischen  den  Werther* 
Moritaten^  und  der  bekannten  Reitzensteinschen  Elegie"^  fixieren 
läßt,  faßte  Albert  als  den  Liebhaber  auf,  dem  sein  Mädchen  davon* 
laufen  möchte;  ein  Teil  der  literarischen  Kritik'^  ergreift  für  Werther 
Parteigegen  Albert,  in  besonders  einseitiger  Weise  die  Rezension 
in  den  Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen*,  über  die  Nicolai  sich  zu 
Lavater  äußert'  und  deren  Ausruf:  »Möcht  nit  Albert  sein,  um  aller 
Welt  Güter  nicht!«  Nicolai  dann  in  seinen  »Freuden«  parodiert 
und  ernsthaft  bekämpft  hat:  Albert  werde  zu  Unrecht  so  lieblos 
aufgefaßt,  wie  er  im  Goetheschen  Werther  ohne  Notwendigkeit  so 
arg  im  Schatten  stehe.  Wir  erinnern  uns  des  gereizten  Briefwechsels 
Kestner*Goethe®  über  diesen  Punkt;  wieviel  Nicolai  von  diesem 
Kestnerschen  Protest  bekannt  geworden  ist"^,  bleibe  dahingestellt. 
Jedenfalls  war  es  kaum  zehn  Jahre  später,  als  Goethe  bei  der  Um* 
'  Appell,  »Vi'erther  und  seine  Zeit«,  Oldenburg  1896,  S.  43ff. 

-  Zuerst  Teutscher  Mercur  1775,  Juni,  193;  vgl.  auch  das  dort  erschienene  Ent; 
gegnungsgedicht,  August  1775,  S.  57  und  Aug.  Com.  Stockmann  »Leiden  d.  jg. 
Wertherin«,  Eisenach  1775  u.a.m. 

■  Jetzt  fast  vollständig  gesammelt  abgedruckt  bei  ].  W.  Braun,  »Goethe  im  Urteil 
seiner  Zeitgenossen«,  Berlin  1883,  Band  I. 

*  Frankf.  Gel.  Anz.  1774, 1.  Nov.  Daß  Nicolai  diese  Rezension  in  den  »Freuden« 
parodiert  hat  (vgl.  DNL  72  S.  367.  Z.  17,  »Schmeißfliegen«;  ferner  S.  379, 13  und 
S.  382,  37  u.  a.  m.),  haben  schon  die  Neuen  Hallischen  Gel.  Anz.  6. 11.75  bemerkt. 

■  Nicolai  an  Lavater  17.1.75.  NN. 

'  Brief  Kestners  (nur  im  Konzept  erhalten)  v.  Ende  Sept.  oder  Anfang  Oktober 
74  =  Briefwechsel  Goethe^Kcstner  S.220f. 

■^  Vgl.  Kestner  an  v.  Hennings  vom  7.  XI.  74  --  Briefw.  Goethe*Kestner  S.  224rt., 
wo  Kestner  protestiert  und  aufklärt  mit  derWeisung  »bei  Mendelssohn  und 
sonst  zu  äußern,  daß  dem  Buch  die  Jerusalemische  Geschichte  hauptsächlich 
zu  Grunde  liege«;  v.  Hennings  wird  dieser  Weisung  sicher  auch  in  bezug  auf  den 
Kestnerschen  Protest  gefolgt  sein. 

250 


arbeitung  von  »Werthers  Leiden«  den  Roman  »noch  einige  Stufen 
höher  zu  schrauben«  beabsichtigte,  unter  anderem  seine  »Intention, 
Alberten  so  zu  stellen,  daß  ihn  wohl  der  leidenschaftliche  Jüngling, 
aber  doch  der  Leser  nicht  verkennt«^ ;  ja  schon  sehr  bald  nach  dem 
Erscheinen  des  Werther  hat  Goethe  —  wenn  das  Zeugnis  aus  Dich* 
tung  und  Wahrheit"  hierfür  Geltung  haben  kann  —  im  Carlos  des 
Clavigo,  der  ewigen  Bösewichter  müde,  »den  reinen  Weltverstand 
mit  wahrer  Freundschaft  gegen  Leidenschaft,  Neigung  und  äußere 
Bedrängnis  wirken  lassen,  um  auch  einmal  auf  diese  Weise  eine  Tra? 
gödie  zu  motivieren«,  und  so  im  Praktisch*Dichterischen  jenen 
Mangel  an  Belichtung  im  Roman,  wie  er  sich  in  der  Stellung  Alberts 
zeigt,  überwunden.  Nicolais  Tadel  ist  eine  Umschreibung  dieses 
Mangels,  nur  hat  er  seine  Empfindung  stärker  psychologisch  als 
ästhetisch  begründet.  —  Halten  wir  diese  Kritik  Nicolais  neben 
andere  zeitgenössische  Werther*Kritiken,  so  müssen  wir  erkennen, 
daß  sie  eine  der  positivsten,  überzeugendsten  ist'^:  an  Wärme  der 
Nachempfindung  steht  sie  denjenigen  von  Heinse  (in  der  Iris),  von 
Schubart  und  Claudius  kaum  nach,  wenn  ihr  auch  der  —  uns  frei* 
lieh  wenig  überzeugende  —  emphatische  Ton  dieser  Kritiken  fehlt, 
die  doch  kaum  die  Schönheiten,  den  Reichtum  an  dichterischem 
und  seelischem  Gehalt  des  Werther  aufzuzeigen  vermögen;  das 
Niveau  der  durchschnittlichenjournalkritiken,  ja,  das  derWieland* 
sehen  Rezension  übertrifft  sie  bei  weitem  und  nur  die  bedeutende 
Garvesche  Rezension*  seheint  uns  eine  beziehungsreichere,  tiefer 
eindringende  Reflexion  über  den  Werther  darzustellen^. 

Eben  diese  Garvesche  Rezension  kann  uns  mit  ihren  weitreichend 
den  Formulierungen  dazu  dienen,  die  Nieolaisehe  Stellungnahme 
'  Goethe  an  Kestner  2.V.  85  =  Weim.  Ausg.  Briefe  6,  157. 
^  D.U.W. XV. Weim. Ausg. 28. 347 f. 

'  Das  hat  schon  der  Rezensent  der  »Freuden«  im  Hamburg.  Unpart.  Korresp. 
vom  24. 1.  75  erkannt. 

'  In  Engels  »Der  Philosoph  i.  d.Welt«  Leipzig  1775,  1.  Teil,  2.  Stück.  S.  2HT.  ' 
''  Es  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  Nicolai  sein  Urteil  über  den  künstlerischen 
>X'eit  der  »Leiden«  auch  später  aufrecht  erhielt,  als  er  allgemein  als  Verächter  des 
Werther  und  als  Goethefeind  verschrien  war:  so  zeigt  er  Allg.  Dtsch.  Bibliothek, 
Anh.  z.  25.  36.  Bd.  S.  900,  eine  Übersetzung  des  Goetheschen  Romans  ins  Fran= 
zösische  an  als  »eine  sehr  treffliche  Übersetzung  des  vornehmsten  und  fast 
möchte  man  sagen  des  einzigen  wahren  deutschen  Romans«  an.  Vgl. 
auch  »Vertraute  Briefe«  S.  115,  S.  195  u.  a.m. 

251 


zum  Wertherproblem,  nicht  mehr  zu  Werthers  Leiden  als  Kunst« 
werk,  tiefer  zu  begründen.  Daß  Nicolai  diese  Trennung  vollziehen 
mußte,  ist  uns  nach  unserer  einleitenden  Orientierung  über  seine 
Kunstanschauung  und  seine  kritische  Methode  klar  geworden. 
Mendelssohn  hat  diesem  Dualismus  einmal  den  zugespitzten  Aus* 
druck  verliehen:  er  wolle  im  Leben  lieber  der  fromme  Aeneas  oder 
der  strenge  Cato  des  Addison  sein  als  der  jähzornige  Achill  oder 
der  eifersüchtige  Othello;  aber  erdichtet  haben  möchte  er  lieber  die 
Ilias  und  den  Othello^;  und  im  neunten  der  »Briefe  über  die  Emp* 
findungen«-  statuiert  er  der  Schaubühne  ihre  eigene  Sittlichkeit:  im 
Leben  sei  nichts  gut,  das  nicht  auf  unsere  Vollkommenheit  gegründet 
sei,  auf  der  Schaubühne  hingegen  alles,  was  in  der  heftigen  Leiden* 
Schaft  seinen  Grund  hat;  daher  sei  auch  das  Laster,  sei  auch  der 
Selbstmord  »theatralisch  gut«.  Das  praktisch* ethische  Problem 
unterliegt  einer  anderen  Beurteilung  als  das  Kunstwerk.  Nur  wenn 
man  sich  diesen  Dualismus,  diese  ausdrückliche  Trennung  des 
Kunstwerks  von  dem  —  von  der  Zeitstimmung  ja  allgemein  absolut 
genommenen —  Wertherproblem  vergegenwärtigt,  versteht  man 
auch  Lessings  vielberufene  Stellungnahme  zum  Werther^,  die  wir 
keineswegs  unter  seine  »Paradoxe«  rechnen*;  er  will  ausdrücklich 
verhütet  wissen,  daß  ein  dem  Werther  wahlverwandter  Jüngling 
die  poetische  für  die  moralische  Schönheit  nimmt.  Eben  diese  Tren* 
nung  und  vorzugsweise  dieser  Dualismus  hat,  wie  wir  sehen  werden, 
Goethes  und  seiner  Freunde  Zorn  gegen  Nicolai  entfacht.  Wenn 
aber  Lessing  an  Eschenburg  die  Frage  richtet:  »Glauben  Sie  wohl, 
daß  je  ein  römischer  oder  griechischer  Jüngling  sich  so  und  darum 
das  Leben  genommenn?«,  und  urteilt,  daß  man  »zu  Sokrates  Zeiten 
eine  solche  ff  eocoToc:  y.aroyji  (Überwältigung  vom  Liebesgott),  welche 
Ti  Tolfjuv  Jiagd  t»)v  q>voiv  (etwas  wider  die  Natur  zu  wagen)  antreibt, 

'  Schriften  IV,  1,579  f. 

-  Auf  die  Nicolai  sich  in  s.  »Abhandig.  v.  Trauerspielen  wiederholt  beriet. 

^  Vgl.  insbesondere  Lessing  an  Eschenburg  26.X.74  =  Lachmann=MunckerXVlII, 

115  und  das  Fragment  aus  s.  Nachlaß»Werther  der  Bessere«:  Lachmann=Muncker 

111,472;  Lessings  Voreingenommenheit  gegen  den  Goetheschen  Werther  aus  seiner 

Freundschaft  für  den  jungen  Jerusalem  darf  freilich  nicht  unterschätzt  werden; 

vgl.  Danzel=Guhrauer,  »Lessing«,  2.  Aufl.,   Berlin   1881,  II,  S.  561,  der  sich  auf 

Weilte  an  Garve  4.  III.  75  stützt. 

'  Wie  Gervinus,  Gesch.  d.  Dtsch.  Dichtung,  4.  Aufl.  IV,  300,  will. 

252 


nur  kaum  einem  Mädelchen  verziehen  haben  würde«',  —  so  gilt 
dieser  Gesichtspunkt  nur  für  Lessing,  nicht  aber  für  diejenigen, die 
sich  als  seine  Genossen  empfanden'-.  Mit  diesem  Gedanken  erhob 
sich  der  Dichter  des  »Philotas«  auch  hier  weit  über  die  Sphäre  des 
bürgerlichen  Realismus,  der  ihn  als  seinen  Wortführer  ansprach; 
diese  Formulierung  der  Gegensätze,  Schillers  und  Friedrich  Schlegels 
spätere  Deduktionen  im  Kern  vorahnend,  diese  Gegenüberstellung 
von  antik^heroischer  und  bürgerlich^christlicher,  von  klassischer 
und  sentimentalischer  Auffassung'  ist  von  seinen  vorgeblichen 
Genossen  nicht  aufgenommen  worden.  Aber  wenn  wir  der  gedankt 
liehen  Einstellung  Mendelssohns  und  Lichtenbergs,  Pestalozzis 
und  Eschenburgs,  Weißes,  Nicolais  und  Garves,  um  nur  diese  zu 
nennen,  eine  äußerste  Zuspitzung  geben  wollten,  würde  sie  in 
diese  Richtung  weisen. 

Der  vornehmste  Gesichtspunkt  der  erwähnten  Garveschen  Re* 
zension,  der  in  anderer  Form  auch  in  Nicolais  Kritik  des  Werther* 
Problems  wiederkehrt,  gilt  jedenfalls  ohne  Zweifel  dem  Sentimen* 
talischen  im  Wertherproblem.  Garve  faßt  es  als  Werthers  »Schuld«, 
daß  er  in  der  Natur  sein  Selbst  auslöscht,  der  Gesellschaft  es  ent* 
gegensetzt.  Ablehnender  Stolz  gegen  die  Menschen  paart  sich  in 
Werther  mit  liebender  Hingabe  an  Pflanzen,  Insekten,  an  die  schwei* 
gende  Natur;  von  der  menschlichen  W^elt  sind  es  vorzugsweise  die 
Kinder,  die  ihn  fesseln*;  die  Konzentration  seiner  Empfindsamkeit 

■  An  Eschenburg  26.  X.  74. 

■  Nur  Lichtenberg  (»Von  der  Macht  der  Liebe«,  Verm.  Schriften  ed.  Lichtenberg 
und  Kries  L  85),  dessen  Auffassung  des  Wertherproblems  sich  vielfach  mit  der« 
jenigen  Nicolais  berührt,  wies  darauf  hin,  daß  die  Griechen  die  Liebe  »nicht  für 
unwiderstehlich«  gehalten  hätten;  ihnen  seien  die  Mädchen  nicht  Göttinnen  ge= 
wesen,  der  Umgang  mit  ihnen  kein  Paradies  usw.  »Sie  brauchten  (die  Frauen), 
die  organisierten  Fleischmassen  zu  zeugen,  aus  denen  sie  selbst  nachher  fielden, 
Weise,  Dichter  formten.«  Aber  mit  spezifisch  aufklärerischer  Wendung:  die  Grie= 
chen  von  heute  —  das  sei  »die  Gemeinde  der  aktiven,  vernünftigen,  starken 
Seelen,  die  man  über  die  ganze  Erde  ausgebreitet  findet«.  Die  prinzipielle  Schärfe 
und  Tiefe  des  Lessingschen  Einwurfs  erreicht  Lichtenberg  nicht,  ebensowenig 
wie  etwa  Bodmer  (15.  VI.  75  an  Schinz:  Goethe=Jahrbuch  5, 192),  der  gleichfalls 
dem  Werther  gegenüber  das  antike  Lebensideal  geltend  zu  machen  suchte. 

Schon  Gervinus  a.  a.  O.  hat  der  Lessingschen  Briefstelle  diese  Deutung  gegeben. 
'  Ahnliches  beobachtet  die  Rezension  in  Weißes  »Neuer  Bibliotek  d.  schönen 
Künste  u.  freyen  Wiss.«,  Leipzig  1775,  XVIH,  1,46:  Werther  freue  sich  nicht  mit 

253 


auf  jeden  kleinen  Gegenstand  hält  er  für  ein  Verdienst,  und  alles, 
was  seine  Aufmerksamkeit  auf  wichtige  Objekte,  auf  die  Probleme 
des  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Lebens  insbesondere  ziehen 
könnte,  sieht  er  als  Zerstreuung,  als  Behinderung  seines  Strebens 
nach  Vollkommenheit  an.  Es  ist  bestes  aufklärerisches  Gedanken* 
gut,  was  Garve  hier  vorträgt;  durchaus  und  ausschließlich  gesell* 
schaftliche  Auffassung  des  Menschen;  die  Natur  als  fremdes  Um* 
gebendes,  das  Kind  —  ein  Glaubenssatz  der  aufklärerischen  Päda* 
gogik  —  ein  Noch*Nicht*Mensch ;  das  Streben  nach  Vollkommenheit, 
nach  Ichheit  überhaupt,  nicht  als  subjektives  Bedürfnis  aufgefaßt, 
sondern  objektiv,  als  ethisches  oder  soziales  Pflichtgebot.  Das  alles 
findet  sich  in  Nicolais  »Freuden«  wieder.  Man  muß  beobachten,  wie 
die  Naturstimmung  und  sbezogenheit  der  Leiden  in  den  Freuden 
ins  Idyllische  ä  la  Geßnei;  umgebogen  wird,  daß  am  Schluß  der 
Freuden  das  Idyll  steht:  Werther  mit  Lotte  auf  einem  Bauerngut, 
trotz  der  Benutzung  von  Stellen  aus  den  Leiden  mit  kräftig*heiteren 
Farben  gemalt.  Nicolai  hat  seiner  Naturauffassung  und  derjenigen 
der  Leiden  dort  auch  eine  paradoxe  Zuspitzung  gegeben.  Als.  der 
wilde  Engländer  durch  die  Wasserkünste  seines  phantastischen 
NaturgartensWerther  zumWegzug  nötigt,  sagt  er :  »Natur  im  Garten 
geht  weit  über  die  verdammte  Kunst« ;  und  Werther  denkt  bei  sich  : 
»'s  ist  doch  auch  Natur,  wenn  Wurzeln  in  der  Erde  stehen  und 
Apfel  an  den  Bäumen  hängen.«  Die  Naturauffassung  der  Jungen, 
die  auf  dem  Gefühl  ruht,  wird  von  Nicolai  hier  als  bloß  subjektiv 
vistisch  dargestellt;  sie  vergewaltigen  die  Natur,  indem  sie  sie  ab* 
solut  nehmen.  Nicolais  Naturauffassung  wird  nicht  vom  GefühU 
sondern  von  der  Beobachtung  her  bestimmt  und  getragen  und  sie 
nimmt  Natur  relativ,  auf  den  Menschen  bezogen.  —  Auch  das  übrige 
aufklärerische  Gedankengut,  das  wir  in  der  Garveschen  Rezension 
fanden,  münzt  Nicolai  in  den  Freuden,  zumal  in  den  beiden  Ge* 
sprächen  zwischen  Hans  und  Martin,  aus.  Er  sieht  Werthers  Kata* 
Strophe  im  Roman  als  durchaus  zwingend  dargestellt;  aber  er  be* 
müht  sich  um  ihre  tieferen  Gründe.  Werther  müsse  zum  Selbstmord 
getrieben  werden,  wenn  er  in  den  Menschen  nur  Fremde,  ja  Feinde 

etwas,  sondern  an  etwas,  daher  an  Dingen,  an  der  Natur,  nicht  mit  Menschen. 
Vgl.  Nicolais  Bemerkung  in  seinem  Handexemplar:  »Wie  ist  der  Mann  gegen 
Kinder  so  warm  und  gegen  seine  xMutter  so  kalt«  (zu  Werthers  Brief  v.  24.  März). 

254 


sehe,  wenn  er  »immer  einzeln  für  sich  sein«  und  »immer  außerm 
Geleise  ziehen  wolle«.  »Wenn  ihn  Menschen  haben  mochten«,  fragt 
Martin*Nicolai,  »sich  an  ihn  hängten,  warum  schlendert  er  nicht 
ihren  Weg  mit  ihnen  eine  Strecke  weiter,  bloß  weils  Menschen,  eine 
recht  gute  Art  Volks,  waren.  Er  würde  viel  besser  mit  sich  gestan* 
den  haben« ;  nie  hätte  Werther,  anstatt  »mit  belebender  Kraft  Welten 
um  sich  zu  schaffen« \  vergessen  dürfen,  daß  »er  selbst  ein  Geschöpf 
sei« ;  Werther  hatte,  »seit  er  an  der  Mutter  Brust  lag«,  die  Wohltaten 
der  Gesellschaft  genossen,  er  war  ihr  dagegen  Pflichten  schuldig. 
Hier  sieht  man  die  ganze  Schärfe  des  Gegensatzes  zum  Sturm  und 
Drang.  Auch  die  Jungen  durchdrang  ja  lebhaft  das  Gefühl,  Ge= 
schöpf  zu  sein,  schon  als  natürliches  Korrelat  zu  dem  titanenhaften 
Schöpfergefühl,  und  wir  haben,  in  dichterischen  wie  in  mensch* 
liehen  Äußerungen,  die  lebhaftesten,  tiefsten  Bekundungen  dieses 
Gefühls  bis  zum  emphatischen  Ausbruch  über  die  Nichtigkeit  des 
Geschöpfs,  der  eigenen  Existenz;  aber  sie  bezogen  dieses  Gefühl 
aus  dem  religiös^kosmischen  Erleben,  niemals  vom  Erlebnis  der  Ge* 
Seilschaft.  W^elch  tiefer  Unterschied  zu  dieser  Nicolaischen  Position, 
—  und  nicht  nur  ein  dynamischer,  tonaler  Unterschied  —  wenn  der* 
jenige  von  ihnen,  bei  dem  das  soziale  und  moralische  Erlebnis  sich 
am  stärksten  offenbarte,  wenn  Lenz  etwa  schrieb":  »Der  Mensch  ist 
mit  freien  Händen  und  Füßen  dennoch  nur  ein  tändelndes  Kind, 
wenn  er  von  dem  großen  Weltmeister,  der  die  Weltuhr  in  seiner 
Hand  hat,  nicht  auf  ein  Plätzchen  eingestellt  wird,  wo  er  ein  paar 
Räder  neben  sich  in  Bewegung  setzen  kann!«  Und  noch  deutlicher 
mag  eine  Stelle  aus  Lenz'  Abhandlung  »Lieber  die  Natur  unseres 
Geistes«^  jenen  Unterschied  vergegenwärtigen:  »Der  Gedanke,  ein 
Produkt  der  Natur  zu  sein,  hat  etwas  Erschreckendes.  Und  doch 
ist  er  wahr.  Aber  mein  trauerndes,  angsthaftes  Gefühl  dabei  ist 
ebenso  wahr!«  Eine  zeitgenössische  Kritik*  hat  denn  auch  nur  diesen 
Gegenpol  des  titanenhaften  Schöpfergefühls  in  »Werthers  Leiden« 
wirkend  erkannt  und  den  Determinismus,  ja  Fatalismus  in  dem 
Goetheschen  Roman  stark  hervorgehoben.  Man  kann  ein  starkes 


'  Mit  Bezug  auf  Werthers  Leiden  Djg  G.  IV,  295,Z.  19. 

-  Lenz  an  Salzmann  Sept.  1772  =  Briefwechsel  ed.  Freye=Stammler  I,  39. 

'  Schriften  ed.  Lewy  IV,329ft. 

'  Leingosche  Auserles.  Bibl.  1775,  VIII,  500 ff. 


255 


Unbehagen  gegen  diesen  Determinismus  zwischen  den  Zeilen  der 
Garveschen  Rezension  lesen,  und  Nicolai  hat  dieser  Empfindung 
Ausdruck  gegeben.  Garve  fragt  zweifelnd,  ob  einmal  eine  Zeit 
kommen  werde,  wo  die  »immer  gleich  eingeschränkte  Sinnlichkeit 
durch  den  immer  gleich  großen,  unendlich  weiten  Verstand«  (als 
dem  aufklärerischen  Vehikulum  der  moralischen  Freiheit)  . .  »wird 
überwogen  und  dadurch  die  Ruhe  des  Geistes  und  Herzens  fest* 
gestellt  werden«;  er  will  die  Frage,  ob  es  »der  Natur  des  Menschen 
und  der  Dinge  gemäß,  d.  h.  erlaubt  sei,  sich  zu  ermorden«,  unter* 
schieden  wissen  von  der  Frage,  wie  der  Mensch,  der  vor  diesem. 
Entschluß  stehe,  davon  abgehalten  werden  kann  —  als  der  dem 
Wertherproblem  gemäßen  und  wichtigen  Frage;  und  hier  antwortet 
er:  »ohne  Zweifel  nur  durch  Verhütung  der  Leidenschaft  selbst«. 
So  weit  ging  Nicolai  nicht,  aber  die  Garvesche  Frage  ist  auch  seine 
Frage;  auch  für  ihn  und  gerade  für  ihn  ist,  seiner  ganzen  Lebens* 
auffassungnach,  wie  wir  sie  in  der  Einleitung  zu  zeichnen  versuchten, 
das  Problem  des  leidenden  Menschen  das  Problem  seiner  Gesun* 
dungV  Leiden  —  das  ist  für  ihn  eine  Verwirrung  der  Seelenkräfte, 
die  Ausgleich  verlangt,  keine  seelische  Gesamtdisposition,  wie  sie 
Goethes  Werther  zeichnete,  ein  Zustand,  eine  Erscheinung,  nicht 
Wesen  und  Sein;  das  Wertherproblem  empfand  er  von  hier  aus  un* 
tragisch,  lediglich  als  praktisch*ethisches  und  soziales  Problem.  Es 
wird  verständlich,  wenn  er  an  Lessing  schreibt",  die  »hobbesischen 
Grundsätze«  der  »Leiden«  seien  ihm  »anstößig«:  Thomas  Hobbes, 
der  die  Willensfreiheit  prinzipiell  geleugnet,  der  die  mechanische 
Kausalität  der  Naturerscheinungen  auf  die  Anthropologie  über* 

=  Daß  dies  für  Nicolai  das  zentrale  Problem  war,  geht,  abgesehen  von  den  zahl« 
reichen  bezüglichen  Stellen  in  den  »Freuden«,  schon  aus  der  Entstehung  der 
»Freuden«  hervor;  denn  der  ursprüngliche  Plan,  den  uns  Göckingk  überliefert 
(a.a.O.  S. 52),  enthält  einzig  die  Lösung  dieses  Problems,  nicht  die  ganze  er; 
weiterte  Polemik  der»Freuden«.  Dal^  dieser  erste  Plan  besser  gewesen,  wie  Minor 
und  Appell  annehmen,  kann  ich  nicht  finden,  auch  nicht,  daß  Nicolai  ihn  nur 
aufgegeben  hätte,  weil  er  mehr  Zeit  erfordert  hätte,  "^'enn  Appell  (S.  168)  übrigens 
bei  dieser  Gelegenheit  meint,  »der  Berliner  Geschäftsmann«  hätte  eben  geglaubt, 
nicht  länger  als  drei  Tage  auf  seine  Schrift  verwenden  zu  sollen,  so  scheint  mir 
diese  boshafte  Bemerkung  ganz  unangebracht  bei  dem  Manne,  der,  um  nur  ein 
Beispiel  zu  nennen,  jahrelanges  diplomatisch=historisches  Studium  nicht  scheute, 
um  seine  Beschreibung  Berlins  wissenschaftlich  fest  zu  fundieren. 
-  An  Lessing  17.1.75  =  Lachmann^Muncker  21,52. 

256 


tragen,  die  Theorie  der  Moral  als  Mechanik  der  Begehrungen  ge* 
lehrt,  der  den  Egoismus  als  treibende  Kraft  des  Menschen  und  die 
Gesellschaft  lediglich  als  nützliche  Form  des  Egoismus  behauptet 
hatte  —  diesen  Vertreter  des  Determinismus  vorzugsweise  hatte  Ni* 
colai  in  der  Schule  von  Leibniz,  Christian  Wolff,  Shaftesbury  und 
Moses  Mendelssohn  überwunden.  Die  Stürmer  standen  nun  gewiß 
nicht  bei  Hobbes^;  aber  Nicolai  sah  —  und  dies  ist  für  Nicolais 
Stellung  äußerst  lehrreich  —  seine  Grundsätze  in  Werthers  Leiden 
verkörpert";  Ihre  prinzipielle  Widerlegung  hat  er  freilich  nicht  ver? 
sucht;  ihn  interessierte  nur,  wie  die  Folgerungen,  die  Werther  daraus 
zog,  verhütet  werden  könnten.  Und  hier  ergibt  sich  eine  bemerkens* 
werte  Gegenüberstellung.  Mathias  Claudius  meint  zu  diesem  Punkt 
ironisch:  »Der  arme  Werther  . . .  wenn  er  doch  eine  Reise  nach  Paris 
oder  Peking  getan  hätte!  So  aber  wollt'  er  nicht  weg  von  Feuer 
und  Bratspieß  und  wendet  sich  so  lange  dran  herum,  bis  er  kaput 
ist«\  Die  Polemik  Nicolais  aber  läuft  —  wenn  er  auch  in  der  Re* 
zension  einer  der  zahlreichen  Wertherschriften*,  die  ein  Rezept  zur 
Vermeidung  des  Selbstmordes  gegeben  hatte,  spöttelt:  »Das  .Distra* 
hieren'  möchte  nicht  hinlänglich  sein«  —  positiv  gefaßt,  doch  auf 
solches  »Distrahieren«  hinaus.  Werther  gliche  einem  in  hitzigem 
Fieber  liegenden  Kranken;  er  möchte  zu  ihm  sprechen:  »Freund! 
Du  liegst  in  einer  engen  Stube  voll  fauler  Dünste,  öffne's  Fenster, 

draußen  ist'-s  lieben  Gottes  reine  Luft nimm'n  Chinatrank, 

der  Fäulnis  hindert  und  Kraft  gibt.«  Ein  solcher  Gesundheits* 
trank  ist  dem  seelisch  Leidenden  die  Freundschaft  eines  Stärkeren 
wie  Aiberts,  der  den,  der  sich  dem  Nichts  gegenüber  glaubt,  in 
die  Welt  zurückführen  konnte".  So  konnte  nur  sprechen,  wer  das 
'  Vgl.  etwa  die  (Goethesche)  Rezension  von  A.  v.  Jochs  »Belohnung  u.  Strafen  . . .« 
in  Frankf.  Gel.  Anz.  (DLD  7,8.  678 ff.). 

-  »Frankf.  Zeitgen.  u.  Hobbes«  bemerkte  er  in  s.  Exemplar  d.  Werther  (a.  a.  O.  S.  389). 
^  .Asmus  .  .  S.  W.  d.  Wandsb.  Boten  I,  80. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  XXVI,  106;  es  ist  die  Schrift  von  Riebe  »Ueber  die 
Leiden«  usw.  s.  Appell  S.  165  ff.  Daß  dieser  Teil  der  Rezension,  Allg.  Dtsch.  Bi; 
bliothek  S.  105—108,  von  Nicolai  selbst  stammt  — nur  die  Rezension  der  »Leiden« 
und  »Freuden«  ist  von  Merck,  obwohl  das  Ganze  mit  Mercks  Signum  Au.  ge^ 
zeichnet  ist  —  bezeugt  Nicolai  8.  X.  75  an  Merck:  »Die  Anzeigen,  die  ich  Ihrer 
Rezension  der  beiden  Werthers  angehängt  habe  — «. 

•  Nicolais  , Erfindung'  in  den  »Freuden«,  Werther  an  Albert  gesunden  zu  lassen, 
ist  wohl  eine  verschärfte  Konsequenz  aus  dem  Verbalten  Wolmars  zu  St.  Preux 

17  SommerfelJ,  Friedrich  Nicolai  25/ 


Schicksalhafte,  unter  dem  Werther  steht,  verkannte  oder  es  doch, 
wie  Nicolai,  in  »Werthers  Leiden«  für  ein  bloßes  Kunstprodukt 
hielt:  unmöglich  konnte  Nicolai  sich  auf  die  ,Distraktion'  in  der 
Nouvelle  Heloise  berufen,  auf  die  Weltumsegelung  des  St.  Preux: 
denn  dort  hat  St.  Preux  schon  entsagt,  zum  mindesten  das 
Selbstmordstadium  überwunden.  Schubart  und  Heinse  aber,  in 
ihren  schon  erwähnten  Anpreisungen  von  »Werthers  Leiden«,  und 
Lenz  in  seinen  (neuerdings  wieder  aufgefundenen)  »Briefen  über 
die  Moralität  der  Leiden  des  jungen  Werther«  umschreiben  gerade 
das  Schicksalhafte,  das  über  Werther  schwebt,  und  fühlen  sich  davon 
aufs  stärkste  angezogen.  Und  jene  Stelle  in  La vaters- Physiognomie 
sehen  Fragmenten  (4.  Teil),  wo  er  das  W^sen  des  Genies  stammelnd 
umschreibt,  zeigt  diese  schicksalhafte  Auffassung,  fern  von  den  ethis 
sehen  Polen  Gut  und  Böse,  und  gibt  indirekt  den  Zusammenhang 
dieses  Werther  mit  der  Geniebewegung:  »Genie«,  heißt  es  dort,  ist 
»Gegebenheit,  wenn  ich  so  sagen  darf,  was  wohl  geahnt,  aber  nicht 
gewollt  und  begehrt  werden  kann,  oder  was  man  im  Augenblick  des 
Wollens  und  Begehrens  hat,  ohne  zu  wissen  wie,  was  gegeben  wird, 
nicht  von  Menschen,  sondern  von  Gott  oder  vom  Satan«. 

Daß  Nicolai  die  Verflechtungen,  die  Werther  zur  Katastrophe 
führen,  nicht  für  Schicksal  hält,  sondern  sie  zu  einem  bloßen  Kunst* 
griff  des  Dichters  auflöst,  steht  im  Zusammenhang  mit  einem  wei* 
teren,  durchgehenden  Grundsatz  seiner  Polemik.  Was  Mendels* 
söhn  dem  Dichter  der  »Nouvelle  Heloise«  vorgeworfen  hatte, 
daß  seine  »Kenntnis  des  menschlichen  Herzens  mehr  spekulativisch 
als  pragmatisch«  sei  \  wird  von  Nicolai  gegen  Goethe,  mehr  noch 

(in  Rousseaus  Nouvelle  Heloise);  er  hat  jedenfalls  seinem  Albert  alle  ZügeWoU 
mars  zu  geben  versucht.  Auch  die  zitierte  Stelle  vom  Chinatrank  ist  Worten  des 
St.  Preux  (an  Sir  Bomston)  nachgebildet ;  St.  Preux  braucht  sie  freilich  in  ent= 
gegengesetztem  Sinn  als  Argument. 

'  Schon  Fritz  Jacobi  hat  bei  Gelegenheit  der  Wertherkritiken  aut  diese  Mendels? 
sohnsche  Rousseau«Kritik  (im  166.  71.  Literaturbrief)  hingewiesen.  Als  die  Jacobis 
mitHeinse  denV^'erther  lesen,  gedenktFritz  Jacobi  der  zu  erwartenden  Kritiken; 
ei"  möchte  »rasend  werden«  bei  dem  Gedanken,  daß  »ein  Schurke  von  Rezen; 
senten  den  Werther  auf  das  theatrum  anatomicum  stellen  könnte«.  Heinse  meint, 
es  gäbe  »doch  noch  menschliches  Gefühl  und  Scham  in  der  Welt,  niemand  werde 
sich  das  ankommen  lassen«.  Worauf  Fritz  Jacobi:  »Erinnern  Sie  sich  nur 
der  Berliner  Literaturbriefe  über  Rousseaus  julie,  und  das  war  doch 
auch  ein  Buch.  —  Heinse  stutzte«  (nach  Fritz  Jacobis  Brief  an  Goethe  vom 

258 


gegen  die  Wertherschwärmer  angewandt  und  in  den  Freuden 
weitläufig  umschrieben.  Nicolais  Meinung  ist,  daß  das  Leben  der 
Wirklichkeit  nicht  solche  Gegensätze  kenne,  wie  Werther  und  den 
diplomatischen  Grafen,  wie  Werther  und  Albert  bei  Goethe.  Es 
mußte  seine  Meinung  bestärken,  wenn  Höpfner  ihn  glaubwürdig 
versicherte  \  daß  »die  Buffm«  im  Gegensatz  zurWertherschen  Lotte 
»ein  simples  Mädchen«  sei,  das  »natürlichen  Verstand  hatte«,  und 
aus  der  Goethe  zu  Unrecht  eine  »stolze,  affektierende  Enthousiastin« 
gemacht  habe.  Und  das  Leiden  Werthers  1  Können  Menschen  der 
Wirklichkeit  darum  und  so  leiden  wie  Werther?  Und  werden  sie 
seine  Folgerung  ziehen  können?  »Ich  glaube«,  schreibt  Lichten* 
berg-,  »der  Geruch  eines  Pfannkuchens  ist  ein  stärkerer  Beweg* 
grund  in  der  Welt  zu  bleiben,  als  die  mächtig  gemeinten  Schlüsse 
des  jungen  Werthers  sind,  aus  derselben  zu  gehen.«  Solche  Kalt* 
schnäuzigkeit  brachte  Nicolai  nicht  auf,  wenigstens  noch  nicht  zu 
dieser  Zeit.  Er  hat,  wie  er  später  rückschauend  feststellt'  nur  zeigen 
wollen,  daß,  selbst  wenn  Werthers  Wünsche  erfüllt  würden,  das 
Leben  ihm  noch  Hartes  und  Widriges  genug  bescheren  würde,  und 
daß  eine  Naturwiedieseineebenstets  unglücklichsein  werde.  Erhält 
die  Überwindung  einer  Leidenschaft  für  leichter,  als  das  Ertragen 
»bürgerlicher,  unvermeidlicherVerhältnisse«  —  worin  ihm  Garve  bei* 
pflichtet*  —  wiederum  das  Gesellschaftliche  gegen  das  Individuell* 
21.x.  74).  Der  Zusammenhang  auch  in  Mercks  »Pätus  u.  Arria«  —  Nicolai  rezent 
siert  diese  Farce  Allg.'Dtsch.  Bibliothek  26,  208  und  zitiert  die  auf  Nicolai  und 
Mendelssohn  bezüglichen  Verse  —  hervorgehoben.  Zwei  Schulknaben  dispu^ 
tieren  darin  über  das  moralische  Thema: 

»Die  zeigten  durch  den  Mendelssohn        Daß  man  im  Unglück  sich  so  liel^ 
Und  die  Empfindungsbriefe,  Durch  Sinnlichkeiten  rühren. 

Daß  aller  Selbstmord  in  der  Welt  Die  höh'ren  Seelcnkräfte  nicht 

Am  Ende  dahin  liefe :  Das  Ruder  ließe  führen«  usw. 

'  An  Nicolai  27.  IX.  75  (jetzt  gedr.  Grenzboten  1911,560)  vermutlich  auf  Nicolais 
Anfrage.  Man  beachte,  daß  auch  Kestner  in  dem  oben  erwähnten  Brief  an 
V.  Hennings  sagte,  daß  die  Charaktere  im  Werther  zwar  »wahr«  wären,  »aber 
nicht  in  dem  Maße,  daß  der  tragische  Erfolg  daraus  fließen  könne«.  Dies  sollte 
V.  Hennings  »bei  Mendelssohn  und  sonst«  verbreiten. 

-  An  Dieterich  I.V.  75  =  Lichtenbergs  Briefe  ed.  Leitzmann  und  Schüddekopf 
I,  227. 

'  Göckingk  S.  55. 

*  Garve  an  Nicolai  5.  II.  75.  —  Zu  allen  diesen  Äußerungen  Nicolais:  Parallelen 
in  Lichtenbergs  »Von  der  Macht  der  Liebe«,  Verm.  Schriften  1,82 ff. 

17*  259" 


Schicksalsmäßige,  das  soziale  gegen  das  methaphysische  Leiden 
ausspielend.  Wie  die  Kenntnis  des  objektiven  Lebens  streitet  Ni* 
colai,  wiederum  weniger  dem  Dichter  von  Werthers  Leiden,  als  den 
zahlreichen  kritiklosen  Wertherschwärmern,  jenen,  die  Werthers 
Tragödie  unter  dem  Eindruck  des  Romans  nachzuspielen  sich  ver* 
maßen  \  den  Jünglingen,  die  damit  kokettierten,  die  Kenntnis  und 
richtige  Einschätzung  ihrer  Subjektivität  ab;  er  erkennt  in  ihrer 
Selbstüberschätzung  eine  Komponente  ihres  anarchischen,  asozialen 
Individualismus.  »Plaudert  da  viel  von  Kraft  und  Stetigkeit«,  ruft 
er  ihnen  zu,  »und  seid  arme  lässige  herumtrollende  Flittchen.  Habt 
n  weidlich  Geschwätz,  von  Einschränkung  und  Modelung  . . .  und 
doch  gäbt  ihr  nicht  'n  Polsterchen  von  eurem  Sorgenstuhle,  noch  'n 
Schleifchen  von  eurem  Haarbeutel  weg,  daß  's  anders  würde.  Euch 
Püppchen  würd's  auch  frommen,  wenn's  Faustrecht  gälte,  müßt't 
ja  aus'm  Lande  laufen.  Daß  ihr  Springinsfelde  Werther  würdet,  da* 
mit  hat's  nicht  Not,  dazu  habt  'rn  Zeug  nicht!«  Er  glaubt  ihnen  ihre 
Kraftgeste  ebensowenig  wie  ihre  Gefühlsbetontheit;  er  zweifelt, 
daß  sie  sich  in  einer  Liebe  ganz  vergessen  könnten  und  möchte 
ihren  Individualismus  von  dieser  Seite  als  Eitelkeit  und  Egoismus 
erkennen.  Er  möchte  ihn  aber  auch  an  seinen  praktischen  Folge* 
rungen  widerlegen;  die  Figur  des  wilden  Engländers  in  den  »Freu* 
den«  sollte  dazu  dienen.  Der  Engländer  legt  sich  auf  seinem  Grund* 
stück  neben  Werthers  bescheidenem  Nutzgärtchen  »wunderbare 
und  schreckliche  Gärten«  an,  und  baut  einen  »orientalischen  Gar* 
ten«;  »hätt'  er  bei  Dzzidda  gewohnt,  würd'  er  ein  Versailles  angelegt 
haben.«  Als  Werthers  Gärten  durch  die  Wasserkünste  des  Eng* 
länders  überschwemmt  werden,  erkennt  er:  »Der  Kerl  ist  traun  'n 
Genie,  aber  ich  merk's  wohl,  ein  Genie  ist  ein  schlechter  Nachbar.« 
Gelte  das  Faustrecht,  schreibt  er  an  Höpfner',  so  gelte  nicht  nur 
ausschlagen,  sondern  auch  wiederschlagen.  »Ich  gestehe,  ich  bedaure 
die  Leute  herzlich,  die  so  viel  von  Kraft  und  Selbständigkeit  plau* 
dern  und  bei  dem  geringsten  Widerspruch  aus  der  Haut  fahren 
wollen.  Bei  ihnen  müssen  beständig  ihre  Prinzipien  mit 

'  Einen  solchen  Fall,  wo  »eine  sonst  verständige,  aber  etwas  hysterische  Person« 
sich  nach  der  Lektüre  von  Werthers  Leiden  das  Leben  genommen  habe,  berichtet 
Nicolai  an  Iselin  (17.  L75  gedr.  b.  Werner,  Der  Berliner  Werther  S.  3). 
-  An  Höpfner  13.  IV.  75.  Hs.  im  Fr.  Dtsch.  Hochstift  Frankfurt. 

260 


ihrem  bürgerlichen   Leben  in  CoUision  kommen   und  sie 
unmutig  machen'.« 

So  verschob  sich,  als  Folge  der  durchaus  moralischen  und  sozi* 
alen  Auffassung  des  Wertherproblems  im  Goetheschen  Roman, 
auch  die  Richtung  der  Polemik  gegen  das  absolut  genommene 
Wertherproblem.  »Dein  Held  mag  Werther  sein,«  sagt  Martin* 
Nicolai  im  »Gespräch«  vor  den  »Freuden«,  —  »mein  Held  ist  der 
Autor«;  schärfer  konnte  Nicolai  nicht  ausdrücken,  daß  seine  Pole- 
mik nicht  eigentlich  den  Charakter  des  Goetheschen  Romans  treffen 
wollte,  sondern  den  absolut  genommenen  Werther  als  Glied  der 
bürgerlichen  Gesellschaft;  und  hier  war  eben,  wie  Nicolai,  den  Er* 
lebnisanteil  Goethes  am  Werther  wohl  ahnend-,  begriff,  Goethe 
von  wesentlich  anderer  Faktur  als  Werther.  Nicolai  hat  nicht  etwa 
erst,  als  er  wegen  seiner  »Freuden«  angegriffen  wurde,  sondern  schon 
in  den  Briefen,  mit  denen  er  die  Übersendung  seiner  »Freuden«  an 
Freunde  begleitete '',  sich  dagegen  verwahrt,  den  Genius  verkannt, 
gegen  sein  Werk  gefrevelt  zu  haben,  und  wir  müssen  ihm  wohl 
glauben,  daß  dies  seine  echte  Überzeugung  gewesen  ist,  die  er  denn 
auch  bis  in  sein  Alter  vertreten  hat.  An  Merck  schreibt  er^,  er  habe 
mit  den  »Freuden«  nicht  Goethe  angegriffen,  sondern  »einen  Haufen 
Leser  mancherlei  Art,  die  aus  Stellen  im  Werther,  die  Goethe  im  Cha* 
rakter  des  schwärmerischen  Werthers  geschrieben  hatte,  Axiomen 
und  Lebensregeln  machen  wollten  . . .«  »Ich  habe  überdies  seinen 
Talenten,  zwar  nicht  in  dem  kindischen  Trompetenton,  in  welchem 
ihn  die  Zeitungsschreiber  ausposaunen,  aber  in  dem  Ton  eines  ver* 
nünftigen  Mannes,  der  sein  Genie  schätzt  und  sein  Werk  tief  emp* 
funden  hat,  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen.«  Und  diesen  Stand? 
'  Dies  war  denn  auch  das  eigentliche  Thema  seiner  späteren  Romane  »Sempro» 
nius  Gundibert«  und  »Geschichte  eines  dicken  Mannes«,  und  auch  in  den  »Ver= 
trauten  Briefen«  spielt  es,  gegen  die  »romantischen  Genies«  gewandt,  eine  große 
Rolle.  Der  Bezug  auf  den  Werther  tritt  überall  deutlich  hervor  (vgl.  z.  B.  Vertr. 
Briefe  S.  115, 122, 195),  natürlich  auch  im  Anh.  z. Schillers  Musenalmanach  a.m.O. 
Dicker  Mann  1,7,71. 

'  Etwas  später  klärte  ihn  Höpfner  in  s.  Brief  vom  27.  IX.  75  (gedr.  Grenzboten 
1911,  S.  560)  hierüber  ausdrücklich  auf. 

'  An  Gebier  7.  oder  17.1.75  =  R.M.Werner,  A.  d.  Josephin.  Wien  S.63;  an  Les. 
sing  17.1.75  =  LachmannsMuncker  21,52;  an  Lavater  17.1.75  NN.;  an  Iselin  17. 
1.75  =  Werner,  Der  Berliner  Werther  S.3. 
*  6.  V.  75  =  Wagn er  I ,  S .  65  ff. 

261 


punkt  hat  er  auch  bei  zahlreichen  anderen  Gelegenheiten  vertreten  \ 
Die  gesamte  Journalkritik  ^  —  mit  Ausnahme  des  Pastors  Goeze^  — 
"Wieland,  Justus  Moser,  Campe,  Semler,  Geßner,  Höpfner,  Boie*,  um 
nur  diese  zu  nennen,  haben  diese  Nicolaische  Absicht  anerkannt  und 
lobend  unterstrichen;  und  Merck  hat  in  seiner  Rezension  von  Wer* 

'  Hier  seien  nur  erwähnt:  Nicolai  an  J.G.Zimmermann  15.  IV.  75  =:  Ed.  Bode= 
mann,  Joh.  G.Zimmermann  S. 303 ff.;  und  Nicolais  ausführliche  Bemerkung  aut 
dem  Brief  Marcards  aus  Oldenburg  vom  10.  XI.  75,  der  ihm  das  Manuskript  einer 
Anti -Wertherschrift  geschickt  hatte;  Nicolai  findet  sie  nicht  ernsthaft,  nicht 
treffend  genug;  und  zudem  zu  persönlich  gegen  Goethe,  dabei  hält  er  den  Stand* 
punkt  seiner  »Freuden«  entgegen. 

-  Hamburg.  Unpart.  Korresp.  1775, 24. 1. :  Frankfurter  Gel.  Anz.  1775,  3.  III ;  Neue 
Hall.  Gel.  Zeitungen  1775,  6.  II.;  Berlin.  Nachrichten  v.  Staats;  u.  Gel.  Sachen  1775, 
2.  II  ;  Gothaische  Gel.  Zeitungen  1775,  l.II.;  Greifswalder  Neueste  Krit.  Nach; 
richten  20.  V.  75;  Schirachs  Magazin  Halle  1775,  4.  Bd.,  1.  Teil,  S.  61ff.;  Lem= 
gosche  Auserles.  Bibl.  1775,  VIII,  500.  Sie  alle  heben  hervor,  die  »Freuden«  wären 
kein  Fasquill,  sondern  eine  Anweisung  für  Unmündige,  denWerther  zu  lesen; 
Nicolai  habe  sich  die  civica  Corona  verdient;  Nicolai  habe  die  Schönheiten  des 
GoetheschenWerkes  tiefempfunden  und  zur  Darstellung  gebracht ;  der  Goethesche 
Roman  sei  nicht  parodiert,  sondern  nur  weiter  gesponnen,  wie  man  weiter  denkt, 
wenn  man  wachend  träumt.  Die  beiden  zuletzt  genannten  Stimmen  sind  mit  der 
Erfindung  in  den  »Freuden«  nicht  ganz  einverstanden  —  doch  ist  dies  für  unsere 
Frage  gleichgültig,  um  so  mehr  als  sie  sich  dem  allgemeinen  Lob  anschlössen. 
•'  Goeze  (Hamburger  Nachrichten  1775, 4.  IV.)  ist  sich  nicht  ganz  klar  darüber,  ob 
Nicolai  für  oder  gegen  Werthers  Leiden  schreibt;  wären  die  Freuden  »Ironie«,  so 
gehöre  ein  Schlüssel  dazu,  den  er  nicht  habe,wären  sie  »ernst«,  so  sei  die  Schreibart 
läppisch.  Im  ganzen  M'ittert  er  in  den  »Freuden«  ein  Gift  ähnlich  dem  der  »Leiden«. 
'  Wieland  i.  Teutschen  Mercur,  1775,  März:  man  müsse  gegen  Nicolai  sehr  ein= 
genommen  sein,  wenn  man  seine  wahre  Absicht  verkenne;  die  »Freuden«  eine 
Satire  auf  gewisse  Leser,  nicht  auf  das  bewunderte  Goethesche  Werk;  »ein  Wort 
geredet  zu  rechter  Zeit«.  —Justus  Moser  an  Nicolai  20.11.75  und  10.  XII.  75  = 
Werke  ed.  Abeken  X,  156 f.;  Campe  an  Nicolai  4.  IL  75  und  5.  VI.  75  NN.;  Semler 

4.  IL  75  NN.;  Geßner  2.  IL  75  NN.;  Höpfner  24.  III.  75;  Boie  20.  X.  75  NN.  Zu 
diesem  Boieschen  Brief  an  Nicolai  vgl.  aber  Boie  an  Merck  10.  IV.  75  — Wagner  I, 

5.  62 ff. :  »Nicolai  hatt  es  schon  mehr  verdient  (wegen  der  »Freuden«)  unsacht  an= 
-gefall  zu  werden.Warum  mischt  sich  der  Mann  in  alles  was  ihn  nicht  angeht«  usw. 

Wenn  übrigens  K.  Weinhold  (»Chr.  H.  Boie«,  Halle  1868,  S.  165)  es  merkwürdig 
findet,  »daß  Boie  die  wunderlichen  Wendungen  der  Freuden  für  komische  Laune 
gehalten  zu  haben  scheint«,  und  zur  Entschuldigung  Boies  anführt,  er  sei  aus 
Freundschaft  für  Kestners  gegen  den  Wertherdichter  verstimmt  gewesen,  so  ist 
diese  »Entschuldigung«  wohl  ebenso  wenig  stichhaltig  wie  überhaupt  not= 
wendig:  Witz  und  Laune  lassen  sich  dem  Nicolaischen  Schriftchen  nun  gewii^ 
nicht  absprechen. 

262 


thers  Leiden  und  Werthers  Freuden  ^  wiederholen  können,  was  N  ico* 
lai  ihm  als  seine  Absicht  bei  den  »Freuden«  mitgeteilt  hatte.  Wirft 
man  Nicolai  vor,  daß  er  —  gleichviel  was  seine  Absicht  war  —  schon 
durch  die  Tatsache  und  den  Ton  der  »Freuden«  gefrevelt  hatte,  so 
durfte  er  sich  auf  die  Erfahrungen  berufen,  die  er  mit  seinem  »Sebal* 
dus  Nothanker«  machte,  dem  Jung  StiUing  ja  auch  eine  moralische 
Kritik  in  Gestalt  eines  Pamphlets  entgegenstellte'-^;  und  der  junge 
Goethe  hatte  mit  seiner  Farce  bei  Gelegenheit  der  Wielandschen 
»Alceste«  recht  eigentlich  den  Ton  angegeben.  Lenz  schreibt  an  La* 
vater '  über  seine  gegen  Wieland  gerichteten  »W^olken«,das  »Gegen* 
gift«  gegen  Wieland  habe  ihm  »längst  auf  dem  Herzen  gelegen,  — 
geradezu  läßt  das  Publikum  seiner  Sinnesart,  seinem  Geschmack 
nicht  gern  widersprechen,  man  muß  einen  Vorwand,  eine  Leiden* 
Schaft  brauchen,  sonst  nimmt  es  nimmer  Anteil.«  Den  Ausdruck  die* 
ser  Leidenschaft  fanden  die  Jungen  —  Goethe  hat  im  13.  und  14.  Buch 
V  on  Dichtung  und  Wahrheit  die  psychologischen  wie  die  zeitbeding* 
ten  tieferen  Gründe  für  dieses  Formprinzip  angegeben  —  in  der  dra* 
matischen  Farce.  Nicolai  entschied  sich  mit  Mendelssohn*,  daß  gegen 
schädliche  Schwärmerei  nicht  vernunftmäßige  Widerlegung,  son* 
dern  Satire  anzuwenden  sei;  und  die  Form  seiner  Satire  ist,  mit  den 
durch  den  Stoff  gebotenen  Modifikationen,  wie  die  des  Lichtenberg* 
sehen  »Parakletor«  oder  »Timorus«,von  Swift  und  der  französischen 
Satire  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  her  genährt;  die  Karrikatur 
dient  der  Erkenntnis,  wie  der  Witz  im  weiteren  Sinn  das  beliebteste 
vehiculum  der  ^Aufklärung,  und  das  Epigramm  ihr  charakteristisches 
Merkmal  sind.  Nicolai  hat,  wie  er  an  Iselin  schreibt,  den  Jungen 
das  Wertherproblem  »aus  einem  andern  Augenpunkte«  zeigen  wol* 

•  AUg.  Dtsch.  Bibliothek  XXVI,  1,  S.  105  ff., jetzt  abgedr.in  Joh.  H.  Mercks  Schrift 
ten  und  Briefwechsel  ed.  K.Wolff,  Bd.  I,  Leipzig  1909. 

'  Nicolai  glaubte  übrigens,  daß  Goethe  Jung  Stilling  »zur  Herausgabe  des  er= 
bärmlichen  Dinges  ,die  Schleuder'  —  aufgemuntert  und  ihm  seinen  Schutz  ver= 
sprechen  habe,  als  Jung  aus  Furcht  einige  Schimpfworte  habe  entfernen  wollen. 
Risum  teneatis«.  (Nicolai  an  Merck  28.  Xll.  75  =  Wagner  1,  S.  80).  Vgl.  oben 
S.150,  Anm.  2. 
^  Sept.  1775  =  Briefwechsel  ed.  Freye^Stammler  I,  127. 

*  Vgl.  L.  Goldstein  a.a.O.  S.  10;  vgl.  hierzu,  daß,  wie  Nicolai  17.1.75  Lessing  mit^ 
teilt,  die  »Freuden«  ohne  Anraten  Mendelssohns  nicht  erschienen  wären.  Weshalb 
Fr.  Braitmaier,  »Gesch.  d.  poet.  Theorie  u.  Kritik«  11,  140,  Mendelssohns  Einver- 
ständnis bezweifelt,  und  worauf  er  seinen  Zweifel  gründet,  ist  mir  nicht  erfindlich 

263 


len^;  so  mußte  seine  Ausdrucksform  die  parodierende  Satire 
sein. 

Es  war  nun  freilich  nicht  die  Form  des  Schriftchens,  die  den  Ni* 
colai  ganz  unerwartet  kommenden  Widerstand  der  Jungen  erregt 
hat.  Ihr  entrüsteter  ^Widerspruch  und  ihr  höhnisches  Gelächter  be* 
zog  sich  auf  den  Standpunkt  Nicolais,  der  Kunstwerk  und  Leben 
trennte,  und  auf  die  lediglich  moralische  und  soziale  Auffassung 
des  Wertherproblems.  Betrachten  wir  zunächst  die  Wirkung  der 
»Freuden«  auf  Goethe,  so  kann  hieran  kein  Zweifel  sein. 

Die  bekannten  x\ußerungen  Goethes  gegen  die  »Freuden«  bis  zu 
den  »Xenien«  hin  —  besonders  den  »alten  Reim«'-,  die  Äußerung 
zu  Auguste  Stollberg^,  die  Anekdote  »Nicolai  auf  Werthers  Grabe«  ^ 
und  den  von  Goethe  bei  der  x\bfassung  von  »Dichtung  und  Wahr* 
heit«  verloren  geglaubten  satirischen  Prosadialog  zwischen  Wer* 
ther  und  Lotte""  —  hat  man  öfter  zusammengestellt,  als  dargestellt, 

'  17.1.75. 

-  D.  u.W.  XIII,  Weim.  Ausg.  28,  231 ;  vgl.  jetzt  über  den  »alten  Reimc<:  Zeitschrift 
f.  d.  dtsch.  Unterr.  XXXIII,  9  (F.  Seiler). 
■•  7'10.  III.  75,  Morris  Djg.  G.  V,  16. 
*  Morris  Djg  G.V,  32. 

'  Dieses  zuerst  von  Zoeppritz,  Aus  Friedr.  H.  Jacobis  Nachlaß  1, 272  veröftent; 
lichte  Stück— jetzt  DjgG.N',  36 ff. —  scheint  später  Nicolai  zu  Gesicht  gekommen 
zu  sein.  Boies  Brief  an  Nicolai  vom  10.  IX.  1787  NN.  enthielt  zwei  Einlagen:  eine 
davon,  ein  Lied  vonVoß,  ist  dem  Brief  beigeheftet  und  liegt  in  Nicolais  Nach= 
laß;  die  andere  muß  Nicolai  zurückgesandt  haben.  Nicolais  Antwortbrief  ist  ver= 
loren  gegangen;  er  wird  seine  Randbemerkung  darin  verwertet  haben:  »Das 
Ding  ist  gar  fade,  u.  wie  M  a  d  a  m  e  M  e  n  d  e  1  s  s  o  h  n  «.  Boie  antwortet  (14. 1.  S8NN.) : 
»Göthens  Stück,  daß  Sie  mir  wieder  zurückgeschickt  haben,  ist  nichts  als  ein  un  = 
verdauter  Einfall  im  ersten  Augenblick  des  Verdrusses  über  die  mißverstandenen 
Leiden  und  Freuden  niedergeschrieben,  und  ich  habe  ihm  einen  Dienst  getan, 
daß  ich  es  nicht  drucken  ließ,  wie,  ich  weiß  nicht  mehr,  ob  er  selbst  oder  einer 
seiner  Freunde  es  mir  zu  dem  Ende  zugeschickt.  Ich  ließ  damals  der  Kuriosität 
wegen  eine  Abschrift  davon  nehmen  und  schickte  das  Original  zurück,  daswahr= 
scheinlich  längst  vernichtet  ist . .  .  Was  die  Anekdote  wegen  Madame  Mendels^ 
söhn  sagen  soll,  weiß  ich  nicht.  Vermutlich  wie  Sie  meinen,  eine  der  elenden 
herumgetragenen  Anekdoten,  deren  so  manche  umherlaufen,  u.  die  oft  mehr 
Schaden  tun  als  man  denken.«  (Dazu  vgl.  Boie  an  Lenz  11.  IV. 76  =  Briefe  an 
Lenz  ed.  Freye^Stammler  1,226:  »Mein  Verleger  Weygand  schickte  mir  vor  einigen 
Tagen  Anekdoten  zu  Werthers  Freuden  von  Goethens  Hand  geschrieben  fürs 
Museum  zu,  die  ich  wieder  zurückgeschickt,  weil  ich  sie  seinet*  und  meinetwegen 
nicht  drucken  lassen  mochte.  Auch  weiß  Goethe  vielleicht  nichts  davon,  daß  ich 

264 


welchem  tieferen  Gefühl  diese  Äußerungen  des  Unmutes  entspran* 
gen ;  sie  selbst  besagen  darüber  so  gut  wie  nichts ;  will  man  den  tiefe* 
ren  Grund  der  Goetheschen  Abwehr  erkennen,  so  muß  man,  mit 
vorsichtiger  Abwägung  der  Standpunkte  des  jungen  und  des  alten 
Goethe,  seine  Äußerungen  im  13.  Buch  von  Dichtung  und  Wahrheit 
heranziehen.  Bemerkenswert  ist  hier  zunächst  —  wenn  man  von  der 
milden  Stimmung  des  alten  Goethe  gegen  den  ȟbrigens  braven,  ver* 
dienst*  und  kenntnisreichen  Mann«  absieht  — ,daf5  Goethe  berichtet, 
er  habe  sich  um  die  Aufnahme  der  Leiden  bei  der  Kritik  wenig  ge* 
kümmert,  aber  seine  Freunde  hätten  diese  Dinge  gesammelt  und  sich 
mit  eifrigem  Spott  darüber  hergemacht.  Wie  w^enig  die  »Freuden« 
Goethe  im  Grund  erregten,  bezeugt  die  Tatsache,  daß  er  an  dem* 
selben  Abend,  wo  ihm  die  »Freuden«  zugekommen  waren,  jenes  un* 
vergleichlich  heitere  Liedchen  in  »Erwin  und  Elmire«  niederschrieb  ^ : 

»Ein  Schauspiel  für  Götter 

Zwei  Liebende  zu  sehn « 

In  Klingers  »Leidendem  Weib«  bricht  Franz,  als  Läufer  ihm  »etwas 
Neues  über  den  Selbstmord«  bringt,  furchtbar  aus:  »Könnt  ich 
ihnen  doch  all  das  Gehirn  austreten,  die  für  oder  dawider  schrei* 
ben«.  Aber  als  Goethe  bei  einer  Tischgesellschaft  in  Elberfeld  von 
dem  orthodoxen  Rektor  Hasenkamp  feierlich  verflucht  wird  wegen 
dieser  »ruchlosen  Schrift«,  antwortet  er  sehr  ruhig:  »Ich  sehe  es 
ganz  ein,  daß  Sie  aus  Ihrem  Gesichtspunkte  mich  so  beurteilen 
müssen,  und  ich  ehre  Ihre  Redlichkeit,  mit  der  Sie  mich  bestrafen. 
Beten  Sie  für  mich!«-  Er  konnte  ja  bereits  zwei  Jahre  später,  im 
»Triumph  der  Empfindsamkeit«  die  Puppe,  nebst  Häckerling  und 
Makulatur,  mit  der  Neuen  Heloise  und  —  Werthers  Leiden  ausge* 
sie  gehabt.  Sagen  Sie's  ihm  und  bitten  Sie  ihn,  sie  womöglich  wegen  hiesiger 
Freunde  zu  unterdrücken. Wider  N(icolai)  jetzt  auch  noch  was  zu  sagen,  da 
die  Freuden  längst  vergessen  sind  [1776!],  wäre  ja  zu  spät.«)  K.  Weinhold, 
Chr.  H.  Boie  S.  188  und  Appell  S.  192  nehmen  an,  Boie  habe  die  Anekdote  »Ni= 
colai  auf  Werthers  Grabe«  gehabt  und  Nicolai  mitgeteilt.  Nicolais  Randbemer= 
kung  und  Boies  Antwort  bez.  »Madame  Mendelssohn«,  die  auf  die  Einkleidung 
des  Prosadialogs  zielen,  machen  unzweifelhaft,  daß  Nicolai  auch  jenen  Prosa= 
dialog  gekannt  oder  doch  einzelnes  von  ihm  gehört  hat. 
'  Wie  Fritz  Jacobi  22.  III.  75  an  Wieland  berichtete.  (Briefe  ed.  Roth  I.  205). 
■  Über  die  Verbürgtheit  und  die  Datierung  dieser  Anekdote  vgl.  Biedermann, 
Goethes  Gespräche  V,  S.  10  und  H.  G.Gräf,  Goethe  über  s.  Dichtungen  I,  2,  S.  530, 
Anm.  1. 

265 


stopft  sein  lassen!  So  gewinnt  Mercks  Zeugnis^  an  Glaubwürdig* 
keit,  daß,  wäre  er  anstatt  Fritz  Jacobis  in  jenen  Tagen  bei  Goethe 
gewesen,  Goethe  auch  die  »Freuden«' anders  aufgenommen  haben 
würde:  die  Form  der  Goetheschen  Abwehr  wäre  wahrscheinlich 
eine  andere  geworden;  ihr  eigentlicher  Grund  lag  indessen  tiefer. 
Im  ersten  biographischen  Schema  für  Dichtung  und  Wahrheit  heißt 
es  zu  1775:  »Der  Dichter  verwandelt  das  Leben  in  ein 
Bild;  die  Menge  will  das  Bild  wieder  zu  Stoff  erniedrig 
gen'^.«  Dieser  Satz  ist  dann  in  der  Darstellung  einmal  gegen  die 
kritiklosen  Wertherschwärmer  gerichtet:  »Wie  ich  mich  nun  aber 
dadurch  erleichtert  und  aufgeklärt  fühlte,  die  W^irklichkeit  in  Poesie 
verwandelt  zu  haben,  so  verwirrten  sich  meine  Freunde  daran,  in* 
dem  sie  glaubten,  man  müsse  die  Poesie  in  Wirklichkeit  verwan* 
dein,  einen  solchen  Roman  nachspielen  und  sich  allenfalls  selbst  er* 
schielten  ^.«  Ebenso  stark  aber  richtet  sich  die  Darstellung  gegen 
diejenigen,  die,  wie  Nicolai,  das  Wertherproblem  absolut  nehmen 
und  einer  moralischen  Kritik  unterziehen.  Goethe  beklagt,  daß  ihm 
niemand  über  das  »Büchlein,  wie  es  lag,  etwas  Verbindliches« 
gesagt  hätte^:  er  hätte,  scheint  ihm,  veranlaßt  werden  sollen,  das 
Werk,  an  dem  er  lange  »gesonnen,  um  so  manchen  Elementen  eine 
poetische  Einheit  zu  geben,  wieder  zu  zerrupfen  und  die  Form  zu  zer* 
stören«.  Und  ebenso  trifft  Goethe  auch  mit  dem  direkt  gegen  Nicolai 
gerichteten  Satz  Nicolais  Art,  das  moralische  Problem  aus  dem 
Kunstwerk  selbständig  loszulösen:  »Ohne  Gefühl,  daß  hier  nichts 
zu  vermitteln  sei,  daß  Werthers  Jugendblüte  schon  von  vorn* 
herein  als  vom  tödlichen  Wurm  gestochen  erscheine,  läßt 
der  Verfasser  meine  Behandlung  »bis  zum  verbesserten  Schluß  . . . 
gelten«  und  dann  Werther  in  die  Behandlung  des  »einsichtigen 
psychischen  Arztes  sich  begeben«.  Von  hier  aus  erhalten  dann  auch 
die  Invektiven  des  Prosadialogs  ^  erhöhten  Wert.  »Ich  kann  leiden,« 

'  Merck  an  Nicolai  28.  VI.  75. 

'  Weim.Ausg.26,357. 

••'  Weim.  Ausg.  28.225.  ' 

'  Weim.  Ausg.  28.  231. 

'  Werther  klagt  darin,  daß  »die  Leute,  die  unsere  Sachen  zurechtlegen  wollten 

(wie  Nicolai),  ihr  Handwerk  nicht  verstunden«.  Albert  (  =  Nicolai)  habe  es  gut 

gemeint;  »was  kann  man  dafür,  daß  es  die  Leute  gut  meinen?«  Lotte  entgegnet: 

»Es  mag  gut  sein,  nur  sollten  sie  mit  ihrer  hochweisen  Nase  nicht  so  oben  drein 

266 


schrieb  Goethe  an  Salzmann',  »wenn  meine  Freunde  eine  Arbeit 
von  mir  zu  Feuer  verdammen,  umgegossen  oder  verbrannt  zu  wer* 
den;  aber  sie  sollen  mir  keine  Worte  rücken,  keine  Buchstaben  ver* 
setzen;«  er  hasse  »alle  Spezialkritik  von  Stellen  und  Worten«;  ein 
Kopf,  aus  dem  das  Werk  kam,  sei  ein  Ganzes  und  »konsistent  in 
sich«.  —  Die  Goetheschen  Worte  aus  Dichtung  und  Wahrheit  zielen 
aber  aueh  auf  den  zweiten  von  uns  erkannten  Gegensatz  der  An* 
schauungsweisen:  Nicolais  untragische,  das  Wertherproblem  ledig* 
lieh  sozial  und  moralisch  beziehende,  nicht  individuell*schicksal* 
hafte  Auffassung  wird  hier  von  Goethe  abgelehnt;  gerade  das 
Schicksalhafte  in  diesem  Sinn  hat  Goethe  in  der  Umarbeitung  der 
»Leiden«  von  1785  ja  noch  verstärkt. 

Wir  finden  diese  Goethesche  Ablehnung  der  Freuden  in  verän* 
derter  Form,  aber  mit  derselben  Richtung  auch  in  den  »Briefen  über 
die  Moralität  der  Leiden  . . .«  von  Lenz".  Im  vierten  der  Briefe  nennt 
er  die  Nicolaische  Parodie  eine  »Schande  seines  Kopfes  und  Her* 
zens«,  sie  sei  witzlos,  platt,  »so  hergestottert  für  eine  Pasquinade«; 
er  zielt  aber  auch  tiefer.  »Die  Scheidungen  Werthers  und  Lottens« 
seien  »so  wenig  in  ihren  Charakter  hineingedacht«,. Nicolai  habe 
die  ganze  Geschichte  so  durcheinandergezettelt,  »daß  das  hinterste 
zu  vorderst«  stünde,  »wodurch  die  Seele  der  ganzen  Rührung  her* 
ausgezogen«.  Habe  Nicolai  nicht  die  Hindernisse  bedacht,  die  sich 
»gleich  anfangs  der  Verbindung  Werthers  und  Lottens  entgegen* 
stellten«,  und  »wie  tief  und  unveränderlich  unvermeidlich 
Werther  das  empfinden  mußte,  um  Werther  zu  werden«?  Werther 
wurde  gerade  durch  »die  heilige  moralische  Empfindung«  der  Un* 
verletzlichkeit  der  Ehe  getrieben.Werther,  formuliert  Lenz  im  achten 

sehen.  Das  gestehe  ich  Dir  gern,  ich  kannte  Alberten  immer  als  einen  edlen  ru* 
higen  und  doch  warmen  Mann,  aber  seit  pagina  23  (nämlich  der  »Freuden«,  wie 
Zoeppritz  meint,  wo  der  verbesserte  Schluß  anfängt)  ist  er  mir  unerträglich.« 
-»Erst  mußt  ich  lachen,  wie  er  von  der  ganzen  Sache  gar  nichts  begreifen,  nicht 
die  mindeste  Ahnung  von  dem  gehabt  hatte,  was  in  Deinem  und  meinem  Her= 
zen  vorging.  Hernach  verdroß  michs,  was  er  sich  den  Bauch  streicht  und  tut, 
als  wenn  er  im  März  gesehen  hätte,  daß  es  Sommer  werden  würde.« 
'  6.  III.73=DjgG.III.32. 

-  Lenz'  Stellung  zu  Werthers  Leiden  und  zum  Wertherproblem  der  Zeit  habe  ich 
zum  Gegenstand  einer  Abhandlung  gemacht,  auf  die  hier  hingewiesen  sei: 
»J.  M.  R.  Lenz  u.  Goethes  Werther«. 

267 


der  Briefe,  ist  »ein  gekreuzigter  Prometheus«;  es  ist  der  zuge* 
spitzteste  Ausdruck  der  Nicolai  gegensätzlichen  Wertherauffassung. 
Gegenüber  solcher  Ablehnung  und  Begründu^  —  die  Nicolai 
nicht  bekannt  und  deren  er  selbst  sich  nicht  bewußt  wurde  —  be* 
deutet  es  wenig,  was  die  übrigen  Genossen  des  Sturms  und  Drangs 
zu  diesem  Gegensatz  äußerten.  Allenfalls  traf  noch  Heinr.  Leop. 
Wagner  in  »Prometheus,  Deukalion  und  seine  Rezensenten«  mit 
dem  gegen  Nicolai  gerichteten  Spottvers: 

»Das  ist  nun  so  mein  Element 
Zu  baun  auf  fremdes  Fundament« 

—  der  sich  freilich  ebensosehr  auf  die  Anknüpfung  des  »Sebaldus 
Nothanker«  an  die  Thümmelsche  Wilhelmine  beziehen  konnte  — 
auf  jenen  von  uns  hervorgehobenen  Punkt.  Die  übrigen  Äußerun- 
gen sind  zornige  Worte.  Voß  nennt  die  »Freuden«  ein  »dummes, 
heimtückisches  Geschwätz« \  Bürger  urteilt^:  »Mit  seinen  Freuden 
des  jungen  Werther  hat  sich  Nicolai  wirklich  schlecht  verantwortet. 
Daß  doch  so  viele  Leute  das  Ding  (den  Goetheschen  Werther) 
vom  falschen  Standpunkt  aus  betrachten  und  ist  doch  nur  ein  ein* 
ziger,  auf  welchen  jeder  Vernünftige  blindlings  zu  stehen  kommen 
müßte  . . .«.  Schubarts  Rezension  der  »Freuden« ^  die  mit  der  Auf* 
forderung  schließt:  »Nunter  mit  dem  Quark  in  Entengraben!«, 
wendet  sich  gegen  den  goldenen  Mittelweg,  die  Kompromißhaftig* 
keit  Nicolais;  es  wäre  so,  meint  Schubart,  als  ob  »ein  griechischer 
Süßling  zum  Scopas  gekommen  wäre  und  gesagt  hätte:  gib  deinem 
Laokoon  ein  Alltagsgesicht« ;  so  möchte  Nicolai  aus  Werther  einen 
guten  Jungen,  ein  »französisches  Milchgesicht«  machen,  aus  Albert 
einen  »Hasenfuß«.  Man  wird  nicht  behaupten  können,  daß  diese 
Schubartschen  Anwürfe  Nicolai  eigentlich  treffen.  Von  wem  die 
grobe  anonyme  Zuschrift  stammt,  die  ich  in  Nicolais  Nachlaß  fand, 
konnte  ich  nicht  ermitteln*.  —  Allerdings  hatte  Nicolai  dazu  bei* 

'  An  Ernestine  9.  III.  75.  Über  die  Aufnahme  der  Leiden  und  Freuden  im  Kreise 
des  Hainbundes  vgl.  die  Briefe  des  jüngeren  Boie  bei  H.  Uhde,  »In  Göttingen 
vor  100  Jahren«  ==^  Im  Neuen  Reich  1875,  S.  290f.;  über  Nicolais  Freuden:  »bei 
aller  Hochachtung,  die  der  Verf.  für  Goethe  bezeugt,  sieht  man  doch,  daß  er  ihm 
gern  eins  versetzen  will«. 

-  Bürger  an  Boie  31.  VI.  75  =  Briefw.  ed.  Strodtmann  I,  238. 
-'  Deutsche  Chronik  16.  III. 75. 

*  Diese  Zuschrift  —  bei  Nicolai  am  29.1.75  eingegangen  —  verfährt  sehr  grob 

268 


getragen,  daß  der  Streit  um  seinen  Werther,  der  in  Wagners  »Pro* 
metheus  .  .  .«  und  Hottingers  »Menschen,  Thiere  und  Goethe«^ 
fortgesetzt  wurde  —  um  von  anderen  wenig  belangreichen  Äuße« 
rungen  zu  schweigen  —  ein  Streit  zwischen  aher  und  junger  Gene* 
ration  wurde.  Die  Antagonisten  der  Leiden  hatte  er  in  den  Freu* 
den  zu  Vertretern  zweier  gegensätzlicher  Weltanschauungen  ge* 
macht  und  durch  den  absichtlich  hervorgekehrten  Altersunterschied 
der  beiden  Personen  des  Gesprächs  —  des  42jährigen  Martin  und 
des  21jährigen  Hans  —  diese  Gegensätzlichkeit  zu  einer  solchen 
der  Generationen  gestempelt;  und  es  ist  nicht  verwunderlich,  daß 
die  Jungen  der  Bekehrung  der  Jugend  zu  den  Grundsätzen  des 
Alters,  die  seine  Freuden  demnach  zu  predigen  schienen,  ein  trotziges 
Nein  entgegensetzten.  Nicolai  stand  dieser  Ablehnung  und  Feind* 
Schaft  verständnislos  gegenüber;  er  begriff  nicht,  daß  Goethe  —  wie 
ihn  Freunde  versicherten^  —  auf  ihn  »schimpfe«^;  so  hielt  er  die 

mit  Nicolai: ». . .  's  soll  ein  Buchführer  seyn,  ders  gemacht  hat.  Trägt  großen  Ab» 
scheu  fürs  Todtschiessen,  ist  fürs  Cedieren;  muß  nie  seyn  verliebt  gewesen,  ver= 
zerrt  dem  armen  Werther  seine  schönste  Stellen. . . .  Ist  sehr  fürs  hohe  Moralische: 
hat  aber  keinen  Sinn  dafür  . . .«  Dazu  ein  Gedicht  »Fabian  und  Werthers  Geist«^ 
(Fabian  =  Nicolai);  Werther  habe  ein  Wespennest  erregt,  »freche  Tat«,  »frecher 
Critikast«.  Nicolais  Schriften  seien  ein  »Mittelding  von  Wasser  und  Bombast«. 
'  Nicolai  an  Merck  8.  X.  75  =  Wagner  1,76:  »Ein  fliegendes  Blatt:  Menschen, 
Thiere  und  Göthe  hat  mir,  ich  will  es  nicht  läugnen,  gefallen,  weil  es  voll  Geist  ist, 
u.  auch  weil  es  mich  verteidigt.  Ich  versichere  Sie  aber  bei  meiner  Ehre,  daß  ich 
den  Verf.  nicht  kenne,  daß  ich  es  auf  keine  Weise  .  .  veranlaßt  habe,  daß  ich  noch 
nicht  weiß,  was  den  Verf.  dazu  mag  veranlaßt  haben,  der  mir  ganz  unbekannt 
ist.«  Ähnlich  an  Höpfner  17.  VIII.  75  (hs.  im  Hochstift).  In  der  Allg.  Dtsch.  Bi= 
bliothek  Anh.  z.  25.;37.  Bd.,  S.  771,  besprach  Nicolai  dann  verspätet  diese  Hot« 
tingersche  Satire;  da  »der  alte  Streit  schon  völlig  vergessen«,  solle  er  durch  diese 
Rezension  nicht  aufgeweckt  werden ;  er  wolle  nur  auf  denVerf.  hinweisen,  der  »die 
trefflichste  Anlage  zur  Satire  habe«.  Er  druckt  dann  den  Epilog  daraus  ab  und  hebt 
in  Sperrdruck  den  Satz  daraus  hervor:  »Schnakscher  Einfall  ist  nicht  Wider; 
legung«.  —  Im  Nicolaischen  Nachlaß  befinden  sich  zwei  Briefe  Hottingers  an 
Nicolai  aus  den  Jahren  1776  und  1781.  Nicolai  hat  ihn  wohl  zur  Teilnahme 
an  der  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  aufgefordert,  doch  scheint  nichts  daraus  geworden 
zu  sein. 

'  Höpfner  27.  IX.  75;  Merck  28.  VI.  75;  Höpfner  an  Nicolai  16.  XII.  78  NN.  vgl. 
Nicolai  an  Höpfner  17.  VIII.  75,  hs.  im  Hochstift.  Nicolai  an  Merck  8.  X.  75: 
»man  meldet  mir  Wunderdinge  von  seinem  Zorn  wider  mich  .  .«. 
■  Vgl.  seine  Besprechung  von  v.  Bretschneiders  bekannter  Werther^Moritat,  Allg. 
Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  772;  der  Verf  der  Leiden  könne  sie  so 

269 


Jungen  für  händelsüchtige  Burschen,  die  einen  ehrUchen  Mann  »im 
Übermute  ihres  Mutes«  anfielen.  Er  mußte  darin  bestärkt  werden 
durch  die  überaus  gute  Aufnahme  seiner  »Freuden«  bei  der  gesam* 
ten  Kritik  und  durch  die  lobende,  die  Tendenz  seiner  Freuden  unter* 
streichende  Zustimmung  zahlreicher  Männer  seiner  Generation; 
einige  dieser  Stimmen  haben  wir  schon  oben  angeführt.  Hier  seien 
noch  einige  erwähnt.  Sophie  v.  La  Roche,  die  Verfasserin  des  »weib« 
liehen  Werther«,  wie  man  ihre  Sternheim  genannt  hat,  sagte  ihm  ihren 
freundschaftlichen  Dank  für  die  »Freuden« ;  Werthers  Leiden  hätten 
diese  Wirkung  hervorbringen  müssen;  sie  liebe  »eine  edle  Seele«  — 
dies  geht  auf  den  Verfasser  der  »Freuden«  —  mehr,  als  den  größten 
Geist.  Justus  Moser  meinte,  er  an  Goethes  Stelle  würde  Nicolai  für 
seinen  besten  Freund  halten;  die  Freuden  sollten  jeder  neuen  Aus« 
gäbe  der  Leiden  angebunden  werden. Und  Petersen  sagt^,  er  habe  eine 
solche  Schrift  wie  die  Freuden  gewünscht,  da  Goethe  »der  von  allen 
Orten  zu  ihm  aufsteigende  Weihrauch«  gefährlich  werden  könne-. 
Das  Gefühl,  Goethe  und  seine  Genossen  hätten  ihm  Unrecht 
getan,  hat  auf  Nicolai  auch  während  der  folgenden  Zeit  gelastet. 
Indessen  hat  es  den  Kritiker  Nicolai  nicht  beeinflußt.  Allerdings 
ist  das  literarische  Verhältnis  Nicolais  zu  Goethe  nach  dem  Werther* 
streit  ein  wenig  beziehungsreiches  Kapitel,  in  dem  nur  untergeord* 
nete  Gesichtspunkte  hervortreten.  Bemerkenswert  ist  zunächst, 
daß  Nicolai  »Prometheus  Deukalion  und  seine  Rezensenten« 
für  ein  Werk  Goethes  hielt,  und  sich  trotz  Goethes  öffentlicher 
Erklärung  in  den  Frankf.  Gel.  Anz.  (v.  9.  IV.  75)  nicht  von  Wag» 
ners  Verfasserschaft  überzeugen  mochte^;  ähnlich  hat  er  bei  der 

wenig  übelnehmen,  »wie  der  triumphierende  Imperator  die  Spottgesänge  seiner 
Soldaten,  die  nichtsdestoweniger  ihr  Leben  für  ihn  einsetzen«. 
'  5.  111.  75  NN.  =  Grenzboten  1911  S.  559. 

-  Eine  Zustimmung  Lessings  hat  Nicolai  nicht  erhalten,  oder  sie  ist  uns  verloren 
gegangen.  Vgl.  Lessing  an  Wieland  8.  II.  75,  »der  Kerl  ist  ein  Genie  usw.  sagt  Ni; 
colai  sehr  gut  in  seinem  wo  nicht  besseren,  doch  klügeren  Werther«.  Bemerkens« 
wert  ist,  daß  Lessing  Goezes  donnernde  Philippika  gegen  den  Werther  zu  Beginn 
seines  5.  AntisGoeze  parodiert  hat.  In  Lessings  und  Nicolais  Stellung  z.  Werther? 
streit  wiederholt  sich  also  die  Haltung,  die  sie  einst  gegen  Schönaichs  und  Reicheis 
Angriffe  eingenommen  hatten :  Lessing  hatte  die  Angriffe  der  beiden  (in  der  Bods 
merias,  in  den  Anhängen  z.  Neolog.  Wörterb.  und  im  Nüßchen)  stillschweigend 
übergangen,  Nicolai  hatte  sie  (im  zehnten  s.  Briefe  üb.d.itz.Zust.)  derb  abgelehnt. 
'  Nicolais  Randbemerkung  zu  Petersens  Brief  vom  5.  III.  75  NN.  »Hr.  Göthe  ist 

270 


minderwertigen  Schnurre  »Wieland  und  seine  Abonnenten« 
(von  Contius)  auf  Goethes  Verfasserschaft  geratend  Der  Strei* 
tigkeiten  ungeachtet,  wünscht  er  durch  Mercks  Vermittlung^ 
Goethens  Zustimmung,  sein  Bild  vor  einen  Band  der  Allge* 
meinen  Deutschen  Bibliothek  zu  setzen.  Seine  Hochschätzung  des 
Goetheschen  Genius  mindert  sich  nicht,  doch  meint  er,  »sein 
System  von  Anspannung«  werde  ihn  alsbald  »aus  der  Erfah* 
rung  bemerken  lassen,  was  Werther  nicht  begreifen  konnte,  daß 
Überspannung  Erschlaffung  ist«\  Bald  glaubt  er  diesen  Satz 
in  den   folgenden   Goetheschen   Produktionen,  in  Clavigo*  und 

darüber  (über  die  »Freuden«)  sehr  böse  geworden,  wie  auch  sein  Prometheus 
zeigt.«  Höpfner  an  Nicolai  24.  III.  75  NN.:  »Die  Farce  übrigens  Deukalion  des= 
avouiert  er  (Goethe)  schlechterdings.«  Bei  einem  Besuch  bei  Weifk  machte  Nis 
colai  diesen  aber  dahin  zuversichtlich,  daß  Goethe  der  Verfasser  der  Farce  sei 
(Briefe  aus  Ch.  F.Weißes  Nachlal^,  Schnorrs  Archiv  9,487,  Anm.2);  und  an  ]. 
G.Zimmermann  schreibt  Nie.  15. IV. 75  =  Ed.Bodemann,S.303ff.»Ober(Goethe) 
gleich  den  Prometheus  so  gewiß  gemacht  hat,  als  ich  den  Sebaldus  Nothanker . . .« 
(daselbst  übrigens:  Nicolai  halte  sich  für  zu  gut,  um  darauf  zu  antworten).  Nu 
colais  »Beweis«  war,  daß  Goethe,  wie  v.  Bretschneider  Nicolai  16.  X.  75  NN.  mit= 
geteilt  hat,  dem  Formenschneider  Dannheuser  die  Aufträge  für  die  Holzschnitte 
im  Prometheus  gegeben  haben  sollte,  worauf  auch  Nicolais  Rezension  des  Pro; 
metheus  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  26, 1.  206  anspielt.  Außerdem  traute  Nicolai  H. 
L.Wagner,  der  ihm  nur  als  Verfasser  der  »elenden«  »Confiskablen  Erzählungen« 
bekannt  war,  dies  »drollige  Pasquillchen«  nicht  zu. 

'  Vgl.  Weiße  an  Blankenburg  20.  V.75  ==  Jak.  Minor,  Briefe  aus  Weißes  Nachlal^ 
Schnorrs  Archiv  9,488.  Über  dies  Pasquill  und  s.  Verf.  vgl.  Erich  Schmidt,  Sati= 
risches  a.  d.  Geniezeit,  Schnorrs  Archiv  9,  453  ff.  Über  ein  Pasquill  »Ourang 
Outang,  von  einem  vertrauten  Freunde  des  Herrn  G.  .  .«,  das  Hambg.  Neue  Zei= 
tungen  Nr.  204  angekündigt  wurde,  aber  nicht  erschien,  Nicolai  an  MerckS.X.  75 
=  Wagner  I,  S.  77. 

-  Nicolai  an  Merck  8.  X.  75  =  Wagner  I,  S.77,  »wenn  ich  gewiß  wäre,  daß  Goethe 
es  nicht  für  Schmeichelei  und  Andringlichkeit  annehmen  wollte«. 
'  An  Höpfner  17.  VIII.  75,  hs.  im  Hochstift,  Frankfurt.  Vgl.  Nicolai  an  Höpfner 
10.X.75  ebenda. 

*  Eschenburgs  Rezension  des  Clavigo  (Allg.  Dtsch.  Bibliothek  27,  2,  361  ff.)  findet, 
daß  der  »Mangel  absichtsvoller  Zusammenfügung  und  Verkettung  des  Ganzen« 
noch  stärker  als  im  Götz  (!)  hervortritt;  er  tadelt  den  Dialog.  —  Kästner  be  = 
richtet  über  eine  Clavigoaufführung,  der  er  beigewohnt  hatte  (Empfangsnotiz 
Nicolais:  9.  III.  77  NN.):  ein  vor  ihm  stehender  Mann  habe  sich  das  Gesicht  ge; 
wischt,  als  Marie  tot  war;  »ich  fragte  ihn,  ob  es  Thränen  oder  Schweiß  wäre? 
Es  war  aber  nur  das  letzte!«  Dazu  bemerkt  Nicolai  am  Rande:  »Vortrefflich!  So 
gehts  auch  manchem,  der  die  neuen  Trauerspiele  liesel.«  Ein  Urteil  Nicolais 

271 


Stella  \  wie  in  Erwin  und  Elmire  bestätigt  zu  sehen.  —  Petersen  hat 
ihm  gemeldet^,  daß  Goethe  »an  einem  neuen  Schauspiel  Dr.  Faust« 
arbeite ;  von  anderer  Seite  hört  er,  daß  er  darin  eine  Rolle  spielen  solle 

—  was  freilich  erst  in  der  »Klassischen  Walpurgisnacht«  Ereignis 
wurde  — ;  darauf  schreibt  er  an  Zimmermann^:  »Man  droht  von 
Frankfurt  aus  . . .  daß  Goethe  mich  in  seinem  Doktor  Faust  wie  ich 
leibte  und  lebte  aufstellen  wollte.  Auch  das  wird  mich  gar  nicht  aus 
der  Fassung  bringen,  sondern,  wenn  die  Komödie  aufgeführt  wird, 
setze  ich  mich  vornan.  Ich  traue  mich,  mich  neben  jedes  Bild  zu  stellen, 
das  man  von  mir  macht,  es  gleiche  mir  nun  oder  nicht.«  Immer  wieder 
stellt  Nicolai  es  so  dar,  als  ob  Goethe  ihn  hasse  und  alles  mögliche 
gegen  ihn  in  Szene  setze;  er  ist  natürlich  überzeugt,  daß  Goethe  in 
seinem  Streit  mit  Wieland  dessen  »Partei«  nehme,  »ob  er  ihm  gleich 
sonst  äußerst  verächtlich  begegnet«*.  Nicht  ohne  Bitterkeit  sieht 

über  den  Clavigo  ist  mir  nicht  bekannt  geworden;  bei  Gelegenheit  seiner  Re= 
zension  der  »Bayerischen  Beiträge  z.  schön,  u.  nützlichen  Literatur«  1779  80,  die 
Nicolai  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  44, 2, 575  ff.  bespricht,  geht  er  auf  die  Clavigo^ 
rezension  darin  nicht  ein.  Seine  Rezension  der  Himburgischen  Ausgabe  von 
Goethes  Schriften  (1777)  (Allg.  Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25. '36.  Bd.,  S.  754)  ist 
nur  Titelaufzählung,  mit  Protest  gegen  den  Nachdrucker  Himburg. 
'  Bei  Stella  hätte  er  sich  »einen  anderen  Ausgang  vorgestellt,  nämlich  dal^  die 
beiden  Weiber  den  Schurken  Fernando,  der  sie  ohne  Ursache  verlassen  hat  und 
gewiii  nächstens  wieder  verlassen  wird,  beide  würden  verabschiedet  haben«.  (!) 
»Beim  Grafen  von  Gleichen  war  die  Sache  ganz  anders  motiviert.  Doch,  ob  ich 
gleich  verliebt  gewesen  bin  . .  so  mag  vielleicht  ein  , Lieben  der' ein  ganz  anderes 
Ding,  und  das  Schauspiel  nicht  für  mich  geschrieben  sein.«  Goethes  Leistungen 
schienen  zurückzugehen:  »Erwin  (u.  Elmire)  und  Stella  sind  schon  Stufen  her= 
nieder,  nicht  herauf«.  (An  Merck  28.  XII.  75;  vgl.  Schubarts  Urteil  über  den  Cla= 
vigo,  Goethes  Genie  se'i  »auf  Brennesseln  eingeschlafen«,  ähnlich  auch  Wieland 
15.  VIII.  74  an  F.  Jacobi.)  »Ein  Schauspiel  von  Göthe:  , Stella  oder  die  zwei  Lie; 
benden',  welches  jetzt  hier  gedruckt  wird,  könnte  sonderbare  Beispiele  von  über; 
spannter  Empfindsamkeit  darbieten.«  (Konzept  an  Marcard  10.  XI.  75  NN.) 
Nicolais  Rezension  des  »Theaters  der  Deutschen«,  Königsberg  1776,  dessen  16. 
und  17.  Teil  von  Goethe  »Stella«  und  »Erwin  und  Elmire«  enthielten,  ist  blol>e 
Titelaufzählung  (Allg.  Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  3202,3). 

-  An  Nicolai  6.XI.74  =  Grenzboten  558.  Dazu  vgl.  Petersens  Brief  vom  30.1. 78: 
»Göthe  hat  das  Mspt.  von  s.  Doktor  Faust  seiner  Mutter  in  Frankfurt  geschickt, 
die  es,  wie  ein  Heiligtum,  verwahret.  Einige  GöthesFreunde,  die  zu  Frankfurt 
darin  geblättert  haben,  können  verschiedene  Sachen  darin  nicht  genug  preisen.« 
'  15.  IV.  75  =  Bodemann  S.  303  ff. 

*  An  Höpfner  6.  V.79  =  Wagner  III,  162. 

272 


Nicolai  sich  nun  von  Weimar  ausgeschlossen;  zu  einem  Brief  von 
W.  H.  Buchholz  aus  Weimar*  setzt  er  am  Rand  hinzu:  »Ich  wäre 
wohl  sehr  begierig,  alle  diese  Herrlichkeiten  zu  sehen,  aber  ich  bin 
ja  nun  in  Weimar  exkommuniziert.  Vale,  optime!«  Die  zahlreichen 
Anekdoten,  die  über  die  erste  Weimarer  Zeit  Goethes  Nicolai  zu* 
getragen  und  von  ihm  w^eitergegeben  werden,  ersparen  wir  uns  auf» 
zuzeichnen.  Auch  die  wenig  bemerkenswerten,  übrigens  sehr  spar* 
liehen  Subjektivismen  Nicolais  über  die  Goethesche  Produktion  der 
folgenden  beiden  Jahrzehnte  können  wir  übergehen.  Wichtiger  er* 
scheint  uns  Nicolais  Stellungnahme  zum  Wilhelm  Meister,  schon 
deshalb,  weil  sie  im  Zusammenhang  mit  seiner  Wertherkritik  steht 
und  uns  einen  zusammenfassenden  Rückblick  auf  sie  gestattet. 

In  dem  kritischen  Feldzug  gegen  Kant  und  die  Kantianer,  den 
Nicolai  später  in  den  »Philosophischen  Abhandlungen«^,  der  Vor* 
rede  zu  den  »Gesprächen  Christian  Wolffs  mit  einem  Kantianer«, 
und  den  beiden  Romanen  »Geschichte  eines  dicken  Mannes«  und 
»Sempronius  Gundibert«,  unternahm,  richtet  er  sich  weniger  gegen 
das  Kantische  Lehrgebäude  und  dessen  theoretische  Grundlegung, 
als  gegen  die  Kantische  Ethik,  und  hier  wiederum  besonders  auf 
die  Frage  der  Kollision  der  Pflichten;  er  übt  am  kategorischen  Im* 
perativ  eine  durchaus  soziologische  Kritik  und  stellt  den  jungen 
Gecken  Kantischer  Schule  in  den  beiden  Romanen  die  Bewährung 
in  und  für  das  Leben  der  Gesellschaft  als  Aufgabe,  an  der  sie  auf 
Grund  ihrer  Prinzipien  scheitern.  Auch  das  junge  »Genie«  der  spä* 
teren  »Vertrauten  Briefe«,  Gustav,  der  Kantianer,  Romantiker  und 
»Goetheaner«  ist,  scheitert  zunächst  an  dieser  Aufgabe.  Als  er  von 
Adelheid  zur  Annahme  eines  Amtes  überredet  wird,  schimpft  er 
'  25. 111.76  NN.  Buchholz  berichtet  von  der  ausgezeichneten  Aufnahme  Goethes 
durch  »Serenissimo«,  seiner  Aussöhnung  mit  Wieland  und  den  geselligen  Freu= 
den,  besonders  dem  Liebhabertheater.  Über  Goethes  erste  Zeit  in  Weimar  untere 
richtet  ihn  auch  Höpfner  24.  XII.  75  NN.;  Petersen  hatte  Nicolai  Goethes  Be= 
rufung  nach  Weimar,  20.x.  75,  mitgeteilt.  Über  den  Herzog  Karl  August,  den  Ni= 
colai  als  Erbprinzen  kennen  gelernt,  urteilte  Nicolai  (an  Ramler  19.  VI.  73  = 
Beil.  Z.Voss.  Ztg.  1893,  Nr.  590):  »Der  Erbprinz  ist  von  der  Literatur  sehr  unter* 
richtet  und  hat  für  alles,  was  deutsch  ist,  viel  guten  Willen.«  Vgl.  im  übrigen  zu 
Nicolais  Besuch  in  Weimar  im  jähre  1773:  Ed.Berend,  Ztschrf.  f.  Bücherfreunde 
N.F.2  (1910),  1  ff. 

■  Darunter  besonders  bezeichnend:  »Ob  Kants  Moralprinzip  bei  der  Ausübung 
in  allen  Fällen  hinreichend?« 

IS  Sommerfeld  ,  Friedrich  Nicolai  273 


auf  die  hommes  d'affaires  mit  Wendungen,  die  »aus  Wertheis 
Leiden  gestohlen«  sind;  und  i\delheid  muß  ihm  von  Nicolai 
ausrichten:  Goethe  habe  Recht  gehabt,  Werther  so  sprechen  zu 
lassen,  aber  darum  habe  W^erther  noch  nicht  Recht;  W^erther  als 
Charakter  eines  Romans  sei  höchst  vortrefflich;  Werther  im  Leben 
sei  ein  Narr\  Aber  Gustav  hat  noch  andere  Vorbilder  als  W^erther : 
nach  romantischen  Grundsätzen  gebildet,  verehrt  er  den  Wilhelm 
Meister^.  Doch  Nicolai  urteilt:  »der  arme  Meister  hat  in  seinen 
Lehrjahren  nichts  gelernt,  als  sich  von  jedem  Geschöpfe  regieren 
zu  lassen,  das  er  antraf«,  von  dem  »unerklärlichen  Jarno«,  von  dem 
»geheimnisvollen  Abbe«,  »von  der  possierlichen  unbekannten  Ge* 
Seilschaft,  die  den  Burschen  soll  haben  erziehen  wollen«.  »Eigent- 
lich ist  Meister  gar  kein  Charakter,  sondern  ein  nicht  handelndes 
Schlenderwesen,  das  nebenher  mit  jeder  weißen  Schürze  liebelt  \« 

'  In  einer  Anmerkung  hierzu  beruft  Nicolai  sich  natürhch  auf  Lessing,  der  eben; 
falls  die  poetische  von  der  moralischen  Schönheit  getrennt  habe.  (\'ertr.  Briefe 
S.  209.) 

^  Die  literarische  Stellung  der  Romantiker  zu  Goethe  —  wie  zu  Herder  s.  o  S.  209 
—  hat  Nicolai  erkannt,  und  an  ihrem  -»wunderlichen  Geschwätz  über  Goethe«- 
(»Ich  dächte,  Goethen  selbst  müfke  dies  kriechende  Lobhudeln  zuwider  sein«) 
Anstoß  genommen.  (Vertr.  Briefe  S.  85.)  Wenn  Goethe  sich  mit  solchen  Apolo^ 
getan  umgebe,  erkläre  es  sich,  daß  er  »sich  zu  vernachlässigen  beginne«,  wobei 
Nicolai  auf  Reineke  Fuchs  und  den  Großkophta  hinweist.  Zu  Friedrich  Schlegels 
bekanntem  Satz  von  den  »drei  größten  Tendenzen  des  Zeitalters«  (Athenäum  II, 
56)  meint  Nicolai:  »in  Frankreich,  England  und  Aegypten  wird  der  Wilhelm 
Meister  wohl  nicht  gelesen  werden«;  Friedrich  der  Große,  die  Amerikanische 
Republik  und  —  die  Kartoffeln  wären  wohl  ganz  andere  Tendenzen  als  die 
Fichtesche  Wissenschaftslehre  und  der  Meister.  —  Über  Fr.  Schlegel  im  Zusammen; 
hang  mit  der  MeistersKritik  äulkrt  sich  Nicolai  auch  in  seinem  Briet  an  v.  Halem 
vom  21.  VI.  97  =  C.  F.  Strackerjan,  G.  v.  Halems  Selbstbiographie  nebst  e.  Samm; 
lung  von  Briefen  an  ihn.  Oldenburg  1840,  II,  193.  Ebenda  auch  über  die  Hamlet^ 
interpretation  des  Goetheschen  Meister,  und  über  die  Komposition  des  Romans. 
Bemerkenswert  der  Nicolaische  Einwurf,  daß  die  Hamlet=Anmerkungen  nicht 
von  Meister,  sondern  von  Goethe  sind:  wären  sie  von  Meister,  so  hätte  er  sich 
schon  gebildet  und  für  seine  Ausbildung  vom  Theater  nichts  mehr  zu  erhoffen  ; 
die  Verlegung  in  die  Theatersphäre  wäre  also  unnotwendig.  Im  bespöttelten 
»Bureau  d'esprit«  der  Frau  v.  C. .  .  in  den  »Vertrauten  Briefen«  liest  man  außer 
dem  Wilh.  Meister  -  Schillers  Räuber!  (Vertr.  Br.  S.  66.) 

'  »Wäre  der  Harfner  nicht  da,  und  Mignon,  diese  beide  so  neue  und  interessante 
Charaktere«,  fährt  Nicolai  fort  (Vertr.  Br.  S.  87),  »und  allenfalls  die  zweideutige 
lustige  Philine,  nebst  den  vortrefflichen  Gedichten,  was  wären  Meisters  Lehr; 

274 


An  diesem  Roman,  dessen  Kernproblem  die  Bildung  des  Indivi* 
duums  an  der  Gesellschaft  ist,  tadelt  Nicolai  also,  daß  Wilhelm 
Meister  sich  an  die  Welt,  an  die  Gesellschaft  verliert.  Dabei  hat 
Nicolai  den  Standpunkt,  den  er  dem  Werther  gegenüber  einnahm, 
keineswegs  aufgegeben:  »ohne  Anhänglichkeit  an  Menschen  aller 
Art  kann  die  Bildung  eines  jungen  Mannes  durch  die  Gesellschaft 
nicht  vollendet  werden«,  heißt  es  auch  hier  in  den  »Vertrauten  Brie* 
fen«  (S.  122).  Werther  —  nach  Nicolais  Auffassung  —  isoliert  sich 
in  anarchischem  Individualismus,  er  muß  scheitern  auch  ohne  das 
Individuell*Schicksalhafte,  unter  dem  er  steht;  Wilhelm  Meister 
zerflattert  in  der  Gesellschaft,  und  er  kann  sein  Ziel  nicht  erreichen 
trotz  der  geheimnisvollen  Gesellschaft,  die  sein  Schicksal  zu  be* 
stimmen  scheint.  Die  Einstellung  der  Nicolaischen  Auffassung  ist 
in  beiden  Fällen,  zu  dem  romantischen  Werther  und  zu  dem,  von 
einer  anderen  Seite  her  romantischen  Meister,  dieselbe;  ein  Beweis 
für  sein  einheitliches  Reagieren  gegenüber  der  romantischen  Ge? 
samtbewegung.  — 

Das  Verhältnis  Nicolais  zu  den  Genossen  Goethes  bietet  wenig 
bemerkenswerte  Gesichtspunkte  für  die  Klärung  der  allgemeinen 
Gegensätze.  Im  »Eloge  de  feu  .  ,  .«^  wird  ergötzlich  übertreibend 
geschildert,  wie  sich  der  »Geniekerl«  in  den  Köpfen  der  Gegner 
ausnimmt: 

»Ein  Ungeheur  mit  funkelnd  hohlem  Munde, 
mit  mehr  als  einem  bösen  Geist  im  Bunde, 
ein  wilder  Gems,  der  immer  hopsa  springt.« 
Ganz  so  faßte  Nicolai  die  Klinger,  Wagner,  Lenz  usw.  nun  nicht 
auf.  Im  Gegenteil  sah  er  sie  eher  als  »leichte,  luftige  Kerlchen«,  wie 
er  Lenz  in    seiner  Wertherparodie  darstellte.  Er  bemerkte  einen 
Widerspruch  darin,  daß  die  sich  als  Originalgenies  fühlten  und 
das  Evangelium  der  Genialität  und  Originalität  verkündeten,  die 
er  —  und  wir  vergegenwärtigten  uns  in  unsrer  Einleitung,  was  dies 
dem  Autodidakten,  dem  Antidogmatiker  und  Antisystematiker  be* 
deuten  mußte  —  als  Trabanten  Goethes  und  als  Shakespeareaner 
betrachtete.  »Die  Leutchen  aus  der  Goetheschen  Schule«,  die»Goe» 

Jahre  an  sich?«  —  Was  Nicolai  im  Anhang  z.  Schillers  Musenalmanach  S.  87  über 
Meister  sagt,  ist  recht  unerfreulich  und  belanglos. 
'  Lenz'  Schriften  ed.  Lewy  II,  92. 

18*  ^  275 


theaner«  —  so  bezeichnete  sie  ihm  HöpfnerV  Höpfner  wußte  ihm 
von  ihrer  Selbstüberschätzung  und  Intoleranz  zu  erzählen:  Goethe, 
Lenz,  Kayser  —  »Halbgötter« ;  »Lessing  ist  nur  allein  in  der  Kom* 
Position  etwas;  sein  Faust  wird  gegen  den  Goetheschen  eine  arm* 
selige  Figur  machen.  Ramler,  ein  kalter  elender  Mensch.  Jerusalem 
(d.  Ä.)  und  Mendelssohn  —  Stupor  vulgi  hos  fecit  philosophos; 
Nicolai  hat  gar  keinen  Verstand«;  und  »die  Goetheaner,  die  ge* 
radezu  alles  für  Ochsen  und  Esel  erklären,  was  nicht  zu  ihrer  Schule 
gehört  oder  ihren  Helden  Goethe  nicht  anbetet«.  Von  Klinger  hörte 
Nicolai',  daß  er  »bald  Opium  nehme,  den  Geist  anzuheitern,  bald 
sich  die  Stube  bis  zum  Zerspringen  des  Ofens  einheizen  lasse,  um 
seine  Imagination  mit  fürchterlichen  Bildern  recht  anzufüllen«.  Klin^ 
ger  gehörte  danach  natürlich  in  die  Gattung  »feuriger  Jünglinge«, 
die  er  in  der  Hamannrezension  (s.  o.  S.  145)  gekennzeichnet  hatte. 
Eine  persönliche  Begegnung  mit  Lenz  mag  dazu  beigetragen 
haben,  daß  Nicolai  die  Jungen  so  sah.  Wie  Nicolai  berichtet^,  hatte 
Lenz,  auf  der  Reise  von  Königsberg  nach  Straßburg,  bei  ihm  vor* 
gesprochen  und  ihm  eine  in  deutschen  Alexandrinern  abgefaßte 
Übersetzung  von  Popes  Essay  on  criticism  angeboten*;  Nicolai 
wollte  ihn,  um  von  ihm  loszukommen,  an  Ramler  empfehlen,  der 
aber  hatte  ihn  an  Nicolai  geschickt!  »Freilich,  daß  der  Mann,  der 
mir  eine  alexandrinische  Übersetzung  des  Essay  on  crit.  so  angst* 
lieh  hatte  empfehlen  wollen^,  ein  halbes  Jahr  nachher  ein  großes 

'  12.\1II.75NN.  und24.IV.76NN. 

'  Petersen  an  Nicolai  22.  VII.  76  NN. 

^  An  d.  Herausgeber  des  »Archivs  der  Zeit«  6.  II.  1796  NN.,  als  Berichtigung  der 

dort  erschienenen  Anekdote  über  Lenz. 

*  Vgl.  hierzu  Lenz  an  Salzmann  28.  \T.  72  ed.  Freye^Stammler  1,25:  »Ich  habe  von 

einem  Schriftsteller  aus  Deutschland  eine  Nachricht  erhalten,  die  ich  nicht  mit 

vielem  Golde  bezahlen  vsrollte.  Er  schreibt  mir,  mein  Verleger,  von  dem  ich,  durch 

ihn,  ein  unreifes  Manuskript  zurück  verlangte,  habe  ihm  gesagt,  es  wäre  schon 

an  mich  abgeschickt.  Noch  sehe  ich  nichts.  Lieber  aber  ist  mir  dies,  als  ob  mir 

Einer  einen  Wechsel  von   1000  Thalern  zurückschickte.«  Auch  Freye^Stammler 

beziehen  dies  auf  die  Popesübersetzung. 

'  Lenz'  unbeholfen*ängstliches,  mehr  als  bescheidenes  Auftreten  bezeugen  Her^ 

der  (an  Hamann  3.  VI.  74),  F.  L.  Stollberg  (an  Gerstenberg,  Goethe^Jahrbuch  X, 

143),  Werthes  (an  Fr.  H.  Jacobi  18.  X.  74  =  Goethe=Jahrbuch  VII,  206) ;  der  letztere 

spricht  von  seinem  »feinen  zugespitzten  Gesichtchen«,  nennt  ihn  »das  jüngere 

Brüderchen  von  Goethe«,  einen  »Shakespearischen  Amor«  ;  vgl.  auch  Luise  König 

276 


Genie  heißen  sollte\  das  über  alle  Regeln  sich  erhübe,  nahm  mich 
Wunder;«  diejenigen, die  den  »naiven«  Lenz  dahin  gebracht  hätten, 
seien  Urheber  »seiner  nachherigen  unglücklichen  Periode«-^.  Für 
Nicolai  blieb  Lenz  das  leichte  luftige  Kerlchen,  als  das  er  ihn, 
den  Werther  in  seinem  Werther,  konterfeit  hat.  »Schimpft  allweil 
auf'n  Batteux«,  heißts  dort  mit  Anspielung  auf  Lenz'  »Anmerkun* 
i;en  übers  Theater«  — ,  »Werther  selbst  konnt's  schier  nicht  besser; 
sonst  könnt  der  Fratz  bei  hundert  Ellen  nicht  an  Werthern  reichen«. 
»Plaudert  viel,  neust  aufgebrachtermaßen  .  .  .  von  historischen 
Schauspielen,  zwanzig  Jährchen  lang«  »jeds  in  drei  Minuten  zu? 
sammengedruckt  w^ie  ein  klein  Teufelchen  im  Pandämonium  (ger* 
manicum)«.    Nicolai   war   über   Lenz'   Arbeiten"*   wie   über   seine 

an  Mad.  Heß  14.  VI.  74  =  Waldmann,  Lenz  in  Briefen  S.  25,  »so  blöde,  so  be  = 
scheiden,  meiner  Tage  hab  ich  keinen  Autor  so  gesehen«.  »Verfasserchen«  apo= 
strophiert  ihn  Eschenburg  A  D  Bibl.  27,  379. 

'  Geht  dies  insbes.  auf  das  Zitat  des  Neuen  Menoza  in  Herders  Aeltester  Ur= 
künde?  Mit  welchem  Hochgefühl  es  Lenz  erfüllte,  beweist  Lenz'  Brief  an  Hers 
der  9.  10.  X.  76  ed.  Freye=Stammler  II.  39. 

^  Im  Kern  dasselbe  enthielt  die  von  v.  B»-etschneider  (21.V.  76  =  Reise  d.  Hrn. 
V.  Bretschn.  . .  usw.  S.274  gedr.)  berichtete  Anekdote,  deren  Wahrheit  sich  nicht 
ganz  nachprüfen  läßt:  Lenz  habe  »mit  gebeugtem  Knie  und  in  der  ehrfurchts= 
vollsten  Stellung«  vor  Frau  La  Roche  um  »Protektion  oder  eine  Gabe«  —  dies 
ist  übertrieben  —  gebettelt  und,  als  er  ein  halb  Jahr  später  in  Weimar  sich  arri= 
viert  geglaubt,  »ganz  cavalierement«  an  sie  geschrieben :  »Madame,  schicken  Sie 
mir  doch  einige  französische  Chansons ;  ich  wünsche  mich  in  den  Abendstunden 
damit  zu  delassieren.« 

'  Nie.  an  Höpfner  17.  VII. 74:  »Lenz  hat  mir  von  Anfang  an  ein  sehr  mittel« 
mäßiger  Kopf  geschienen.  Ich  weiß  nichts  Verfehlteres  und  Schielenderes  als  den 
»Otto«  und  nichts  Verhunzteres  als  das  so  schöne  Sujet  »Das  Leidende  Weib« 
Petersen  (28.  IX.  75  NN.)  und  Höpfner  (Okt.  75  NN.;  am  10. Okt.  empf.)  belehren 
ihn  darüber,  daß  beide  Stücke  von  Klinger  sind.  (Höpfner:  »In  Lenzens  Stücken 
ist  doch,  dünkt  mich,  noch  mehr  Genie.«)  Lenz  als  Verf.  des  Hofmeister  war  Nie. 
bekannt:  Nicolais  Randbemerkung  z.  Brief  Buschmanns  vom  7.  VII. 74:  (»Goe« 
thens  Hofmeister  ist  mir  ein  wahres  Fest  gewesen«)  »Ist  nicht  von  Goethe,  sondern 
von  einem  namens  Lenz,  in  Straßburg.«  \'gl.  auch  Nicolais  Randbemerkung  z. 
Petersens  Brief  vom  5.111,75  =  Grenzboten  1911,S.559;  ferner  Merck  an  Ni= 
colai  28.  VI.  74.  —  Hat  Salzmann,  der  Genosse  der  Goetheschen  Tafelrunde  in 
Straßburg,  Nicolai  besucht?  Boie  empfahl  ihn,  der  Nicolai  gern  kennen  lernen 
wollte,  lt.  Brief  vom  2.  VII.  75  NN.,  an  Nicolai.  —  Lenz  als  Verf.  der  Rede  gegen 
Lichtenbergs  Aufsatz  von  der  Physiognomik  (im  Göttinger  Almanach;  Lenz" 
Rede  im  Teutschen  Mercur  Nov.  77)  von  Petersen  30  1.78  NN.  namhaft  gemacht. 

277 


Lebensumstände^  genau  unterrichtet.  Über  Lenz'  Selbstrezension 
des  »Neuen  Menoza«^  macht  er  sich  lustig.  Als  ob  Nicolai  ge* 
wüßt  hätte,  wie  peinlich  Lenz  —  der  erst  nicht  genug  auf  Beschleu* 
nigung  des  Druckes  seiner  »Wolken«  hatte  drängen  können,  sie 
dann  unter  tausend  Selbstverwünschungen  zurückzog  und  sie 
durch  die  »Verteidigung  des  Herrn  W(ieland)  gegen  die  Wol* 
ken«  zu  entkräften  suchte;  ein  wenig  später  hätte  er  beides  gern 
ungeschehen  gemacht  —  wie  peinlich  Lenz  dies  empfinden  mußte, 
zeigt  Nicolai  das  Gegenstück  der  Wolken  zusammen  mit  dem 
Eloge  de  feu  ...  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  an^,  als 
»ein  Paar  elende  Scharteken« :  Lenz,  von  dem  eine  Zeitlang  einige 
Leute  ein  gewaltiges  Lärmen  machten,  habe  hier  eine  lächerliche 
Selbstüberschätzung  bewiesen,  indem  er  geglaubt  habe,  gegen  eine 
fast  unbeachtete  eigene  Schrift  eine  neue  schreiben  zu  müssen,  um 
deren  Wirkung  aufzuheben;  übereilt  habe  er  sich  nicht  minder,  sei 
»im  Aristophanischen  Spleen  einen  Schritt  zu  weit  gegangen«.  Ni* 
colai  findet  es  amüsant,  daß  Lenz  sagt,  Wieland  habe  seine  Shake* 
spearische  Manier  als  kunstvoll  verdächtigt,  wäre  aber  selbst  bla* 
miert  gewesen,  wenn  er,  Lenz,  das  Blatt  umgekehrt  und  »nicht  mit 
der  Miene  eines  rüstigen  Knaben,  sondern  eines  alten,  erfahrenen, 
untrüglichen  Kunstrichters«  seine  Oper  erbärmlich  gefunden  hätte  : 
»Herr  Lenz  muß  wohl  glauben,  er  könne  beide  Mienen  sehr  leicht 

'  Lenz' Aufenthalt  in  Weimar,  Berka,  Abreise  nach  Straßburg,  Aufenthalt  bei 
•  Schlossers  in  Emmendingen:  Petersen  an  Nie.  11.1.77,  30.1.78,  9.  III.  78,  25.  III. 
78.  Ebenders.:  »Die  Nachricht  von  Lenzens  Verrückung  ist  kanonisch.  Vermute 
lieh  wird  Klinger  das  nämliche  Schicksal  haben. <:<■  »Lenz  ist  zum  2ten  Male  ver= 
rückt«;  Schlosser  wolle  ihn  in  ein  »Narrenhaus«-  bringen  lassen.  —  Eine  irrtüms 
liehe  Todesanzeige  Lenz'  findet  sich  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  40,2,628,  die  Allg. 
Dtsch.  Bibliothek  41,1,312  berichtigt  wird;  Lenz  befinde  sieh  in  Petersburg. 
-  Frankf.  Gel.  Anz.  1775,  Nr.  55 f.  Nicolai  an  Höpfner  17. VII.  74:  »Sehr  possierlich 
ist,  daß  Hr.  Lenz,  nachdem  niemand  den  Menoza  lesen  wollen,  in  der  Frankfurter 
Zeitung  selbst  seines  Werkes  Schönheiten  darstellt  und  im  , Leidenden  Weib' 
(s.  S.  277,  Anm.  3)  den  Hofmeister  anpreisen  will.«  Zu  dieser  Lenzschen  Selbst^ 
rezension  vgl.  Chr.  H.  Schmid  an  Lenz  27.  III.  76  und  Allg.  Dtsch.  Bibl.  27,  377. 
'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  774;  bekanntlich  ist  das  Schrift^ 
chen  bis  auf  die  von  Weinhold  (Dramat.  Nachlaß)  mitgeteilte  Szene  nicht  er= 
halten.  Goedekes  Annahme  (IV,  3,  S.  784),  daß  Beckmann  Verf.  dieser  Rezension 
war,  ist  irrtümlich.  Das  Zeichen  Beckmanns,  der  ausschließlich  Naturhistorie  und 
Physik  rezensierte,  ist  91,  nicht  A. 

278 


annehmen.«  »Als  ob,  wenn  auch  all  dieses  wahr  wäre,  seine  ver* 
fehlte  Shakcspearische  Manier  dadurch  im  geringsten  besser  würde. 
x\ber  solchen  Leuten  kommt  es  nur  darauf  an,  das  Fleckchen  zu 
finden,  wo  es  am  wehesten  tut.«  Das  war  die  Antwort  auf  Lenz' 
Polemik  gegen  den  »wachsgelben  Aristarchen«  an  der  Spitze  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek,  wie  die  »Verteidigung  des 
Herrn  Wieland«  gespottet  hattet  Ähnlich  äußert  sich  Nicolai  über 
den  »Eloge  de  feu  . . .«.  Nimmt  man  hierzu  noch  einige  allgemeine, 
nichtssagende  Äußerungen  Nicolais  in  Briefen  an  Freunde,  in  denen 
er  wegwerfend  von  Lenz  sprach^,  so  ist  das  Bild  ihrer  Beziehungen 
—  ein  wenig  erfreuliches  und  wenig  aufschlußreiches  Bild  —  ge* 
zeichnet.  Eschenburgs  Referate  über  die  Lenzschen  Dramen  in  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^  bereichern  dies  Bild  nicht.  — 
»Klinger  scheint  mir  ein  sehr  mittelmäßiger  Bursche  zu  sein, 
der  nur  die  Manier  aufschnappt  und  selbst  nicht  viel  in  sich  hat«  — 
bei  diesem  Urteil  Nicolais  über  Klinger*  blieb  es,  trotz  mehrfacher 
Variationen,   im   allgemeinen.  Auch   hier   zeigt   sich  der  Kritiker 

'  »Buchhändler  }«  heH>t  es  darin  mit  einem  Druckfehler  für  N  =  Nicolai:  vgl. 
Lenr  an  Zimmermann  Mai  76  (=  Freye=Stammler  1,265)  und  Rosanow  S.  280. 
'  Beispielsweise  in  seinen  Randbemerkungen  zu  Petei;sens  Briefen  vom  23.X.74 
und  5.  III.  75  NN.,  die  er  entsprechend  verwertet  haben  wird. 
'  Eschenburg  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25.; 36.  Bd.,  S.  763/4  über  »Flüchtige 
Aufsätze  von  Lenz«,  hrsgb.  v.  Kayser ;  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  34,  2, 488  über  »Die 
Freunde  machen  den  Philosophen«  und  die  »Soldaten«;  ebenda  27,  2,  368 ff.  über 
den  Hofmeister,  Neuen  Menoza  und  die  Anmerkungen  übers  Theater;  diese 
letzeren:  »flüchtig  und  dreist«,  der  wahre  Kritiker  des  Aristoteles  sei  Lessing; 
Lenz  wird  zum  Studium  der  Hamburgischen  Dramaturgie  aufgefordert.  Die  Sol* 
daten:  »ein  buntscheckiger  Cento  unzusammenhängender  Szenen  und  zerstück= 
ter  Gruppen«;  unsittlich  und  frech  (das  letztere  in  bezug  auf  die  Verwendung 
des  Namens  La  Roche  gesagt).  Unsittlich  wird  auch  »Die  Freunde  machen  den 
Philosophen«  genannt.  Eine  gewisse  Anlage  zur  treuen  Naturdarstellung  wird 
nur  dem  Verfasser  des  Hofmeister  nachgerühmt.  —  Eberhard  bemerkt  (Anh.  z. 
25.  36.  Bd.,  2296)  zu  der  Erzählung  »Prinz  Zerbin  oder  die  neuere  Philosophie«: 
»Warum  neuere  Philosophie?  Welche  neuere  Pilosophie  lehrt  Mädchen  ver= 
führen  u.  dann  verlassen?«  (!)  Pistorius  bemerkt  (A  D  Bibliothek  29, 1,  30flf.)  zu 
Lenz'  »Meinungen  eines  Laien«,  der  Laie  sei  ein  Nachahmer  des  Verf.  der  Aelte= 
sten  Urkunde  (Herders);  nur  habe  er  das  »heilige  Dunkel  der  Herderschen 
Orakelsprache  nicht  zu  erreichen  gewußt«.  Seine  Hypothesen  seien  geeignet, 
»den  Menschen  ganz  als  Maschine  u.  Klotz  aufzufassen«  (!) 
'  An  Höpfner,  nach  d.  23.IV.76.  Hs.  im  Hochstift,  Frankfurt. 

279 


Eschenburg'  als  farbloser  oder  unzugänglicher,  ablehnender  Refe* 
rent,  der  jede  tiefere  Begründung  seines  Standpunktes  vermissen 
läßt;  eine  an  Lessing,  der  klassizistischen  und  der  bürgerlich#realisti* 
sehen  Ästhetik  genährte  Durchschnittsauffassung.  Das  gleiche  müs= 
sen  wir  über  Eschenburg  als  Kritiker  H.  L.  Wagners  sagen^;  von 
Nicolai  haben  wir  auch  hier  nur  vereinzelte  belanglose  Äußerun* 
gen.  —  Zu  den  Trabanten  Goethes  zählte  Nicolai  auch  Kleuker  \ 
Contius^,  Cranz^,  Kaufmann  und  Kayser*^,  die  wir  hier  nur  erwähn 
'  Allg.  Dtsch.  Bibl.  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  760  über  »Sturm  und  Drang«:  starke  Be= 
gabung  Klingers;  seine  »wilde,  überspannte  Phantasie«  werde  sich  »schon  noch 
abkühlen«.  »Otto«  und  »Das  leidende  Weib  (vgl.  Nicolais  Randbemerkung  z. 
Eschenburgs  Brief  vom  I6.V.  75,  vor  dieser  Rezension,  eine  Anweisung?):  »Aufs 
Wallungen  jugendlicher  Hitze«,  Klinger  ein  sehr  selbstgefälliger  Autor.  »Zwil= 
linge«  (Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  3006):  Eschenburg  will  den  Julius  von  Tarent  vor? 
riehen ;  »wie  die  meisten  Klingerschen  Stücke«  könne  man  es  »nicht  ohne  Schwing 
del  und  Kopfweh  lesen«.  »Simsone  Grisaldo«  will  Eschenburg  überhaupt  nicht  ver= 
standen  haben  (Anh.  z.  25.  36.  Bd.  d.  A  D  Bibl., S.  759).- Vgl.  außerdem  das  Schrei^ 
ben  aus  Riga:  Allg.  Dtsch.  Bibl.  44,  1,  301  (1780)  über  die  Klingerschen  Romane. 
-  Die  »Kindsmöderin«,  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  Anh.  z.  25.  36.  Bd.,  S.  765.  Das 
soziale  und  moralische  Element  wird  von  Eschenburg  hervorgehoben,  gegen  den 
Wagnerschen  Naturalismus  erklärt  er  sich  in  scharfenWorten.  Nicolais  Rezension 
des  »Prometheus«,  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  26, 206,  spricht  zwar  von  »unverschämter 
Oscitanz«  und  »karrenschiebermäßiger  Grobheit«  und  sagt,  Goethens  Erklärung 
wäre  gerade  noch  zur  rechten  Zeit  gekommen,  um  seine  Ehre  zu  retten,  aber  sie 
sieht  doch  darin  »eine  eigentümliche  Kraft  und  eine  trotzige  Unbekümmerniß«, 
die  man  sehr  wohl  Goethe  zutrauen  könne. 

'  Kleuker,  von  Petersen  (fälschlich)  als  Verfasser  des  Aufsatzes  namhaft  gemacht: 
»Eines  Ungenannten  Antwort  auf  die  Frage  .  .  .  usw.«  im  Teutschen  Mercur, 
Aug.  Sept.76.  Wieland  versichert  (ebenda),  den  Verfasser.dem  er  entgegentritt,  nicht 
zu  kennen.  Vgl.Wieland  an  Lenz  Okt.  76.  Der  Au  fsatz  im  Teutschen  Mercur  stichelt 
boshaft  gegen  die  »Bibliothekare  in  Berlin«,  wie  gegen  den  Sebaldus  Nothanker. 

*  Vgl.  oben  S.  271,  Anm.  1,  Nicolais  derb  abfertigende  Rezension:  Allg.  Dtsch. 
Bibliothek  26,  209.  Contius  versuchte  später,  unter  Verleugnung  seiner  htes 
rarischen  Vergangenheit,  mit  Nicolai  Verbindung  anzuknüpfen  und  ihn  zum  Ver; 
lag  »einiger  Bogen  Gedichte«  zu  bewegen.  Nicolai  hat  den  Briet  (5.  VIII.  88  NN.) 
anscheinend  gar  nicht  beantwortet. 

'  Vgl.  Nicolai  an  Höpfner  6.V.  79.  Hs.  im  Hochstift  Frankfurt.  »Cranz  ist  ein  elen= 
der  Mensch«  . .  usw.  Baumann  aus  Cleve  teilte  Nicolai  23.  IV.  79  mit,  dai^  die  Auf= 
Sätze  in  den  Frankf.  Gel.  Anz.  1779,  Nr.  16f.  u.78f.,die  sich  über  Nicolais  Streit  mit 
Wieland  lustig  machen  und  gegen  Nicolai  scharf  zu  Felde  ziehen,  von  Cranz  her= 
rühren ;  diese  Aufsätze  sprechen  zwar  lobend  von  Sebaldus  Nothanker,  verdam= 
men  aber  Nicolais  »Bänkelsäuerei«  (dies  geht  auf  Nicolais  Feynen  kl.  Almanach). 

*  Über  Kayser:  Höpfner  an  Nicolai  24.  IV.  76.  Über  Kaufmann,   Kayser  und 

280 


nen  wollen;  diese  kleinen  Geister  haben  ihn  natürlich  kaum  be* 
schäftigt,  sein  Gesamturteil  aber  verschärft. 

In  der  Anzeige,  die  Nicolai  dem  »Rheinischen  Most«,  jener  Samm* 
lung  von  Satiren  aus  dem  Kreis  der  Jungen, widmete  \  zog  er  gewisser* 
maßen  eine  Summe  aus  demTreiben  der  Geniezeit.  »Die  Vergleichung 
der  meisten  Gedichte  mit  einem  gärenden  Most  ist  nicht  übel.  Aber 
wie  muß  es  kommen,  daß  es  bei  dem  ersten  Herbst  ge  = 
blieben  ist?  Ist  der  Wein  am  Rhein  seit  1775  nicht  geraten?  Haben 
die  Köpfe,welche  die  Mittagssonne  nicht  heiß  genug  finden  konnten, 
um  recht  durchglühet  zu  werden,  und  die  durch  Lobeserhebungen 
ihrer  Klienten  noch  dazu  so  fleißig  gedüngt  worden  sind,  dennoch 
seitdem  nichts  als  Heerlinge  getragen  ?«(!)  Es  ist  hier  fragend  aus* 
gedrückt,  was  Nicolai  einige  Zeit  vorher  zu  Höpfner  mit  naiver  Zu= 
versieht  und  Selbstsicherheit  geäußert  hatte-  :  »Was  die  Bürschchen 
schwatzen,  bedeutet  nicht  viel.  Das  wilde  Wesen  wird  in  vier  oder 
fünf  Jahren  verraucht  sein  und  dann  wird  man  ein  paar  Tropfen 
Geist,  und  im  Tiegel  ein  großes  caput  mortuum  treffen.  Ich  habe 
schon  mehr  dergleichen  Revolutionen  erlebt.  Man  muß  die  Knaben 
nur  gehen  lassen  und  nicht  sehr  auf  sie  Acht  geben,  denn  ihre  ganze 
Absicht  ist,  Lärm  zu  machen.«  Aber  etwas  positiver  dachte  Nicolai 
doch  von  dieser  Bewegung,  als  er  es  hier  ihrem  halben  Bundes* 
genossen  Höpfner  anvertraute,  v.  Knigge,  der  Eschenburgs  Stelle  in 
der  Bibliothek  in  der  Folgezeit  verdrängte,  sprach  wenige  Jahre  später 
bereits  von  »Sturm*  und  Drang*  Meß  wäre«  ^.  Nicolai  aber  wieder* 
holte  in  einem  Brief  an  Joh,  v.  Müller*  zwar  jene  an  Höpfner  ge* 
richteten  abfälligen  Bemerkungen,  allein  er  setzte  doch  hinzu,  er  er* 
warte  trotz  allem  einen  »wohltätigen  Einfluß«  von  dieser  Bewegung : 
»man  wird  das  Abenteuerliche,  das  sie  einführen  will,  bald  über* 
drüssig  werden,  aber  von  dem  Kräftigen  wird  etwas  zurückbleiben«. 

Kleuker:  Petersen  an  Nicolai  12.1.78  —  Grenzboten  1911,  S.  612,  Kayser  treibe 

»die  Sucht,  Goethe  nachzuahmen,  bis  zur  xManie«,  gleiche  seine  Handschrift  der^ 

jenigen  Goethes  an,  bediene  sich  eines  Petschaft  nach  Art  des  Goetheschen,  falte 

seine  Briefe  wie  Goethe  usw.  Kaufmann  —  ein  herumreisender  Agent  der  »Kraft; 

Genie  und  Wunderpartei«. 

'  AUg.  Dtsch.  Bibhothek  Anh.  z.  25.|36.  Bd..  S.  754. 

-  An  Höpfner  25.  IV.  76  =  Wagner  III,  140. 

'  Gelegentlich  der  Anzeige  einerWerthernachahmungAllg.  Dtsch.  Bibl.  60,2,  431. 

*  Briefe  an  Joh.  v.  Müller,  S.  102;  12.  VII.  76. 

281 


NICOLAI   UND  BÜRGER 


»Wir  wollen's  Genie  nicht  einschränken«,  so  hieß  es  in  Nicolais 
»Freuden«,  »denn  der  Kerl  ist  reich  und  mächtig,  und  Klagen  tut's 
nicht.  Aber  wenn  wir  dem  Genie  aus  dem  Wege  gehen  könnten«. 
Nicolai  konnte  und  wollte  den  Genies  nicht  mehr  aus  dem  Wege 
gehen.  Nicht  so  sehr  der  Zuspruch  von  Freunden  und  Mitarbeitern ' 
drängte  ihn  dazu,  die  ihn  für  den  praeceptor  des  guten  Geschmacks 
hielten;  die  »ganze  in  30  Jahren  befestigte  Form  seines  Denkens«-, 
die  Summe  seiner  Bestrebungen  um  Gesellschaft,  Bildung,  Literatur 
schien  in  Frage  gestellt  durch  das  gärende  Unwesen  der  Jungen,  die 
ihn  mehr  als  andere  Vertreter  der  älteren  Generation  zur  Zielscheibe 
ihrer  Angriffe  nahmen:  mußte  er  nicht  bemerkt  haben,  daß  die 
zügellose  Satire  Wagners  im  »Prometheus«  gegen  niemanden  so 
scharf  und  beißend  war  wie  gegen  ihn?  Die  Stellung  der  Jungen 
gegen  seine  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  wurde  immer  ein* 
mutiger  und  entschiedener,  seitdem  ihr  Apostel  Herder  sich  in  so 
schroffer  Weise  von  ihm  losgesagt  hatte.  Und  jetzt  eben  erschien, 
nach  vielen  äußeren  und  inneren  Herrimnissen^  der  dritte  Teil  des 
Sebaldus  Nothanker,  in  dem,  wie  wir  uns  vergegenwärtigen,  Nico* 

So  fragt  z.  B.  Kästner  (NN.  Empf.  22. 1.77),  ob  Nicolai  nicht  »eine  Sammlung 
von  Haupt;  und  Staatsaktionen  zum  Gebrauch  unserer  dramatischer  Dichter« 
anlegen  wolle.  (Nicolai  bemerkt  dazu  am  Rande: »Sie  haben  .  .  .  Recht, die  Kerls 
sind  nicht  wert,  daß  man  Witz  . .  .  gegen  sie  verschwendet.«)  Daß  dies  eine 
Kästnersche  Aufforderung  zu  einer  Satire  gegen  die  Jungen  war,  geht  auch  aus 
seinem  spätem  Brief  (NN.  Empf.  22. 1.  79)  hervor,  wo  er  von  Nicolai  ausdrücke 
lieh  etwas  »Dramaturgisches«  wünscht,  da  »die  Leute  es  so  wahnsinnig  machen, 
daß  es  bald  nicht  mehr  auszuhalten  ist«.  »Noch  einmal,  liefern  Sie  uns  was  dra= 
maturgisches  oder  ich  lasse  Ihnen  die  Erinnerung  drucken:  dormis.'Nicolae?« 
—  Ähnlich  etwa  Marcard  24.  III.  77  NN.  an  Nicolai:  »Warum  wollen  Sie  nicht 
etwas  Witziges  in  dieW^elt  schicken.  Warum  wollen  Sie  das  Talent,  das  Sie  haben, 
vergraben!  Wahrhaftig!  die  Lenze,  die  Stollberge,  die  Miller  und  Brückner 
denken  nicht  so  delikat .  .«  usw.  Ähnlich  auch  Gebier  15.  VI.  79  =^  Werner  S.96 
an  Nicolai.  Auch  Boie  verlangt  (9.X1I.  76  NN.)  Nicolais  »Gedanken«  über  die 
gegenwärtige  Gärung  »fürs  Museum«;  am  28.1.78  erinnert  er  ihn  daran:  »Sie 
wollen  mir  ja  auch  einmal  etwas  fürs  Museum  geben.« 
'  J.  K.  Pfenniuger  an  Nicolai  lO.VII.  74  NN. 

'  Davon  gibt  Nicolais  Brief  vom  5.  III.  76  an  Höpfner  Zeugnis,  den  ich  nach 
der  im  Hochstift  Frankfurt  befindlichen  Handschrift  im  Anhang  mitteile. 

282 


lai  eine  Summe  aus  seinen  Bestrebungen  zog.  Chr.  H.  Boie  sprach 
sich  über  den  Nicolaischen  Roman  zu  Bürger  aus\  es  sei  »vielleicht 
der  erste  deutsche  Roman«;  aber  er  macht  eine  bezeichnende  Ein* 
schränkung  ganz  im  Sinne  Bürgers:  Der  Roman  sei  aber  »nur  für 
den  Teil  des  Publikums,  der  bei  der  Lampe  studiert«,  und  zielt 
damit  unzweifelhaft  gegen  das  Überwiegen  des  gelehrten,  unvolks* 
tümlichen  Elementes.  In  der  Tat,  wen  trifft  Sebaldus  auf  seinen 
Wegen  anderes  als  Theologen  der  verschiedensten  Sekten?  Und 
wenn  Nicolai  auch  mit  besonderer  Vorliebe  bei  dem  Leben  des  ein* 
fachen  Volkes  verweilt,  das  er  freilich  in  einem  Maße  kennt  und  zu 
farbiger  Darstellung  bringt,  wie  kaum  ein  zweiter  zeitgenössischer 
Autor,  wenn  er  auch  neben  der  kleinbeschränkt*bürgerlichen  sogar 
die  proletarische  Existenz  berücksichtigt  (z.  B.  Seb.  Noth.  II,  25)  — 
das  eigentliche  Interesse  des  Darstellers  liegt  in  den  verschiedenen 
Schattierungen  des  gelehrten  Publikums,  und  die  gelehrten  »Mei* 
nungen«  bilden  das  äußerliche  wie  das  innerliche  Agens  des  Ro* 
mans.  Ja  selbst  die  lyrischen  Ruhepunkte  —  landschaftliche  Schil* 
derungen  bei  den  Wanderungen  des  Sebaldus,  Momente  der  Selbst* 
einkehr  des  vom  Unglück  verfolgten  Pastors  —  werden  in  diese  Sphäre 
hineinbezogen;  beim  Anblick  einer  schönen  Gegend,  im  lebhaften 
Empfinden  der  bewegten  Natur  werden  Gedanken  von  spezifisch 
theologischer  Färbung  gewonnen;  die  Lieder,  in  die  solche  Situ* 
ationen  sich  lösen,  sind  Dankes*  und  Loblieder,  und  der  Pietist  auf 
der  Landstraße  nach  Berlin  (II,  Kap.  1)  singt  ganze  Seiten  des  im 
Kurfürstentum  Brandenburg  eingeführten  Kirchengesangbuches. 

Es  ist  unzweifelhaft  das  Gegenteil  des  Bürgerschen  Begriffes  der 
Popularität,  die  nach  seinem  Ausdruck  »das  Siegel  der  Vollkommen* 
heit«  einer  Dichtung  sein  sollte,  was  sich  in  Vorwurf,  Darstellung 
und  Wirkung  des  Nicolaischen  Romans  zeigte.  Freilich  haben  wir 
uns  vergegenwärtigt,  daß  der  »Popularphilosoph«  Nicolai,  weit 
entfernt,  mit  Absicht  unpopulär  zu  sein,  im  Gegenteil  sein  ganzes 
Wirken  auf  Popularität  einstellte;  immer  wieder  ist  es  seine  Klage 

'  Boie  an  Bürger  10.  V.  73  =  Strodtmann  I,  116.  Bürger  antwortet  17.  V.  73  = 
Strodtmann  I,  1 19,  der  Nothanker  habe  ihm  »im  Ganzen  sehr  gefallen«;  »endlich 
hat  sich  denn  doch  einmal  einer  eines  Originalstoftes  bemächtigt«  usw.  —  macht 
aber  skeptisch^ironische  Einschränkungen  gegen  Nicolais  Verfasserschaft,  gegen 
das  Überwiegen  der  »Meinungen«  gegen  das  eigentlich  Romanhafte. 

283 


—  auch  gerade  im  Roman  — ,  daß  die  deutsche  Dichtung  und  Bil= 
düng  nur  »an  den  Universitäten  hängt«,  ist  es  sein  Bemühen,  das 
Volk  in  seiner  Ganzheit  an  beiden  teilnehmen  zu  lassen.  Allein 
Nicolais  Popularitätsbemühungen  sind  ein  Übersetzen,  Anpassen, 
eine  Methode;  popularisieren  im  Nicolaischen  Sinne  kann  man  alles, 
und  die  Dichtung  wird  populär, wenn  man  nur  den  richtigen  »Augen? 
punkt«  zu  ihrer  Erfassung  und  Beurteilung  darbietet.  Bürgers  und 
vor  allem  Herders  Popularitätsbegriff  sind  davon  geschieden.  Die 
Popularität  liegt  für  sie  schon  in  der  Sache  selbst;  es  wird  nichts 
populär  gemacht  —  es  verlöre  denn  seine  Art  —  sondern  es  ist's  oder 
ist  es  nicht.  Und  der  populus  ist,  wenigstens  für  Herder,  kein  bloß 
empirischer  Begriff,  sondern  etwas  Organisches,  und  als  Organisches 
hervorbringend,  nicht  bloß  Objekt.  Diese  Unterschiede  werden  im 
Verlauf  unserer  Darstellung  noch  deutlicher  hervortreten. 

x\llein  schon  vom  Sebaldus  Nothanker  aus  können  wir  einen 
zweiten  Gegensatz  zu  der  Bürgerschen  Anschauungsweise  —  oder 
vielmehr  zu  der  Bürgerschen  Formulierung  von  Herder  begründeter 
Anschauungen  —  erkennen.  Einen  nicht  minder  wichtigen  Bestand* 
teil  des  Bürgerschen  ästhetischen  Glaubensbekenntnisses  bildet  sein 
Naturalismus,  den  er  —  von  der  besonderen  Färbung  bei  jedem  der? 
selben  abgesehen  —  mit  Wagner,  Klinger,  Lefiz,  Mahler  Müller  teilt. 
Der  Charakter  des  Sebaldus  ist,  gemäß  Diderots  Formulierung, 
durchaus  von  der  »condition«  her  gebildet  (das  ästhetisch  Unge? 
nügende  der  Darstellung  des  Charakters  interessiert  uns  hier  nicht) ; 
sie  bestimmt  seine  »Individualität«  —  wenn  man  davon  sprechen 
kann,  wo  nur  eine  Summe  von  Neigungen,  Fähigkeiten,  bestimmter 
intellektueller  Färbung  und  wunderlichen  Einzelheiten  (in  denen 
sich  Sterne  als  Vorbild  erweist)  dargestellt  ist;  und  sie  bestimmt 
auch  seine  Schicksale.  Aber  diese  Bindung  des  Helden  an  seine  con? 
dition  führt  hier  nicht  wie  bei  den  Stürmern  zum  tragischen  Leiden, 
zum  Konflikt  des  Helden  mit  der  Gesellschaft,  und  noch  weniger 
ist  dieses  System  von  sehr  wenig  realen  Verflechtungen  natura* 
listisch  zu  nennen;  es  fehlt  nicht  an  den  Entführungen,  unvorher* 
gesehenen  Trennungen  usw.  des  alten  Abenteuerromans,  an  mär* 
chenhaften  Räubern  —  deren  massenhaftes  Auftreten  mit  dem  Frie* 
den  von  1763  »motiviert«  wird  —  und  wenn  schon  solche  Elemente 
des  älteren  Abenteurerromans  bei  Wieland  bisweilen  ziemlich  sta* 

284 


tionär  wirken,  hier  im  Sebaldus  Nothanker  sind  sie  opernhafter 
Apparat;  vom  Naturalismus  ist  dies  Gewebe  von  Fiktionen  weit 
entfernt.  Schon  die  Anknüpfung  an  Thümmels  Wilhelmine,  diesem 
Muster  einer  Gattung,  die  rein  in  der  literarischen  Tradition  be* 
gründet  war,  diesem  Zwitter  aus  Konvention  und  Satire,  beweist 
dies;  und  Nicolai  hat  Wert  darauf  gelegt,  in  seinem  Sebaldus  sich 
innerhalb  der  Grenzen  zu  halten,  die  durch  den  Stil  der  Wilhelmine 
abgesteckt  waren. 

Bürger  hat  diese  beiden  Grundtendenzen  seiner  Anschauungs* 
weise  wie  seines  dichterischen  Schaffens  öffentlich  zuerst  in  den 
Fragmenten  aus  Daniel  Wunderlichs  Buch  im  Maiheft  des  Deut* 
sehen  Museums  von  1776  —  hier  insbesondere  in  dem  Herzens* 
ausguß  über  Volkspoesie«  —  ausgesprochen,  späterhin  in  einem 
dritten,  erst  aus  seinem  Nachlaß  veröffentlichten  Fragment  »Zur 
Beherzigung  an  die  Philosophunculos«,  und  in  den  beiden  Vor* 
reden  zu  seinen  Gesammelten  Gedichten,  schließlich  in  den,  eben* 
falls  erst  aus  seinem  Nachlaß  veröffentlichten  Fragmenten  »Über 
die  Popularität  in  der  Philosophie«  ^  Er  hat  im  »Herzensausguß« 
den  latenten  zu  einem  offenbaren  Gegensatz  gemacht,  dem  Nicolai 
alsbald  in  seinem  »Feynen  kleynen  Almanach«  entgegentrat. 

Es  ist  bezeichnend  (—  und  geeignet,  die  Methode  unserer  Dar* 
Stellung  wie  besonders  unsere  Behauptung  zu  rechtfertigen,  daß 
Nicolai  erst  aus  der  Abwehr  heraus  satirisch* kritisch  zum  Sturm 
und  Drang  Stellung  nahm  — )  daß  Nicolai  erst  bei  Gelegenheit  des 
Bürgerschen  »Herzensausgusses«  diese  Stellung  zu  einer  Anschau* 
ung  nahm,  die  ihm  im  Kern  schon  bei  Gerstenberg  und  mehr  noch 
in  Herders  Fragmenten,  vor  allem  in  Herders  Ossianaufsatz  ent* 
gegengetreten  war.  Bürgers  Aufsatz  konkretisierte,  überspitzte  und 
—  dogmatisierte  lediglich  Herders  Anschauungen.  Erwin  Kirchers 
Feststellung-,  daß  der  Nicolaische  Almanach  sich  mehr  gegen  Herder 
als  gegen  Bürger  richtete,  ist  leicht  mißverständlich;  der  Gegensatz 
der  Anschauungen  tritt  stärker  und  tiefer  an  Herder  als  an  Bürger 
gemessen  hervor;  ohne  den  Bürgerschen  Aufsatz,  der,  wie  Kircher 
sagt,  Herders  Theorien  zum  »ästhetischen  Schlagwort«  machte,  wäre 

'  Alles  ed.  Wurzbach  III.  1  ff. 

-'  Erwin  Kircher,  Volkslied  usw.,  Zeitschrift  für  Deutsche  Wortforschung  4, 45, 

Anm.2. 

285 


der  Almanach  aber  nicht  geschrieben  worden,  der  eigentliche 
Angriff  galt  Bürger.  Das  können  wir  schon  daraus  erkennen, 
daß  die  Diskussion  über  dieses  Thema  mit  Gerstenberg  und 
Herder,  die  wir  oben  berührten,  unergiebig  blieb:  nicht  nur, 
weil  Nicolais  Äußerungen  zu  unscharf  formuliert  und  wohl  auch 
zu-  unklar  gedacht  waren,  und  nicht  nur,  weil  er  kein  eigentliches 
Gegenüber  fühlte,  sondern  vor  allem,  weil  seine  Neigung  zum  Korn* 
promiß  einen  Schleier  über  den  geahnten  Gegensatz  deckte,  und  die 
Korrespondenten  bald  abbogen.  Erst  bei  Gelegenheit  des  Bürger^ 
sehen  Herzensausgusses  wird  auch  seine  Stellung  deutlicher,  und 
so  sehr  wir  auch  bedauern  mögen,  den  Gegensatz  nicht  schon  Herder 
gegenüber  wirksam  zu  sehen,  —  wir  müssen,  wollen  wir  nicht  kon* 
struktiv  verfahren, seine  Stellungnahme  zu  der  ursprünglicheren  und 
tieferen  Herderschen  Konzeption  dieser  für  den  Sturm  und  Drang 
so  fruchtbaren  Gedanken  nur  sehr  behutsam  zu  erschließen  suchen'^- 
Theoretische  Auseinandersetzungen,  zumal  über  Gegenstände  der 
Kunst,  waren  Bürgers  Natur  zuwider;  erst  spät  hat  er  sich  ästheti* 
scher  Reflexion  zugänglich  gezeigt^.  Ließ  er  sich  in  jüngeren  Jahren 
dazu  herbei,  so  kam  es  ihm  nicht  auf  Gründe  und  Gegengründe, 
überhaupt  nicht  auf  Begründung,  sondern  nur  auf  Fixierung  seiner 
Meinungen  an;  aber  was  über  die  Schwelle  seines  Denkens  trat,  hielt 
er  dann  auch  starr  und  eigensinnig  fest.  Unzweifelhaft  riß  ihn  der 
Anstoß,  der  von  Herder  kam,  aus  einer  ziemlich  traditionellen  Poe^ 
tik  zu  den  Gedankengängen  seines  »Herzensausgusses«  und  den 
damit  zusammenhängenden  Kundgebungen  fort.  Herder,  bekennt 
er  zu  Boie^,  habe  durch  seinen  Ossianaufsatz  »einen  Ton  geweckt«, 

'  Die  Tatsache  z.  B.,  daß  Nicolai  an  Herders  Denis'=Rezension  Anstand  nahm, 
wird  man  nicht  ohne  weiteres  als  Gegensatz  Nicolais  zu  der  im  Ossianaufsatz 
an  Denis'  Übersetzung  geübten  Kritik  nehmen  dürfen;  er  selbst  macht  (an  Her- 
der 25.1.72)  einen  anderen  Grund  namhaft,  und  er  hat  ja  auf  der  anderen  Seite 
stillschweigend  Herdersche  Rezensionen  geduldet,  deren  Standpunkt  er  nicht 
teilte  oder  ablehnte.  Im  Wesentlichen  wurde  die  Herdersche  Rezension  durch 
Nicolais  Einspruch  nicht  berührt. 

'■'  Vgl.  Chr.  Janentzky,  Bürgers  Ästhetik  Berlin  1909  (in  Munckers  Forschungen 
XXXVI 1)  S.  51  ff. 

*  An  Boie  18.  VI.  75  =  Strodtmann  I,  122;  ähnlich  fühlt  er  sich  durch  Herders 
1777  erschienenen  Aufsatz:  »Von  der  Aehnlichkeit  der  mittleren  englischen  und 
deutschen  Dichtkunst«  berührt:  an  Boie  Ende  Oktober  1777  =  Strodtmann  II, 
172.  —  In  dem  einzigen  erhaltenen  Brief  Bürgers  an  Herder  24. 1.  78  bittet  Bürger 

286 


der  schon  lange  in  seiner  Seele  »auftönte«;  hier  fühle  er  sich  in  sei? 
nem  Elemente.  Diese  subjektive  Abhängigkeit,  die,  mit  Herder  zu 
sprechen,  »Genesis  des  Enthusiasmus«  \  ist  das  Kennzeichen  der 
objektiven.  Bürgers  Äußerungen  erscheinen,  an  den  Herderschen 
gemessen,  wie  aus  einem  größeren  Komplex  herausgeschnitten.  Die 
geschichtsphilosophische  Konstruktion,  die  die  Herderschen  Aus* 
Führungen  trägt,  wird  bei  Bürger  ersetzt  durch  Ressentiment.  Herder 
\  erbindet  mit  den  Begriffen  »wilde  Völker«,  »alte  Lieder«,  »Volks* 
lieder«,  zeitlich,  sachlich,  psychologisch  distinkte  Vorstellungen; 
bei  Bürger  verschwimmen  sie  in  einer  an  Rousseau  genährten  Vor* 
Stellungswelt.  Herder  erkennt  Voltaires  Spott  über  Rousseau,  »daß 
ihm  das  Gehen  auf  allen  Vieren  so  wohl  gefiele«  als  berechtigt;  »das 
menschliche  Geschlecht  ist  zu  einem  Fortgang  von  Szenen,  Sitten, 
Bildung  bestimmt;  wehe  dem  Menschen,  dem  die  Szene  mißfällt, 
in  der  er  auftreten,  handeln,  sich  verleben  soll«"^!  Herder  w^eiß,  stellt 
bedauernd  fest,  daß,  was  bei  den  alten  Völkern  »Natur«  ist,  sich 
heute  nur  bei  den  unmündigen  Mitgliedern  der  Nation  findet;  er 
sieht,  »nach  der  Lage  unserer  gegenwärtigen  Dichtkunst«  zwei  Mög* 
lichkeiten:  erkennt  ein  Dichter,  daß  die  Seelenkräfte,  die  teils  sein 
Gegenstand  und  seine  Dichtungsart  fordert,  und  die  bei  ihm  herr* 
sehend  sind,  vorstellende,  erkennende  Kräfte  sind«,  so  sind 
Klarheit  der  Komposition,  Ordnung  der  Teile,  Gliederung  der  Be* 
Ziehungen  seine  Aufgabe;  »fordert  sein  Gedicht  aber  Ausströ* 
mung  der  Leidenschaft  und  der  Empfindung,  oder  ist  in 
seiner  Seele  diese  Klasse  von  Kräften  die  wirksamste  Triebfeder,  so 
überläßt  er  sich  dem  Feuer  der  glücklichen  Stunde.«  Milton,  Haller, 
Kleist,  Lessing  auf  der  einen,  Klopstock,  Gleim,  Jacobi  auf  der  an* 
deren  Seite  seien  Beispiele;  Gerstenberg  und  Wieland  verbinden 
beides.  Was  ist  aber  bei  Bürger  daraus  geworden!  Die  Unterschei* 

Herder,  wenn  er  ihm  einmal  schreiben  wolle,  davon  zu  schreiben :  daß  jedes 
Volk  seine  eigene  Poetik  habe  und  haben  müsse;  und  von  der  großen  ewigen 
Wahrheit:  »daß  alle  Poesie  für  die  Nation  populär  sein  müsse,  daß  alle  fremde 
antiquarische  Nachmacherey  Nürnberger  Tand  sey«.  (Der  Brief  jetzt  vollständig 
abgedruckt  bei  A.  Peveling  »Bürgers  Beziehg.  z.  Herder«  Münst.  Diss.  1917,  S.  lOf. 
Diese  Dissertation  scheint  mir  die  objektiven  Beziehungen  bezw.  Gegensätze 
nicht  genügend  hervorzuheben.) 
*  Ossianaufsatz  ed.  Suphan  V,  169,  Z.  21. 
'  ed.  Suphan  V,  168. 

287 


düng  zwischen  »Versmacherkunst«  und  Poesie;  und  die  Poesie 
wünscht  er  »volksmäßig«.  Was  ist  aber  »Volk«  bei  Bürger?  Er 
wehrt  sich  nur  gegen  die  Unterstellung,  Volk  sei  Pöbel  ^ ;  faßt  man 
seine  Äußerungen  positiv,  so  ergibt  sich  keinesfalls  eine  organische 
Einheit  im  Sinne  Herders,  eher  eine  mechanische.  Und  entsprechend 
mechanisch  faßt  er  auch  die  dichterische  Produktion  als  Äußerung 
des  Volkes.  »Gäbe  es  ein  ganzes  Volk,  dessen  Nasen  so  organisiert 
wären,  daß  ihnen  Teufelsdreck  besser  röche  als  die  Rose,  dem  be* 
singe  man  Teufelsdreck  statt  der  Rose«^  —  allerdings  eine  paradoxe 
Zuspitzung  seines  Popularitätsideales.  Herder  weiß  sehr  wohl  neben 
dem  Volkslied  die  Lyrik  Klopstocks  zu  schätzen,  erkennt  deren 
Organisation  als  wesensverschieden,  auch  wenn  er  meint,  daß  Klop* 
Stocks  Lyrik  noch  am  ehesten  von  dem  Rudiment  alter  Völker  mitten 
unter  uns  —  den  Kindern,  Mägden,  Jägerburschen  —  unmittelbar 
ergriffen  werde.  Auch  Bürger  verehrt  die  Klopstocksche  Dichtung: 
und  doch  dekretiert  er,  alles  Lyrische  und  Lyrisch*Epische  sollte 
Volkslied  oder  Ballade  sein.  Herder  bedauert,  daß  die  Romanze 
nur  noch  als  niedrig*komische  Gattung  existiere;  Bürger  sagt:  »von 
der  Muse  der  Romanze  und  Ballade  ganz  allein  mag  unser  Volk 
noch  einmal  die  allgemeine  Lieblingsepopöe  aller  Stände  hoffen«. 
Das  Rudiment  der  alten  Völker  mitten  unter  uns  ist  für  Herder  ein 
Pfand  der  Vergangenheit,  für  Bürger  eine  Versicherung  der  Zukunft; 
die  Unwissenden,  Unmündigen,  Unkultivierten  sind  für  ihn  ein 
Imperativ  der  Dichtung.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  Bürger  in  seinem 
»Herzensausguß«  da  beginnt,  wo  Herder,  psychologisch  genommen, 
endet:  bei  der  Polemik  —  und  auch  in  deren  Ton  ist  ein  bemerkens* 
werter  Unterschied  —  gegen  Zeit,  Verbildung  und  Gelehrsamkeit, 
besonders  gegen  die  »nackigen  Poetenknaben«  der  Gegenwart.  Unt4 
schließlich,  es  ist  ein  Unterschied,  ob  Herder  sich  —  durch  die  Ab* 
hängigkeit  des  Gedichts  von  einem  alten  Chanson  —  dazu  verführen 
ließ,  Gleims  »Marianne«  einen  schönen  Vortrag  zuzugestehen  — 
oder  ob  Bürger  Voß'  Idylle  »Die  Bleicherin«  als  eins  derjenigen 

^  »Unter Volk  verstehe  ich  nicht  Pöbel.  Wenn  man  verlangt,  daß  jemand  eine 
leserliche  Hand  schreibe,  so  isf  wohl  nicht  die  Meinung,  daß  ihn  auch  der  lesen 
soll,  der  überall  weder  lesen  noch  schreiben  kann,«  heißt's  in  den  Fragmenten 
•»von  der  Popularität  in  der  Poesie«  ed.  Wurzbach  III,  19. 
=  ed.Wurzbachlll,  18. 

288 


Gedichte  pries,  die  Daniel  Wunderlich  vorzugsweise  liebe  \  Das 
durchaus  Agitatorische  seines  Aufsatzes  wird  durch  dieses  Urteil 
scharf  beleuchtet,  die  Überschätzung  des  bloß  Stofflichen. 

Dieser  agitatorische  Aufsatz  Bürgers  erst,  nicht  der  trotz  des  dithy* 
rambischen  Stils,  erkennende,  untersuchende  Aufsatz  Herders  rief 
Nicolai  in  die  Schranken.  Seine  Abwehr  ist  des  öfteren  dargestellt 
worden:  ihre  Entstehungsgeschichte,  ihre  satirisch*polemischen  Ele* 
mente  und  ihre  inneren  Tendenzen^;  es  sei  daher  nur  kurz  dasjenige 
hervorgehoben,  was  in  den  Darstellungen  nicht  berührt  wurde. 

In  der  Besprechung,  die  Eberhard  dem  Bürgerschen  Museumsauf« 
satz  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^  widmete,  heißt  es: 
»Anpreisung  der  Volkspoesie  in  überspannter  und  beinahe  lieder* 
lieber  Schreibart.  So  etwas  hieß  im  Jahre  1776  Genie,  und  im  Jahre 
1778  ist  es  die  Welt  schon  überdrüssig.«  »Was  heißt  volksmäßig?« 
fragte  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  ernsthaft  verlegen  um  die 
Ausdeutung  des  Bürgerschen  »Modewortes«.  Nicolai  und  seinem 
Kreis  war  »Volk«  kein  problematischer  Begriff,  so  wenig  wie  Nation, 
Gesellschaft,  Staat;  »Volkspoesie«  vermochte  es  ebensowenig  zu 

>  9.  V.  76  an  Boie  =  Strodtmanfi  I,  308. 

-  Georg  Ellingers  Vorrede  z.  s.  Neuausgabe  des  Feynen  kleynen  Almanaches  in 
Berliner  Neudrucke  I,  1.  Carl  Kleve,  Nicolais  Almanach.  Progr.  Schwedt  1895. 
Dazu  neuerdings  lur  Entstehungsgeschichte  die  dankenswerten  Mitteilungen  H. 
Lohres  in  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  25  (1915),  S.  147  ff.  u.  Joh.  Boltes 
Nachwort  zu  dem  Neudruck  der  Ges.  d.  Bibliophilen  (Weimar  1918).  Besonders 
die  ebenso  tiefdringende  wie  umfassende  Interpretation  Erwin  Kirchers  »Volks» 
lied  und  Volkspoesie  in  der  Sturms  und  Drangzeit«.  Ein  begriftsgeschichtlicher 
Versuch.  Zeitschrift  für  Deutsche  Wortforschung  4  (1903),  S.  Iff.,  der  ich  mich 
auch  da,  wo  ich  mir  ihre  Anschauungen  nicht  völlig  zu  eigen  machen  kann, 
dankbar  verpflichtet  fühle;  im  ganzen  stimme  ich  mit  Kirchers  Ergebnissen,  so= 
weit  sie  meine  Arbeit  berühren,  überein;  es  sei  für  dies  Kapitel  nur  hier  auf  sie 
verwiesen.  —Wenn  Kircher  (S.21)  sagt,  »die  Einheit  sachlicher  Gesichtspunkte« 
fehle  dem  Ossianaufsatz,  so  scheint  mir  das  nur  zutreffend,  wenn  man  den 
Ossianaufsatz  absolut  nimmt,  ohne  die  übrigen  entsprechenden  Kundgebungen 
bis  etwa  1774;  nimmt  man  diese  hinzu,  so  lassen  sich  alle  wesentlichen  Begriffe 
des  Aufsatzes  sehr  wohl  zu  sachlicher  Einheit  verbinden.  Übrigens  widerspricht 
Kircher  seiner  Feststellung  indirekt  selbst,  in  der  Kennzeichnung  der  Bürgerschen 
Anschauungen  und  ihrem  Verhältnis  zu  den  Herderschen.  In  der  Beurteilung 
des  Herderschen  Standpunktes  von  1777  und  späterer  Zeit  gegen  den  früheren 
pflichte  ich  Kircher  bei. 
»  Anhang  z.  25./36.  Bd.,  2299 ;  vgl.  ebenda  S.  785. 

19  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  289 


werden.  Biester  wies  in  seiner  Rezension  des  Nicolaischen  Alma« 
nachs^  daraufhin,  daß  die  Literaturbriefe  zuerst  das  Interesse  für 
die  sogenannte  Volkspoesie  rege  gemacht  hätten  (und  Herders 
Ossianaufsatz  hatte  Lessings  Verdienste  um  die  Volkspoesie  ja  ruh* 
mend  hervorgehoben,  während  Bürger  sie  übergingt) ;  und  er  berief 
sich,  um  Nicolais  Stellung  zu  rechtfertigen,  auf  den  Lessingschen 
Satz:  kein  Geschmack  sei  schlecht  als  der  einseitige  ...  Man  sah  auf 
Nicolais  Seite  in  dem  Bürgerschen  Aufsatz  lediglich  eine  Übertrei* 
bung  zugestandener  Behauptungen  und  eine  ungerechtfertigte  Inan« 
spruchnahme  fremder  Verdienste.  Man  muß  diese  Situation  Nicolais 
festhalten,  will  man  seine  Abwehr  richtig  würdigen.  Was  wir  bei 
seinen  Diskussionen  mit  Gerstenberg  und  Herder,  bei  dem  Gegen« 
satz  zu  Hamann  und  dem  jungen  Goethe  fanden,  bestätigt  sich  auch 
hier:  das  Gefühl  einer  Gegensätzlichkeit  empfindet  er  sehr  bald,  aber 
deren  Art  bleibt  ihm  verschlossen.  Er  konnte  sich  hier  auf  die  Re« 
zension  berufen,  die  Biester  den  Blättern  »Von  deutscher  Art  und 
Kunst«  gewidmet  hatte^.  Herders  Verdienst  war  darin  sehr  gerühmt 
worden:  »Dies  Buch  ist  ein  wichtiges  Werk,  welches  dienen  kann, 
die  Natur  und  die  Schätzung  derselben  in  ihr  gehöriges  Recht  ein« 
zusetzen;«  der  Rezensent,  der  seinen  Stil  gewaltsam  zu  Herderscher 
Kühnheit  emporschraubt,  glaubt  sogar  gegen  diejenigen  polemi« 
sieren  zu  können,  »die  nicht  durch  die  Hülle  von  Mode  und  An« 
stand  durchzusehen  taugen«.  Sehen  wir  freilich  näher  hin,  so  ent« 
decken  wir  eine  groteske,  dem  Rezensenten  unbewußte  Umbiegung 
der  Herderschen  Anschauungen.  In  den  beiden  Herderschen  Auf« 
sätzen,  heißt  es,  seien  »zwei  der  größten  Söhne  der  Natur,  Shake« 
speare  und  Ossian,  gezeigt,  die  zu  hoch  waren,  als  daß  ihr  Götter« 
genie  der  irdischen  Kunst  sich  hätte  unterwerfen  können«.  Die  Volks« 
lieder,  »Lieder  des  Volks«,  sind  in  dieser  Rezension  »Lieder  fürs 
Volk«  geworden.  Den  Unterschied  des  Geistes,  aus  dem  heraus 
Gleim  seine  Lieder  fürs  Volk  dichtete,  und  aus  dem  —  nach  Her« 
der  —  die  Volkspoesie  schuf,  vermochte  Biester  so  wenig  einzusehen 
^  Anhang  z.  25.  36.  Bd.  der  AUg.  Dtsch.  Bibliothek  S.  3372  ff.  Gemeint  ist  der 
33.  Literaturbrief  (von  Lessing). 

^  Mit  den  großen  »Söhnen  der  Natur«,  die  die  Volkspoesie  neuerdings  entdeckt 
hätten,  meinte  Bürger  in  erster  Linie  Herder  und  Goethe,  sodann  Klopstock  und 
die  von  ihm  abhängigen  jüngeren  Dichter. 
»  Anhang  z.  13.  24.  Bd.  der  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  S.  1169  ff. 

290 


wie  Nicolai.  »Wer  wird  es  unsern  Dichtern  verwehren,  VolksHeder 
nachzusingen,  wie  sie  Schäfergedichte,  Bardenlieder,  patriarchalische 
Gesänge  usw.  machen,«  fragte  derselbe  Biester  in  seiner  Rezension 
des  Nicolaischen  Almanachs^  Die  Schärfe  des  objektiven  Gegen* 
Satzes  zwischen  Nicolais  und  Herder*  Bürgers  Volksliedauffassung 
soll  damit  keineswegs  gemildert  werden;  unsere  Feststellung  soll 
vielmehr  diesem  Gegensatz  Kontur  geben.  Ohne  sie  ist  die  positive 
Tendenz  des  Almanachs  nur  schwer  verständlich. 

Die  positive  Tendenz  des  Almanachs,  die  Minor  und  Cleve  höh« 
nisch  glossieren,  kann  nicht  gut  bestritten  werden.  Man  hat  sich 
darauf  berufen,  daß  Nicolai  in  seinem  Brief  an  Lessing,  in  dem  er 
die  Absicht  des  Almanachs  mitteilt-,  hauptsächlich  die  polemische 
Tendenz  hervorgehoben  hat,  die  er  als  »sehr  ernsthafte  Absicht« 
»einige  der  Toren  womöglich  klug  zu  machen«  bezeichnet;  und  daß 
er  die  positive  Seite  mit  dem  Satz  umschreibt :  »ich  habe  mir  freilich 
ein  heimliches  Vergnügen  gemacht,  einige  schöne  Stücke  zuerst  ans 
Licht  zu  bringen;  aber  ich  habe  wissentlich  einige  recht  plumpe 
darunter  gesetzt,  damit  man  sehe,  daß  wahrhaftig  nicht  alle  Volks* 
lieder  des  Abschreibens  wert  sind.«  Hierauf  konnte  Lessing  zwar 
mit  Recht  antworten',  Nicolai  wolle  »gerade  über  das  Angelegene 
der  Sache  spotten«;  aber  die  positive  Tendenz  Nicolais  ist  damit 
nicht  gekennzeichnet.  Zu  Justus  Moser  hat  er  sich  deutlicher  ge* 
äußert,  daß  er  die  Gelegenheit  der  Satire  benutzen  wolle,  um  »solche 
Volkslieder  aus  der  Dunkelheit  zu  ziehen,  die  wahre  Naivitäthaben«*. 
Und  Moser  hat  gerade  dieser  positiven  Seite  freudig  zugestimmt^ 
wie  auch  Boie^  dem  die  Doppelgesichtigkeit  des  Almanachs  ein 

'  Anhang  z.  25,/ 36.  Bd.  der  A  D  Bibliothek  S.  3374.  ~ 

'  An  Lessing  5.  VI.  77 ;  vgl.  auch  Nicolai  an  Lessing  29.VL  76  ==  Lachm.:=M.  21,  108. 
'  An  Nicolai  20.  IX.  77  =  Lachmann.Muncker  18,  250. 

*  Mosers  Ges.  Schriften  ed.  Abeken  2, 160.  Ahnlich  Nicolai  an  Joh  Müller  12. 
VII.  76  =  Briefe  an  Joh.  v.  Müller  ed.  M.  Constant  S.  102;  an  Höpfner  19.  IX. 76 
=  Wagner  III. 

*  14.  XII.  78.  Ges.  Schriften  ed.  Abeken  10,  175. 

«  Boie  an  Nicolai  10.  XI.  76,  9.  XII.  76.  30.V.78  (alles  NN.).  »Die  Vorrede,  die 
viel  Wahres  sagt,  hat  mich  sehr  belustigt,  und  unter  den  Liedern  sind  immer 
einige,  die  nicht  zum  Spaß  gedruckt  xu  werden  verdienten  (!)  Ich  glaube,  daß 
Daniel  Wunderlich  (=  Bürger)  sich  des  ehrsamen  Leinweberhandwerks  annehmen 
wird.  Er  versteht  aber  Scherz  (1),  wie  Seuberlich,  der  Schuster  (Nicolai)  auch  tun 
wird.«  Auf  Nicolais  Anwurf  im  Almanach,  die  volksliedbegeisterten  Genies  seien 

:9*  291 


willkommenes  Mittel  war,  seinen  Standpunkt  zwischen  Nicolai  und 
seinem  Freunde  Bürger  zu  wahren.  Ja  Merck  ging  noch  weiter  und 
fand,  daß  »der  wahre  Genius,  der  nicht  gemeint  sei,  sich  nicht  be* 
klagen  werde«;  auch  der  polemischen  Seite  erkennt  Merck  also  eine 
positive  Wirkung  zu^  Die  Wirkung  von  der  positiven  Seite  her 
blieb  nicht  aus.  Schon  Herder  klagte^  daß  man  sich  auf  Nicolais 
Sammlung  mehr  als  auf  die  seine  berufe,  und  Kircher  hat  fest* 
gestellt,  daß  die  Bemühungen  um  das  Volkslied  bis  zum  Wunder* 
hörn  hin,  ob  positiv  ob  polemisch,  auf  Nicolais  Sammlung  fußen^. 
Nimmt  man  die  Andeutungen  in  seinen  Briefen  an  Herder*  hinzu, 
wonach  er  zu  Herders  —  wie  er  glaubte:  beabsichtigter  —  »Abhand* 
lung  von  den  Nationalliedern«  ein  »Kapitel  von  den  National* 
rhythmis«  schreiben  wollte,  eine  Schrift  über  den  Zusammenhang 
zwischen  nationalen  Rhythmen  und  Liedkunst,  »eine  sehr  gelehrte 
Abhandlung«  über  die  Rhythmik  der  alten  Völker;  und  die  Tat* 
Sache,  daß  Nicolai  mehrere  der  von  ihm  gesammelten  Volks* 
lieder  selbst  komponiert  hat^,  so  wird  man  die  positive  Tendenz 
des  Almanachs  nicht  mehr  anzweifeln  <lürfen.  Und  es  ist  kein 
Beweis  dagegen,  daß  Nicolai,  —  der  übrigens  ein  ebenso  geschick* 
ter,  wie  eifriger  Sammler  war®  —  dem  W^ortlaut  der  alten  Vor* 
lagen  nicht  mit  philologischer  Treue  folgte  und  auch  ein  Lied  ver* 
änderte,  um  eine  Gelegenheit  zu  einem  polemischen  Hieb  wahr* 

feine  Herrchen  ohne  Ahnung  vom  Volksleben,  sagt  Boie:  »Bürger  hat  die  Volks* 

lieder  studiert  wie  wenig  Deutsche  und  hat  gelebt  mit  dem,  was  wir\'olk  nennen«. 

Zur  Fortsetzung  der  Sammlung  erbietet  Boie  sich,  Beiträge  zu  sammeln  und  bei? 

zusteuern;  er  habe  auch  im  2.  Teil  des  Almanachs  mehr  als  ein  Stück  gefunden, 

das  ihm  Vergnügen  gemacht  habe. 

'  Merck  an  Nicolai  »Dez.  76«  =  Wagner  III,  145. 

'  Von  und  an  Herder  I,  58. 

ä  a.  a.  O.  S.  48. 

'  24.  VIII.  72,  2.  III.  73,  18.  III.  73  (Hoffmann  S.  82,  92,  98). 

'■  Göckingk  S.  95;  Parthey,  Jugenderinnerungen  Berlin  1907,  1,  4. 

*  Zu  den  von  Ellinger,  Lohre  und  Bolte  angeführten  Zeugnissen  füge  ich  noch  die 

bisher  meines  Wissens  unbekannt  gebliebenen  hinzu:  Biedermann  an  Nicolai  26. 

XI.77NN.,v.Bretschneider  21.111.76,  14. MI.  76,   12.Xi.76  und  14.111.77  NN. 

und  Buchholz  aus  Weimar  31.  X.  76  und  1.  XII.  76  NN.  Buchholz  hat  die  beiden 

übersandten  Lieder  von  »Madame  Reinhart,  einer  Sängerin«  und  »von  Herrn 

Kapellmeister  Wolff«  erhalten.  Über  Uz'  Bemühungen  für  d.  Almanach  vgl.  hier 

Anhang,  S.  336  f. 

292 


zunehmend  —  Worin  bestand  denn  nun  aber  diese  positive  Ten* 
denz  Nicolais?  —  Eine  Rezension  Raspes  in  der  Weißeschen  Biblio* 
thek'^  und  die  schon  erwälinte  Biestersche  Rezension  des  Nicolai* 
sehen  Almanachs  geben  uns  einen  Wink.  Raspe  hält  die  Percysche 
Sammlung  für  wertvoll,  weil  sie  über  jene  »romantischen  Zeiten« 
aufkläre  und  weil  sie  die  »wahre  Natur  und  Würde  der  Romanze« 
aufzeige;  und  Biester  rühmte  als  das  Verdienst  der  echten  Volks* 
lieder:  »sie  helfen  den  Geist  der  Nation  charakterisieren;  sie  sind 
wichtig  in  Absicht  der  Sprache  und  Geschichte  der  Literatur«.  Der 
hier  ausgesprochene  kulturhistorische  Standpunkt  gegenüber  den 
Volksliedern  ist  auch  der  Nicolaische.  Das  Rudiment  der  alten  Völ* 
ker,  der  alten  Deutschen,  mitten  unter  uns,  die  Unmündigen  und 

'  Lied  XV  des  Almanachs,  dem  Nicolai  dann  die  Bemerkung  anfügte:  »Solt  ob 
disem  Reyen  schir  wenen,  die  üben  Alten  betten  unnder  Gauch  unndt  Geck 
verstanden,  wz  seit  kurtzem  Genye  unndt  Original  heißt.  Treiben  solche  Genyes 
eyn  Fassnachtswesen,  dz  man  wol  seen  möcht  s'  mögen  dem  Kramer  Fürwitz 
weydlich  inn  Kram  griffen  haben«  (Neudruck  S.  34).  Die  Schlußverse  mit  der 
Anspielung  auf  den  Schluß  von  Goethes  »Hans  Sachs  poetische  Sendung«  (»Ein 
Eichenkranz,  ewig  jung  belaubt,  den  setzt  die  Nachwelt  ihm  aufs  Haupt«)  heißen 
in  der  von  Nicolai  geänderten  Fassung: 

»Eyn  Eichenlaub  mit  Stro  durchschnurt 

Mit  Schellen  feyn  umwunden 

Gebührt  dem  Gauch,  der  Geuche  fürt 

In  diesen  Fassnachts^Stunden« 
Die  Vorrede  zum  Almanach  spöttelte  ironisch  über  »Meyster  Hanns  Sachs,  wol 
eyn  Vater  aller  Teutscher  Poeterey«;  war  es  nicht  auch  Spott  gegen  Goethens 
Wiederaufnahme  des  Hans  Sachs,  wenn  Nicolai  dem  Leineweber  Wunderlich 
den  Schuster  Seuberlich  entgegenstellte? —  Was  soll  es  übrigens  heißen,  wenn 
EUinger  (S.  IX)  sagt,  Nicolai  habe  von  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden  Versionen 
der  Volkslieder  die  schlechtesten  herausgesucht;  das  setzt  doch  voraus,  daß  Ni* 
colai  die  richtige  Einsicht  in  das  wahrhaft  Volksliedmäßige  der  Volkslieder  hätte 
haben  müssen!  Ebensowenig  besagt  im  Grunde  Cleves  Behauptung  (a.a.O.S.2I), 
daß  Nicolai,  um  sein  Unternehmen  »nicht  gar  zu  gehaltlos  werden  zu  lassen«, 
sich  genötigt  gesehen  habe,  dem  Volkslied  theoretisch  und  praktisch  einen  ge* 
wissen  Wert  zuzugestehen  —  er  hätte  eben  die  Gehaltlosigkeit  nicht  bemerken 
können,  wenn  er  diesen  »gewissen  Wert«  nicht  von  vorneherein  gefühlt  hätte. 
'  Neue  BibHothek  d.sch.W.  u.  fr.  K.,  Leipzig  1765  I,  176  und  1766  II,  S.  54ff., 
insbesondere  88  f.  Die  .tragischen'  und  .historischen'  werden  von  den  ,roman? 
tischen'  Stücken  getrennt,  und  diese  als  Beigabe  betrachtet;  in  der  Erwartung 
eines  deutschen  Percy  heißt  es:  »wie  viel  würde  die  Historie  der  deutschen 
Dichtkunst  gewinnen«  . . . ! 

293 


Ungebildeten,  ist  ein  Hilfsmittel  zur  Erkenntnis  der  Vergangenheit 
des  Volkes;  und  die  Volkslieder,  die  heute  vom  Volk  gesungen 
werden,  sind  wichtig  als  Ausdruck  der  Lage  und  der  Stimmung  des 
niederen  Volkes.  »Es  tut  mich  sehr  freuen  —  heißt  es  in  der  Vorrede 
zum  zweiten  Jahrgang  des  Almanachs  —  eines  wandernden  Gesellen 
mit  dem  Ränzel  auf  dem  Rücken,  der  ein  Lied  singt  nach  alter  Weise, 
das  ihm  kürze  den  Weg  und  strecke  die  müden  Füße.  Solche  wackere 
Gesellen  verachte  ich  mitnichten,  will  ja  der  Lieder  mehr  mitteilen, 
die  ja  nottun  . . .  Sein  sie  gut  oder  schlecht,  genug  sie  sind  echt.« 
Am  Schluß  der  Vorrede  zum  ersten  Jahrgang  des  Almanachs  er:= 
zählt  Nicolai  die  fingierten  Lebensschicksale  Gabriel  Wunderlichs 
und  läßt  bemerkenswerterweise  den  Volksliedersänger  an  den  ge* 
lehrten  Dichtergesellschaften  —  der  Fruchtbringenden,  wie  es  in 
naivem  Anachronismus  heißt  —  zugrunde  gehen.  Er  hat  damit  das 
andere,  ihm  ebenso  widerwärtige  Extrem  angedeutet:  die  Dichtung 
als  Erzeugnis  der  wenigen  Auserwählten,  als  Mittel  der  Ergötzung 
eines  sozial  fixierten  Kreises.  Der  doppelte  Gegensatz  Nicolais 
gegen  die  aristokratische  Tendenz  der  Klopstockschen  Gelehrten* 
republick  (s.  o.  S.  81)  und  das  Bürgersche  PopularitätsideaP  ist  hier 
allegorisch  umschrieben.  Dichtung  ist  für  Nicolai  kein  Erzeugnis 
der  frei  schaffenden  Individualität,  aber  auch  kein  Erzeugnis  des 
populus,  in  dem  die  Individualität  nicht  ausgebildet  wird  oder  ver* 
schwindet.  Die  Gesellschaft  ist  für  Nicolai  der  Boden,  auf  dem 
beides  ausgeglichen  wird,  die  Gesellschaft,  deren  Gliederung  die 
Verschiedenheit  der  dichterischen  Formen  entspricht  und  vor  allem 
die  Zweigliederung  in  eine  naiv*ungebildete  Kunstübung  und  in 
eine  solche  der  Gebildeten.  »Und  acht  ich,«  heißt's  im  Almanach, 

*  Der  Gegensatz  spiegelt  sich  in  einer  Kontroverse  Brückner  -  Voß  wieder: 
Brückner  meint:  »Ist's  nicht  des  Dichters  Pflicht,  sich  alle  mögliche  Mühe  zu 
geben,  für  die  meisten  Leser  verständlich  u.  leicht  zu  sein?  Laß  uns  immerhin 
kleiner  sein,  wenn  wir  nur  nützlicher  sind ;  das  ist  eigentlich  allein  wahre  Größe«, 
mit  ausdrücklichem  Bezug  auf  die  Geniebewegung  (Briefe  an  Voß,  ed.  Abraham 
Voß  l,  183).  Voß  verweist  ihn  auf  das,  »was  Klopstock  in  der  Republik  darüber 
sagt.  Der  Dichter,  der  nur  Eine  große  Seele,  die  wieder  wirken  kann,  stark  rührt, 
tut  mehr  als  der,  der  den  ganzen  Mittelstand  in  eine  dumme  Andacht  einschläfert«, 
Simplizität  des  Ausdrucks  dürfe  nicht  auf  Kosten  der  Originalität  des  Inhalts 
gehen.  (An  Brückner  17.  XI.  74  ebenda.)  Auch  Bürgers  Popularitätsideal  nahm 
die  »hirnlose  Mittelklasse«  aus. 

294 


»es  werde  jedes  Ding  bleiben  in  seiner  Art  und  damit  auch  Volks? 
lieder  Lieder  fürs  Volk  und  gelehrte  Poeterei  eine  Poeterei  für  ge* 
lehrte  Leute«:^  So  hat  das  Volkslied  seine  bestimmte  Funktion  für 
die  Entwicklung  der  Dichtung  —  aber  auch  nur  eine  Funktion; 
dem  Bürgerschen  Satz,  daß  die  homerischen  Epen  den  Griechen 
waren,  was  unserem  Volk  die  Volkslieder  sein  sollten  und  könnten^, 
widerspricht  Nicolai  entschieden  —  freilich  mit  dem  wirklich 
borniert  mißverstehenden  Einwand,  daß  schlechten  Dank  ernten 
würde,  wer  die  Ilias  oder  Odyssee  nach  Volksliederart  übertragen 
wollte.  —  Diese  Stellung  Nicolais  wird  noch  deutlicher,  wenn  wir 
sie  an  den  analogen  gegensätzlichen  Bestrebungen  auf  sprachlichem 
Gebiet  messen.  Die  Verfechter  des  Popularitätsideals  und  der  Volks« 
poesie  traten  für  die  »natürliche«  Sprache  des  Volks  in  seinen  Mund* 
arten  ein.  Nicolai  aber  vertrat,  wie  wir  uns  mehrfach^  vergegenwär» 
tigten,  das  Ideal  einer  nicht  nur  geschriebenen,  sondern  auch  ge« 
sprochenen  hochdeutschen  Einheitssprache,  und  gerade  die  Jungen 
'  Erwin  Kirchers  Behauptung  (a.  a.  O.  S.  45),  der  Almanach  richte  sich  gegen 
Herders  »romantischen  Dualismus«  (!)  von  Natur*  und  Kunstpoesie  —  eine  Be« 
hauptung,  die  mir  übrigens  um  so  unverständHcher  ist,  als  Kircher  selbst  fest* 
stellt,  daß  bei  Herder,  im  Gegensatz  zu  Bürger,  der  »ein  friedliches  Neben* 
einander  gelten  lasse«,  Natur«  und  Kunstpoesie  zeitlich  und  psychologisch  aus* 
einander  hervorgehen  —  wird  durch  diesen  Satz,  der  in  mehrfachen  Varia* 
tionen  wiederkehrt,  widerlegt.  Nicolais  satirische  Unterscheidung  zwischen  der 
alten  Schuhmacherkunst  —  wo  der  Schuh  »auf 'n  ersten  Schnitt,  frei,  aus  innerem 
Drang«  zugeschnitten  ward,  so  daß  über  dem  nackten  Fuß  »der  lebendige  Odem 
freier  Luft  webte  und  wehete«,  —  und  der  neuen,  —  wo  die  Schuhe  »recht  schick* 
lieh«  hergestellt  wurden,  »so  daß  die  Füße  sich  quetschten«  —  ist  nichts  weiter 
als  Spott  gegen  die  übertriebene  Konsequenz  der  Volksliedtheorie;  sie  richtet 
sich  aber  keinesfalls  gegen  die  Trennung  von  Kunstpoesie  und  Naturpoesie  an 
sich,  die  Nicolai  so  gut  forderte  wie  Mendelssohn  in  seiner  oben  (S.  173,  Anm.  6) 
erwähnten  Rezension  der  Herderschen  Fragmente.  Gewiß  hat  Herder  beides  theo* 
retisch  in  einer  Weise  unterschieden,  die  von  Nicolais  Unterscheidung  sehr  weit 
entfernt  ist  und  so,  daß  beides  völlig  neu  begründet  wurde.  Aber  Nicolai  hat  sich 
gegen  das  »ä  la  modische  Zwittergemengsel«  Bürgers  gewehrt,  der  Kunstpoesie 
(»Versmacherkunst«)  nur  notgedrungen  überhaupt  als  existenzberechtigt  zugab. 
^  Diese  Bürgerschen  Sätze  erscheinen  dann  wiederum  vergröbert  —  wenn  man 
Herder  dagegenhält  —  bei  Voß:  »Was  braucht's  schöner  Natur!  Der  Schotte 
Ossian  ist  ein  größerer  Dichter  als  der  Jonier  Homer.  Und  Batteux  ist  ein  Narr« 
usw.  (An  Brückner  20.  III.  75  =  Briefe  von  und  an  Voß  ed.  Abraham  Voß  1, 191 ; 
von  Voß  12.VIII.  76  ebenda  etwas  modifiziert.) 
'  Vgl.  insbes.  oben  S.  47,  und  die  Kontroversen  mit  Hamann  und  Herder. 

295 


verspottete  er  oft  wegen  ihres  ausgiebigen  Gebrauchs  von  Dialekt* 
formen  und  AVorten.  Gleichwohl  ist  er,  der  (im  125.  Literaturbrief) 
die  Provinzialidiotismen  aus  einem  Deutschen  Wörterbuch  ver* 
bannt  wissen  will,  da  wo  er  die  Sprache  nicht  als  Mittel  der  Kunst 
und  nicht  als  Funktion  der  Gesellschaft  betrachtet,  sondern  als 
kulturhistorisches  und  ^psychologisches  Objekt,  ein  eifriger,  liebe* 
voller  Sammler  mundartlicher  Formen  und  Worte:  seine  Reise* 
beschreibung,  das  Werk,  in  dem  sein  kulturhistorischer  Standpunkt 
sich  am  reinsten  darstellt,  enthält  nicht  nur  ausgiebige  Sammlungen 
bayrischer  und  österreichischer  Dialektformen  ^  sondern  sogar  den 
—  an  den  damaligen  Bemühungen  gemessen:  außerordentlich  viel* 
seitigen  und  genauen  —  »Versuch  eines  schwäbischen  Idiotikon«^. 
Er  erhofft  sich  hier  »von  der  Kenntnis  der  provinziellen  Dialekte 
einen  großen  Vorrat  von  brauchbaren  Wörtern,  um  Begriffe  zu  be* 
zeichnen,  für  die  wir  in  der  allgemeinen  Sprache  keine  Benennungen 
haben«;  aber  »sie  verhilft  uns  auch  zu  einem  philosophischen 
Blick  in  die  Bildung  der  Sprache«  und  ihre  Entwicklung, 
und  als  Mittel  zur  Erkenntnis  des  Charakters  und  der  Sitten  steht 
die  Mundart  ihm  höher  als  die  Schriftsprache.  Freilich  erkennen 
wir  hier  in  seiner  Begründung  dieses  Standpunktes  eine  —  Her* 
dersche  Reminiszenz^;  aber  die  Tatsache  steht  fest  und  erhellt  die 
Tendenz  seines  Almanaches,  daß  er  neben  der  Sprache  der  Bildung 
die  »Volks«sprache  der  Sammlung  und  Pflege  für  würdig  erachtet, 
wie  neben  der  Kunstpoesie  die  »Volkspoesie«,  die  freilich  —  wie 
die  Volksprache  nicht  an  sich,  sondern  nur  in  der  Beziehung  auf 
die  Sprache  der  Bildung  Gültigkeit  und  Wert  hat  —  nicht  zum 
absoluten  ästhetischen  Wert  erhoben  werden  darf. 

Von  diesem  Standpunkt  aus,  der  die  Dichtung  als  Erzeugnis  und 
Objekt  der  Gesellschaft,  die  sogenannte  Volkspoesie  als  Funktion 
und  als  Mittel  der  Dichtung  auffaßt,  hat  Nicolai  auch  die  Polemik 
geführt.  Von  hier  aus  zielte  er  besonders  gegen  diejenigen  Sätze  der 
Herderschen  Konzeption  und  der  Bürgerschen  Ausführung,  die 
'  Reisebeschreibung  V.  Beilage  XIV,  S.  70ff.  und  VI,  S.  780 ff. 
■  Ressebeschreibung  IX,  Beilage  VIII,  S.  113  ff. 

^  Insbesondere  in  dem  Satz:  die  Schriftsprache  »wird  durch  Kultur  nach  und 
nach  so  glatt,  so  charakter?  und  gepräglos,  daß  sie,  wie  alte  gangbare  Scheide^ 
münze  . . .  nicht  nur  ihre  Rauhheit,  sondern  mit  derselben  auch  ihre  unterscheid 
dende  Eigenheit  verliert«  (a.  a.  O.  S.  113). 

296 


vom  Genie«  und  Originalgedanken  getragen  waren.  Ausflüsse  des 
Geniegedankens  zeigten  sich  bei  Herder  vorwiegend  in  der  ge* 
schichtsphilosophischen  Konstruktion,  bei  Bürger  in  der  Polemik. 
Und  Nicolai  griff  die  Polemik  auf.  Es  kommt  uns  auch  hier,  so 
wenig  wie  bei  den  »Freuden«,  nicht  darauf  an,  den  Witz,  mit 
dem  Nicolai  »die  Genies«  zu  treffen  suchte,  als  solchen  zu  charak* 
terisieren  —  zumal  Minor,  Cleve  und  Ellinger  sich  hierum  bereits 
bemüht  haben  —  sondern  dasjenige,  was  er  ausdrücken  sollte.  Und 
hier  zeigt  sich  wiederum  der  Standpunkt  der  »Freuden«  —  bei 
dem  wir  an  Mendelssohns  Vorwurf  gegen  Rousseau  erinnerten,  daß 
nämlich  seine  Kenntnis  des  menschlichen  Herzens  »mehr  Spekula« 
tivisch  als  pragmatisch  sei«  —  wenn  Nicolai  den  Jungen  den  Wider« 
Spruch  zwischen  ihrem  Wollen  und  ihrem  Sein  vorhält.  Wer  Hand« 
werksburschenlieder  machen  und  sie  rechtgenießen  will,  muß  wahren 
Handwerksburschen  sinn  haben,  muß  leben  wie  die  Handwerks« 
burschen,  muß  mit  ihnen  leben,  darf  nicht  ein  Wohlleben  führen 
wie  die  »Genies«.  »Es  muß  traun  ganz  getan  sein  oder  muß  gar 
unterbleiben.«  Entweder,  ruft  er  ihnen  zu,  bleibt  vornehme  und  ge« 
lehrte  Leute;  dann  dichtet  auch  für  solche.  Oder  dichtet  für  Hand« 
werksburschen:  dann  lebt  auch  wirklich  mit  ihnen,  sonst  wird's  nur 
»alamodisch  Zwittergemengsel«.  Entweder  ist  die  Volksliedtheorie 
ad  absurdum  geführt  an  dem  bestehenden  Verhältnis  von  Dichtung 
und  Gesellschaft;  oder  der  Originalitätsgedanke  an  der  Volkslied« 
theorie.  Denn  die  tieferen  Zusammenhänge  zwischen  Originalge« 
danken  und  der  (Herderschen)  Volksliedtheorie  hat  Nicolai  offen« 
bar  nicht  eingesehen,  weder  in  ihrer  objektiven  Prägung  —  »je  älter, 
desto  lebendiger,  desto  kühner  und  werfender«  —  noch  in  der  sub« 
jektiven:  in  der  Analogisierung  der  dichterischen  Konzeption  mit 
der  Schaffensweise  des  Volksliedes.  Der  Rousseauischen  Färbung 
dieser  Zusammenhänge  bei  Bürger  aber  widersprach  Nicolai.  In 
seinem  späteren  Roman  vom  »Dicken  Mann«  ergreift  den  Helden 
im  Überschwang  seiner  Abneigung  gegen  die  Gesellschaft  »ein  ganz 
enthusiastischer  Trieb  zum  Landleben«;  er  wird  Dorfschulmeister, 
bringt  sein  überkultiviertes  und  empfindliches  Wesen  in  die  Dorf« 
schule  hinein  und  scheitert,  nachdem  er  allerlei  Unheil  damit  ange« 
richtet  hat^  Das  klingt  wie  ein  Nachhall  seiner  Polemik  gegen  die 
'  »Dicker  Mann«  II,  Kap.  26,  S.  74 ff. 

297 


Volksliedverfechter.  Wieder  muß  Johann  Georg  Jacobi  und  sein 
»tugendsames  Fräulein  Iris«^  herhalten,  und  auch  Lenz  mag  von 
diesem  Vorwurf  mit  getroffen  sein'^.  »'s  ist  eitel  Mummerey«,  wenn 
sie  sich  für  »grobe  Knollen«  ausgeben;  im  Grunde  wollen  sie  auch 
nur  »feinen  Damen  neue  Liedlein  vormachen«;  »'s  sind  doch  nur 
Versemacher«.  Das  »Zurück  zur  Natur«  ist  nur  eine  Form  der 
Ziererei  und  Überkultiviertheit,  die  sie  nicht  ablegen  können.  »Die 
äußere  Form  tut's  aber  wahrlich  nicht.  Kleid  du  deine  alamo* 
dischen  Gedanken  in  Form  eines  alten  Volksreihen,  so 
bleibt's  doch  ewig  ein  alamodischer  Vers.«  Sie  zu  bekehren, 
hat  der  zweite  Jahrgang  des  Almanachs  denn  auch  aufgegeben: 
»was  hilft's,  ob  der  Äff  in  Spiegel  seh!'  er  bleibt  doch  ein  Äff;«  sein 
Hauptzweck  ist  die  Fortsetzung  der  Sammlung  selbst. 

Während  Nicolai  aber  die  Polemik  aufgeben  zu  können  glaubte, 
und  vornehmlich  im  zweiten  Jahrgang  dem  positiven  Zweck  des 
Almanachs  unbekümmert  um  alle  Einsprache  diente,  sah  Herder 
sich  veranlaßt,  seine  Bemühungen  um  das  Volkslied  mit  Rücksicht 
auf  Nicolais  Spott  —  diese  »Schüssel  voll  Schlamm«,  wie  er  den 
Almanach  nannte^  —  einzuschränken.  Er  gab  zwar  1777  den  Aufsatz 
»Von  Ähnlichkeit  der  mittleren  englischen  und  deutschen  Dicht* 
kunst«  heraus,  in  dem  er  die  Fäden  des  Ossianaufsatzes  weiter* 
spann,  aber  bei  der  eigentlichen  Sammlung  schrieb  er  sich  vor*  »den 
Nicolai  und  Konsorten  nichts  zu  schmähen  zu  geben,«  und  bei  den 
deutschen  Stücken  »leise  zu  gehen«.  In  einem  späteren  Brief  an 
Kennedy^  bedauert  Herder,  daß  er  wegen  der  Bemühungen  um 
das  Volkslied  zu  denjenigen  gezählt  würde,  die  mit  ihrer  Ori« 
ginalitätssucht  die  Poesie  verdürben.  »Die  Volkslieder,«  schränkt 
er  seinen  früheren  Standpunkt  ein,  »sind  nicht  herausgegeben,  um 
Muster  zu  werden  und  gerade  nicht  in  dem,  worin  Bürger,  der  AI* 
manach  usw.  die  Volksdichteley  setzen,  die  mich  von  Herzen  mit 
ihrem  Eia  Popeia  ärgern;«  er  habe  nur  »Goldkörner  aus  ihrem  Un* 

'  Über  den  Grund  vgl.  Ellinger  S.  X\1I,  Anm.  2  zu  Bd.  V  (1776),  S.  131  f.  der 

»Iris«. 

-  Man  riet  damals  »sonderbar  genug«  auch  auf  Klopstock  undVoß  (Boie  an 

Bürger  25.  X.  76  =  Strodtmann  I,  348). 

'  Suphan  9,  530. 

'  An  Gleim  =  Von  und  an  Herder  1,  51. 

^  27.  XII.  79  =  Viertelj.  f.  Litgesch.  II  (1889).  S.  144f. 

298 


rat  ziehen«  wollen,  aber  nicht  »das  Rauhe  und  Unpassende  aus  sol* 
chen  Zeiten  wiederbringen  wollen«.  Zweierlei  ist  an  dieser  Herder* 
sehen  Äußerung,  die  freilich  mit  Rücksicht  auf  den  Empfänger  des 
Briefes  etwas  gefärbt  ist,  für  uns  bemerkenswert.  Wir  erinnern  uns, 
daß  Nicolai  mit  deutlicher  Bezugnahme  auf  den  an  Ossian  genähr* 
ten  Bardengeschmack,  die  »Zurückrufung  von  rauhen  und  kindi* 
sehen  Vergnügungen«  Herder  gegenüber  als  Aufgabe  der  Poesie 
formuliert  hatte  ^;  und  daß  er  die  alten  Kelten  (und  Deutschen)  als 
barbarische  Völker  gekennzeichnet  hatte,  die  uns  wesensfremder 
seien  als  Griechen  und  Römer,  deren  Bildung  sie  weit  über  jene 
stelle.  Herder  hatte  Nicolai  hierauf  nicht  direkt,  aber  im  Ossian* 
aufsatz  geantwortet^,  und  seine  Ansichten  leidenschaftlich  abge* 
lehnt.  Jetzt  spricht  Herder  vom  Standpunkt  des  reifenden  Humani* 
tätsideals,  für  das  die  Begriffe  Bildung  und  Entwicklung  einen  an* 
deren  Sinn  bekommen  haben.  Von  hier  aus  stellt  er  —  und  das  ist 
der  zweite  bemerkenswerte  Gesichtspunkt  jener  Äußerung  —  Bür* 
ger  ohne  weiteres  neben  Nicolai!  Beide  in  Herders  Augen  gleich 
positiv  und  negativ  —  beides  Agitatoren  einer  »Bewegung«,  die  er 
inspiriert  hatte,  die  ihm  aber  als  Bewegung  die  Früchte  seiner  Mühen 
raubte. 

Anders,  seiner  Natur  und  dem  Charakter  seiner  Kundgebung 
nach,  verhielt  sich  Bürger.  Auch  ohne  den  ermunternden  Zuruf  von 
Freunden^  hätte  er  gegen  Nicolais  Spott  Einspruch  erheben  müssen 
—  das  Agitatorische  seiner  Kundgebung  mußte  ihn  dazu  führen. Und 
die  Art  seines  Einspruchs  ist  für  den  Charakter  der  Bürgerschen 
Kundgebung  ein  bemerkenswertes  nachträgliches  Zeugnis.  Bürger 
dachte  nicht  daran,  mit  einer  eigenen  Sammlung  von  Volksliedern 
den  Spötter  zum  Schweigen  zu  bringen.  Das  erst  aus  seinem  Nach* 

'  An  Herder  21.  III.  72. 

*  ed.  SuphanV,  164  —  »wilder  ungesitteter  Völker?  ich  kann  Ihre  Stelle  kaum 
ausschreiben.  So  gehörte  ihr  Ossian ...  so  schlechthin  zu  einem  wilden  unge^ 
sitteten Volke?  Und  wenn  jener  auch  alles  idealisiert  hätte,  wer  so  idealisieren 

konnte der  war  wildes  Volk?«  usw. 

'  z.  B.  Goeckingk,  der  nachmalige  vertrauteste  Freund  Nicolais,  an  Bürger  15. 
XI.  76  =  Strodtmann  1, 362  f.:  er  ermuntert  Bürger  »Deutschlands  hochstudiertem 
Lustigmacher  .  .  angesichts  des  ehrsamen  Publici . .  die  Hosen,  die  bunten  Hosen 
abzuziehen«;  er  wolle  selbst  Hand  mit  ans  Werk  legen.  Ähnlich  Boie  an  Bürger 
1.  XI.  76  =  Strodtmann  I,  352. 

299 


laß  veröffentlichte  Stück  »Zur  Beherzigung  an  die  Philosophun* 
culos«.ist  eine  einseitige  Fortsetzung  seiner  agitatorischen  Polemik, 
in  ihrem  wesentlichsten  Gedankenkern  freilich  nicht  mehr  auf  Nico* 
lais  Almanach  bezüglich.  Die  »Rache«,  die  er  Nicolai  eigentlich  zu* 
dachte,  ist  nicht  ausgeführt  worden.  Die  umgearbeitete  »Europa«, 
die  er  mit  —  recht  allgemein  gehaltenen  und  im  Grunde  nichts  be# 
sagenden  —  Invektiven  gegen  Nicolai  »spickte«  \  hat  Boie  mit  Rück* 
sieht  auf  sein  freundschaftliches  Verhältnis  zu  Nicolai  nicht  abge* 
druckt".  Ein  anderer  Racheplan,  den  er  Boie  andeutet^,  ist  über* 
haupt  nicht  ausgeführt;  denn  bald  bekennt  er*:  »Seuberlich,  Seuber* 
lieh,  du  bist  morgens  und  abends  mein  Memento,  das  mich  dahin 
treiben  wird,  wohin  vielleicht  aller  Wind  des  Lobes  mich  nicht  ge* 
trieben  hätte.«  So  besann  er  sich  erst  jetzt  darauf,  dem  Spötter  Nico* 
lai  sein  Werk  als  wirksamste  Antwort  entgegenzusetzen,  »mit  Wort 
und  Tat  zu  zeigen,  was  echte,  lebendige  V^olkspoesie  sei«.  —  Wäh* 
rend  Bürgers  Antwort  an  Nicolai  im  wesentlichen  in  persönlicher 
Abneigung  und  persönlichen  Angriffen  bestand  —  erst  später  hat 
er  sich  etwas  bekehrt,  da  Boie  und  Biester  Nicolai  nicht  fallen  lie* 
ßen^  —  hat  Nicolai  von  jeder  Fortsetzung  des  Streites  besonders 
nach  der  persönlichen  Seite  hin  abgesehen.  Bürgers  Bild  stand  vor 

'  Bürger  an  Sprickmann  26.  XII.  76  =  Strodtmann  I,  382  f.,  »den  Spaßvogel  unter 
der  Stechbahn  hab  ich  einstweilen  ein  bissei  gezwiebelt«  usw.  Übrigens  wendet 
Bürger  sich  in  diesen  eingeschobenen  Versen  auch  gegen  seine  Nachahmer  unter 
den  Jungen.  »Doch  ihr,  Kunstjüngerlein! 

Mögt  meinen  Melodeyen 

Nur  nicht  flugs  nachlalleyen 

Sonst  wird  die  Kunst  gemein. 

Beherzigt  doch  das  dictum: 

Cacatum  non  est  pictum«  usw. 
"  Boie  an  Bürger  29.  XII.  76  =  Strodtmann  I,  386  (Boie  rät  auch  später  (an  Bür» 
ger  16.1.  78  =  Strodtmann  II,  211),  die  Ausfälle  auf  Nicelai  aus  den  Ges.  Gedichten 
fortzulassen.    • 

'  An  Boie  28.  X.  76  =  Strodtm.  I,  351 ;  vgl.  auch  an  Boie  5.  XII.  76  =  I,  373,  eben* 
falls  auf  die  »Rache«  bezüglich. 
'  19.  XII.  76  =  Strodtmann  I,  380. 

'  Biesteran Bürger  22.  IX. 77  =  Strodtmann II,  138;  Boie 29.XII. 76  =  Strodtmann I. 
386.  Für  Bürgers  persönlich  gehässige  Stellung  gegen  Nicolai  vgl. seine  Äuikrung 
zu  Boie  (7.  XII.  78):  er  gönne  Nicolai  von  Herzen  »die  Anatomie«,  die  Wieland 
mit  dem  »Kadaver  Bunkel«  angestellt  habe.  Vgl.  auch  Bürger  an  Boie  1 1.  VIII.  77 
=  Strodtmann  II,  112. 

300 


dem  35.  Band  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  (1778);  eine 
etwas  spätere  Rezension  von  Bürgers  Gesammelten  Gedichten  in 
der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^  sagte  von  ihnen,  sie  seien 
»so  wahr,  so  stark,  so  männlich,  so  original,  wie  sie  selten  in  unse* 
rem  lieben  deutschen  Vaterlande  erscheinen«;  ein  Lob,  das  dann 
Eschenburg  allerdings  wieder  abtrugt.  In  seinem  Kampf  gegen  den 
Xenienalmanach  hat  Nicolai  Bürger  als  Eideshelfer  gegen  Goethe 
aufgerufen  \  ohne  seine  ursprüngliche  Stellungnahme  aufzugeben: 
noch  auf  dem  »Allgemeinen  Philosophischen  Reichstag«  im  »Sem* 
pronius  Gundibert«*  läßt  er  den  kritisch^ästhetischen  Kunstrichter 

—  Schlegelscher  Observanz!  —  von  dem  »berühmten  Ossian«  ab? 
stammen.  Möglicherweise  gab  ihm  der  über  die  Volksmärchen  aus* 
brechende  Streit  mit  Tieck  in  dieser  späteren  Zeit  Gelegenheit,  seine 
Ablehnung  der  Volksliedbewegung  nachträglich  zu  befestigen. 

Daß  Biester  und  etwas  später  Göckingk,  wie  schließlich  auch 
Voß,  aus  Freunden  und  Helfern  Bürgers  seine  vertrauten  Freunde 
wurden,  hat  Nicolai  sicher  auch  aus  dem  Gefühl  seines  Gegensatzes 
zU  Bürger  begrüßt.  Aber  Boie  hatte  Recht,  wenn  er  Bürger  beruhi* 
gend  und  Nicolais  »wirklich  schätzbare  Seite«  hervorhebend,  doch 
die  zunehmende  Isolierung  Nicolais  feststellte^:  »Unter  den  ersten 
der  Nation  ist  Mendelssohn  sein  einziger  Freund«. 

'  Anhang  z.  25. '36.  Bd.,  2, 784;  sie  ist  von  dem  Pastor  Noodt  inWesenberg  ver= 
faßt,  wie.aus  dessen  Brief  vom  7.  XI.  88  NN.  hervorgeht.  —  Nicolais  Standpunkt 
zu  Bürgers  Übersetzertätigkeit  —  die  dann  im  Streit  mitVol^  eine  Rolle  spielt  — 
ist  angedeutet  in  Boies  Antwort  (vom  8.  III.  77  NN.)  zu  einem  verlorenen  Brief 
Nicolais:  »Ich  sähe,  wie  Sie,  lieber,  daß  er  seine  Kraft  zu  einem  Originalwerk 
brauchte,  aber  — « 

-  Rezension  des  Göttinger  Musenalmanachs  1785:  A  D  Bibliothek  62,2,397. 
»Herr  Bürger  scheint  noch  immer  an  einer  recht  derben  oder  vielmehr  plumpen 
Sprache  sein  Wohlbehagen  zu  finden  und  seiner  Lesewelt  eben  diesen  Kraft= 
geschmack  zuzutrauen.« 

*  »Anhang  z.  Schillers  Musenalmanach«  S.  160ff.  »Bürger,  der  als  Dichter  mit 
Goethen  gewiß  in  eben  derselben  Klasse  steht«  usw.;  er  erzählt  dann  die  Aneks 
dote  von  Bürgers  Besuch  bei  Goethe  und  seiner  kalten  Aufnahme  durch  den 
Minister  Goethe,  und  weist  auf  das  Bürgersche  Epigramm  hin:  »Mich  drängt  es, 
in  ein  Haus  zu  gehn,  drin  wohnt  ein  Künstler  und  Minister«  usw.  Vgl.  hierzu 
Nicolai  an  L.  Ch.  Althof  9.  XII.  1796  =  Strodtmann  4.  268  und  271. 

*  S.  173. 

'  Boie  an  Bürger  II.XII.78  =  Strodtmann  11,329. 

301 


J.  H.  VOSS'»VERHÖRE«  GEGEN  NICOLAI 


In  seinem  Brief  vom  15.  VI.  79  ermuntert  Gebier  Nicolai  zu  einer 
»neuen  Satire  über  den  neuesten  Geschmack  oder  vielmehr  Unsinn, 
der  alles  Gute,  welches  die  vortrefflichen  Literaturbriefe  gestiftet 
haben,  wieder  umwirft  und  selbst  die  Sprache  verderbt«.  Nicolai 
bemerkt  dazu  am  Rande :  »Fast  sollte  ich  glauben,  dieser  Geschmack 
wäre  so  gefallen,  daß  er  eine  Satire  nicht  mehr  wert  ist.<ir  Eine  starke 
Müdigkeit  Nicolais  in  seinem  Kampf  gegen  die  Jungen  ist  in  dieser 
Zeit  allgemein  bemerkbar;  er  ist  um  so  weniger  zur  Fortsetzung  des 
Streites  geneigt,  als  er  durch  seine  historischen  Arbeiten  vollkom* 
men  in  Anspruch  genommen  ist.  Schon  das  Erscheinen  des  zweiten 
Almanachjahrgangs  verzögert  sich  deshalb :  »Da  ich  jetzt  in  Archiv* 
Urkunden  nach  Männern  suche,  die  längst  vergessen  sind  und 
nach  Häusern,  welche  längst  umgerissen  worden,  so  habe  ich  noch 
in  einigen  Monaten  nicht  Zeit  an  Volkslieder,  Genies  und  andere 
solche  ungelehrte  Sachen  zu  denkend«  Biester  bemerkt,  daß  in  Ni« 
colais  Kreis  nicht  nur  die  gegenwärtige,  sondern  alle  Poesie  »nicht 
sehr  in  Ehren  gehalten«  wird'-.  Zu  der  inneren  Abwendung  von 
der  Poesie  zu  den  Studien,  die  »recht  eigentlich  den  Menschen  be# 
treffen«,  trat  jetzt  auch  die  äußere.  Und  in  dieser  Situation  traf  ihn 
der  schärfste  Angriff  aus  dem  Kreise  der  Jungen:  die  Voßschen 
»Verhöre«  im  Deutschen  Museum^. 

An  diesem  Punkt  des  Verhältnisses  zum  Sturm  und  Drang  er# 
geben  sich  zwar  keine  neuen  und  bewegenden  Gegensätze  mehr. 
Voß'  Verhöre  stellen  vielmehr  in  jeder  Weise  einen  Abschluß  dar: 
eine  Zusammenfassung  aller  früher  schon  aktiv  gewordenen  Gegen* 
sätze,  aber  mit  einer  so  scharfen  polemischen  Zuspitzung  gegen 
das  eigentliche  Lebenswerk  Nicolais,  daß  er,  in  seiner  Antwort 
wie  in  anderen  zeitlich,  sachlich  oder  psychologisch  sich  anschlie* 
ßenden  Kundgebungen,  zu  einer  Rechtfertigung  seiner  Existenz 
gedrängt  wird,  die  sich  selbst  nicht  mehr  schlechthin  voraussetzen 

*  Nie.  an  Hamann  11.  X.  77  =  O.  Hoffmann,  Vierteljahrsschrift  1, 133. 
^  Biester  an  Bürger  (über  Nicolai  und  J.  J.  Engel)  17.  IX. 77  =  Strodtmann  II,  134. 
'"  Deutsches  xMuseum  1779,  II  (August),  15872;  1780,1  (März),  264  73;  1780,11 
(November)  446/60;  1781,  I  (März  und  April),  158 ff.,  327 ff. 

302 


kann,  sondern  zur  Besinnung  über  sich  selbst  geführt,  sich  historisch 
nehmen  muß. 

Dabei  hat  Nicolai  die  Voßschen  Verhöre  keineswegs  als  Ausfluß 
des  gegensätzlichen  Geistes  in  allen  Elementen  empfunden,  und 
wir  werden  uns  hüten  müssen,  die  innere,  sachliche  Beziehung  der 
Voßschen  Streitschriften  zu  den  wesentlichsten  Kundgebungen  des 
Sturms  und  Drangs  zu  überschätzen:  einmal  wegen  der  besonderen 
dichterischen  und  menschlichen  Natur  des  Homerübersetzers  und 
Idyllendichters,  zweitens  wegen  der  Besonderheit  des  Anlasses 
und  schließlich  auch  mit  Rücksicht  darauf,  daß  Voß'  Loslösungs* 
prozeß  vom  Sturm  und  Drang,  von  Klopstock  und  Fritz  Stoll= 
berg  insbesondere,  schon  um  diese  Zeit  begonnen  hat;  bereits 
nach  einem  Jahrzehnt  trat  Voß  in  das  Lager  seines  Gegners  Ni* 
colai  über.  Nicolai  hat  jenen  inneren  sachlichen  Zusammenhang 
weniger  bemerkt  als  vielmehr  die  äußeren  Beziehungen  zu  Klop:« 
stock,  Herder,  Goethe,  Bürger,  die  der  Voßschen  Polemik  Stütze 
gaben;  er  empfand  hier  wiederum  mehr  die  Tatsache  seiner 
Gegensätzlichkeit  als  deren  wirksame  Momente,  die  geistigen  An= 
triebe. 

In  der  »zuverlässigen  Nachricht  von  einigen  nahen  Verwandten 
des  Hrn.  Magister  Sebaldus  Nothanker«  (am  Schluß  des  zweiten 
Bandes)  hieß  es  von  einem  ungeratenen  Sohne  des  Sebaldus,  er 
habe  »zuletzt  bei  einer  kleinen  gelehrten  Republik,  auf  einer  siehe* 
ren  deutschen  Universität,  welche  ihre  Landtage,  in  Ermangelung 
eines  Eichenhains,  in  einem  Kaffeegarten  vor  dem  Thore  hielt«,  als 
»Nasenrümpfer«  Anstellung  gefunden  \  Das  galt  unzweifelhaft  dem 
Göttinger  Hainbund,  wie  schon  seine  Angehörigen  bemerkten-, 
den  »Jünglingen,  die  fein  lernen  und  forschen«  sollten,  ehe  sie  sich 
zum  Richter  über  andere  aufwerfen,  wie  die  Allgemeine  Deutsche 
Bibliothek  es  insbesondere  Fritz  Stollberg  empfahl,  der  im  Deut* 
sehen  Museum  aus  Lavaters  Physiognomik  hitzige  Folgerungen 
'  Seb.Noth.  11,263. 

■  Vgl.  die  (zumeist  ohne  Datum  abgedruckten)  Briefe  des  jüngeren  Boie  bei 
H.  Uhde.  In  Göttingen  vor  100  Jahren  =  Im  Neuen  Reich,  1875,  S.  283.  Rudolf 
Boie  berichtet  dort  auch  über  die  Stellung  der  Göttinger  Professoren  zum  Hain? 
bund ;  er  stellt  fest,  daß  sie  in  ihrem  Kreise  unwahre,  karikierende  Anekdoten 
über  den  Hainbund  und  seine  Sitzungen  verbreiten.  Vgl.  auch  Voßbriefe  I,  175 
und  I,  247. 

503 


gegen  das  Wolffsche  System  gezogen  hattet  Schon  1774  kennzeich* 
net  Voß  es  als  eine  der  Absichten  des  Hainbundes,  mit  Klopstocks 
Billigung,  »die  Schemel  der  Ausrufer,  wenn  sie  zu  sehr  und  zu  un* 
verschämt  schreien,  zu  stürzen«-;  aber  man  beschränkte  sich  in  dem 
Göttinger  Freundschaftskreis,  in  dem  die  produktiven  Talente  und 
Interessen  durchaus  überwogen,  auf  die  Verbrennung  Wielandscher 
Romane  und  gelegentliche  derbe  Aussprachen  über  die  deutschen 
Kunstrichter;  von  Nicolai  selbst  spricht  Voß  noch  im  ersten  »Ver* 
hör«  mit  unverkennbarer  Achtung,  die  wohl  auf  Boies  Einfluß  ge* 
gründet  ist.  Erst  fünf  Jahre  später,  als  sich  der  Hainbund  schon 
längst  aufgelöst  hat,  setzt  er  seine  Absicht  gegen  eine  Köhlersche 
Rezension  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek^,  eine  Verglei* 
chung  der  Bodmerschen  Odyssee*  und  Iliasübersetzung  mit  der 
Stollbergschen  Iliasübersetzung,  in  die  Tat  um.  Hier  wurde  seine 
eigene  Sache  verhandelt:  denn  in  dem  Urteil  des  Rezensenten,  der 
die  Bodmersche  Übersetzung  über  die  Stollbergsche  stellte,  sah  er 
eine  Ablehnung  auch  seiner  Übersetzertätigkeit  voraus;  seine  Hoff* 
nung,  durch  die  Bekanntmachung  einiger  Proben  aus  der  verdeutsch* 
ten  Odyssee  eine  genügende  Anzahl  von  Subskribenten  zusammen* 
zubringen,  schien  gescheitert,  —  und  mußte  sie  nicht  bei  dem  herr* 
sehenden  kritischen  Verfahren  scheitern?  Er  gab  ihm  jedenfalls  die 
Schuld,  wenn  das  Publikum  so  wenig  Bereitwilligkeit  für  seine 
Odyssee  zeigte;  »der  Kranz  des  Übersetzers«  schien  ihm  eine  be* 
sonders  schwer  zu  erringende  Würde,  die  besonderen  Schutzes  be* 
durfte.  Der  Rezensent  nannte  Bürgers  Probe  einer  Iliasübersetzung 
in  Jamben  einen  mißglückten  Versuch :  und  Voß,  der  die  Köhlersche 
Behauptung  und  Begründung  keineswegs  widerlegen  mochte,  nahm 
Bürger  sogleich  ärgerlich  in  Schutz.  Aber  mehr  des  Persönlichen:  war 
sein  Eintreten  gegen  das  Köhlersche  Gesamturteil,  auch  wenn  Voß 
sich  weigerte,  den  Wert  beider  Übersetzungen  gegeneinander  abzu* 
wägen,  nicht  auch  ein  Freundschaftsdienst  für  Fritz  Stollberg,  der 
ihm  die  Erträgnisse  seiner  Übersetzung  freigebig  zugewiesen  hatte*? 

'  Vgl.  auch  Eschenburgs  Sticheleien  gegen  die  Göttinger  Almanachsdichter,  A  D 

Bibhothek  25,  216. 

'  Voß  an  Brückner  17.  XL  74  =  Abraham  Voß  1, 178. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  37, 1,1310". 

*  Diese  Vermutung  sprach  Nicolai  1 1.  X.  79  gegen  Uz  aus :  s.  u.  S.  340. 

304 


So  erklärt  sich  der  verbitterte  und  gereizte,  ja  persönlich  gehässige 
Ton  der  Voßschen  Verhöre.  Es  ist  die  Manier  des  Lessingschen 
» Vademecum«  in  ihnen  —  und  Voß  hat  sie  gründlich  nachgeahmt  — , 
doch  ohne  den  Lessing,  der  dahinter  steckte,  und  der  Voß  unheim« 
lieh  war;  so  mag  sich  auch  der  verhältnismäßig  geringe  sachliche 
Wert  besonders  der  ersten  beiden  Verhöre  erklären.  Klopstock  hatte 
sich  mit  Gramer  in  dem  »Gespräch,  ob  ein  Skribent  ungegründeten, 
obgleich  scheinbaren  Kritiken  antworten  müsse« \  nach  vorsichtig 
unterscheidenden,  auf  die  aristokratische  Würde  des  Autors  drin« 
genden  Erörterungen  dahin  entschieden:  »daß  ein  guter  Autor  bei 
gewissen  Angriffen  nicht  ganz  schweigen  soll,  dawider  habe  ich 
weiter  nichts,  als  daß  er  die  Mitbrüder  des  Kritici  dadurch  reizt, 
ihre  Lanze  auch  zu  versuchen,  und  daß  also  des  Geschwätzes  immer 
mehr  wird.  Da  unterdeß  die  Kritik  in  dem  angeführten  Falle  wirk« 
lieh  mehr  schaden  könnte,  so  gehört  er  mit  unter  die  Ausnahmen, 
die  ich  von  der  allgemeinen  Regel  mache.  Eine  solche  Antwort 
müßte  aber  sehr  kurz  sein,  und  den  Leser  durch  die  Berührung 
einiger  Einwürfe  zu  Schlüssen  auf  die  übrigen  bloß  veranlassen«. 
Voß  aber  äußert  sich,  auf  Vorhaltungen  Brückners,  ohne  Besinnung^: 
»Du  verwirfst  das  Schimpfen  durchaus?  Ich  denke  mit  Ein« 
schränkungen!  Bloß  gescholten  und  geradezu  an  den  Sünder  selbst 
fruchtet  freilich  nichts;  aber  voll  Sachen,  im  Enthusiasmus  eines 
edlen  Unwillens  und  in  Rücksicht  auf  die  Leser,  die  man  warnen  will ; 
warum  sollte  ich  da  den  stärksten  Ausdruck  fahren  lassen?  . . .  Zürnt 
nicht  oft  die  Heilige  Schrift  mit  Schimpfwörtern?«  Hier  steigert  er 
sich  förmlich  in  einen  Enthusiasmus  des  Schimpfens,  der  seiner 
Sache  abträglich  wurde.  Voß  übernimmt  sich  in  der  Polemik:  der 
Rezensent  zeige  seine  mangelnde  Sachkenntnis  schon  ohne  weiteres, 
indem  er  Homer  die  Bathrochomyomachie  und  die  Hymnen  ab« 
spreche'^  —  eine  unnötige  Belastung  seiner  Polemik;  konnte  Voß 
annehmen,  mit  der  Erörterung  dieser  Frage  vor  dem  Publikum  des 
Museum,  und  vor  allem  mit  einer  Erörterung  von  der  Art,  wie  er 

'  Zuerst  erschienen  im  »Nordischen  Aufseher«,  Bd.  3, 129. 

-  Voß  an  Brückner  17.X.73  =  Abrah.Voß  I,  150. 

'  Im   ersten  Verhör  läßt  er  die  Frage  noch  unentschieden  und  greift  nur  die 

Köhlersche  Begründung  an;  im  zweiten  wird  die  Behauptung  an  sich  Gegen= 

stand  seiner  Polemik. 

20  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  305 


sie  zu  diesem  Punkte  gab,  etwas  zur  Reinigung  der  Kritik  beizu* 
tragen?  Und  an  anderer  Stelle  überspitzte  er  die  Polemik  höchst 
eigensinnig,  bis  sich  sein  Standpunkt  förmlich  ins  Gegenteil  ver* 
kehrte;  so  in  der  Anmerkung  zu  der  Köhlerschen  Übersetzungs  = 
Verbesserung  von  (megeloio^  —  »Homer  nennt  auch  das  Mittellän* 
dische  Meer  .unendlich'  und  wer  Geographie  versteht,  wird  wissen, 
daß  er  nur  ,groß'  sagen  wollte«  —  wo  sich,  entgegen  der  Tendenz 
seines  Tadels,  doch  bereits  der  rationale  Geist  zeigt,  der  dann  in 
den  späteren  Redaktionen  der  Voßsch  en  Übersetzung  vorherrschend 
wurde.  Und  ähnlich  überspitzt  er  die  Polemik  an  der  Stelle,  wo  er 
die  Köhlersche  Anmerkung  zu  der  allegorischen  Einkleidung  des 
6.  Klopstockschen  Fragments  höhnisch  glossiert:  »das  Märchen  von 
der  Jungfrau  .  .  .  finden  Sie  langw  eilig.  Nein,  Mutter  Gans  ihre 
Fäbelchen  vom  Blaubart  und  gestiefelten  Kater,  die  pfeifen  aus 
einem  anderen  Loch,  die  sind  nicht  allegorisch!«  Um  die  Klop^ 
stocksche  Allegorie  zu  retten,  stichelt  er  auf  die  Aufnahme,  die 
Musäus'  Volksmärchen  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek 
fanden:  zwanzig  Jahre  später  standen  Voß  und  Nicolai  gemeinsam 
gegen  gestiefelten  Kater  und  Blaubart  Tiecks  und  seiner  romanti* 
sehen  Genossen. 

Unleugbar  aber  weist  das  Positive  in  diesen  beiden  ersten  Ver* 
hören,  wie  in  den  späteren,  nach  der  entgegengesetzten  Richtung. 
So  in  der  Gegenüberstellung  der  beiden  Köhlerschen  Urteile :  Stoll* 
bergs  Übersetzung  sei  zwar  »treuer  und  genauer«,  aber  Bodmers 
sei  »poetisch  affektvoller«;  dies  heiße  offenbar,  meint  Voß,  sie  sei 
der  »homerischen  Begeisterung«  adäquater;  alsdann  wäre  aber 
»treuer  und  genauer«  eben  nicht  treu  er  und  genauer  übersetzt,  und 
Stollberg  sei  für  denkende  Menschen,  wofern  sie  sich  dahin  ent^ 
scheiden,  ein  Stümper.  Die  Einfühlung  in  die  Individualität  des 
Originals  ist  die  Grundbedingung  für  den  Übersetzer  —  und  für 
das  Urteil  desjenigen,  der  die  Übersetzung  rezensiert;  so  wenig 
jener  unsere  durchschnittlich*tägliche  Sprache  oder  die  eines  frem* 
den  dichterischen  Musters  seiner  Übersetzung  zugrunde  legen 
darf,  so  wenig  darf  der  Rezensent  die  Übersetzung  an  seinen  Be* 
griffen  aus  der  durchschnittlichen  Ästhetik  messen.  Dem  entspricht 
auch  die  positive  Tendenz  der  späteren  Verhöre  über  die  Rezen* 
sionen  der  Klopstockschen  »Fragmente  über  Sprache  und  Dicht* 

306 


kunst«'.  Sein  Verhör  soll  ja,  wie  er  an  Boie  schreibt^  »nicht  bloß 
Widerlegung,  sondern  Mituntersuchung  und  Erklärung  der  Klop* 
stockschen  Grundsätze«  im  allgemeinen  sein.  Klopstock  ist  für  Voß 
der  schlechthin  unerreichbare  Meister  auf  den  Gebieten, die  in  den 
Fragmenten  behandelt  werden;  jeder  ist  von  Klopstocks  Gedanken 
abhängig,  auch  der  Rezensent,  der  sich  die  Miene  gibt,  die  in  den 
Fragmenten  abgehandelte  Materie  selbständig  durchdacht  zu  haben. 
Die  Köhlersche  Beurteilung  mit  ihrem  anmaßlichen  Unterfangen, 
das  »Wesentliche«  der  seit  zwanzig  Jahren  einen  Klopstock  bewe* 
genden  Materie  auf  wenigen  Seiten  nur  ausreichend  wiedergeben 
zu  wollen,  kann  Voß  nur  als  Versuch  auffassen,  die  Klopstock- 
sehen  Gedanken  an  einem  Durchschnitt  zu  messen,  über  den  er  er* 
haben  ist;  das  »Referat«  muß  eine  Fälschung  sein.  Wie  sehr  Köhler 
auf  dieser  durchschnittlichen  Empirie  basiert,  zeigt  seine  wiederholte 
Berufung  auf  das  »griechische  Ohr«,  dem  der  Hexameter  anders 
geklungen  habe  als  Klopstock  ihn  auffaßt.  »Sie  können  ja  sogar 
aus  der  Bauart  des  griechischen  Ohres  beweisen,«  spottet  Voß, 
»wie  lang  oder  kurz  eine  Silbe  ihm  klingen  mußte«.  Er  kämpft  hier, 
wie  in  semer  Polemik  mit  Heyne,  gegen  die  bloß  antiquarische  Ge* 
lehrsamkeit,  die  nur  einen  toten  Stoff  bearbeitet,  nicht  auf  Lebendig* 
Wesentliches  gerichtet  ist.  Wie  Klopstock  sich  im  Fragment  »Von 
der  Darstellung«  gleich  zu  Beginn  der  überflüssigen  Theorien  ent* 
ledigt,  so  kämpft  auch  Voß  gegen  dieses  Gemisch  unzulänglicher 
Empirie  und  dogmatischer  Deduktion,  das  der  Entfaltung  des 
wesenhaften  Denkens  hinderlich  ist.  Die  Unterscheidung  des  grie= 
chischen  vom  deutschen  Hexameter  trifft  Klopstock  wie  Voß  vom 
'  »Verhör  über  die  beiden  Ausruter  i?t  und  l?f«  usw.  =  Deutsches  Museum  1781, 
198rt.  und  527 ff.  Die  Rezensionen  der  Klopstockschen  Fragmente  standen:  A  D 
Bibliothek  41,  2,  338  und  42, 1,  217  ff.,  die  erste  ist  Ct,  die  zweite  £i  unterzeichnet. 
Beide  Rezensionen  sind,  wie  aus  42,  117  hervorgeht  —  der  Rezensent  hätte  »gern 
die  Fortsetzung  einem  andern  überlassen«  usw.  —  vom  selben  Verfasser.  Da  2t 
das  Zeichen  von  Kästner  ist,  bei  dem  in  Nicolais  Zeichenbuch  der  Vermerk  steht: 
»für  Physik  2t«,  2t  aber  dasjenige  von  Köhler,  ist  wohl  anzunehmen,  daß  beide 
Rezensionen  von  Köhler  herrühren,  und  daß  2t  unter  der  zweiten  Rezension 
ein  Druckfehler  ist,  der  allerdings  nicht  berichtigt  wurde  und  wohl  auch  infolge 
desVoßschen  Angriffs  nicht  berichtigt  werden  sollte.  Voß  ist  wohl  im  Interesse 
der  dramatischen  Darstellung  seiner  Verhöre  gern  bei  der  Annahme  zweier  Re= 
zensenten  geblieben  und  macht  von  ihr  ausgiebigen  drastischen  Gebrauch. 
•  Voß  an  Boie  »April  1780«  =  Abrah.  Voß  111,  150. 

20=  307 


»Genie  der  Sprache«  aus,  wie  Herder  (im  19.  Abschnitt  der  ersten 
Sammlung  seiner  Fragmente)  sagt;  deutlicher  und  intensiver  als 
dort  bei  Herder  wird  hier  die  rein  »grammatische«  Untersuchung 
von  Voß  abgelehnt. 

Solche  Ablehnung  allein  hätte  nun  freilich  Nicolai,  selbst  wenn 
sie  ausdrückHch  gegen  ihn  gerichtet  gewesen  wäre,  kaum  zu  einer 
entschiedenen  prinzipiellen  Gegenwehr  veranlaßt;  es  war  der  Ton 
der  Polemik  und  ihre  zwiefache  Richtung  gegen  das  Verfahren  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  und  gegen  Nicolais  Heraus* 
geberschaft,  die  seine  Abwehr  veranlaßten^  Voß  kämpfte  in  seinen 
Verhören  nicht  nur  gegen  die  Dummheit  und  Unwissenheit  eines 
Rezensenten;  er  nahm  diesen  einen  als  Angehörigen  einer  dunklen 
Schar  von  »namenlosen  Taugenichtsen«,  »Schülern,  Pfefferkrämern, 
Leipziger  Meßfabrikanten,  mit  einem  Wort,  Leuten,  die  nicht  ein* 
mal  ein  Lied  an  Phyllis  zusammenreimen  können«,  und  die  sich 
doch  berufen  fühlen,  »die  Werke  des  Genies  zu  beurteilen«.  Der 
undurchdringliche,  schmutzige  Mantel  der  Anonymität  umgibt  sie 
schützend.  Aber  gleichen  sie  nicht  einer  dem  andern,  da  sie  ihr 
eigenes  Urteil  stets  durch  ein  »vollhalsigtes,  oberrichtUches  Wir« 
für  dasjenige  einer  undurchsichtigen  Allgemeinheit  ausgeben?  Man 
kann  sie  nicht  für  Gelehrte  halten,  da  sie  in  den  »Rezensionsfabri* 
ken«  nur  um  materieller  V^orteile  willen  arbeiten.  Und  Nicolai 
selbst?  Im  ersten  Verhör  ist  er  noch  der  »Meister«,  der  seinem 
»Altgesellen«  wohl  einmal  ein  Stück  überlassen  habe,  »ohne  selbst 
nachzusehen«.  Nach  der  ersten  Nicolaischen  Gegenerklärung  aber 
heißt  es,  er  handle  mit  schlechten  Rezensionen,  er  dringe  weniger 
auf  gute  als  auf  rasche  Arbeit;  schließlich  wird  er  als  ausbeutender 
Unternehmer  dargestellt,  dessen  Frohn  sich  die  zur  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek  vereinigten  Gelehrten  nicht  gefallen  lassen 
sollen.  Denn  jener  ersten  Gegenerklärung  Köhlers  hatte  Nicolai 
den  Satz  zugefügt  —  und  sich  in  der  zweiten  als  Verfasser  dieser 
Invektive  bekannt  — :  »Hr.  Voß  sollte  sich  in  Acht  nehmen,  daß  er 
nicht  in  Otterndorf  mehr  verwildere.  Wer  ein  Geniederneuesten 
Art  gewesen  ist,  das  Grobheit   für  Kraft  hält,  und  wird  darauf 

^  Nicolais  Gegenerklärungen:  A  D  Bibliothek  59, 1,  310  Anmerkung;  ebenda  40, 
2,  628  und  Deutsches  Museum  1781,  II,  S.  87  95  =  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  45.  2, 
613. 

308 


Rektor  in  einem  kleinen  Städtchen,  läuft  große  Gefahr,  seinen 
Eigendünkel  für  Bewußtsein  der  Superiorität  zu  halten.«  Dem* 
gemäß  findet  sich  in  der  Voßschen  Antwort  so  ziemlich  alles,  was 
die  »Genies«  an  Spott*  und  Schimpfworten  für  Nicolai  hatten;  und 
in  Nicolais  Duplik  eine  ungenierte  »Retorsion«^  aller  Anwürfe 
gegen  Voß  selbst:  wenn  Nicolai  mit  Rezensionen  handele  —  Voß 
handele  mit  Übersetzungen;  Voß  wolle  sich  gewiß  keinen  namen* 
losen  Taugenichts  schelten  lassen  und  sende  doch  niedrige  Gedichte 
anonym  in  die  Welt".  »Aber  Herr  Vof^  meint  es  vielleicht  so  böse 
nicht«:  er  wolle  nur,  daß  Nicolai  sein  »Aufseherrecht«  so  anwende, 
daß  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  Voß  und  seinen  Freun* 
den  gefälliger  sei;  und  das  sei  nicht  geschehen  und  könne  nicht 
geschehen.  Aber  neben  diesem  zuversichtlich  polternden  Ton  kön* 
nen  wir  hier  schon  einen  anderen  vernehmen:  den  der  Selbstrecht:* 
fertigung.  Weit  über  die  angegriffenen  Punkte  hinaus  fühlt  er  das 
Bedürfnis,  sich  zu  rechtfertigen,  sein  Wollen  und  Wesen  darzu* 
stellen,  seine  Leistungen  historisch  einzuordnen.  Er  beruft  sich  auf 
das  Urteil  »des  ganzen  unparteiischen  Publikum«,  das  seine  Ab* 
sichten  und  Leistungen  in  und  mit  der  Allgemeinen  Deutschen 
Bibliothek  anerkenne.  Er  spielt  auf  die  Literaturbriefe  an:  »Sind 
nicht  von  jeher  die  besten  Beurteilungen  von  Büchern  geschrieben 
worden  ohne  die  Namen  der  Beurteiler  anzuzeigen?«  Die  Werke, 
die  am  Eingang  der  Epoche  der  Aufklärung  stehen,  die  Acta  eru* 
ditorum  und  das  Journal  des  S^avants  —  sind  sie  nicht  auch  »von 
namenlosen  Taugenichtsen«  verfaßt?  »Ist  der  geringste  Anschein 
da,  daß  ich  die  Allgemeine  Deutsche  Bibliothek  nur  deswegen 
herausgegeben,  um  damit  zu  handeln?  Hätte  ich  nicht  geglaubt, 
Aufklärung,  Freiheit  zu  denken,  Toleranz  ausbreiten  zu  helfen .  .  ., 
so  wäre  ich  ja  wohl  ein  Tor  gewesen,  die  besten  Jahre  meines  Lebens 
auf  . .  diese  . .  undankbare  Arbeit  zu  wenden, . . .  mit  beständigem 
Gleichmut  unverdiente  Vorwürfe  zu  ertragen,  ...  zu  leiden,  daß  ich 
dieser  Beschäftigung  wegen,  alle  eigene  Plane,  zu  deren  Aus=^ 
führung  ich  mich  tüchtig  fühle,  unausgeführt  lassen  muß.«  Über 
Denkfreiheit  und  Toleranz  wachen  nun  Voß  und  seine  Freunde 
freilich  nicht;  ein  bissiger  Seitenhieb  auf  die  Tendenz  der  »Gelehr* 

'  wie  Fichte  in  seiner  Streitschrift  diese  Nicolaische  Kampfesart  nannte. 
-  Nicolai  spielt  hier  auf  eine  Voßsche  »Ode  an  einen  Dukatensch «  an. 

309 


tenrepublik«  fällt,  und  wird  bald  verstärkt  durch  den  Vorwurf,  daß 
Voß  nicht  etwa  durch  Gegenüberstellung  seiner  abweichenden  An* 
sieht  die  Wahrheit  zu  fördern  trachte,  sondern  daß  er  seinen  Geg* 
ner  durch  »Verhöre«  wegen  seiner  Meinungen  zum  »Inquisiten<t 
zu  machen  suche  und  mit  einem  ahb^  l'qa  sich  über  vernünftige 
Gegengründe  hinwegsetze.  Hier  ist,  psychologisch  genommen,  der 
Punkt,  wo  für  Nicolai  der  Kampf  gegen  den  Sturm  und  Drang  (ins? 
besondere  gegen  Klopstock  und  Lavater)  bereits  übergeht  in  den 
Kampf  gegen  die  mystischen  und  kryptojesuitischen  Tendenzen, 
die  die  folgenden  Jahrzehnte  seines  Lebens  ausfüllten.  Hier  zeigt 
sich  auch  bereits  die  immer  deutlicher  hervortretende  Tendenz  seiner 
Spätzeit  zur  Selbstdarstellung  und  *rechtfertigung.  Im  »Schreiben  an 
den  Herrn  Professor  Lichtenberg«^  und  im  »Schreiben  an  den  Herrn 
Kriegsgerichtsrat  Dohm«-  offenbart  sie  sich  bald  darauf  mit  schon 
recht  beträchtlicher  Weitschweifigkeit  der  Ausführung,  die  freilich 
von  der  Redseligkeit  der  späteren  Schrift  »Über  meine  gelehrte 
Bildung«  erheblich  übertroffen  wurde;  neue  Freunde,  neue  Erfolge 
und  neue  Kämpfe  hatten  sein  Selbstbewußtsein  wieder  erstarken 
lassen:  »Notwehr  entschuldigt  Selbstlob«  war  das  Alotto  der  letz* 
teren  Schrift;  allen  dreien  aber  —  und  denjenigen  zahlreichen  Stel* 
len  aller  übrigen  Alterschriften,  worin  Nicolai  von  sich  selbst  sprach 

—  gemeinsam  ist  der  Versuch  einer  historischen  Einordnung  der 
eigenen  Existenz,  bald  im  allgemeinen  historischen  Überblick  über 
den  Wandel  der  Zeiten,  bald  in  der  Angliederung  an  prominente 
Freunde,  wie  Lessing  und  Mendelssohn,  bald  in  der  Einfügung 
seines  Werdens,  Wirkens  und  Wesens  in  eine  gesellschaftlich*kul= 
turell  und  politisch  bestimmte  Sphäre:  das  Preußen  Friedrichs  des 
Großen. 

Voß  tröstete  sich  über  die  heftige  Nicolaische  Replik  leicht  mit 
der  Zustimmung  seiner  Freunde:  Klopstock  billigte  sein  Verhör 
und  Fritz  Jacobi  schloß  auf  dem  Grunde  gemeinsamer  Gegner* 
Schaft  gegen  Nicolai  mit  Voß  Freundschaft'^.  Boie  erhob  nachträg* 
lieh  Einspruch  gegen  Nicolais  Duplik,  die  er  aus  Unparteilichkeit 

'  Vor  Bd.  XXVI  von  Lessings  Sämtl.  Schriften  herausgegeben  v  .  .  . .  F.  Nicolai. 

-  =  Einl.  z.  Reisebeschrbg.;  vgl.  Vorrede  z.  Anhg.  25.,'36.  Bd.  d.  ADBibl. 

'  Vgl.  Voß  an  Boie  März  1780  ^  Abrah.  Voß  III,  148;  vgl.  auch  V.  an  B.  April 
1780  =  III,  150  und  Fritz  Jacobi  an  Boie:  16.XII.80. 

310 


und  Hochachtung  gegen  Nicolai  ungelesen  ins  Museum  aufge* 
nommen  habe,  mit  der  Bemerkung,  Nicolai  habe  an  der  Sache  vor* 
beigeredet  und  die  Gelegenheit  lediglich  zu  persönlichen  Angriffen 
benutzt  \  »Außer  Rezensenten,  die  freilich  nicht  glimpflich  mit  mir 
umgehen  konnten,«  schreibt  Voß^  »ist  Heyne  der  einzige,  der  mein 
Verhör  tadelt;  die  übrigen  haben  nicht  nur  nicht  getadelt,  sondern 
mir  sogar  gedankt,  daß  ich  einmal  ein  Exempel  statuierte«.  So 
setzte  er  seine  Polemik  gegen  Heyne  zuversichtlich  fort  und  nahm 
Lichtenbergs  Gegnerschaft  in  Kauf  ^  Die  Zustimmung  Lichtenbergs, 
die  Nicolai  erhielt*,  —  es  ist  wohl  die  einzige  von  Bedeutung  — 
war  also  beträchtlich  im  Wert  gemindert;  und  bald  erhielt  er  eine 
zwar  nur  privat^briefliche,  aber  nicht  minder  heftige  Kundgebung 
Lavaters^  gegen  das  anonyme  Rezensionswesen  der  Allgemeinen 
Deutschen  Bibliothek:  sie  galt  der  Beschuldigung,  die  Eschenburg 
im  Anschluß  an  die  Anekdoten  über  Lessings  Tod  gegen  Lavater* 
Pfenninger  gerichtet  hatte".  Jetzt,  nach  Lessings  und  Mendelssohns 
Tod  (1786),  war  Nicolai  völlig  isoliert,  zu  einer  Zeit,  wo  er  sich 
neuen  Kämpfen  gegenübersah.  Fritz  Stollberg  wägt  in  einem  Brief 
an  Voß,  der  im  Begriff  ist,  sich  von  dem  Jugendfreund  zu  trennen, 
die  Parteien  gegeneinander  ab:  »Nicolai,  Sie  und  Biester  auf  der 
einen  Seite«,  sagt  Stollberg  höhnisch^,  »Jerusalem,  Leß,  Zollikofer, 
Basedow,  Jacobis,  Spalding,  Goethe,  Heß,  Tobler,  Semler,  Schlosser, 
Claudius  auf  Lavaters  Seite«.  Und  als  Voß  sich  »in  der  Konsequenz 
seiner  Natur«  "*  durch  Boies  Vermittlung  mit  Nicolai  aussöhnt,  ge* 

'  Deutsches  Museum  1782,  März,  S.214,  Anm.  Schon  die  Form  dieser  Erklärung 
und  ihr  Zusammenhang  mit  der  vorhergehenden  Voßschen  Vorrede  (S.213)  er= 
weist,  daß  Voß  auf  diese  Erklärung  bei  Boie  gedrungen  hatte. 

-  \'oß  an  Boie  März  1780.  Zu  »Rezensenten«  vgl.,  dal^  das  Leipziger  Bücher^ 
Verzeichnis  hinter  den  Schluß  des  zweiten  Verhörs  ein  »Gott  Lob!«  setzte  (nach 
W.  Hofstaetter,  Das. deutsche  Museum,  Leipzig  1908,  S.  93).  Hier  seien  auch  die 
anonym  erschienenen  Verse  »AnVoß«  (Deutsches  Museum  1781,  II,  289)  erwähnt, 
die  Voß  preisen,  »daß  er  den  größten  Ochsenstall  auf  Erden  ausgemistet«. 

■  Voß  gegen  Lichtenberg:  Deutsches  iVluseum  1782,  März  213 ff. 

'  Lichtenberg  an  Nif  olai  18.11.81  =  Briefe  ed.Leitzmann  und  Schüddekopf  1,372." 

■  Lavater  an  Nicolai  3.  III.  84  NN.  Vgl.  A.  Stern  Deutsche  Rundschau  118  (1904), 
S.  429. 

'  Allg.  Dtsch.  Bibhothek  55.1,289ff. 

■  Stollberg  an  Voß  17.  IV.  87. 

-  W.  Herbst  »Joh.  H.  Voß«  II,  36. 

311 


schiebt  dies  erst,  nachdem  Boie  in  Nicolai  »das  Hirngespinst  einer 
Klopstockschen  Schule  und  eines  gewesenen  Bundes  (nämlich  des 
Hainbundes)  zerstört«  hat^  Auf  beiden  Seiten  drängten  neue  Pro* 
bleme  zu  veränderter  Stellungnahme  und  Entscheidung.  Und  so 
kann  Nicolai  bereits  zu  Anfang  der  neunziger  Jahre  Voß  und  den 
Hainbund  unbefangen  historisch  würdigen:  er  vergleicht  den  Göt* 
tinger  Kreis  mit  der  Gesellschaft  der  Bremer  Beiträger-:  »nur  war 
der  Einfluß  der  Göttinger  Jünglinge,  obgleich  wohltätig,  dennoch 
weniger  merklich;  denn  Deutschland  war  in  den  siebziger  Jahren 
schon  weit  mehr  ausgebildet,  als  in  den  vierziger  Jahren«. 


'  Boie  an  Voß  24.  VIII.  87.  Kurz  vorher  (1785)  hat  die  Allg.  Dtsch.  Bibliothek  64, 
1,75  eine  ungemein  lobpreisende  Rezension  von  Voß'  »Verm.  Ged.  u.  pros.  Auf; 
sätze,  Frkft.  u.  Lpz.  1784«,  gebracht. 
^  Reisebeschreibung  IX,  109. 


312 


NACHWORT 


»Laßt  uns  Freunde!  uns  zusammendrängen,  und  uns  nach  Herzens* 
lust  idealisieren:  das  jagt  Funken  durch  Seel  und  Herz!  Wir  elek* 
trisieren  uns  einander  zurWirksamkeit,  und  in  der  Folge  auch  immer 
zum  Glücke.  Das  ist  die  Inspiration,  die  wunderbare  Schöpferkraft 
in  Belebung  der  Seelen,  wie  der  elektrische  Funke  es  vielleicht  in 
Blut  und  Sonne  ist.«  So  gab  Herder  \  der  Sprödeste  unter  den 
Chorführern,  das  Stichwort  für  die  Bewegung  der  Jungen,  und 
wo  man  auch  ihren  Zeugnissen  nachspürt  —  im  Kreis  des  jungen 
Goethe,  bei  Lenz  insbesondere,  bei  Klinger,  im  Göttinger  Freund* 
Schaftskreis,  bei  Schubart,  den  Stollbergs,  Heinse,  in  Lavaters 
freundschaftlichem  Treiben  —  überall  scheint  es  aufgenommen, 
überall  sehen  wir  eine  brüderlich  vereinte  Schar  als  Träger  der  Be* 
wegung;  und  das  gegenseitige  Idealisieren  nach  Herzenslust,  dies 
Sich*Hinaufsteigern  zu  Gefühlshöhen  und  Tatkraft,  dieser  subjek* 
tive  Sturm  und  Drang  fiel  den  Zeitgenossen  nicht  minder  in  die 
Augen  als  seine  laut  und  überlaut  verkündeten  Inhalte,  Werte  und 
Werke.  Lichtenberg  in  seinem  »Parakletor«,  Claudius  in  seiner 
»Nachricht  vom  Genie«  nahmen  gerade  auch  diesen  subjektiven 
Sturm  und  Drang  gebührend  mit.  Sulzer  (im  Artikel  »Reiz«  seiner 
Allgemeinen  Theorie  . . .)  sprach  verächtlich  von  der  neuen  »Scho« 
lastik  des  Gefühls«,  Nicolai  aber  schrieb,  nach  dem  vergeblichen 
mehr  als  zehnjährigen  Kampf,  mit  einer  Bitterkeit,  die  von  dem 
selbstbewußten  überlegenen  Ton  seiner  übrigen  Anmerkungen  zu 
Lessings  Briefwechsel  bemerkenswert  sich  unterscheidet :  »Ich  ward 
zur  Gesellschaft  der  kalten  Hunde  gerechnet  .  .  .  weil  ich 
nicht  glaubte,  mich  an  einem  Haufen  Johanniswürmchen 
wärmen  zu  können«"". 

Er  sah  und  er  konnte  seiner  Natur  nach  in  dem  gärenden  Wesen 
der  Jungen  nicht  mehr  sehen.  Aber  wenn  er  sich  zu  Beginn  der 
Bewegung  noch  einem  harmlosen  Spaziergänger  verglich,  mit  dem 
übermütige  Burschen  ihr  Unwesen  treiben,  so  sah  er  bald  eine  Ge* 
fahr  in  dem  ausgelassenen  Wesen:  die  folgerichtige  Entwicklung 

'  An  Merck  Sept.  70. 

-  Lessings  Werke  herausgegeben  von  .  .  F.  Nicolai  27,  253,  Anm. 

313 


der  deutschen  Literatur  schien  ihm  in  Frage  gestellt.  Nach  der  BiU 
düng  und  Anschauung  seiner  Jugendjahre  war  es  ihm  ausgemacht, 
daß  nur  zielbewußte,  zusammenfassende  Arbeit  sie  in  ihrer  Ganz* 
heit  fördern  könne  ;  und  selbst  wenn  er  den  Reichtum  und  die  Tiefe, 
die  Souveränität  dieser  Begabungen  zulänglicher  hätte  erkennen 
können  —  daß  sie  überhaupt  an  neuer  Stelle  begannen,  daß  sie  sich 
selbst  zuallererst  erschaffen  wollten,  daß  sie  einen  neuen  Anfang 
suchten  und  Zentralisation,  Disziplinierung,  Entwicklung  verwarfen, 
hätte  ihn  allein  schon  zu  ihrem  Gegner  gemacht.  Er  hörte  von  Kraft 
—  und  sah  Schwäche,  oder  doch,  wie  Lichtenberg  sagte,  Kraft  ohne 
Richtung;  er  hörte  Original  und  sah  Nachahmer,  Abhängige;  er 
hörte  Freiheit  und  sah  eine  Schule,  eine  neue  Orthodoxie  der  Ge* 
fühle,  Meinungen  ja  der  Lebensweise.  Unvermutet  rasch  war  dem 
kaum  Vierzigjährigen  eine  neue  Generation  nachgefolgt;  Nicolai  ist 
zehn  Jahre  früher  geboren  als  Herder,  sechzehn  Jahre  früher  als 
Goethe;  aber  in  dem  kaum  zwanzigjährigen  Zeitraum  von  den 
»Briefen  über  den  itzigen  Zustand«  bis  zum  Erscheinen  der  Blätter 
»Von  deutscher  Art  und  Kunst«  scheint  ein  Jahrhundert  zu  liegen. 
Der  Jugend  galten  die  Verdienste  seiner  Jugend  nichts ;  Gottsched  er- 
scheint bei  ihnen  in  unendlicher  Distanz,  mit  fast  heiteren  Farben  — 
schon  in  den  Briefen  des  Leipziger  Studenten  an  Cornelie  Goethe'; 
Lessings  Streit  mit  Goeze  sah  der  junge  Voß  fast  verwundert  zu; 
und  Herder  rühmte  schon  in  seiner  1772  erschienen  Lessing*Rezen* 
sion  (in  der  A  D  Bibliothek)  von  Lessing,  daß  er  immer  wieder 
jung  vor  dem  Publikum  erscheine  und  erstaunlich  wer  ig  altere; 
»das  Publikum«,  zitiert  Herder  dort,  »wächst  täglich  an  Einsicht 
und  Geschmack;  aber  viele  V^erfasser  bleiben  zurück,  und  wehe 
dem,  der  es  auch  nicht  einmal  fühlet,  daß  er  zurückgeblieben,  und 
eitel  genug  ist,  noch  immer  auf  den  Beifall  zu  rechnen,  den  er  vor 
zwanzig  Jahren  erhalten  zu  haben  vermeinet.«  Nicolai  hat,  obwohl 
er  früh  alterte  —  aus  dem  Brief  an  Lavater  vom  24.  IV.  74  spricht 
schon  ein  alter  Mann  —  und  sich  früh  altern  fühlte,  doch  niemals 
empfunden,  daß  er  als  Schriftsteller  veraltet  war.  Im  »Anhang  zu 

'  »Gottscheds  Nam"  ist  zum  Sprüchwort  worden  im  Lande  Teutates. 
Aber  die  ihn  verdrängten,  die  werden  izt  selbst  nicht  gelesen« 
heilk  es  im  »Untergang  der  berühmten  Namen«  (enthalten  in:  Literar.  Pamphlete 
a.  d.  Schweiz«  Zürich  1781). 

314 


Schillers  Musenalmanach«  (S.  113)  überlegt  der  Sechsundsechzig« 
jährige,  daß  er  die  »gewöhnliche  geistige  Beschwerde  des  Alters«, 
den  »Unmut  mit  der  gegenwärtigen  Welt«  auch  bei  sich  gespürt, 
aber  mit  der  Erkenntnis  bekämpft  habe,  daß  die  Laudatio  temporis 
acti  ihren  Grund  in  der  Laudatio  sui  ipsius  habe  —  immerhin  war 
noch  kurz  vorher  seine  Schrift  »Über  meine  gelehrte  Bildung«  er* 
schienen,  die,  mit  dem  Motto:  »Notwehr  entschuldigt  Selbstlob« 
geschmückt,  eine  einzige  Laudatio  sui  ipsius  darstellte.  Und  wenn 
ihm  jetzt  der  Gedanke  hilft,  »daß  die  Menschheit  durch  alle  ver* 
schiedene  Modifikationen  ihrer  Existenz  nie  ganz  verdirbt,«  so  war 
ihm  solche  Vertiefung  seines  Toleranzgedankens  zur  Zeit  seiner 
Auseinandersetzung  mit  dem  Sturm  und  Drang  fern.  Wir  glauben 
die  Bedeutung,  die  jene  Auseinandersetzung  für  Nicolais  spätere 
Entwicklung  hatte,  nicht  zu  überschätzen,  wenn  wir  solche  Einsicht 
für  eine  Wirkung  jenes  Kampfes  halten.  Und  sie  steht  keineswegs 
allein.  Zu  Reinhold  äußert  er  sich,  im  Streit  mit  Kant,  es  gäbe  in  der 
Philosophie  »notwendige  Mißverständnisse,  welche  nicht  ab== 
zuändern  sind,  weil  sie  aus  der  Natur  der  menschlichen  Seele  ent* 
stehen«^.  Er  verdeutlicht  die  Differenz  der  Wolffianer  und  Kan* 
tianer  an  der  Fabel  vom  Fuchs  und  vom  Kranich,  die  sich  zu  Gaste 
luden  —  es  ist  die  Fabel,  die  er  einst  gegen  Hamann  gewandt  hatte. 
Aber  hier  fährt  Nicolai  fort:  »das  Beste  bei  der  Sache  war  der  gute 
Wille  der  beiden  Tiere  einander  zu  Gaste  zu  laden« ;  so  sei  in  diesem 
Streit  das  Beste,  daß  durch  ihn  eine  Anzahl  Ideen  entwickelt  wer* 
den,  die  jede  Partei  auf  ihre  Art  braucht. 

Wenn  dieses  Ergebnis,  objektiv  betrachtet,  auch  für  Nicolais 
spätere  Feldzüge  Gültigkeit  hat,  —  übrigens  doch  weniger  für  die 
Auseinandersetzung  mit  der  kritischen  Philosophie,  der  Romantik 
und  Schiller,  als  mit  Herder  (über  den  Tempelherrnorden)  und  den 
katholisierenden  Dogmatikern  in  den  achtzigern  Jahren  —  auf  Ni* 
colai  und  den  Sturm  und  Drang  ist  es  nur  höchst  einseitig  anzu* 
wenden.  Nicolai  allerdings  trug  manches  davon:  das  Bewußtsein 
seiner  Art  und  Richtung,  seiner  Aufgaben  und  Mittel  festigte  sich 
nun  zu  jener  bornierten  Einseitigkeit  und  Philistrosität,  die  ihn  zu 
einem  unerschöpflichen  Quell  von  Gemeinplätzen  machten;  es  ist 
der  Nicolai,  den  Fichte  gezeichnet  hat.  Er  bezog  vom  Kampf  mit 
'  An  Reinhold  22.  X.  90,  Reinholds  Leben  S.  355. 

315 


dem  Sturm  und  Drang  das  fatale  Bewußtsein  der  Weitläufigkeit 
und  Selbstsicherheit,  er  bezog  ein  fertiges  psychologisches  Schema, 
das  in  den  späteren  Romanen  fast  mechanisch  ausgefüllt  wurde,  eine 
geläufige  literarkritische  Manier  —  denn  in  diesem  Kampf,  den  er 
allein  führte,  emanzipierte  er  sich  von  Lessings  geistiger  Vormund* 
Schaft,  trat  jetzt  dreist  neben  Lessings  Bild  und  bald  vor  Lessings 
Schatten;  und  er  bezog  schließlich  aus  diesem  Kampf  eine  souveräne 
Verachtung  des  Abseitigen,  Außerordentlichen,  In*Sich=Ruhenden, 
in  Dichtung  und  Philosophie.  Was  Nicolai  aber  —  wie  wir  mehr= 
fach  andeuteten  —  inhaltlich  aus  der  intensiven  Berührung  mit  dem 
Sturm  und  Drang  gewann ,  hat  er  nicht  mehr  subjektiv  oder  objektiv 
bedeutungsvoll  auszumünzen  vermocht. 

Blickt  man  auf  die  Gegenseite,  den  Sturm  und  Drang,  so  kann 
von  einem  positiven  Ergebnis  der  polemischen  Auseinandersetzung 
keine  Rede  sein,  weder  für  die  Individuen  noch  für  den  geistigen 
Prozeß,  der  sich  in  ihnen  auswirkte.  Die  Wirkung  dieses  Kampfes 
hat  sich  hier  in  einigen  Pasquillen  niedergeschlagen ;  nicht  einmal 
auf  die  Bildung  und  Ausbildung  der  Theorie  hat  dieser  Kampf  er* 
wähnenswerten  Einfluß  geübt;  höchstens  hat  er  die  Doktrin  der 
Schule  bereichern  helfen  . . .  Allein  in  der  Absicht  auf  solche  Fest* 
Stellungen  unternommen,  wäre  diese  Untersuchung  müßig  ge* 
wesen  —  gerade  hier,  wo  Antrieb  und  Bewegung,  Stoff  und  Form 
zum  wenigsten  aus  der  rein  literarischen  Sphäre  bezogen  wurde. 
Was  sich  hier  darstellen  konnte,  war  nur  die  Umwelt,  von  der  sich 
in  großartigem  Prozeß  diese  auf  ein  Ziel  strebenden  Individuen 
loslösten,  an  der  sie  Form  gewannen.  Es  ist  die  Welt  der  Auf* 
klärung,  und  wir  durften  Nicolai  als  Bürger  dieser  um  einen  gegen* 
sätzlichen  Punkt  zentrierenden  Welt  nehmen.  Er  ist  der  Spiegel,  in 
dem  sich  zum  mindesten  die  Physiognomie  dieser  in  der  Geschichte 
des  deutschen  Geistes  einzigartigen  Erscheinung  darstellt.  Und 
wenn  wir  uns  auch  beim  Anblick  dieser  physiognomischen  Repro* 
duktion  vor  einem  vorschnellen  Schluß  nach  Lavaters  Art  werden 
hüten  müssen  —  denn  dieser  Spiegel  verzerrte  bisweilen  willkürlich, 
nuancierte  nicht  immer  willfährig  —  es  ist  ein  lebendiges  und  inten* 
sives  Bild,  das  uns  entgegentritt.  Die  wirksamsten  und  zentralsten 
Strebungen  der  Geniebewegung  hat  Nicolai  sehr  früh  erkannt;  sie 
ordneten  sich  in  seinem  Kopfe  einheitlicher  und  zwingender,  früher 

316 


und  bedrohlicher  als  bei  irgendeinem  andern  Zeitgenossen,  Clau* 
dius  etwa  und  Schubart  eingeschlossen.  Mangelte  ihm  die  kritische 
Spürkraft  für  das  Bedeutende  und  Originale,  so  besaß  er  doch  einen 
ausgesprochenen  und  von  wenigen  Zeitgenossen  so  gepflegten  Sinn 
für  historische  Perspektive  und  psychologische  Relationen,  im  gan* 
zen  freilich  doch  mehr  nach  rückwärts  kombinierend,  als  in  eine 
fruchtbringende  Zukunft^;  und  Lenz  hatte  nicht  Unrecht,  wenn  er 
—  in  der  »Verteidigung  des  Herrn  Wieland  gegen  die  Wolken«  — 
meinte,  daß  Leute  vom  Schlage  Nicolais  als  Kunstrichter  »unsere 
jungen  Leute  irre  machen  und  durch  das  nirgends  schädlichere 
iurare  in  verba  magistri  eine  ganze  Posterität  verhunzen  könnten«. 
x\ber  Nicolais  faktischer  Einfluß  reichte  nicht  weiter  als  bis  zu  Na* 
turen  wie  Göckingk  und  Biester,  die  er  zum  Übertritt  aus  dem  Lager 
der  Jungen  veranlassen  konnte,  und  die  seine  vertrauten  Mitarbeiter 
und  Helfer  wurden;  die  Jungen  haben  Lenz' Aufforderung  befolgt 
und  »die  wachsgelben  Aristarchen«,  »die  sich  wie  Paillasse  unter 
schnellkräftigen  Seiltänzern  unbehelfsam  herumtummeln,  wie  Stroh* 
sacke  behandelt«.  Es  fanden  sich  nicht  viele  Zeitgenossen,  die  dem 
so  widersprachen  wie  Merck;  und  so  ist  es  auch  in  der  Folgezeit 
Stichwort  gegen  Nicolai  geblieben. 


'  Besonders  bezeichnend  hierfür  seine  abschließenden  Urteile  über  Uz  (Reise= 
beschreibung  I.  191)  und  über  Joh.  M.  Millers  Romane  (ebenda  IX.  107 f.);  vgl. 
auch  das  oben  S.  312  erwähnte  Urteil  über  den  Hainbund,  sein  Ehrengedächtnis 
für  Justus  Moser  u.  a.  m. 

317 


ANHANG 


BRIEFE  AUS  NICOLAIS 
NACHLASS 


Die  Vorlagen  für  die  im  folgenden  mitgeteilten  Briefe  befinden 
sich  im  Nicolaischen  Nachlaß,  den  die  Handschriftenabteilung  der 
•Preußischen  Staatsbibliothek  zu  Berlin  aufbewahrt;  der  S.  338ff. 
abgedruckte  Brief  Nicolais  an  Höpfner  ist  nach  der  im  Besitz  des 
Freien  Deutschen  Hochstifts  Frankfurt  a.  M.  befindlichen  Original* 
handschrift  wiedergegeben.  Bei  handschriftlichen  Vorlagen  habe 
ich  die  orthographischen  und  Interpunktionsverhältnisse  genau  be* 
wahrt,  die  wenigen  Abweichungen  verzeichnet;  bei  Kopien  und 
Konzepten  habe  ich  offenbare  Schreib*  oder  Hörfehler  stillschwei* 
gend  getilgt,  Orthographie  und  Interpunktion  nach  den  allgemeinen 
Gepflogenheiten  des  Absenders  einzurichten  gesucht.  Das  in  eckige 
Klammern  [  ]  Gesetzte  ist  von  mir  eingefügt  bezw.  ergänzt. 


AUS  CHR.  H.  BOIES  BRIEFEN  AN  NICOLAI 

Göttingen,  17.  April  1770. 
. .  .  Ich  bin,  wie  Sie,  unzufrieden,  Daß  Hr.  J.^  seine  Werke  zu  einer 
so  ungelegenen  Zeit  sammlet.  Der  Schritt  wäre  äußerst  mißlich, 
wenn  er  auch  nicht  so  manche  harte  und  leyder!  gegründete  Kritik 
jetzt  erfahren  hätte.  Einzeln  genommen  gefällt  mir  manches  flüch* 
tige  Stück,  das,  in  einen  Band  gebracht,  und  mit  den  anderen  ahn* 
liehen  verglichen,  seinen  ganzen  Reiz  verliert.  Die  Neue  Zeitung 
ist  fast  noch  schärfer  mit  ihm  umgegangen  als  die  Bibliothek.  Ich 
hab  ihm  offenherzig  und  freundschaftlich  meine  Meinung  über  die 
Sammlung  gesagt.  Ein  Sänger  der  Freude  sollte  billig  nie  eigent* 
lieber  Autor  seyn.  Hr.  J.  scheint  wie  viele  andere,  noch  immer  sich 
nicht  überzeugen  zu  wollen,  daß  man,  ohne  Feindschaft,  scharf  über 
einen  urtheilen  könne. 

Es  geht  mir  sehr  nahe,  daß  ich  auch  von  anderen  hören  muß,  was 
Sie  mir  über  W[ielandl  schreiben.  Es  macht  ihm  das  Übereinstim* 
men  mit  einem  so  nichtswürdigen  Menschen^  keine  Ehre.  Ich  fürchte, 
auch  H.  W[ieland]  thut  sich  durch  das  der  ganzen  Schule  eigene 
Vielschreiben  Schaden.  Es  sollen,  wie  man  mir  sagt,  drey  neue  Werk* 
chen  von  ihm  unter  der  Presse  seyn.  Das  eine  führt  den  Titel  die 

'  Joh.  Georg  Jacobi. 
'  Offenbar  Riedel. 

21  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  321 


Grazien,  und  soll  eine  Vertheidigung  des  Amor  wider  unempfind  -- 
liehen  Kunstrichter  seyn.  Man  ist  hier  mit  dem  Diogenes  ^  nicht  so 
ganz  zufrieden  .  . . 

Göttingen,  3.  Sept.  1770. 
. . .  Ich  habe  Hrn  Wieland  auch  jetzt  von  Person  kennen  lernen  und 
manches  ist  mir  nun  begreiflich  geworden,  was  es  vorhin  nicht  war. 
Wer  den  Mann  desabusieren  könnte.  In  Erfurt  wird  ers  schwerlich 
werden.  Herr  Herder,  den  ich  hier  neulich  kennen  zu  lernen  das 
Glück  hatte,  hat  mich  im  Umgange  weit  mehr  befriedigt  als  W. 
Ich  wunderte  mich  über  die  Leichtigkeit  des  Ausdrucks  bey  einem 
Manne  der  oft  so  schwer  schreibt.  Aber  vielleicht  verspricht  diese 
auch  künftig  seinen  Schriften  einen  anderen  Ton. 

Göttingen,  d.  18.  Dez.  1770. 
. . .  Ich  habe  Ihren  Vorschlag  ausgeführt.  Die  Sammlung-  ist  auch 
ohne  den  Kalender  abgedruckt  und  Sie  werden  ihn  so,  und  unge* 
bunden  bekommen  . .  Der  Titel  hat  auch  nicht  abgeändert  werden 
können,  da  er  gestochen  war.  Aber  das  wird  nichts  zur  Sache  thun. 
Man  kann  ja  dem  Buch  welchen  Titel  man  will  geben,  und  der  fran* 
zösiche,  ohne  den  Kalender,  heißt  noch  immer  almanac  des  muses. 
In  Absicht  der  Sammlung  selbst  bin  ich  sehr  schüchtern.  Sie  ist  noch 
lange  das  nicht,  was  sie  werden  muß  und  werden  kann,  und  der 
Kenner  muß  mich  gewiß  tadeln,  daß  ich  Stücke  von  so  ungleichem 
Werthe  untereinander  gemischt  habe  . . .  Auf  die  Rezension  in  der 
Allg.  Bibl.  bin  ich  sehr  neugierig,  ob  ich  gleich  versichert  bin,  daß 
eher  Ihre  Nachsicht  als  Ihre  Strenge  mich  schamroth  machen  wird . . . 
Aber  was  denken  Sie?  Hr.  Klotz  ist  hier,  und  ich  war  der  erste 
der  ihn  hier  gesprochen.  Ich  war  Abends  bey  einem  Freunde,  zu 
welchem  er  gleich  kam.  Von  unsern  Sachen  fiel  nichts  vor.  Er  redete 
mit  großem  Wortflusse  von  sehr  vielen  Dingen,  ohne  auf  einen  sei* 
ner  Widersacher  zu  kommen.  Aber  von  seinen  Freunden  sagte  er 
desto  mehr  böses.  Ich  will  lieber  des  Mannes  Feind  als  sein  Freund 
seyn.  Aber  lustig  ist  es  doch,  wie  die  beyden  großen  Freunde,  Klotz 
und  Riedel,  von  einander  reden.  Riedel  versicherte  mich,  daß  aus 
Kl.  bey  seiner  Lebensart  nie  etwas  werden  könnte,  und  Kl.  sagt 

'  Natürlich  XX-lelands  »Diogenes  von  Siope«. 
-  Der  Göttinger  Almanach. 

322 


allen  Leuten,  die  es  hören  wollen,  daß  R.  immer  halbbetrunken, 
daß  er  des  Statthalters  Hofnarr  ist  u.  s.  w.  Der  ersten  Verhinderung 
ist  es  auch  wie  Kl,  sagt,  allein  zuzuschreiben,  daß  sein  großes  Buch 
wider  Sie  und  Hrn.  Lessing  noch  nicht  erschienen  ist .  . . 

Göttingen,  d.  23.  Juni  1771. 
.  .  .  Zuerst  muß  ich  Ihnen  für  Ihr  öffentliches  UrtheiP  über  meinen 
ersten  Versuch,  und  für  das  noch  gütigere  in  Ihrem  Briefe  über  den 
zweyten  danken.  Ich  will  suchen,  es  zu  verdienen.  Die  nächste  und 
vielleicht  die  Hauptursache  meines  Schreibens  ist  das  Versprechen, 
das  Sie  mir  in  Ihrem  letzten  Briefe  thaten.  Sie  wollten  Ihre  Papiere 
durchsuchen,  ob  darin  noch  etwas  für  mich  zu  finden  wäre.  Ich  bin 
unverschämt.  Aber  sey  es  einmal  einer  nicht,  wenn  er  ein  solches 
Versprechen  in  Händen  hat!  Vielleicht  finden  Sie  auch  noch  eins 
oder  das  andere  von  Ihren  Freunden.  Von  Ewald  haben  Sie  mir 
schon  etwas  gezeigt . . . 

Für  die  Abbtische  Korrespondenz  muß  ich  Ihnen  noch  meinen 
besonderen  Dank  sagen.  Trotz  aller  der  geraubten  und  halbgeraub? 
ten  Briefe  die  das  deutsche  Publikum  zeither  erhalten,  gelesen  oder 
nicht  gelesen,  be\yundert  getadelt  und  vergessen  hat,  ist  dies  der 
erste  deutsche  Briefwechsel  der  Männer  interessiert.  Mich  dünkt  ich 
unterhalte  mich  selbst  mit  den  würdigen  Verfassern  der  Literatur* 
briefe,  wenn  ich  ihn  lese.  Einiges  —  warum  sollt  ich  Ihnen  nicht 
offen  meine  Meinung  sagen? —  hätt'  ich  doch  lieber  nicht  gedruckt 
gelesen,  z.  E.  das  spöttische  Urtheil  über  den  Salomo-'.  Was  ist  dem 
Publiko  mit  einem  so  wenig  auseinandergesetzten  Urteile  gedient? 
und  dem  würdigen  Verf.  der  Messiade  ist  es  doch  allemal  unange== 
nehm.  Salomo,  wenn  er  auch  fähig  wäre  einen  falschen  Geschmack 
festzusetzen,  ist  nicht  genug  gelesen  worden  um  die  Wirkung  zu 
befürchten.  Ich  gebe  Ihnen  das  Wenn  nicht  zu,  denn  ich  überzeuge 

'  Die  von  Nicolai  verfaßte  Rezension  (ADBibl.  XIV,  211)  rühmt  den  Almanach 
im  Gegensatz  zu  dem  Leipziger  Almanach  der  deutschen  Musen.  Die  Versuche 
der  jungen  Dichter  »verdienten  wirklich  Aufmunterung«;  die  anthologische 
Arbeit  des  Herausgebers  wird  von  Nicolai  gelobt. 

'  Von  Klopstock.  In  Abbts  »Freundschaftlicher  Korrespondenz«  (Verm.  Werke 
111),  Moses  Mendelssohn  an  Abbt  20.  VI.  64;  gemeint  ist  hier  von  Boie  offenbar 
aber  nicht  dieses  zurückhaltendere  Urtheil  Mendelssohns,  sondern  Abbts  sehr 
sarkastisch=ablehnendes  Urteil:  an  Mendelssohn  11.  VIII. 64  (ebenda  S.  254  ff.). 

21*  323 


mich  immer  mehr  und  mehr,  daß  Kunstrichter  und  Leser  diesem 
Stücke  nicht  Gerechtigkeit  genug  haben  widerfahren  lassen.  Ich 
hätte  nicht  zu  unterscheiden  brauchen,  denn  der  größte  Theil  der 
Deutschen  Heset  noch  nur  mit  der  Rezension  in  der  Hand  oder  im 
Kopf.  Es  kann  seyn,  daß  ich  mich  sogar  in  Klopstocks  Fehler  ein* 
studiert  habe.  Aber  ich  muß  Ihnen  bekennen,  daß  ich  auch  nicht 
viel  von  der  Härte  und  Rauhigkeit  mehr  glaube,  die  man  ihm  vor* 
geworfen  hat . . . 

Göttingen,  lOten  May  1773. 
.  ..^  Ich  war  sehr  beschäftigt,  wie  ich  Ihr  Packet  erhielt  und  wollte 
nur  ein  wenig  blättern;  aber  ich  konnte  mich  nicht  loß  machen  und 
die  andere  Arbeit  mußte  liegen  bleiben.  Mein  Lob  würde  leicht 
Compliment  seyn  und  Sie  brauchen  dasselbe  auch  nicht,  aber  das 
muß  ich  doch  sagen  daß  mich  noch  keine  Schrift  dieser  Art  in  un* 
serer  Sprache  so  vergnügt  hat.  Jetzt  hab  ich  die  zweyte  Lektüre  an* 
gefangen,  und  die  geht  desto  langsamer,  so  viel  Vergnügen  empfind 
ich  bey  jedem  Schritt.  Aber  Lerm  wird  das  Buch  machen.  Desto 
besser . . . 

Göttingen,  d.  S.Juni  1773. 
Der  Verfasser  des  Timorus  freut  sich  sehr  über  den  Beyfall,  den 
Ewr.  Wolgeboren  seiner  Schrift  gegeben-,  und  hat  nichts  dawider, 
daß  ich  Ihnen  seinen  Namen  nenne.  Es  ist  der  hießige  Professor 
Lichtenberg,  der  sich  jetzt,  seine  astronomischen  Beobachtungen  zu 
vollenden,  in  Stade  aufhält.  Vielleicht  haben  Sie  ihn  als  Astrono* 
men  schon  gekannt.  Als  Schriftsteller  erscheint  er  hier  zum  ersten* 
male;  aber  ich  wünschte  sehr,  daß  man  ihn  zu  anderen  Versuchen 
bringen  könnte.  Sein  Name  ist  für  Sie  ganz  allein,  denn  es  ist  ihm 
sehr  viel  daran  gelegen,  daß  er  nicht  laut  gesagt  werde.  Unsere 
Zeitungsschreiber  und  Journalisten  können  nicht  anders  als  das 
Büchelchen  sehr  schief  beurtheilen,  wenn  sie  nicht  eingeleitet  wer* 
den.  Der  Verf.  hätte  daher  gerne,  daß  es  in  der  Alg.  Bibl.  bald  an* 
gezeigt,  und  der  Gesichtspunkt  angegeben  würde,  aus  welchem 
man's  ansehen  muß.  Hier  hört  man  noch  nichts  davon,  denn  ich 
will  nicht  der  erste  seyn,  der  es  bekannt  macht . . . 

'  Nicolai  hatte  Boie  den  »Sebaldus  Nothanker«  übersendet. 

-  Nicolais  Rezension  des  Timorus:  Anhang  z.  13.24.  Bd.  d.  A  D  Bibl.  S.  950tt. 

vgl.  oben  S.  222,  Anm.  1. 

324 


Göttingen,  d.  14.  Nov.  1773. 
. . .  Ich  bin  noch  immer  in  meiner  alten  Lage  hier,  und  werde  immer 
mehr  und  mehr  aus  der  Literatur  herausgezogen,  die  ich  liebe;  nur 
höchstens  ein  wenig  von  ferne  zusehen,  und  ein  wenig  lesen,  mehr 
kaiTn  ich  nicht.  Zum  Glück  verliert  man  bey  dem  Weniglesen  itzt 
nicht  viel.  Sebaldus  Nothanker  ist  noch  immer  hier  in  aller  Händen, 
und  alles  wartet  begierig  auf  den  zweyten  Theil.  Er  kommt  doch 
auf  Ostern?  Ich  habe  mit  Dr.  Miller  und  Leß  davon  gesprochen, 
und  beyde  urtheilen  vernünftig  davon.  Dr.  Walch  seh  ich  itzt  sei* 
ten;  ihm  wird  er  gewiß  nicht  orthodox  genug  seyn.  Über  nichts 
habe  ich  mich  mehr  gewundert,  als  über  Wielands  Lob  im  Merkur. 
Jacobi  ist  nicht  damit  zufrieden,  aber  W.  selbst  hat  einem  meiner 
Freunde  gestanden,  daß  er  zuviel  vom  Säugling  habe^  Mit  dem  AI* 
manach  wird  er,  und  alle,  die  uns  mit  Gewalt  zu  Franzosen  machen 
wollen,  nicht  zufrieden  seyn;  aber  ich  kann  mir  nicht  helfen.  Ich  er* 
kenne  keinen  Despoten  in  der  Litteratur,  und  alle  Machtsprüche 
sind  mir  sehr  gleichgültig.  Wieland  hat  sein  großes  Publikum,  aber 
laß  ihn  nur  noch  ein  Jahr  den  Merkur  schreiben,  und  es  wird  klein 
genug  weiden.  Ich  erinnere  mich  noch,  mit  Ihnen  einst  über  einen 
deutschen  Merkur  gesprochen  zu  haben,  und  es  thut  mir  leyd,  daß 
W.  die  schöne  Idee  verdorben  hat.  Als  verdorben  seh  ich  sie  an, 
obgleich  in  seinem  Merkur  auch  manches  Gute  ist.  Wir  haben  itzt 
einige  sehr  guter  junger  Köpfe  hier,  und  ich  bin  gewiß,  daß  unsere 
Literatur,  in  mehr  als  einer  Absicht,  etwas  von  hier  zu  erwarten  hat. 
Vielleicht  ist  auch  mit  der  Zeit  ein  guter  Rezensent  für  Ihre  Biblio* 
thek  darunter . . .  Ich  sehe  Ihre  Bibliothek  als  eins  der  patriotisch* 
sten  Unternehmungen  an,  die  ich  kenne,  und  es  thut  mir  auch  aus 
dem  Grunde  leyd,  daß  so  viele  andere  Rezensionsfabriken  errichtet 
werden,  die  Sie  hindern  müssen,  Ihre  Bibliothek  in  allen  Fächern 
so  gut  zu  machen,  wie  Sie  es  wünschten.  Eine  jede  der  andern 
hat  doch  gemeiniglich  einen  oder  den  andern  guten  Mitarbeiter, 
Schirachs  Magazin  vielleicht  allein  ausgenommen.  An  der  Lemgoer 
Bibliothek  arbeitet  der  Professor  Mauvillon  in  Cassel,  gewiß  ein 
sehr   guter   Kopf  trotz    seiner   Paradoxie,  und   obgleich  er  nicht 

'  Danach  wäre  Wielands  Äußerung  an  Fr.  H.  Jacobi  vom  16.  Vll.  73,  daß  er  die 
Ähnlichkeit  nicht  bemerkt  habe,  auch  von  hier  aus  als  bloße  Ausflucht  gekenns 
Zeichnet  (vergl.  oben  S.  155,  Anm.  1). 

325 


zum  besten  schreibt.  Er  ist  schon  lange  mein  Freund,  und  ich 
hab  ihn  itzt  fast  von  allen  seinen  vorigen  Verbindungen  mit  ent« 
scheidenden  und  seichten  Halbköpfen  abgezogen ...  Es  ist  wieder 
ein  weicher  wollüstiger  Dichter  aufgestanden \  der  zwar  sein  Ori* 
ginal  nicht  erreichen,  aber  doch  Leser  finden  wird.  Sie  kennen  'den 
Verfasser  der  Kirschen.  Er  läßt  itzt  in  Lemgo  einen  halb  poetischen 
halb  prosaischen  Roman:  Laidion:  drucken.  Unter  der  halberstädti* 
sehen  Schule  könnte  Schmidt-  weit  mehr  seyn,  als  er  ist  und  je  wer* 
den  wird.  Ich  weiß  aber  nicht  welcher  Unstern  da  jeder  Blume 
schon  in  der  Knospe  eine  falsche  Bildung  gibt.  Diesen  verdirbt 
Petrarch,  mit  dessen  Genie  er  gar  keine  Ähnlickeit  hat.  Ich  glaube, 
daß  es  ihm  im  komischen  glücken  würde . . . 

Göttingen,  d.  23.  Juni  1774. 
. .  .  Ich  dank  Ihnen  für  ihr  günstiges  Urtheil  von  den  Almanachen 
in  der  Bibliothek.  Der  Vorwurf  wegen  zu  vieler  leichten  Speise  ist 
gerecht.  Der  letzte  verdient  ihn  schon  weniger,  und  die  Damen  und 
jungen  Herrn  sind  doch  mit  dem  letzten  weniger  zufrieden.  Ich  lasse 
itzt  den  Druck  des  neuen  anfangen,  bin  aber  noch  ziemlich  arm. 
Haben  Sie  denn  gar  auch  nichts  mehr  für  mich?  .  . . 

Göttingen,  d.  29.  Okt.  1774. 
. . .  Der  Almanach  ist  Ihnen  keine  Neuigkeit  mehr.  Sie  haben  ihn 
gewiß  eher  gesehen  als  ich  selbst.  Ich  kann  diesen  nicht  auf  meine 
Rechnung  nehmen,  weil  verschiedene  Angriffe  und  Häckeleyen  da= 
rinn  sind  ',  die  ich  nicht  biUige.  Kaum  werd  ich  überhaupt  mehr 
Theil  daran  nehmen  können.  Man  ist  itzt,  da  Alles  wieder  eine  Zer* 
rüttung  zu  werden  scheint  [?]  fast  froh,  nichts  mehr  mit  der  Litte* 
ratur  zu  thun  zu  haben  . . . 

Göttingen,  d.  20.  Oktober  1775. 
. . .  Ihre  Rezension  —  ich  erkenne  Ihre  Hand  darin  —  von  Lavaters 
Physiognomik  hat  mir  ungemeines  Vergnügen  gemacht.  Wie's  denn 

'  Natürlich  Heinse. 

-  Klamer  Schmidt. 

'-''  Die  Beziehung  ist  mir  ungewiß.  Vgl.  Boie  an  Bürger  12.  XII.  74  (Strodtmann  I, 

219):  »Ich  bin  mit  so  vielen  Leuten  zerfallen,  und  habe  keinem  Ursache  gegeben. 

Wieland,  Gleim,  Ramler  schimpfen  auf  mich  . . .  Genus  irritabile  vatum«  usw. 

326 


nun  mit  dem  großen  \X'erke  gehn  mag.  Es  wäre  doch  eine  Erschei* 
nung,  wenn  es  bei  dem  hohen  Preise  zu  stände  käme.  Einen  Theil 
der  Kupfer  habe  ich  bei  Göthen  gesehen,  der  sich  auch  stark  dafür 
interessiert .  .  .  Ich  hab  mich  sehr  darüber  gefreut,  daß  Ihr  Urtheil 
über  Werthers  Leiden  so  sehr  mit  dem  Meinigen  übereinstimmt. 
Ich  verkenne  die  Absicht  Ihrer  Schrift  gar  nicht,  die  mit  einer  Philo* 
Sophie  und  Laune  geschrieben  ist,  die  ihrem  Verfasser  große  Ehre 
macht.  Am  meisten  hab  ich  mich  über  das  nachbarliche  Genie  ge* 
freut.  Der  Amtmann  auf  der  Titelvignette  sieht  Hr.  Boden  in  Hamb. 
sehr  ähnlich.  Göthens  Buch  wird  fast  allenthalben  falsch  angesehen, 
als  Vertheidigung  des  Selbstmords.  In  unsern  Gegenden  stellen  die 
w  irklichen  Charaktere,  nach  denen  er  gezeichnet,  und  die  er  nicht 
immer  unkenntlich  genug  macht,  sein  Werk  noch  vollends  in  ein 
falsches  Licht . . . 

Göttingen,  d.  2ten  JuH  1775'. 
Diese  Zeilen,  mein  werthester  Herr  Nicolai,  sind  bloß  bestimmt, 
Ihnen  einen  meiner  Freunde  zu  empfehlen,  der  Berlin  und  seine 
Gelehrte  kennen  zu  lernen  wünscht,  Herrn  Salzmann  aus  Straß* 
bürg,  einen  jungen  Mann,  den  Sie  gern  kennen  lernen  werden.  Ich 
bin  seit  einigen  Monaten  in  einer  sehr  verdrießlichen  Lage,  das 
allein  ist  die  Ursache  warum  ich  Ihnen  nicht  für  das  Vergnügen  ge* 
dankt,  das  mir  der  zweyte  Band  Ihres  Nothankers^  gemacht,  ich 
glaubte  in  der  That  nicht,  jetzt  so  heiter  zu  werden  können,  als  ich 
dadurch  auf  einige  Abende  geworden  bin  . . .  VC'ohin  ich  künftig 
gehe  ...  ist  noch  unentschieden ;  das  ist  fast  gewiß,  daß  ich  Göttingen 
verlasse,  und  das  ganz  bestimmt,  daß  ich  nie  in  meinem  Leben  wie* 
der  Hofmeister  werde,  es  mag  mir  auch  gehen  wie  es  will.  Ich  habe 
alle  meine  Zeit,  meine  Ruhe,  einen  Theil  meiner  Gesundheit  dabei 
zugesetzt,  und  hab  am  Ende  nichts,  als  ein  wenig  Erfahrung  ge* 
sammelt,  Gedult  gelernt,  und  — etwas  Englisch  mehr  als  ich  wußte. , . 

Hannover,  d.  24.  Juni  1776. 
. . .  Ich  bin  mit  den  Geschäften  die  ich  habe  immer  mehr  zufrieden, 
je  mehr  ich  sie  kennen  lerne  und  mich  überzeuge,  daß  es  zum  Glück 
des  Lebens  gehört,  einen  wahren,  nicht  erdichteten  Wirkungskreis 

Copie. 
'  \'on  mir  verbessert  aus:  Nothenwerkes. 

327 


zu  haben.  Ich  bin  glückHch  genug  gewesen,  auch  hier  Freunde  zu 
finden.  Zimmermann  und  Klockenbring^  brauche  ich  Ihnen  nur  zu 
nennen.  Die  Litteratur  wird,  wie  immer,  das  Glück  und  V^ergnügen 
meiner  Nebenstunden  seyn.  Aber  selbst  was  darin  zu  seyn,  dazu 
hab  ich  auch  itzt  den  Gedanken  verloren.  Ich  freue  mich  über  alles 
was  gut  ist  und  Hoffnung  gibt  gut  zu  werden,  suche  meinen  Ge* 
schmack  immer  allgemein  zu  erhalten,  und  bin  von  keiner  Parthey. 
Die  Bekanntschaft  des  jungen  Mannes,  aus  dessen  Händen  Sie  die- 
sen Brief  erhalten,  wird  Sie  gewiß  freuen.  Es  ist  Herr  Leisewiz.  Sie 
werden  sich  mit  mir  über  die  schönen  Aussichten  gefreut  haben, 
die  sein  Julius  von  Tarent  gibt ... 

Hannover,  d.  10.  Nov.  1776. 
Ich  habe  meinem  Freund  in  Oxford  wegen  der  Schrift  de  rhythmis 
Graecorum  geschrieben,  und  bekomme  sie  gewiß,  gedruckt  oder  ge* 
schrieben,  wenn  sie  nur  zu  erhalten  steht.  Viel  versprechen  Sie  sich 
aber  nicht  davon.  Ich  freue  mich,  Ihnen  auf  irgend  eine  Weise  meine 
Ergebenheit  und  Dienstbegierde  zeigen  zu  könnnen  . . .  Wenn  Ihre 
Untersuchungen  über  die  Rhythmik  nicht  ins  Musikalische  ein» 
schlagen,  wovon  ich  nichts  verstehe,  freue  ich  mich  sehr  darauf. . . 
Ich  danke  Ihnen  für  den  Almanach".  Die  Vorrede,  die  viel  wahres 
sagt,  hat  mich  sehr  belustigt,  und  unter  den  Liedern  sind  immer 
einige,  die  nicht  zum  Spaß  gedruckt  zu  werden  verdienten.  Ich 
glaube,  daß  Daniel  Wunderlich '  sich  des  ehrsamen  Leineweber* 
handwerks  annehmen  wird.  Er  versteht  aber  Scherz,  wie  Seuberlich 
der  Schuster  auch  thun  wird.  Wenn  Sie  einmal  eine  Idee  haben,  die 
auch  zum  Büchlein  nicht  Ausdehnung  genug  hat,  so  werfen  Sie  sie 
ins  Museum. 

Hannover,  d.  9.  XII.  76. 
. . .  Beyläufig,  vielen  Dank  für  Ihre  Rezension  von  der  Fhysiog* 
nomik.  Ihre  Hand  ist  nicht  darin  zu  verkennen.  Sie  scheint  mir  so 
gründlich  als  billig  und  vermehrt  meinen  Wunsch,  physiognomische 
Versuche  von  Ihnen  selbst  zu  lesen  . .  . 

Ich  muß  gestehen,  daß  ich  den  Almanach  für  einen  Spott  über 

^  Über  Klockenbring  als  Mitarbeiter  der  A  D  Bibl.  vgl.  V^'.  Stammler  in  Ztschr. 
d.  Histor.  Ver.  f.  Niedersachsen  79.  Nr.  3  (1914). 
■'  Nicolais  feyner  kleiner  Almanach. 
'  Bürger. 

328 


das  freylich  oft  übertriebene  Geschrey  von  Volksliedern  gehalten 
habe,  übrigens  fühle  ich  die  manchen  treffenden  Wahrheiten  in  der 
Vorrede  wohl.  Wunderlich  will  aber  wohl  nichts  mehr  als  daß  der 
Dichter  aus  diesen  Liedern  lerne.  Bürgers  Lenore  ist  kein  Volkslied, 
aber  B.  gewiß  wird  welche  machen.  Nach  einigen  Jahren  wollen 
wir  sehen,  was  er  gelernt  hat  aus  den  Volksliedern.  Er  hat  sie  stu= 
diert  wie  vielleicht  wenige  Deutsche,  und  hat  gelebt  mit  dem  was 
wir  Volk  nennen.  Ich  sehe  Übertriebenes  wie  Sie,  in  vielem  was  itzt 
gesungen,  gesagt,  gethan  wird,  aber  laßt  es  nur  ausbrausen:  die  ...[?] 
werden  von  selbst  abfließen,  und  dann  wird  auch  die  gegenwärtige 
Gährung  viel  Gutes  für  den  deutschen  Geist  zurücklassen. 

Ich  füchte  mich  nicht.  Geben  Sie  mir  Ihre  Gedanken  fürs  Museum. 
Ich  will  Ihnen  sehr  verbunden  seyn  und  viele  werden's  mit  mir.  Ich 
sehe  voraus,  daß  sie  oft  von  meinen  und  meiner  Freunde  Gedanken 
abweichen  werden,  aber  das  thut  nichts  .  . . 

Hannover,  d.  8ten  März  1777. 
.  . .  Hr.  Bürger  übersetzt  gewiß  die  Ilias  ganz.  Ich  sähe  wie  Sie  lieber 
daß  er  seine  Kraft  zu  einem  Originalwerke  brauchte,  aber  —  Wider 
Graf  Stolberg  scheint  man  mir  in  Berlin  überhaupt  eingenommen. 
Sie  werden  sich  über  einen  Versuch  den  Vergil  zu  übersezen  und 
über  die  Gegend,  woher  er  kömmt,  wundern.  Er  steht  im  März  des 
M[useum]^  Die  Phys.  Briefe^  (es  werden  mehrere  kommen!)  sind 
von  H.  Prof.  Kleuker  zu  Lemgo,  doch  bitte  ich  ihn  noch  nicht  zu 
nennen.  Von  H.  Klockenbring  leg  ich  vielleicht  einandermal  was 
Physiognomisches  vor,  wenn  —  ich  meine  Hand  länger  im  M[useum] 
behalte.  Ich  zweifle.  Ich  mag  so  vieles  nicht  verantworten,  was  ich 
nicht  billige,  und  sehe  jetzt  ein,  daß  Niemand  Selbander  thun  muß, 
was  er  allein  kann.  Hr.  Leisewitz  u.  Bürger  empfehlen  sich  Ihnen  . . . 

Hannover,  d.  28. 1.  78. 
. . .  Sie  wollten  mir  ja  auch  einmal  etwas  fürs  Museum  geben.  Wenn 
ich  ganz  meinen  eigenen  Gang  gehen  könnte,  würde  das  Journal, 

'  Deutsches  Museum  1777,  S.  193  ft.  »Dido,  ein  episches  Gedicht,  aus  Vergil  ge= 
zogen.«  Die  Vorrede,  die  den  Verfasser  als  »jungen  Mann«  vorstellt,  ist  aus  Bam= 
berg  datiert. 

-  Deutsches  Museum  1777,  Januar  S.  71  ft.  und  April  S.  349ff.  Sie  beginnen  mit 
einer  Kritik  der  Nicolaischen  Rezensionen  der  Lavaterschei.  Physiognomik. 

329 


das  darf  ich  ohne  Pralerei  sagen,  anders  aussehen.  Ich  muß  noch 
immer  viel  aufnehmen,  das  ich  nicht  billige  . . . 

Hannover,  d.  30.  V.  78. 
. . .  Daß  Sie  und  viele  andere  wackere  Männer  wegen  des  Angriffs 
auf  H.  Lichtenberg  im  D.  M.^  nicht  mit  mir  zufrieden  sind,  wun* 
dert  mich  nicht.  Daß  nur  kann  ich  ihnen  daraufsagen:  Lichtenberg 
ist  mein  Freund  vor  wie  nach;  Sie  können  ihn  nicht  mehr  lieben 
und  hochachten  als  ich;  er  weis,  warum  ich  so  und  nicht  anders 
verfahren  mußte,  und  es  wird  bald  von  ihm  eine  Schrift  wider  den 
Verf.  der  Aufsätze  erscheinen"-,  der  ich  nicht  bin. 

Meinen  besten  Dank  . . .  für  den  zweyten  Almanach,  darin  ich 
mehr  als  ein  Stück  gefunden,  das  mir  Vergnügen  gemacht  hat.  Be* 
sonders  gefällt  mir  das  Kleine  an  mein  Pötten  \  Ist  es  alt  und  woher 
ist's?  Wollen  Sie  die  Sammlung  fortsetzen,  so  kann  ich  Ihnen  ein 
Paar  nicht  schlechte  Stücke  aus  dieser  Gegend  geben,  die  ich  aus 
dem  Munde  der  Sängerinnen  aufgeschrieben  habe. 

Ich  bin  mit  H.  Sturz  einige  Tage  in  Wolfenbüttel  gewesen  und 
ich  brauche  Ihnen  nicht  zu  sagen,  wie  angenehm  sie  mir  bei  H.  Les* 
sing  verflossen  . . . 

AUS  NICOLAIS  BRIEFWECHSEL 
MITJOH.  PETER  UZ 

Nicolai  an  Uz 

Berlin,  d.  5.  Oktober  1762. 

.  .  .  Ich  danke  Ihnen  für  den  Antheil,  den  Sie  an  den  Briefen*  neh* 

men  wollen;  sie  gehen  nun  freilich  fort,  aber  langsam,  denn  in  die* 

'  Gemeint  ist  die  anonyme  (Zimmermannsche)  Einleitung  zu  Moses  Mendels^ 
sohns  Aufsatz  über  die  Harmonie  zwischen  Schönheit  und  Tugend:  Deutsches 
Museum  1778,  März  S.  193;  auch  im  Aprilheft  S.  289  findet  sich  als  Anmerkun.i,' 
zu  Lavaters  Widerlegung  der  Lichtenbergschen  Antiphysiognomik  ein  (nach 
W.  Hofstaetter,  Das  deutsche  Museum,  Leipzig  1908  S.  154  von  Göbhard  hcr^ 
rührender)  scharfer  Angriff  gegen  Lichtenberg. 

-  Boie  nahm  indessen  Lichtenbergs  Verteidigungsschritt  nicht  ins  Museum  auf; 
sie  erschien  im  Hamburger  Korrespondenten. 

'  Nicolais  Almanach  ed.  Ellinger  11,43  »Eyn  Lyd  an  eyn'n  Pötten«-. 
*  Gemeint  sind  die   Literaturbriefe;  der  vorangehende  LJzsche  Brief,  aus  dem 
man  die  Art  des  »Anteils«  ersehen  könnte,  fehlt. 

330 


sem  halben  Jahre  ist  nur  ein  Theil  fertig  geworden.  Der  Himmel 
weiß,  wie  es  in  dem  kijnftigen  gehen  wird;  die  Verf.  sind  einiger* 
maßen  des  Kritisierens  müde;  zumahl  da  sie  seit  dem  letzten  Lärm 
mit  Justi^  doch  sich  einigermaßen  scheuen,  und  sich  nicht  gern  in 
Verdruß  setzen  wollen;  sie  schreiben  zum  Vergnügen,  also  ist  wohl 
leicht  zu  erachten,  daß  sie  sich  nicht  gern  allerley  Chicanen  bloß* 
setzen  wollen.  Und  wenn  man  indem  man  seine  Meinung  offen* 
herzig  sagt,  immer  befürchten  muf^,  zur  V'erantwortung  gezogen  zu 
werden,  so  bleibt  für  den  Verfasser  wenig  Vergnügen  übrig.  Übri* 
gens  ersetzt  ein  Beifall  wie  der  Ihrige  allerdings  alle  solche  kleine 
Ungemüthlichkeiten,  und  muntert  die  Verfasser  auf.  Ich  denke 
auch  immer  noch,  daß  diese  Schrift  bis  zu  Ende  des  künftigen  Jahres 
soll  fortgesetzt  werden.  Alsdann  wird  es  auch  wohl  Zeit  sind  [sie] 
aufzuhören. 

.  .  .  das  deutsche  Publikum  begünstigt  meinen  Anschlag  auf  die 
Engländische  Schriftsteller  bisher  eben  nicht  sehr;  werde  ich  inzwi* 
sehen  nur  auf  einige  Weise  in  den  Stand  gesetzt  darin  fortzufahren, 
so  wird  Shakespeare  gewiß  einer  der  ersten  Schriftsteller  sein,  die 
ich  liefern  werde.  Von  Herrn  Wielands  Übersetzung  verspreche 
ich  mir  nichts,  als  auf  der  einen  Seite  sehr  elende  Kritik  des  Shake* 
speare,  und  auf  der  andern  Seite  vielleicht  noch  elendere  Nach* 
ahmer.  So  viel  ist  ausgemacht,  daß  dieser  Schriftsteller  theils  in 
vielen  Fällen  ganz  unübersezbar  ist,  und  theils  daß  er,  wenn  er  auch 
noch  so  gut  übersezt  wäre,  dennoch  Lesern  die  der  Engl.  Sprache 
und  des  Engländischen  Humours  nicht  kundig  sind,  nimmermehr 
gefallen  wird.  Ich  befürchte  im  übrigen  H.  Wieland  wird  den  Shake* 
speare  ebenso  übersetzen  als  H.  Zachariae  den  Milton  übersezt  hat; 
ohne  die  geringste  Anmuth. 

Der  Verfasser  der  Kreuzzüge  ist  H.  Hamann,  der  auch  der  Ver* 
fasser  der  sokratischen  Denkwürdigkeiten  ist.  In  diesem  letzteren 
Tractätgen  hatte  er  viel  Genie  gezeigt,  und  man  hatte  seine  Schreib* 
art  für  einen  Fehler  gehalten,  den  er  sich  mit  der  Zeit  abgewöhnen 
würde!  aber  er  hat  sich  seitdem  ganz  auf  die  Seite  des  abentheuer* 
liehen  gewendet.  Freilich  weiß  man  nicht,  was  man  aus  seinen  Kreuz* 

Über  die  v.  Justische  Beschwerde  an  die  Censurdirektion,  das  vorübergehende, 
durch  Ministerialentscheidung  unwirksam  gemachte  Verbot  der  Literaturbriefe 
hat  Nicolai  Uz  im  vorangegangenen  Briefe  v.  I.Juli  1762  unterrichtet. 

331 


zügen  machen  soll.  Es  sind  einige  sehr  artige  Stellen  darinnen  aber 
das  übrige  —  ist  deutsch  zu  reden  Unsinn.  Ich  hoffe  es  soll  ihm  in 
den  Briefen  auch  sein  Recht  widerfahren  .  . . 

Uz  an  Nicolai 

Anspach  [Ansbach],  10. 1.  1763. 

.  . .  Herr  Wieland  hat  endlich  einmal  den  ersten  Theil  seines  deut« 

sehen  Shakespeare  geliefert.  Ich  weiß  nicht  ob  er  etwan  der  Popi* 

sehen  Auflage  in  der  Ordnung  der  Stücke  folgt,  denn  sonst  wüßte 

ich  die  Wahl,  die  er  in  diesem  Theile  getroffen,  nicht  zu  rechtfertig 

gen.  Die  2  Stücke  die  er  übersetzt  hat,  werden  das  deutsche  Public 

kum  für  den  Schakespear  nicht  sehr  einnehmen,  so  vortreffliche 

Dinge  auch  im  Leer  [sie]  sind.  Ich  habe  ihn  beynahe  für  unüber* 

setzlich  gehalten,  u.  Wieland  hat  auch  verschiedenes  weggelaßen, 

welche  Weglassungen  ich  aber  nicht  billigen  kann.  Man  will  den 

Schakespear  sehen,  wie  er  ist . .  . 

Uz  an  Nicolai 

Anspach,  d.  2.  VIII.  1763. 

.  ..Aber  was  sagen  Sie  zu  der  tödtlichen  Stille,  die  dermalen  auf 

dem  deutsehen  Parnaß  herrseht?  Es  kommen  zwar  noch  alle  Mes* 

sen  einige  Büehelchen  mit  Versen  heraus.  Aber  sie  bedeuten  so  gar 

wenig,  daß  sie  kein  Aufsehen  machen.  Kein  neues  Genie  zeigt  sieh 

und  die  alten  schreiben  selten  mehr.  Was  wird  daraus  werden? 

Wir  haben  noch  nicht  gute  Dichter  genug,  daß  wir  schon  aufhören. 

dürfen.  Verschiedene  Classen  sind  noch  ganz  lär.  Wenn  doch  nur 

die  Gedichte  der  Frau  Karschin  einmal  herauskämen]  Es  währt  gar 

zu  lange  . . . 

NicolaianUz 

Berlin,  d.  8.  XII.  1766^ 

. . .  Meine  Briefe  üb.  den  Z.  d.  seh.  Wiss.  habe  ich  versprochen  ^,  und 

es  soll  auch  nicht  bey  dem  bloßen  Versprechen  bleiben;  aber  wann 

'  Die  Korrespondenz  hatte  geruht;  vgl.  Uz  an  Gleim  (ed.  Schüddekopf,  Bibl.  d. 
liter.  Ver.  Stuttg.  Tübing.  1899,  S.  228)  3.  VII.  1766:  »Nicolai  hat  mir  schon  in  zwei 
Jahren  nicht  geschrieben.« 

-  Im  Meßkatalog  war  eine  Neubearbeitung  der  »Briefe  über  den  itzigen  Zustand 
der  schönen  Wissenschaften«  angekündigt;  gerade  Uz  hatte  brieflich  wiederholt 
dazu  gedrängt.  Die  Neubearbeitung  ist  nicht  zustande  gekommen. 

332 


ich  dieses  Versprechen  werde  halten  können,  bleibt  freilich  unge* 
wiß.  Ich  sehe  täglich  mehr  ein,  daß  diese  Briefe  nichts  als  Jugend* 
arbeiten  sind,  die  freilich  viel  Nutzen  mögen  geschaffen  haben,  aber 
nicht  durch  ihren  inneren  Werth,  sondern  durch  die  Zeit  und  die 
Umstände,  in  welchen  sie  erschienen  sind.  Ich  würde  sie  itzt  lieber 
ganz  neu  machen,  wenn  ich  nicht  fürchtete,  daß  sie  jemand  in  der 
alten  unvollkommenen  Gestalt  wieder  möchte  auflegen  lassen,  in= 
zwischen  werde  ich  doch  die  Hälfte  wegwerfen  und  zum  Theil  neu 
schreiben;  die  andere  aber  sehr  verändern;  damit  bin  ich  itzt  be- 
schäftigt  und  dieß  ist  eine  der  beschwerlichsten  u.  verdrießlichsten 
x\rbeiten;  wenn  ich  damit  fertig  bin,  so  will  ich  auf  ein  Bändchen 
neuer  Briefe  denken;  aber  ich  zittere  wenn  ich  bedenke,  daß  ich 
von  Ihnen  und  anderen  Männern  von  Einsicht  werde  gelesen  wer* 
den,  deren  Gedanken  über  diese  Materien  ich  lieber  hören  möchte 
als  Ihnen  die  meinigen  eröfnen  wolte . . . 

Haben  Sie  nicht  ein  Paar  kleine  Bändgen  unter  dem  Titel  »Über 
die  Litteratur  oder  Beylage  zu  den  Br.  über  die  L.«  In  die* 
sem  Buche  ist  ungemein  viel  schönes,  das  einen  Verf.  verrät  der  viel 
Philosophie  und  gesunden  Geschmack  hat.  Es  sind  freilich  auch 
viel  Gedanken  darin,  die  ich  für  unrichtig  halte,  aber  dennoch  muß 
man  diesen  Verf.  hochschätzen;  der  V.  soll  sich  in  Riga  aufhalten 
und  Härder  heißen  .  . . ' 

UzanNicolai 

Anspach,  d.  6.  Febr.  1767. 
. .  .  Ich  dichte  nicht  mehr,  das  wissen  Sie.  Acten  und  Prozesse  ver* 
tragen  sich  nicht  nicht  mit  der  Leyer.  Wenn  ich  eine  müßige  Stunde 
habe,  so  sehe  ich  die  noch  ungedruckte  Reime  durch,  um  etwan 
einmal  die  letzte  Kraft  meines  Witzes  der  Welt  aufzudringen.  Ich 
fand  einen  Sokrates  und  freute  mich,  daß  ich  mit  Herrn  Moses 
einerley  Idee  gehabt.  Ich  las  vor  etlichen  Jahren  ausdrücklich  den 
Phädon  des  Plato,  um  eine  Ode  über  die  Unsterblichkeit  zu  machen. 
Aber  ich  konnte  wenig  daraus  brauchen.  Herr  Moses  wird  alles 
besser  nutzen.  Inzwischen  habe  ich  Lust  Ihnen  dieseOde  zu  schicken. 
Wer  weiß  wann  sie  gedruckt  wird. 

'  Herders  »Fragmente«.  Über  Härder  statt  Herder  vgl.  Nicolai  an  Herder 
30.  XII.  1766. 

333 


Nicolai  an  Uz 

Berlin,  d.  21.  März  1767. 
...  In  Ihrer  Ode  über  die  Unsterblichkeit  sind  schöne  Stellen.  In* 
zwischen  muß  ich  Ihnen  aufrichtig  gestehen,  das  sie  nicht  das  Feuer 
hat,  das  ihre  besten  Oden  haben.  Aber  warum  machen  Sie  wirklich 
nichts  mehr?  Ich  glaube,  die  Ungewohntheit,  daß  Sie  lange  nichts 
gemacht  haben,  trägt  eben  so  viel  dazu  bey,  als  die  Juristischen 
Arbeiten.  Der  Geist  findet  es  etwas  schwer,  sich  zu  erheben,  wenn 
er  sich  lange  nicht  erhoben  hat.  Suchen  sie  sich  einmahl  wieder  in 
Feuer  zu  setzen,  vielleicht  gelingt  es.  Und  solten  Sie  ja  zur  Ode 
itzt  keine  Neigung  mehr  spüren,  so  gibt  es  ja  noch  mehrere  Gattun- 
gen der  Dichtkunst.  —  Und  wie  wenn  Sie  etwas  in  Prosa  zu  schrei* 
ben  versuchten,  z.  B.  Etwas  Historisches,  daran  es  uns  in  Deutsch* 
land  noch  so  sehr  fehlet.  Ich  glaube  hiezu  müßte  sich  Ihr  Genie 
vortreflich  schicken  .  .  .  Wenn  Sie  einen  Verleger  brauchen  hier 
bin  ich!  doch  wohl  verstanden,  daß  ich  niemand  anders  verdrän* 
gen  will ... 

Uz  an  Nicolai 

Anspach,  11.  Sept.  1769. 
.  .  .  Sie  wissen  wie  sehr  ich  Sie  hochschätze.  Ich  bin  allemal  ein 
Nicolait  gewesen  und  bin  es  noch  [a.  Rande:  Sie  erinnern  sich 
doch  dieses  alten  Schweizer* Witzes?  Wenn  ich  mich  nicht  irre,  so 
fängt  dieß  Wort  wieder  an  gehört  zu  werden.  Ein  übles  Zeichen!] 
Eben  deswegen  freue  ich  mich,  daß  die  allgemeine  Bibl.  alles 
Schreyens  dagegen  ohnerachtet  noch  fortdauert  und  sich  immer 
verbessert  .  .  . 

Nicolai  an  Uz 

Nachschrift  z.  Briefe  v.  8.  Okt.  1769. 
W^as  sagen  Sie  von  Klopstocks  Hermannsschlacht?  Fast  möchte  ich 
davon  sagen  was  jener  von  der  Pucelle  sagte.  Cela  est  bien  beau, 
mais  cela  est  bien  ennuyant.  Ich  meine  es  aber  in  einem  andern  Ver* 
Stande.  Das  Stück  ist  wirklich  sehr  schön,  doch  kann  man  es  nicht 
zum  zweiten  oder  drittenmale  lesen,  mann  kann  nicht  Theil  daran 
nehmen;  solche  Gesinnungen  wie  darin  herrschen,  wünsche  ich 
unsern  Zeiten  nicht. 

334 


Uz  an  Nicolai 

Anspach,  12.  Dez.  1769. 
.  . .  die  Hermannsschlacht  ist  wirklich  eine  besondere  Erscheinung , 
die  wilde  Größe  der  alten  Deutschen  ist  gut  ausgedrückt.  Aber  das 
ganze  Ding  ist  doch  nur  eine  Copie,  und  eine  Copie  ohne  Original. 
Ich  fürchte,  es  gehe  damit,  wie  mit  den  Dithyramben.  An  elenden 
Nachahmern  wird  es  ohnehin  nicht  fehlen  .  . . 

Nicolai  an  Uz 

Berlin,  13.  Nov.  1770. 
. . .  Herr  Wieland  ist  im  Sommer  in  Leipzig  gewesen,  er  versichert 
beständig  noch,  daß  Riedel  sein  anderes  Ich  sey.  Ich  begreife  nicht, 
wie  ein  Mann,  der  so  viel  Talente  hat,  an  einem  seichten  Kopfe  so 
viel  Gefallen  finden  kann;  und  man  solte  denken,  diese  Freund* 
Schaft  müßte  für  Riedeln  vortheilhaft  seyn,  indem  ihn  Wieland  zu 
sich  heraufzöge,  so  aber  scheint  es  im  Gegentheil,  daß  Riedel  Wie* 
landen  zu  sich  herunterziehet.  In  den  Beyträgen  sind  vielleicht 
kaum  zwey  Bogen,  die  Riedel  nicht  ebensogut  hätte  schreiben 
können.  Ich  beklage  Herrn  W.  daß  er  so  viel  schreibt.  Es  wäre 
doch  schlimm  für  ihn,  wenn  er  zum  zweitenmahl  in  die  Verlegen- 
heit käme,  daß  ihm  seine  vorige  Werke  nicht  gefielen.  Die  Grazien, 
die  diese  Messe  herausgekommen  sind,  sind  eine  ganz  artige 
Kleinigkeit  . . . 

Ich  wünschte,  daß  ich  allen  Connexionen  mit  der  neuen 
Litteratur,  so  wie  sie  alle  Jahr  sich  verjünget,  aufgeben  und 
mich  bloß  auf  die,  die  ich  wirklich  liebe,  einschränken  könnte. 
Es  herrscht  itzt  eine  sonderbare  Verdrießlichkeit  auf  unserm 
Parnaß  . . . 

Nicolai  an  Uz 

Berlin,  d.  9.  Junius  1772. 
. . .  Haben  Sie  Wielands  goldenen  Spiegel  gelesen?  Nun  fängt 
dieser  vortrefliche  Kopf  an  sich  auf  der  Seite  zu  zeigen,  wo  ich  ihn 
schon  lange  zu  sehen  gewünscht  hätte.  Mir  freilich  gefällt  (bloß 
meinem  besonderen  Geschmack  nach)  die  orientalische  Einkleidung 
nicht,  aber  sie  w4rd  immer  noch  genug  nach  dem  Geschm  acke  vieler 
anderer  Leute  seyn  . .  . 

335 


Uz  an  Nicolai 

Anspach,  d.  17.  IX.  72. 

. . .  Erheben  Sie  sich  lieber  [als  gegen  Klotz]  wider  einige  Gebrechen, 

die  unsere  Dichter  anzunehmen  scheinen.  Man  entfernt  sich  wie* 

der  von  der  Natui^  Die  Künsteley,  Schwulst,  Parenthyrsus  werden 

herrschend  und  das  Barden; System  wird  vollends  alles  verderben. 

Es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  ein  so  großer  Dichter,  als  Klopstock, 

selbiges  annehmen  u.  seine  Oden  damit  verderben  mögen.  Dieses 

System  wird  niemals  national  werden,  und  ich  sehe  nicht  den  ge* 

ringsten  Nutzen  dabey,  wenn  es  auch  eingeführt  würde.  Fabel  für 

Fabel  so  will  ich  lieber  die  griechische,  die  mir  schon  bekannt  ist, 

als  eine  barbarische,  die  ich  erst  lernen  muß.  Es  hätte  gar  wohl  bey 

der  vortrefflichen  Ode  eines  Skalden^  und  ein  Paar  Versuchen  des 

H[errn]  Kretschmanns  sein  Verbleib  haben  können.  Es  ist  nur  gut, 

daß  Wieland,  nachdem  er  einmal  zur  Natur  zurückgekehrt,  der* 

selben  getreu  verbleibt.  Bey  dem  ausgebreiteten  Beyfall,  den  seine 

x\rbeiten  erhalten  und  verdienen,  würde  sein  Exempel  ansteckend 

seyn.  Sein  goldener  Spiegel  ist  seiner  würdig.  Ob  der  Hof  an  den 

er  neulich  gerufen  worden,  ein  ihm  schicklicher  Aufenthalt  sey, 

wird  die  Zeit  lehren:  ich  zweifle,  ob  ich  gleich  wünsche,  daß  er 

nicht  zu  oft  wechseln  möge  ... 

[Im  folgenden  schildert  Uz  das  Zustandekommen  seiner  Horaz* 

Übersetzung.] 

Nicolai  an  Uz 

Berlin,  d.  17.  Jänner  1775. 

Herr  Leibarzt  Zimmermann  erzählte  mir  einmahl,  daß  wenn  der 

Poet  Jakobi  bey  seinem  öftern  Durchreisen  durch  Hannover,  ihn 

besuchen  wollen,  und  ihn,  wie  es  oft  geschehen,  nicht  zu  Hause 

gefunden  habe,  allemahl  anstatt  einer  Karte,  wie  sonst  gewöhnlich, 

sein  neuestes  Gedichtchen  abgegeben  habe.  So  habe  er  sich  lange 

mit  ihm  weiter  nicht  unterhalten  als  durch  seine  Werke.  Bald  gehts 

mit  unserem  Briefwechsel  ebenso  . . .  Also  meine  Karte  daß  ich  da 

bin,  bekommen  Sie  beyliegend"  denn  wahrhaftig,  ich  bin  so  eilig, 

daß  ich  nicht  einmahl  warte,  ob  Sie  zu  Hause  seyn  wollen,  um  mich 

zu  sprechen ... 

■  Offenbar  Gerstenbergs  »Gedicht  eines  Skalden«^  gemeint. 
-  »Sebaldus  N'othanker«. 

336 


Uz  an  Nicolai 

[ohne  Datum.  Nicolai:  »1773  28.  Juni«  empfangen.] 
Mit  Geschenken  darf  ich  mit  Ihnen  nicht  wetteifern,  theuerster 
Freund,  das  sehe  ich  wohl.  Kaum  schicke  ich  Ihnen  eine  mittel? 
mäßige  Übersetzung  \  so  erhalte  ich  dagegen  eine  Original*Schrift 
die  Ihres  Geistes  und  Ihres  Ruhmes  in  aller  Absicht  würdig  ist.  Sie 
bleiben  also  wieder  im  Vorschuß.  Das  Publikum  muß,  wie  ich,  auf 
eine  angenehme  Art  überraschet  worden  seyn,  von  Ihnen  einmal 
wieder  ein  Produkt  des  Genies  zu  sehen,  wie  man  Ihnen  zwar  jeder* 
zeit  zugetrauet,  aber  bey  Ihren  Geschäften  und  Zerstreuung  nicht 
gehoffet  hat.  Magister  Sebaldus  ist  über  mein  Lob  erhaben,  u.  je 
öfter  ich  in  seiner  Geschichte  lese,  je  mehr  vorher  übersehene  Schön* 
heiten  nicht  allein,  sondern  gründliche,  manchmal  nur  flüchtig  an* 
gedeutete  Bemerkungen  finde  ich.  Was  für  eine  rührende  Scene  um 
das  Sterbebette  der  lieben  Wilhelminel  Zwar  werden  Sie  in  ein 
^?C'espennest  gestochen  u.  viele  von  der  Geistlichkeit  bitterböse  ge* 
macht  haben.  Es  ist  wahr,  Sie  stellen  diese  Herren  auf  einer  sehr 
häßlichen  Seite  vor.  Der  Herr  Consistorial*Präsident, dieser  meister* 
mäßig  gezeichnete  Charakter,  und  der  H.  Superintendent,  die  auf 
dem  Titel*Kupfer  beyde  sich  so  vortrefflich  ausnehmen,  haben  wohl 
in  der  wirklichen  Welt  ihres  gleichen.  Aber  es  ist  auch  wahr,  daß 
Sie  einem  Geistlichen  wiederum  einen  sehr  edlen  Charakter  bey* 
legen,  nehmlich  dem  Sebaldus,  der  aber  freylich  ein  Heterodox  ist. 
Die  Gespräche,  welche  rem  librariam  betreffen,  sind  wohl  etwas 
weitläuftig  und  unterbrechen  die  Geschichte  ziemlich  lang,  werden 
daher  auch  von  manchen  die  zum  Zeitvertreibe  lesen,  überschlagen 
werden.  Das  mögen  sie  denn  thun.  Ich  meines  Theils  habe  sie  mit 
Vergnügen  gelesen  und  finde  sie  voll  wahrer  und  gemeinnütziger 
Bemerkungen.  Gott  gebe,  daß  sie  Frucht  bringen  welches  aber  mehr 
zu  wünschen  als  zu  hoffen  ist . . . 

[Am  Rande,  auf  Nicolais  Anfrage  nach  Götz'  Lebensumständen:] 
Von  Hrn  Götzen  weis  ich  Ihnen  auch  nichts  zu  sagen,  weil,  seit* 
dem  er  von  Halle  weggegangen,  ohne  Abschied  von  mir  zu  neh* 
men,  ich  keine  Verbindung  mit  ihm  gehabt.  Er  war  ein  stiller  guter 
Mensch,  von  hübschem  Ansehen,  aber  in  dürftigen  Umständen, 

'  Uz'  HoraziÜbersetzung. 

22  Sommerfeld,  Friedrich  Nicolai  337 


informierte  auf  dem  Waysenhause,  u.  brachte  die  Nachmittage  bey 
mir  und  dem  Anakreon  zu. 

Uz  an  Nicolai 

Anspach,  18.  Dez.  75. 
. . .  Hr  Göthe  hat,  wie  ich  gleich  gedacht,  Ihre  Freuden  des  jungen 
Werthers  übel  genommen.  Das  sehe  ich  aus  seinem  Prometheus  ^ 
Er  ist  gar  zu  empfindlich,  da  er  sich  doch  soviele  Freyheiten  gegen 
andere  herausnimmt.  Warum  aber  Hr.  Wieland,  in  seinem  neuen 
Mercur  zu  äußern  nöthig  erachtet,  das  Sie  sein  Freund  nicht  wären, 
wundert  mich.  Ich  dachte  Sie  wären  mit  ihm  völlig  ausgesöhnt . .  .^ 

Uz  an  Nicolai 

Anspach,  d.  4.  Juli  1776. 
. .  .Wie  wohl  wars  mir  beym  Lesen  [des  Sebaldus  Nothanker,  Bd.  III] 
da  ich  wieder  einmal  gutes  Deutsch  fand!  Zu  einer  Zeit,  da  man 
unsere  Sprache  recht  mit  Gewalt  wieder  verderbt,  nachdem  es  so 
viel  Mühe  gekostet,  sie  zu  verbessern]  Wir  sollen  itzt  wieder  wie 
Hanss  Sachs,  reden  u.  schreiben;  und  nicht  nur  im  Scherz:  denn 
das  möchte  hingehen, und  so  gebrauchen  die  Franzosen  ihre  Marcts« 
Sprache,  auch  in  ernsthaften  Dingen  will  man  uns  diesen  Jargon 
aufdringen.  Was  müssen  Ramler,  Mendelssohn,  die  Meister  unse# 
rer  Sprache,  denken.  Es  ist  rühmlich  daß  Sie  in  Ihrer  Bibliothek  die 
ich  noch  immer  von  Ihrer  Gütigkeit  erhalte,  mehrmalen  wider  die* 
ses  Unwesen  reden.  Ich  hoffe  auch  diese  Epidemie  von  Narrheit 
soll  endlich  wieder  vorübergehen  . . . 

Nicolai  an  Uz 

Leipzig,  d.  12.  Okt.  1776. 
. . .  Hier  haben  Sie  wieder  eine  Kleinigkeit,  die  unsere  Genies,  si 
DIS  placet,  in  ihrer  Selbstzufriedenheit,  ein  wenig  stören  solP.  Die 
Idee  kam  an  einem  frölichen  Tag  auf  dem  Lande  und  die  Vorrede 

^  H.  L.Wagners  »Prometheus  Deukalion  u.  s.  Rezensenten«  gemeint. 

^  Demnach,  wie  auch  aus  vorangegangenen  Briefstellen  an  Nicolai  ersichtlich» 

bezieht  Uz  dieWielandsche  Äußerung  »Herr  N.  ist  nie  mein  Freund  gewesen...« 

(s.  o.  S.  157)  auf  die  bekannte  Charakteristik  Wielands  in  den  Nicolaischen  »Brie* 

fen  über  d.  itzigen  Zustand«. 

'  Der  feyne  kleine  Almanach. 

338 


kostete  auch  Einen  Tag.  Aber  die  Sammlung  selbst,  kostete  mehr 
Mühe.  Wenn  mir  unser  Freund  Weiße  nicht  eine  alte  Samrn* 
lung  von  Bergliedern,  die  im  16ten  Jahrhundert  in  Nürnberg 
gedruckt  ist,  mitgetheilet  hätte,  wäre  ich  garnicht  zu  Stande  ge* 
kommen. 

Gibts  in  Franken  keine  Volkslieder?  Wie  wäre  es,  wenn  Sie  zum 
2ten  Jahrgange  einen  kleinen  Beitrag  einsenden  könnten.  Sie  wer« 
den  ja  Bänkelsänger  und  Mordgeschichtsänger  haben,  die  ihre  Lie? 
der  verkaufen. 

Ich  habe  gestern  den  Hrn  v.  Knebel  aus  Weimar  gesehen.  Er  ist 
ein  wenig  vergöthisiert,  aber  doch  noch  der  brave  offene  Mann. 

Uz  an  Nicolai 

Anspach,  den  2.  April  1777. 
. . .  Mit  größtem  Vergnügen  habe  ich  die  meisterhafte  Vorrede  [zum 
Almanach]  gelesen,  die  wiederum  ein  Wort  zu  seiner  Zeit  geredet 
ist . . .  ich  wollte  Ihrem  Verlangen,  dergleichen  Volkslieder  aus  hie« 
siger  Gegend  beyzutragen,  womöglich  ein  Genüge  leisten.  Es  wollte 
mir  nicht  glücken.  Die  Bänkelsänger  kommen  seit  geraumer  Zeit 
nicht  mehr  in  die  Stadt  .  .  .  Zum  letzten  Jahrmarkte  hörte  ich  von 
einer  Weibsperson,  die  Traumbücher  und  schöne  weltliche  Lieder 
feil  hätte.  Ich  ließ  den  ganzen  Kram  hohlen,  fand  aber  nur  wenige, 
die  einigermaßen  Ihrer  Absicht  entsprechen.  Neue  Lieder  werden, 
bey  dem  wiederhohlten  Druck,  mit  untergemischt,  und  es  kann 
nicht  fehlen,  daß  nicht  auch  die  alten  hier  und  da  verändert  werden. 
Ich  schließe  hier  bey  was  ich  ausgesucht  habe'.  Mit  beygesetzten 
Melodien  habe  ich  keine  angetroffen  . . . 

Nicolai  an  Uz 

Berlin,  d.  25.  Apr.  1777. 
. . .  Ich  danke  Ihnen  für  die  übersendeten  Lieder,  von  welchen  zu 
meiner  Absicht  freylich  nicht  viel  zu  brauchen  seyn  wird.  Doch 
sind  sie  mir  der  Sammlung  halber  lieb-  Ich  mache  vom  Almanach 
nur  Einen  Band  noch,  damit  der  Spaß  nicht  allzulang  dauere  und 
dazu  habe  ich  noch  einen  ziemlichen  Vorrath  alter  im  löten  Saeculo 
gedruckter  Lieder  . . . 
'  Nicht  erhalten. 

22*  339 


Uz  an  Nicolai 

^  Anspach.d.  15.  Sept.  1777. 
...  Es  herrscht  eine  gewisse  Mattigkeit  im  Reiche  des  Witzes  und 
es  thut  fast  Noth,  daß  eine  neue  Schnurre  die  deutsche  Literatur 
belebe.  Der  Barden*  u.  Balladen*Geschmack  ist  altvaterisch,  das 
Empfindsame  wird  verlacht.  Man  braucht  etwas  neues,  wenn  es 
gleich  nichts  besseres  ist.  Denn  zum  antiken  Geschmack  der  Natur 
scheint  man  noch  nicht  zurückkehren  zu  wollen  . . . 

Uz  an  Nicolai 

x\nspach,d.  25.  Sept.  1779. 
. . .  Kaum  haben  Sie  sich  Wielands  erwehrt,  so  tritt  schon  wieder 
Voß  auf  \  der  sich  zum  Streit  mit  Ihnen  recht  mit  Gewalt  drängt, 
und  in  einem  sehr  hohen  Ton  spricht.  Die  Herausgabe  des  Musen* 
almanachs  macht  ihn  doch  nicht  so  stolz  . . . 

Nicolai  an  Uz 

Leipzig,  d.U.  Okt.  79. 
. . .  Der  Vossische  Angriff  auf  die  Bibliothek,  bedeutet  nicht  viel 
und  sein  Gegner  wäre  ihm  vollkommen  gewachsen,  wenn  er  es  für 
nöthig  befände,  ihm  zu  antworten.  Herrn  Voß  ist  von  dem  Grafen 
von  Stollberg  der  Ertrag  der  Stollbergischen  Iliade  geschenkt  wor* 
den.  Hr.  Voß  spricht  also  nicht  eigentlich  für  seines  Freundes  Poe* 
sie,  sondern  für  seinen  eigenen  Beutel . . . 


NICOLAI  AN  HÖPFNER 

Berlin,  d.  5.  März  1776. 
. , .  Kurz  nach  Empfang  lihres  letzten  Briefes]  fieng  ich  an,  nachdem 
ich  mich  seit  der  Michaelmesse,  durch  viele  Handlungs*  und  andere 
verdrießliche  [Geschäfte]  durchgearbeitet  hatte,  den  3ten  Theil 
eines  Werkchens- anzufangen,  das  zwar  die  Welt  noch  sehr  wohl, 
länger  als  die  Ostermesse  hätte  entbehren  können,  dessen  ich  in  der 
That  aber  nachdem  ich  einige  Jahre  lang  daran  habe  denken  müssen, 

'  Nicolai  am  Rande:  non  curo! 
-  Sebaldus  Nothanker 

340 


so  überdrüssig  bin,  daß  ich  es  für  eine  Glückseligkeit  ansah,  es  ganz 

aus  meinem  Kopfe  herauszuschreiben,  damit  ich  nicht  mehr  daran 

denken  dürfte  ...  Im  Anfange  ward  mir  die  Arbeit  sehr  sauer.  Sie 

können  leicht  erachten,  wie  vieler  kleiner  Umstände  man  sich  er* 

innern  muß,  wenn  man  an  die  Fortsetzung  eines  solchen  Wercks 

beynahe  seit  Jahresfrist  nicht  gedacht  hat.  (Ich  hatte  im  vorigen 

Sommer  kaum   wenige  Tage   daran   denken   und   etwan  i  Bogen 

schreiben  können,  weil  ich  viel  Handl.  Geschäfte  gehabt  und  zu 

dem  Anhange  der  Bibl.  aus  Noth,  an  200^  Bücher  und  Kupfer* 

Stiche  hatte  anzeigen  müssen  weil  ich  keinen  Recensenten  finden 

konnte.)  Indessen  da  ich  mir  den  ganzen  vorgesetzten  Plan  wieder 

lebendig  gemacht  hatte,  so  gieng  die  Arbeit  so  schleunig  von  statten, 

daß  ich,  zu  meiner  eigenen  Verwunderung,  mit  diesem  Theile,  gegen 

Ende  des  Februars,  also  etwan  in  6  Wochen  ganz  fertig  war . . .  Dazu 

kam,  daß  eben,  da  ich  am  meisten  beschäftigt  war,  Hr.  Lessing  nach 

seiner  Zurückkunft  aus  Italien  sich  hier  3  Wochen  aufhielt.  Ich 

sähe  ihn,  wie  leicht  zu  erachten  oft  und  er  mich,  und  wir  waren 

wöchentlich  3  ä  4  mahl  auch  öfter  zusammen  zu  Gaste.  Dieses 

Leben    von   6  Wochen,  die   allzustarke    Anstrengung,  das   viele 

Sitzen,  vielleicht  auch  die  sehr  strenge  Kälte,  brachten  mich,  eher 

ich  noch  mit  dem  3ten  Theile  ganz  fertig  war,  so  herunter,  daß  ich 

nicht  i  Stunden   zu   lesen    oder   zu  schreiben   [vermochte],  ohne 

schwindlicht  u.  s.  w.  zu  werden.  Ja!  einige  Tage  lang,  war  es  mir 

nicht  möglich,  einen  Gegenstand  anschauend  zu  denken.  Meine 

Kur  war,  und  sie  war  höchst  nöthig,  daß  ich  8  bis  10  Tage,  gar 

nichts  tat,  sondern  täglich  spazieren  ging  und  ritt,  wodurch  ich 

wieder  so  weit  kam,  daß  ich  meinen  3ten  Theil  endigen  konnte. 

Sobald  dies  geschehen,  gieng  ich  an  einen  Berg  von  Briefen,  die 

sich  gesammlet  hatten,  ob  ich  gleich  noch  nicht,  den  ganzen  Tag, 

ununterbrochen   fortarbeiten  kann.  Ihr  Brief  ist  wie  billig,  einer 

von  den  ersten. 

Ich  sehe  eben,  daß  ich  um  Einen  Fehler  zu  entschuldigen,  den 
2ten  gemacht,  und  beynahe  li  Seiten  von  mir  selbst  vollgeschrieben 
habe.  Aber  ich  mußte  Ihnen  meine  Lage  umständlich  darstellen,  weil 
Sie  sonst,  mit  Recht  über  mich  ungehalten  seyn  könnten,  daß  ich, 
bey  der  großen  Thätigkeit,  die  Sie  für  die  allg.  deutsche  Bibl.  zeigen, 
■'  »200«  verbessert  aus:  ?  [unleserlich]. 

341 


in  Beantwortung  Ihres  Briefes  so  nachlässig  wäre.  Ich  hoffe  aber, 
nicht  wieder  in  diesen  Fall  zu  kommen. 

[Der  Rest  des  Briefes  betrifft  Höpfners  Tätigkeit  für  das  juris* 
tische  Fach  der  Allgem.  Dtsch.  Bibl.  und  die  Schwierigkeit  der  Be* 
Schaffung  von  Rezensionsexemplaren  für  Höpfner.  Aus  diesem  Teil 
des  Briefes  nur  den  einen  Satz:] 

Zuletzt  werden  Sie  per  piam  fraudem,  wohl  einige  Bücher,  die 
nicht  herbeyzuschaffen  sind,  aus  andern  Journalen  kurz  anzeigen 
müssen,  [am  Rande :]  welches  doch  immer  besser  ist  als  wenn  sie  ganz 
wegbleiben.  Wenn  man  thut,  was  man  thun  kann,  thut  man  genug. 

[Am  Rande  von  S.  2  dieses  Brief  steht:] 

Ich  warte  mit  Begier,  auf  die  Anzeige  von  den  Bey trägen  zur 
Preuß.  Jurist.  Gelehrs.  Sie  sind  von  Geh.  R.  HymmenMer  (sub 
rosa)  . . .  sich  wegen  Recens.  s.  Gedichte  hat  rächen,  und  die  Bibl. 
fiscalisch  machen  wollen,  unter  dem  Vorwande  sie  sey  nicht  censirt. 
Dieses  hat  mir  einige  Wochen  lang  viel  Mühe  gemacht.  Aber  ich 
habe  mich  mit  Ehren  herausgezogen,  da  das  ganze  Staatsministerium 
auf  meiner  Seite  war.  Dieß  muß  auch  auf  Ihre  Recens.  keinen  Ein=: 
fluß  haben.  Vielmehr  sagen  Sie,  was  Recht  ist,  und  erlauben  Sie 
mir,  wenn  etwas  . . .  [unleserlich]  hier  lassen  könnte,  als  ob  ich  das 
Jus  talionis  spielen  wollte,  es  lieber  zu  ändern.  Doch  schreiben  Sie 
auch  dreist  als  wüßten  Sie  nichts  davon.« 


Aus  dem  Brief  Nicolais  an  Höpfner  v.  10.  X.  75  (Hs.  ebenfalls  im 
Hochstift)  sei  hier  die  für  die  Zeichengebung  in  der  AD  Bibl.  wich* 
tige  Stelle  mitgeteilt:  »Ich  habe  bemerkt,  daß  Sie  nur  unter  sehr 
wenige  Anzeigen  Zeichen  gesetzt  haben.  Ich  habe  sie  daher  will* 
kürlich  unter  die  übrigen  gesetzt.  Übrigens  wird  zwar  im  Abdrucke, 
wenn  mehrere  Rezensionen  von  Einem  Zeichen  zusammenkommen, 
zwar  nur  unter  die  letztern  das  Zeichen  gesetzt,  aber  im  MSP  muß 
unter  jeder  Anzeige  das  Zeichen  vv'iederholt  werden,  weil  zuweilen 
in  der  Druckerey  die  Recens[ionen]  anders  rangirt  werden,  oder 
auch  aus  Einem  Stücke  ins  andere  übergehen  . . .« 

1  Vgl.  Nicolai  an  Höpfner  12.  III.  73  (ungedr.  Hs.  im  Hochstift)  und  19.  IX.  76 
(ebenda),  wo  Nicolai  Hymmen,  der  durch  abfällige  Rezension  seiner  »Poetischen 
Nebenstunden«  gekränkt  sei,  als  Denunzianten  darstellt,  und  von  der  Staats? 
ratssitzung  erzählt,  die  der  A.  D.  Bibl.  die  Censurfreiheit  erwirkt  habe. 

342 


AUSSCHLÖZERS  BRIEFWECHSEL  MIT 

NICOLAI 

Schlözer  an  Nicolai 

Göttingen,  d.  29.  XII.  7L 
. . .  Nicht  rufe  ich  den  treuherzigen  Contribuenten  entgegen :  ihr  habt 
für  euer  Geld  nicht  genug,  sondern,  ihr  habt  gar  nichts,  ihr  habt 
noch  weniger  als  nichts  empfangen.  B[asedowls  Plan  ist  schäd* 
lieh,  er  untergräbt  Religion  und  Literatur  .  .  .  Bewahre  mich 
Gott,  den  Vorurteilen  der  Orthodoxie  das  Wort  zu  reden!  Aber 
Religion  braucht  der  Staat  als  ein  Bedürfnis ;  und  zwar  geoffenbahrte 
Religion,  sie  sei  vom  Mose  oder  Xaca;  und  diese  untergräbt  B. 
tückisch  in  seinem  Elementarbuch.  Sei  er  doch  ein  Arianer,  was  geht 
es  mich  und  die  Erziehung  an!  Aber  tückisch  muß  er  nicht  in 
Deutschland  den  Arianismus  predigen,  wenigstens  nicht  ins  Ele* 
mentarbuch  einflechten  wollen.  D  er  Prosely  tengeist  ist  gerade 
so  ein  Ungeheuer  wie  die  Intoleranz,  B.  schützt  sich  mit  sei* 
nem  Gewissenstrieb:  ein  horribler  Gedanke!  Alle  Königsmörder 
handeln  aus  Gewissenstrieb  . , . 

Nicolai  an  Schlözer 

Berlin,  d.  20. 1.  72. 
...  In  Absicht  auf  die  offenbarte  Religion,  die  Sie  dem  Staate  un* 
entbehrlich  halten,  bin  ich  nicht  Ihrer  Meinung.  Der  Staat,  braucht 
Religion,  aber  mich  dünkt  keine  geoffenbarte  Religion  hat  auf 
den  Staat  als  Staat  einen  wohltätigen  Einfluß.  Die  reine  natürliche 
Religion,  die  jeder  geoffenbarten  Religion  eingewebt  ist,  thut  gute 
Wirkung,  aber  das,  was  an  jeder  Religion  eigentlich  das  geoffen* 
harte  ist,  kann  zwar  unter  gewissen  Umständen  zu  heftigen  Revo* 
lutionen  Triebfedern  geben,  aber  dem  Wohlbefinden  des  Staates 
sind  sie  beynahe  gleichgültig  . . . 

Schlözer  an  Nicolai 

Göttingen,  d.  2.  II.  72. 
...  In  der  Fra^e,  ob  ohne  geoffenbarte  Religion  in  der  Welt  aus* 
zukommen  sey,  verstehen  wir  uns  noch  nicht.  Religion,  reine  Reli* 
gion  hat  auf  Philosophen,  hat  auf  alle  Menschen  Einfluß:  aber  die 

343 


meisten  Menschen  der  Welt  sind  Pöbel,  diese  begreifen,  glauben, 
befolgen  die  Sätze  der  natürlichen  Religion  nicht  ohne  Vehiculo, 
ohne  praeiudicio  auctoritatis,  ohne  den  Glauben  einer  Offenbarung. 
Ich  weiß  nicht  ob  ich  mich  deutlich  genug  erkläre,  aber  ich  wollte 
Sie  erübrigten  einige  Stunden  zu  einem  eigenen  Aufsatze  über  diese 
delikate  aber  selbst  für  die  Politik  importante  Materie;  ich  wollte 
auch  einige  Stunden  zur  Antwort  erübrigen  . . . 

Nicolai  an  Schlözer 

Berlin,  d.  14.  III.  72. 
...  Ihre  Aufforderung,  die  Frage,  ob  die  geoffenbarte  Religion 
einem  Staate  nothwendig  sey,  mit  Ihnen  zu  untersuchen,  ist  mir 
gewiß  schmeichelhaft,  denn  sie  setzt  voraus,  daß  Sie  mir  einige  Fähig* 
keit  zutrauen,  diese  in  der  That  wichtige,  und  sehr  delikate  Materie 
zu  untersuchen.  Ich  habe  auch  oft  und  viel  darüber  nachgedacht, 
da  sie  in  das  Studium,  das  ich  vorzüglich  liebe  und  treibe,  das 
»Studium  des  Menschen«  einen  so  unmittelbaren  Einfluß  hat.  Aber 
ich  bin  im  Ernst  der  Meinung,  daß  man  mit  Niemand  über  diese 
Materie  schriftlich  disputieren  könne,  ehe  man  lange  mündlich  mit 
ihm  darüber  gesprochen  hat,  und  mit  ihm  über  verschiedene  Prä? 
missen  einig  geworden  ist.  Ich  habe  aus  der  Erfahrung,  daß  dis  nötig 
ist.  Gehet  man  hierin  nicht  vorsichtig  zu  Werke,  so  glaube  ich,  dis 
ist  eine  Materie,  über  die  sich  die  besten  Freunde  veruneinigen 
können  und  zwar  desto  geschwinder,  je  mehr  sie  die  Wahrheit 
lieben.  Nehmen  Sie  also  nicht  übel,  wenn  ich  verbitte,  mit  Ihnen 
hierüber  Briefe  zu  wechseln.  Bin  ich  jemals  so  glücklich,  mich  münd* 
lieh  mit  Ihnen  zu  unterhalten,  so  soll  dis  der  erste  Gegenstand  un? 
seres  Gesprächs  seyn.  Damit  Sie  aber  nicht  glauben,  daß  mein  Still? 
schweigen  aus  Mangel  des  Vertrauens,  so  will  ich  ein  paar  Worte 
im  Vertrauen  sagen. 

Ich  glaube  nicht,  Offenbarung  sey  in  allen  Fällen  als  ein  Vehi* 
culum  der  natürlichen  Religion  notwendig,  oder  es  sey  notwendig, 
etwas  Falsches  anzunehmen,  damit  der  Pöbel  ein  Vehiculum  für  die 
Wahrheit  oder  ein  praeiudicium  auctoritatis  habe.  Ich  befürchte, 
dies  ist  der  Weg  zur  Hierarchie,  und  hält  die  Hand  oft  von  ganz? 
lieber  Reformation  ab. 

Ich  glaube  hingegen :  Wenn  ein  Volk  die  bloße  reine  natürliche 

344 


Religion  hätte,  so  würde  aus  natürlichen  Ursachen  (wenige  Um* 
stände  die  hier  eine  Ausnahme  machen  ausgenommen)  in  wenigen 
Generationen  Zusätze  aus  einer  positiven  Religion  entstehen.  So 
sind  meines  Erachtens  alle  Offenbarungen  entstanden,  deren  sich 
verschiedene  Völker  des  Erdbodens  rühmen.  Mir  ist  dis  noch  deut? 
licher,  wenn  ich  mir  die  Gemüthsbeschaffenheit  eines  wilden  Volkes, 
seine  Bedürfnisse  und  die  Beschaffenheit  seiner  Sprache  vorstelle  — 
die  Pflicht  einer  erleuchteten  Regierung  ist,  jeden  positiven  Zusatz, 
den  sie  in  der  eingeführten  Landesreligion  findet,  nach  dem  Ein* 
fluß  auf  den  itzigen  Zustand  des  Staates  zu  betrachten,  aber  nie 
deshalb  diese  Zusätze  für  unwiederruflich  zu  halten,  weil  sie  itzt, 
dem  Staate  nicht  immediat  schädlich  oder  mediat  nützlich 
seyn.  So  ist  die  Unterschrift  der  39  Artikel  in  England  für  den 
Staat  nützlicher  als  für  uns  die  Unterschrift  der  symbolischen 
Bücher,  und  sie  war  unter  Anna,  als  Bolingbroke  den  Stuarts 
geneigt  war,  wichtiger  als  itzt.  Diese  Wichtigkeit  ist  aber  nur 
zufällig,  die  Schädlichkeit  des  Einschränkens  der  Freiheit  zu  den* 
ken  ist  wesentlich.  Ich  glaube  die  abstrakten  Wahrheiten  können 
für  den  Sensum  communem  gebracht  werden,  wenn  die  Ge* 
müther  dazu  vorbereitet  sind.  Daß  es  Gegenfüßler  gebe  und 
daß  es  unnöthig  sey  einen  Statthalter  Gottes  auf  Erden  zu  haben, 
wäre  nicht  vor  den  Sensum  communem  des  14.  Jahrhunderts  zu 
bringen  gewesen,  aber  wohl  vor  den  Sensum  communem  des 
18.  Jahrh.  So  ist's  auch  mit  den  Wahrheiten  der  natürlichen 
Religion;  sobald  sie  vor  des  Pöbels  sensum  communem  können 
gebracht  werden,  brauchen  sie  weder  ein  Vehiculum  noch  Autori* 
tat,  und  wirken  desto  kräftiger. 

Um  mich  noch  etwas  näher  zu  erklären,  so  sende  ich  Ihnen  eine 
Kopie  dessen,  was  ich  in  mein  Gedankenbuch  schrieb,  als  ich 
Ihren  vorigen  Brief  beantworten  [wollte].  Dis  alles  im  Vertrauen 
denn  es  dürfte  gefährlich  seyn,  es  öffentlich  an  einen  Ort  zu  schrei* 
ben  wo  eine  theologische  Fakultät  ist.  Sie  denken  zu  edel  als  daß 
ich  befürchten  dürfte,  daß  Sie  mein  Vertrauen  im  geringsten  mis« 
brauchen  würden.  Und  nun  im  ganzen  Ernste,  lassen  Sie  uns  diese 
Materie  nie  in  unsern  Briefen  erwähnen.  Ich  bin  fest  überzeugt,  daß 
man  ohne  mündliche  Unterredung  hierin  nicht  weit  hinein  dispu* 
tieren  kann  . . . 

345 


Schlözer  an  Nicolai 

Göttingen,  d.  3.  VIII.  72. 
...  In  meiner  natürl.  Religion  steht  nur  Ein  Satz:  es  ist  ein  Schöpfer. 
Vorsehung  und  Unsterblichkeit  der  Seele  ist  nicht  darin,  nur  Mög? 
lichkeit  daß  der  Schöpfer  uns  durch  Offenbarung  Sätze  lehren  könne 
die  wir  sonst  nicht  wüsten.  II.  Die  Ruhe  der  Welt  hängt  davon  ab, 
daß  besonders  der  sonst  indomtable  Pöbel,  einen  Rächer  u.  ein 
künftiges  Leben  glaube.  Die  Weltgeschichte  zeigt  mir  dieses  als  ein 
besoin  des  menschl.  Geschlechts.  III  Diese  Sätze  sind  nach  meiner 
Ketzerei,  an  sich  nicht  zu  beweisen;  aber  wären  sie  es  auch  so  kann 
der  Pöbel  doch'den  Beweis  nicht  begreifen:  Er  glaubt  sie  bloß.  IV- 
Er  glaubt  sie,  aut  bloß  dem  Priester  —  ohnmöglich  giebt  dies  einen 
festen  Glauben,  aut  dem  Schöpfer  par  l'entremise  eines  Buchs  und 
eines  Priesters,  d.  i.  er  glaubt  den  Satz,  weil  er  in  einem  Buche  steht, 
von  dem  er  glaubt,  daß  es  vom  Schöpfer  sei  —  dieser  Glaube  ist 
dem  Pöbel  angemessen,  wenngleich  in  der  Mitte  ein  neuer  Glaube 
steht  (daß  nämlich  der  Satz  im  Buche  stehe,  daß  das  Buch  vom 
Schöpfer  sei.  Beides  glaubt  er  freilich  nur  dem  Priester)  . . .  IZu 
Schlözers  Bemerkung  »ein  nützlicher  Irrtum«  sei  ihm  »lieber  als 
eine  schädliche  Wahrheit.«  bemerkt  Nie.  am  Rande:  »Mir  nicht 
und  keinem  Philaleten.  Es  gibt  aber  auch  keine  absolut  nützliche 
Wahrheit  so  wenig  als  einen  absolut  nützlichen  Irrtum.«] 

Nicolai  an  Schlöt^zer 

Berlin,  d.  20.  VIII.  72. 
. . .  Den  Disput  wegen  der  natürlichen  und  offenbarten  Religion  muß 
ich  abbrechen.  Zu  einem  schriftlichen  Streit  wird  alzuviel  Zeit  er# 
fordert  und  ich  habe  so  wenig  Zeit.  Dazu  weiß  ich  aus  der  Erfah* 
rung  daß  man  mündlich  in  einem  Monat  weiter  kommt  als  schrift* 
lieh  in  2  Jahren.  Zumal  wenn  man  in  den  Prinzipien  nicht  ganz  einig 
ist  und  hier  sind  wir,  befürchte  ich,  sehr  weit  auseinander.  In  meiner 
natürlichen  Religion  steht  ein  Schöpfer  ein  Erhalter  eine  Vorsehung, 
ja  sogar  ich  kann  diese  Begriffe  nie  trennen,  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  in  höchster  Evidenz  folgt  daraus.  Wäre  dis  nicht,  so  wäre  die 
geoffenbarte  Religion  ein  sehr  schlechtes  Supplement  zur  natürlichen. 
Denn  und  wenn  auch  D.  Miller  oder  D.  Leß  oder  wer  weiß  welcher 
Theologischer  Facultist  vor  mir  stände:  —  ich  kann  nichts  was  zu 

346 


meiner  wahren  Glückseligkeit  gehört,  bloß  deswegen  glauben,  weil 
es  in  einem  Buche  steht,  dessen  widersprechende  Lesarten  auszu* 
sprechen  mehr  als  50  000  II  Sterl.  kostet.  —  Der  Pöbel  muß  regiert 
werden  —  gut  —  aber  durch  den  Glauben  an  ein  Buch,  an  das  seine 
Gesetzgeber  nicht  glauben  ?  WelcherWiderspruch  ?  Wie  nun ?  wenn 
der  Pöbel  an  das  Buch  nicht  glaubt  so  ist  aller  Zaum  weggeworfen. 
Pöbel  heißt  in  diesem  Verstände  alles  was  nicht  Priester  ist,  u.  dis 
bahnt  meines  Erachtens  den  Weg  zur  abscheulichsten  Hierarchie. 
Man  darf  nur  die  protestantische  Kirchenhistorie  nach  der  Refor* 
mation  nachschlagen.  Doch  genug  abermals!  Bin  ich  jemals  so  glück* 
lieh  mit  Ihnen  einige  Tage  zubringen  zu  können,  so  will  ich  mich 
gern  überWahrheiten  mündlich  unterhalten,  die  der  Zeit  der  Gegen* 
stand  meiner  ernsthaftesten  Betrachtungen  gewesen  sind,  seitdem  ich 
angefangen  habe  zu  denken.  Schon  1746  auf  dem  Hallischen  Waysen* 
hause,  mitten  unter  heuchelhaften  Erweckungen  anderer  habe  ich 
nie  geheuchelt,  aber  bey  mir  selbst  nach  meinen  besten  Kräften 
Wahrheit  und  Irrtum  untersucht;  so  habe  ich  beständig  fortgefahren 
und  bin  mit  mir  über  mein  Religionssystem  längst  einig  so  daß  meine 
angelegentlichste  Beschäftigung  alle  meine  Handlungen  darauf 
zurückzuführen  .  .  .  Geschichte  und  eigene  Erfahrung  überzeugt 
mich,  daß  man  ums  40  te  Jahr  keine  neuen  Grundsätze  annimmt, 
also  mag  ich  meine  Grundsätze  auch  weder  anpreisen  noch  mir 
widerlegen  lassen.  Sie  führen  mich  auf  moralisch  gute  Handlungen 
und  dis  ist  mir  genug ... 


EBERHARD  AN  NICOLAP 

[Charlottenburg] 
»Allerdings,  werthester  Freund!  hab  ich  M.  Brief  bey  zulegen  ver* 
gessen,  wie  ich  gleich  darauf  -  gewahr  worden  bin.  Er  folgt  aber  an* 
bey,  sowie  He[rrn]  Pf[enningern]  seiner.  Dieser  Mann  scheint  ihre 
Meinung  über  Herd[ers]  Urk[unde]  gar  nicht  begriffen  zu  haben; 
es  sey  nun,  daß  er  sie  nicht  hat  begreifen  können  oder  nicht  be* 
greifen  wollen.  Die  Richtigkeit  von  Herd.  Hypothese  beyseite  ge* 

'  Nicolais  Empfangsnotiz:  23.  VII.  74. 
=  Voriger  Brief:  Empf.  22.  VII.  74. 

347 


setzt:  so  kann  der  Dythirambenton  im  dogmatischen  Vortrage  nicht 

anders  als  beleidigen.  Er  verdunkelt,  ermüdet,  alles  was  sie  wollen, 

und  —  wenn  endlich  das  was  er  ausposaunt  weder  so  gar  neu  noch 

gar  genau  u.  richtig  ist  —  so  ist  er  Marktschreierey.  Wenn  das  Sachen 

sind  die  man  für  Vorurteile  des  Alters  halten  [muß]  so  sind  die 

Aelteren  zu  beklagen  u.  die  Jüngern  zu  beneiden!  so  verlohnte  es 

sich  wohl  die  Mühe  im  20 sten  Jahre  seine  Bücher  in  die  Spree  zu 

werfen,  des  Nachts  bey  hübschen  Alägdchen  zu  schlafen,  den  Tag 

über  bey  Austern  u.  Champagnerwein  mit  ihnen  zu  schäckern,  um 

einen  Jünglingskopf  ohne  Vorurteile   behalten   zu   können.  Wir 

kommen  beynahe,  u.  die  Schwätzer  am  meisten,  auf  die  übermüthige 

Vernunftverachtung,  die  man  seit  einiger  Zeit  in  Frankreich  Genie 

nennt,  u.  womit  sich  die  sogenannten  Philosophen  dieser  Nation 

Platz  gemacht  haben.  Wenn  man  nun  den  Vernunftverächter,  oder 

besser,  das  Genie  Diderot,  gegen  das  Genie  Pfenninger  oder  Herder 

wie  ein  Besessener  gegen  den  anderen  deklamieren  sähe,  das  müßte 

ein  reines  Stiergefechte  geben.  —  Beynahe  bin  ich  des  Dinges  müde 

—  Leben  Sie  wohl.  N^'^ehe  mir  daß  ich  nicht  bey  Ihrem  Concert 

seyn  kann. 

Eberhard. 

Hier  ist  eine  Rezension  von  Hamanns  fame  et  lege\  Wenn  nur 
nicht  das  zu  Anfange  der  Rezension  stehende  Wort  disparatere 
durch  e.  Druckfehler  in  desperatere  Köpfe  verwandelt  [wird].  Ich 
sehe  es  fast  vorher. 


AUS  LAVATERS  BRIEFWECHSEL  MIT 

NICOLAI 

Nicolai  an  Lavater- 

Hrn.  Pred.  Lavater  in  Zürich  Berl[in]  d.  lOten  März  1770 

Zu  Ew.  Hochehrwürden  Antwort  an  Hr.  Moses,  hat  Hr. 

Moses  die  anbey  Sub  A  liegende  Nacherinnerungen  aufgesetzt, 

'  Es  ist  die  Rezension  von  Hamanns  Hervey^BolingbrokesÜbersetzung  Allg. 
Dtsch.  Bibl.  XXV,  1,  506.  In  der  Rezension  steht  »disparatere«. 
^  1  Bl.  i.  kl.  4°,  V.  H.  e.  Schreibers.  Auf  der  4.  Seite  eigenhändige  Notiz  Nicolais: 
»1770  Mart.  Copie  eines  Schreibens  an  Hrn.  Lavater«. 

348 


daß  sie  zugleich  mit  der  Antwort  sollen  abgedruckt  werden.  Da 
Herr  O.C.  R.^Spalding  und  Hr  Prediger  Lüdke  hierwieder  nichts 
einzuwenden  hatten,  so  ward  vorigen  Dienstag  beydes  in  die 
Druckerey  gegeben  und  das  Schreiben  war  beynahe  ganz  abgesetzt 
als  HrPr.  Lüdke  Ew.  Hochehrwürden  Schreiben  mit  den  Zusätzen 
bekam.  Sie  wurden  Hrn  Moses  mitgetheilet  der  darauf  die  Sub  B 
befindliche  Erklärung  gab  und  als  beydes  dem  Hrn  OCR  Spalding 
übersendet  worden,  so  erklärete  Er  sich  sub  C  das  Hr.  Moses  An* 
merkungen  Ew.  Hochehrwürden  vorher  mitgetheilet  werden  müsse. 
Ich  habe  also  das  gantze  Mspt.  vom  Buchdrucker  abholen  lassen  und 
befohlen,  die  bereits  abgesetzte  Seiten  bis  zu  Ihrer  näheren  Erkläh* 
rung  stehen  zu  lassen,  und  sende  anbey  ebengedachte  Stücke,  nebst 
den  Zusätzen  selbst.  Die  Antwort  habe  ich,  um  das  porto  zu 
sparen  nicht  beygelegt,  weil  aus  den  Zusätzen  erhellet,  daß  Sie  davon 
eine  Abschrift  haben  und  das  Hrn.  F.  Zollikofers  Veränderungen 
nicht  eben  wesentlich  sind  und  meist  nur  die  Schreibart  betreffen. 
Ew.  Hochehrwürden  werden  aus  diesen  Aufsätzen  ersehen,  wie 
die  Sache  stehet  und  überlegen  wie  Sie  Ihre  Zusätze  einrichten 
wollen.  Ich  unterfange  mich  nicht  Ihnen  darin  einen  Rath  zu  geben. 
So  sehr  ich  mit  vielen  Freunden  der  Wahrheit  wünschte,  daß  der 
Streit  zwischen  Ihnen  und  Hrn  Moses  nicht  weiter  fortgesetzt  werde, 
so  wenig  kann  ich  Ihnen  abrathen  öffentlich  zu  sagen  was  Sie  zu 
Ihrer  Verantwortung  für  richtig  halten.  Sie  sind  gewiß  gegen 
Hrn  Moses  eben  so  billig,  daß  Sie  ihm  nicht  verargen,  wenn  er  zu 
seiner  Verantwortung  verschiedenes  darauf  erinnern  muß. 
Wenn  dadurch  der  Streit  erneuert  wird,  so  geschiehet  es  gewiß  sehr 
wider  seinen  Willen.  Seine  Zeit  ist  so  sehr  eingeschränkt,  daß  er  sie 
aufs  Streiten,  am  ungewissen  [ungernsten?]  anwendet,  er  siehet, 
daß  Sie  und  Er  so  verschiedene  Grundsätze  hegen,  daß  Sie  kaum 
recht  durch  Privaterörterungen,  am  wenigsten  aber  durch  öffent* 
liehen  Schriftwechsel  etwas  ausmachen  werden,  und  Sie  werden  auch 
merken,  daß  Ihm  nach  seinen  Grundsätzen  der  Streit  so  wichtig 
nicht  ist,  als  Ihnen  nach  den  Ihrigen.  Er  kann  viele  Sachen  dahin* 
gestellt  seyn  lassen,  die  Sie  genau  erörtert  wissen  wollen.  Sie  wünsch« 
ten,  daß  er  ferner  kein  Jude  bliebe,  er  hat  aber  nichts  dawider  ein* 
zuwenden,  daß  Sie  ein  Christ  bleiben. 
'  =  Oberkonsistorialrat. 

349 


Ich  bitte  Ew.  Hochehrwürden  nur,  mir  mit  der  ersten  oder  wenig* 
stens  2ten  Post,  zu  antworten,  damit  mein  Buchdrucker  nicht  alzu* 
lange  aufgehahen  werde.  Eins  muß  ich  noch  erinnern.  Sollten  Sie 
etwan  für  gut  finden,  Ihre  Antwort  nunmehr  in  Zürich  abzudrucken, 
so  muß  ich  mir  es  zwar  gefallen  lassen,  und  da  ich  darüber  schon 
ein  Chursächs.  Privilegium  genommen  habe,  so  will  ich  mich 
dessen  nicht  bedienen,  sondern  es  auf  diesen  Fall  Ihrem  Verleger 
abtreten.  Nur  läßt  Hr  Moses  bitten  die  Ihnen  bloß  zur  Durchsicht 
mitgeteilte  Nacherinnerung  auf  keine  Weise  dort  abdrucken  zu 
lassen.  Weil  er  auf  den  Fall,  daß  Sie  Ihre  Antwort  in  Zürich  ab* 
drucken  ließen,  hier  darauf  ein  besonderes  2tes  Schreiben,  worin  er 
sich  auch  über  die  Zusätze  erkläret,  will  drucken  lassen. 

[am  Rande]:  die  Nacherinnerung  und  die  Erkl[ärung]  auf  Ihre 

Zusätze,  dürfen  Sie  nicht  hierher  zurücksenden,  weil  wir  eine  Ab« 

Schrift  haben. 

Lavateran  Nicolai^ 

Zürich  d.  9.  May  1770 
Hochgeschätzester  Herr, 
Von  Posttag  zu  Posttag  warte  ich  auf  das  mir  ausbedungene  Exem« 
plar  der  Antwort  an  Moses  —  aber  immer  zu  meinem  größten 
Erstaunen,  umsonst.  Auch  Herr  Zimmermann  hat,  wie  er  mit  schreibt, 
noch  kein  Exemplar.  Wo  mag  der  Fehler  seyn?  —  Ehestens  also 
wenn  keines  auf  dem  Weg  ist,  bitte  ich  mir  Eins  über  die  Post  aus, 
und  die  bestellten  an  Behörde  [?]  eiligst  zu  versenden  werden  Sie  ja 
nicht  vergessen  haben,  oder  vergessen? 

Danken  Sie  dem  gütigen  Verfasser  der  Rezension  der  A  ussichten 
in  meinem  Namen:  aber  sagen  Sie  ihm,  daß  ich  ihn  bey  den  künf* 
tigen  Theilen  sehr  bitte,  wenigstens  auch  die  Hauptsätze,  die  Re* 
sultate  der  wesentlichsten  Raisonnements  nicht  zu  verschweigen, 
und  mir  die  Gefälligkeit  zu  erweisen,  mich  wie  er  über  den  Punkt 
von  der  Unsterblichkeit  gethan  hat,  lieber  zu  belehren,  oder  mit  ein 

par  Gründen  zurecht  zu  weisen  als  gegen  die ^anzustoßen, 

*  1  Bl.  4"  V.  H.  e.  Schreibers.  Adr.:  »an  Herren  Friedrich  Nicolai  berühmten  Buch« 
händler  franco  Nürnberg  in  Berlin«  auf  der  Rückseite  Empfangsnotiz:  »1770  OM 
[=  Ostermesse]  Lavater«.  Gut  erhaltenes  Siegel  Lavaters. 

=  Unleserlich,  auch  durch  wiederholte  Vergleichung  von  Rezension  mit\'orrcden 
mir  nicht  entzifferbar. 

350 


deren  in  der  Vorrede  so  deutliche  Erwähnung  geschieht.  Die  Zweyte 

Auflage  wird  ihn  übrigens  belehren  können,  ob  ich  den  Vorwurf, 

daß  ich  bloß  Beyfall,  statt  Correctionen  gesucht,  vor  dem  Publikum 

verdiene.  Versichern  Sie  ihn  übrigens  meiner  aufrichtigen  Achtung 

und  Dankbarkeit. 

Ihr  ergebener  Diener  Lavater. 

Lavateran  Nicolai^ 

Mein  redlicher,  verehrenswürdiger  Gönner! 
Wie  sehr  bin  ich  Ihr  Schuldner!  —  und  doch  wag'  ich  es,  Sie  von 
neuem  zu  bemühen:  Ich  bitte  Sie,  die  Einlage  so  bald,  und  so  sicher 
als  möglich  zu  bestellen  . . .  .'^  aber  noch  mehr  bitte  ich  Sie,  redlicher 
Mann,  —  mir  bäldest  wahre  Gefälligkeit  zu  erweisen  —  und  etwas 
von  meiner  geringen  Arbeit  ohne  einiges  Entgeld  in  Ihren  Ver* 
lag  zu  nehmen.  Doch  dieß  scheint  Ihnen  vielleicht  unbescheiden  — 
So  sagen  Sie  mir  sonst  wie  ich  Ihnen  meine  Dankbarkeit  und  meine 
aufrichtige  Achtung  bezeugen  kann.  Ich  habe  Hn.  Hartknoch  eine 
gleiche  Anerbietung  gethan  und  ich  wünschte  nichts  mehr,  als  — 
etw^as  bessers  anbieten  zu  können  als  etwa  ein  Werkgen  von  mir?  —  Zu 
allem  was  mir  mögl.  ist  sollen  Sie  gewiß  immer  bereit  finden  Ihren 
aufrichtigst  ergebensten  Diener  und  —  darf  ich  hinzusetzen  —  Freund 

J.  C.  Lavater 
Zürich, 

d.  lO.Junius  1771. 

N.  S.  oder  steht  Ihnen  Buttlers  von  dem  seeligen  Heß  übersetzte 
Predigten  od.  Abhandlungen  ein  Werk  von  20bogen  um« 
sonst  an? 

La vater  an  Nicolai^ 

Hochzuverehrender  Herr, 
Ich  kann  dies  Jahr  nicht  beschließen,  ohne  Ew.  Hochedelgeb. 
auch  noch  mit  Einem  Worte  den  richtigen  Empfang  des  XV  Bandes 
der  A.  D.  B.  welchem  Sie  mein  Porträt  vorzusetzen  beliebten,  dank^ 
'  1  S.4"  eigenhändig,  ohne  Adr.  Empfangsnotiz  Nicolais  auf  der  Rückseite,  »1770 
23  Jun.  Lavater«,  darunter  [eigenhändig]:  »6  Jul.  bw.« 
-'  Sic. 

*  1  S.  4°  V.  anderer  Hand.  Empfangsnotiz  Nicolais  auf  der  Rückseite,  »1772 
2  Januar  Lavater«.  »18  Febr.  be[ant]w[ortet]«. 

351 


bar  zu  melden.  Ein  unerwarteter ^  darf  ich  sagen?  bestürzender 

Anblick.  Hätten  Sie  doch,  wenn  Sie  einmal  so  viele  Gütigkeit  haben 
wollten,  mir  auch  nur  ein  Wort  davon  gesagt!  Ueber  Frisur  und 
Kleidung  lasse  ich  meine  Freunde  sich  ärgern.  Ich  lache  dazu;  aber 
ich  habe  noch  Eitelkeit  genug,  als  ein  kleiner  seynwollender  Physio* 
nomiste  . .  mich  über  das  fade,  eckelhafte  Mundstück,  ein  Bißchen 
zu  ärgern.  Ich  kann  indeß  leicht  begreifen;  daß  nach  dem  Original, 
das  Sie  gehabt  haben  müssen,  nicht  viel  besseres  möglich  war.  Es 
bleibt  mir  also  doch  zulezt  nichts  übrig,  als  Ihnen  für  die  unver* 
diente  Ehre,  die  Sie  mir  erweisen  wollten  zu  danken.  Ich  werde 
mich  glücklich  schätzen,  wenn  Sie  mir  Gelegenheit  geben,  Ihnen 
meine  Dankbarkeit  und  Achtung  zu  beweisen.  Diesen  Brief  nicht 
ganz  lär  zu  lassen,  nehme  ich  mir  die  Freyheit,  einige  Kleinigkeiten, 
die  man  hier  in  Kabinetchen  hinter  Glas  aufzuhängen  pflegt,  und 
die  ich  zum  Besten  eines  armen  Mannes  verfertigt,  und  ihm  in  Ver* 
lag  gegeben  habe,  beyzulegen.  Für  eben  diesen  Mann  hab'  ich  auch 
in  Form  eines  Taschencalenders  ein  Christliches  Jahrbüchlein 
verfertigt,  welches  bey  2  Tagen  die  Presse  verlassen  wird,  Stellen 
der  Schrift  mit  Anmerkungen  oder  Verschen  begleitet.  Darf  ich 
fragen,  ob  Sie  gegen  25p  cent.  rabat  in  Commission  etwa  100 
Exemplare,  gebunden  oder  ungebunden  annehmen  wollten?  oder 
an  wen  sich  der  Verleger  etwa  wenden  könnte,  um  diese  Dingerchen 
desto  eher  zu  debitieren.  Er  selbst  hat  keine  Bekanntschaft  in  Berlin, 
und  ersucht  mich,  mich  umzusehen.  Verzeihen  Sie  mir. . .  ich  kann 
Sie  versichern,  daß  Sie  dadurch  einem  ehrlichen  Mann  einen  sehr 
wichtigen  Dienst  erweisen  würden.  Auf  Schreibpapier  wird  das 
Exemplar  von  6  Bogen  in  24  mo  ungebunden,  etwa  auf  6  ggr,  auf 
Weißdruckp[a]pi[er]  etwa  5  ggr  der  Band  mit  vergöldtem  Schnitt 
und  Futter  etwa  4  ggr  zustehen  kommen. 

iMit  innigstem  Bedauern  höre  ich,  daß  Herr  Moses  sich  übel 
befindet.  Wie  viel  liegt  allen  Freunden  der  Weltweisheit  und  der 
Literatur  an  der  Erhaltung  dieses  lieben  Mannes!  dürfen  Sie  mich 
ihm  empfehlen,  so  thun  Sie  es  doch.  Ich  bin  mit  vieler  Achtung 

Hochgeschätztester 

Ihr  ergebenster  Diener 

Zürich,  den  21.  Dezember  1771  Johann  Caspar  Lavater. 

__ 

352 


Lavater  an  Nicolai' 

Mein  werthester  Herr  Nicolai, 

wahrlich  noch  nicht  urtheilen  sollt'  ich,  sondern 
erst  studieren.  Das  erfahr'  ich  alle  Tage.  Je  mehr  ich  beobachte, 
desto  weniger  darf  ich  urtheilen  —  Es  ist  wirklich  Impertinenz,  wenn 
ich  über  Ihr  Profil  urtheile.  Beyde  liegen  izt  vor  mir,  —  und  ich 
weiß  nicht,  was  ich  darüber  denken  und  sagen  soll.  Unstreitig  ist 
die  größere  Zeichnung  vortheilhafter,  als  die  kleinere.  Es  ist  mehr 
Nuance,  mehr  eckigtes  u.  mehr  musculöses  im  großen  —  jenes  macht 
den  Eindruck  von  Verstand  —  dieses  von  Güte.  Würd'  ich  das  kleine 
Bild  allein  sehen,  so  würd  ich  sagen  —  Ein  Heiterer  —  aber  nicht 
profonder  —  ein  witziger  —  aber  nicht  schöpferischer  Geist.  Die  zu* 
weit  vorstehende  Unterlippe  gibt  diesem  sonst  etwas  hypochon« 
drischen  Gesichte  eine  etwas  fatale  Gestalt.  Das  größere  ist  in 
dieser  Absicht  weit  edler,  ruhiger  —  überhaupt  vermiß  ich  im 
kleinen  heitere,  begegnende,  fernleüchtende  Güte,  —  das  Ohr  im 
kleinen  hingegen  gefällt  mir.  Es  ist  viel  Feinheit  drin  —  das 
Aug  im  großen  zeichnet  sich  sehr  bestimmt  als  gut  und  verständig 
aus  —  nicht  hats  das  Feste,  Hohe,  Stolze  eines  Helden  —  und  auch 
nichts  —  jesuitischschlaues  —  der  nackte  Umriß  hat  nicht  das  mo* 
ralisch  empfindsame  —  das  ich  oft  im  Nothanker  —  in  Ihrem  Herzen 
zu  lesen  glaubte  —  was  der  Nase  u.  der  Unterlippe  und  der  schiefen 
Oberlippe  an  einleuchtender  Güte  abzugehen  scheint  —  das  ersetzt 
mir  Aug,  und  der  Ausgang  der  Oberlippe""'  im  größern  wieder.  Die 
Kinnlade  —  gefällt  mir.  Das  Vorwärtsstehen  oder  Sinken  des  Ge« 
siebtes  im  kleinen  Porträt  nicht  —  zu  der  Perpendikularität  des  Um* 
risses.  Ich  vermisse  darinn  —  Adel.  Das  größere  hat  dieß  nicht. 
(O  welch  ein  Gewissen  sollte  ein  Porträtmahler  haben  — )  »Ge* 
schmack«  —  ja  —  sagt  Pfenninger,  der  mich  eben  über  dieser  Arbeit 
antrift,  mit  seinem  Gläschen  hinter  mir  auf  meine  Schulter  herab« 
guckt  —  (ein  scharfer,  feiner,  tiefdringender  Beobachter)  »Ge« 
schmack  und  Witz  und  Klugheit  ist  doch  gewiß  in  diesem  Gesichte 

'  4  eng  beschriebene  Blätter  in  gr.  8",  ohne  Adr.,  auf  der  4.  Seite  vermerkt  Nis 
colai:  »1774  d.  28.  Febr.  Lavater.  OM  [=  Ostermesse]  d.  24.  Apr.  be[ant]w[ortet]«. 
Am  Rand  durch  Einheften  in  d.  Band  alle  4  S.  beschädigt;  die  abgetrennten 
Worte  sind  indeß  unschwer  zu  ergänzen. 
'  Aus:  Oberflippe]  Mund^Lippe. 

23  Sommerfeld,  Kriedrich  Nicolai  353 


—  wahrlich,  was  ich  im  Nothanker  in  Buchstaben  lese,  seh  ich  hier 
im  Bilde.«  — 

Nun,  wenn  ich  darf,  noch  ein  ungebethnes  consilium  medicum 

—  Ihre  Physiognomie  ist  freylich  Eine  von  den  Festen  —  (weniger 
so  scheints  im  großen  Bilde)  aber  sicherlich  ist  sie  noch,  das  ist, 
Sie  sind  noch  sehr  perfectibel.  Sie  scheinen  zu  lange  —  nur  ein* 
seitig  gelernt,  gelesen  u.  studiert  zu  haben.  Würden  Sie  nun  einige 
Jahre  —  eine  andre  Seite  eben  so  einförmig  durchwandeln,  o  — 
wie  würde  sich  Ihr,  gewiß  sehr  perfectibles  Herz  —  noch  veredeln, 
vermenschlichen,  verbrüderlichen.  Wenn  ich  frey  herausreden  soll, 
ich  wünschte,  daß  Sie  sich  ein  halbes  Jahr  Mühe  gäben,  an  allen 
Menschen,  mit  denen  Sie  umgehen,  nur  das  Gute,  und  bey  allen 
Schriften,  die  Sie  lesen,  nur  das  Wahre,  Nützliche,  Schöne  —  heraus* 
zusuchen,  herauszudestilliren  —  und  für  das  Schlechte,  Falsche, 
Elende  das  Aug  zuzuschließen,  —  ich  verspreche  Ihnen,  daß  Sie  mir 
mit  dem  wärmsten  Herzen  danken  werden,  wenn  Sie  Ihrer  Natur 
dies  Opfer  bringen  —  Ich  verspreche  Ihnen,  daß  Chodowiecki  dann 
ein  Bild  von  Ihnen  machen  wird,  das  eben  so  viel  edler,  menschen« 
freundlicher  ist,  als  das  große,  so  viel  dies  edler  und  menschen* 
freundlicher  ist  als  das  kleine.  Nun  —  hab'  ich  —  mein  Herz  ge* 
läärt  —  u.  wahrlich  müssen  Sie  mirs  hoch  anrechnen,  daß  ichs  gegen 
Sie  gethan  habe,  was  ich  Zimmermann  abschlug. 

In  mein  größeres  physiognomisches  Werk  kommen  bey  weitem 
nicht  nur  Gelehrte.  Sie  haben  recht,  die  Gelehrte  sind  zu  einförmig, 
zu  wenig  Menschen.  Gelehrte,  Schwärmer,  Religöse,  Künstler,  Er* 
finder,  Bauern,  Kinder,  Frauen,  Mädchen,  —  kurtz  —  was  Mensch 
ist  und  heißt. 

Aber  die  Kontraste?  —  Sie  haben  vollkommen  recht,  die  wären 

doch  Siegel  der  Wahrheit aber,  wenn  nur  nicht  großer  Schaden 

draus  für  Schwache  und  Lieblose  entstühnde  —  u.  dann  —  Sie  kennen 
die  Schwäche  des  unerleüchtet  frommen,  des  andächtelnden  Publi* 
kums,  —  und  endlich  —  mag  ich  nicht  fürchterlich  werden.  —  Doch 
will  ich  mir  in  Etwas  helfen  —  daß  Sie  nicht  ganz  unzufrieden  seyn 
sollen. 

Ihre  Einwendungen  wegen  des  Christuskopfes  wird  das  Werk 
beantworten.  Moses  Mendelssohns  Schatten  im  Kleinen  —  vis  ä  vis 

354 


Ihres  Königes  Schatten  im  Kleinen  —  müssen  Sie  einmal  sehen  — 
da  spricht  die  Gränzlinie  der  Physiognomie  —  Es  ist  kein  Mensch, 
der  in  Moses  nicht  den  Denker  »den  Mann,  der  nicht  zum  Ath* 
leten  geboren  ist«,  schon  aus  diesem  Profile  sehen  werde  —  und  im 
Profile  Ihres  Königes  (welcher  jedoch  nur  aus  Chodowiecki  abstra* 
hirt  ist)  wird  jedermann  den  größten  Athleten  —  u.  das  Gegentheil 
von  dem  sehen,  was  Sie  mir  von  Moses  Mendelssohn  sagen. 

Nun  —  noch  eine  Bitte  —  oder  vielmehr  eine  Frage?  Ist  keine 
Veranstaltung  durch  irgend  einen  Hofmann,  Minister,  Liebling  des 
Königes  möglich,  um  seinen  Schattenriß  zu  bekommen.  Genau  hab' 
ich  —  (Zwar  damals  war  ich  noch  nichts  weniger,  als  Physiogno* 
mist  —  so  wenig  ichs  auch  itzt  bin)  genau  hab'  ich  ihn  beobachtet, 
gezeichnet  —  (aber  ich  kann  die  Zeichnung  nicht  mehr  finden)  u. 
ich  habe  selten,  so  viel  ich  mich  noch  erinnern  kann,  eine  sprechen* 
dere  Physiognomie  gesehen.  Aber  man  sollte  ihn  ohne  Perücke 
zeichnen.  Glauben  Sie  mir,  daß  der  hindere  Umriß  des  Kopfes  sehr 
bedeutsam  ist.  Unmaßgeblich  könnte  man  ihm  eine  Portefeuille  voll 
seiner  Lieblinge  vorlegen  lassen  —  die  Anstalt  zum  Zeichnen  schon 
gemacht  haben,  und  den  Augenblick  ergreifen.  Oder  dürfte  Herr 
Chodowiecki  sich  nicht  geradezu  melden,  und  um  die  Gnade  an= 
fragen  lassen,  Ihre  Maj,  nach  der  Natur  zu  zeichnen.  — 

Unter  den  vortreflichen  Stücken,  die  mir  dieser  Künstler  sandte 

—  eine  so  große  Menge  —  wie  wenig  ausgezeichnete  Gesichter!  wie 
wenig  Erhabene  wie  wenig  —  wo  das  gute  sichtbar  überwiegend 
ist,  denn  freylich  ist  kein  Mensch  ganz  gut. 

Ihr  Bild  werd'  ich  behalten  dürfen?  Oder  soll  ichs  zurücksenden 
u.  darf  ich  eine  Kopie  davon  nehmen  lassen? 

Ein  Beweiß,  wie  schwach  ich  noch  im  urtheilen  sey  —  Ich  habe 
letzthin  eine  Silhouette  en  blanc  —  (u.  das  ist  freylich  wenig)  von 
einem  der  größten  Genies  —  für  schwach  —  erklärt  —  Ich  werde, 
wenn  Sie  wollen,  Ihnen  einige  senden^  —  und  Sie  urtheilen  lassen. 

Chodowieckis  Schatten  ins  Kleine  reduziert  wünscht'  ich  bäl* 
dest  zu  haben. 

Ich  habe  einen  sehr  bequemen  Sessel  zum  Silhouettenzeichnen 
machen  lassen  den...^  Hr.  Chodow.  auch  machen  lassen  sollte... 

'  Nie.  am  Rande:  NB! 

-  Ausgerissenes  Stück:  »sich«? 

23*  355 


[Folgt  eine  Beschreibung  der  »Maschine«  mit  drei  Skizzen.]  So  viel 
für  diesmal.  Leben  Sie  wohl.  Ich  bin  Ihr  aufrichtig  ergebener  Diener 

Joh.  Casp.  Lavater 
d.  19.  Febr.  1774. 

Nicolai  an  Lavater^ 

(Leipzig,  d.  24.  Apr.  1774.) 
Hochehrwürdiger 
Insonders  Hochzuehrender  Herr 
Ich  habe  zwey  Briefe  von  Ew.  Hochehrwürden  liegen,  deren  Daten 
anzusehen  und  wieder  niederzuschreiben  ich  mich  fast  schämen 
[muß].  Sie  sind  vom  7.  Dez.  73  und  19.  Febr.  d.  J.  Ich  habe  so  viel 
über  die  physiognomischen  Materien  mit  Ihnen  reden  wollen,  ich 
habe  empfunden,  daß  ich  für  meinen  Brief  allzuausführlich  werden 
müßte,  es  hätte  mich  Zeit  gekostet  eine  Wahl  des  wichtigsten  zu 
machen  und  dieß  ist  in  dem  Wirbel  von  Handlungsgeschäften,  in 
dem  ich  lebe,  schwer  zu  finden,  so  ist  ein  Monat  nach  dem  andern 
vergangen  und  ich  ergreife  nur  hier  in  Leipzig  die  Morgenstunden 
eines  noch  nicht  übermäßig  beschäftigten  Tages,  um  Ihnen  wenig* 
stens  etwas  zu  sagen  .  . . 

Sagen  Sie  nicht,  daß  Sie  in  dieser  Wissenschaft  nicht  urtheilen, 
sondern  nur  studieren  sollten.  Sie  haben  durch  Erfahrung  und  Über« 
legung  ein  Recht  zu  urtheilen  erhalten,  und  überhaupt  sollte  ein 
denkender  Kopf  auch  vom  ersten  Anfange  an  urtheilen,  nur  nicht 
bestimmen  wollen.  Selbst  Irrtümer  führen  zur  Wahrheit,  beson* 
ders  die,  welche  man  findet,  wenn  man  den  Weg  zur  Wahrheit  eif? 
rig  sucht.  Übrigens  würde  es  weder  Ihrer  physiognomischen  Ein* 
sieht  Schande  machen,  noch  wider  die  Wissenschaft  etwas  bewei* 
sen,  denn  Sie  wissen,  wie  wenig  man  auf  die  besten  gemahlten  Bilder 
ganz  sicher  trauen  darf,  und  daß  das  bloße  Anschauen  eines  Profils, 
auch  in  der  Natur  noch  bey  weitem  nicht  das  physiognomische  Ur* 
teil  gänzlich  bestimmen  kann.  (Wie  wenig  man  auf  Bilder  trauen 

*  16  Folioseiten  v.  H.  e.  Schreibers  mit  eigenhändigen  Zusätzen  und  Korrekturen 
Nicolais.  Auf  der  ersten  Seite  Nicolai  eigenhändig:  »Copie  eines  Briefes  an 
H.  Lavater«  und  das  oben  angegebene  Datum.  Auf  der  16.  Seite  Nicolai  eigen= 
händig:  »1774  OM«.  Sehr  ungelenke  Schreiberhand.  Diesen  ungemein  weit= 
schweifigen  Brief  gebe  ich  gekürzt  wieder. 

356 


kann,  zeigt  mir  mein  eigenes  Beyspiel;  hier  sehe  ich  5  Bilder  von 
einem  Meister,  alle  mir  ähnlich,  jedes  aber  in  solchen  Dingen,  die 
für  das  Physiognomische  wichtig  sind,  von  den  andern  unterschied 
den.)  . .  .  [Folgt  eine  sehr  ausführliche  Begründung,  weshalb  das  von 
Chodowiecki  gezeichnete  Porträt  trotz  Anton  Graffs  Assistenz  un« 
ähnlich  und  »perpendikular«  istj 

. . .  Doch  ich  muß  einlenken;  ich  werde  weitläufig  weil  ich  . . .' 
gern  etwas  zur  Aufklärung  der  Wissenschaft  beitragen  wollte,  die 
wir  beide  lieben  und  doch  kann  ich  nicht  alles  sagen.  Ich  sage  Ihnen 
für  die  Offenherzigkeit  Ihres  Urteils  über  mein  Profil  den  wahr* 
sten  aufrichtigsten  Dank.  Da  ich  wirklich  die  größte  Zeit  meines 
Lebens  zugebracht  habe  mich  unpartheyisch  zu  erforschen  so  ist  es 
wohl  natürlich  daß  Sie  mir  kaum  den  zehnten  Theil  dessen  was  ich 
weiß  u.  auch  von  Ihnen  zu  hören  erwartet  habe  sagen  können. 
Offenherzigkeit  läßt  sich  nur  mit  Offenherzigkeit  belohnen.  Ich 
will  Ihnen  auch  über  das  was  Sie  mir  gesagt  haben  frey  meine  Mei* 
nung  sagen.  Nicht  etwan  um  mich  irgend  worüber  zu  vertheidigen, 
denn  Ihr  Urtheil  über  mich  ist  so  sehr  vorteilhaft,  besonders  wenn 
ich  den  weiten  Abstand  der  meisten  Ihrer  Gesinnungen  und  Nei« 
gungen  mit  den  meinigen  betrachte,  daß  ich  es  bloß  für  nachsichts=» 
volles  Lob  ange . .  .^  würde,  wenn  ich  nicht  überzeugt  wäre,  daß  es 
leichter  gewesen  seyn  müsse  zu  schweigen,  als  mich  wissentlich  irre 
zu  führen.  Ich  der  ich  mein  Innerstes  kenne,  sehe  sehr  wohl  welche 
Seiten  zu  berühren  wären.  Ich  scheue  mich  nicht  sie  in  meinem  Ge* 
wissen  stark  zu  berühren  und  es  würde  mir  keinen  Schein  von  un* 
angenehmer  Empfindung  gemacht  haben,  wenn  Sie  sie  berührt 
hätten.  Denn  ich  bin  immer  der  Meinung  gewesen  daß  der  Vogel 
der  den  Kopf  in  den  Heuhaufen  steckt  um  nicht  zu  sehen,  dennoch 
von  anderen  gesehen  wird.  Sie  haben  sich  überhaupt  mehr  auf  meine 
Talente  als  auf  meine  Neigungen  ausgebreitet.  Ich  sehe  ein  daß  es 
schwerer  und  delikater  ist  von  diesen  als  von  jenen  zu  urteilen  noch 
schwerer  in  der  Entfernung;  aber  gleichwohl  konstituieren  diese 
mehr  den  Menschen.  Jene  sind  oft  erworben,  werden  oft  durch 
außerwesentliche  Begebenheiten  brauchbar  und  unbrauchbar.  Ich 
hoffte,  daß  Sie  durch  meine  Physiognomie  auf  irgend  eine  Seite 
meines  Herzens  stoßen  würden  mir  nur  allein  bekannt.  Ich  traute 
'  . . .  unleserlich. 

357 


Ihnen  Fähigkeit  dazu  zu  und  Sie  würden  dadurch  meine  Zutrauen 
zur  Physiognomik  sehr  vermehrt  haben.  Ich  bekenne  sehr  naiv,  daß 
Sie  nichts  dergleichen  gesagt  haben,  ich  weiß  auch  wohl,  daß  Ob* 
servationen  dieser  Art  schwerer  aus  dem  gemahlten  Gesichte  ge« 
macht  werden  als  aus  Bewegung  und  lebhafter  Sprache.  Neigungen 
entdecken  sich,  wenigstens  nach  meinen  Beobachtungen  am  sicher^ 
sten  in  ungeübten  Augen  ganz  unmerkbaren  Bewegungen  und  Re* 
den,  bey  lebhaften  Handlungen  z,  B.  zuversichtlichem  Lehren,  Dis* 
putieren,  Spielen,  Zorn,  verliebten  Bewegungen  u,  s.  w.  Aber  ich 
habe  zu  Ihnen  das  Zutrauen,  daß  Sie  auch  in  einem  gezeichneten 
Profile  mehr  sehen  als  ein  anderer.  Ich  glaube  also  Sie  sind  hierin 
etwas  zurückhaltend  gewesen.  Ich  kann  es  Ihnen  nicht  verdenken: 
die  Klugheit  schien  es  zu  erfordern.  Wenn  Sie  mich  aber  genau 
kennten,  so  wüßten  Sie  daß  ich  mir  alles  kann  sagen  lassen  und  daß 
ich  über  die  Entdeckung  eines  Fehlers  an  mir,  froh  bin. 

Daß  Sie  mir  Perfektibilität  zutrauen,  halte  ich  für  ein  größeres 
Lob  als  Sie  es  vielleicht  intendiert  haben.  Perfectibilität  setzt  zwar 
Unvollkommenheit  voraus,  aber  mit  derselben  bin  ich  wohl  zufrie* 
den.  Auch  in  der  seligsten  Ewigkeit  wird  nach  meinen  Grundsätzen, 
Perfectibilität  folglich  relative  Unvollkommenheit  seyn.  Darin  sind 
Sie  gewiß  mit  mir  einig  so  verschieden  auch  sonst  unsere  Aussicht 
ten^  seyn  mögen. 

Ihren  Rat  zur  Vervollkommnung  nehme  ich  seiner  Absicht  nach 
mit  dem  besten  Herzen  auf.  Er  beziehet  sich  abermals  auf  Gelehr* 
samkeit  und  Studieren  auch  glaube  ich,  er  gründe  sich  mehr  auf 
meine  Schriften,  und  vielleicht  auf  einige  wahren  oder  falschen 
Nachrichten  anderer  von  mir  als  auf  meine  Physiognomie.  Ich  soll 
zu  einseitig  seyn,  zu  einseitig  gelesen  gelernt  studiert  haben. 
Ich  habe  mich  mehrmals  sorgfältig  geprüft  ehe  ich  diesen  Punkt 
beantworte,  aber  nach  allem  was  ich  von  mir  weiß,  möchte  ich, 
wenn  ich  fehle,  gerade  im  Gegentheile  fehlen.  Mein  Lesen  ist  jeder* 
zeit  zufälligerweise  sehr  mannigfaltig  gewesen,  ohne  bestimmte  Ab* 
sieht,  selten  ununterbrochen,  selten  mit  Muße.  Mein  Studieren  nach 
keiner  Facultät  nie  nach  irgend  einer  Ordnung  nie  nach  einem  an* 
dern  Zwecke  als  mich  zu  vergnügen  oder  zu  unterrichten,  niemals 
die  Hauptbeschäftigung  meines  Lebens  niemals  ein  Mittel  ein  be* 
^  Anspielung  auf  Lavaters  »Aussichten  in  die  Ewigkeit«. 

358 


.1 


stimmtes  Amt  zu  erlangen.  Ohne  allen  mündlichen  Unterricht,  ohne 
System  oder  Leitfaden  in  irgend  einer  Wissenschaft  habe  ich  alles 
was  ich  weiß  aus  gelegentHchem  Lesen  aus  Nachdenken  u.  aus  Ge* 
sprächen  mit  Freunden  der  Wahrheit,  die  meine  Freunde  waren, 
gezogen.  In  Absicht  auf  die  Wissenschaften  bin  ich  leider  nur  all* 
zuvielseitig.  Meine  Handlungsgeschäfte  und  noch  mehr  die  Allg. 
Dtsch.  Bibl.  zwingen  mich  mehr  als  mir  lieb  ist  mich  um  die  ganze 
Literatur  zu  bekümmern  und  ob  ich  zwar  dadurch  den  ganzen  Um= 
fang  der  neueren  Deutschen  Literatur  gewiß  vollständiger  übersehe 
als  vielleicht  irgend  ein  anderer  Gelehrter  so  achte  ich  doch  diesen 
Vorzug  für  sehr  teuer  erkauft,  indem  ich  dem  Faden  von  Ideen  und 
Nachdenken  über  eine  kleine  Anzahl  mir  sehr  wichtiger  Gegen* 
stände  nie  so  ununterbrochen  folgen  kann  als  ich  es  wünschte. 
Mein  ganzes  Leben  ist  sehr  vielseitig  gewesen.  Immer  in  tätigen 
Geschäften  habe  ich  mit  Leuten  aller  Stände  und  Neigungen  mit 
beyden  Geschlechtern  mit  Guten  und  Bösen  Umgang  gehabt.  Ich 
habe  das  Gute  und  Böse  der  sogenannten  großen  Welt  gesehen, 
ich  habe  mich  beinahe  in  allen  Situationen  des  menschlichen  Lebens 
befunden,  in  denen  [sie]  ein  Mensch  der  nicht  außerordentliche 
Thaten  thun  will,  kommen  kann,  allenfalls  nur  Armut  ausgenom* 
men.  Auch  diese  Situationen  habe  ich  allemahl  auf  meine  damit 
verwickelten  Studien  angewendet  und  dadurch  hauptsächlich  mein 
Herz  gebildet.  Dies  hat  mich  alle  Dinge  im  Menschenleben  von 
sehr  vielen  Seiten  ansehen  gelehrt.  Ich  habe  gelernt  daß  allenthalben 
Tugend  und  Untugend  Glück  und  Unglück  Wissenschaft  und  Un* 
wissenheit  so  dicht  gepaart  sind,  daß  zuletzt  nil  admirari  und  nil 
timere  in  der  moralischen  und  literarischen  Welt  meine  Haupt* 
Maximen  geworden  sind.  Ich  habe  mich  so  sehr  gewöhnt  mich  in 
die  Stelle  anderer  zu  versetzen  daß  meine  Freunde  oft  mit  mir  dar* 
über  scherzen,  wenn  ich  Meinungen,  denen  ich  nicht  gewogen  bin, 
entschuldige,  indem  ich  mich  in  die  Lage  derer  die  sie  behaupten 
setze.  Die  lange  Gewohnheit  hierin  hat  mich  so  weit  gebracht,  daß 
ob  ich  gleich  nicht  alle  Meinungen  u.  Menschen  hochschätze,  ich 
doch  alle  Meinungen  und  Menschen  ertragen  kann. 

Sie  sagen  aber:  ich  sollte  mich  bemühen  bey  Menschen  u. Büchern 
das  Wahre,  Nützliche  Schöne  herauszusuchen  und  für  das  Schlechte 
Falsche  Elende  das  Aug  zuzuschließen.  Nach  meinen  so  eben  ent* 

359 


deckten  Grundsätzen  darf  ich  Ihnen  nicht  verbergen,  daß  ich  dieses 
nicht  für  den  Weg  halte,  die  Wahrheit  zu  finden.  Wir  müssen 
Gutem  und  Bösem  mit  hellen  Augen  ins  Gesicht  sehen,  auch  für 
das  Gute,  das  oft  nur  relativ  gut  ist,  nicht  partheyisch  seyn.  Ich 
wiederhole  meinen  Wahlspruch  nil  admirari  nil  timere!  —  Merken 
Sie,  daß  Sie  mir  eigentlich  rathen,  einseitig  zu  werden?  Aber  viel* 
leicht  gründet  sich  Ihr  freundschaftlicher  Rath  nur  darauf,  daß  Sie 
glauben  ich  sey  Neigung  oder  Veranlassungen  gemäß,  allzusehr  auf 
der  einen  Seite  zu  weit  gegangen,  daß  es  um  die  Wagschale  ins 
Gleichgewicht  zu  bringen,  nöthig  seyn  möchte,  auf  der  andern  Seite 
etwas  zu  weit  zu  gehen.  Aber  mein  werther  Herr,  worauf  gründet 
sich  diese  Voraussetzung?  Nicht  wahr  Sie  stellen  sich  in  mir  den 
bösen  oder  leichtfertigen  Kritiker  vor,  der  seine  üble  Laune  oder 
seinen  Witz  zu  zeigen,  Fehler  und  Schriften  aufsucht  —  und  der 
endlich  eine  Fertigkeit  erlangt  hat,  nur  die  schlechte  oder  die  schlim* 
mere  Seite  der  Dinge  zu  sehen?  Vielleicht  wenn  Sie  mich  ein  Jahr 
lang  persönlich  kennten,  würden  Sie  anders  urteilen.  Ich  glaube, 
dem  der  das  Gute  lebhaft  schätzt  fällt  das  Böse  desto  lebhafter  ins 
Gesichte.  Ich  glaube  es  kann  Fälle  geben  wo  man  das  Gute  als  Gut 
voraussetzen  kann  und  zum  besten  der  Menschen  das  Böse  rügen 
muß.  Die  Anwendung  führt  zu  weit,  —  Doch  so  viel  kann  ich  Sie 
versichern,  daß  ich  zwar  vieles  was  andere  für  gut  halten,  nicht  für 
gut  halte,  aber  daß  ich  das,  was  ich  aus  Gründen  und  Empfindung 
für  gut  halte,  sehr  lebhaft  schätze  und  sehr  tief  verehre,  und  daß  mir 
alles  Böse  das  ich  dafür  erkenne  das  lebhafteste  Mißfallen  macht. 
Uebrigens  mein  werthester  Herr  kann  ich  die  Fehler  in  neueren 
Schriften  gewiß  wenig  rügen,  weil  ich  eigentlich  fast  gar  nicht  lesen 
kann.  Stellen  Sie  sich  einen  Menschen  vor  der  täglich  die  Direktions=^ 
geschäfte  dreyer  Buchhandlungen  (in  Berlin,  Stettin  und  Danzig) 
mit  allen  Unannehmlichkeiten  und  Sorgen  die  sie  mit  sich  führen 
treibt,  der  jährlich  2  Leipziger  Messen  und  zuweilen  die  Danziger 
Messe  8  Wochen  lang  besuchen  muß,  der  jährlich  etwan  400  die 
dtsche.  Bibl.  betreffende  Briefe  schreibt  und  unterschreibt  ohne 
andere  Korrespondenzen.  Der  fast  zu  keiner  Stunde  des  Tages  für 
Unterbrechung  sicher  ist,  weil  in  öffentliche  Läden  jedermann  ein* 
treten  darf.  Den  Familien*Umstände  und  Bekanntschaften  ohne 
Freundschaft  oft  in  große  Gesellschaft  bringen,  in  der  man  sich  mit 

360 


ehrlichen  Leuten,  ohne  alle  Kenntnisse  amüsieren  oder  ennuyieren 
muß.  Der  noch  in  seinem  41.  Jahre  wenn  es  die  Gesellschaft  erfor* 
dert  einen  englischen  Tanz  mittanzt  und  aus  eigener  Neigung  mit 
seinen  Kindern  auf  dem  Steckenpferde  reitet.  Wo  käme  da  Muße 
zum  Lesen  zum  Schreiben  und  wo  käme  die  Lust  her,  anderer  Fehler 
aufzusuchen?  Eine  Stunde  mit  Moses  oder  Eberhard  ruhig  ver* 
plaudert,  ist  so  selten  sie  kommt,  himmlische  Wollust  und  ist  ein 
Stündchen  zum  stillen  Nachdenken  da,  so  denke  ich  wahrhaftig  nur 
an  das,  was  vergnügen  und  bessern  kann.  Studieren?  Lesen?  O  mein 
werter  Herr.  Dazu  ist  wenig  Muße  nicht  viel  Zeit  übrig  wenn  man 
40  Jahre  zurückgelegt  hat.  Denken  und  handeln  ist  die  Losung  wenn 
man  hoffet  daß  sich  bald  ein  Vorhang  zuziehen  möchte  der  einen 
weiteren  öffnetl  Und  wenn  ich  lese,  so  sind  es  ehrliche  alte  Bücher 
die  ich  theils  auswendig  weiß,  oft  nicht  um  der  Bücher  willen,  son* 
dem  gewisse  Gedanken  in  mir  lebhaft  zu  erhalten,  die  meinen  Geist 
nähren. 

Wollen  Sie  meine  Lektur  des  letzten  Winters  wissen?  Hier  ist 
sie:  von  neuen  Büchern:  Ihr  Tagebuch  2ter  Thl.  Lessings  Bey# 
träge  2ter  Thl.  und  Ueber  die  Ehe\  Von  alten  Büchern  einige 
Stücke  aus  Cicero  sonderlich  de  nat.  Deorum,  de  divin.,  de  senec* 
tute.  Mein  Leibautor,  Arrianus  . .  .^  Epictet  deutsch  etwa  zum  5ten 
xMahle,  griechisch  zum  erstenmahl.  Weil  ich  ihn  eben  in  meiner 
Auktion  gekauft  hatte  des  Plinius  Briefe  ungefähr  halb,  hier  und 
da,  das  erste  und  zehnde  Buch  ganz;  besonders  das  letzte  weil  die 
Briefe  des  Trajans  mit  den  Kabinetsbriefen  des  K.  v.  Pr.'^  eine  frap= 
pante  Aehnlichkeit  haben.  Und  endlich  in  verlohrnen  Stunden 
nach  Tische  etc.  die  Avantures  de  Gil  Blas  (seit  meinem  12ten  Jahre 
ungefähr  zum  25ten  Male). 

Dieß  sind  die  Schriften,  die  ich  vorigen  Winter  gelesen  habe 
und  nun  genug  von  Schriften  —  was  Menschen  betrifft,  in  denen 
ich  freilich  beständig  lese,  weil  sie  mir  zu  allen  Stunden  unter  die 
Augen  treten  auch  wann  ich  alle  Bücher  verschließen  muß  —  in 
diesen  liebe  ich  weder  das  Böse  noch  suche  ich  es  aus:  aber  die 
Augen  dafür  zu  verschließen?  —  Denken  Sie  ein  wenig  darüber 

'  Ottenbar  die  Hippeische  Schrift. 
-  Unleserlich,  getilgt. 
^  =  König  V.  Preußen. 

361 


nach  —  eigentlich  würde  das  heißen  meinen  moralischen  Sinn 
stumpf  machen  wollen,  für  den  ich  wahrhaftig  gern  das  bischen 
theoretische  Philosophie,  das  ich  weiß  so  wenig  es  ist,  noch  weg« 
geben  wollte.  Das  Gute  an  Menschen  herauszusuchen?  O  welche 
edle  Beschäftigung!  und  ich  finde  es  auch  noch  bey  jedem  Men# 
sehen;  aber  freilich  nie  un vermischt!  Für  diese  Mischung  kann  ich 
nicht  die  Sinne  verschließen  ohne  den  mir  wichtigsten  moralischen 
Prinzipien  zu  entsagen.  Bloß  die  genaue  Schätzung  des  dem  Guten 
beygemischten  Bösen  bestimmt  den  Werth.  Der  Goldschmied, 
welcher  Slöthig  Silber  für  sechzehnlötig  hielte,  würde  eben  so  un* 
recht  urtheilen,  als  wenn  er  es  für  gar  kein  Silber  hielte. 

Doch  ich  merke,  daß  ich  schon  viel  zu  lange  von  mir  selbst  rede. 
Ich  kenne  die  schiefe  Lage  sehr  wohl,  in  der  man  sich  in  solchen  Fällen 
befindet,  aber  wenigstens  ist  das  Verlangen  sehr  natürlich,  wenn  man 
sein  Gesicht  falsch  beleuchtet  glaubt  ein  Fensterchen  zuzuziehen 
und  das  Licht  auf  den  rechten  Punkt  zusammenziehen  zu  wollen. 

Doch  nochmals  —  genug  davon  —  Ich  erwarte  Ihr  großes  Phy* 
siognomisches  Werk  mit  wahrer  Ungeduld.  Sie  werden  dadurch 
meines  Erachtens  eine  ganz  neue  Seite  der  menschlichen  Erkenntnis 
bearbeiten  u.  zu  der  Zahl  der  Wissenschaften  noch  eine  hinzusetzen. 
So  sehr  ungeduldig  ich  aber  auch  bin,  dieses  Werk  zu  sehen,  so  sehr 
habe  ich  mich  doch  gefreut,  von  Hrn.  Steiner,  Ihrem  würdigen 
Landsmann,  den  ich  hier  habe  kennen  lernen,  zu  hören  daß  Sie  sich 
nicht  übereilen,  sondern  noch  ein  Jahr  mit  der  Herausgabe  warten 
wollen.  Die  Fragmente  haben  mir  gleich  von  Anfang  nicht  ge* 
fallen  wollen.  Nicht  daß  ich  ein  ganzes  vollständiges  und  anein* 
andergekettetes  System  erwarten  wollte.  Dieß  wäre  bey  dem  ersten 
so  schweren  Versuch  eine  unsinnige  Forderung.  Aber  ich  wünschte, 
wenige  einleuchtende  Sätze,  in  guter  Ordnung  und  mit  in  die  Augen 
fallenden  Beyspielen  bewiesen  und  mitWeglassen  aller  Hypothesen, 
die  Sie  aus  innerer  Empfindung  für  wahr  halten  aber  nicht  beweisen 
können. 

Die  Physiognomik  wird  an  den  Vorurtheilen  der  Menschen  doch 
Hindernisse  genug  finden  so  daß  man  es  sehr  nöthig  hat,  bey  dem 
ersten  Austritte  alle  ungewisse  Schritte  zu  vermeiden. 

Darf  ich  noch  offenherziger  seyn;  darf  ich  Sie  bitten  sich  bey 
diesem  Werke  welches  ganz  Tatsache  seyn  muß  sich  vor  der  leb* 

362 


haften  Einbildungskraft  zu  hüten,  die  (ich  will  es  nicht  verbergen) 
so  wie  es  mir  scheint,  in  allen  Ihren  übrigen  Schriften  sehr  oft  glän* 
zende  Irrthümer  verursachet.  Sehr  viele  Sachen  würden  leicht  aus* 
zuführen  und  sehr  viele  Sätze  leicht  zu  beweisen  seyn,  wenn  nur  ein 
einziges  Hypotheschen  wahr  sein  wollte,  oder  wenn  man  von  einer 
einzigen  Schwierigkeit  abstrahieren  dürfte.  Im  Traume  abstrahieren 
wir  von  der  einzigen  Eigenschaft  unseres  Körpers  von  der  Schwere 
und  schweben  ganz  leicht  in  der  Luft. 

Hiermit  ist  noch  eine  andere  Bitte  verbunden.  Um  die  Deutlich* 
keit  und  um  die  Simplizität  der  Schreibart!  Es  schleicht  sich  itzt  eine 
Pest  in  die  deutsche  Schreibart  ein,  durch  die  Sucht  Originale  zu 
sein  und  durch  die  Sucht,  immer  nachdrücklich,  immer  voll 
starker  Empfindung  zu  schreiben.  Daher  fremde  Wendungen, 
Metaphern,  neue  ohne  Noth  geprägte  Worte  denen  eine  Nuance 
von  Nachdruck  ankleben  soll,  dunkle  Anspielungen,  die  der  Schrei? 
ber  lebhaft  zu  empfinden  glaubt,  schwankende  Ausdrücke  die  ge* 
heimen,  der  gewöhnlichen  Sprache  unerreichbaren  Sinn  ausdrücken 
sollen.  Der  Leser  versteht  nichts,  glaubt  aber  zuweilen  zu  verstehen, 
versteht  ganz  unrecht  und  denkt  sich  mit  gleichen  Worten  ganz  un# 
gleiche  Begriffe.  Er  sucht  den  Sinn  zu  haschen,  und  er  entflieht, 
kann  ihn  zuweilen  nicht  fassen,  weil  ihn  der  Autor  selbt  nicht  richtig 
gefaßt  hat.  Dieses  Gedankenkräuseln  heißt  süße  Empfindung  beym 
Verfasser  und  beide  .  .  .^  sich  in  einer  umbra  voluptatis  die  alle  ehr« 
liehe  Erzeugung  jetzt  gewiß  hindert  und  sogar  vielleicht  fürs  künf* 
tige  unmöglich  macht.  Ich  sehe  voraus,  daß  Ihnen  in  der  Physio* 
gnomik  die  Sprache  zu  enge  werden  muß;  ich  glaub  also  Sie  müssen 
sich  sehr  bemühen  alle  Mißdeutung  zu  vermeiden.  Eine  innere  Emp« 
findung  durch  dunkleWorte  ausgedrückt,  erregt  nicht  dieselbe  Emp* 
findung  beim  Leser. 

Die  Kupferstiche,  die  ich  zu  Ihrem  Werke  hier  und  in  Berlin  ge* 
sehn  habe,  gefallen  mir  sehr  wohl  und  freilich  habe  ich  noch  man* 
ches  unrichtiges  und  unbestimmtes  bei  Profilen  die  ich  kenne,  ge* 
funden.  Sie  waren  so  viel  ich  mich  erinnere  (allenfalls  außer  einen 
mit  aufgeworfener  Nase)  von  Crusius  radiert  a  potiori  gute  Charak* 
tere.  Ich  sehe  die  Nothwendigkeit  immer  mehr  ein  daß  Sie  Kontraste 
aus  jedem  Stande  haben  müssen,  die  Einsicht  kann  sonst  nicht  leb* 
'  Unleserlich. 

363 


haft  werden.  Dazu  kommt  daß  auch  in  dem  Gesichte  eines  jeden 
guten  Mannes  sich  Unvollkommenheit  zeigt,  diese  würde  auch  für 
Vollkommenheit  gelten  wenn  man  nicht,  um  bey  meinem  obigen 
Gleichnisse  vom  Silber  zu  bleiben,  aus  der  Schätzung  des  bey* 
gemischten  Kupfers  den  wahren  Wert  des  Silbers  erkennte. 

Meiner  ^Meinung  nach  können  Sie  bey  dem  Aergernisse,  das 
man  daran  nehmen  möchte,  wenn  Sie  schlechte  Charaktere  aufstellen, 
ganz  ruhig  seyn.  Ich  glaube,  wir  müssen  mit  dem  Bewußtseyn  zu* 
frieden  seyn,  daß  wir  wissentlich  kein  Aergernis  geben;  sonst 
würden  wir  von  dem  bestem  Unternehmen,  welches  Kühnheit  er* 
forderte,  abgeschreckt.  Es  würde  freilich  unbillig  seyn,  Bildnisse 
lebender  schlechter  Menschen  zur  Schau  zu  stellen.  Aber  es  gibt 
tote  Unbekannte  genug  z.  B.  in  den  Zeichnungen  die  Sie  von 
H  Chodowiecki  haben:  ein  schon  verstorbener  liederlicher  Gold* 
Schmied  aus  Champagne  gebürtig.  Sie  werden  ihn  aus  allen  übrigen 
leicht  heraussuchen. 

Wegen  des  Christuskopfs  will  ich  also  die  Ausgabe  des  Werkes 
erwarten.  Was  Sie  aber  von  Moses  M.  u.  d.  K.  v.  Pr.  sagen,  scheint 
mir  nicht  präzis  zu  seyn  .  .  .  Beide  Profile  nebeneinander  gelegt, 
sagen  Sie,  spricht  die  Grenzlinie  der  Physiognomie.  Verzeihen 
Sie  wenn  ich  Ihnen  sagen  muß,  daß  Ihnen  hier  die  Einbildungs* 
kraft,  von  andern  erhaltene,  noch  dazu  falsche  Nachrichten  oder 
Vermuthungen,  in  dem  Profil  des  Königs  hat  sehen  lassen :  oder  daß 
Sie  wie  viele  glaubten  der  Eroberer  müssen  ein  starker  harter  Mann 
seyn.  Friedrich  weitgefehlt  der  größte  Athlet  zu  seyn,  ist  gar 
kein  Athlet,  hat  gar  keine  vorzügliche  körperliche  Stärke.  Er  kann 
keine  andern  als  die  frömmsten  Pferde  reiten  und  wird  doch  zu* 
weilen  abgeworfen.  Vor  einigen  Jahren,  wollte  er,  bey  Gelegenheit 
einer  neuen  Art  zu  laden,  einem  Soldaten  das  Gewehr  aus  der  Hand 
nehmen,  um  seine  Meinung  zu  zeigen  u.  konnte  es  nicht  regieren. 
Er  ist,  (weil  er  den  größten  Teil  des  Tages  einsam  ist)  wenn  ihn 
jemand  geschwind  überrascht,  nicht  ä  son  aise  usw.  Kraft  der  Seele 
hat  ihn  freilich  gelehrt  sich  alles  zu  versagen  u.  alles  zu  ertragen, 
aber  von  Natur  hat  er  die  Anlage  nicht  dazu.  Er  kann  wenn  es  nöthig 
ist,  die  größten  Beschv/erlichkeiten  ertragen,  aber  seiner  Neigung 
nach  liebt  er  Bequemlichkeit  und  Ruhe,  weiche  Stühle,  helle  Zim* 
mer,  Gemälde  die  lauter  angenehme  Gegenstände  haben,  zu  Be* 

364 


dienten  schöne  wohlgewaschene  Leute,  offne  naive  Physiognomien. 
Er  kann  wenns  nöthig  ist,  wochenlang  der  härtesten  Witterung  sich 
aussetzen  u.  wird  z.  B.  eine  Kriegsübung  oder  ein  anderes  Geschäft, 
wobey  er  unter  freyem  Himmel  erscheinen  muß,  wegen  des  größten 
Orkans  nicht  einen  Augenblick  später  anfangen  oder  um  eine  Mi* 
nute  verkürzen;  an  sich  aber  ist  er  äußerst  gegen  Kälte  und  gegen 
den  geringsten  Zugwind  empfindlich,  läßt  bey  kühlen  Sommertagen 
Feuer  machen,  oder  hüllet  sich  in  warme  Kleider.  Er  kann  von  der 
gröbsten  Kost  leben  und  fastet  Abends  fast  beständig  um  seiner  Ge« 
sundheit  willen.  Aber  sonst  isset  er  gern  das  niedlichste  delikateste 
wählet  mit  feinem  Gaumen  unter  den  Speisen  u.  bestellet  sehr  oft 
seine  Gerichte,  trinkt  sehr  mäßig  Wein,  aber  den  besten  u.  s!  w. 

Er  hat  also  eben  so  wenig  körperliche  Stärke  als  M.  M.  aber  ge* 
wiß  eben  so  viele  Stärke  des  Geistes,  nur  daß  er  sie  auf  andere 
Gegenstände  anwendet.  Er  ist  ein  Denker  eben  so  wie  Moses,  nur 
daß  Er  nicht  metaphysische  Sätze  denkt.  Erhabene  Tugend  hat  er 
von  der  Seite  der  Tapferkeit  und  Besonnenheit  in  hohem  Grade. 
Erhabene  Tugend,  von  einer  andern  Seite  betrachtet,  kann,  fürchte 
ich  kein  Monarch  haben,  so  wenig  als  er  einen  Freund  haben 
kann,  und  am  wenigsten  wenn  er  das  Unglück  hat  keine  Kinder  zu 
haben.  Ich  habe  besonders  hohe  Gedanken  vom  Einflüsse  des  häus* 
liehen  Lebens  in  die  Moralität.  Ich  habe  mir  oftmahls  diesen  wahr* 
haftig  großen  Mann,  der  zu  dem  häuslichen  sich  selbst  genügsamen 
Leben,  eine  so  starke  Anlage  hat,  unter  4  oder  6  seiner  Kinder  vor* 
gestellt.  Dieses  würde  die  Scene  sehr  verändern.  Ihr  Profil  vom 
Könige  ist  unvollkommen,  und  aus  der  Idee,  und  es  würde  auch 
wenn  es  nach  der  Natur  gezeichnet  wäre,  nicht  ganz  hinlänglich 
seyn,  denn  seine  linke  Seite  ist  von  der  rechten  unterschieden.  Ich 
glaube,  dieser  Unterschied  ist  habituell.  Er  braucht,  erstens  wegen 
blöden  Gesichts,  ein  starkes  Augenglas,  welches  das  Auge  endlich 
herausziehen  muß,  indessen  das  andere  Auge  zugedrücket  wird, 
zweitens  das  Anlegen  der  Flöte,  die  er  täglich  2  ä  3  Stunden  spielt, 
kann  zu  einer  ungewohnten  Lage  der  Lippen  viel  beytragen;  beson* 
ders  ziehet  sich  das  Ende  der  rechten  Seite  der  Lippe  zurück  und 
sinkt,  welches  sonst  einem  Gesichte  ein  grämliches  Ansehen  gibt. 

Daß  er  zum  Bildnisse  sitze,  daran  ist  nicht  zu  denken.  Die  ein* 
zige  Möglichkeit  es  zu  erhalten  wäre  folgende.  Im  Carnev..[,?] 

365 


welches  im  Dez.  u.  Jan.  ist,  steht  er  in  der  Oper  dicht  am  Orchester 
oft  eine  halbe  Stunde  lang  so  daß  er  also  dem  der  im  Orchester 
stehet  das  Profil  beut,  hier  müßte  ihn  H.  Ch.  an  2  Operntagen  von 
beiden  Seiten  zeichnen. 

Chodowiecki  hat  mir  gesagt  daß  er  mein  getuschtes  ßild  für  Sie 
machen  solle.  Die  Zeichnung  gehört  ihm. 

Sie  schreiben  in  Ihrem  ersten  Brief  vom  7.  Oktober  daß  Sie  nur 
Fragmente  der  Physiognomik  liefern  wollten  weil  Sie  wichtigeres 
zu  tun  hätten.  Ich  hoffe  Sie  haben  Ihre  Meinung  geändert.  Denn 
das  Werk  wird  gewiß  Ihr  wichtigstes  Werk,  das  gemeinnützigste 
und  das  einzige  in  seiner  Art ... 

Werden  Sie  in  Ihrem  großen  Werke  bloß  Angesichte,  keine 
Hände  oder  andere  Glieder  zeichnen  lassen?  Um  wenigstens  einige 
jeder  [?]  zu  geben?  Sie  dürfen  sich  nicht  schämen,  daß  Sie  nach 
einem  geschnittenen  Profil  eins  der  größten  Genien  für  schwach 
erklärt  haben:  denn  nicht  allein  ein  solches  Profil  ist  überhaupt  sehr 
trüglich  sondern  gerade  ein  Genie  richtet  gemeiniglich  seine  ganzen 
Seelenkräfte  ganz  auf  einen  Gegenstand,  in  dem  es  außerordentlich 
groß  ist,  und  ist  zuweilen  dagegen  in  den  meisten  andern  Dingen 
wie  ein  Kind.  Wenn  Sie  alsoAugen  (auch  Augenbrauen)  und  Sprache 
weglassen  so  kann  das  vordere  Profil  sehr  leicht  etwas  einfältiges 
haben,  freylich  der  Hinterkopf  hätte  wohl  bedeutend  seyn  sollen 
aber  der  ist  vielleicht  verschnitten  gewesen.  Ueberhaupt  dünkt  mich, 
ob  gleich  sich  (auch  aus  dem  Profil)  über  Talente  leichter  urteilen 
läßt,  so  sind  doch  dem  Gesichte  Neigung  und  Leidenschaften  viel 
tiefer  eingegraben  und  sicherer  zu  erkennen  als  Talente.  Jene  wer« 
den  mehrenteils  angeboren  und  werden  weit  mehr  geübt  als  Talente. 
Vielleicht  sind  gar  etwan  die  hauptsächliche  Talente  des  von  Ihnen 
genannten  Genies  erworbene  Kenntnisse  gewesen.  Hiervon  ist  in 
einem  Silhouette*Bilde  schwerlich  eine  Spur.  Sie  wollen  mir  Sils= 
houettebilder  zusenden  um  darüber  zu  urtheilen?  Ich  will  es  thun, 
nach  Ihrem  V^erlangen  und  zur  Uebung.  Vermutlich  aber  werde  ich 
mich  oft  irren.  Ich  kann  nicht  zeichnen,  habe  mich  auch  fast  gar« 
nicht  geübt,  Bilder  physiognomisch  zu  untersuchen.  Meine  Be* 
merkungen  hierüber  sind  in  der  lebenden  Welt  gemacht,  begleitet 
mit  Beobachtungdes  Blicks  der  Augen,  Mine,Gesichtsfarbe,  Sprache, 
Ton  der  Sprache,  ganzer  Stellung,  besonders  des  Unterleibs  vorn 

366 


und  hinten,  wo  er  sichtbar  war,  und  der  sich  darauf  beziehenden 
Stellung  der  Füße,  endlich  Bewegung  u.  s.  w.  Zu  diesem  Ensemble 
habe  ich,  wie  ich  glaube,  ziemlich  scharfsichtige  obgleich  nicht  alle* 
mahl  schnelle  Augen,  bloß  seit  Erscheinung  Ihres  2ten  Theils  habe 
ich  meine  Bemerkungen  in  einige  Ordnung  gebracht  und  vieles  ist 
mir  dadurch  deutlich  geworden. 

Noch  eins.  Es  hat  mich  etwas  betroffen  gemacht,  daß  Sie  an  Hrn. 
Chodowiecki  schreiben,  es  wären  unter  den  Zeichnungen,  die  er 
Ihnen  geschickt  habe,  so  wenig  gute  Menschen.  Ich  weiß  nicht 
genau,  welche  Zeichnungen  er  Ihnen  geschickt  hat,  aber  das  weiß 
ich,  daß  in  seinem  Portefeuille  gewiß  über  die  Hälfte  gute  Charak« 
tere  sind.  Freilich  auch  viele  Schwache,  welches  mit  der  Güte  oft 
verknüpfet  ist.  Mir  fällt  dabey  folgender  Gedanke  ein,  den  ich 
Ihrem  Ermessen  überlasse.  Mich  dünkt  es  gibt  viele  Physiogno* 
mien,  die  zwar  sprechend  aber  nicht  schreiend  sind,  weil  ihre 
Inhaber  keine  Neigung  oder  Leidenschaften  in  verzeihlichstem 
Grade  haben.  Außerdem  ist  noch  ein  wichtiger  Umstand:  bey  Ge* 
lehrten  bey  denen  die  Seele  arbeitet,  offenbaren  sich  Neigungen 
und  Leidenschaften  auf  ganz  andere  Art  als  bey  Leuten,  die  Gewerbe 
treiben,  bey  denen  die  Seele  nicht,  und  oft  kaum  die  Sinne  arbeiten. 
Die  Zeichnungen  von  Chodowiecki  sind  meist  von  der  letzteren 
Art;  Sie  aber,  glaube  ich,  haben  mehr  Leute  ersterer  Art  beobachtet. 

Ich  merke  daß  mein  Brief  bis  zu  einer  unverschämten  Länge  an* 

gewachsen  ist.  Wenigstens  sehen  Sie,  daß  es  nicht  an  meinem  guten 

Willen  gelegen  hat,  wenn  ich  bisher  nicht  geschrieben  habe.  Ich 

darf  nicht  den  vierten  Bogen  anlegen  ohnerachtet  ich  noch  vieles 

sagen  möchte.  Wie  sehr  wünsche  ich  mit  Ihnen  mündlich  über  diese 

Sachen  zu  sprechen.  Ich  bin  mit  besonderer  HochachtungEw.  Hoch* 

würden  ergebenster  Diener 

Nicolai 

[dazu  eigenh.  Nachschrift  Nicolais:]  »N.  B.  Herders  u.  s[einer] 
F[rau]  Profile  habe  ich  p.  Orell  gesendet.« 

Lavateran  Nicolai^ 

Nur  zwey  Worte,  mein  werthester  Herr  Nicolai.  Den  Augenblick 
erhalt  ich  Ihren  werthen  Brief  vom  24.  April.  Ich  kann  Ihnen  nur 
'  Ohne  Adresse.  Auf  S.  4  Nicolais  Vermerk:  »1774  29  May  12  Juni  beantw.« 

367 


mit  Eile  sagen,  daß  er  sehr  unterhaltend  und  lehrreich  für  mich  war. 
Sicherlich  werd  ich  ihn  benutzen.  Auf  alles  kann  ich  nicht  antwor* 
ten;  also  nur  auf  ein  paar  Punkte. 

Meine  Freyniüthigkeit  hat  Sie  freymüthig  gemacht,  bravo!  Ich 
versichere  Ihnen,  daß  Ihre  Redlichkeit  mir  längst  unverdächtig  war. 
(Einmal,  im  Vorbeygehnzusagen,  habe  ich  Ihnen  etwas  zuviel  be* 
zahlt,  weil  ich  das  Geld  nicht  genau  kannte  und  da  ich  einige  Tage 
wiederkam,  gaben  Sie  mirs,  ohne  daß  mir  ein  Sinn  dran  gekommen 
wäre,  zurück!  Diese  Kleinigkeit  hat  mich  schon  oft  vergnügt  und 
ich  habe  sie  schon  oft  erzählt.)  Fahren  Sie,  wenn  Sie  weiter  an  mich 
schreiben  sollten,  fort  so  gerade  zu  schreiben  wie  izt.  Ich  wette,  wir 
kommen  uns  näher.  Es  ist  eine  allgemeine  Anmerkung,  zu  der  mich 
Ihr  Schreiben  veranlaßt:  Es  ist  sehr  viel  Mißverstand  zwi* 
sehen  uns,  der  in  ein  paar  Stunden  mündlichen  Umgangs 
gehoben  seyn  würde. 

Immer ^  muß  ichs  mit  lebhafterer  Überzeugung  sagen,  je  mehr 
ich  beobachte,  desto  weniger  darf  ich  urtheilen.  —  Uebrigens 
leitet  mich  nichts  so  sicher  zur  Wahrheit,  als  [erjkannter  Irrthum; 
und  da  ich  täglich  Irrthum  entdecke,  —  komme  ich  der  Wahrheit 
immer  näher  und  urtheile  immer  behutsamer. 

Wenn  ich  nur  schreiben  müßte,  gab  ich  alle  Jahre  einen  starken 
Band  Bey  träge  zur  Physiognomik  heraus.  Weil  aber  dieses  Werk 
einen  Zeitverschlingenden,  sehr  weitläufigen  Detail  von  Bestellung 
gen,  und  merkantilischer  Bemühung  erfordert,  muß  ich  mir,  um 
meiner  Ruhe,  Gesundheit,  Pflicht  und  näheren  Berufs  willen,  —  ein 
Ziel  setzen;  mithin  —  nur  Fragmente  liefern. 

Die  Sprache  wird  —  wo  der  Beobachter  und  Anschauer  des 
Gesichts,  des  Menschen  spricht,  warm  —  wo  sie  räsonniert, 
schließt,  lehret  —  sehr  simpel  und  kalt  seyn  .  .  .  Charakter  werd' 
ich  nach  meinem  Gesichtspunkt,  wahr  schildern;  das  wird  selten 
oder  niemals  in  Paragraphen  geschehen  können.  Aber  —  wenn  ich 
wissentschaftlich  spreche,  werd  ich  numerotieren. 

Aber  die  Sprache?  Ich  wünschte,  jemand  an  d.  Hand  zu  haben, 
der  mir  pele  mele  alle  physio gnomische  Worte  (und  deren  find' 
ich  welche  neue  in  Ihrem  Brief)  ausschrieb  —  wenigstens  Beyträge 
gäbe. 
'  Von  Nicolai  rot  unterstrichen. 

368 


Ueber  die  Unsicherheit  aller  Porträte  —  ein  großes  weitläufiges 
Capitel.  —  Ihre  Stirn  ist  in  allen  für  Sie,  für  Ihre  Anlagen  —  der 
Mund  hingegen  ist  in  einigen  hart,  in  andern  sanfter  —  in  .  .  .^ 
spricht  er  von  angewöhnter  Strenge?  ist  viel  zu  hart  gesagt  —  Ge« 
misch  von  Bonvivanterey  und  —  »Verachtung«  —  auch  wieder  zehn* 
mal  zuviel  ~  wer  will  mir  ein  Wort  geben  —  Freude  demüthigende 
Wahrheiten  zu  sagen?  —  wie  schrecklich  einseitig  gesagt  —  kurtz 
sagen  Sie  Hrn  Geyser,  daß  er  Ihnen  für  die  Verläumdung  Ihres 
Mundes  Satisfaktion  gebe  —  mir  ist  —  Ihnen  ins  Ohr  gesagt  bange  — 
ich  hab'  ihm  6  Köpfe  geschickt  —  Ihr  Bild  läßt  mich  wenig  hoffen.  — 

Mein  Rath,  nur  mehr  das  gute  herauszusuchen  ist  blos  medi* 
zinisch,  nicht  philosophisch.  Ich  hasse  alle  Einseitigkeit;  aber  wir 
müssen,  wenn  wir  zu  lange  auf  die  eine  Seite  gesunken  haben  — 
auf  die  andere  Seite  uns  neigen. 

Von  Ihnen  hab'  ich  außer  Nothanker  und  Abbts  Denkmal 
nichts  gelesen  —  von  Ihnen  keine  einzige  Anekdote  gehört.  Ein 
Paar  mal,  eh'  ich  an  Physiognomik  dachte  —  hab  ich  Sie  gesehen. 
Ihre  damalige  Blässe,  und  Zurückstreben  oder  Hangen  des  Ge* 
sichts  frappierte  mich.  —  Vergeben  Sie  nun  [meine?]  Unwissenheit, 
daß  ich  Sie  in  einigen  Stücken  mißkannt.  Vollkommen  recht  haben 
Sie,  die  Gemüthsneigungen  lassen  sich  vielmehr  aus  d.  Bewe* 
gung  als  aus  Porträten  kennen. 

Ich  habe  den  König  in  Preußen  genau  beobachtet.  Eine  halbe 
Stunde  ging  ich  ihm  hart  an  der  Seite  unter  einem  Haufen  Pöbel. 
Ohne  damals  das  mindeste  an  Physiognomik  zu  denken  —  frap=^ 
pierte  mich  sein  Profil  gar  sehr  —  darf  ich  sagen  —  so  ein  sieht* 
bares  Gemische,  so  ein  kontrastierendes  Gesicht  hab  ich  nicht 
gesehen  —  (Eigentlich  ist  freyl.  kein  Contrast  in  einem  Gesichte) 
aber  der  Muth,  der  Heldenunternehmungsgeist  blitzt  ihm 
gewiß  von  der  Stirn;  und  dieß  wars  was  ich  athletisch  nenne;  und 
was  Mendelssohn  nicht  hat.  — 

[Hier  folgen  2x7  physiognomische  Linien.] 
Hier  einige  ohne  Ordnung  hingeworfene,  elend  geschriebene, 
nicht  gezeichnete  Contraste  von  Muth  und  Furchtsamkeit  —  u. 
freylich  keins  von  Mendelssohn. 

Ich  schweife  aus.  Ich  muß  einlenken,  wenn  ich  noch  zwo  Zeilen 
'  Korrekturen;  unleserlich. 

24  Sommer  Feld,  Friedrich  Nicolai  369 


antworten  will.  Perfektibilität  nehm'  ich  in  m.  Urtheile  nicht 
in  methaphysischem  Sinne  —  in  praktischmoralischem  —  in  so« 
fern  sie  von  Wahrheitsliebe  und  Geistesstärke  abhängt. 

Für  die  vertraulicheMitteilung  Ihrer  Lektüre  (der  überhaupt  die 
meinige  sehr  ähnlich  ist)  dank  ich  Ihnen  —  Ich  wünschte  —  sie  ver* 
gelten  zu  können. 

Ich  vermute,  wen  Sie  vor  dem  Auge  haben \  da  Sie  von  der 
Schreibart  einiger  sehr  guter  Köpfe  reden  —  Sie  haben  das 
Schattenbild  des  Mannes,  den  Sie  charakterisieren  wollen; 
das  Schattenbild,  an  dem  ich  mich  vorher  so  sehr  geirrt,  nach* 
her  so  viel  gelernt  habe  —  aber  —  lassen  Sie  schreiben,  wie  H. 
schreibt  —  wer  denken  und  empfinden  kann  wie  Er.  Seine  Ur* 
künde  bleibt  dennoch  Pyramide  —  wenn  sie  schon  ärgern  wird. 

—  Sonst  ist  Ihre  Warnung  vortrefflich^  — 

Contraste  werd'  ich  anzubringen  suchen  —  Gott  gebe  mir  Weis== 
heit  —  Hände  —  Füße  —  Torso  —  Thierköpfe  —  von  allem  etwas.  — 

Hier  12  Schattenrisse  —  darf  ich  zur  Uebung  kurze  Urtheile  bitten? 

Ich  kann  mehr  nicht  schreiben.  Ich  zähle  Stunden  auf  Zeichnungen 
und  Kupfer  von  Chodowiecki,  den  ich  Sie  bitte  herzlich  zu  grüßen. 

Er  soll  Ihnen  in  meinem  Namen  danken,  daß  Sie  so  edelfrey* 
müthig  mit  mir  umgehen. 

Zürich,  d.  20.  May  74  Lavater 

Noch  hohl  ich  nach;  Ihre  Anmerkung  über  d.  Einfluß  des  häuß« 
liehen  Lebens  mir  aus  dem  Herzen  — 

Könnte  Herr  Chodowiecki  einmal  in  d.  Oper  Ihren  König  zeich? 
nen  —  vortreflich! 

Nicolai  an  Lavater'' 

Berlin,  d.  12.  Juni  1774. 
Hochehrwürdiger 
Insonders  Hochzuehrender  Herr. 
Auch  ich  antworte  Ew.  Hochehrwürden  in  großer  Eil,  und  unter 
vieler  Zerstreuung,  weil  ich  in  wenig  Tagen  auf  4  Wochen  nach  dem 
^  Herder. 

-  Nie.  mit  Rotstift  unleserliche  Bemerkung  am  Rande.  Am  Schluß  des  Briefes 
mehrere  von  Nie.  im  folgenden  Brief  genau  verwendete  Notizen. 

"  Konzept  von  Hand  e.  Schreibers,  7' -2  Seiten  in  1". 

370 


Freienwaldischen  ßade  abreise,  und  noch  überaus  viele  Geschäfte 
vor  mir  habe.  Gleichwohl  kann  ich  diese  Arbeit  nicht  aufschieben, 
von  der  ich  manches  lebhaft  im  Sinne  habe,  weil  ich  es  sonst  ver« 
gessen  möchte.  Ich  möchte  fast  der  Physiognomie  gram  werden,  so 
sehr  sie  mich  sonst  auch  vergnügt,  daß  sie  zu  meinen  vielen  Ideen 
und  Geschäften,  die  meinen  Kopf  durchkreuzen,  noch  eine  Menge 
hinzuthut,  und  mir  den  Mangel  der  Muße  noch  merklicher  macht. 

Sie  haben  darin  ganz  recht,  je  mehr  man  beobachtet,  desto  weniger 
darf  man  urtheilen.  Die  Physiognomik  ist  überhaupt  nur  noch  im 
ersten  Anfange;  und  der  hauptsächlichste  Einwurf  wider  dieselbe 
ist  auch  der:  daß  ihr  Umfang  so  weit  ist,  daß  ihr  Meer  so  uner* 
schöpflich  ist,  daß  unmöglich  ein  Mensch  sie  ganz  umfassen  kann. 
Da  nun  der  kleinste  Umstand  öfters  das  Urtheil  verändert,  so  wird 
von  einer  gewissen  Seite  immer  Ungewißheit  bleiben.  Dieser  Ein* 
wurf  ist  nicht  zu  widerlegen.  Aber  mutatis  mutandis  geht  es  der 
Philosophie  überhaupt  ebenso. 

Also  auch  Ihr  Werk  bleibt  freilich  von  einer  gewissen  Seite  immer 
Fragment  aber  es  muß  doch  ein  zusammenhängender  Vortrag  der 
Hauptstücke  sein,  die  dazu  gehören.  In  Absicht  auf  den  genau  nüan* 
eierten  Ausdruck  wird  die  Sprache  immer  zurückbleiben.  Nur  dünkt 
mich,  wenn  man  zu  seiner  Idee  den  präzisen  Ausdruck  nicht  finden 
kann,  so  muß  man  wohl  untersuchen,  ob  man  seine  Idee  auch  selbst 
recht  präzise  gefaßt  habe,  denn  sonst  ist  die  Sprache  unschuldig. 

Unter  den  Kupferstichen  zur  Physiognomik  S  die  ich  in  Leipzig 
sähe  war  auch  [D.]^  Hartmanns  Bildniß.  Ich  war  erstaunt  als  mich 
der  Mann  besuchte,  nachdem  ich  schon  meinen  vorigen  Brief  ge* 
schrieben  hatte,  daß  sein  Gesicht  dem  gestochenen  Profile  so  äußerst 
unähnlich  war.  Ein  solches  Bild  macht  alles  richtige  Urtheil  un* 
möglich,  denn  es  zeigt  wirklich  einen  ganz  anderen  Mann.  Auch 
Herrn  ZoUikofers  Bildniß  fand  ich  frappant,  ob  es  gleich  unendlich 
besser,  und  von  einer  gewissen  Seite  ähnlich  ist.  Der  Hauptmangel 
ist:  (welcher  bei  den  meisten  Zeichnungen  und  Gemälden  vorfällt) 
daß  H.  Z.  das  Haupt  nicht  so  tief  trägt,  und  eine  gewisse  Miene  der 
vertraulichen  Gutherzigkeit  hat,  davon  im  Bilde  nichts  ist.  Am  ahn* 

'  Von  mir  verbessert  aus  »Physiognom  i  e«. 

-  Lücke  ergänzt.  Über  G.  D.  Hartmanns  Beziehungen  zu  Nicolai  vergl.  Otto  Hort= 

mann,  Vossische  Zeitung,  Sonntagsbeilage  1888,  Nr.  32. 

24*  371 


lichsten  ist  H.  Steiners  Bild.  Ich  kannte  es,  ob  ich  ihn  gleich  nur  ein* 
mahl  gesehen  hatte. 

Bei  Gelegenheit  dessen  was  Sie  über  den  K.  v.  Pr.  und  M.  M.  ge* 
sagt  haben,  sehe  ich  die  äußerste  Notwendigkeit,  im  Ausdruck  präzis 
zu  sein  und  auf  gut  Wolffisch  keinen  Ausdruck  zu  brauchen,  der 
nicht  definiert  wäre.  Ich  konnte  bei  dem  Worte  athletisch  nicht  das 
denken,  was  Sie  dachten.  Daß  dem  K.  v.  Pr.  Muth  von  der  Stirne 
und  vom  ganzen  Gesichte  blickt,  ist  wahr.  Aber  es  ist  noch  eine 
andere  Seite  zu  betrachten.  Bedenken  Sie  nur  —  nicht  allein  den 
Krieger  —  und  den  friedlichen  Kaufmann  und  Gelehrten,  sondern 
hauptsächlich  den  Monarchen,  dem  seit  30  Jahren  niemand  wider* 
sprochen  hat,  und  den  Juden,  den  noch  jeder  grobe  Schurke  auf 
der  Gasse  mit  Worten  mißhandelt,  wenns  ihm  einfällt.  Es  ist  natür^^ 
lieh  daß  bei  gleichen  Talenten,  die  letztere  Lage  verursacht,  daß  sich 
das  Gesicht  ganz  anders  in  starken  Liniamenten  formiert  als  in  der 
ersten,  und  daß  man  nur  in  feinen  Zügen  die  unterdrückte  natür* 
liehe  Neigung  siehet. 

Ihr  Sortimentchen  von  Stirnen  und  Nasen  ist  mir  sehr  angenehm. 
Ich  habe  aber  dabei  nochmals  gedacht,  was  ich' schon  oft  gedacht 
habe,  daß  ein  einzelnes  Glied  für  sich  betrachtet,  nie  eine  präzise 
genaue  determinierte  Neigung  oder  Talent  anzeigen,  sondern  der 
ganzen  Summe,  der  ganzen  Bildung.  [?]  Diese  also  vor  sich  betrach* 
tet  zeigen  noch  nicht  Muth  und  Furchtsamkeit,  sondern  Stärke  des 
Geistes  und  Schwäche  des  Geistes  im  weitläufigen  Verstände.  Ich 
habe  einen  Husarenoffizier  von  ungezweifelter  Bravour  und  einen 
sehr  ehrlichen  Mann  gekannt,  der  eine  kugelrunde  Stirne,  und  eine 
eingedruckte  runde  Nase  hatte.  Demnach  würden  Sie  selbst  aus  dem 
Ganzen  seines  Gesichts  gesagt  haben,  daß  er  tapfer  war.  Er  war  es 
nicht  bloß  zum  Fechten,  sondern  so  daß  er  die  schwerste  Unter* 
nehmung,  die  in  seiner  Sphäre  lag,  mit  Muth  und  Besonnenheit  aus* 
führte.  Sonst  war  er  freilich  schwach,  abergläubisch,  und  hatte  ge* 
lehrte  Kenntnisse  nicht  kultiviert.  Hier  fällt  mir  ein  die  Physiogno* 
mik  die  Sie  in  den  Schriftzügen  finden  wollen.  Ich  wünschte, 
daß  Sie  mir  nur  ein  paar  Ideen  gäben,  worauf  diese  beruhen  soll. 
Die  Schriftzüge  sind  erworbene  Kenntnisse  die  sich  beständig  auf 
den  Meister  und  die  Vorschriften  beziehen,  die  uns  in  der  Jugend 
gebildet  haben.  Mich  dünkt,  eine  solche  Hypothese  kann  durch  ein 

372 


einziges  Faktum  umgerissen  werden.  Das  Factum  ist  dieses:  Moses 
M.  hat  auf  seinem  Seidenkontor  einen^  Contorbedienten  namens 
Daniel,  der  ein  guter  ehrlicher  fleißiger  Mensch  ist,  aber  sonst 
weder  an  Talenten  noch  Neigungen  mit  Moses  etwas  ähnliches  hat. 
Dieser  schreibt  eine  M.  so  gleiche  Hand,  daß  z.  B.  in  den  Handlungs* 
büchern  es  Moses  oft  selbst  nicht  unterscheiden  kann,  was  er  oder  der 
andere  geschrieben.  Und  dieser  Daniel  ist  aus  Amsterdam  gebürtig 
und  hat  keinesweges  einerlei  Schreibmeister  mit  Moses  gehabt. 

Ich  habe  in  der  Tat  in  dem,  was  ich  von  der  Schreibart  gesagt 
habe,  nicht  besonders  auf  unseren  beiderseitigen  Freund  H[erderl 
gezielt,  obgleich  meine  Warnung  auch  Ihn  in  vollem  Maße  trifft. 
Als  ich  den  Brief  an  Sie  schrieb,  hatte  ich  sein  Schattenbild  noch 
nicht.  Ich  empfing  es  erst  gegen  das  Ende  der  Messe,  und  weil  ich 
garnicht  dachte,  daß  Sie  es  schon  hätten  (noch  weniger  daß  es  das* 
jenige  wäre,  an  dem  Sie  sich  geirret  hätten)  so  sendete  ich  es  Ihnen, 
als  etwas  neues,  und  wollte  Ihr  Urtheil  wissen. 

Weil  Sie  seiner  »Urkunde«  Erwähnung  tun,  so  erlauben  Sie  mir 
mit  der  Offenherzigkeit,  die  Sie  mir  in  meinen  vorigen  Briefen  ver* 
geben  haben,  zu  bekennen,  daß  ich  von  diesem  Buche  nicht  eine 
hohe  Meinung  habe.  Ich  lasse  freilich  so  schreiben,  wer  so  denken 
und  empfinden  kann  —  aber  dem  menschlichen  Geschlecht  ist  meines 
Erachtens  damit  gar  nicht  geholfen.  Welche  Dreieinigkeit,  welche 
Menschwerdung,  welches  Geheimniß,  welche  Schwärmerei  wollte 
ich  nicht  ebenso  rätselhaft,  so  pomphaft  mit  solchem  Raketenfeuer 
vortragen  und  anpreisen.  Wo  will  ich  nicht  geheimen  Sinn  und  gött* 
liehe  Weisheit  finden,  wenn  ich  bloß  die  Blendlaternen  der  inneren 
Empfindung  und  keine  Abstraktion  oder  Demonstration  anwenden 
darf,  auf  die  unser  Freund  so  unbilligerwcise  schilt.  Ohne  Abstrakt 
tion  und  Zergliederung  kann  ich  doch  keinen  Begriff  präzis  machen. 
Ohne  Demonstration  kann  ich  keinen  Begriff  bei  andern  Menschen 
erregen,  wenn  er  auch  in  mir  noch  so  evident  ist.  Die  Demon* 
stration  und  die  Zergliederung  der  Begriffe  ist  der  Weg 
von  einer  Seele  zur  andern'^.  Ohne  dieses  Mittel  können  wir 
nicht  ineinander  wirken.  Der  Schriftsteller,  der  seine  innige  Emp* 
findung  ohne  alle  Demonstration  andern  mitteilen  will,  gleicht  dem 

^  Von  mir  verbessert  aus  »und«. 

-  Von  mir  gesperrt.  .  « 

373 


Künstler,  der  eine  Statue  in  Eisen  hauen  will.  Sein  Werkzeug  wird 
stumpf,  das  Eisen  springt,  aufs  höchste  wird  der  Kontur  rauh  und 
unvollkommen;  und  derjenige,  der  den  Verstand  überzeugt,  gleicht 
Leygebe,  von  dem  eine  ein  Fuß  hohe  Statue  von  Eisen  in  der  hiesigen 
Kunstkammer  ist^  Dieser  verstand  die  Kunst  durch  eine  Art  von 
Beize  das  Eisen  weich  wie  Ton  zu  machen,  und  stählte  es  nachher 
auf  die  gewöhnliche  Weise.  Nun  erstaunet  der,  der  dies  nicht  weiß 
wie  er  die  feinsten  Aederchen  hat  ausdrücken  können.  Ebenso  muß 
man  durch  kalte  Ueberzeugung,  den  Geist  anderer  Menschen,  der 
Wahrheit  empfänglich  machen,  und  alsdann  kann  ich,  durch  warme 
Imagination,  ihn  so  glühend  machen,  als  ich  selbst  bin.  Aber  durch 
bloße  Sprünge  abgebrochene  Gedankenausrufung,  lasse  ich  jeden 
vernünftigen  Mann  weit  kälter  als  bei  der  kältesten  Demonstration, 
und  wenn  ich  zwölf  !ll  hinsetzte. 

Ich  muß  gestehen,  unser  Freund,  macht  für  so  wenig  Wahrheit, 
die  er  gibt,  allzuviel  Anstalten,  verachtet  andre  Cosmogenien,  und 
Allegorien,  viel  zu  tief,  gegen  eine  Allegorie,  die  um  nichts  evidenter 
ist.  In  Brydones  Reise  nach  Sizilien,  an  der  Stelle,  wo  er  die  Sonne 
vom  Aetna  herunter  aufgehen  sieht,  steht  Herders  ganzer  erster  Teil 
auf  einem  Blatte,  ohne  Prunk,  und  macht  ein  vortreffliches  Bild. 

Die  leidige  Originalsucht  wird  endlich  noch  alle  Gelehrsamkeit 
dem  menschlichen  Geschlechte  unnütz  machen,  ^'er  kann  solche 
Bücher  lesen,  wer  wird  sie  lesen.  Es  ist  wirklich  traurig,  wenn  unsere 
vernünftigenWeltleute,die  kaum  angefangenhaben,  an  der  deutschen 
Literatur  Geschmack  zu  finden,  die  sich  gern  aus  Büchern,  in  ihrer 
Muttersprache  geschrieben,  unterrichten  und  bessern  wollen,  den 
David,  die  gelehrte  Republik,  die  Urkunde,  die  deutsche  Art  und 
Kunst,  die  Frankfurter  Zeitungen,  denW^andsbecker  Boten,  in  die 
Hand  bekommen.  Was  soll  man  sagen,  wie  soll  man  ihnen  das 
Gute,  das  in  der  Republik,  in  der  Urkunde,  in  der  Art  ist,  begreif? 
lieh  machen.  Und  dieß  sind  nicht  etwa  Leute,  auf  die  man  unter 
dem  Namen  Ungelehrter  verächtlich  herabsehen  darf,  sondern  oft 
Männer,  die  das  Beste,  was  unter  alten  und  neueren  geschrieben 
ist,  gelesen  haben,  und  zu  beurtheilen  wissen.  Man  muß  sich  gegen 

'  Über  Gottfried  Leygebes  »aus  einem  Stück  Eisen  verfertigte  Bildsäule  des  Kur; 
türsten  Friedrich  Wilhelm  d.  Gr.«  vgl.  F.  Nicolai  »Beschreibg.  der  Kgl.  Residenz; 
Städte  Berlin  u.  Potsdam«,  Berlin  1769,  S.  543  und  Anhang  S.  561. 

374 


sie  schämen.  Ihr  gelindestes  Urteil  ist:  Paule, du  rasest,  deine  große 
Kunst  macht  dich  rasen.  Und  man  muß  stillschweigen. 

Sie  sagen  bei  allem  dem,  die  Urkunde  ist  eine  Pyramide.  Sie  sagen 
dieß  voll  hoher  Imagination,  und  unbestimmter  Bewunderung.  Ich 
sage  dieselben  Worte,  und  nehme  die  Sache  wie  sie  ist.  Ja!  die  Ur* 
künde  ist  eine  Pyramide:  »Ein  ungeheures  Gebäude,  von  außen 
baufällig  und  inwendig  leer  und  dunkel,  über  dessen  Anlage  man 
erstaunet,  und  dessen  Absicht  man  nur  ungewiß  vermuthen  kann, 
daß  der  Neugierige  einmahl  betrachtet,  und  schwerlich  zum  zweiten 
mahle  wiederkommt.«  Ich  gestehe,  ich  liebe  nicht  die  Bücher  aller 
Art,  welche  Steinmassen  gleichen,  worin  das  Licht  der  Sonne  nicht 
dringen  kann,  und  wenn  sie  noch  so  ungeheuer  groß  wären.  Ich 
wünsche  wohnbare  Häuser  für  das  Ganze  des  menschlichen  Ge« 
schlechts,  und  Palläste  und  Gärten  für  die  wenigen  Auserlesenen, 
die  den  Aufwand  zu  bestreiten  wissen. 

Verzeihen  Sie  dieser  Ausschweifung.  Ich  nage  noch  an  dem  ersten 
Verdrusse  über  die  Lesung  dieses  Buchs,  und  kann  es  noch  nicht 
verwinden,  daß  ein  Mann,  der  so  viele  Talente  hat,  um  dem  mensch* 
liehen  Geschlechte  nützlich  zu  werden,  eigenen  Bewerbes  arbeitet, 
um  ganz  unnütz  zu  werden.  —  Doch  nochmals  genug  hiervon. 

Hr  Chodowiecki  wird  Ihnen  nun  schon  Zeichnungen  gesendet 
haben,  die  er  mir  auch  gezeigt  hat,  der  Christuskopf  gefiel  mir  nicht 
so  gut  als  der  erste,  so  viel  ich  mich  erinnern  kann.  Daß  ich  Ihre 
vielen  Bemühungen  dieserhalb  für  vergeblich  halte, wissen  Sie  schon, 
die  Zeichnungen  die  ich  sehe,  bestätigen  mich  darin,  und  nun  die 
Kupferstiche?  Die  Kunst  kann  bisher  noch  nicht  das  Wahre  der 
Physiognomie  wirklicher  Menschenbilder  genau  und  vollkommen 
ausdrücken,  wie  sollte  sie  ein  übermenschliches  Ideal  ausdrücken 
können. 

Hier  muß  ich  Ihnen  einen  Gedanken  sagen,  der  mir  mit  andern 
ähnlichen  lange  im  Sinne  liegt.  Kein  menschlicher  Charakter  ist  voll* 
kommen,  also  auch  kein  menschliches  Gesicht.  Linie  auf  Linie  ent* 
spricht  der  Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit.  Daher  Ihre 
Verlegenheit  im  Christuskopfe  Größe  und  Güte  zu  vereinigen.  Die 
deutlichsten  Merkzeichen  der  Vollkommenheit  in  den  Extremitäten 
sind  Stirn  Nase  Lippen.  Ich  habe  bemerkt,  wenn  diese  Voll* 
kommenheit  anzeigen,  so  zeigen,  in  einem  lebendigen  Ge* 

375 


sichte  die  dazwischen  liegenden  Linien  allemal  Unvoll* 
kommenheit  respective  an,  und  verbinden  doch  diese  voll* 
kommenenTheile  zu  einem  Ganzen.  Will  man  also  Vollkommenheit 
auf  Vollkommenheit  bilden,  so  kann  man  nicht  einmal  Nase  und 
Lippen  verbinden,  noch  weniger  ein  menschlich  Gesicht  bilden.  Die 
Alten  abstrahierten  aus  den  schönsten  vor  sich  habenden  Formen, 
die  Schönheit,  und  bildeten  schöne  Körper  in  Stein.  Schönheit 
von  allen  übrigen  Eigenschaften  des  menschlichen  Körpers  abstra* 
hiert,  ist  vortrefliches  Ideal  für  den  Künstler,  aber  lebt  nicht.  Gar? 
racioS  Correggio,  Guido  Reni,  mahlten  lebende  Bilder.  Nicht  in 
der  vollkommensten  Abstraktion  der  Schönheit,  aberlebend. 

Und  dies  war  Abstraktion  der  Schönheit.  Aber  Abstraktion  der 
Vollkommenheit?  Ist  die  jemals  versucht  worden?  Gesetzt  Sie 
finden  endlich  einen  schönen  Christuskopf,  würden  Sie  Voll* 
kommenheit  haben?  Ist  in  einem  antiken  Götterangesichte 
der  Ausdruck  der  Vollkommenheit?  Meines  Erachtens  bloß  der 
Schönheit  (metaphysisch  genommen,  Herkules,  schön  wie  Her* 
kules)  der  Apoll  hat  den  meisten  Ausdruck  und  hat  Bewegung, 
Laokoon  den  meisten  Ausdruck  und  hat  Schmerz.  Der  Künstler 
der  den  Hinterleib  der  Venus  von  Medici,  so  über  alle  menschliche 
Form,  schön  bilden  konnte,  der  durch  die  vortrefliche  Stellung 
(die  den  philosophischen  denkenden  Kopf  verräth)  die  er  seinem 
Bilde  gab,  bei  der  schönsten  Form,  einen  so  richtigen  Ausdruck  zu 
finden  wußte,  wie  wenig  hat  er  im  Gesicht  ausgedruckt,  weil  es 
schön  in  der  höchsten  Form  sein  sollte  1  Wie  viel  hat  hingegen  Guido 
in  der  Artemisia  ausgedruckt, die  Bause  gestochen  hat.  (NB. im  Bilde 
nicht  im  Kupferstiche,  der  in  dieser  Absicht  ganz  weit  zurück  ist.) 

Der  schönste  antike  Kopf  den  ich  kenne  in  Absicht  des  Ausdrucks 
der  Vo  llkommenheit,  nicht  der  Schönheit  ist  ein  Kopf  des  Homers, 
davon  ich  einen  schönen  Abguß  auf  meiner  Studierstube  habe. 
Dieser  aber  ist  Bildniß  nicht  Ideal,  —  Bildniß  irgend  eines  Men* 
sehen,  wenn  auch  freilich  nicht  Homers.  —  Doch  ich  komme  wieder 
allzutief  in  eine  Materie,  die  sich  nicht  in  einem  Buche,  geschweige 
in  einem  Briefe  ausmachen  läßt  —  doch  dieses  wenige  überlasse  ich 
Ihrer  reifen  Ueberlegung. 

'  siel  nach  dem  Zusammenhang  offenbar  Annibale  Carracci,  den  Nicolai  auch 
20.  IV.  58  an  Chr.  L.  v.  Hagedorn  erwähnt  (ed.  Torkel  Baden  S.  243). 

376 


Ich  sende  Ihnen  auf  anliegendem  Blatte,  meine  Urtheile  über  die 
mir  zugeschickten  Profile,  und  ich  muß  mir  die  voran  gesetzte  Pro<= 
testation,  die  aufrichtig  und  wahr  ist  zu  gute  kommen  [lassen].  Und 
damit  dieses  kleine  Spiel,  auch  für  mich  lehrreich  werde,  so  müssen 
Sie  mir  melden,  worinn  ich  mich  geirrt  habe  und  worinn  nicht. 

Ich  bessere  mich  merklich.  Dieser  Brief  ist  nur  halb  so  lang  als 
der  vorige.  Der  künftige  soll  noch  kürzer  werden.  Leben  Sie  wohl. 
Ich  bin  mit  besonderer  Hochachtung 

Ew.  Hochehrwürden 

ergebenster  Diener. 

[dazu  3  Randbemerkungen:  Bitte  um  Angabe  physiognomischer 
Literatur  und  eine  technische  Anmerkg  (Herders?)  Schattenbild 
betreffend.] 

Flüchtige  Gedanken  über  die  unterm  20.  May  1774  über* 
sendete  Profile^ 

Ich  habe  es  schon  gesagt,  daß  ich  meine  physiognomischen  Beob* 
achtungen  in  der  wirkl.  Natur  mit  Zusammenrechnung  von  Bil* 
düng,  Bewegung,  Stimme,  Farbe  zu  machen  gewohnt  bin  und  daß 
ich  keine  Fertigkeit  habe,  nach  gemahlten  Bildern  zu  urtheilen. 
Noch  weniger  hat  man,  wenn  man  eine  bloße  Silhouette  hat.  Es 
fehlen  Augen,  Augenbrauen,  Ohren,  die  zurückweichenden  Theile 
der  Nase  und  Lippen  pp.  Die  einzigen  Vortheile  einer  Silhouette 
sind  meines  Erachtens  erstens  daß  sie  doch  wenigstens  einen  Theil 
des  Gesichts,  nämlich  das  äußere  Profil  richtig  angeben,  dahin* 
gegen  der  beste  Maler  aus  freier  Hand  sehr  oft  die  richtige  Abthei* 
lung  verfehlt.  Zweitens  daß  sie  leicht  und  ohne  große  Kosten  ge* 
macht  werden  können,  daß  man  eine  große  Anzahl  Zeichnungen 
dieser  Art  sammlen,  vergleichen,  auch  verschicken  kann,  um  dadurch 
die  unendliche  Verschiedenheit  einiger  äußeren  Gesichtslinien  zu 
erkennen,  und  aus  dieser  Verschiedenheit  gewisse  Schlüsse  zu  ziehen. 
Wenn  ich  von  einer  Silhouette  urteilen  soll,  so  verfahre  ich  fol* 
gendermaßen.  Ich  muß  mir  alle  fehlenden  Theile,  in  Gedanken, 
supplieren.ich  muß  ferner  so  wie  auch  bei  einem  gezeichneten  Bilde, 
Bewegung,  Farbe,  Stimme  hinzudenken.  Das  Profil  war  die  Ab* 
*  Fragment  eines  Nicolaischen  Konzeptes  von  Hand  eines  Schreibers,  Einlage 
zum  voranstehenden  Brief  Nicolais  an  Lavater  v.  12.  VI.  74. 

377 


bildung  der  Natur,  und  sehr  bestimmt.  Hingegen  was  ich  hinzu* 
thue,  sind  Bilder  meiner  Einbildungskraft,  und  von  denen  es  sehr 
ungewiß  ist,  ob  sie  in  der  Natur  sind.  Alle  Bilder  der  Einbildungs* 
kraft  sind  lebhaft  und  glänzend  (glaving)  aber  unbestimmt.  Ich  bin 
also  gegen  diesen  Schimmer  sehr  mißtrauisch,  und  suche  durch  Ver* 
gleichung,  wieder  davon  abzunehmen  was  mir  Imagination  dünkt. 
Ich  bekomme  also  ein  Bild,  bei  dem  gewisse  Dinge  bestimmt  sind, 
die  meisten  nicht,  und  bei  dem  es  ungewiß  ist  ob  es  der  Natur 
gleicht. 

Eigentlich  urtheile  ich  also  nur  über  das  in  meiner  Seele  schwe* 
bende  Bild.  Was  also  mein  Urtheil  vortheilhaftes  u.  nachtheiliges 
enthält,  muß  mehr  auf  jenes  als  auf  die  wirklichen  Charaktere 
gedeutet  werden.  Dieß  muß  ich  im  voraus  sagen,  um  alle  Miß^» 
deutung  zu  verhüten. 

[Hierauf  folgen  nach  1  leeren  Seite,  3  Seiten  »erste  und  flüchtige 
Gedanken«  über  die  Profile  selbst,  von  Nicolais  Hand,  mit  viel* 
fachen  Korrekturen,  die  als  Einlage  zum  voranstehenden  Brief  an 
Lavater  gingen.] 

Lavater  an  Nicolai^ 

Mein  werthester  Herr  Nicolai, 
In  dem  ersten  Halbstündchen  meiner  Ankunft  in  Z[ürich]  find  und 
les  ich  Ihren  Brief  vom  9.  August  ganz  Befremdung  u.  Erstaunen, 
über  den  Inhalt  desselben  ungeachtet  Pf[enninger]  der  mir  entgegen* 
kam  mich  preveniert  hatte.  In  dem  unabsehlichen  Gedränge  in  dem 
ich  mich  itzo  unter  bewillkommenden  befinde,  kann  ich  Ihnen  nur 
dies  sagen:  daß  ich  mit  Wissen  Ihren  Brief  von  . . .  [unleserl.]  keine 
Seele,  als  Pf.  und  einer  Freundin,  die  ganz  im  stillen  lebt,  und  mit 
keiner  Seele  davon  gesprochen  haben  kann,  gezeiget,  daß  keine  Ab* 
Schrift  davon  genommen  woren,  daß  das  Original  ganz  sicherlich 
unter  dem  Haufen  mir  izt  unmöglich  erlesbarer  Briefe  verwahrt  liegt ; 
daß  ich  nicht  begreifen  kann,  wie  jemand  von  diesem  Briefe  Lärm 
macht  von  dessen  Inhalt  ich  vielleicht  in  den  allgemeinst  möglichen 
Ausdrücken  auf  m[eine]r  Reise  einigen  Freunden  gesagt  haben  mag, 
daß  ich  einige  Ideen  draus  benutz[en]  wollen«  —  für  den  Nicht« 
'  1  Blatt  in  4"  Nicolai  eigenh.  auf  d.  Rückseite  »1774  20.  Sept.  Lavater  vermuth= 
lieh  durch  einen  Einschluß  weil . . .  [unleserlich]  3  porto  dafür.  8.  Dez.  [beantw.]« 

378 


Druck  desselben  steh  ich  gut.  Ich  will  Ihnen  aber,  wollen  Sies  erste 
Post  das  Original  send[en]  Ich  leide  täglich  so  sehr  von  Indiscretion 
anderer  mit  meinen  Briefen,  daß  ich  gewiß  äußerst  discret  gegen 
meine  Correspondenten  bin.  Verlassen  Sie  sich  drauf  —  daß  Ihr 
Brief  in  keiner  Hand  war,  die  ihn  abschrieb;  daß  keine  Abschrift 
davon  existieren  kann,  u.  daß  ichs  dem  od[er]  dem,  die  so  was  ge* 
sehen  zu  haben  sagen,  ins  Gesicht  als  Unwahrheit  zurückgeben 
darf.  So  viel  in  gedrängter  Eile.  d.  20.  Aug.  74  Lavater. 

Lavater  an  Nicolai '^ 

Von  Ihnen  mein  wehrtestester  Herr  Nikolai,  erhalt  ich  ohne  eine 
erläuternde  Zeile  eine  sehr  interessante  Gipsbüste  von  einem  Un* 
bekannten.  Ich  bin  Ihnen  sehr  dafür  verbunden,  wenns  damit  gethan 
ist.  —  Nicht  wahr  —  der  Kopf  ist  von  einem  großen  Mann?  Ich  er* 
innere  mich  nicht,  so  eine  Physiognomie  weder  im  Porträt  noch  in 
der  Natur  gesehen  zu  haben.  Es  ist  ein  Kopf  der  noch  eben  recht 
in  mein  Werk  kömmt.  Wenns  nicht  eine  große  Seele  ist,  das  Ur* 
bild,  wenns  nicht  Kenntnis,  Einsicht,  Verstand,  Klugheit,  Geschmack, 
Welt  und  die  herrlichsten,  außerordentlichsten  Anlagen  vereinigt  — 
so  triegt  mich  alles.  Schade  daß  Hypochrondie  die  himmlische  Seele 
trübt!  Sagen  Sie  mir  doch  bald,  ob  ich  mich  irre?  wer  der  tiefsinnige 
Geist  ist? 

Ich  kann  nicht  viel  schreiben.  Ich  danke  Ihnen  aufrichtig.  Lassen 
Sie  mich  und  die  verlachte  Physiognomik  empfohlen  seyn!  Nicht 
mein  Werk,  meyn  ich,  die  Sache!      , 

Zürich  den  22.  Nov.  74. 

Joh.  Casp.  Lavater. 

Lavater  an  Nicolai" 

Weil  ich,  mein  lieber  Herr  Nikolai,  alle  Momente  auf  mein  Werk 
wenden  muß,  so  kann  ich  abermal  nur  recepisse  und  Dank  schrei* 
b[en].  Ihren  werthen  Brief  mit  den  Urtheilen  will  ich  nach  Ostern 
beantworten,  so  Gott  Leben  gibt.  Izt  kann  ich  kaum  zum  Odem 
kommen.  Es  kam  mir  nachher  der  Sinn  an  Locke  bey  dem  Gips* 

'  2  Bl.  in  kl.  8"  auf  d.  Rückseite  Nicolai:  »1774  6.  Dez.  8  beantw.  p.  H.  Cho* 

dowiecki«^. 

''  I  Bl.  in  4",  nach  Leipzig.  Nicolai  »1774.  31.  Dez.  75.  17.  Jan.  beantw.« 

379 


köpfe.  Er  wird  mir  alle  Tage  wichtiger.  Drey  Versuche  der  Zeichner 
sind  fehlgeschlagen.  Chodow[iecki]  also  soll  ihn  zeichnen  . .  .^ 

Im  Voraus  Dank  für  die  Beyträge  und  Hülfe,  die  Sie  mir  leisten 
wollen.  Ich  wünschte,  daß  ich  Ihnen  Capitel  zu  machen  übergeben 
dürfte^.  Zu  den  Kupfern  will  ich  alle  Sorge  tragen.  Fällt  Ihnen  was 
bey,  schreiben  Sie  mirs,  wenns  Ihre  Geschäfte  erlauben,  ohne  Ant* 
wort  zu  erwarten. 

Pfenninger,  in  dessen  Hause  ich  schreibe,  grüßt  Sie.  Noch  kann 
ich  schlechterdings  nicht  begreifen,  wie  jemand  von  Mitheilung 
Ihres  ersten  Briefes  in  fremde  Hände  reden  konnte.  In  Ihren  Briefen 
allen  find  ich  wichtige  Anmerkungen  die  ich  beherzigen  und  mir  zu 
Nutzen  machen  werde.  So  viel  in  heißer  Eile 

Zürich  d.  20.  Dezember  74 

abends  um  8  Uhr 

Lavater. 

Lavater  an  Nicolai^ 

Mein  werthester  Herr  Nikolai! 
Wie  entsetzlich  lange  bin  ich  schon  Ihr  Schuldner!  doch  ich  bin 
nicht  allein  der  Ihrige.  Ich  bins  noch  so  mancher  sehr  liebender 
und  sehr  geliebter.  Ich  habe  mich  für  ein  Paar  Tage  aufs  Land  ge* 
flüchtet  mit  einer  Menge  unbeantworteter  Briefe  und  angefangener 
Arbeiten.  Ich  habe  bey  den  letzten  angefangen,  und  einige  studirt. 
Nun  ist  der  zweyte  Tag  meiner  Ruharbeitszeit  bald  am  Ende,  und 
nun  sollt  ich  hinter  die  Briefe  . . .  ich  weiß  nicht  wo  anfangen?  nun 
es  muß  seyn!  Bey  Ihnen  will  ich  anfangen.  Ich  habe  den  Brief  vom 
12.  Junius  1774  vor  mir. 

Vor  allen  Dingen,  hoff'  ich,  werden  Sie  vernommen  haben,  daß 
ich  Ihre  Freuden  und  Leiden  erhalten  u.  Ihnen  dafür  sogleich  in 
einem  nach  Leipzig  (Herr  Steiner  sagte  mir  daß  Sie  daselbst  seyn 
würden)  gesandten  kurzen  Schreiben,  dem  ein  Brief  von  Zimmer* 
mann  an  mich  beygelegt  war,  mit  seinem  Urtheil  über  Ihre  Rezen* 
sion  in  der  Allg.  Deutsch.  B[ib].]  von  der  Physiognomik,  gedankt 
habe.  Der  Gedanke  wäre  mir  unausstehlich,  daß  Sie  mich  in  Ver* 

'  Folgt  Lavatersche  Umrißskizze  mit  Erläuterung. 

^  Nicolai:  unleserliche  Bemerkg.  am  Rande. 

"  3  Bl.  in  gr.  4"  Nicolai:  1775  Mich[aelis]  Messe  OM.  [=  Ostermesse]  beantw[ortct]. 

380 


dacht  der  Unempfindlichkeit  gegen  Ihre  womit  —  verdiente?  Güte, 
haben  sollten.? 

Es  geht  Ihnen  also  wie  mir.  Sie  mögten  der  Physiognomik  gram 
werden,  so  sehr  raubt  sie  Ihnen,  bey  Ihren  sonst  unerschwinglichen 
Geschäften,  —  Muße.  Die  Nähe,  die  Allgegenwart  des  Gegenstandes 
und  seine  innere  Reizungskraft  hat  freylich  beynahe  etwas  bezau« 
berndes.  Man  kann  kaum  stille  stehen.  Man  wird  ewig  fortgerissen. 

Ich  hab  Ihnen  geschrieben:  »Je  mehr  man  beobachtet  desto  we* 
niger  darf  man  urtheilen«  —  mir  ist  noch  immer  so  u.  dennoch  darf 
ich  sagen  —  daß  ich  täglich  auf  festere  Punkte  komme,  daß  ich  ge* 
wisse  Zeichen  immer  mehr  finde  welche  mir  für  Welt  und  Nach* 
weit  große  Freuden  machen  und  mir  Tiefen  der  Weisheit  und  Er* 
kenntnis  öffnen.  Zugleich  wächst  das  Physiognomische  Gefühl  — 
das  Physiognomischen  Verstand  zeugt  und  von  ihm  hinwiederum 
gezeuget  wird,  so  wie  Critische  Schriften  Geschmack  bilden  u.  Ge* 
schmack  kritische  Fertigkeit.  Das  Physiognomische  Gefühl  —  ist 
nichts  als  Brennpunkt  vieler  zusammentreffender  Beobachtungen, 
zu  denen  wir  noch  keine  bestimmte  symbolische  Zeichen  haben. 

Der  Umfang  der  Physiognomik  ist  so  unendlich,  wie  der  Um# 
fang  jeder  allgemeinen  Wissenschaft.  Metaphysik,  Theologie,  Phy* 
sik,  Mathematik,  Moral,  Arzneykunst  sogar  — welcher  Wissenschaft 
Umfang  ist  nicht  unendlich.  Also  mein  werthester,  soll  das  für  uns 
kein  Einwurf  seyn.Wir  wollen  das  festhalten,  was  wir  haben  und 
das  suchen,  was  wir  finden. können,  u.  so  den  gehörigen  Bey  trag 
zur  menschlichen  Kenntnis  liefern.  Die  Anmerkg.  ist  richtig,  daß 
der  »kleinste  Umstand  öfters  unser  Urtheil  verändert«  —  aber  Sie 
antworten  selbst  »mutatis  mutandis  gehts  der  Philosophie  über* 
haupt  ebenso« 

Allein  nicht  nur  in  dieser  Rücksicht,  sondern  nach  der  ganzen 
Lage  meiner  Umstände,  u.  nach  der  besondern  Natur  der  Sache 

—  kann  und  soll  ich  nur  Fragmente  und  Memoirs  liefern.  Sowie 
man  Physische  mathematische  etc.  vermischte  Abhandlungen  un* 
zählige  liefert.  Es  ist  noch  an  keinen  Zusammenhang,  kein  ganzes  zu 
denken.  O  laßt  uns  erst  Materialien  zusammentragen.  Systemsucht 

—  ist  noch  zehnmal  ärger,  als  einzelne,  noch  so  falsche  Hypothesen. 
Im  vorbeygehen  zu  sagen:  Herr  Steiner,  wo  ich  ihn  recht  ver* 

standen  habe,  sagte  mir,  daß  Sie  sich  immer  vorgestellt,  daß  ich 

381 


nach  dem  von  Ihnen  rezensierten  Plan  arbeiten  werde.  Ich  gabs  ihm 
als  einen  großen  Mißverstand  auf  seiner  Seite  zurück.  Ich  müßte 
unsinnig  sein,  wenn  ich  je  an  so  was  gedacht  haben  sollte.  So  was 
hab  ich  auch  in  keinem  Briefe,  keinem  Gespräche,  am  wenigsten 
öffentlich  zu  versprechen,  mir  einfallen  lassen.  Ich  gebe  was  ich 
geben  kann,  u.  wovon  ich  glaube,  daß  es  der  Mühe  werth  ist,  ge= 
geben  zu  werden,  und  ich  glaube,  geliefert  zu  haben  oder  vielmehr 
angefangen  zu  haben  zu  liefern, was  ich  versprochen.  Wie  gesagt  aber : 
Ich  zähle  darauf,  daß  Hr.  Steiner  Sie  mißverstanden  haben  muß. 

Die  Anmerkung  von  Ihnen  »Man  muß  wohl  untersuchen,  ob 
man  seine  Ideen  auch  selbst  recht  präzise  gefaßt  habe,  denn  sonst 
ist  die  Sprache  unschuldig«  —  ist  wichtig.  Hätten  die  Mahler  ge* 
übtere  Augen,  so  hätten  sie  auch  geschicktere  Hände.  Hätten  wir 
immer  bestimmte  Ideen  —  wie  bald  hätten  wir  bestimmtere  Worte? 

Ich  hoffe  Sie  werden  nun  in  Ansehung  der  Unähnlichkeit  der 
Porträte  zufrieden  und  beruhigt  seyn.  Ich  kann  nicht  machen,  daß 
alle  Porträte  vollkommen  ähnlich  gezeichnet,  noch  weniger  daß  sie 
ähnlich  gestochen  werden.  Ich  habe  mir  unglaubliche  Mühe  ge* 
geben.  Ich  bin  vor  Verdruß  fast  krank  geworden.  Ich  habe  viel 
Hunderttaler  darüber  eingebüßt  —  u.  habe  dennoch  sehr  wenig 
meinen  Zweck  erreicht.  Erst  muß  noch  der  physiognomische  Mah* 
1er  Zeichner  Kupferstecher  gebildet  werden  —  u.  wie  ichs  in  den 
Fragmenten  sagen  werde,  sollte  eine  Art  von  Physiognomischer 
Gesellschaft  oder  Akademie  errichtet  werden,  wo  Zeichner  dazu 
gebildet  würden;  ohne  dieß  kriechen  wir  nur,  wo  wir  fliegen  könn« 
ten.  Was  war  aber  nun,  bei  so  bewandten  Umständen  zu  thun? 
Nichts  als  die  Unähnlichkeit  so  gut  wie  möglich  anzuzeigen*  u.  — 
über  das  zu  reden  was  vor  Augen  war.  Auch  Ihre  wiederhohlte 
Anmerkung  wegen  der  Präzision  u.  Definitionsfähigkeit  der  Aus* 
drücke  (bey  Anlaß  des  Worts  athletisch)  find'  ich  vollkommen  ge* 
gründet;  so  gegründet,  daß  ich  sehr  vermuthlich  oft  Definitionen 
einmischen,  oder  unten  ansetzen  werde. 

Vortreflich,  was  Sie  vom  K[önig]  v.  Pr[eußen]  u.  M[oses]  M[en» 
delssohn]  sagen!  Dennoch  macht  aller  Nichtwiderspruch  gegen 
den  König,  und  aller  Widerspruch  gegen  den  Juden  im  Stirn* 
umriß  wenig  Veränderung. 
'  Nicolai  am  Rande:  sehr  richtig! 

382 


Noch  Eins  —  Nebenein.  Die  Silhouette  von  M[osesJ  M.  die  ich 
von  Chodow.  hatte  und  die  ich  in  meinem  Brief  an  Sie  beurtheihe 
—  ist  unendlich  schlechter,  als  die,  die  mir  Zimmermann  sandte  und 
die  in  dem  1  ten  Theile  steht.  Letztere  ist  zwar  nicht  das  vollkom« 
menste  reinste  Profil,  und  daher  mag  sie  vielleicht  weniger  auf* 
fallend  ähnlich  seyn.  Aber  sie  ist  zehnmal  sprechender  —  und  wenn 
sie's  auch  für  die  Aehnlichkeit  weniger  wäre,  so  ist  sie  als  Charakter 
von  den  entscheidensten  für  seinen  Verstand,  die  ich  in  meinem 
Leben  gesehen. 

Wenn  wir  Ein  paar  Tage  beysammen  wären,  wollt  ich  Sie,  mein 
werthester  Herr  Nicolai,  davon  durch  eine  Induktion  so  groß  Sie 
dieselbe  verlangten  überzeugen,  »daß  —  (freylich  hundertmal  nicht 
aber  dennoch)  sehr  oft  bloß  einzelne  abgesonderte  Züge  von  der 
entscheidendsten  Bedeutung  sind  — «  nur  mit  dem  einzigen  Vor* 
behalt  —  »was  kontrastiert  im  Ganzen,  zieht  sich  wieder  vom  ein* 
zelnen  ab«.  Ich  wollte  Ihnen' vielleicht  mehr  als  200  Linien  zeich* 
nen  —  (und  wenn  Gott  Leben  giebt,  werd'  ichs  im  letzten  Theile 
gewiß  thun)  die  was  bestimmtes  an  sich  bedeuten  —  und  wofern 
kein  contraindicans  da  ist,  zuverlässig  sind.  Ihre  Zuverlässigkeit 
aber  wird  durch  ein  contraindicans  so  wenig  aufgehoben  —  als  eine 
Aktivschuld  deßwegen  an  sich  schlecht  wird,  weil  ich  eine 
gleichgroße  oder  größere  Passive  habe.  Sonst  ist  Ihre  Anmerkung 
richtig:  daß  Stärke  u.  Schwäche  in  weitläufigem  Verstände  — 
eher  als  die  besondere  Richtung  davon  in  den  Silhouetten  zu 
sehen  ist. 

Bey  Anlaß  dessen,  was  Sie  von  einem  Husaren  sagen,  muß  ich 
anmerken,  was  nicht  genug  angemerkt  werden  kann  —  »daß  der 
Mangel  gewisser  positiver  Charaktere  nicht  den  Mangel  der  da* 
durch  ausgedrückten  Kräfte  allemal  voraussetze«.  —  Es  gibt  runde 
Stirnen  voll  Muth  wie  z.  E.  des  Herzog  v.  Württemberg  seine  —  u. 
gerade  mit  eisernem  Muth  —  (ganz  gerade  zwar  sind  immer  in 
Statu  medio  und  meistens  das  Mittelding  zwischen  Blödigkeit 
u.  Muth.) 

Auch  die  Anmerkung  über  das  ausgeschnittene,  oder  den  Kern 
und  die  Hülse  der  Silhouette  ist  gegründet.  Der  Ausschnitt  aufm 
schwarzen  Grunde  immer  der  beßte. 

Nun    ein    Paar   Worte   von   den   Schriftzügen.    Ich   darf  als 

383 


factum  Ihnen  ohne  Radomontade  bezeugen,  daß  ich  von  10  un? 
bekannten  Addressen  von  Briefen  an  mich  —  9  mal  gewiß  ent* 
scheiden  will,  ob  von  einem  langsamen  schnellen  feurigen  ordent* 
Hchen  feinen,  gesetzten,  verständigen,  dummen  Mann  der  Brief  ist. 
Ich  habe  viel  Addressen  ausgeschnitten,  zusammengepappt,  u.  die 
AehnHchkeit  in  der  Manier  ist  auffallend. 

Nehmen  Sie  z.  E.  Reichens^  Handschrift,  wer  sieht  da  nicht  den 
schnellen,  aktiven  entscheidenden  Mann?  In  Herders  nicht  den 
fein,  schnell,  gedrängt  denkenden?  In  Wielands  nicht  den  Mann 
von  Geschmack?  In  Klopstocks  nicht  die  Nachlässigkeit  des  Ge* 
nies?  In  Hallers  nicht  den  Geist  der  Ordnung?  In  Chodowieckis 

—  nicht  den  schnellen  —  unscharfen  Charakter?  In  Moses  M.  nicht 
das  reine  überlegte  feine  Denken.  Die  Einwendung  von  Daniels 
AehnHchkeit  mit  Moses  lass'  ich  als  Ausnahme  oder  als  Beweis 
von  einer  AehnHchkeit  in  tertio  quodam  gelten. 

Und  nun  weils  eben  so  in  Ihrem  Briefe  folgt,  auch  ein  Wort  von 
Herders  Schreibart.  Ich  hoffe  nicht,  daß  mir  jemand  Nach« 
ahmung  dieser  Schreibart  Schuld  geben  werde.  Ich  befleiße  mich 
der  möglichsten  Deutlichkeit  in  allen  meinen  Schriften  also  hoff  ich 
unpartheyisch  zu  urtheilen.  Ich  leugne  nicht  daß  sie  oft  dunkel  sey 
und  noch  mehr  daß  sie  affektirt  scheine;  allein  so  gar  sehr 
sollte  man  ihn  nicht  darüber  näcken.  So  gar  sehr  alles  um  deßwillen 
übersehen.  Es  ist  doch  z.  E.  unverantwortlich  daß  der  Merkur  die 
Urkunde  mit  zwey  superfiziellen  Schulmeisterzeilen  abfertigt  —  u. 
nicht  einmal  so  viel  davon  sagte  als  von  der  Schreibtafel".  Das 
heiß  ich  doch  Monumente  von  rasender  Partheylichkeit.  Von  die» 
ser  Partheylichkeit  scheint  mir  auch  der  Rezensent  von  den  Pro* 
vinzialblättern  in  der  Allg.  Dtsch.  Blibl.]  nicht  frey.  Ein  wackrer 
Mann!  —  aber,  begeht  er  nicht  gerade  den  Fehler  den  er  Herdern 
zur  Last  legt?  Ich  bitte  Sie,  nicht  um  Herders  willen,  denn  er  ver« 
achtet  vermuthlich,  was  so  viele  verständliche  Schwätzer,  die  doch 

'  Der  Buchhändler  Reich. 

-  »Die  Schreibtafel«,  Lieferung  1  u.  2,  Mannheim  1774,  ist  Teutscher  Mercur  1774. 
Dez.,  S.  244  in  einem  Brief  an  den  Herausgeber  sehr  gerühmt;  Herders  Urkunde 
in  dem  Aufsatz  von  Chr.  H.  Schmid  (ebda.  Nov.  176)  sehr  flüchtig  und  von  oben 
herab  abgelehnt;  ein  bissiger  Seitenhieb  gegen  Herders  Urkunde  fällt  auch  in 
der  Besprechung  des  Meiners'schen  »Versuch  über  die  Religionsgeschichte  . . .« 
(Teutscher  Mercur  März  1775.  280.) 

384 


Insekten  gegen  ihn  sind,  —  alltäglich  wahres  u.  dummes  über  ihn 
faseln  —  sondern  um  der  Wahrheit  willen,  Sprache  und  Sache 
zu  trennen! 

Sie  sind  ein  Philosoph  —  und  von  Ihnen  hängt  —  wie  viel  ab  — 
Ich  bitte  Sie  —  verachten  Sie  die  Bitte  eines  Schwachen  nicht,  der 
freylich  nie  Anspruch  auf  Philosophie  machen  kann  und  wird. 

Daß  Herder  zu  heftig,  zu  stachlicht,  zu  zermalmend,  zu  pracht* 
reich,  zu  räzelhaft  ist  —  soll  ich  das  bezweifeln  —  aber  —  was  ist 
dann  dagegen  Positives,  Trefliches  da  —  u.  was  haben  die  ge* 
leistet,  die  ihn  ganz  verurtheilen '? 

Von  Demonstration,  außer  der  Mathematik  —  hab  ich  keinen 
Begriff,  also  übergeh  ich  hier  einen  Punkt  .  .  .  Gründe  darlegen, 
seine  Begriffe  entwickeln  —  ihr  Verhältnis  zeigen  ihre  Aehnlichkeit 
mit  dem  was  wir  fürwahr  halten  —  wenn  Sip  das  Demonstration 
nennen,  dann  sind  wir  einig.  — 

Darinnen  haben  Sie  recht:  Der  Styl  der  von  Ihnen  genannten 
Schriften  schreckt  ab  —  u.  schadet  also  mithin  soll  er  gerügt  wer* 
den  —  aber  Sprach  u.  Sache  getrennt  und  das  häufigtrefliche  auch 
der  Sprache  nicht  unbemerkt  bleiben. 

Einer  meiner  Freunde  ein  Mann  von  tiefer  Einsicht  und  feinem 
Gefühl  hat  die  Urkunde  übersetzt  hin  und  wieder  paraphrasiert — 
und  was  ich  davon  gelesen  hat  mich  noch  fester  an  das  Buch  und 
seinen  Verfasser  attachiert.  Sie  werden  erstaunen,  wie  plan  alles 
wird,  wenn  Sie  die  Schrift  gedruckt  lesen  werden.  Dann,  mein 
wehrter!  laßt  nur  sehen,  ob  das  Werk  noch  eine  Pyramide  in 
Ihrem,  oder  eine  Pyramide  in  meinem  Sinn  sey.  —  »Ein  perenne« 
Monument  menschlicher  Geistes  u.  Schöpfungskraft«  —  und  zu* 
gleich  (denn  Pyramide  drückt  mir  nur  Festigkeit  u.  Himmel* 
strebung  als  Bedeutung  aus  — ):  Pallast,  wo  Könige  u.  La* 
kayen  schlafen,  wachen,  schaffen  und  würken  können. 

Sonst  haben  Sie  wieder  vollkommen  meinen  Sinn  —  daß  Sie 
»wohnbare  Häuser  wünschen  für  das  ganze  menschliche  Ge* 
schlecht,  u.  Palläste  für  die  wenigen  auserlesenen,  die  den  Auf* 
wand  bestreiten  können«  —  vortrefflich!  —  aber  nicht  wahr,  sol* 
eher  Palläste  und  Gärten,  wie  die  Urkunde  —  gibts  doch  zur  Zeit 
kaum  soviel  als  Palläste  in  Vergleichung  mit  Wohnhäusern  ~ 
'  Von  mir  gesperrt. 

25  Sommerfei  d  ,  Friedrich  Nicolai  385 


Ueber  das  Christusideal  in  den  Fragmenten,  Ich  mögte  nur 
harmonische  Charakter  von  Reinheit,  Unschuld,  Weisheit,  Güte, 
Kraft,  Hoheit,  Dehmuth  zusammenvereinen  —  und  das  Bild  nenn 
ich  dann  Christusbild. 

Die  Verlegenheit,  Größe  und  Güte  zu  vereinigen  ist  freylich 
groß,  aber  sie  wäre  viel  geringer,  wenn  der  Künstler  ders  ausdrücken 
soll,  mir  zur  Hand  wäre  oder  meinen  Sinn  wüßte.  Erinnern  Sie  sich 
eines  herrlichen  Plato  in  Lipperts  Kabynette.  Ist  da  nicht  der  reinste 
Verstand  mit  der  edelsten  Güte  vereint?  Güte  und  Weisheit 
heben  sich  nicht  auf  aber  das  schwerste  ist  die  Harmonie  der  Pro* 
portion  ausdrücken. 

Vollkommenheit  . . .  o  Gott . . .  welch  eine  endlose  Weitel  Ich 
prätendiere  nicht,  daß  diese  ich  oder  jemand  im  Christusbild  er* 
reiche;  aber  ich  will  erstens  zeigen,  daß  die  meisten  Christusköpfe 
ohne  Verstand  gemacht  sind;  dieß  ist  immer  gute  physiognomische 
Uebung!  Zweitens,  daß  noch  etwas  besseres  möglich  ist,  wenn  man 
mit  Nachdenken  und  Gefühl  arbeitet. 

Sie  haben  recht,  die  Alten  suchten  mehr  Schönheit  —  freylich 
relative  auf  den  Charakter,  als  das  was  wir  idealische  Vollkommen* 
heit  nennen.  Aber  die  Alten,  obwohl  noch  nie  überstiegen,  noch 
nie  erreicht,  sind  doch  erreichbar  —  und  übersteigbar] 

Den  Kopf  des  Homers  kenn'  ich.  Er  ist  wie  Sie  sagen  Bildniß 
nicht  Ideal. 

Auch  darinn  haben  Sie  recht,  daß  um  ganz  von  einem  Bilde  ur* 
theilen  zu  können,  die  Köpfe  3  fach  oder  ich  wollte  wohl  sagen 
zwölffach  gezeichnet  seyn  sollten  —  a)  ganz  en  face  b)  3/4  Gesicht 
c)  rechtes  Profil  d)  linkes  Profil  e)  in  d.  gewöhnlichsten  Ruhe  f )  in 
der  gewöhnlichsten  Bewegung  g)  im  Schattenprofile  h)  Halb 
Profil  i)  von  hinten  im  Schatten  k)  von  oben  herab  1)  die  ganze 
Statur  etc. 

Mein  Blatt  und  meine  Zeit  ist  am  Ende.  Ich  hätte  noch  unendlich 
vieles  zu  sagen  — von  dem  Sendschreiben^  z.E.,  dieser  alle  Augen* 
blick  als  lügenvoll  erwey [ß]liche  Geburt  von  Intoleranz  und  Buch* 
händlerneid  —  aber  ich  habe  mir  fest  vorgenommen,  mit  meinen 
Mitbürgern,  die  ich  nie  beleidigt  habe  als  daß  ich  —  nicht  mehr 
sie  gelobt  —  keinen  Krieg  anzufangen.  Nur  dieß  einzige  sey 
'  Gemeint  J.  J.  Hottingers  »Sendschreiben«. 

386 


Ihnen  (in  Rücksicht  auf  das,  was  Steiner  mir  von  Ihnen  sagte)  be* 
theuert  —  »daß  ich  sie,  die  Verfasser,  aufforderte,  die  Geschichte, 
die  mir  nachtheilig  seyn  soll,  aufzusetzen;  daß  sie  mirs  schriftlich 
positiv  versprochen,  triumphierend  versprochen  —  und 
nicht  Wort  gehalten,  auch  nicht  halten  werden.«  —  Nun  —  was 
könnt  ich  vor  aller  Welt  thun? 

Die  Anmerkungen  über  Ihre  oft  treflichen  Urtheile  über  die  Sil« 
houetten^  bin  ich  Ihnen  noch  schuldig.  Bald  sollen  Sie  dieselben 
auch  noch  haben.  Izt  hab  ich  keine  Zeit  mehr.  Die  Kupfer  die  ich 
von  Ihnen  noch  habe  sollen  auch  nicht  vergessen  werden.  Ich  danke 
nochmals  und  bitte  ab.  Leben  Sie  recht  wol.  Wenn  ich  mit  einer 
kleinen  Sammlung  von  Physiognomischen  Zeichnungen  aufwarten 
kann,  so  thu  ichs  mit  Freuden.  Ihr  Locke  wird  mich  daran  er« 
innern. 

d.  27.  Sept.  75  Hegi  bey  Winterthur 

J.  C.  Lavater. 

Nicolai  an  Lavater" 

Leipzig  d.  30.  April  1776. 

. . .  Ich  habe  mich  mit  dem  ersten  Theile  Ihrer  Physiognomik  einen 
großen  Theil  des  Sommers  beschäftigt.  Ich  habe  ihn  wohl  vier* 
mahl  durchgelesen.  So  sehr  ich  einsehe,  welcher  ungeheure  Schritt 
in  dieser  Wissenschaft  gegen  das  beste  vorige  physiognomische 
Buch,  durch  Ihr  Werk  geschehen  ist;  so  will  ich  Ihnen  doch 
mit  der  importunen  Offenherzigkeit,  die  mir  natürlich  ist,  und 
die  Sie  schon  aus  meinen  Briefen  an  Sie  und  Zimmermann 
kennen,  gestehen,  daß  ich  damit  oft  Stunden  lang  höchst  miß« 
vergnügt  gewesen  bin.  Nicht  als  wenn  ich  nicht  viele  gute  und 
vortreffliche  Sachen  darin  gefunden  hätte,  sondern  weil  ich  so  sehr 
oft,  in  meiner  Erwartung  getäuscht  wurde,  wenn  ich  sie  gewiß  be« 
friedigt  hoffte. 

'  S.  oben  S.  378. 

^  6  Bl.  in  gr.  4".  Konzept  von  Hand  eines  Schreibers,  mit  eigenhändigen  Korreks 
turen  Nicolais.  Dieser  Brief  ist  hier  sehr  gekürzt  wiedergegeben,  da  das  meiste 
teils  in  den  vorhergehenden  Briefen,  teils  in  den  beiden  Nicplaischen  Rezen« 
sionen  der  Physiognomik  berührt  wurde. 

25*  387 


Nachdem  ich  über  alles  dieses  vielfältig  nachgedacht  habe;  so 
finde  ich  freylich,  daß  unsere  ganze  Art  zu  denken  und  zu  verfahren 
so  direkt  unterschieden  ist,  daß  wir  auch  in  dieser  Sache  nicht  ganz 
zusammenkommen  können  . . . 

...  Sie  geben  sehr  viel  auf  das  Physiognomische  Gefühl. 
Mit  Recht.  Ich  setze  auch  alles  darin,  aber  nur  für  mich  selbst. 
Gegen  einen  andern  kann  ich  mich  darauf  gar  nicht  berufen. 
Ich  muß  gleichsam  davon  abstrahieren.  Ich  muß  das  dunkle  Ge* 
fühl  präziser  machen,  ...  ich  muß  es  allgemein  machen,  sonst 
kann  ich  unmöglich  die  physiognomische  Kenntnis  anderer  er* 
weitern. 

Wie  sehr  hätte  ich  gewünscht,  daß  Sie  alle  Charaktere,  beson* 
ders  Ihrer  Freunde,  ganz  weggelassen  hätten!  Die  Freundschaft 
gleicht  einem  Nachtlichte,  das  den  Objekten  ein  Relief  gibt,  das 
sie  selbst  nicht  haben  . . , 

Ihre  Gallerie  von  schattierten  Bildnissen  thut  in  Vergleichung 
gegen  die  Kosten  nicht  Wirkung  genug.  Eine  einzige  Stunde  im 
Concerte  oder  in  der  Komödie,  oder  wo  sonst  viele  Leute  sind,  sich 
mit  Verstände  umgesehen,  thut  besser  —  wenn  Sie  aber  diese  Bilder 
künftig  zu  Belegen  des  4ten  Theils  brauchen  wollen  —  vortreflich! 
aber  dann  befürchte  ich  sehr  die  Beschreibung  schadet  Ihnen.  Wägen 
Sie  doch  ja  die  Worte  ab.  Sie  sagen  z.  B,  in  dem  Charakter  des 
Gr[afen]  v.  St[ollberg]  er  sey  unverführbar.  Erstens  frage  ich 
wozu  kann  er  nicht  verführt  werden?  Zum  Geize?  zur  Wollust? 
zur  Ehrsucht?  zum  Müßiggange?  Zweitens  ohne  an  den  Mann  zu 
denken,  der  aller  Hochachtung  würdig  seyn  mag,  sage  ich  a)  Nie* 
mand  kann  man  überhaupt  unverführbar  nennen,  als  dessen 
Tugend  die  wichtigsten  Proben  ausgestanden  hat.  b)  Charaktere 
dieser  Art  sind  gewiß  am  leichtesten  verführbar.  Es  ist  gleichsam 
nur  Eine  Laufbahn  in  der  Welt,  der  sie  folgen  können.  Setzt 
man  sie  aus  dieser,  und  wie  leicht  ist  dieses  oft,  so  darf  man 
wahrhaftig  nicht  so  fein,  wie  Choiseul  oder  Vergennes  seyn, 
um  solche  Leute  dahin  zu  bringen,  wohin  sie  selbst  nie  gedacht 
haben  .  . . 

lEs  folgen  Anmerkungen  Nicolais  über  die  Physiognomik  der 
Extremitäten,  besonders  der  Geschlechtsteile.] 

. . .  Ihre  Beyspiele  von  den  Schriftzügen  berühmter  Gelehrter  sind 

388 


ganz  gut,  nur  fürchte  ich,  mehr  a  posteriori  abgezogen.  Auch  schei* 
nen  sie  mir  nicht  richtig  genug  charakterisiert  zu  seyn.  z.  B.  »in 
Herdern  den  fein,  schnell,  gedrängt  denkenden,  in  Wielanden  den 
Mann  von  Geschmack«.  Wieland  denkt  fein  und  schnell  wie  Her« 
der.  Seine  Hand  scheint  übrigens  sich  einer  Kaufmannshand  zu 
nähern.  Ich  kenne  Leute  ohne  allen  Geschmack  wenigstens  in  Ab« 
sieht  auf  Schriften  die  ebenso  schreiben. 

Wegen  Herders  Urkunde  kommen  wir  wohl  nicht  zusammen  . . . 
Von  den  Provinzialbriefen  will  ich  gar  nichts  sagen.  Das  Ver* 
fahren  gegen  Spalding  ist  niederträchtig,  dafür  erkennt  es  der  größere 
Theil  des  Publikum  so  wie  auch  der  weisere. 

Leibniz  schrieb  mit  Succeß  in  der  Sprache  der  Rosenkreuzer.  Ich 
glaube  im  Ernst,  man  dürfe  kein  Leibniz  seyn,  um  Herders  Sprache 
zu  schreiben.  Es  hat  ohndem  mit  der  Urkunde  noch  eine  gewisse 
besondere  Bewandniß,  über  die  ich  mich  nicht  näher  erklären  darf 
und  mag. 

.  . .  Was  für  ein  Physiognomisches  Kabinet  mag  es  seyn,  das  in 
Münster  herauskommen  soll?  Man  sagt  ein  Mathematicus  Müller 
in  Münster  soll  der  Verf.  sein^ 

.  . .  Nur  noch  ein  Wort  von  dem  bekannten  Sendschreiben,  dessen 
Sie  erwähnen.  Was  in  der  Bibl.  geurtheilt  worden,  wissen  Sie  schon. 
Daß  die  Verf.  der  Bibl.  frey  über  alle  Vorfälle  ihre  Meinung  sagen, 
ist  nöthig.  u.  wird  auch  nie  unterbleiben.  Sie  können  es  im  Ganzen 
auch  nicht  mißbilligen.  Was  mich  selbst,  en  particulier  betrifft,  so 
weiß  ich  von  den  eigentlichen  Streitigkeiten  mit  Ihren  Zürcher 
Landsleuten  nicht  ein  Wort . . .  daß  ich  mit  vielen  Ihrer  Schriften 
und  Schritte,  sehr  unzufrieden  bin,  wissen  Sie  von  mir  selbst 
durch  Herrn  Steiner  und  durch  Hr.  Zimmermann.  Ich  gestehe 
es  Ihnen  nochmals,  da  Sie  mich  selbst  darauf  bringen,  ich  weiß 
nicht,  wie  ich  manche  von  Ihren  Schritten  entschuldigen,  wie 
ich  manche  Ihrer  Behauptungen  vereinigen  und  wie  ich  manche 
Stellen  Ihrer  Schriften  verstehen  soll...  Darf  ich  es  sagen:  Sie 
haben  zu  den  meisten  Anfällen,  die  auf  Sie  geschehen,  selbst 
Gelegenheit  gegeben.  Sie  haben  vereinigen  wollen,  was  nicht  ver* 
einigt  werden  kann.  Dummheit  und  Klugheit  —  Ich  halte  nehm* 
lieh  Obereit,  Hasenkamp  Gaßnern,  Jung  u.  s.  w,  ^iir  dumm  — 
'  Vgl.  über  die  Rezension  dieser  Schrift  in  der  AUg.  Dtsch.  Bibl.:  oben  S.  235. 

389 


Spaldingern  [sie],  Teller,  Semler  u.  s.w.  im  Gegensatz  dieser 
für  klug.  Geradezu  —  deutlich  —  weniger  feyerlich  —  wünschte 
ich  Sie  oft ... 

...  Sie  sehen,  ich  gehe  ganz  geradezu  zu  Werke.  Ich  verheele 
meine  Gedanken  nicht.  Aber  Gott  weiß  es,  daß  ich  niemand  wehe 
thun  will.  Ihnen  am  wenigsten.  Wahrheit  suche  ich  und  suche  sie 
mit. Eifer 

Ich  bin  von  ganzem  Herzen 

Ihr  ergebenster 
Nicolai. 

, . .  Im  AugenbHck  bringt  mir  H.  Hauptmann  Landolt . . .  Ihren 
Brief  vom  25.  März.  Dieser  Mann  hat  eine  sehr  interessante  Phy* 
siognomie.  Ich  habe  mich  mit  meinen  schwachen  Augen  . .  .  nicht 
satt  an  ihm  sehen  können  . . . 

Lavater  an  Nicolai^ 

,. .  Alle  Ihre  Erinnerungen  Aeußerungen,  mein  werthester  Herr 
Nicolai,  über  die  Physiognomik  oder  vielmehr  den  ersten  Theil 
meiner  Fragmente,  nehm  ich  besonders  Ihrer  Aufrichtigkeit  wegen, 
mit  Lieb  und  Dank  an.  Ich  werde  gewiß  manches  davon  benutzen. 
Das  sollen  Sie  sehen.  In  alles  kann  ich  mich  nicht  finden.  Es  wäre 
Thorheit,  Sie  immer  auf  meinen  Gesichtspunkt  zu  stellen.  Unsere 
Art  zu  sehen  ist  so  verschieden,  muß  so  verschieden  seyn,  als  unsere 
Stirnen.  Nur  dieses  —  vergessen  Sie  die  Mannigfaltigkeit  meines 
Publikums  nicht.  So  viele  ohne  Nicolais  Augenknochen,  kaufen 
das  Werk.  Es  ist  unmenschlich  diesen  nichts  zu  geben  und  diese 
leben  nur  von  Empfindung  [Nicolai  am  Rande:  auch  ich  lebe  in 
Empfindung  mehr  als  Sie  denken.  Ich  kenne  das  allgemeine  Publi* 
kum,  es  liebt  deutlichere  Begriffe  mehr  als  man  uns  jetzt  glaubend 
machen  will.]  Am  Ende?  —  Ich  appellir  immer  aufs  Ende  — 
und  aufs  ganze  der  Leserwelt.  Viele  Gäste,  viele  Trachten,  Genug, 
wenn  jeder  gut  und  genug  hat,  obgleich  ihm  einige  Trachten 
widrig  sind. 

Dank  für  die  besonders  nöthige  Erinnerung  die  Worte  genau  ab* 
zuwägen.  Unverführbar  ist  mit  ein  Beispiel.  Ich  weiß  nicht  mehr 

'  2  Bl.  in  4".  Auch  dieser  Brief  ist  hier  gekürzt  wiedergegeben. 

390 


in  welchem  Zusammenhang  ichs  sagte?  Ihre  Anmerkungen  ganz 
treflich. 

Der  Versuch,  den  Sie  mir  mitzutheilen  die  Gütigkeit  haben,  ist 
die  Erfindung  eines  äußerst  ingeniösen  Kopfes  \  Ich  mag  und 
darf  an  keine  Versuche  dieser  Art  denken  —  das  gäbe  Stoff 
für  die  Sendschreiber!  auch  kann  ich  aufrichtig  sagen,  daß  ich 
hierüber  an  niemandem  in  der  Welt  eine  einzige  Beobachtung 
zu  machen  Gelegenheit  gehabt  habe,  und  daß  ich  bey  dem 
einzigen  Menschenpaar,  wo  ich  solche  machen  dürfte,  an  mir 
u.  meiner  Frau,  nicht  Herz  genug  [Nicolai  am  Rande:  nicht 
Herz?  nil  admirari  nil  timere]  habe  eine  zu  machen.  Diese  mir 
natürliche  Blödigkeit  ists,  die  mich  hundert  Beobachtungen,  die 
weniger  Erröthung  mit  sich  führen,  zu  machen  schlechterdings 
abhalten.  Ich  dank  Ihnen  indeß  doch  für  Ihre  mir  zum  Theil  neue 
Winke. 

[Folgt  eine  Anzahl  physiognomischer  Finzelbemerkungen, 
Nicolais  Anmerkungen  aus  dem  vorhergehenden  Brief  beipflich* 
tend.] 

. . .  Kein  Wort  also  weiter  von  Herder  —  von  dem  eben  ein  Ge* 
rüchte  geht,  er  sey  gestorben? 

. . .  Ueber  das  Sendschreiben  sag  und  schreib  ich  kein  Wort 
mehr.  Das  Paket  ist  versiegelt.  Nur  dieses  einzige  Wort  in  aller 
Sanftheit.  Ich  bin  überzeugt  alle  Welt  u.  Hottinger  selbst  muß  Ihre 
Anzeigen,  Auszüge  und  Nicht*Auszüge  partheyisch  finden,  ob* 
gleich  vielleicht  der  Verf.  unpartheyisch  zu  seyn  geglaubt  oder  ge* 
träumt  haben  mag.  Nur  mögt  ich  wissen,  wenn  ich  gethan  hätte, 
was  mir  gethan  worden  —  ich  gelogen  hätte  —  erweislich  gelogen  — 
was  dann  Nikolai  gesagt  hätte?  hätte  sagen  müssen?  aber  ich  will 
kein  Wort  mehr  sagen. 

In  Ansehung  der  Neue  Aufsätze  —  was  kann  ich  sagen?  Schlett* 
wein  ist  allein  der  Verfasser,  und  ich  —  sag  Ihnen  vor  Gott  als  ein 
ehrlicher  Mann,  daß  ich  nie  an  manche  seiner  unverdautesten  Gril* 
len  gedacht  habe,  obgleich  ich  einen  reellen  Einfluß  Christi  oder 
Gottes  durch  Christum  auf  alle  Glaubenden  —  mit  allen  Christen 

'  Er  betrifft  die  Proportion  der  mensura  penis  erecti  zum  Daumen,  sowie  ßeob= 
achtungen  über  die  Proportionalität  des  weiblichen  Körpers  und  damit  zusam= 
menhängende  Folgerungen  für  die  Empfängnis. 

391 


aller  drey  Hauptreligionspartheyen  annehme^  das  können  Sie  in 
meinen  Schriften  offen  finden  . . . 

Ich  kann  nichts  mehr  schreiben,  als:  Laßt  uns  beyde  mehr  warten 
lernen,  u.  ieder  nach  seiner  Kraft  Gutes  thun  —  und  einander  dul* 
den,  weil  der  uns  auch  duldete,  der  uns  beyde  gleich  irren  sieht. 

Amen. 

. . .  Baden,  4  Stunden  v.  Zürch  d.  21.  May  76 
J.  C.  Lavater. 

Nicolai  an  Lavater- 

[Nicolai  verwertet  seine  Randbemerkungen  zu  Lavaters  Brief  in 
ausführlicher  Weise.  Zum  Problem  des  »reellen  Einflusses  Christi 
auf  die  Glaubenden«  bemerkt  er:]  »Dis  war  es  hauptsächlich,  was 
ich  beweisen  wollte  daß  Sie  es  behaupten.  Wir  reden  hier  unter  vier 
Augen  und  wollen  uns  nicht  hinter  Worte  stecken.  Können  und 
wollen  Sie  die  Worte  real  und  Einfluß  schriftmäßig  und  ver* 
nunftmäßig  erklären,  so  daß  diese  Erklärung  mit  allem  was  Sie 
sonst  in  Ihren  Schriften  darüber  geäußert  haben  übereinstimmt 
hingegen  mit  Schlettweins  Meinung  nicht  übereinstimmt  so 
werden  Sie  mir  Magnus  Apollo  seyn.  Stimmt  hingegen  Ihre 
Meinung  mit  Schlettweins  Meinung  überein,  so  ist  wohl  wenig 
daran  gelegen  ob  Sie  auch  alle  Hypothesen  annehmen,  wodurch 
er  diese  Meinung  bestätigen  will.  Und  Hypothesis  gegen  Mei* 
nung  gesetzt  ist  jene  (es  sey  ohne  alle  Beleidigung  gesagt)  nicht 
das  unsinnigste  bey  der  Sache.  Doch  transeat«  . . .  [Nicolai  findet 
diese  Meinung  auch  in  den  Physiognomischen  Fragmenten  gel* 
tend  gemacht  und  verweist  auf  die  Stelle  Teil  I,  S.  80:  »Ein  solches 
Gesicht  wie  Judas  kanns  keine  Woche  in  Christi  Gesellschaft 
aushalten.«] 

[Es  folgen  eine  Anzahl  physiognomischer  Einzelbemerkungen, 
besonders  über  die  »Physiognomik  der  Wollust«;  neuer  Wider* 
Spruch  gegen  Lavaters  Beurteilung  der  Schriftzüge,  Bemerkungen 

'  Nicolai  hat  »reellen«  unterstrichen  und  bemerkt  am  Rande:  »Ist  mir  genug. 
Glauben  Sie  dieses,  so  kanns  gleichgültig  seyn,  durch  welche  Hypothese  od. 
Traum  es  zu  erweisen  gesucht  wird.« 

•  Kopie.  3  Bl.  in  4**  von  Hand  eines  Schreibers.  Auf  S.  6  Nicolai:  »1776  11.  Juli 
Kopie  einer  Antwort  an  H.  Lavater  in  Zürich«. 

392 


zur  physiognomischen  Literatur,  insbesondere  über  den  auch  in 
der  Rezension  AD  Bibl.  XXIX  erwähnten  Sophisten  Adamantius, 
der  über  Aristoteles  gestellt  wird.] 

Lavater  an  Nicolai^ 

Ich  danke  Ihnen  zum  voraus  mein  gütiger  Herr  Nikolai  für  die  Ab* 
güsse,  die  Sie  mir  als  Geschenk  von  Ihnen  ankündigen  u.  von  denen 
ich  zum  voraus  weiß,  daß  sie  mir  sehr  lehrreich  seyn  werden.  Zum 
Studium  der  Physiognomik,  däucht  mir,  sind  Gipsabgüsse  das  un* 
entbehrlichste  Elementar*Buch  — . 

Noch  hab  ich  Ihnen  für  den  König  in  Preußen  nicht  gedankt.  — 
Ich  muß  aber  gestehen,  daß  er  mir  unausstehlich  war.  Ich  konnte  ihn 
nicht  dulden.  Er  ist  ohne  Sinn  und  Seele,  Fleiß  u.  Kunst  gemacht. 

Ich  arbeite  nur  an  dem  4ten  Theil,  u.  dränge  zusammen  so  viel  ich 
kann;  geize  mit  Worten  und  bin  in  meinen  Urtheilen  ganz  trok* 
ken  und  kalt.  Was  ich  sonst  sage,  hab'  ich  Beruf  zu  sagen,  u.  erwarte 
darüber  alles,  was  ich  erwarten  kann,  zu  erwarten  gewohnt  bin,  u. 
mich  nicht  irre  machen  lasse. 

Lichtenbergsäußerstschön  geschriebene,  u.  äußerst  seichte  anti* 
physiognomische  Abhandlung  im  Göttingerkalender  werden  Sie 
gesehen  haben.  Ein  mathematischer  Kopf  kann  sagen  —  »Talente 
bezeichnen  sich  nicht  durch  die  festen  Teile«  —  das  heißt  —  die  Natur 
handle  nach  Gesetzen  in  den  kleinsten  leidenschaftlichen  Bewegun* 
gen  —  und  nach  Willkür  in  der  ersten  Bildung  des  Menschen! 
Ich  werde  mit  sanfter  Vernunft  und  lichtheller  Deduktion  ihn  ad  ab* 
surdum  führen". 

Von  Lambert  —  hätt  ich  einen  Schattenriß,  ein  Porträt  —  u.  ach! 
wie  gern  einen  Gipsabguß  gehabt.  Es  ist  Schande  fürs  Jahrhundert 
solche  Köpfe  ohne  Abbildung  untergehen  zu  lassen. 

Sollten  Sie  Ihres  Königs  od.  Mendelssohns  od.  Spaldings  Tod  er* 
leben,  so  bitt  ich  Sie  so  sehr  ich  kann  den  Moment  ja  nicht  vorüber 
gehen  zu  lassen,  Abgüße  zu  veranstalten. 

So  viel  in  Eile.  Ueber  andere  Dinge,  so  sehr  ich  Ursach  hätte  mich 
höchlich  bey  Ihnen  zu  beklagen,  weil  der  Impertinenzen  gewisser 
Leute,  die  Religion  haben  wollen,  u.  die  erste  Grundsätze  der  fläch* 

'  1  Bl.  in  4".  Auf  der  Rückseite  Nicolai:  1777  2.  Nov. 
■'  Im  Deutschen  Museum  1778,  April  S.  289ff. 

393 


sten  Gerechtigkeit  vergessen,  kein  Maß  ist  —  izt  kein  Wort  und 
nie  kein  Wort,  Nur  das  Eine,  —  so  wahr  Sie  dieß  lesen  —  »wenn 
Sie  unsichtbar  mich  handeln  und  schreiben  und  reden  hörten  und 
sähen,  Sie  würden  sagen:  Non  putarem«  —  und  gewiß  nicht  mehr 
zugeben  —  daß  etc. 

Ich  bin  Ihr  aufrichtigverbundner 

Zürich  Lavater. 

den  25.  Okt.  77. 

[Es  folgen  anschließend  die  Briefe  Lavaters  und  Nicolais  aus  dem 
Jahre  1784,  deren  wichtigste  Stellen  Alfred  Stern  (Mirabeau  u.  La* 
vater,  Deutsche  Rundschau  118,  4 19  ff.)  veröffentlicht  hat.] 


I 


394 


REGISTER 


A.  Nicolais  Schriften 


Abhandig.  v.  Trauerspiel:  22.  25.  30.  31. 

45.  188.  189.  190.  252 
An  den  Magum  im  Norden :  1 37  ff.  18 1  f. 
Anhang  zu   Schillers  Musenalmanach: 

16.  37.  183.  246.  261.  275.  301.  315 
Beschreibung  V.  Berlin  u.  Potsdam:  58. 

256.  374 
Briefe  über  d.  itzigen  Zustand:  4,  15.  23. 

29.  30.  31.  32.  34.  35.  38.  39.  40.  41.  42. 

43.  44.  47.  48.  54.  55.  58.  83.  95.  110. 

132.  171.  183.  189.  270.  332 
Ehrengedächtnis  f.  Thomas  Abbt:  16.  26. 

59.  163  ff.  166.  167.  369 
Ehrengedächtn  is  f.  J.  J.  Engel :  1 6 
Ehrengedächtnis  f.  Justus  Moser:  37. 317 
Eyn  feyner  kl.  Almanach:  4.  148.  154. 

191.  192.  208.  280.  289-301.  302.  328  f. 

330.  338  f. 
Geschichte  eines  dicken  Mannes  .  . .:  17. 

48.62.  104.  261.  273.  297 
Gespräche  Chr.  Wolffs  m.  e.  Kantianer 

(Vorrede) :  6.  63.  209.  273 
Philosophische  Abhandlungen:   14.  16. 

18.  273 
Reisebeschreibung:  9.  17.  18.  20.  43.  48. 

60.  63.  219.  246.  296.  310.  312.  317 
Schreiben  an  den  Hrn.  Prof.  Lichten^ 

berg:  15.  41.  46 
Schrift  gegen  Buhle:  6.  18.  202.  211 
Schrift  über  den  Tempelherrnorden:  6. 

209.  315 
Sebaldus  Nothanker:  5.  12.  17.  19.  43. 

48.  52.  59.  62.  103-109.  138. 139ff.  146. 

149.  150ff.  154ff.  180. 192 ff.  195 f.  203. 


207.  210.  216.  263.  268.  271.  282 tt 

324.  327.  336 f.  338.  340  ff.  369 
Sempronius  Gundibert:  11.  14.  24.  35. 

51.  62.  104.  261.  273.  301 
Über  das  Schreiben  des  Hrn.  Hofrats 

Schlosser  .  .  .:  310 
Über  meine  gelehrte  Bildung:  11.  14.  52. 

71.310 
Untersuchung,  ob  Milton  . .  .:  18 
Vademecumf.  lustige  Leute  (Vorreden) : 

48.  59 
Vertraute  Briefe .  . .:  6.  14.  15.  18.  24.  62. 

63.  89.  188.  227.  251.  261.  273f. 
Werthers  Freuden:  59.  60.  65.  157.  224. 

225.  247-275.  327.  338.  380 
Beiträge  Nicolais  zu 

Allgem.  Dtsch.  Bibliothek:  15.  16.  28. 

29.  31.  36.  41.  42.  43.  44.  45.  46.  47. 

48  f.  53.  55.  56.  57.  58.  59.  60.  75.  76. 

77.  79.  81.  82.  90.  91.  93.  100.'  102. 

143ff.  148.  152.  (153).  155.  156f.  166. 

(174).  178.  190.  204f.  207.  208.  214. 

218.  222.  231.  235.  236.  237.  241.  242. 

246f.  251.  257.  259.  269.  271.  272.  278. 

280.  281.  308.  323.  324.  326.   328 f. 

341.  380. 

Bibliothek  d.  seh.  Wissensch.  u.fr.  K.: 

22.  23.  24.  26.  28.  32.  35.  37.  41.  46. 

54.  56.  70.  71  f.  90.  91.  245 

Briefe,  die  neueste  Literatur  betretend: 

24.  25.  29.  31.  32.  34.  36.  37.  38.  39. 

43.  46.  47.  48.  49.  52.  55.  59.  60  90. 

91.  120.  171.  183.  188.  246.  296 

Göttinger  Musenalmanach:  155 


395 


B.  Personen 


Abbt,  rh. :  12. 16. 19.  24.  32.  36. 63. 109ff. 
122. 125f.  127. 131.134.160. 161. 162  ff. 

174.  175  ff.  177.  183.  184.  189.  246.  323 
Adamantius :  393 
Afsprung:  108 
Althof:  301 

Aristoteles:  39.  245.  279.  393 
Augspurg,  Mad. :  20 
Alxinger,  Job.  B.:  16 
Bacon:  7 

Bahrdt:  152.  245 ff'. 
Baldinger:  58 
ßasedow:  311.  343 
Batteux:  25.  178  f.  277.  295 
ßaumann:  280 

Baumgarten:  24.  25.  34.  52.  163.  164 
Becker:  243 
Beckmann :  278 
Biedermann:  292 
ßiesfer:  18. 19.  47.  90.  153.  192.  290.  291. 

293.  300.  301.  302.  311.  317 
Blankenburg:  18.  57.  212.  222.  271 
Bode:  327 
Böckmann:  239 
Bodmer:  57.  62.  90.  101.  169.  176.  253. 

305  f. 
Böhme.  Jak.:  126.  205 
Bote,  Chr.  H.:  48.  155.  222.  262.  264  f. 

277.  282.  283.  286.  291.  298.  300.  301. 

304.307.  310.311.  312.  321  ff. 
Boie,R.,d.Jg.:  81.  268.  303 
Boileau:  25 
Bonnet:  215.  220 f. 
Bouhours:  42 
Boysen:  12 
Breitinger:  25 
V.  Bretschneider:  106.  150.  156.  212.  222. 

241.  269.  271.  277.  292 
V.  Brück,  E.:  150 

ßrücfcner :  VI II.  8 1 .  282. 294. 295. 304.  305 
Brumoy:  25 
Brydone:  199.  200.  374 


Buchholtz:  TTb 

Bürger,  G.  A:  20.  21.  48.  192.  209.  235. 

268.  282-301  .302.  303.  304.  326.  328  f. 
Biirke:  25 
Büsching:  145 
Buschmann:  277 
Cacault:  24 

Campe:  15.  221.  222.  237.  262 
Carracci:  376 
Chodowiecki:   223.  225.  355.  357.  364. 

366 f.  370.  375.  384 
Claudius.  M.:  5.  144.  157.  199.  200.  251. 

257.  311.  313.  317.  374 
Contius:  271.  280 
Cramer.Joh.A.:  91.  305 
Cramer.  K.  Fr.:  VIII.  90 
Cranz:  280 
Damm:  141.  145.  146 
Dannheuser:  271 
Deinet:  244 
Denis,  M.:  16.  17.  51.  87.  92  f.  105.  178. 

202.  287 
Descartes:  7 
Diderot:  118.  284.  348 
Dieterich:  259 
Dohm:  310 
Dubos:  25.  35.  37 
Dusch:  56.  95.  100.  170.  178 
Ebeling:  55.  105 
Eberhard:  19.  143 f.  148.  195.  199.  203. 

204f.  212.  213.  220f.  237.  279.  289. 

347  f.  361 
Engel,  J.J.:  16.  251.  302 
Eschenburg:   13.  16.  19.  105.  169.  178. 

208.  215.  216.  244.  248.  252.  253.  271. 

277.  279  f.  280.  281.  301.  304.  311 
EuUr:  87 
Ewald:  323 
Feder:  81 

Fichte:  VIII.  3.  4.  6.  63.  309.  315 
Friedrich  d.  Gr.:  43.  97.  196.  214.  225. 

274. 310.  355.  364  ff.  369.  372.  382.  393 


396 


/ 


Frisch:  10 

Girve:  VIII.  231.  251  ff.  259 

Gaßner:  389. 

V.  Gebier:  51.  105.  244.  248.  261.  282.  302 

Gedeon :  236 

Geliert:  169 

V.  Gerstenberg:  26.  39.  56.  64.  65.  74.  77. 

80.  83f.  91.  94-101.  144.  178.  242.  276. 

285  f.  287.  290.  336 
Gessner:  37.  187.  243.  254.  262 
Geyser:  369 
Giseke:  169.  178 
Gleim:  IS.  155.  157.  167.  207.  287.  288. 

290.  298.  326.  332 
Göbhard:  330 

Göckingk:  19.  215.  299.  301.  317  * 
Goethe:  11.  21.  42.  52.  63.  64.  65.  81.  89. 

133.144.146.  150. 153f.  154. 186. 188f. 

193.  195.  196.  207.  210.  212.  216.  220. 

233.  235.  239.  240-275.  276.  280.  290. 

293.  301.  303.  311.  313.  314.  327.  338 
Goethe,  Cornelie.  314 
Götz,  Joh.  Nik.:  337 f. 
Goeze:  146.  207.  262.  270.  314 
Gottsched:  10.  33.  34.  42.  47 f.  65.  98. 

132.  169.  176.  189.  190.  242.  243.  314 
V,  Goue:  207 
Graff.  A. :  357 
Gülcher:  156 
Günther,  J.  Chr.:  45 
V.  Hagedorn,  Chr.  L.:  13.  22.  24.  45.  376 
Hahn:  VIII.  i 

V.  Halem:  16.  274  i 

V.  Hai/er,  ^.:  219.  287.  384 
Hamann:  6.  21.  35.  38.  43.  60.  64.  98. 

105.  108.  109-149.  152.  156.  158  f.  160. ' 

161  f.  164.  165.  167.  168.  170.  172.  174. 

181  f.  183.  184.  185.  186.  191.  192.  194. 

195.  202.  203.  207.  212.  213.  217.  220.   ; 

223.  235.  240.  242.  247.  276.  290.  295.   j 

302.  315.  331.  348 
Hartmann:  371 

Hartknoch:  160.  167.  177.  202.  351 
Hasenkamp:  223.  265.  389 


Heilmann:  163 

Heinse:  VIII.  155.  251.  258.  313.  326 

V.  Hennings:  2.50.  258 

Hensler:  214 

Herder:  VIII.  6.   15.  16.  21.  33.  35.  40. 

43.  49.  50.  51.  57.  58.  59.  60.  62.  75. 

78.  79.  80.  82.  84.  85  t'.  87.  92.   100. 

101.  106.  108.  131.  132.  133.  134.  1351. 

139.  141.  143.  144.  146.  156.  158-210. 

211.  212.  213.  217.  221.223.225.  228. 

233.  234.  235.  236.  239.  240.  242.  246. 

274.  277. 279.  282.  284.  285.  286.  287ff. 

290.  292.  295.  296.  297.  298 f.  303.  308. 

313.  314.  315.  322.   333.   347f.  355. 

367.  370.  373  f.  377.  384  f.  389.  391 
Herder,  Caroline:  211 
Hermes,  J.  A.:  107 
Heß:  311 

Heyne:  85.  167.  171.  307.  311 
Hippel:  144.  149.  361 
Hobbes:7.  256 f. 
Hölty:  IX. 
Höpfner:  12.  49.  75.  153.  186.  187.  212. 

243.  245.  246.  259.  260.  261.  262.  269. 

271.  272.  273.  276.  277.  278.  279.  280. 

281.  340  ff. 
Homer:  9.  295.  305.  376.  386 
Hottinger:  221.  222.  226.  236  237.  239. 

269.  386.  389.  391 
Hume:  62.  63.  101.  133.  184 
Hymmen:  342 
/se/m:20.37.47.59. 105.107. 161.174.175. 

184.  213.  214.  222.  248.  260.  261.  263 
Jacobi.  Fr.  H.:6.ll.  105.  106.  108 f.  143. 

154-158.  159.  168.  212.  232.  240.  258f. 

264.  266.  272.  276.  310.  311.  325 
Jacobi,  Joh.  G.:    28.  154-157.  167.   169. 

240.  287.  298.  311.  321.  325.  336 
Jerusalem,  d.  Ä.:  276.  31 1 
Jerusalem.  d.Jg.:  248.  250.  252 
V.Joch,  A.:  257 
Joseph  II,  V.  Österreich :  8 1 
JungStilling,  H. :  105. 108  f.  143. 150-154. 

158  f.  223.  263.  389 


397 


Junker:  56 

Kaestner:  81.  156.  208.  271.  282.  307 

Kant:  VII.  6.  7.  10.  16.  62.  63.  104.  210. 

273.  315 
Karl  August,  Herzog  von  Weimar:  273 
Karschin:  64.  79.  99.  332 
Kaufmann:  234.  280 f. 
Kayser:  276.  279.  280.  281 
Kennedy:  298 

Kestner:  154.  250.  251.  258.  262 
V.  X/e/sf,  fwaW:  71.  287 
Kleuker:  280.  329 
Klinger:  11.  21.  245.  265.  275.  276.  279f. 

284.  313 
Klockenbring:  328.  329 
Klopstock:  11.  39.  42.  64.  69-90.  91.  92. 

93.  94.  95.  97.  101.  178  f.  180. 183.  185. 

186.  194.  195.  196.  199.  209.  220.  239. 

287.  288.  290.  294.  298.  303.  304.  305 f. 

310.  312.  323  f.  334 f.  336.  374.  384 
Klotz:  49.  96.  103.  134.  162.  166ff.  169. 

171.    173.    175.    176.    177.    188.   214. 

246.  322.  336 
Knebel:  339 
V.  Knigge:  280 
Köhler:  304 ff. 
König.  L.:  276 
Korrodi:  237 
Kretschmann:  92.  336 
Lambert:  214  f.  350.  393 
La  Roche,  Sophie:  270.  276.  279 
Lavater:  6.  14.  21.  52.  57.  60.  64.  132. 

133.  134.  144.  152.  154.  184f.  193.  195. 

198.  202.  205.  206.  211-240.  250.  258. 

303.  310.  311.  313.  314.  316.  326.  330. 

348  ff. 
Le  Bret:  187 

Leibniz:  208.  214.  215.  216.  257.  389 
Leisewitz:  IX.  280.  328.  329 
Lenz:  21.  65.  144.  183f.  217.  231.  235. 

238.  240.  255.  258.  263.   264.   267  f. 

275.  276-279.  280.  282.  284.  298.  313. 

317 
Lejß:  311.  325.  346 


Lessing:  VIII.  3.  11.  12.  16.  18.  19.  22. 

24.  32.  36.  39.  41.  42.  44.  45.  46.  56. 
58.  59.  63.  69  f.  72.  73.  77.  84.  90.  94. 
101.  103.  106f.  110.  120.  133.  134.  139. 
163.  169.  170.  173.  178.  184.  187.  189. 
190.  226.  227.  230.  239.  244.  246.  248. 
252  f.  256.  261.  263.  270.  273.  276.  279. 
280.  287.  290.  291.  305.  310.  311.  313. 
314.  316.  323.  330.  341.  361 

Lessing,  Karl:  244 

Leuchsenring:  241 

Leygebe:  374 

Lichtenberg:  VIII.  15.   124.  221f.  229. 

230.  231.  235.  246.  253.  259.  263.  277. 

310.  311.  313.  314.  324.  330.  393 
Lichtwer:  110 
Lindner:  111.  128.  129.  130 
Lippert:  386 
Locke:  7.  379 f.  387 
Logau:  59 
Lüdke:  107.  237 
Marcard:  262.  272.  282 
Mauvillon:  156.  325 
Meil:  244 
Meiners:  81.  384 
Meinhard:  19.  59 
Meister,  L.:  58.  236 
Menantes  (Hunold):  65 
Mendelssohn:  VIII.  4.  17.  19.  20.  22.  24. 

25.  26.  27.  28.  30.  31.  33.  34.  41.  77. 
92.  101.  106.  109.  110.  111.  112.  113. 
114ff.  120ff.  125  ff.  128ff.  131.  134. 
135.  139.  140.  148.  161.  163.  165.  170f. 
172.  173.  177.  183.  184.  189.  213.  214. 
216. 220f.  225.  229.  230.  231.  250.  252. 
253.  257.  258.  263.  264 f.  276.  295.  297. 
301.  310.  323.  330.  333.  338.  348  ff. 
350.  352.  354  ff.  361.  364  ff.  369.  372  f. 
382.  384.  393 

Merck:  49.  57.  60.  65.  96.  107.  108.  144. 
150.  160.  170.  186.  197.  206.207.211. 
226.  232.  233.  234.  240.  242.  243.  248. 
257.  259.  261.  262.  263.  266.  269.  271. 
272.  277.  292.  317 


398 


Mesmer:  6 

Michaelis:  198.  200  j 

AI/7/erJo/i.iM.:  VIII.  282.  317  | 

Ali7fon:70  73.  93.  287.  331 
Montesquieu:  201 
V.  Moser,  C.  F. :  73.  76.  91.  144 
Moser,  Justus:  37.  63.  106.  158.  189.  246. 
262.  270.  291 

Mozart:  9 

V.  Müller,  Joh.:  19.  41.  55.  57.  101.  184. 

185.  189.  199.  212.  213.  232.  249.  281. 

291 

Mahler  Müller :  IX.  284 

Musäus:  15.  237.  306 

Mutzenbecher:  173 

Noodt:  301 

Obereit:  223.  389 

Oetinger:  223 

Ossian:  178.  189.  209.  290.  295.  299.  301 

Patzke:  42.  44 

Percy:  293 

Pestalozzi:  253 

Petersen:  186.  187.  207.  212.  222.  232. 

236.  237.  243.  248.  270.  272.  273.  276. 

277.  278.  279.  280 

Pfenninger:  205.  223.  225.  236.  237.  238. 

282.311.  347  f.  353.  378.  380 

Picander:  45 

Pistorius:  107.  204.  2 18 f.  279 

Premontval,  M.  de. :  43 

Pope:  52.  276 

Ramler:  37.  65.  79.  86.  157.  170.  213. 
273.  276.  326.  338 

Raspe:  156.  214.  293 

Reich:  384 

Reichel:  270 

Reinhold:  14.  315 

V.  Reitzensiein:  250 

Resewitz:  107.  171.  205.  246 

Riebe:  257 

Riedel:  105.  166.  167.  321  ff.  335 

V.  Rochow:  19 

Rosenplüt:  243 

Rousseau:  28.  114 ff.  140.  257 f.  287.  297 


V.  Rüling:  153 

Sachs,  Hans:  293.  338 

Salzmann:  255.  267.  276.  277.  327 

Schatz:  257 

Schiller:  16.  42.  210.  253.  274 

Schirach:  262.  325 

Schlegel,  Friedr.:  6.  24.  63.  89.  209.  253. 

274.  301 
Schlegel,  Joh.  A.:  162.  169.  178 
Schlegel,  Joh.  Ei:  34.  189 
Schleiermacher:  6 
Schlettwein:59\.  392 
Schlosser:  186.278.  311 
Schlözer:  55.  194.  221.  343ff. 
Schmid,  Chr.  H.:  143.  278.  384 
Schmidt,  Klamer:  326 
V.  Schmidt^Phiseldeck:  58 
Schönaich:  270 
5c/iönfcorn:  8J.  193 
Schroeckh:  107 
Schubarf:  105.  154.  251.  258.  268.  272. 

313.  317 
Schulz.  J.H.:  148 
Semler:  107.  262.  311.390 

Shaftesbury:  1.  24.  25.  26.  28.  32.  37. 
139.  257 

Shakespeare:  36.  39.  63.  99.  178.  189  f 
290.  331  f. 

V.  Sonnenfels:  46 f.  59 

Spalding:  19.  58.  168.  206.  207.  213.  311. 
349.  389.  390.  393 

Sprickmann:  \1II. 

Springer:  105 

Stael,  Mtde:  46 

Steiner:  362.  372.  380.  381 

Sterne:  284 

Stockmann:  250 

V.  Stollberg,  Auguste:  264 

V.  Stollberg,  Chr.:  234 

V.  Stollberg,  Fr.  L:  VIII.  20.  144.  212. 
230.  234.  239.  276.  282.  303.  306. 
311.  329.  340.  388 

Sturz,  H.  P::  98.  156.  330 

Sulzer:  23 f.  25.  26.  32.  169.  195.  313 


399 


^wifl:  263 

Talander  (Bohse):  65 

Teller:  168.  207.  390 

V.  Thümmel:  105.  140.  268.  285    ~ 

Tieck:  16.29.  301.306 

Tissot:  146 

Tob/er:  311 

Unzer:  16.  156 

(7z:  39.  64.   77  f.    189.   292.   304.   317. 

330  ff. 
Voltaire:  55.  78.  174.  189.  214.  287 
Voß:  19.  81.  154.  155.  (157.)  264.  268. 

288.  294.  295.  298.  301.  302-312.  340 
Voß.  Ernestine:  81.  268 
Wagner,  H.  L.:  21.  154.  269.  270f.  275. 

280.  282.  284.  338 
Walch:  107 
Weiße,  Chr.  F.:  49.  139.  156.  252.  253. 

271.  339 
Werthes,  F. :  276 


Weygand:  264 

Wieland:  12.  37.  42.  43.  49.  57.  59.  60. 

101.  105.  106.  133.  152.  154ff.  157f. 

184. 190.  238.  245 f.  247.  251.  262.  263. 

270.  271.  272.  273.  278.  280.  284.  287. 

300.   304.  317.  321  f.  325.  326.  331  f. 

335  f.  340.  384.  389 
Winckelmann:  10.  97.  1 10.  191.  228.  245 
Wittenberg:  167 

Wolff,  Chr.:  7.  14.  51.  205.  257.  315 
V.  Wöllner:  49 
Young:  34.  36.  73.  126 
Zachariae:  28.  29.  45.  73.  91.  93.  95.  100. 

331 
V.  Zedlitz:  207 
Zimmermann:  105.  155.  217.  224.  226. 

229.  232.  233.  262.  271.  272.  328.  330. 

336.  350.  380.  387.  389 
Zollikofer:  311.  349.371 
Zöllner.  Fr.:  184 


BERICHTIGUNGEN 

S.  109,  Z.  12  V.  o.  lies:  persönlich4iterarische. 

S.  116,  Z.  1  V.  u.  lies:  Mendelssohns. 

S.  121.  Z.  20  V.  o.  lies:  vollkommen  (statt:  vollkommenen). 

S.  125,  Z.  13  V.  o.  anregender  (statt:  Anreger). 

S.  137,  Anm.  lies:  Schriftchen  (statt:  Schriftzeichen). 

S.  158,  Z.  10  V.  o.  lies:  er  (statt:  es). 

S  201,  Z.  11  V.  U.  lies:  dieser  (statt:  diesem). 

S.  212,  Anm.  4  sind  die  Worte:  »s.  unten  Anhanges  zu  tilgen. 

S.  247,  Z.  15  V.  o.  ist  das  Semikolon  zu  tilgen. 

S.  250,  Z.  10  V.  o.  lies:  das  (statt:  daß). 


Druck:  Hof^Buch*  und  #Steindruckerei  Dietsch  &  Brückner  in  Weimar 


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24.4.0      Friedrich  Nicolai  und  der 

N4Z86   Sturm  und  Drang 


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