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Full text of "Friedrich Perthes Leben nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet"

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Friedrich Perthes Leben 


ſchriftlichen nud mündlichen Mittheiluugen 


aufgezeichnet von 


Clemens Iheodor Perthes, 


ordentlichem Profeffor der Kechte an der Univerfität in Bonn. 


Eriter Band. 
Bierte Auflage. 


Gotha. 
Verlag von Friedrich Andreas Perthes. 
1857. 





riebrich Perthes Heben 


nach defien 


+ 


ichriftlichen und. mündlihen Mittheilungen 


aufgezeichnet von 


Clemens Theodor Berthes, 


ordentlichem Profeffor der Rechte an der Univerfität in Bonn. 


Erſter Band. 
Vierte Auflage. 


Gotha. 
Verlag von Friedrich Andreas Berthes. 
1857. 





Borrede 


Den erſten Theil des Lebens meines lieben Vater, melchen ich jebt 
der Deffentlichkeit übergebe, hatte ich bereits feit einem halben Jahre 
drudiertig liegen, ohne vor Beendigung des ganzen Lebensabriſſes 
an die Bekanntmachung gehen zu wollen. Nun aber glaube ih, daß 
für die Gegenwart, in welcher wir leben, und für die Zufunft, wel- 
her wir entgegengehen, manchen das Bild des frommen, muthigen 
und fräftigen Mannes eine Quelle der Freude und der Stärkung fein 
fönnte, und laffe druden, was drudfertig ift. 

Mir ftanden bei meiner Arbeit neben manden dankbar benupten 
Druckſchriften viele mündliche Mittheilungen, einige fhriftliche Auf- 
zeichnungen und ein überaus reichhaltiger Briefwechfel meined Vaters 
zu Gebote. Bon diefem felbft finden fih in ununterbrochener Reihen 
folge Briefe feit feinem fünfzehnten Jahre vor. Da meine Abficht 
nicht ift, den Briefwechſel, fondern den Lebendgang eines bedeuten- 
den Mannes befannt zu machen, fo dienten mir die Briefe nur al? 
ein Mittel, um die innere und äußere Entwidelung zu veranfchauli- 
hen. Wörtlihe und vollftändige Mittheilung der Briefe war daher 
nicht gefordert und war, wenn nicht die Aufzeihnung unverhältnis- 
mäßig anfchwellen follte, unmöglich. Oft mußten Briefe abgekürzt, 
oft der Inhalt verfchiedener gleichartiger Briefe zufammengezogen, 


VI 


oft derſelbe Brief an mehreren Orten benutzt werden. Abſchriften 
ſind daher die Briefſtellen zwar oft, aber nicht immer, und ich hoffe, 
daß die Aufzeichnung auch dem, der mich nicht perfönlich kennt, die 
Ueberzeugung geben wird, daß die freie Behandlung meiner wichtig- 
ften Quellen nie dazu gedient hat, das wirkliche Bild zu verwiſchen 
und ein erträumted an deifen Stelle zu fegen. 

Möge Gott unferem Volke in den Zeiten, ‚denen wir entgegen» 
fehen, viele Männer ſchenken, wie Kriedrich Perthed war! Deutfch- 
land wird fie nöthig haben ! 

Bonn, den 18. März 1848. 


Clemens Theodor Perthes. 


Juhalt. 


Erſtes Buch. 
Dad Ingendleben. 1772 — 1805. 


Die Kindheit. 1772 — 1798985..3 
Der Eintritt ins Jünglingsalter. 1789 — 1793.17 
Die erſten Ein drücke des Aufenthalte in Hamburg. 1793 — 1794. . . 30 
Reue Freunde und deren Einfluß. 175. - 2 2: 0 2 1 1 1 2 92 
Die Gründung der Handlung. 176. - 2 2 2 0 een nee. 0 
Die erſte Belanntfchaft mit Holftein und dem Münfterlande. 1796. » . . 59 
Die Verheirathung und die erfien Jahre der Ehe, 1797— 1800, . . . 73 
Die weitere Beftaltung des Gefchäfts und der Familie. 1800-1805. . . 86 
Die Befeſtigung des inneren Lebens, 1800— 1805... » 2 2 200. 8 


Zweites Bud. 


Die Zeit der Napoleonifhen Herrfhaft in Dentichland. 
1805 — 1814. | 


@eite 
Die Eindrüde der Jahre 1805 und 1806. - - 0 0 2 een... 1 


Die Auffafjung der Lage Deutfchlands in den Jahren 1807 und 1808. . . 140 
Die Bemühungen um die Erhaltung deutſcher Gefinnung in den Jahren 
1809 und 18100...1839 
Berthes’ Haltung als franzöflfcher Unterihan. 1811 und 1812. . . . . 174 
Der Verſuch Hamburgs, ſich zu befreien. Januar bis 18. März 1813. . 189 


VIII 
Seite 
Die nene Bedrohung und die Wiederbeſetzung Hamburgs durch Davouſt. 
Bom 18, März bis 30. Mai 1813. 20 
Die Zeit des Waffenſtillſtandes. Juni bis Mitte Auguf 1813. . . . . U 
Die hatfeatifchen Verhältnifie während bes Krieges an ber Nieberelbe. Mitte 
Auguſt bis Anfang November Ed. 2 2 2 0 ee ten 9 
Perihes’ Bemühungen für die Hanfeftänte. November 1813 bis Januar 
1811... 7: 
Die Zeit vor der Rüdfehr nach Hamburg und die Ausfichten für die Zufunft, 
Januar bis Mai 18144.22270 


Erſſtes Buch 


Das Jugendlichen. 


1772 — 1805. 


Perthei’ ben. 5. 3. Aufl. 


> 


Die Kindheit. 
1772 — 1789, 


— — — 


Das Zahı 1772 war ein ſchweres Jahr für Deutſchland. Große 
Theuerung und Hungerdnoth herrfchten in den meijten Gegenden und 
bösartige Faulfieber machten die Runde. In diefem Jahre, dem gro⸗ 
Bem Hungerjahre, wie man es nannte, wurde Friedrich Chriſtoph Per⸗ 
thes am 21. April zu Rudolftadt geboren. Die Boreltern feined Ba- 
tere, des Schwarzburg⸗Rudolſtädtiſchen Steuerfecretärd Chriſtoph 
Friedrich Perthes, hatten, wie es ſcheint, Jahrhunderte hindurch als 
Geiſtliche und Ärzte in Erfurt gelebt, bis um das Jahr 1740 der ehr⸗ 
bare und kunſtliebende Doctor der Arzneigelahrtheit Johann Juſtus 
Perthes, ein gottesfürchtiger, getreuer und verſchwiegener Mann, von 
Erfurt nach Rudolſtadt als fürſtlicher Leibarzt gerufen ward. Das 
vorjũngſte unter feinen fieben Kindern war der genannte Chriſtoph 
Kriedrich, welcher jeit 1741 dad Gymnafium zu Rudolftadt befuchte 
und 1755 wohlunterrichtet und vorbereitet, wie die Schulacten mel- 
den, die Univerjität Jena bezog, um die Rechtswiſſenſchaft zu ftudieren. 
Rah Rudolftadt zurüdgelehrt rüdte ex im fürftlichen ‘Dienfte bie zum 
Amte eined Secretärd an der Rentlammer vor und verwaltete die 
Batrimonialgerichte auf mehreren abelihen Gütern. Nur fieben und 
dreißig Jahre war er alt, ald feine Frau, Margaretha geborene Heu⸗ 
bel, am Sterbelager ihres Mannes ſtand. 

Seinem Sohne, Friedrich Chriſtoph, zeigten ſich keine Wege, auf 
denen er ſorglos zum Jünglingsalter hätte gelangen können. Ver⸗ 
mögen hatte der Bater nicht gehabt und die ein und zwanzig Gülden, 

1 %* 


4. 


welche die Witwe als jährliche Penfion erhielt, gewährten nur geringe 
Hilfe. In befreundeten Familien, die. der Pflege und des Beiftandes 
bedürftig waren, fand die Mutter zunächſt Unterhalt und Obdach; 
den Knaben nahm die alte Grogmutter, eine gleichfalls mittelloſe 
Frau, ind Haus. Sie flarb und des nun fiebenjährigen Kindes er- 
barmte fih ein Bruder feiner Mutter, Friedrih Heubel. Mehr ald 
ein halbes Jahrhundert mar feit diefen Tagen vergangen, und noch 
fanden die Kinder und die Enfel jenes hilflofen Knaben den edlen 
Mann, der fich einft des Verlaſſenen angenommen hatte, auf dem al» 
ten Schloffe Schwarzburg, wo fein Fürft ihm als Stallmeifter und 
Oberauffeher einen Ruhefig gewährte. Den Dann von unerfhütter- 
licher Rechtlichkeit und ftreng gerechtem Sinn hielt die Kantiſche Ric) 
tung .ein langes Leben hindurch unter ihrem Einfluffe. Seine Inter- 
efien, einerfeit® gebunden an die engen Verhältniſſe des Kleinen Für⸗ 
ſtenthums, wendeten ſich anderfeit® in ſchrankenloſe Weite. Alles, 
was die Zeit bewegte, hatte auch ihn ergriffen. Er liebte die Grie- 
chen und die Römer und las fie noch in fpäten Jahren. Zum Stu- 
dium der Anatomie war er als leidenfchaftlicher Bewunderer der 
Schönheit des Pferded geführt. Wie alle feine Zeitgenofien hatte er 
1789 die großen politifchen Bervegungen freudig begrüßt und war 
ihnen, da er ihre weitere Entwidelung nur als eine Entartung be- 
trachtete, auch fpäter nicht feind geworben. Aber für feinen Fürften 
hätte er jeden Augenbfid Gut und Blut geopfert; für ihn fcheute er 
feine Mühe und keine Beſchwerde. Jede Freundlichkeit feined Herm 
erfreute ihn; gegen jeden Angriff nahm er ihn in Schuß; fein ganzes 
Weſen war von der hingebenden Treue eined Minifterialen des Mit- 
telalters durchzogen. 

Dieſer fpäter alte Mann war 1779 jung. Bor kurzem von der 
Univerfität zurüdgelehrt, war er mittello8 wie alle feine Geſchwiſter. 
Eine Anftellung im fürftlihen Dienſt wurde ihm zwar zu Theil, aber 
fein Gehalt. Damals noch unverheitathet hielt er in Rudolftadt mit 
einer gleihfall® unverheiratheten Schmwefter, Caroline Heubel, Haus. 
Diefe war nicht ſchön, aber von großer Kraft des Charaktere. An- 
deren zu helfen war fie ſtets bereit, aber ſich von anderen helfen zu 
laſſen war ihr noch im höchften Alter unerträglih. Unabhängigkeit, 


5 


auch wenn ſie mit größter Dürftigkeit verbunden war, begehrte ſie 
nicht ohne Leidenſchaft, aber wenn ſich andere nicht von ihr regieren 
laſſen wollten, war ſie mismuthig und ergrimmt; man konnte zwei⸗ 
feln, ob fie herrſchen wollte, um helfen zu können, oder helfen wollte, 
um herrſchen zu können. Bon dieſem Gejchwifterpaar wurde der | 
fiebenjährige Knabe nicht nur aufgenommen, fondern auch mit zärt- 
liher, wahrhaft elterlicher Xiebe groß gezogen. Die Sugendeindrüde, 
die er durch fie empfing, geleiteten ihm durch das Leben. Ihnen ver- 
dankte er bei einem fehr leicht erregbaren Temperament die Scheu vor 
allem unfittlihen, ihnen den ftrengen Sinn für die Rechte anderer, 
obſchon ihm die Neigung zum durchgreifenden Handeln angeboten war. 

Den erften Unterricht erhielt der Knabe vom Oheim felbft; dann 
mehreremale abwechfelnd von.den Haußlehrern verfchiedener adelicher 
Familien zugleih mit deren Zöglingen; endlih, nachdem er einige 
Zeit Theil an den Lehrftunden der fürftlichen Pagen genommen hatte, 
kam er im 12. Jahre auf das Rudolftädter Gymnafium, aber zu we- 
nig vorbereitet, um den Lehrern folgen zn können. Bei nur'geringem 
Sprachtalent und einem ſchwachen Zahlengedächtnis hatte der Knabe, 
dem überdies eine fehr lebhafte Phantafie das ftetige Lernen erfchwerte, - 
aus dem wechfelnden Unterricht wenig oder nichts davon getragen. 
Meder für die deutfche oder eine andere Sprache, noch für Gefchichte 
und Geographie, noch für Nechtichreiben und Rechnen mar irgend eine 
Grundlage gelegt; aber ein unerfättliher Trieb zum Lefen fuchte Be- 
friedigung und fand fie durch die Gunft des fürftlichen Bibliothekars. 
Viele Bände der großen Weltgeſchichte in Quart und die ein und 
zwanzig Theile der Reifen zu Waſſer und zu Lande gaben dem Knaben 
von feinem zehnten bis zu feinem vierzehnten Jahre Beichäftigung. 
Bor allem waren e8 die Entdedungen der Pertugiefen im fünfzehnten 
und fechzehnten Jahrhundert, die ihn ergriffen, Prinz Heinrich der 
Seefahrer und Albugquerque wurden feine Helden. Dann fiel ihm die 
Bertuch ſche Weberfegung des Don Quirote in die Hände, verdrängte 
ſchnell Campe's Robinfon und erfüllte feine Phantafie. Eine Maſſe 
Wiſſens lag in dem Anaben bunt durcheinander, nothdürftig nur in 
eine Art von Ordnung durch Schröckh's Weltgefchichte gebracht, welche 
er ald Eigenthum befaß. Daß bei dem Mangel geiftig firenger Arbeit 


6 


die Thätigfeit der Phantafie nicht in leered Träumen ausartete und 
den Sinn für die Wirklichkeit erſtickte, hatte der Knabe weſentlich ei- 
nem nahen Berwandten feiner Mutter, Johann David Heubel, zu 
verdanken, welder damals ald Oberftlieutenant und Randbaumeifter 
auf Schloß Schwarzburg wohnte. Kerngefund an Leib und Geift, und 
begabt mit einem feltenen ſcharfen Blid für die Verhältniffe des Le- 
bens und der Natur fchärfte.er die gleichen in dem Knaben liegenden 
Anlagen. Er ließ ihn Monate hindurch bei ſich in Schwarzburg woh⸗ 
nen und muthete ihm große Anftrengungen zu, wenn er mit ihm Berg 
und Ihal durchwanderte, die Forſten befuchte oder auf den Bogelhüt- 
ten ſich aufhielt. Nie ift in Perthes die Erinnerung an diefen Aufent- 
halt und an diefe Wanderungen erlofhen. Die dunflen Tannen, die 
das Gebirgsgeſchiebe ded wunderbar ſchönen Ortes bededen, das Rau⸗ 
ſchen der Schwarza, die unten tief im Thale den Berg umſchlingt, auf 
welchem das Schloß gebaut ift, drüdten fich unvertilgbar in das Ge- 
daͤchtnis des Knaben ein. 

Als Perthes confirmiert und vierzehn Jahre alt geworden ar, 
mußte ein Beruf für ihn gewählt werden. Ihn ftudieren zu laſſen 
war unmöglih; was man in Rudolftadt Kaufmann nannte, wollte 
er nicht werden. Der jüngfte Bruber feine? Baterd, Juſtus Perthes, 
war Verlagsbuchhändler in Gotha und ihm ging ed ziemlich gut; na- 
türlih) wurde nun für den Knaben an den Buchhändler gedacht. Was 
da8 eigentlich war und was dazu gehörte, wußte er zwar nicht, denn 
in Rudolftadt war feine Buchhandlung; aber daß es da Bücher geben 
müſſe, die man lefen könne, ſchien Doch gewiß, und died war für ihn 
enticheidend. 

Im Jahre 1786 nahm der Buchdrudereibefiger Schirach den vier- 
zehnjährigen Knaben mit fi zur Meffe nach Leipzig, um bort einen 
Lehrheren für ihn zu fuchen. Zuerſt ftellte er ihn Herrn Rupredht au? 
Göttingen vor, einem fhon bejahrten Diann, der ihn. freundlich an- 
redete und ſich amo von ihm conjugieren ließ, dann aber, als das 
nicht ging, ihn nicht nehmen wollte. Nun wurde er zu Herrn Siegert 
aus Liegnig gebrecht; aber der lange, hagere Mann und fein feuer- 
farbemer bis zur Ferſe hinabreichender Oberrod fepte den Knaben fo 
fehr in Furcht, daß er fein Wort hervorzubringen vermochte: er fei zu 


7 


blöde zum Buchhandel, hieß ed. Endlich zeigte fih Adam Friedrich 
Böhme, weldher in Leipzig felbft eine Handlung hatte und die Rudol- 
ſtaͤdter Bibliothet mit Büchern verjorgte, geneigt ihn zu nehmen: aber 
der Junge muß noch ein Jahr wieder nad) Haus; jept ift er für die 
Arbeit-noch zu Mein und ſchwach. | 

Als das Jahr verflofien war, wurde zwifchen dem Obeim und 
dem künftigen Lehrherrn ein feierlicher Vertrag gefchloffen, der folgen- 
dermaßen lautet: 


Im Namen Gottes! 

Zu willen fei hiermit denen es von Nöthen, daß gwiſchen Herm 
Heubel an einem und Herrn Adam Friedrich Böhme, Bürger und 
Buchhändler in Leipzig, an andern Theil nachftehender Contract ver- 
abredet und geſchloſſen worden. 

Es hat genannter Herr Heubel feinen Neffen Chriſtoph Friedrich 
Perthes, welcher Luſt hat die Buchhandlung zu erlernen, Eingangs er⸗ 
waͤhntem Herrn Böhme zu einem Lehrburſchen übergeben und zwar 
dergeftalt, daß Herr Böhme diefem jungen Menfchen die Buchhandlung 
ohne Entrichtung einigen Lehrgeldes in ſechs Jahren, welche Zeit von 
Mihaelid 1787 angefangen und Michaelid 1793 ihre Endfchaft errei- 
hen foll, zu lehren verfprochen und ihn nicht allein in folcher Hand⸗ 
lung möglichft unterrichten, fondern auch zu aller Gottesfurcht und 
wohlanftändigen Tugenden anhalten und vermahnen, nicht weniger 
mit Eſſen und Trinken gewöhnlicher Maßen verjehen, auch ihm nad 
ausgeftandenen Lehrjahren erforderlichen Falles einen Xehrbrief erthei- 
len und, daferno er fein Glück weiter fuchen will, mit Recommanda⸗ 
tion an die Hand gehen und überhaupt fi, wie einem chriftlichen 
Lehrherrn geziemt, verhalten ‚will. 

Dagegen verfpricht Herr Heubel feinem Neffen ein Federbette 
nebft darzu nöthigen Ueberzügen mitzugeben und folhes nad) Verlauf 
von ſechs Jahren Herrn Böhme als Eigenthbum zurüdzulafien. Da- 
ferno aber Herr Böhme nad Gotteöwillen vor Beendigung der ſechs 
Jahre verfterben follte, bedingt fich mehrgedachter Herr Heubel aus⸗ 
drüdlich aus, feinen Neffen nad) Beichaffenbeit der Umflände einem 
andern Lehrherrn zu übergeben, um die rückſtändigen Lehrjahre vol⸗ 


8 


(ende erlernen zu laſſen, auch das mitgegebene Federbett wiederum 
zurückzufordern ihm freiſtehen ſoll. 

Ferner will erwähnter Herr Heubel feinen Neffen die ganze Lehr- 
zeit. mit nothdürftiger Wäſche und Kleidern verſehen, darneben ernft- 
lich ermahnen, daß er in dieſen ſeinen Lehrjahren ſeines Lehrherrn 
Beſtes eifrig beobachten, jeder Zeit treu, fromm, fleißig, gehorſam 
und unverdroſſen ſich bezeigen, des Sonntags fleißig in die Kirche 
und außerdem weder bei Tage noch bei Nacht ohne Erlaubnis aus 
dem Hauſe gehen, alle böſe Geſellſchaft meiden und alles andere, was 
einem frommen und getreuen Lehrburſchen geziemt, gehorſamſt ver⸗ 
richten ſolle. Im Folle auch Herrn Böhme wider Verhoffen, und 
welches Gott in Gnaden verhüten wolle, durch erwähnten Chriſtoph 
Friedrich Perthed wegen erwiefener Untreue in der Handlung und in 
feinen Berrichtungen, fo ihm als Lehrburfchen obliegen, einiger erweis⸗ 
licher Schaden verurſacht werden follte, fo verfpricht mehrgedachter 
Herr Heubel ald Selbftfhuldner dafür zu haften und Herrn Böhme 
diesfalls fchadlos zu halten. | 

Wie nun beiderfeitd Gontrahenten mit vorftehenden Bunften in 
allem einig und zufrieden, alfo haben fie fic) allen diefem Lehrcontracte 
zuwider laufenden Ausflüchten, fie haben Namen wie fie wollen, wohl⸗ 
bedaͤchtig reciprocierlich begeben. Geſchehen. 
Leipziger Michaelis⸗Meſſe 1787. 
Friedrich Ernſt Heinrich Heubel. 
Adam Friedrich Böhme. 


Am Sonntag den 9. September 1787 trat der fünfzehnjährige 
Knabe allein auf unbededtem Poftwagen die Reife in die Fremde und 
ind Leben an. Abends in Saalfeld bin ich fehr traurig gewefen, 
ſchrieb er feinem Oheim, aber ich habe auch da viele gute Leute ge- 
ſehen. — Im Regen und fharfer Kälte fuhr er über Neuftadt, Gera, 
Zeit und langte am Diendtag den 11. September Nachmittags 3 Uhr 
im Haufe feined Lehrherrn an. Mein Himmel, Junge, rief ihm diefer 
entgegen, du biſt ja noch eben-fo Hein wie voriged Jahr, nun wir 
twollen.ed miteinander verfuchen. Die Frau feines Lehrherm und die 
- Kinder, ſechs Töchter und ein Kleiner Sohn, nahmen ihn, fo wie ein 


9 | 

Lehrling, der ſchon vier Jahre im Haufe war, freundlich auf. Hier in 
Leipzig gefällt e8 mir ganz wohl, fchrieb Perthes unmittelbar nady 
feiner Ankunft, und ic) hoffe, e8 wird auch gut gehen, zumal da mein 
Kamerad ein recht guter Menſch iſt. Auch die. Mamſels fcheinen au- 
ßerordentlich gütig;, die Friederike, Die zweite Tochter meines Lehrherrn, 
ift zu mir gekommen auf unfere Stube, um mir, wie fie fagte, die 
Grillen zu vertreiben. — Hierdurch, fo meldete fein Lehrherr, habe 
ih die Ehre zu berichten, daß der junge Perthes gefund und glüdlich 
bei mir eingetroffen ift. Ich hoffe, wir werden wohl miteinander einig 
werden. - Sein bei fi) habendes Geld, welches nach hiefigem Cours 
1 Thlr. 20 Gr. beträgt, habe ich mir einhändigen laffen, denn man 
weiß nicht, in welche Gefellfchaft er etwa gerathen fönnte. Nun habe 

ih auch noch eine Bitte an Sie: wenn Sie mich wieder mit Briefen 
beehren, fo fein Sie fo gut und lafjen die Ueberſchrift „Bohlgeboren“ 
fort; denn diefe fommt mir durchaus nicht zu. 

Am Morgen nach der Ankunft waren die erften Worte: Friedrich, 
du mußt dir Die Haare vorne zu einer Bürfte, hinten zu einem Zopfe 
wachſen laſſen und dir ein Paar hölzerne Loden anfchaffen. Deinen 
runden Matrofenhut legft du fort, für dich ſchickt fich ein Dreiediger. 
Allgemeine Sitte war lebterer nicht mehr, aber Böhme wollte an feinen’ 
Rehrlingen die neuen Moden nicht dulden. Ohne meine Erlaubnis, 
hieß es weiter, gehft Du weder Morgen? noch Abends aus dem Haufe. 
Jeden Sonntag begleiteft du mich in die Kirche. Bermöhnt wurden 
die beiden Lehrlinge nicht. In der Nikolaiſtraße war die Wohnung 
ihred Lehrherrn; dort hatten fie vier Treppen hoch eine Kammer inne, 
die mit zwei Betten, zwei Stühlen, einem Tiſche und zivei Koffern fo 
ausgefüllt war, daß man nur drei Schritte in derfelben machen konnte. 
Ein einziges kleines Fenfter oben an der Dede ging auf Dächer hin- 
aus; ein Meines Windöfchen ftand in der Ede, zu deflen Heizung an 
jedem Abend des Winters drei Stückchen Holz gegeben wurden. Mor- 
gens ſechs Uhr erhielt jeder der Knaben eine Taſſe Thee und jeden 
Sonntag im voraus für die fommende Woche fieben Stüde Zuder und 
fieben Dreier zu Brot. Was mir am ſchwerſten ankommt, fehrieb 
Perthes feinem" Schwarzburger Oheim, tft, daß ich früh nur eine 
Dreierfemmel habe; davon werde ich fnapp fatt. Nachmittag? von 


10 


von ein? bis acht befommen wir feinen Biffen. Da heißt ed hungern, 
doch ich denke, es folk fih geben. — Mittags und Abend? aßen fie 
mit der Familie, reichlich und gut, aber fchredlich war für fie, befon- 
ders wenn fetter Braten in Kürbisbrei aufgetragen ward, das Geſetz, 
nach welchem ſchlechterdings alle gegeflen werden muß, was auf den 
Teller gegeben wurde. Das „Er“, mit welchem fie von den Kindern 
und felbft von den Dienſtmädchen und Markthelfern angeredet wur 
den, kränkte Perthes tief, aber freudig fehrieb er: Mit wird auch nicht 
das mindefte zugemuthet, was meiner Ehre nachtheilig fein könnte. 
Andere Lehrburfchen müſſen z. B. dem Herrn die Schnallen pußen, 
den Tiſch deden, den Kaffee ind Gewölbe bringen; von allem dem 
bin ich befreit. 

Der Lehrherr war zwar fein Mann von Geift und Kenntniffen, 
aber verftändig, durchaus redlich und ftreng fittli und nicht ohne 
Achtung vor Wilfenfhaft und allem Höheren. 

Unausgeſetzt arbeitete er jeden Tag von fieben Uhr Morgen? bis 
acht Uhr Abends, eine Mittagdftunde abgerechnet; Sonntags nad) der 
Kirche las er die Jenaer Literaturzeitung Wort für Wort und machte 
dann einen Spaziergang um die Stadt. Nie fpielte er, nie betrat er 
ein Wirthshaus, nie gab er Gefellfhaft und auch in feinem Haufe 
trank er nur Waſſer. Einigemale im Sommer ging er mit feiner 
Familie nach Eutritzſch und tranf eine Flaſche Gofe; einmal im Jahre 
fuhr er nach dem vier Stunden von Leipzig entfernten Störmthal 
und nahm dahin außer Frau und Kindern auch Die Lehrlinge mit. 
Er war audnehmend gutmüthig, aber ebenfo jähzornig und brach, 
einmal gereizt, in einen Strom roher Worte aus. Schwer hatte Per- 
thes in den erften zwei Jahren feiner Gefchäftdunerfahrenheit von die 
jem Zorne zu leiden. Was mir am übelften befommt, fehrieb er, iſt, 
daß mein Herr Principal außerordentlich hitzig if. Macht man nicht 
alles recht, fo ift der Henker los. Das bin ich denn freilich nicht ge- 
wohnt und es geht mir auch außerordentlich ſchwer ein; Doch ich 
werde es ja wohl gewohnt werden. — Bar Böhme's Zorn verraudt, 
jo brachte er gutmüthig dem Knaben Obſt zur Entihädigung oder’ 
theilte mit ihm feine zwei Taſſen Nachmittagstaffee nebft den dazu 
gehörigen zwei Stückchen Zuder. Der mäßige, ftreng ordentliche 


11 


Mann hatte an einem Hauskreuz ſchwer zu tragen, indem feine Frau 
in Folge ihrer Neigung zu ftarfen Getränken das Hausweſen, jo weit 
8 dem Regimente der Frauen unterworfen ift, in Unordnung gera- 
then lieg. Vielfach brachte fie die armen Lehrlinge in peinliche Lagen. 
Manchmal bin ich in einem Gedränge, fchrieb Perthes, wo ich mich 
nicht rauswinden kann; denn Madame läpt ſich gerne Sachen heim⸗ 
lich zuiragen, die durch die Gurgel laufen. Der Herr möchte nun 
gerne alles wiflen, was paffiert, und gerne entdedte ich als ein recht« 
Ihaffener Menſch alles -diefem von Grund des Herzend gewiß guten 
aber ſchwachen Mann, wenn ich mir dadurch nicht meinen Untergang 
bereitete. Denn ſchuͤtzen kann er mich in vielen Fällen nicht und er 
kann ed auch nicht ändern; denn von früh fieben Uhr bis Abends 
acht Uhr fommt er nicht nad) Haufe, wo denn die Kinder freien Lauf 
haben, weil die Mutter fie nicht in Zucht halten ann. 

Die Arbeit für den Buchladen, der außerhalb des Haufes in einem 
Gewölbe‘ auf dem alten Neumarkt war, füllte die ganze Zeit des Lehr⸗ 
lings aus. Unfer Stübchen, ſchrieb er, genieße ich nicht fehr. Denn 
um fieben Uhr gehen wir ind Gewölbe, um 12% Uhr nah Haufe zum 
Eifen, um 1 Uhr wieder ind Gewölbe und erft um acht Uhr wieder 
ind Haus; alddann wird gegeffen und nun können wir erft etwas für 
und anfangen. Abends dürfen wir auf feinen Fall ausgehen und 
Sonntags früh müffen wir in die Kirche, aber aus Sonderbarteit in 
feine andere als in die Peteröfirche, und Sonntag? Nachmittag läßt 
er und nach foharfem Gramen ein paar Stunden heraus. — Die 
Deichäftigung war während der erften anderthalb Jahre eine nur mes 
chaniſche. Da die Bücher, welche von einem Leipziger Buchhändler 
verlegt waren, nicht vorräthig auf dem Lager Böhme's gehalten wur- 
den, fo mußten fie, fo oft ein ſolches gefordert ward, aud den ver 
fhiedenen Handlungen geholt werden. Diefed Gefchäft fiel dem jüng- 
ſten Lehrlinge zu und es machte ihm anfangs genug-zu fhaffen. Bei 
unferm Handel, ſchrieb er, find fo viel Kleinigkeiten, daß ein Anfänger 
nicht im Stande ift, alle zu begreifen, und die Herren Principale find 
gewohnt, alles, 3. B. die Titel der Bücher, nur halb zu nennen. 
Einer, der ſchon ein Jahr dabei geweſen ift, verfteht dad freilich, aber 
ein Anfänger bringt immer das Falſche, und frage ich, fo ift die Ant 


12 


wort: verftehft du fein Deutſch? — Die Arbeit, welche ihm als 
jüngftem Lehrling zu Theil "geworden war, brachte es mit fi, daß 

Perthes während des erſten Winterd fortdauernd auf der Straße und 
in den Gewölben anderer Buchhändler war. Seine Lebhaftigfeit, 

verbunden mit einem befcheidenen Betragen, erwarb ihm die Gunft 
aller Leipziger Principale; er war der einzige Lehrling, der, während 
die verlangten Bücher gefucht wurden, in die Gomptoire eintreten 
durfte, um fi zu wärmen; man bemitleidete ded Knaben harten 
Stand. bei feinem Lehrherrn. Kam er bei einbrechender Dunkelheit 
durchfroren und mit nafjen Füßen zurüd in. dad. Gewölbe, fo mußte 
er noch Stunden lang auf den fteinernen Fliefen ftehen, um zu colla- 
tionieren. Böhme, nie krank gewefen und überaus abgehärtet, heizte 
die Buchhandlung nicht, fondern wärmte ſich durch heftiged Stampfen 
und Reiben. Hart gegen fi), war er es auch gegen andere. Im er: 
ſten Winter feines Leipziger. Aufenthaltes erfror Perthes bie Füße. 
Böhme fah den Jammer, aber er’ blieb ungerübrt, bis Ber Knabe 
nicht mehr geben konnte; dann ſchickte er zu dem erften Wundarzt. 
Eckhold kam und erklärte ſogleich, vier und zwanzig Stunden fpäter 
hätte der Fuß abgenommen werden müſſen. Neun lange Wochen 
brachte nun der Knabe auf ſeinem Dachkämmerchen im Bette zu, aber 
verlaſſen war er nicht; denn mit treuer Pflege nahm ſich ſeiner die 
zweite Tochter ſeines Lehrherrn an, Friederike, ein liebliches Kind von 
zwölf Jahren. Sorgſam ſaß fie den Tag über mit dem Strickzeug 
in der Hand an dem Bette des Kranken, erzählte, tröflete und holte 
berbei. 

Auf dem Boden ag unter andern alten Büchern auch eine e lieber. 
feßung von Muratori's Geſchichte Italiens; mehrere der-diden Quar⸗ 
tanten lad das arme Mädchen mit immer gleicher Freundlichkeit in 
der halbdunklen Kammer vor. Ein inniges Verhältnis zwiſchen bei- 
‚den Kindern. entſtand aus dieſer Pflege und dauerte fort, auch als er 
der Pflege nicht mehr bedurfte. | | 

Auch abgejehen von den Leiden diefer Monate fühlte fih der in 
ungebundener Freiheit in Berg und Wald unter der treuften Pflege 
fireng fittlicher Verwandten aufgewachfene Knabe oftmals ſchwer ge- 
drüdt in der großen Stadt und ihrer flachen, waldlofen Umgebung, 


13 


in den Widermärtigkeiten der Familie ſeines Lehrheren und durch das 
in eine unverbrüchlide Tagesordnung. eingezwängte Gefchäftsleben, - 
welches feine freie innere und äußere Bewegung erlaubte. Sehnfüd- 
tig wenbeten feine Gedanken ſich zurück zu den Jahren der früheren 
Kindheit und vor allem zu den Heinen Begebenheiten ded Aufenthalts 
bei dem Oheim in Schwarzburg, wo er in freier Quft umbergeftreift 
war. In allen Briefen aus diefer und auch in denen einer. viel ſpä—⸗ 
teren Zeit drüden fi Erinnerungen an die glüdlihen Stunden aus, 
die er-fo nie wieder genießen könne. Was macht Bogelherd und Fi- 
fcherei, fchrieb er, was Mag und der alte Bolgel? Lebt der alte Juſt 
noch, oder ift er geftorben? Wie geht es den Hunden und allem, 
was lebt und webt? Empfehlen Sie mid) allen und ganz Schwarz» 
burg. — Mir geht es, fchrieb er ein anderegmal, ganz gut, did auf 
eine gewiſſe Art von Trauer. Dies ift gar befonders: wenn ich allein 
bin, fo überdenfe ich mein voriged glüdliches Leben, und das ift nun 
alled vorbei: Bald ftelle ich mir diefen oder jenen Felfen vor, bald 
Vogelherd und Dittersdorfer Weg und dag Pläpchen, wo der Spitz 
lag und Magen anbellte. Jeder Strauch ift mir. erinnerlih. Oft, 
‚wenn ich Nacht? aufmache oder früh Morgend Nebel fehe, fo denke 
ih: Itzt fagt der Oheim zu Mapen: heute wirds was geben auf dem 
Vogelherd. Dann fehe ich Sie mit der Laterne durch den Wald wan⸗ 
dern und höre Sie fagen, wenn Sie etwas gefangen haben: wäre 
doch der rip Dabei! — Ah, wie viele ſüße Erinnerungen von 
Schwarzburg find in meinem Herzen, heißt ed ein anderedmal. Hier 
auf einem benachbarten Dorfe, Namen? Gohlis, ift ein Kuhhirte, der 
fein Horn eben fo kunftreich bläft wie weiland- der Schwarzburger 
Trompeter. Dies kann ich auf meiner Stube in meinem Bette hören 
und Sie können nicht glauben, wie curiod mir dann wird und was 
für eine befondere Art von Trauer dann fommt. 

Herr indeflen ward die Sehnfucht nach feinem lieben Schwarz. 
burg nicht über den Knaben und hinderte ihn auch nicht, ſich mit Luft 
und Freude den Eindrüden. hinzugeben, die neue Bücher oder allerlei 
Greigniffe in dem bunten: Treiben Leipzigd auf ihn madten. Bald 
waren e3 ein paar fehnurrige Scenen aus dem Siegfried von Linden- 
berg, oder die fhöne Komödie Friedrih mit der gebiffenen Wange, 


14 


oder eine Stelle aus Villaume's Logik, über welche er Bericht erftat- 
tete; bald hatte ihn Herr Blanchard, der mit einem Luftballon in die 
Höhe flieg, bald ein Aufzug der Leipziger Studenten ergößt: ſechs 
Poſtillone voraus, dann Bereiter Herzberg, dann achtzig Studenten 
zu Pferde und fechzehn Wagen, das war ein recht Getrappel. Heute 
wurde auch, meldete er ein anderedmal, ein Hauptmann mit zwei 
Kanonen begraben. Es war ehr herrlich, aber leider habe ich ed 
nicht gefehen; denn er wohnte in der VBorftadt und da konnte ich nicht 
hingehen, ob ed mir gleich in der Seele weh that. — Bor allem war 
es die Meſſe, welche den Knaben, als er fie dad erftemal in Leipzig 
erlebte, in große Bewegung feste. Zwar brachte fie jehr mühjfelige 
Arbeitötage mit; aber ich fühle fie nicht, fehrieb er, wenn ich an bie 
Biertelftündchen denke, in welchen ich meinen Oheim, der am Montag 
aus Gotha ankam, fehen fann. Der hat mich während der ganzen 
Zeit feines Hierfeind fo lieb gehabt, dag ich manchmal denken konnte, 
ih hätte auch einen Bater, und alles fonnte ich ihm vertrauen. Einen 
Sonntag Rachmittag, aͤn welchem ich eben nicht viel zu thun hatte, 
nahm er mih mit nah Rafchwig, einem benachbarten Orte, mo an 
demfelbigen Tage bed heiligen römiſchen Reiches Buchhändler zur 
fammen famen; wie viel Ehre habe ich da mit genoffen, an die ein 
anderer der Burfchen nicht denken darf. Mein Onkel ftellte mich allen 
vor und ih wurde fehr geachtet. Auch fonft hat e3 fo viel Anlaß zum 
Bergnügtfein gegeben, daß ich Ihnen davon fehreiben muß. Sch habe 
etwas gejehen, was gewiß auch Sie gerne würden gefehen haben, 
nemlich eine ganze Menge fremder Thiere: erftlich einen Seehund, 
der ſaß in einem großen Kübel mit Waffer, er mar fo groß wie ein 
Meine? Kalb, ganz ſchwarz, hatte einen Hundskopf, und die Border: 
füge mit fünf Fingern wie ein Menſch, und was fehr wunderbar war, 
er verftand feine Führer. Wend' dich um, riefen fie; da zeigte er ſei⸗ 
nen Bauch, an welchem die Hinterfüße ganz unter den Schwanz, der 
wie ein Fiſchſchwanz ausſah, gemachfen waren. Alsdann gab mir 
mein Obeim ſechs Grofchen, ich follte in die Komödie gehen. Weil 
aber keine Zeit dazu da war, ging ih in eine Thierbude, und weil, 
wenn ich was beſehe, ich es recht befehen muß, fo gab ich meine ſechs 
Groſchen hin und ging auf den erften Plag. Hier präfentierte ſich mir 


15 


fo viel, daß ich ganz betäubt wurde: erftlich ein Vogel Strauß, der 
ganz fhwarz war, alddann ein afritanifcher Löwe von achtzehn Mo⸗ 
naten, ein fehr ehrmürdiges Thier; er fah Zahn- Wolfen, oder wie der 
lahme Kerl fonft heißt, aͤhnlich; ein Pantherthier, das ich angegriffen 
habe, und ein Tiger, der ift, glaube ich, das prächtigfte Gefhöpf auf 
Gottes Erdboden. Noch viele wunderliche Dinge waren auf der Meife, 
weiches fi) aber Doch nur mündlich befchreiben läßt; aber bald hätte 
ih eine der merfwürdigften Begebenheiten meine? Lebens vergeilen. 
Ich babe nemlih mit F. Nicolai gefprochen. Er ift ganz fo, wie ich 
mir ihn vorgeftellt habe: von Geftalt lang und dick, aber dabei ein 
außerordentliher Schwadroneur. Ich glaubte, er würde gegen die 
Buchhändler ftolz fein, aber er war im Stande, fich eine halbe Stunde 
vor eine Thüre hinzuftellen und mit dem Buchhändler zu ſchwatzen. 
In den eriten anderthalb Jahren feines Leipziger Aufenthalts 
hatte Perthes freilich durch eigentfiches Arbeiten wenig an Kenntniſſen 
und an Geihäftsausbildung erworben, aber manche Erfahrungen 
hatte er gemacht und an fittlicher Kraft durch den nachhaltigen Ein- 
flug gewonnen, welchen fein Mitlehrling, Rabenhorft, auf ihn aus 
übte. Die innere Schen vor allem unreinen und gemeinen, die Obeim 
md Tante in ihm von den früheften Kinderjahren an gewedt und ge- 
pflegt hatten, war eine große Dlitgabe für fein ganzes Leben gemefen, 
und dankbar erfannte ed ſchon damals Perthed an. Liebfter Oheim, 
fhrieb er, wenn ich mic) jegt und fünftig gut halte, fo habe ich es 
Ihnen und Jhrer und der Tante Erziehung zu danken. Mir felbft 
ganz gewiß nicht, denn wäre ich in ſchlimme Hände gerathen, fo hätte 
mich mein Leichtſinn eben ſo leicht laſterhaft machen können. — Eine 
ſittliche Stüge indeſſen konnte der bewegliche, lebhafte Knabe noch nicht 
entbehren, als er in Die Leipziger Verhältniſſe eintrat, und er fand fie 
an Rabenhorft, einem an Leben und Willen, an Gejchäftsbildung und 
Charakter jehr ausgezeichneten Süngling von etwa achtzehn Jahren. 
Ich danke Gott, fchrieb Perthes feinem Oheim, daß ich hierher ge- 
fommen bin, und da8 bloß meines Kameraden wegen, der mir dur 
feine Aufführung ein gutes Beifpiel ift, wenn der nicht wäre, fo hätte 
mir unfehlbar die Welt zeitleben® zur Hölle werden müffen. Sie 
glaubten, daß ich hier bald gute Gefellfchaft finden würde, aber es ift 


16 


nicht möglich, ohne Geld hier in gute Gefellfehaft einzubringen; denn 
diejenigen, welche hier von einigem Stande und Bermögen find, ha- 
ben einen großen Ton und die Kaufmannzföhne find von einem un« 
überwindlihen Stolz und fönnen allein von ihrem Tafchengelde eine 
Partie Billard & 4 Groſchen fpielen und-eine Flaſche Wein trinken. 
Die Buchhändlerburfhe aber find, zwei ausgenommen, liederlihe 
Jungens, welche Sonntag, ald den einzigen Ruhetag, auf die Wirths⸗ 
bäufer laufen und dort die Liederlichkeit auf das Höchfte bringen. 
Geſetzt nun, ich wäre unter fo einen gefommen, fo hätte ich bei allen 
den guten Grundfägen, die ih von Ihnen habe, nicht widerftehen 
fönnen. Man muß hier entweder mit fo leben, oder hat ‚täglich die 
ärgften Berfolgungen audzuftehen, aber nun hat mid) Rabenhorft 
geſchützt. — Auch in andern Beziehungen war der ältere Kamerad 
dem unerfahrenen Knaben von großer Bedeutung: er lehrte ihn Bor- 
fiht in den: verworrenen Berhältniffen des Haufes ihres Lehrherrn, 
er machte ihn aufmerkffam auf Handlungsfenntniffe, die er fich ohne 
fremde Beihilfe erwerben könne, und forderte immer von neuem, daß 

er ſich anftrenge, um bisher Verfäumtes zu erlernen. Bor allem aber 
. gab er ihm, freilich ohne es zu wollen, Übung im Umgang mit an- 
dern. Sie werden denken, lieber Oheim, fchrieb Perthed, der muß 
fi) recht gut mit feinem Kameraden vertragen, weil er ihn fo lobt. 
Aber glauben Sie das nicht; denn Rabenhorft hat alle die Tugenden 
nicht, die zu einem guten Umgang gehören: er hat einen großen 
Stolz und die äußerte Halsftarrigkeit in Behauptung feiner Meinun⸗ 
gen, ein aufbraufendes Wefen, und ift fo empfindlich und mistrauifeh, 
daß ich ihn wohl zehnmal während einer Stunde in Hige bringe, ohne 
daß ich jelft weiß womit. Wie oft muß. ich da meine Meinung, von 
ber ich ganz gewiß weiß, daß fie richtig fei, aufgeben, und. wenn ich 
es thue und nun glaube, ich hätte alles vecht gut gemacht, fo. ruft er 
wieder: „Wie fönnen Sie zu allem ja fagen; Sie glauben wohl, ih 
lafje mich dadurch betrügen, ich werde mir das aber verbitten.” Ich 
weiß wohl, lieber Oheim, Sie werden denken, das ift Dem Jungen 
ſehr nüglih, und Sie haben Recht. Denn ich war, weil ich ganz 
allein erzogen bin, der unleidlichfte Menſch in Geſellſchaft junger 
Leute, aber.nun habe ich gelernt, wie man mit andern umgehen muß, 


17 
und jedermann wundert fi, daß ich jo gut mit Rabenhorft aus: 
tomme. 63 ift freilich wahr, er hat eine unglückliche Temperaments⸗ 
befchaffenheit, aber mich hat er lieb, und da ift alles gut. 
Im Sommer 1789 verlieg Rabenhorft Leipzig, um in eine Ber: 
liner Buchhandlung einzutreten, und von feinem Fortgang an ftand 
Perthes noch in einem andern Sinne ald bisher auf eigenen Füßen. 


Der Eintritt ins Yünglingsalter. 
1789 — 1793. 





Bis zum Ausgange de3 vorigen Jahrhundert? war der deutfche 
Buchhandel auf den Rordoften Deutihlands befchräntt. Im Süd⸗ 
weiten fand fich von Wien bid Regensburg, einige Verleger katholifch- 
axetifcher Werke ausgenommen, feine, von Regensburg bis Tirol nur 
in Augsburg eine Buchhandlung. Nürnberg war e8, welche? den ge- 
tingen Bedarf diefed großen Landſtriches allein befriedigte. In Tü« 
bingen und Heidelberg waren zwar blühende Gefchäfte, aber der ganze 
Rordweiten, in welchen Münfter als letzter Titerarifcher Borpoften vor- 
geihoben war, wurde von Frankfurt aus fpärlich verforgt. Dagegen 
hatte der Buchhandel im ganzen nordöftlichen Deutfchland ſchon feit 
geraumer Zeit einen lebhaften Aufſchwung genommen, abet er be 
ſchraͤnkte fi noch, ald das vorlepte Jahrzehend des Jahrhunderts zu 
Ende ging, auf den Berlag und den Bertrieb willenfchaftlicher Werke. 
Die neu erfcheinenden Bücher wurden nicht an die verfehiedenen Buch- 
bandlungen Deutſchlands verſchickt, fondern Die Verleger derfelben 
famen, wenn ihr Geſchäft irgend Bedeutung hatte, Oftern und Mi- 
chaelis in Leipzig zuſammen und ein jeder brachte die Titel feiner nei 
verlegten Bücher mit. Einer befuchte nun den andern, man zeigte ſich 
gegenfeitig die Titel vor und nad manchem Hin⸗ und Herreden über - 
Preis und Werth der Bücher wurde feſtgeſetzt, wie viel Eremplare ein 
jeder von. den Verlagswerken ded andern nehmen wolle. Da das ein- 


mal Genommene fpäter, auch wenn: e8 unverfauft blieb, nicht wieder 
Perthesꝰ Sehen, I. 4. Aufl. 2 


18 


zurüdgegeben werben konnte, fo mar große Borficht bei der Annahme 
von Werfen anderer Sitte, und fehr oft mußten deöhalb den durch 
Deutfchland zerftreuten Buchhandlungen die von ihren Kunden gefor- 
derten Werke fehlen. Um fie zu erhalten, hätten fich dieſelben an den 
jedesmaligen Verleger werden koͤnnen, aber ein großer Aufwand von 
Zeit und Geld würde daraus erwachten fein. Dem Uebelſtande wurde 
abgeholfen, indem zuerft in Frankfurt am Main, dann vorwiegend in 
Reipzig unternehmende Maͤnner große Lager aller bedeutenden Bücher 
errichteten, aus denen jede deutjche Buchhandlung die Werke, deren . 
fie bedurfte, auf einmal: verfchreiben Tomte. 

Ein ſolches Commiffiondgefhäft im damaligen Sinne ded Wor- 
te8 beſaß auch Böhme. Er hatte in drei großen Räumen ein fehr 
bedeutendes Lager alter Eoftbarer Werke und aller neu erfchienenen 
guten Bücher, das heißt folher, welche im Jahre ihres Erſcheinend 
zwei⸗ oder dreimal von ihm abgefept waren. Privatkunden hatte er 
nur zwei: die fürftliche Bibliothek in Rudolſtadt und den Hiſtoriker 
Anton, aber die erften Buchhandlungen Deutfchlands waren feine 
Gonmittenten. Wöchentlich Tiefen non Diefen und von manchen Leip⸗ 
jiger Handlungen Derfchreibungen ein, welche meiftend fünf, ſechs Sei- 
ten fühlten. Die verlangten Bücher mußten aufgefucht, in der Inven⸗ 
tur abgefchrieben und in da® Abgangsbuch, nad welchem der Lehr 
herr für die Wiederausfüllung der im Lager entftandenen Lücken forgte, 
eingetragen werden. Dieje Arbeit fiel nad) Rabenhorft’3 Ausfcheiden 
Perthes zu und er gab ſich ihr mit Freude und Interefie hin. Richt 
ohne Verwunderung bemerlte er bald, daß es möglich fei, ſich durch 
die Berfchreibungen, welche aus diefen und jenen Gegenden in Leip- 
jig einliefen, ein Bild zu verfchaffen von den wifienfchaftlichen Be⸗ 
dürfniſſen Deutfehlands überhaupt und von deren eigenthümlicher 
Geftaltung und verfchiedenem Umfange je nach den nerfehtedenen Ge⸗ 
genden Deutſchlands. Wad und Ichendig, wie er war, z0g ihn. eine 
ſolche Kenntnis ſchon ihrer felbft wegen an, und früh erfannte er Die 
Wichtigkeit derfelben für jeden Buchhändler, der fich nicht mit einem 
handwerlsmaͤßigen Betriebe feine? Berufes begnügen wollte. Zugleich 
verſchafften ihm Die vielen wiflenfchaftlichen Werke, die bei diefer Be⸗ 
ſchaͤftigung durch feine Hände gingen, eine große Bekanntſchaft mit 


19 


den Namen ber irgend bedeutenden Schriftfteller des vorigen Jahr⸗ 
bundert3 und menigften® eine äußere Ueberfitht über bie Literatur, . 
welche den Wunſch erweckte, irgend welche Einfidht in das innere eWe⸗ 
ſen des nur äußerlih Gekannten zu erhalten. 

Böhme hatte neben feinem Commiffiondgefhäft zugleich einen 
nicht unbebeutenden Verlag. So oft ihm wilfenfchaftliche Werke an« 
geboten wurden, zog er einen hochbejahrten Antiquarius zu Rathe 
der im Winter wie im Sommer umter freiem Himmel einige alte Bü⸗ 
her an der Ede von der Grimmaer- und ber Ritterftraße aufgeſtellt 
hatte. Der Mann übte durch feine audgebreiteten Kenntniffe und 
feine geiftige Schärfe große Gewalt über Böhme aus, und da er Per- 
thes Tieb hatte, wußte er in kluger Weife abzubelfen, wenn diefer ihm 
bei übergroßer Härte der Behandlung feine Noth Flagte. 

Im erften Jahre ſchon nad Rabenhorſt's Abgang hatte ſich Per⸗ 
thes tüchtig eingearbeitet und das Vertrauen feines Lehrherrn in dem 
Grade gewonnen, dag ihm diefer während einer mehrmwöchentlichen 
Abweſenheit das Gefchäft amveriraute. Die Verwaltung desfelben 
lief fo vortrefflih ab, daß dem Lehrling ala Anerkenntnis feiner Ber- 
dienfte ein Paar feidene Strämpfe verehrt wurden Dennoch fühlte 
ſich Perthes dur die Vildungsmittel wenig befriedigt, welche ihm 
die Geſchäftsthätigkeit darbot. Mein Principal lehrt mich wohl, wie 
ih einmal ald Diener forttommen kann, aber dazu gehört wirklich 
fehr wenig; eigentliche Handlungskenntniſſe aber lerne ih ven ibm 
gewiß nicht, denn er treibt feine Handlung ganz handwerksmaͤßig; 
wie es ihm einfällt, thut er alled ohne Grund. ragt man etwas, fo 
ſpricht er: wir wollen es fo machen, aber einen Grund hat er gewiß 
nicht, warum fo und nicht anders; denu fommt der Fall noch einnral, 
fo macht er es wieder auf andere Art. Die Manufceripte, die er er⸗ 
hält, muß der alte Antiquarind durchſehen, mögen fie die drei Broi⸗ 
ſtudien oder Mathematit, Pädagogik, Philologie, Thierarzneikunde 
oder ſchoͤne Wiſſenſchaften behandeln. Spricht nun biefer allmächtige 
Mann: es iſt gut, fo wird es, und wenn es von’ @eifer junior wäre, 
genommen; fpricht.er: es iſt fhlecht, fo wird es vertuorfen. Ein ge 
fheider Mann ift diefer Antiquarius, das muß man fagen, aber des⸗ 
wegen ift ex doch nicht in allen Wiſſenſchaften bewandert 

f 2 * 


20 


Die Befriedigung, welche er unmittelbar in ſeinem Berufe nicht 
fand, ſuchte Perthed durch eigene Thaͤtigkeit ſich zu erarbeiten. Seit 
dem Jahre 1790, in welchem er achtzehn Jahre alt ward, erwachte in 
ihm der Trieb nach wiſſenſchaftlicher Beſchäftigung mit großer Leb⸗ 
baftigfeit, aber überall wurde der Mangel an Zeit und Geld ihm 
bemmend. Zwar war er durch dad Eintreten eine8 neuen jüngern 
Lehrling? von dem ermüdenden und aufteibenden Umherlaufen auf 
den Straßen befreit und konnte namentlich auch im Winter fich fcho- 
nen; aber die einzigen Stunden, bie ihm zur eigenen Beichäftigung 
blieben, waren Morgen? ‚vor fieben und Abend3 nad) neun Uhr. Sehr 
wünfchte er in denfelben Sprachunterricht zu nehmen, aber bei der 
großen Dürftigkeit, in welcher er fich befand, fehlte hierzu jede Mög- 
lichkeit. Die ein und zwanzig Gülden Witwengehalt, welche feine 
Mutter ihm mit eigner Aufopferung überlaffen hatte, reichten noth- 
dürftig für dad Schubzeug aus; fein Oheim gab ihm feine abgelegten 
Kleider, fonnte aber außerdem nur in den dringendften Fällen belfen. 
Die Wäfche wurde alle vierzehn Tage von einem Fuhrmann nah Ru- 
dolftadt mitgenommen, wo die Tante Reinigung und Ausbeſſerung 
beforgte. Jede Weihnachten fchenkte ihm fein Lehrherr zwei Specied- 
thaler; das war das Tafchengeld für dad fommende Jahr, Als au- 
Berordentliher Gluͤcksfall trat zumeilen -ein Geſchenk des Obeimd in 
Gotha Hinzu. Wenn Sie mich jebt fehen follten, meine gute Tante, 
fehrieb er im Sommer 1789, fo würden Sie mid) nicht kennen; denn 
ih bin fehr gewachfen und gebe durch die Güte meines Oheims fehr 
gut: einen grünen flammichten Rod, hohe Taille, die Knöpfe hinten 
zufammen nach englifchem Schnitt, ein Paar Beinkleider von neu eng- 
lifhem Ranking, eine weiße Wefte. Was wollen Sie mehr? Aber 
zu Michaelis werde ih wohl einen Uebertod haben müflen; da wer⸗ 
den die alten Thaler fpringen, Heifafafa. Ich habe noch die zwei, 
aber die will ich dann nicht mehr ſehen. 

Eine ſolche Lage machte es unmöglich, einem Sprachlehrer feinen 
Unterricht zu vergäten, und fo oft Perthes es auch verfuchte, Abends 
nach neun Uhr für fich allein Die franzöfifche oder englifche Gramma⸗ 
tik zur Hand zu nehmen, ſo wollte es dennoch nicht gelingen; regel⸗ 
mäßig ſchlief er ein. Seiner Reigung und feinen Anlagen nach würde 


Aa _ 


ihn dagegen die Beihäftigung mit Gefchichte und Erdkunde gefeffelt 
haben. Aber die herrfchende Richtung des Jahrzehends verlangte von 
jedem jungen Mann, der geiftig einige® Anfehen genießen wollte, vor 
allen, daß er ein Philofoph, wie man es nannte, fei, und Perthes 
vermochte nicht fich der gebieterifchen Anforderung zu entziehen. Es 
war die durch Kant's Auftreten hervorgerufene Richtung, in welcher 
damals das Heil gefucht ward. Kieſewetter's Logik follte gründlich 
in diefelbe einführen und ganze Hefte Papier erfüllte Perthes mit 
Tabellen, durch melde er fih die Terminologie und die Formeln ge- 
läufig machen wollte. Zu einem Philofophen wurde Perthes freilich 

durch dieſes mühfelige Arbeiten nicht, aber Derftand und Urtpeil 
gewannen an Schärfe. 

Knigge's Schrift über den Umgang mit Menfchen burfte damals 
niemand unbelannt fein. Perthes las fie und las fie mit großem 
Intereffe; aber eine Stimme in feinem Innern rief ihm ohne Unter- 
laß zu, daß in diefem Buche die Wurzel alle® Böfen zu einer Art Lehr⸗ 
buch verarbeitet worden fei. Er fuchte nach anderer Nahrung für 
feine geiftigen Bebürfniffe, aber da ihm Rath und Leitung eines Er- 
fahrenen gänzlich fehlten, mußte die Wahl immer wieder durch zu- 
fällige oder in der Zeit liegende Einflüffe beſtimmt werden. Jahre 
lang befchäftigten ihn Reinhard’? Syftem der Moral und Döderlein’s 
Dogmatik; lebendiger aber ald durch alle diefe Werke wurde er von 
Garve's Ueberſetzung und Erläuterung der Schrift ded Cicero über 
die Pflichten ergriffen. Hier glaubt? er wahre Befriedigung finden 
zu fönnen. | 

Die Eindrüde feiner früheften Kindheit, in welcher Obeim und 
Tante ihn immer von neuem aufgefordert hatten, an feiner fittlichen 
Berbefferung zu arbeiten, die Macht der durch Kantiſche Einflüfle bes 
fimmten Zeitrichtung und die Arbeiten, mit denen er fih außerhalb 
ſeines Berufes befchäftigte, fpiegelten fich wieder in der Art und Weife, 
mit mweldyer der heranmachfende lebhafte Süngling die größeren und 
fleineren Lebensverhaͤltnifſe auffahte, die ihn in Spannung feßten. 
Den Stimmungen, die fein Inneres bewegten, gab er in den Briefen 
an Obeim und Tante einen rüdhaltlofen Ausdrud. Ihm erſchien 
das irdifche Leben als eine große Anftalt, welche der gütige Schöpfer 


22 


errichtet habe, um die einzelnen Menfchen und die ganze Menfchheit 
zu immer größerer Bolllommenheit zu führen. In diefem Berftande 
glaube ih an gar Fein Uebel, ſchrieb er, weil jedes und. beffert und 
jedes, wenn es vorbei ift, und die Freude in höherem Grade ſchmecken 
läßt. Umfonft wird niemand gequält — wer könnte ſolche ſchreckliche 
Begriffe von der Gottheit haben? Aber fo lange jemand noch Fehler 
und Untugenden an fi hat, kann er nicht verlangen, ganz glüdlich 
zu fein, ja er wird fie mit ind zukünftige eben hinüber nehmen und 
das Gefühl, daß er befler fein könnte, als er wirklich iſt, wird feine 
Strafe fein. — Un fich felbit wie an jeden andern ftellte er die For⸗ 
derung, der Vollkommenheit fi immer näher zu bringen und eine 
hohe Stufe in derfelben zu erreichen. Oftmals glaubte er, mit inniger 
Weberzeugung und wahrer Aufrichtigfeit jagen zu können, daß er in 
dem Streben, volllommen zu werben, vorwärts gelommen fei. Durch 
Leſung praftifch- philofophifcher Schriften, ſchrieb er 1790, habe ich in 
meinem Kopfe das Spftem ded Strebend nach höherer Bolllommen- 
beit errichtet, welches bei dem Blicke auf meine Beſtimmung und bei 
dem Andenken an meine Wohlthäter immer ftärfer in mir wird, — 
Liebſter, beſter Onkel, fehrieb er am Jahresſchluſſe 1791, es ift wahr, 
himmliſche Freuden kann der genießen, der an feiner Befferung arbei- 
tet, umd ich habe folche Lichthelle Stunden oft gehabt, in denen ich 
durch dad Betrachten der Bollkommenheiten Gotted und feiner Werke 
und durch das Gefühl meiner eignen menſchlichen Würde den Bor- 
geichmad von dem fünftig mir beitimmten Ziele genoß. Dann war 
alles, alle® in mir Freude und ich fah alle neben mir zur Vollkom⸗ 
menheit arbeiten, dann waren alle Menfchen meine Brüder, die mit 
mir zu demfelben Ziele gelangen follten. Zu anderen. Zeiten aber 
mußte der Jüngling ſich befennen, daß er oftmals rechts und links 
von dem Wege, den er für den rechten anfah, abweiche. Sie fchreiben, 
heißt e3 in einem Briefe an den Schwarzburger Oheim: „ich habe 
eine herzliche Freude über die. in Deinem Briefe aufgeftellten Grund» 
füge; behalte fie und folge ihnen genau.” Gewiß, lieber Oheim, ich 
behalte fie, jene Grundfäße; denn fie find nicht bloß ein Werk meiner 
Vernunft, nein, fie find fo innig mit meinem ganzen ch verwebt, daß 
ih mir dieſes ohne jene nicht denken kann. Aber genau befolgen, ja 


das ift etwas amdered. Gin Heuchler wäre ich, wenn ich genaues Bes 
folgen Ihnen verfidern wollte. Bald fiegt Leidenfchaft, bald Ge⸗ 
wohnheit, bald ein mir anhängender Leishtfinn des Blutes, ber mit 
der Bebächtigleit meines Kopfes ganz im Widerfpruche fteht; bald 
muß ich auch Irvungen, welche die Bernunft in der Aufitellung jener 
Grundfäge beging, büßen, wenn fie mir eine Vollkommenheit als 
möglich vorfpiegelte, Die nur nad) und nad) errungen, nie aber durch 
einen Sprung bewirkt werben kann. Der Berfuch, ſolche Sprünge 
zu machen, bewirkt dann allemal ſchwere Rüdfälle. — Der Jüng- 
ling hatte Zeiten, in denen er völlig entmmithigt jede Hoffnung auf⸗ 
gab, die Beitimmung des Menſchen zu erfüllen. Wahrlich ſchrieb er, 
ih muß mächtig fämpfen, wenn alled, was Unfrieden gebiert, aus 
meinen Innerſten heraus fol; denn leider alle böfen Reigungen 
fhlafen aut, um bei eriter Gelegenheit mit defto größerer Gewalt los⸗ 
jubrechen. Ach, meine Unftetigleit und mein zu raſches Blut verdirbt 
unmer in einer Stunde wieder, was ich wochenlang gebaut habe, und 
dann gehört wieder eine geraume Zeit Dazu, ehe ich zu einer ruhigen, 
vorwurföfteien Gemüthsverfaſſung fommen kann. Wie oft babe ich 
mit Thränen im Auge meine Berfehriheit befeufzt, wenn ich kurz vor⸗ 
ber mir vorgenommen hatte, finndhaft in Ausübung ded Guten zu 
fein, und dann doch wieder gefallen war, meil ich-eine Leidenfchaft 
nicht befiegen konnte. Dann ift in meinen Augen jeder andere beſſer 
als ich, auch wenn jener Verbrechen begangen hat und id nur in Ge⸗ 
danfen gefehlt habe; denn ich flelle mir vor: hätten Die anderen Men- 
ſchen ſolche Antriebe zum Guten wie du, fo würden fie gewiß beifer 
fein ald du. — Dann aber famen.auch wieder Zeiten in denen der 
Süngling mit Seldftzufriedenheit auf feine Unzufriedenheit mit fi 
felbft hinblickte. Sie fehen, mein guter Obeim, fehrieb er, daß ich 
einen guten Anfang in meiner Beflerung gemacht habe, denn die 
Unzufriedenheit mit mir felbit ift ein fichere® Anzeichen davon. 
Wie fich felbft und alle einzelnen. wollte er auch die Menfchheit 
zu immer größerer Bolllommenheit fortfchreiten fehen, und von dieſem 
Geſichtspunkte aus betrachtete er die franzoͤſiſche Revolution, bie ihn 
in große Aufregung brachte. Ich glaube, fchrieb er 1792, daß bie 
Menfchheit jet in eine Berwirrung kommt, aus welder fie dann mit 


24 


Glanz einen großen Schritt zur Balltommenheit thun wird. Ich lege 
Ihnen bier einen Meinen Aufſatz bei, der mir vortrefflich ſchien. Mir 
beſonders ift fo eine Aufmunterumg nöthig, da ich von Perfonen um« 
geben bin, welche die alten Zeiten erheben und über die neuen das 
Anathema ausfprechen. Auch nach meinen Begriffen ift die Herrſchaft 
über ſich ſelbſt die einzige, wahre individuelle Freiheit, und wären 
alle Menfchen auf diefe Art frei, fo würde die bürgerliche Freiheit 
wohl ſchon folgen, weil wir dann gar feine ausübende Gewalt länger 
nötbig hätten. Allein folher Zuftand- wird wohl erft in Jahrhunder⸗ 
ten eintreten, und follten denn nun die armen Franzoſen fo lange den 
bimmelfchreienden Drud geduldig leiden? Nein, fie thaten gewiß 
ganz Recht daran, daß fie fih feiner entledigten. ch freue mich ale 
Menſch und als Weltbürger über die Fortſchritte der franzöfifchen 
Armee; aber als Deutfcher möchte ich weinen, und ewig wirb ed und 
Schande bringen, der guten Sache nur erft durch Zwang nachgegeben 
zu haben. — Sie glauben, lieber Oheim, heißt e8 in einem anderen 
Briefe, daß, wenn auch jebt die Bemühungen der Regenten, die Völker 
zu unterdrüden, gelingen follten, eine Finſternis gleich der in den mitt- 
leren Zeiten Europa bedecken würde. Aber dies geichieht gewiß nicht; 
denn Kenntniffe aller Art find unter allen Ständen verbzeitet, und der 
Geiſt der Freiheit und des Naturrechts ift bis zu den Bettlerhütten 
vorgedrungen, und bei welchen unferer Herrfcher finden wir den he- 
roifchen Muth, die Tapferkeit und die Geifteögegenwart, weldge die . 
alten Tyrannen bei aller ihrer Grauſamkeit doch erſtaunenswürdig 
machte? — Ungeachtet diefer Auffaffung der Revolution hegte Per⸗ 
thes dennoch um diefelbe Zeit fehon ſtarkes Bedenken gegen den un« 
mittelbaren Segen ihrer Folgen. Ich glaube nicht, fchrieb er, daß 
wir ſchon geſchickt und gut genug find, um einer gänzlichen Befreiung 
von Despotie fähig zu fein. Schimpfen thun die niederen Elafien 
und die Gelehrten wohl auf die Despoten und Ariftofraten; aber lä- 
helt ihnen einer zu, fo vergefien fie alle Menſchenwürde und find 
Speichelleder, und glüdt es gar einem, höher zu fteigen, fo wird er 
ein Ärgerer Ariftofrat, als die geborenen e8 find. Herrſchen wollenalle, 
aber zum Gleichfein und zu der Tugend: niemandes Recht zu beein- 

trãchtigen, gehört viel. Wollen Sie etwas gründliche hierüber Tefen, 


25 
fo laſſen Sie fi Ehlers ſtaatswiſſenſchaftliche Auffäpe geben. Ich 


fende Ihnen hierbei einen von mir gemachten Auszug, fo wie ich mir 
feine Ideenreihe zugeeignet habe. — Ich kann nicht ohne Schmerzen 
auf die politifche Welt fehen, ſchrieb er im Frühjahr 1793; dort in 
Frankreich wüthendes, verftandlofed Volt, und bier bei und bund⸗ 
brüchige Tyrammen. ch glaubte fonft immer noch,‘ daß, wenn aud) 
der einzelne Menſch fiel, dennoch das menschliche Gefchlecht ſich ftufen- 
weife verebeln würde, aber auch das feheint Traum zu fein. Daß fie 
verbammt wären, die franzöfifchen Bluthunde, welche die heilige Sache 
der Freiheit fo ſchaͤndlich fchänden! 

Die Thätigkeit, welche Perthes innerhalb und außerhalb feines 
nächften Berufes übte, die politifhen und Die allgemein menſchlichen 
Bervegungen, welche auch ihn ergriffen, hatten feinen Verſtand gebil- 
det, feinen Blid für die Berhältiifie bes Lebens gefhärft und ihn mit 
lebendigen Intereſſe erfüllt; aber fie ließen doch eine Lücke in feinem 
geiftigen Leben, welche er ſchmerzlich empfand. 

Er Hatte nicht nur nichts verftedlte® und unwahres in feinem 
Weſen, fondern fühlte auch dringend das Bedürfnis, fih und fein 
ganzes Innere andern aufjufchließen, andern ſich ganz hinzugeben und 
von andern gleihe Offenheit und Hingebung zu empfangen. Die 
natürliche Hingebung des Kindes an Vater und Mutter war ihm ver« 
fagt geblieben, da er den Vater verloren und die Mutter in kurzem 
Zufammentreffen nur fo flüchtig gefehen hätte, daß dieſe einen bilden- 
den Einfluß auf ihn nicht gewinnen konnte. Dagegen wendete Per⸗ 
thes dem Oheim und der Tante, die Bater- und Mutterftelle an ihm 
vertraten, fein Herz mit voller Liebe zu, und ferne innige Dankbarkeit 
ſprach ſich faft in jedem Briefe an fie aus. Mit rüdhaltlofer Offen- 
heit legte er dem Oheime da8 ganze Innere dar. Die Kämpfe, als 
der Jüngling in ihm erwachte, den Schmerz über feine Schwäche, die 
Freude darüber, daß ed ihm wenigſtens gelinge, die böfen Gedanken 
nicht in böfe Thaten übergehen zu laſſen, das alles theilte er dem vä- 
terlichen Freunde mit, aber dennoch. fehnte er fich für den täglichen 
Verkehr nach einem Alterögenofien, der mit ihm empfinden fönne, 
was ihn felbft bewegte. Mein fehnlichfter Wunſch, den ich jebt habe, 
fchrieb er, ift ein Freund, dem ich mein Innerſtes ganz aufſchließen 


26 


fönnte, der mich ftärkte, wenn ich ſchwach würbe, der mir Muth gäbe, 
wenn ich an meiner Beflerung verzweifele; aber ich finde feinen, und 
doch muß ich mich mittheilen, Doch möshte ich mandhmal jeden an mein 
Herz drüden und fagen: Auch du bift ein Bild Gottes. 
Während, wie er ſich ausdrücdte, eines feiner Leiden. blieb, feinen 
Freund zu haben, hatte den einfam aufgewachfenen Anaben. das kind⸗ 
lich freundliche Entgegenfommen der zweiten Tochter feined Lehrherrn 
mit wohlthuender Gewalt von dem Augenblide an ergriffen, in wel⸗ 
hem er Böhme's Haus betrat. Friederike war als zmölfjähriges 
Mädchen feine treue Pflegerin in jenem erften fchweren Winter gewe⸗ 
fen; fie blieb ihm liebe Gefpielin und Tröfterin auch in den folgenden 
Jahren; fie verforgte den Knaben, dem ed an allem fehlte, mit Speife 
und Trank, mit Holz und Licht und erfreute ihn mit ihrer muntern 
Laune. Auch fie hatte oftmals ſchwer zu leiden unter der Berworren- 
beit des elterlichen Haufes, und wenn Ungemach über fie oder den 
Knaben hereinbrach, fo fehöpften ihre Augen aneinander Troſt. Wir 
waren gar verftändige Kinder, ſchrieb Perthes fpäter; wir tröfteten 
einander, lafen einander vor und befprachen alled, was uns drüdte, 
Gleichzeitig etwa traten beide aus den Kinderfchuhen heraus: der 
Knabe wurde verlegen und ſtumm, das Mädchen ſcheu und heimlich. 
Um diefe Zeit fam ein zweiter Lehrling, Nefjig mit Namen, ind Haus, 
ein flinfer, gutartiger Junge, der eine ausnehmende Gabe befaß, fi 
und andere mit leichtem luſtigem Geſchwätz zu unterhalten. Das nun 
freilich Tonnte Perthes Friederifen gegenüber nicht: er hätte nur ver- 
mocht von der Würde des Menfchen und der Bernolllommnung ded 
Menſchengeſchlechts, von der Liebe zu Gott und zu dem Rächften höchſt 
ernfthaft mit ihr zu reden, und da das nicht ging, redete er gar nicht. 
Darüber, fo klagte er feinem Oheim, wird Reffig viel mehr geachtet 
als ih: mit ihm fpricht man, mid) läßt man ftehen und behandelt 
mich fogar zuweilen verächtlich.  ‘Perthes fühlte fich gefränft und zu- 
rückgeſetzt, und eine tiefe Leidenfchaft erfaßte ihn. Er wurde ſich ihrer 
zuerſt an dem Widertoillen bewußt, den er gegen den ihm vorgezoge⸗ 
nen Neſſig fapte. Diefen Widerwillen wollte er überwinden; er of 
fenbarte fein ganzes Herz dem Begünftigten und verſprach auch fünf- 
tig ihm nichts zu verheimlichen. Eine warme, auf die gemeinfame 


27 


heftige Neigung zu dem geliebten Mädchen gegründete Sreundfchaft 
zwiſchen beiden heranwachſenden Jünglingen war die unmittelbare 
Folge diefed Schrittes, der fpäter für Perthes zu mancher muthwilli⸗ 
gen Rederei,: aber auch zu manchem Zähneknirſchen führte. 

Zu einer der teigendften Geftalten war die jet fechzehn Jahre alt 
gewordene frühere Gefpielin herangewachſen. Die Bewunderer ihrer 
älteren Schweiter, welche für die erfte Schönheit Leipzigs galt, wur⸗ 
den nun von der ſchwarzgelockten jüngeren, von deren munterer Laune 
und überlegenem Berftande bezaubert und bingeriffen. Verehrer ohne 
Zahl wurden ihr zu Theil, und dennoch) mochte fie des ihr gegenüber 
verlegenen und ängftlichen neunzehnjährigen Lehrlings nicht entbehren, 
der nicht durch Worte, fondern nur durch die unwillkürliche Aufmerk 
famfeit auf alles, was fie anging, zu ihr ſprach. Sie bleibt, fchrieb 
Perthes, voll Güte gegen mich: mit einem einzigen Worte weiß fie 
mid) aufzuheitern, wenn fie mich betrübt und traurig fieht, und über 
ihre Lage im elterlichen Haufe fpricht fie mit mir wie mit feinem an» 
dern. Ah mein lieber, guter Oheim, wie danfe ich Gott, daf nun 
die ängfllihen Stunden ‚vorbei find, in denen ich vor dieſer Zeit mit 
böfen Gedanken, die gewiß nicht abfichtlich durch mich in mir aufges 
kommen waren, zu fämpfen hatte; was ernſthaftes Nachdenken über 
Renſchenwürde und Vervolllommnung nicht gefonnt haben, das hat 
reine, unſchuldige Liebe gefommt. Gott wird mich weiter [hüpen; er 
ſchütze auch Sie und Yhre Frau und Kinder, und, was mein heißer 
Wunſch if, er mache Friederifen glüdlid. Gute Naht! — Der 
nähfte Brief des Oheims brachte natürlich die Frage, wad denn nun 
weiter werden folle. Sie liebt mid gewiß nicht, antwortete Perthes; 
fie kann ja wählen zwifchen fo vielen jungen Leuten, die ihrer Bildung 
nach fo beſchaffen find, daß ich mit meinem zwanzigjäbrigen Jungen 
geficht eine fehr geringe Figur daneben made, unberechnet was Klei⸗ 
der und Anftand thun. Freilich fieht Friederike gewiß nicht allein auf 
Kleider und Anftand, aber es macht ihr auch ein junger Mann die 
Aufwartung,, vor defien Renntniffen ich volle Achtung habe, und ie 
müßte der eitelfte Menfch von der Welt fein, wenn id) mich ihm’ gleich“ 
fiellen wollte. Und nun noch eins, lieber Oheim: wenn fie mic) auch 
lied hätte und wenn ich auch nicht ganz arm wäre, fo Fönnte ich fie 


28 


Doch nicht zur Frau nehmen; denn um Teinen Preis der Welt könnte 
ich mich für immer mit dem Böhme’fchen Haufe verbinden, und id 
tönnte auch feine Frau haben, die mich in einer fo untertvürfigen 
Lage, wie die meinige in diefem Haufe ift, hätte kennen lernen. Aber, 
ah! das Herz möchte mir brechen, während ich Ihnen das fchreibe. 
Aber feien Sie meinethalben außer Sorgen, lieber Oheim; ich war 
nie fo feft überzeugt von meiner Standhaftigkeit im Guten als jekt. 

Mit diefem Kampfe in feinem Innern fah fich. Perthes im Sabre 
1792 bei einem Mittagamahle, welches Böhme Fremden zu Ehren, 
die nach Leipzig gelommen waren, gab, Friederiken gegenüber geſetzt. 
Sie behandelte ihn an diefem Tage mit der größten Aufmerkſamkeit 
und verflocht ihm in jedes Gefpräh. Er wurde lebhaft, trank Wein 
und al3 bei dem Nachtiſch dad Mädchen an feinen Stuhl trat und 
fih, um etwas vom Tifche zu nehmen, über ihn hin bog, ſo daß er 
jeden Schlag ihred Herzend durch ihr blaufeidned Gewand fühlte, 
konnte er ed nicht laͤnger aushalten; er fprang auf und lief bis in die 
Nacht wie rafend ftundenweit durch das Feld. Ich war, fihrieb er 
einige Jahre fpäter, wie vernichtet, in jener Stunde war mein Hei⸗ 
ligthbum für meine Gedanken nicht rein geweſen; ftrafen wollte ich 
mi, nicht wieder wollte ih in des Mädchens Auge ſehen. ch 
tonnte ed dennoch nicht laflen, blickte dennoch zu ihr hin und fah To⸗ 
deöfälte. Das Mädchen war nicht mehr dasfelbe: kalt und hart wie 
Eis und Eifen war fie gegen mich. Da begann ein gewaltiger Kampf 
in mir, gewaltfam nahm ich mid) zufammen und durd die gewalt- 
famjten Anftrengungen, die alle meine Kräfte aufregten, babe ich das 
Boͤſe in mir nicht vernichtet, aber niedergedrüdt. — Halbe Nächte 
hindurch ſaß Perthed Damals auf und fuchte den Sturm in feinem In⸗ 
nern durch das angeftrengtefte Abmühen mit Schriften über Kantifche 
Philofophie und Cicero's Lehre von den Pflichten zu ſtillen. Stärkere 
Hilfe aber als dieſe mühfelige Beichäftigung gewährte ihm und den 
Anftrengungen feines eignen Willen? ein frifcher, Tebendiger Umgang 
mit geiftig regfamen und fittlich gefunden jungen Leuten, wie er ihm 
bis dahin unbekannt geweien war. Der Zufall hatte ihn mit fieben 
in Freundfähaft eng verbundenen Schwaben „ Schröder, Duttenhover, 
Trefftz, Meier und einigen anderen, bekannt gemacht, welche, obgleich 


20 


bedeutend älter als er, ihm lieb gewannen und an ſich zogen. Es 
waren verftändige, ſehr unterrichtete junge Männer, voll guter Laune 
und poetifchen Anfluge®. Bald war Berthed alle freien Stunden mit 
ihnen zufammen. Durch fie wurde er mit Herder, Schiller und Goethe 
und mit einem fröhlichen Jünglingsfeben befannt. Seit meinem 
Hierfein, fehrieb er, habe ich noch Feine fo fröhliche, herzſtaͤrkende Stun- 
den genofien als jept mit meinen lieben neuen Freunden. Sie find 
ſaͤmtlich Schwaben und halten feft zufammen, und haben nur unter 
fi) Umgang; aber fo oft ich fomme, fehe ic) ed an ihren Augen, daß 
fie fi) freuen. — Geſtern Abend, heißt es in einem andern Briefe, 
gab einer meiner Freunde einen kleinen Abſchiedsſchmaus. Wir wa⸗ 
en fehr luſtig; Sie können nicht glauben, was für eine eigene Art 
von guter Laune die Schwaben an ſich haben. Ich bin doch gewiß, 
was Fröhlichkeit anbetrifft, nicht der legte; aber vor der ihrem Wig 
muß ich die Segel ftreichen, den einzigen Fall audgenommen, wenn 
ein Glas Wein meine Lebensgeifter erheitert hat. — ich bin einer 
der glüdlichften Menfchen, äußerte er um diefe Zeit dem Schwarzbur- 
ber Oheim; Freundfehaft und Achtung und Liebe guter Menfchen be» 
gleiten mich auf allen Schritten, und ein Kummer eigner Art, ber 
fonft mich drüdte, ift nun auch verfchwunden. Wenn ich nemlich fonft 
viele FJünglinge meines Alters fah, die alled, was fie thaten, mit einer 
Lebhaftigkeit unternahmen, wie ih fie nicht fannte, fo fränkte mich 
das fehr, weil ich überzeugt bin, daß nicht? Großes, nichts Edles ohne 
Feuer und Muth nnternommen- werben Tann. ch ärgerte mich an 
meiner Schwächlichkeit und ging fo weit, daß ich alles Gute an mir 
tadelte, weil ich e8 für eine Folge meines Falten Naturelld hielt, was 
ih bis zum Tode haßte. Wie hat fich das jet geändert, mein lieber 
Oheim! Ya ich fühle Feuer in mir, und wenn biefed Feuer, das mid) 
jest für andere Gegenftände befeelt, einmal bloß für Religion, Boll- 
kommenheit und Tugend geftimmt ift, dann wird alles Eigennügige 
wegfallen und ich werde alle, alle ald meine Brüder lieben. - 
Beichränkt und Mein waren freilich die Berhältnifie, in denen 
Perthes zum Züngling heranwuchs, aber dennoch hatten fie fein In⸗ 
neres durch bedeutende Erfahrungen gebildet. und geftählt. Wenn ich 
iebt, fchrieb. er. im April 1793, an die Jahre zurüddente, die ic) hier 


30 


durchlebte, wenn ih mich in den Ideenkreis zuruͤckſtelle, den ich mit 
hierher brachte, ſo erftaune ich, wie fich alled in mir verändert hat. 
Stets werde ich mit Liebe und.mit Segendwünfden auf Leipzig zurüd- 
fehen; denn bier war es, wo mein Geift anfing ſich zu bilden und 
Menſchenwuͤrde zu ahnen. Ich habe viele böfe Tage gehabt, fchrieb 
er, aber diefe böjen Tage haben viel Gutes gewirkt. Ich war, ala 
ich hierher kam, ein leicgtfinniger Sunge, der viele, viele Fehler hatte; 
ich habe deren noch viele, aber viele find doch auch unterdrüdt und 
gebeffert worden. Alles. das Gute verdanfe ih Gott, der fo viele 
gute Anregungen in mein Schidfal legte, daß mein Leichtfinn bie 
Oberhand nicht erhalten fonnte. — Richt ohne einigen Stolz ſah er, 
als die Lehrzeit fich ihrem Ende nahte, auf fi) und feine Lage. Es 
macht mir Freude, ſchrieb er, mir zu fagen: Du hatteft feinen Bater, 
fein Bermögen und bift dennoch niemandem zur Laſt gefallen, und 
wirft nun in wenig Wochen von niemand abhängen ald von dir. — 
Dem Bertrage nad lief die Lehrzeit um Michaelid 1793 zu Ende; 
aber der mit Böhme befreundete Buchhändler Hoffmann aus Ham⸗ 
burg, welcher auf Perthes aufmerkſam geworben war und ihn als 
Gehilfen in fein Gefchäft zu nehmen münfchte, hatte defien Lehrherrn 
erſucht, ihn ſchon Oftern 1793 zu entlaffen. Böhme willigte ein; bei 
einem feierlichen Mittagsefjen trat er an Berthes heran, hieß ihn aufs 
- fehen, gab ihm einen leichten Badenftreich, überreichte ihn einen Des 
gen, nannte ihn Sie, und die Lehrzeit für den Buchhandel war ges 
endet, aber — die für da8 Leben noch nicht. 


Die eriten Eindrüde des Aufenthalts in Hamburg. 
1793 — 1794. 





Am 13. Mai 1793 verlieh Perthes die Stadt, in weicher er bei⸗ 
nahe ſechs Jahre, gluͤckliche Jahre ernften Strebend, wie er felbft fie 
nannte, zugebracht hatte. - Hinter ihm lag nun der harte Drud des 
Lebens; hinter ihm die äuferfte Armuth und die gebundenfte Abhän- 


31 


sigfeit von andern. Aus der Fleinen kalten Dachkammer fah er fi 
in den bequemen Reiſewagen feine neuen Principals verfegt. Statt 
des reblichen aber rauhen Lehrherrn hatte er in Hoffmann einen ge- 
bildeten und welterfahtenen Reifegefährten zur Seite. Ringsum ſtand 
alles in Blüte, als er Leipzig verließ, und eine helle Mondnacht for⸗ 
derte zum fillen Sinnen über die Erfahrungen auf, welche hinter ihm 
und melde vor ihm lagen. m Hochweiſig, der erfien Station, foll- 
ten die Reifenden den mit Hoffmann befreimdeten Educationsrath 
Campe aus Braunſchweig nebſt Frau, Tochter und Neffen treffen. 
Campe galt damals in weiten Kreifen ald bedeutender Mann und 
al? vorzüglicher Schriftfteller ; fein Haus war durch feine, gefellige 
Bildung befannt und eine große Zahl viel genannter Männer ftand 
in näherer oder fernerer Beziehung zu demfelben. E23 war das erfte 
mal, daß Perthes in unmittelbare Berührung mit einer Familie tre 
ten follte, welche auch über die Grenzen des Haufed hinaus Bedeu⸗ 
tung hatte. Richt ohne große Sparmung fah er dem Zufammentrefe 
fen entgegen. in einer fehlechten Dorfichente hatten Campe's linter- 
fommen gefunden und die mancherlei Heinen Einrichtungen und ge- 
genfeitigen Hilfleiftungen, welche das dürftige Haus und die unge 
ſchickten und ungefälligen Wirihsleute nöthig machten, ließen Perthes 
fhnell mit der Familie befannt werden, von der er ſich unter andern 
Verhaͤltniſſen wohl in fcheuer Verehrung entfernt gehalten hätte. Seine 
Bewunderung kannte feine Grenzen, ald er in ihrer Gefellfehaft Wörlig 
und Deffau befuchen durfte. Herm Rath Campe, ſchrieb er feinem 
Obeim, fand ich noch weit über das Ideal erhaben, das ich mir von dem 
Verfaſſer des Theophron gemacht hatte. Ex ift ein langer, hagerer, 
aber fhöner Mann; Würde ift über fein ganzes Wefen verbreitet; ein 
nur auf Bernunft beruhendes Betragen leuchtet auch auß der Tleinften 
feiner Handlungen hervor. Am meiften aber trägt zur Verherrlichung 
feiner Familie und zu feiner eigenen würdevollen Ruhe die vortreffliche 
Frau bei, welche die feinfte Bildung der großen Welt mit dem beften 
Herzen und bie trefflichften Kenntniſſe mit den Pflichten der forgfamen 
Haudfrau zu verbinden weiß. Nun kommt noch, heißt ed weiter, das 
Meiſterſtück diefer Familie, dad Muſter der Erziehung und ber Bil⸗ 
dung, Lotichen Gampe. Sie zu loben, wie fie es verdient, bin ich 


32 


nicht im Stande. — Der Neffe des beiwunderten Mannes bot ihm 
Freundfhaft und Briefwechſel an und Perthed fchlug freudig ein. 
Bei dem Abfchiede, fchreibt er, war mir, ald verließ ich Bater, Mutter, 
Schweſter, Freund und alles, was Glück auf dieſer Erde heißt. Weber 
Helmftädt und Uelzen fuhren Hoffmann und er Hamburg zu. Mor- 
gen? fünf Uhr waren wir an der Elbe angelommen, berichtete er dem 
Oheim; auf einer mächtigen Fähre mußten wir und nad Zollen- 
fpider, dem erften hamburgifchen Orte, überfegen laſſen, was mir fehr 
viel Vergnügen machte, da e3 für mich ein ganz neue? Schaufpiel 
war. Bon Zollenfpider bi Hamburg bat man noch vier Meilen. 
Ich hielt ed aber faum für eine Stunde; denn. ſolch eine Abwechslung 
von Gegenftänden ift mir noch nicht vorgelommen. Die ganze Strede 
von vier Dieilen ift ein einziges, aus vielen Dertern zuſammengeſetztes 
Dorf; ein Dorf, welches, nur von Gartenfeldern umgeben, an einem 
Arm der Elbe liegt und Häufer hat, wie man fie wahrlich in Städten 
nicht oft findet; alles ift mit der größten Sauberkeit angelegt, alles 
bemalt, alle Häufer mit böhmifchen Spiegelglasfenftern verfehen.. Es 
ift zum Erſtaunen. Aber denken Sie nur, ed find hier auch Bauern, 
die ihren Töchtern zehn, ja zwanzig taufend Thaler zur Audftattung 
geben. Als wir zehn Uhr Abends, ed war am 17. Mai, dem Tage 
vor Pfingften, in Hamburg ankamen, mußte ich über das entſetzliche 
Gedränge von Menfihen erftaunen, welches größer ift ald in Leipzig 
während der volliten Tage der Meſſe. So groß, fo ſchon, wie hier 
alles iſt, habe ich noch nie etwas geſehen. 

Die Familie Hoffmann's machte durch Bildung und Herzensgüte, 
durch ſtrenge Ordnung und Redlichkeit einen ſehr wohlthuenden Ein⸗ 
druck auf ihn. Madame Hoffmann iſt eine Frau von ausnehmendem 
Geiſte, ſchrieb er feinen Leipziger Freunden; fie iſt vortrefflich als 
Gattin und. ald Mutter. Aber fehr auf mic Acht geben muß ich 
bier; denn du kannſt nicht glauben, wie fein fie ift und welche Art fie 
hat, mit und umzugehen. Hoffmann felbft war ein fehr tüchtiger Ge⸗ 
ſchäftsmann und als Menſch und Buchhändler unterrichtet und erfah- 
ven. Er liebte nad Hamburger Sitte reichliched Leben und Gaſtlich⸗ 
keit, und der Gegenfaß, in welchem feine eigene etwas trodene Ruhe 
zu: der beweglichen Lebhaftigkeit feiner Frau fand, brachte keine Stö⸗ 


"33 


rung in der Familie hervor. Du follteft diefe beiden Eheleute beob- 
achten fönnen, fchrieb PBerthed, und würdeft nicht aus dem Lachen 
tommen: denn fie ift von Haufe aus Quedfilber und will über alles 
belehrt fein; er aber ift, wie Dur weißt, jehr phlegmatifh. So gerne 
er auch fpricht, jo unangenehm ift es ihm doch, Fragen zu beantwor 
ten. Sie hat daher eine ganze Dienge Fragewörtchen, ala: He? Du? 
Hoffmann? Sage? Hörft Du nicht? Antworte doch! Oft muß fie 
mm alle miteinander auffagen, ehe eine Antwort kommt. End⸗ 
fi entgegnet er wohl gar: ih habe es ja ſchon gejagt, und doch 
bat niemand etwas gehört, Macht fie ed zu arg, fo brummt er 
wohl emmal. Hilft aber nichts; er muß doch dahin, wo fle ihn 
haben will, 

Das Gefchäft, in welchem Perthes nun unter Hoffmann’ Leitung 
zu arbeiten hatte, nahm faft alle feine Kräfte in Anfpruh. ch war 
fhrieb er ein halbes Jahr nad feinem Eintritte, in vielen Stüden 
noch unwiſſend, wie dieſes bei den meiften der Fall ift, deren Lehrs 
jahre verftrichen find; id; habe aber zum Behufe der Erweiterung 
meiner Kenntniſſe eine ſehr glüdliche Stelle erwählt, da ich hier folche 
Arbeiten zu machen habe, die fonft für einen eben Audgelernten nicht 
gewöhnlich find. Daß diefed mir den Kopf warın macht, können Sie 
vermuthen; zum Süd konnte ich, da ich mir felbft überlaſſen war, 
arbeiten, wie ich wollte, und dieſes ift für mich der einzige Fall, in 
welchen ich viel zu leiften im Stande bin. Eigned Nachdenken ift 
ſtets mein beiter Lehrmeiſter geweſen, aber ebendeshalb wird ed mir 
auch freilich jehr fehwer, etwas zu begreifen und nachaumachen, was 
mir ein anderer zeigen und worin ex mich unterrichten will. — freie 
Stunden blieben auch in dem neuen Berhältnid nur wenig für Per⸗ 
thed übrig. Bor neun Uhr Abends können wir niemald aufhören, 
ſchrieb er, und müflen doch noch jede Woche eine halbe Nacht auffiken, 
und alle vierzehn Tage einen halben Sonntag zu Hilfe nehmen. Das 
ift da8 Gewöhnliche, wenn aber eine Meſſe naht, dann ift die Arbeit 
faum zu bezwingen. — Perthes indeſſen hatte ſchon in Leipzig ge 
lernt, die wenigen Stunden der Woche, welche die Gefhäftsthätigfeit 
ihm übrig ließ, für feine Ausbildung. und Erholung auszubeuten, 
und fand auch in Hamburg Zeit für mancherlei. 

Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 3 


34 


Lebhaft hatten ihn Herder's Briefe über Humanität und Jacobi's 
neue Bearbeitung ded Woldemar befeäftigt, als Schiller's Auffap 
über Anmuth und Würde ihn ergriff und Monate hindurch faft aus- 
ſchließlich in Anſpruch nahm. Es ift fonderbar, ſchrieb er, dag Schrif- 
ten folcher Art den allerftärkften Eindrud auf mid) machen, während 
eigentliche moralifche Abhandlungen und Bermahnungen, folkten fie 
auch noch fo trefflich fein, mich kalt laffen, ja vielleicht mich in Unruhe 
fegen. Im ihnen: flogen mir immer viele Dinge auf, welche Fragen 
und Zweifel aller Art erregen; aber folch ein Aufſatz, der wie diefer fo 
überzeugend, fo erihöpfend iſt, der zu taufend neuen Gedanken Stoff 
gibt, kann mich tief aufregen. — An den gefchäftöfreien Tagen gewährte 
die herrliche Umgebung Hamburgs Erholung und immer neue Freude. 
Dem müßte jeder Sinn für die Ratur verfchlafien fein, ſchrieb er, Der 
bier fih unglüdlich fühlen wollte. Sie können fi) nicht® fchöneres 
und größere? denken ald die hiefigen Gegenden. Jeder Punkt an 
der Elbe unterhalb Altona ift einzig in feiner Art und zeigt durch 
feine Schönheit des Schöpferd Größe und Güte. — Belannte hatte 
er leicht gefunden, und für bie gejhäftsfreien Stunden nicht wie in 
Leipzig abhängig von dem Willen eined Lehrherrn, mar er keineswegs 
geneigt, die mannigfachen Freuden, wie dad Leben einer großen Stadt 
fie darbietet, ungenoffen an ſich vorübergehen zu laſſen. In feinen 
Briefen vielmehr hatte er bald von dem Feſttage zu berichten, welchen 
ein Concert ihm bereitet, bald von einem luftigen Tanze, den er und 
einige Belannte, als Mohren verkleidet, zum allgemeinen Ergögen auf 
der Maskerade aufgeführt hatten. Mehr ald alles, heikt es ein ande» 
resmal, liebe ich jetzt das Schaufpiel. Du follteft Schröder fpielen 
fehen; das übertrifft alled Schöne, was ſich nur denken läßt. — Der 
Sommer brachte an manchem Sonntag eine Luftfahrt zu Lande oder 
zu Waſſer in der Gefellfehaft befreundeter Familien. Unſerer dreißig, 
theild Männer theild Frauen, theild alt theild jung, ſchreibt er einmal, 
fhwammen wir geftern unter Trompeten» und Paufenfchall auf der 
Elbe dahin und jubelten und waren fehr fröhlich. — Bei diefem und 
manchem ähnlichen Feſte ſchien ihm bald der muntere Witz, bald der 
finnende Emft, bald die unbefangene Freundlichkeit diefer oder jener 
anziehenden Mädchengeftalt unwiderſtehlich; aus einem fügen Taunıel 


35 


geriet er in den andern. Wie ift doch, ruft er übermüthig aus, der 
Menſch von den Göttern begnadigt, dem wie mir die Liebe aus allen 
Porend dringt! Was muß ich nur an mir haben, daß alle Mädchen 
glauben, ich fei in fie verliebt, und dadurch bewirken, daß ich e8 wirk⸗ 
fi werde? Iſt es geſchehen, fo fange ich an mit ihnen von dem zu 
fprechen, was gerade für mich Intereſſe hat, und wenn ich zu ihnen 
fpreche, wird das Intereſſe ftärker; derin fie find ja fo empfänglich, 
dag man im Himmel zu fein glaubt, aber — das dauert nicht lange: 
entweder werden fie meiner oder ich ihrer überdrüſſig. Es ift wirklich 
traurig, daß dieſe gewaltigen Wefen fo felten und befjer machen wol- 
in. Wollten fie, wie Großes könnten fie an und bewirken, denn wir 
thun ja alle®, was fie wollen; aber fie wollen nicht und verlangen 
nichts von und als lauter närrifche Dinge. 

Durd alle die wechfelnden Eindrüde und Zerftreuungen hindurch, 
welche die veränderte Lebenslage mit fich brachte, trat indeffen immer 
von neuem Friederikens Bild vor Perthes’ Seele. Bei feinem Fort- 
gange von Leipzig hatten Friederike und er ſich einander verfprochen, 
ihre Kinderjahre nicht zu vergeflen und auch fünftig in brieflihem Ber- 
kehr zu bleiben. Tief wurde er bewegt, als er hörte, Friederike habe 
noch mehrere Stunden, nachdem er Abfehied_genommen, ftille weinend 
am Fenfter gefeilen, und von Hamburg aus fchrieb er in feinem erften 
Briefe an die Leipziger Freunde: Noch lebe ich ganz in der Erinne- 
tung, und jebt erft werde ich gewahr,- wie fehr ich Friderife liebe. Sie 
ift und bleibt da8.Schwungrad meiner Gedanken. — Treu dem Ber- _ 
fprechen, durch welches er ſich feinem Freunde Neffig verpflichtet hatte, 
ihm nichts, was fein Verhältnis zu Friderife beträfe, zu verheimlichen, 
fendete er diefem alle Briefe, die er von Friederife empfing und die er 
an fie ſchrieb. Ein wunderlich nahes Berhältni® wurde hierdurdh zwi⸗ 
fhen den beiden Nebenbuhlern begründet, deſſen Wurzel allein in der 
gemeinfamen Liebe zu dem Mädchen lag. Du kannſt Geheimniffe vor 
mir haben, ſchrieb Perthes dem Freunde, aber nichts, nichts darfft Du 
mir von dem verhehlen, was Da in Beziehung auf mich denkt und 
fühlft. Hier wäre die kleinſte Heimlichleit dad Grab der Freundfchaft. 
Keinen Zweifel, feinen Borwurf halte zurück; fehreibe, fage alles, auch 
. wenn ed mir bittere Thränen koſten follte. 

3 % 


36 


Mit größter Kälte, ja mit Härte konnte Perthed dem Freunde 
auseinanderfegen, was ihm nicht reiht und gut an dem Mädchen er- 
(bien. Dann aber entſchuldigte er wieder alle8 mit den ſchwierigen 
Berhältniffen,, in welchen fie ſich im elterlichen Haufe befand. Dan 
fann fie wohl tadeln in diefer Welt, äußerte er, aber Gott beurtheilt 
feinen Menſchen nach einzelnen Fehlern. Er hat dem armen und gu- 
ten und edlen Mädchen eine harte Erziehung gegeben und einft wird er 
fie dafür belohnen. Wüßte ich, heißt ed in einem andern Briefe, einen 
Weg, das liebe Mädchen glüdlich zu machen, fo wollte ich mit Freu⸗ 
den mich felbft zum Opfer bringen. Lange fchon finne ich auf eine 
gute Art, ihr mit Wärme viel Gutes zu fehreiben; aber ein Mädchen 
fann man wohl dad Unrechte, welches man an ihr fieht, fühlen laffen, 
und glaube mir, fie fühlt es tief, aber fagen, nein, fagen darf man e8 
ihr nicht, oder man wird fogleich da8 Uebergewicht empfinden, welches 
in ſolchen Verhältniſſen das Mädchen über den Süngling hat. Sei 
Du ihr Fremd, ihr Lenker und Rather, ſchrieb er an Neffig, aber hüte 
Dich vor Dir felbft und vor einem Gefühl der Sicherheit, die Du 
nit haft. Dein letzter Brief verräth den höchften Grad der Leiden- 
haft und zeigt, dag Du in die Wonne des trunkenen Jünglings ges 
rathen bift. Narrheit wäre e8, von Dir zu verlangen, Deine Leiden» 
haft auszurotten; das fannft Du nicht, auch wenn Du wollteft. 
Nein, bleibe immerhin liebeskrank, bleibe Schwärmer, aber vergiß 
nicht Tugend und Religion. — Die kalte Verftändigfeit und die ſich 
felbft vergefiende Sorge, welche Perthes zu einer Zeit zeigte, wurde zu 
einer andern Zeit von ungeftümer Leidenfchaft überwältigt. Du lebft 
jest, fehrieb er, unter den Augen meiner Friederife, — meiner Frie- 
derike? ja, fo nenne ich fie; denn mag werden was da will, ein Theil 
ihres Geiftes ift mein und bleibt mein. Friederike fängt mit mir an, 
heißt es ein anderegmal, Friederike fährt mit mir fort und hört mit 
mir auf, kurz, Friederike ift Tag und Nacht in meinem Herzen. Ach! 
und meine Leidenfhaft ift zu Zeiten fchredlich und es ift fchredlich, eine 
Reidenfchaft wie die meinige unterdrüden zu wollen, und doch will 
und muß ich fie unterdrüden. 

Perthes hatte die feite Weberzeugung, daß. das Mädchen den 
Freund mehr liebe ald ihn. ch mochte ed Dir nur nicht zugeftehen, 


37 


ſchrieb er ihm, aber lange fhon kenne ich Friederifend Zuneigung zu 
Dir, welche aus Deinem edlen Charakter, der ftärker und fefter ift ala 
der meinige, hervorging. Glaube mir, Bruder, es koſtete oft heftigen 
Streit, ja wahrlich ſchrecklichen Kampf, nicht ungerecht gegen Dich zu 
werden und Dich den’ Vorzug nicht entgelten zu laffen. Einmal ftand 
ih auf dem Punkte, Dein Feind zu werden, aber ich übermand und 
jest bin ich ruhig, wenn auch Thränen in meinem Auge ftehen. 
Schreibe mir, was aus Deiner Liebe werden foll, und alle meine 
Kräfte will ih für Dich anftrengen. 

In folder Stimmung fuhte Perthes die Einfamfeit, um ſich un- 
geſtört wehmüthigen Träumen überlaflen zu fönnen. Eben fomme ich 
von einem einfamen Spaziergange zurüd, fchrieb er, ber mir fehr 
wohl gethan hat; mir wurde fo fanft in der Herrlichkeit der Natur. 
Gewiß, ich war nie beffer als jebt. Du, lieber Bruder, was es auch 
fei, was mich durchwärmt, Gott — Natur — Herz, — gönne es mit, 
und freue Dich mit mir. Mir fleigen Bilder auf aus dem Zwielicht 
der Erinnerung, und trübe umfchweben mich die Geftalten der ent- 
fernten Lieben. — Phantafie, heißt es in einem andern Briefe, 
Phantafie, wer die hat, fagt Campe, auf den fann man ſich nicht 
verlaffen.. O doch! aufs Herz! Phantafie, du ſchaffteſt mir manches 
Leiden — aber ohne dich möchte ich doch nicht fein! Phantafie gab 
mir Seligfeit, gab mir Liebe, Innigfeit, Wehmuth. O die Wehmuth, 
von der Phantafie erzeugt, ift das Süfefte, was ich kenne! Bruder, 
zu liegen in der ftillen Natur, nicht zu wiſſen, was man denkt und 
empfindet, und es doch fo klar zu wiſſen! Da, wo jeder Gradhalm, 
jedes Blatt mit Freund fein und ich au? jedem Träume ziehen fann 
und weinen möchte in füßem Schmerz , da wirds dem Menſchen Mar, 
dag Gott die Seele ift in allem. 

Sao dankbar Perthed dad Glück der ihm in Hamburg zu Theil 
gewordenen Lebenslage anerkannte, fühlte er ſich dennoch jegt nicht 
durch fie befriedigt. Sie fönnen e8 nicht nachempfinden, lieber Campe, 
fhrieb er, was es heißt, einzig und allein auf. den Umgang junger 
Leute eingeſchränkt zu fein und allen Umgang mit älteren Männern, 
alle Kamilienverbindungen, fofern fie etwas anderes als einige fröh⸗ 


38 


liche Stunden gewähren follen, entbehren zu müflen. In den Kreifen 
junger Leute herrſcht, wenn fie auch noch fo groß find, ſtets eine uner- 
trägliche Einförmigleit, weil der ganze Verkehr ſich um nichtöbeden- 
tende Dinge dreht. Es kann nicht? gefährlichered geben als der 
dauernde Umgang mit Alltagdmenjchen. Leidet auch der Charakter 
nicht unmittelbar, fo wird Doch ein trodner, dumpfer, gedrüdter Zur 
ftand entftehen, der die Freiheit mehr oder weniger befchräntt. Ich 
hatte, als ich hierher kam, die Thorheit begangen, mich an manche 
junge Leute anzufchließen, Die auf die erſte Stunde erträglich fchienen ; 
jest, da ich fehe, daß fie mir viele ſchöne Stunden verderben, muß ich 
air, um fie wieder los zu werden, manchen harten Schritt erlauben. — 
Weil Perthes feinen biöherigen Umgang meiden wollte, durfte er kei⸗ 
neswegs Umgang überhaupt meiden. Seine angeborenen und durch 
die Einflüffe der Kindheit weiter auögebildeten Anlagen machten es 
ihm faft unmöglih, aus Büchern Befriedigung für feinen lebendigen 
Bildungdtrieb zu gewinnen; er bedurfte, um zu werden, was er wer⸗ 
den Tonnte, des fehriftlihen und mündlichen Verkehrs mit belebten 
und belebenden Menfchen verfchiedener Stände, verfchiedener Bil- 
dungsſtufen und verfchiedener Richtungen. Jetzt wurde er fich dieſes 
Debürfniffes immer mehr umd mehr bewußt. Mein Herz fordert 
dringend, fchrieb er feinem Oheim, den Umgang mit vielen, aber ges 
bildeten Menfchen. Solcher Umgang ift Bedürfnis für mich und id 
muß ihn erlangen, wenn ich in meiner Lage nicht zu Grunde gehen foll. 

Hamburg, fo mannigfach wie wohl feine andere deutiche Stadt 
in der erften Hälfte der neunziger Sabre bewegt, war ganz der Dit, 
welcher auch dem lebhafteſten Wunfche nach Verfchiedenartigfeit und 
Lebendigkeit eined anregenden Umganges Genüge leiften fonnte. Der 
Verkehr mit allen Welttheilen hatte der erften Handeldftadt und dem 
erſten Seehafen Deutfchland® immer ſchon eine Menge der verfchie- 
denartigften Interefien und zahllofe Fremde aller Nationen zugeführt. 
Ceit den erften Jahren der Revolution aber war durch die Handel» 
fühnheit einzelner großen Häufer und durch die vielen und engen Ver⸗ 
bindungen mit Franfreih dem Handel ein neuer gewaltiger Auf 
ſchwung gegeben, deſſen Wirkungen fi bis in die unterften Claſſen 


39 


des Volkes erſtreckten. Ein ſehr lebhaftes Intereſſe an dem Gange 
der Begebenheiten in Frankreich war entſtanden und eine ſo genaue 
ſenntnis der dortigen wechſelvollen Zuftände verbreitet, mie fie viel⸗ 
leiht felbft in den großen Gabinetten fih nicht fand. Emigranten 
aller Farben hatten eine Zuflucht in Hamburg gefucht, und als gegen 
Ende des Jahres 1794 die Franzofen von Weften ber die Wefer be» 
- drohten und viele wohlhabende und angefehene Männer aus Oftfries- 
land, aud dem Dldenburgifchen und dem Hanndverifchen ihren Auf- 
enthalt in Hamburg nahmen, erreichte das Gedränge und Getriebe 
einen früher unerhörten Grab. Außer der deutfchen Schaubühne, die 
unter Schröder’ Leitung eine der erften Stellen in Deutfchland ein- 
nahm, hatte das frangöfifche Theater aus Brüffel, das englifche aus 
Edinburg fih dauernd eingerichtet. Die geiftigen Kämpfe und Be 
wegungen, welche Deutichland erfüllten, erregten auch Die bedeuten- 
dern Kreife der großen Handelsftadt. Hinneigung, zum Theil leiden- 
fhaftliche Hinneigung zu der Revolution und das Bekenntnis zu dein 
Inhalte der Wolfenbüttler Fragmente waren bier zu Haufe. Aber 
wenn and) das großartige Streben de3 ältern, 1767 geftorbenen Reis 
marus ſich verflacht, mern auch Leffing’? gewaltiges Auftreten, als er 
1768 von Hamburg aus feine Dramaturgie fehrieb, an Wirkung ver« 
loren batte, fo war dod in den neunziger Jahren das Wohlmwollen 
und der Bildungstrieb in jenen Kreifen fo groß, daß an ein fchroffes 
und gebäffiges Abſchließen gegen bedeutende Männer, welche eine ver- 
ſchiedene Richtung verfolgten, nicht zu denken. war. Leben und leben 
lafien galt auch in geiftiger Beziehung. Die Mittelpunkte, um bie 
fih die Einheimifchen wie die Fremden von Bedeutung ſammelten, 
wurden durch eine verhältnigmäpig Fleine Zahl Familien gebildet. 
Büſch, defien Schriften über Staatewirtbichaft und Handlung einen 
großen und weitverbreiteten Ruf genoflen, war zwar ſchon hochbejahrt ; 
aber die Handeldafademie, deren Vorſteher er war, führte ihm noch 
immer Fremde au? allen Ländern Europa's zu, und in feinem Haufe 
traf ſich, was an Witz, Geift oder Gelehrfamkeit hervorragte. Nabe 
befreundet mit ihm: war das Haus des jüngeren Reimarus, welcher 
als praftifcher Arzt die Verehrung feiner Vaterftabt und als Schrift- 
fteller über mannigfache Gegenftände der Arzneimifienfehaft, der Phi- 


40 


lojophie und der Naturwifienfeheften einen fehr bedeutenden Namen 
in ganz Deutfchland hatte. Abends, wenn der Arzt fein Tagewerf 
vollbracht, fammelten fih um ihn und feine Frau und feine unverhei- 
rathete Schwefter Elife Einheimische wie Fremde. Bunter noch war 
das Treiben in dem Haufe feined Schwiegerfohnes Sievefing, der ala 
einer der reichften und Mügften Männer Hamburgs galt; Fremde 
aller Länder, Männer aller Richtungen fanden fonntäglih in Neu- 
mühlen, der berrlish an der Elbe gelegenen Sommerwohnung, gafl- 
freundlishe Aufnahme; fiebenzig, achtzig Säfte ſah man Mittags. oft 
Dort vereint um die Frau des Haufe, und niemand wußte beſſer ald 
fie, äußerte fpäter Rift, ein jüngerer Zeitgenoffe, jeden in feiner Weife 
gelten, jeden an dem unerfchöpflichen Reichthum des reinen und. wohl 
wollenden Herzen? Theil nehmen zu lafien. Es mag wenige Häufer 
geben, an die ſich nah und fern fo viele wohlthätige und dankbare 
Erinnerungen fnüpfen. 

Mit und neben diefen Familien bewegte ſich der Kapellmeifter 
Reichard, welcher nach mannigfachen Schickſalen eine Zuflucht in Neu- 
müblen gefunden hatte, fein Arbeitäzimmer war mit den Bildniffen 
von Mirabeau, Pichegru und Charlotte Eorday geſchmückt und einen 
feiner Söhne hatte die Begeifterung für die junge Republik ald Chaſ⸗ 
ſeur in die Pyrenäenarmee geführt. In Altona lebte Gerftenberg, 
der Berfafler des Ugolino, einft thätigfter Mitarbeiter an den Briefen 
über die Merkwürdigkeiten der Literatur, jeßt einer der eifrigften Kan- 
tianer und Stifter eined eignen Kantifchen Clubs. Weberall wurde 
Schröder, ald Director ded Schaufpieled, ald Berfafjer vieler drama⸗ 
tiſchen Werke und ala Gefellfehafter gleich beliebt, germe gefehen. Die 
beiden Brüder Unzer, bekannt als Starfgeifter und Bergötterer der 
itelienifchen Poefie, hielten, wo fie erfchienen, ſcharfes Gericht über die 
deutfchen Dichter, wie über jede ihnen als engherzig erfcheinende Mo⸗ 
tal, v.Heß, welcher fpäter auf das Schidfal Hamburgs bedeutenden 
Einfluß übte, führte dem gefelligen Berfehr politifchen Stoff zu. Ne 
ben allen diefen Männern aber erfchien auch Klopftod oft und nicht 
ungern in jenen Kreifen. Man fah ihm feine abweichenden Anfichten 
nad) und vermied ed, den alten und berühmten Mann zu reizen. 

Als Perthes, ein und zwanzig Jahre alt, nach Hamburg kam, 


41 


hatte ex freilich fein Verſtändnis von den Lebergeugungen und Ges 
genlägen, welche in diefen Kreifen den Mittelpunkt der Bewegung bils 
deten; aber daß hier .ein bedeutendes Leben gelebt werde, ahnete er, 
und fih einen Antheil an demfelben zu gewinnen, war fein ſehnlicher 
Wunſch. Wie pocht mein Herz, fchrieb er feinem Freunde, wenn ich 
an fo treffliche Kamilien denke, wie die von Büfh, Reimarud, Sieve- 
fing, und wenn id) junge Leute fehe, die in denfelben die echten Freu⸗ 
den des Lebend genießen koönnen. Ich will und ich muß, fchrieb er 
kinem Obeim, dort Zutritt erhalten. — Das Ziel indeflen, welches 
Perthes fich geſteckt hatte, war nicht leicht zu erreichen. Die tief in 
der Ratur der Sache liegende Scheidung zwifchen dem Großhandel 
und dem mit Handverlauf verbundenen Kleinhandel war und ift in 
Hamburg dadurch verfehärft, Daß fie wenigſtens thatfächlih in die 
Berfaffung der Stadt übergegangen ifl. Der Großhandel gibt die 
Fähigkeit zum Eintritt in den Senat, der Kleinhandel zu dem in Die 
fogenannten bürgerlichen Collegien. Schwerlich wird fich jemand, 
dem das Leben in einer großen Handelsſtadt nicht bekannt iſt, eine 
Borftellung machen könpen von der Berfchiedenheit der Lebensweiſe 
und dem gefelligen Verkehr, in den Anfichten und den Intereſſen, 
welche aus diefem durchaus nicht mit der Verfchiedenheit des Reich 
thums zufammenfallenden Gegenfab hervorgeht. | 
Der Buchhandel nun, weil er mit Handverfauf verbunden ift, 
wurde als Kleinhandel betrachtet und deshalb waren die, welche ihn 
betrieben, nicht Glieder der Gefellfchaft, welche man an andern Orten 
die höhere Gefellfihaft genannt haben würde. Perthes überdied war 
ganz arm, war ohne Empfehlungen und ohne Berwandtichaft in der 
großen Stadt. Ein glüdlicher Zufall war es, der ihn zuerſt mit dem 
Sievefingfchen Haufe befannt machte, und fein erfted Erfheinen in 
demfelben war bezeichnend genug für das Auftreten de3 in den be» 
Ihräntteften Verhältniffen aufgewachfenen Züngling3 in einer neuen 
Umgebung. Dein Nachbar bei Tifch, fehrieb er dem Oheim, mar 
Büfh, ein Mann von fiebenzig Jahren, beinahe ganz blind. Dieſer 
mußte nun fehlechterding® von mir bedient werden und bei jedem Ges 
richte fragte er: Was ift das? Ich hatte aber natürlich von all den 
Gerichten niemal® weder etwas gefehen noch geſchmeckt noch gerochen, 


42 


und mußte das nun allemal jehr laut, damit der alte Herr Vüſch es 
‚auch werftehen Eonnte, auseinander fegen, was natürlich für mich und 
für andere fehr fomifh war. — Einmal in diefem Haufe bekannt 
* geworden, fand er fehnell auch in den befreundeten und verwandten 
Familien wohlwollende Aufnahme Manche Förderung, manche gei- 
ftige Anregung wurde ihm hierdurch zu Theil, aber der innere Kampf, 
die innere Unfiherheit blieb dennoch diefelbe. Ich habe fie gefchmedkt, 
fhrieb er dem Freunde, die Freuden und Ergögungen einer Welt, in 
welcher fi) alles untereinander und wibereinander treibt. Trunten 
zwar, wie mancher andere, bin ich nicht geworden und Erfahrungen 
babe ich genug gemacht; aber befier bin ih nicht geworden, und nicht 
beſſer werden heißt ſchlimmer werden. 


Nene Freunde und deren Einfluß. 
19 





— 


Perthes hatte auf einen großen bildenden und umwandelnden 
Einfluß durch die Berührungen mit den hervorragendſten Familien 
Hamburgs gehofft, aber der Unterſchied der Jahre, der äußeren Les 
bengftellung und des tiefften -geiftigen Bedürfniffe® war zu groß, ala 
daß diefe Hoffnung hätte erfüllt werden können. Einige Alterdgenof- 
fen follten e8 fein, welche zunächft eine durchgreifende Bedeutung für 
die innere Fortbildung ded jungen Mannes gewannen. Sch habe jegt, 
fhrieb Perthed im September 1794, drei Männer kennen gelernt, die 
ungeachtet ihres fehr verfchiedenen Charakters fo. fehr Yreunde find, 
dag unter ihnen alle gemeinfchaftlich if. Der eine von ihnen, 
Spedter, ift Gelehrter, tief eingeweiht in die kritiſche Philofophie und 
des Philofophen Reinhold vertrauter Freund; der zweite, unge, 
ift Kaufmann und einer der geiftreichften- Menfchen, die ich jemald ge 
fehen;; der dritte, Hülfenbed®, wetteifert mit beiden. 

Perthes war zwei und zwanzig Jahre alt, ald er die neuen 
Freunde kennen lernte. Sein überaus zarter, nicht großer, aber fefter 


43 


und regelmäßiger Körperbau, das lodige Haar, die feine Gefichtöfarbe 
und ein ungemein fanfter Einfchnitt an der Bildung ded Auges gaben 
feiner Erſcheinung einen lieblichen, faft jungfräulichen Ausdrud. Un⸗ 
glaublih leicht erregbar, murde er roth wie eine Roſe, wenn der 
Frauen und Mädchen auch nur die leifefte Erwähnung gefchah. Den- 
noch gewann, wenn Perthed fich für die Durchführung irgend eine® 
Entſchluſſes entichieden hatte, die Sicherheit und heftige Kraft ſeines 
Geiftes einen völlig entfprechenden Ausdrud in dem zarten Körper; 
feine ftarfe, tönende Stimme, feine Haltung, jede feiner Bewegungen 
ſprach die fefte Ueberzeugung aus, daß er feinen Willen durchſetzen 
fönne und durchſetzen werde. Der Heine Perthes hat doch den männ- 
lichſten Geift von un allen, - pflegten feine Freunde zu jagen, und 
manchen Vorfall wußten fie zu erzählen, bei welchem er durch bie 
Entfehiedenheit ſeines Wollend den Trotz und die förperliche Stärte 
roher Menſchen zum. vermunderten Nachgeben genöthigt hatte. Per⸗ 
thes kannte diefe feine eigenthümliche Meberlegenheit fehr gut, und auf 
fie bauend, trat er in jungen und alten Jahren unbedenklich auch un. 
ter ſolchen Umftänden durchgreifend hervor, unter denen gar mancher 
förperlich ſtarke Mann ftille ſeines Weges gegangen wäre. Ueber⸗ 
haupt war ihm Furcht vor einem künftigen Übel nicht befannt, aber 
jagen konnte er bei der Erinnerung an ein vergangenes. 

Als Perthes die drei engverbundenen Freunde, Spedter, Hülfen- 
bed und Daniel Runge, denen Herterich nahe fich anfchloß, zuerft ge= 
jeben hatte, übte er fogleich eine überaus anziehende Kraft auf fie 
aus. Perthes ift ein Menſch, ſchrieb Speckter damals, der mich durch 
feinen zarten Sinn und durch fein ernfted Ringen nad) Beredlung fehr 
an fich zieht. Dank Ihnen, lieber Freund, dag Sie mir diefen Men- 
(den zuführten. — Faſt beftändig mußte ich ihn anfehen, erzählte 
Runge fpäter, und das Wohlgefallen an feiner äußeren Erfcheinung 
übertrug ich auf den innern Menfchen. — Weit überwältigender 
aber war der Eindrud, welchen Perthes feinerfeitd empfing. ch ge 
nieße jet mit vollen Zügen, ſchrieb er feinem Oheim, was ein rafches, 
feuriged Gefühl genießen kann. Drei Freunde habe ich gefunden, 
voll Geift und Innigleit, voll reinen, echten Sinnes und ausgezeichne⸗ 
ter, weitumfaflender Bildung. Als fie meinen Willen zum Guten, 


44 


meine Liebe zu dem Schönen erkannten; als jie fahen, wie ih fuchte 
und ftrebte: da nahmen fie mi) auf, und wie felig bin ich nun! Durch 
fie habe ich erhalten, was mir fehlte: fie wiffen das, was mein 
Gigenftes ift, Iebendig und wirklich wirfend-zu machen. Mir ift es 
wie einem Fifch, der vom trodnen Lande ind Waſſer kommt. Sagen 
Sie nicht, das fei Schwärmerei. Denn’ beshalb ift ein Gefühl doch 
nicht Schwärmerei, weil der Menſch nur in erhöhten Stunden es in 
feiner ganzen Stärfe fühlt; ſolche Stunden find e8 ja vielmehr, in 
denen der Menfch eigentlich Menfch if. — Wie ift ed nur möglich, 
ſchrieb er feinen Freunden, daß Ihr mich vor allen andern liebt und 
mehr an mir habt, ala ich felbft in mir finde? — Friſcher und le- 
bendiger ergriffen ihn feit dem Zufammenleben mit den gereifteren 
Freunden die neuen großen Erfcheinungen der Literatur. — Haft 
Du Goethe's Lehrjahre fchon gelefen, ſchrieb er, wie einfach und wie 
groß! Und daß ed etwas ſchöneres geben kann als Iphigenie, glaube 
ich nicht. — Am bedeutendften wirkte der neue Umgang auf die tie- 
fere Auffaffung der Anforderungen, welche das Sittengefeg an den 
Menſchen ftellt. Während Perthes früher.nach der Meinung, melde 
- damals die Menge beherrfchte, Tugend und Bervolllommnung we— 
fentlih nur in der Vermeidung einzelner Fehltritte und in der Aus- 
übung einzelner edlen Handlungen gefucht hatte, legten die Freunde 
ihm die Aufgabe bes Menfchen in ganz anderer Weife aud. Nun 
ftellte fich ihm nur die Tugend, welche einzig und allein ihrer ſelbſt 
wegen geübt wird, ald Tugend dar und feinen Beweggrund, der ſich 
nicht aus ihr felbft ableitete, wollte er gelten laſſen. Durch. die Liebe 
zu Euch, fehrieb er, hätte ich einen Beweggrund mehr, tapferer Streiter 
zu fein gegen jede Verdunkelung meiner Freiheit durch äußere Ein- 
flüffe; aber- darf fol ein Beweggrund gelten, da er nicht der hödhfte 
it? — Nur die Tugend ferner erfchien ihm nun als Tugend, die 
eine Tugend war ohne Fehl und ohne Unterlaß. Beſtände die Tu- 
gend, fchrieb er, in einzelnen Momenten und guten Handlungen, ließe 
fie ih durch Aufopferungen und Heldenthaten erwerben, fo hätte ich 
fie längft errungen; aber unmöglich fann der Werth des Menfchen 
von feinen gelegentlichen und einzelnen Ihaten abhängen, fondern 
muß von dem innern Zuftande bedingt werden, ber feine ganze Hand⸗ 


45 


lungsweiſe beflimmt. — Der volllommene Mann, heißt e8 in einem 
andern Briefe, Darf nicht® anderes denken, wollen und thun, ala was 
dem höchften Princip der Moral gemäß ift; feine feiner Leidenfchaften 
darf überwiegend werden; Kopf und Herz, Wille und Verftand, Ber- 
nunft und Sinn, alle muß in ungeftörter Webereinftimmung fein. — 
Derjelbe fchnelle Wechfel zwifchen Gefallen an ſich felbft und zwifchen 
Berzweifelung an fich felbit, welchen der Knabe fchon erfahren hatte, 
rip nun wiederum den Süngling auf feinem vorgefchrittenen Stand» 
punkte hin und ber. Auch den gefteigerten fittlihen Anforderungen 
gegenüber hatte Perthes Zeiten, in denen er Die Zuverſicht zu fich felbft 
mit verlor. Mein Wille ift ſtets gut, jchrieb er. Wohl bin ich noch 
Sklave meiner Leidenfhaften, Sklave meiner Gewohnheiten, aber 
wahr und wahrhaftig, ich will und muß mir meine Freiheit eriver- 
ben. — Zumeilen ſchien ihm feine Rechnung gut genug zu ftehen. 
Es thut einem fo wohl, fehrieb er, wenn man vor Gott hintreten 
kann und ſagen: Gott, du weißt es, ich bin gut. Lieber Freund, 
beißt es in einem andern Briefe, Du ſollſt mir das hohe Bewußtſein 
von fich felbft nicht verkegern; denn nur. der kann es haben, der es 
haben darf. Es ijt freilich wohl möglich, daß jemand eitel fein fann 
auf Talente, die er hat oder haben möchte, aber es ift unmöglich, daß 
jemand eine hohe Meinung von feinem ganzen Wefen haben fann, 
wenn fein ganzes Weſen ihn nicht dazu berechtigte. — Oefter indeſ⸗ 
fen fühlte Perthes fich jeder Zuperficht auf die eigne Kraft und auf 
fein inneres Fortſchreiten beraubt; oft erfüllte ihn eine leidenfchaft« 
liche, rafche Handlung, oft der geſammte Zuftand feined Innern mit 
Schmerz und Ungeduld. Wie hat mich Spedter, fchrieb er, getroffen, 
als er mir fagte: Perthes, all dein jetziges Lieben ift nichts ald Ner- 
venfpiel und nimmt nur den Schein einer edleren Leidenfchaft ein, 
weil du ein feines und zartes Gefühl haft. Ach, er hat Recht, und 
wenn aud) alles fchläft, die böfen Geifter wachen immer. 

Mich zieht, fehrieb er an Campe, befonders Ihre alled umfaflende 
Güte an, welche Sie fo anfpruchlo® über jeden ausbreiten. Dies ift 
nicht fo bei mir: ich fehe immer fo viel-auf mid) felbit, habe fo viel 
Nebenabfichten und ich fürchte, daß meine unftete Phantafie mich die 
echte Lauterkeit des Herzens hat verlieren laſſen. Ob ſich das wohl 


46 


wieder ändern läßt, mein lieber Freund? Ach Gott, ed wird ja doch 
wohl möglich fein! Jeder alte abgelebte Greis, heißt es in einem an⸗ 
bern Briefe, deffen Aeußeres Ruhe verkündet, ift ein Gegenftand mei« 
ned Neided. Taufendmal des Tages wünfche ih mir mit Hintenan- 
ſetzung aller jugendlichen Freuden fo alt zu fein; wünfche mir diefe 
Kälte des Blutes, diefe Stumpfheit der Nerven, um nur des heftigen 
Streites zwifchen Leidenſchaft und Pfliht los zu werden, der mein 
Inneres zerrüttet. Lieber Auguft, fchrieb er ein anderedmal, Sie find 
ſehr gut— ach daß ich ed auch wäre! Es ift fo ſchwer, gut zu bleiben, 
und fo ſchwer, beffer zu werden, daß mir ſchon oft der Zweifel aufge- 
fliegen ift, ob wir denn auch wirklich von Natur gut geboren find. 
Wie an feiner eignen Bervolllommnung wurde er auch an der 
des Menfchengefchlehtd irre. So lange ich glaubte, fhrieb er, daß 
das Befjerwerden blog von Berihtigung unferer Berftandesirrungen 
abhinge und daß daher die Menfchen dur Aufflärung ihres Berftan- 
des beffer und glücllicher werden müßten, fo lange war mir die der 
maleinftige Bolllommenheit unfered Gefchlecht3 auf diefer Erde wahr- 
fcheinlich, aber jebt, da ich täglich erfahre, daß die Hügften Menfchen 
fo oft fehlen, daß Männer, deren Theorien die beiten find, fich Laftern 
ergeben, ift aller Glaube an die Erreichung jene? Tugendideals in mir 
ausgeftorben. Ja, wenn es Grundfäße wären, die und zu Böfewid- 
ten machten, da könnte der Fehler in verkehrten Begriffen liegen, und 
wir würden befier fein, wenn diefe berichtigt wären. Aber wie kann 
die Aufklärung ſchwache Kräfte zu jtarfen, ungefunde zu gefunden ma- 
hen, wie fann fie Unnatur und erfünftelten Zuftand in Ratur und 
Einfachheit verwandeln! Nein, wahrhaftig Gutfem ift feine noth⸗ 
wendige Folge der Aufflärung des Verftandes; nur Thorheiten kann 
fie hinwegſchaffen, aber feine Lafter. — Diefen veränderten Anfid- 
ten entfprehend, nahm Perthes nun audy eine andere Stellung der 
Revolution gegenüber ein. Das Wunderbare, was jetzt bei den Fran- 
zoſen erfcheint, fehrieb er 1795, will ich nicht wegleugnen. Was hat 
es aber für Werth, wenn kein eigentlich hHumaner Zweck zum Grunde 
fiegt? Bei jedem ihrer Fortichritte bemerkt man es deutlich, daß fie 
fi immer mehr dem nähern, was die andern Groberer auch ausüb- 
ten. Auch Klopftod hatte gehofft, durch die conftituirende Berfamm- 


47 


kung Entehrung ded Menſchen durch den Krieg vernichtet zu fehen; 
allein er beirog fih. Was fagft Du zu der Verbrennung des Jaco⸗ 
biniſchen Strohmanns? Meinen Gedanken nach hat fich der Parifer 
Möbel dadurch einen Schandfled angehängt, der größer ift alö alle 
vorhergehenden. Was kann abſcheulicher fein, ald Unthaten, die man 
felber gethan hat, von ſich abwälzen und auf andere ſchieben zu 
wollen, und dann zu frohloden, daß man dieſen andern verbrennen 
kann? Freilich war diefer Actus nöthig, um die untrüglichen Aus- 
fprüche des fonveränen Volles zu reiten! Glaube nicht, daß ich ein 
Feind der Freiheit oder ein Feind des franzöfifchen Volkes bin. Wer 
kann das fein, wenn man die unerhörten Schandthaten, die kaltblüti⸗ 
gen Verbrechen hört, die auf der andern Seite vorgehen? Bei Gott, 
wer noch einen Gran von Kraft in fich fühlt, der muß bereit fein, ihn 
aufzubieten gegen die Unterdrüder der Polen; aber wir felbft dürfen 
doch Dabei nichts thun, was der Würde des Menfchen nicht angemeffen 
it, und darum daß und die Franzofen nicht vergöttern. 

Bor allem indeſſen wendete Perthes die neugewonnene Anficht 
auf fich ſelbſt an und bald wurde es ihm gewiß, daß er die Tugend, 
welche die Freunde verlangten, nie erringen werde. Entſchloſſen fprach 
er aus: Den Heldenmuth der Tugend aus dem Willen allein kenne ich 
nicht, folchen Heldenmuth habe ich nicht, und follte ich den mir eriver- 
ben, fo müßte zuvor dad Befte in mir getödtet werden; denn glaubt 
mir, mein Herz klingt heller für das Gute, als mein Wille das Gute 
will. Das ift freilich da8 Imgefehrte von dem, was Ihr verlangt, 
aber deshalb nod nicht ein. Berfehrted. Denn wenn mein Herz leb⸗ 
haft für das Gute erregt ift und ich dem Gange meiner Gefühle mich 
überlafien kann, nur dann habe ich Kraft zu handeln. Unausſprech⸗ 
li dankbar bin id) dem höchften Weſen für das Herz, dad er mir gab. 
Das Herz wäre mir eine Höllenqual, dag nicht? im höchſten Grabe 
empfinden, nicht ſich hoch freuen, nicht tief leiden könnte, fondern fich 
falt dem Willen in allem fügte. Sieh, 'vor kurzem fagte mir der 
Art, daß der ftechende Kopfſchmerz, an welchem ich ſchon längere Zeit 
leide, einzig und allein von einer großen Senfibilität meined Empfin- 
dungdvermögend herrühre und dag mich nicht3 von demfelben befreien 
tönne ala möglichfte Gleichgiltigleit bei guten und böfen Eindrüden, 


48 


Aber fo gerne ich auch diefen Schmerz los wäre, fo wenig möchte ich 
doch diefe Senfibilität entbehren, denn in ihr liegt mein Reichthum. 
Sei e8, daß mir durch fie hundert drüdende Gefühle werden, fei es, 
dag ich ihretwegen viele uuglüdlihe Stunden durchleben muß; den- 
noch bin ich glüdlicher al® andere; ich lebe mehr, ala taufende le- 
ben. Dafür danke ich dem guten Gotte, und dennoch muß ich aus⸗ 
rufen: Glüdlich werden? — ob ich wohl jemals glüdlich werden Tann. 

Diefelben Freunde, durch welche ihm da3 Sittengefeg in feinem 
tieferen und umfafjenderen Inhalte auögelegt worden war, hatten 
unter dem Einfluffe der Schriften Schiller’ 3 einen Schritt vorwärts in 
ihrer inneren Audbildung gethan und machten nun Perthed aufmerf- 
fam auf einen bisher ihm verborgenen Weg, welcher zur Erfüllung 
des Sittengefebes führen ſollte. Richt die Anforderung werde, fo 
hieß ed nun, an den Menfchen überhaupt und an Perthes insbeſon⸗ 
dere geftellt, daß er fein warmes und lebendiged Gefühl tödte. und es 
dem Falten eifernen Willen opfere; das Gefühl vielmehr müffe, indem 
es an der Kunft und durch die Kunft -belebt, geläutert und gebildet 
fei, zum Herrn des Willen? gemacht werden. Speckter zuerft verwies 
den fuchenden Süngling auf Schiller’ d Gedicht: Die Künftler, und legte 
ihm immer aufd neue die Berfe and Herz: „Nur durch das Morgen- 
thor des Schönen dringft Du in der Erkenntnis Land“ und „was wir 
ale Schönheit hier empfinden, wird einft ald Wahrheit und entgegen 
gehn.” Dann führte Runge ihn in das Verftändnis- der äfthetifchen 
Briefe Schiller'3 ein. Ein ungeheuerer, die ganze Zeit beherrfchender 
Irrthum ſchien ihm durch Schiller zerftört, wenn diefer ausſprach: 
Es ift nicht genug, daß alle Aufklärung des Verſtandes nur infofern 
Achtung verdient, als fie auf den Charakter zurüdfließt; fie muß auch 
von dem Charakter ausgehen, weil der Weg zu dem Kopf durch das 
Herz muß geöffnet werden. Ausbildung ded Empfindungsvermögend 
ift alſo das erfte Bedürfnie. — ch bitte Dich recht fehr, fchrieb 
Perthed an Campe, lied die. Horen, vorzüglich die Afthetifchen Briefe; 
gib Dir Mühe, fie zu verftehen, mach' fie Dir ganz zu eigen und Du 
wirft den Lohn finden; denn die Anfichten, die in ihnen über die 
Schönheit und über dad ganze Sein und Werden der Menfchheit aus- 
gefprochen werden, find dad Erhabenfte und Wahrfte, was je am meine 


49 


Seele gekommen if. O Bruder, heißt e8 in einem andern Briefe, laß 
und echte, gute Menfchen werden, und und immer mehr zur Sittlich- 
fit und zur Schönheit erheben! Wenn wir dann recht feft geworden 
find, wollen wir auf andere wirken. Wir werden es, aber nur durch 
da8 Schöne; denn fonft findet dad Gute feinen Eingang. 

Der Iebbaftefte Dank gegen feine Freunde erfüllte ihn für die 
neue Ueberzeugung, die fie ihm verschafft hatten. An mir felbft war 
ich verzweifelt, fchrieb er, als ich durch. dad Opfern ded Gefühle, des 
geiftigen wie des finnlihen, zur Tugend wollte und nicht konnte. 
Stets meinem Willen untreu, erwartete ich die Berachtung der Men- 
ſchen, Die ich liebte. Wo follte ich Haltung gewinnen? Ich hatte das 
Gefühl, welches meine Bruft bewegte, ich hatte mein Einzig » Eigene 
verichmäht am Wege liegen lafjen. br lehrtet mich erfennen, was 
ih verfhmäht hatte, Ihr habt es durch Eure Liebe in mir geftärkt. 
Eure Liebe wird ed mir fihern, fo lange ih Menſch auf Erden bin, - 
Ihr feid es, die mir den Weg zum Morgenihor ded Schönen gezeigt 
haben; nun liegt es geöffnet vor mir. est kann, jebt werde ich das, 
was mir Roth thut, erringen: Beharrlichleit und Gleichgewicht. 

Bald indeffen follte Perthes erfahren, dag auch jenfeitd des 
Morgenthors des Schönen dunkle und den Sinn verwirtende Wege 
fih fänden, und ed war ein großes Glüd für ihn, dag, als diefe 
Efahrung eintrat, ein fefter und mit ganzer Liebe ergriffener Lebens⸗ 
beruf ihn nöthigte, alle Kräfte zufammen zu nehmen und befonnen 
bandelnd im thätigen Leben fich zu bewegen. 


Perthes Ecben. I. 4. Aufl. 4 


50 


Die Gründung der Handlung. 
1796. 





Die Betamntſchaft mit den Familien von Reimarud, Sieveking 
und Büfch, ſowie der genaue Umgang mit feinen neuen freunden ließ 
den Mangel ’der eignen Durhbildung immer lebendiger fühlen; aber 
Perthes fah, fo lange er von dem raftlofen Getriebe der Berufsarbeit 
in Anfpruh genommen ward, feine Möglichkeit, dem erkannten 
Mangel abzuhelfen. Bei folder Anfparmung aller Kräfte, fchrieb er, 
wie fie da8 biefige Geſchaͤft verlangt, erlaubt mir meine menfchliche 
Natur nicht, täglich noch einige Stunden für mich zu arbeiten. Ich 
bleibe ftehen, wo ih bin, und kann an fein Borrüden denken; das 
macht mich elend. — Er hoffte, fi) die Summe von hundert Tha- 
lern zu erfparen, um dann an irgend einem Fleinen Orte einige Jahre 
an feiner Fortbildung arbeiten und Zuſammenhang in feine mancher⸗ 
fei. Renntniffe bringen zu fönnen. Campe fagt zwar, fehrieb er, daß 
dieſer Trieb nach eigener Ausbildung nichts ala Eitelkeit fei: der 
Menſch müſſe nügen, nicht fich felbft leben wollen; aber diefer Aus» 
ſpruch ift gewiß falfch und macht mich nicht irre. — Die fpätere Zus 
funft war für Perthes ziemlich gefichert, da der Oheim in Gotha den 
Eintritt in feine Handlung zugefagt hatte. “Mein Lebensplan iſt ſo 
einfach, äußerte er, daß ich kaum weiß, wie er geſtört werden ſollte. 

Wenige Wochen, nachdem er dieſe Aeußerung gethan hatte, wurde 
ihm auf Veranlaſſung von Reimarus und Sieveking der Vorſchlag 
gemacht, mit einem jungen Manne, den jene beiden Familien begün- 
fligten, ein Verlagägefchäft zu begründen; für die Herbeifhaffung der 
nöthigen Geldmittel folle Sorge getragen werden. Perthes indeffen, 
damals zwei und zwanzig Jahre alt, traute fich ſelbſt noch nicht die. 
nöthige Gefchäftäfenntnid zu und fand auch in dem vorgefchlagenen 
Gefellfehafter nicht Die Tüchtigkeit und Zuverläffigkeit, welche ihm ala 
die unerläßlihe Vorausſetzung zu einer fo nahen Verbindung erfchien. 
Dankbar lehnte er den Antrag ab. Aber von dieſem Augenblicke an 


31 - 


hieß ihm "der Gedanke feine Ruhe, fih, wenn er um die Erfahrung 
einiger Fahre reicher geworden fei, in Hamburg ein eigene? Geſchäft 
ju begründen. Beil er hoffte, in feinem (Freunde Neffig einen durch⸗ 
aus geeigneten Theilnehmer zu finden, fuchte er denfelben ſchon jebt 
nah Hamburg zu ziehen, und ed gelang ihm, Hoffmann zu beſtim⸗ 
men, auch den Fremd ale Sehilfen in die Handlung zu nehmen, 

Zunächſt freilich fab auch Perthes in dem Buchhandel dad Mittel, 
welches Bernögen und äußere Selbftändigfeit verfchaffen ſollte; aber 
die Bedeutung, welcher jein lieber Buchhandel, wie er oft ſich aud- 
drüdte, für das gefammte geiftige Leben des deuiſchen Volles hatte; 
trat ihm dennoch fo vorherrſchend vor die Seele, daß er während fei- 
nes langen Leben? ganz gewiß weniger Gewicht auf den Erwerb. ge- 
legt bat, als jeder Beamte auf die Befoldung zu legen gewohnt iſt 
Ohne eine großartige Geftaltung ded Buchhandels fchien ihm Wiſſen⸗ 
haft und Kunft in ihrer Wirkung gefährdet, wo. der Balgentreter 
fehlt, äußerte er, fpielt der größte Virtuos vergebens auf der Orgel. 
Manche Literarifch tobte Gegend hatte er Durch die Regſamkeit eines 
tüdytigen, dort ſich niederlaſſenden Buchhändler aufleben ſehen, und 
ſchon von dieſem Geſichtspunkte ans: beklagte er, daß dem: intereſſan⸗ 
ten Erwerbözmweige viel zu wenig Aufmerfamleit gewibneet werde, An 
den Orten ferner, an welchen die Buchhändler Sinn für Wiſſenſchaft 
und Kunſt befaßen, ſah er vorzugsweiſe willenfehaftliche und -fünf- 
leriſche Werke abgefept; wo ſich Dagegen ein Buchhändler von niedri- 
gem und fittenlofem Charakter angefiedelt hatte, fanden ſchlüpfrige 
und elende Schriften aller Art weite Verbreitung. Geftügt auf ſolche 
Xhatfachen, fchrieb Perthes dem Buchhandel überhaupt und jeden 
Buchhändler indbefondere einen wefentlichen Einfluß auf die Richtung 
zu, in welcher Lefer und Käufer bei der Auswahl ihrer geiftigen Nab- 
wng zu Werke gingen, und da ihm der in ungeheuerem Wachſthum 
begriffene Einfluß der Literatur auf Gefinnung und Leben vor Augen 
lag, fo betrachtete er damald und fein ganzes Leben hinburd ben 
Buchhandel und bie Art feines. Betriebes als eine Her‘ in den Gang 
der. Geſchichte eingreifende Macht. Ä 

Er wußte wohl, daß der Buchhandel vollig banbiverkörmäfik be» 
trieben werben tönne, aber. auch an Pfarvern und. Brofefforen;, an 

4° 


52 


Miniftern und Generalen fehlte ed nicht, welche Frohndienſte leiſteten 
um das tägliche Brot. Ein Grauen freilih fam ihn an, wenn er 
Buchhändler fah, welche, wie er fich fpäter audrüdte, gemeine Wirth- 
haft trieben mit Schreibgefindel, das für Stallung und Fütterung 
den Geift vermiethete. Wo wäre, fehrieb er 1794, ein Stand, defien 
Mitglieder die ihnen nothwendigen Kenntniffe weniger befäßen und 
die ihnen obliegenden Pflichten weniger erfüllten, als der des Buch⸗ 
handels? Deutſchland ift mit elenden und feheuplichen Büchern über- 
fhwemmt, und würde frei von diefer Plage fein, wenn dem Buch⸗ 
händler die Ehre lieber wäre ald das Geld. — So entichieden Per⸗ 
thes den Beruf, dem er mit Liebe und Wärme ſich ergeben hatte, ge⸗ 
boben wiflen wollte, fo erſchien ihm doch der Vorſchlag feines Freun- 
des Gampe, den Drud verderblicher Werke durch Errichtung eines 
Buchhändlertribunals unmöglich zu machen, nicht nur unausführbar, 
fondern auch gefährlich, weil er eine neue Art Genfur zum Ziele habe. 
Nur in der Verftärtung einer ehrenhaften Gefinnung ded ganzen 
Standes und jedes feiner Glieder fah er Hilfe. Lieber Campe, fchrieb 
er, um zu wirken, was zu wirken möglich ift, laſſen Sie und zuerft 
uns felbft.im Guten befeftigen und Kenntniffe erwerben und unter 
den jungen Leuten unfered Standes freunde und Belannte unfered 
Simmed gewinnen, fo viel wie möglich. Jetzt ſchon find wir unferer 
fünf, und was können fünf nicht alled wirken, wenn fie ernftlich wol⸗ 
len? Sucht jeder von und den Geift ded Guten unter feine Belann- 
ten zu verbreiten, fucht jeder noch einige Auserwählte, behalten wir 
Standhaftigkeit, gibt Gott und Glück, Auguft, was wollen wir. wir- 
fen, was Gutes thun! Ich bitte Sie, fchreiben Sie mir doch hier- 
über ja recht bald und recht viel. 

Auf eignen Füßen wünfchte Perthes zu ftehen; durch feinen Bes 
ruf wünfchte ex auf weite Streife zu wirken, und Hamburg war ihm 
fo lieb geworden, daß er den Abſchied faſt für unmöglich hielt. Tag 
und Nacht ſann er über die Möglichkeit nah, fich in Hamburg ein 
Geſchäft zu gründen, und die Umwandlung, weldhe im Betriebe des 
Buchhandels eingetreten war, fchien ihm die Ausführung zu erleichtern. 
Gegenwärtig pflegen die beiden Zweige ded Buchhandels: Ver 
lag und Sortiment, getrennt von einander betrieben zu werden. Der 


33 


eine vermittelt ald Verleger den Drud der ihm von den Schriftftellern 
überlaffenen Werke; der andere beforgt ald Eortimentshändler den 
Berkauf der den Berlegern abgenommenen einzelnen Exemplare. Im 
vorigen Zahrhundert dagegen war regelmäßig der Berleger zugleich 
Sortiment3händler und der Sortimentöhändter zugleich Verleger ge- 
weien, bis in den neunziger Jahren das Verhältnis beider zueinan- 
der eine Durchgreifende Uingeftaltung erfuhr. Als Perthes feine Lehr⸗ 
jeit antrat, famen, tie fehon früher erwähnt, die deutfchen Buchhänd- 
ler jeded Jahr zweimal in Leipzig zufammen, um fid) untereinander 
über den Austaufch der von ihnen verlegten Schriften zu verfländigen. 
Ließ fich Die zwiſchen den einzelnen entjtehende Rechnung auf derfelben 
Meite nicht durch Tauſch ausgleichen, fo trat für den Ueberreft nur jel- 
ten Baarzahlung ein; die Ausgleichung vielmehr blieb dem Tauſche 
fpäterer Mefien vorbehalten uud eine nicht unbedeutende Anzahl Hand- 
lungen fland daher in. fortlaufender Tauſchrechnung miteinander. 
Noch während Perthes in Leipzig war, verſchwand diefe Art des Ge- 
häftöbetriebed, weil die Berleger guter und großer Werke fich nicht 
mit dem fchlechten oder unbedeutenden Verlage anderer befaſſen moll- 
ten, der in dem legten Sahrzehend des vorigen Jahrhunderts in ton 
unbegreiflicher Schnelligkeit zu wuchern begann. Ä 
Allgemein machte fi nun die fogenannte Nettorechnung geltend, 
nach welcher auf jeder Meſſe das durch Taufch nicht Auszugleichende 
baar gezahlt werden mußte. jeder Buchhändler, deſſen Sortiment 
bedeutender war als fein Verlag, bedurfte feit diefer Zeit für jede 
Meſſe baaren Geldes, und das Sortimentögefchäft, welches früher nur 
in Berbindung mit dem Verlag vorgelommen war, hatte die Möglich 
feit gewonnen, fich zu einem felbftändigen Zweige ded Buchhandel? 
iu geftalten. Eine zweite Aenderung, welche im Geſchäftsbetriebe ein- 
ttat, gab dem felbftändig werdenden Sortimentshandel eine überaud 
vortheilhafte Stellung zu den Berlegern. rüber nemlich hatte kein 
Buchhändler die einem Verleger abgenommenen Bücher demjelben 
jurüdgeben dürfen, wurden fie nicht an das Publicum verkauft, fo 
mußte er felbft fie behalten, und daher hütete fich jeder, dem Berleger 
mehr Eremplare abzunehmen, al® zu verlaufen fihere Hoffnung war. 
Als die Verleger bemerkten, daß der Abfag ihrer Werke litt, weil es 


54 


dem Sortimentöhandel an Ereinplaren fehlte, um den Verfauf auf 
das Ungewiſſe hin zu verfuchen, fo gaben fie den Sortiment®händlern 
außer den Exemplaren, welche biefe feft fauften, roch einige andere 
à condilion, wie man ed nannte. Die Sortimentähändler follten fich 
bemühen, diefelben zu verlaufen; gelang es ihnen nit, fo nahm der 
Verleger fie zurüd. Bald kam es fo weit, daß die Sortimentöhändler 
fein Gremplar feſt fauften, fondern jedes neu erfcheinende Werk von 
deſſen Berleger an alle für thätig und zahlungsfähig gehaltene Hand⸗ 
lungen & condition verſchickt ward. Da bie unverfauft gebliebenen 
&remplare in der folgenden Meffe ald Remittenden ober Krebfe zum 
Verleger zurüdtehrten, fo hatte von. nun an biefer allein den Schaden 
zu tragen, welcher aus den unverlauft bleibenden Werken erwuchs, 
und der Sortimentshandel mußte in der nächiten Zukunft einen außer. 
ordentlichen Aufſchwung gewinnen. Jeder, welcher das Jutrauen ber 
Verleger genoß, Tonnte denjelben mit einem verhältnismäßig kleinen 
. Capital betreiben und hatte, wenn er Literatur» und Menfchentennt- 
nid genug befaß, um da8 rechte Buch den rechten Leuten nahe zu 
bringen, wohl Hoffnung, in einem irgend lebhaften Orte fich ein blü- 
hendes Geichäft zu ſchaffen. Auch feine gefährlihden Seiten hatte 
freilich der Buchhandel durch den veränderten Betrieb erhalten. Per⸗ 
thes erfannte fie wohl; mit größter Befonnenheit und fiherem Blide 
ſetzte er brieflich feinem Oheim die Urfachen auseinander, durch welche 
ed dabin gekommen fei, daß die Mehrzahl ber deutfchen Buchhändler 
nur auf den legten Stoß, wie er ſich ausdrückte, warte, um zu Grabe 
zu gehen. ber, fügte er hinzu, muß diefe allgemeine Lage deö Buch⸗ 
handels nicht gerade ein Grund für mich fein, jept mit fefter, ficherer 
Hand zuzugreifen, wo ſich mir Umftände darbieten, die günftiger find 
ald Die allgemeinen. Wenn ich), was biöher noch niemand wagte, 
den Sortimentähandel für fich allein unternehme, fo ſpare ich an Ca⸗ 
pital, laufe fein doppeltes Rifico, kann alfe meine Unftrengungen auf 
einen Punkt hinwenden und habe dann in Hamburg die größte Hoff⸗ 
nung auf Erfolg. Bei einer Benölfernng von hundert und zwanzig 
tauſend Seelen find hier nur Drei Bucgbandlungen und das liter 
riſche Bedürfnis ift noch einer folchen Steigerung fähig, daß ein thä- 
tiger Buchhändler, welcher ſich hier nen niederläßt, den fchon beftehen- 


55 


den Gefchäften Leinen Nachtheil, fondern Bortheil bringt. Dazu 
kommt, daß die hiefigen Handiungdherren, weil ihre Lage Höllig ge- 
ſichert ift, es fich ziemlich bequem machen und auch dadurch einem 
feine Mühe ſcheuenden Anfänger große Bortheile gewähren. Ich felbft 
habe in hiefiger Stadt viele und fehr gute Verbindungen; eine große 
Zahl einflugreicher Familien will mir wohl und mein guted Glück 
ſteht mir zur Seite. Soll id nun alle die Vortheile, welche fich jegt 
mir darbieten, ungenüßt vorübergehen laſſen? Freilich ich bin noch 
jung und hätte gerne noch einige Zeit forgenfrei dahin gelebt; aber 
in gehn Jahren befige ih jo wenig Bermögen wie in dieſem Augen⸗ 
blide und habe an Kraft und IUnternehmungsmuth unendlich verlo- 
en. Sept bin ich keck und kühn und kann, da ich erſt vier und zwan⸗ 
ig Jahre alt bin, noch zehn Jahre arbeiten, ohne an das Heirathen 
ju denken; wie viel leichter gehe ich da in ſchwierige Unternehmen 
hinein. Ja, mein lieber Obeim, ich bin entſchloſſen, ein eignes Ge⸗ 
KHäft zu gründen. 

Um feinen Borfab ins Leben zu führen, bedurfte er nad) feiner 
Meinung die Summe von fiebentaufend Thalern. Freilich befaß er 
felbft feinen Thaler, aber mancher vorfichtige Dann war der Meinung, 
daß ihm, was er beginne, gelingen werde. Neſſig wollte fein Handels⸗ 
gefellfchafter werden und der Vater desfelben fagte ein Darlehn von 
jweitaufend Thalern zu; gleiche Summe verfprad einer feiner alten 
ſchwaͤbiſchen Freunde, und um ben Reſt des nöthigen Geldes zu er- 
halten, wurde ein junger Hamburger Kaufmann als dritter Gefell- 
ſchafter aufgenommen, obgleich das Gefchäft vorläufig unter Perthes 
alleinigem Namen eröffnet werden follte. Oftern 1798 verließ Per- 
thes die Handlung Hoffmann's, in welcher er biäher gearbeitet hatte, 
und ging nad) Leipzig, um mit den dort zur Meſſe verfammelten Ber- 
legern die nöthigen Berabredungen zur Eröffnung des neuen Gefchäfts 
zu treffen. Ich zeige Ihnen an, lautete das Circular, welches er in 
Leipzig umherſchickte, daß ich im Begriffe bin, mich in Samburg als 
Sortimentsbuchhaͤndler zu etablieren, zu welchem Unternehmen ich mir 
Ihr gütiges Zutrauen und Ihre Unterflügung erbitte. Es ift billig, 
dag man bei Erbittung der Handelsfreundſchaft einige Radricht von 
fih und feinem bisherigen Gang in. dem zu führenden Geſchäft gebe. 


56 


Sch verweife Sie deshalb auf Herrn Böhme in Leipzig, unter deifen 
Leitung ich ſechs Jahre ftand, und auf Herrn Hoffmann in Hamburg, 
dem ich feit drei Jahren gedient habe. Ihren ferneren Nachfragen, 
die Sie an mich zu thun für nöthig erachten, werde ih mündlich oder 
fhriftlih gerne möglichfte Genüge zu leiften fuchen. — Die älteren 
Herren waren nicht ohne Bedenken, dem vier und zwanzigjährigen. 
jungen Mann, der fo keck ein eigened Gefchäft begründen wollte, Cre⸗ 
dit zu bewilligen. Perthes hatte größere Summen nöthig, ald er 
geglaubt, er gerieth in bie peinlichfte Verlegenheit: aber die Treue fei- 
ner drei Hamburger Freunde half ihm aus der Noth. Du wirft er⸗ 
fahren haben, fchrieb er an Campe, wie es mir auf der Meſſe ergan- 
gen ift; aber glücdlicher Weife hatte ich neben fo manchen anderen fin- 
diſchen Einfällen auch den gehabt, mir einige taufend Thaler anzu⸗ 
ſchaffen, und das war gut, ſehr gut. 

Die Arbeiten, Schwierigkeiten und Verdrießlichkeiten, welche ihm 
das beginnende ſelbſtaͤndige Geſchäftsleben brachte, hatte Perthes feſt 
und muthig zu überwinden gewußt; aber auf das gewaltſamſte 
wurde er erfchüttert und zerriffen, ald mitten in dem Gefchäftdtumult 
die alte Leidenfchaft zu Friederike mit neuem Feuer ihn ergriff. Er 
war der Meinung gewefen, daß diefe Liebe nicht mehr Leidenfchaft, 
ſondern nur noch Freude an dem Geifte und an der Anmuth des Mäd- 
chens fei, und zu Gunften feines Freundes hatte er fich felbft verfpro- 
hen zu entfagen. ‘Dem fhönen Mädchen gegenüber entzündete fich 
aber das Feuer von neuem, welches ihn feit dem erften Zünglings- 
erwachen erfüllt hatte. Wie fteht, fehrieb er, da3 Mädchen vor mir in 
ihrer Kraft und im Gefühle ihrer Freiheit — ernft — ohne Meinliche 
Eitelkeit — das Auge voll Geift, jeder Zug, jede Bewegung voll Aus- 
drud und Leben, und wenn ihr Auge in das meinige blidt, fo fapt 
mid Leidenfhaft, und ich fühle es tief in mir, daß ich vor einer gro- 
Ben Entfcheidung ſtehe. — Wie ein böfes Schiefal erfhien ihm nun 
das Wort, welches er fich gegeben hatte, nicht für fich, fondern für den 
Freund das Mädchen zu erringen. So reiche® Glück, rief er auß, 
fehe ih mir blühen aus dem ftrahlenden Auge und um alled, alles 
habe ich mic) jelbft betrogen, arm und hilflos ftehe ich da. Ich foll 
entfagen, und fann ed nit. Muß ich wirklich halten, was ich wollte, 


57 


muß ich ed auch dann, wenn jie mich liebt, nicht ihn? Nein, ich kann 
es nicht, denn mir glüht Liebe aus ihrem Auge. — Nur einen ein- 
jigen Weg fah er, um aus dem Widerftreit zwifchen Leidenfchaft und 
Pflicht zu fommen, und diefen Weg flug er ein. Er fehrieb fogleich 
an Reſſig wahr und offen, und nod bevor deffen Antwort eingelau- 
fen war, ließ er durch einen Freund Frideriken erklären: Perthes und 
Neffig forderten beide ihre Hand; fie folle wählen; der Nichtgewaͤhlte 
werde in Ruhe zurüdtreten und mit Treue für das geliebte Paar leben 
und arbeiten. Friederike, ſchrieb Perthes, hat rubig, ohne die Farbe 
zu ändern, angehört, lange gefchwiegen und dann fehr ernft geant- 
wortet: Ich habe Perthes Lieb, ich habe Neffig lieb, aber meine Hand 
kann id) feinem geben. Was nun? fchrieb Perthes weiter. Ich fühle 
mich Falt und erftarrt, und eine ſchwere Schuld liegt auf mir; denn 
bin ich es nicht, der die Entſcheidung auch über Neſſig's Schickſal her⸗ 
vorgerufen hat! Ein Brief des Freundes befreite ihn von diefem 
Selbftworwurf, aber leer und öde blieb ihm die Zukunft. Mein gan- 
8 Lebensgebäude ift zerftört, zerftört won ihr, fchrieb er; ich habe 
mit dem Leben abgefchloffen, Gott gebe mir Troft und Kraft. Dir 
Iheint, heißt es in einem andern Briefe, die ftarre Kälte, mit welcher 
ih all den Sammer auf mich nehme, unnatürlih; Du willft mid 
weich und wehmüthig. Sch will Dir Folge leiften, ih will überhaupt 
kuͤnftig immer folgen, denn mir felbft habe ich bisher zu viel vertraut. 

Schwer laftete nun auf Perthes die Nothmwendigfeit, kräftig an 
der Fortführung des beginnenden Geſchäfts zu arbeiten. Alles wollte 
ih darum geben, fehrieb er, nicht unternommen zu haben, aber es ift 
geſchehen. Schon habe ih ſchwere Verpflichtungen gegen andere und 
ih muß und will fie löfen, wie ein ehrlicher Mann. — Er kehrte 
jurüd nach Hamburg und hatte nun, da er im Begriffe ftand, ſich 
felbftändig niederzulaflen, die Freude, feiner Mutter und feiner Schwer 
fter einen forgenfreien Aufenthalt in feinem Haufe gewähren zu kön— 
nen. Mit allen Kräften warf er fich in die Arbeiten hinein, welche, 
damit da® Gefchäft eröffnet werden könne, vorgenommen werden muß⸗ 
ten. Er war der erfte Buchhändler, welcher eine Auswahl der vor- 
jüglichften älteren und neueren Bücher aus allen Fächern eingebunden 
und wifjenfchaftlich geordnet aufitellte, fo daß fein Buchladen dem Li- 


58 


teraturfreunde dad Bild einer kleinen aber fehr außerlefenen Biblio⸗ 
thef gewährte, in welcher durch das Auslegen der literarifchen Tages» 
erfcheinungen zugleich das Mittel Dargeboten war, ſich ſchnell und leicht 
über den gegenwärtigen Stand der Literatur, ihrer Beivegungen und 
Kämpfe Ueberblid und Einficht zu verfchaffen. In einer fehr beleb- 
ten Gegend der Stadt, „hinter dem breiten Giebel“ Nr. 140, hatte 
Perthes das Local für fein Gefchäft gefunden. Das Haus, ſchrieb er, 
welches ich für taufend Mark gemiethet habe, ift für Hamburg ein 
wahre? Wunderwerf; denn von oben bid unten ift alle® literarifch: 
auf der Erde Buchladen, eine Treppe hoch ebenfo, zwei Treppen hoch 
Dr. Erich ald Redacteur der hiefigen neuen Zeitung, drei Treppen hoch 
Dr. Erich ald Riterator und Helfershelfer von Meufel und Conforten, 
vier Treppen hoch franzöfifcher Buchladen nad) vorne und nad) hinten 
Muheftätte der jungen deutichen Buchhändler; fünf Treppen hoch ein 
Torfboden. Meine eigne häusliche Einrichtung, fehrieb er der Tante, 
ift Hein, aber ziemlich nett; ich glaube, Sie würden fi) darüber 
freuen. Beine Ordnungsliebe wenigſtens wird von allen Hauöbe- 
wohnern gefürdhtet. — Als Perthes die nöthigen Vorbereitungen 
vollendet hatte, zeigte er unter dem 11. Juli 1796 die Eröffnung 
feines Geſchaͤfts mit folgenden Worten im Hamburger Eorrefponden- 
ten an: 

Ich mache hierdurch bekannt, daß ich hier eine neue Buchhand- 
lung errichtet und nunmehr eröffnet habe. Auf meinem Lager befin- 
den fih- die beiten ältern und neuern in Deutſchland herausgekomme⸗ 
nen Bücher, und ich darf verfprechen, jedes Buch, das überhaupt noch 
irgendwo zu bekommen ift, verfchaffen zu können. Einen Theil mei- 
ned Sortiments habe ich einbinden laſſen, um fo den Wünfchen des 
lefenden Publicumd noch geſchwinder zu entfprechen, die Kenntnis von 
dem, was man fauft, zu erleichtern und den Bebürfnifien der hier 
durchreifenden Ausländer mehr entgegen zu kommen. 

Dur diefe neue Einrichtung glaube ich etwas nüpliches gethan 
zu haben; die Unvollſtaͤndigkeit und die Mängel, die fi in der Aus- 
führung finden möchten, werde ich zu verbeflern fuchen, fo wie bie 
Wuͤnſche des Publicumd mir befannter werden. Um ben Aufenthalt 
in meinem Laden angenehm zu machen und um überhaupt die Be- 


59 


fanntwerdung unferer neuen Literatur an meinem Theil zu befördern, 
werde ich Dafür forgen, daß von jedem deutfchen Journal, jeber Neuig- 
keit des Zaged und jeder allgemein intereffanten Schrift immer ein 
Eremplar in meinem Laden zur Durchſicht bleibe. Aufmerkfamteit, 
Pünktlichkeit und Gefälligkeit gegen das mic) beſuchende Publicum 
made ich mir in jeder Hinficht zur Pflicht. 

Dad Geſchäft war gegründet und hatte Hoffnung auf Erfolg. 
Es war, bemerkte Perthes fpäter, ein keck gewagtes, jugendfiches 
Unternehmen; aber es ruhte auf der richtigen Einficht in die leben⸗ 
digen literariſchen Bewegungen und Bedürfniffe damaliger Zeit. 


Die erfte Belanntihaft mit Soffein nud dem 
Münfterlande. 
1796. 





Wenige Boden, nachdem Perthes fein Gefhäft eröffnet hatte, 
trat im Juli 1796 ein ſchlanker, hoher Mann mit feiner Geſichts⸗ 
bildumg, Feicht gebräunter Farbe und finnendem, herrlich blauem Auge 
in den Buchladen. Dem Anfchein nach ein Funfziger, hatte ex in allen 
feinen Bewegungen eine leichte und Fräftige Jugenbdlichkeit, und Klei⸗ 
dung, Ausdrucksweiſe, Haltung, alles fchien gemählt und doch natür- 
ih. Der Mann, deſſen edler und freier Anftand fchnell Perthes 
Aufmerkfamteit erregte, war Friedrich Heinrich Sacobi, welcher, aus 
Düffeldorf geflüchtet, ſich damals im Holftein und Hamburg aufhielt. 
Vornehmheit freitih drückte fih in feinem ganzen Weſen aus, aber 
fie hatte nichts Kaltes oder Abwehrended. Die Anmuth ber ganzen 
Erſcheinung rief vielmehr in Perthes fogleich zutrauensvolles Hinge⸗ 
ben beruor. Kaum hatte er die nöthigften gefihäftlichen Antworten 
gegeben, fo ſprach er auch ſchon dem bewunderten Berfaller des Wol⸗ 
demar die Berehrung uud Liebe, welche er für ihn empfand, mit gro⸗ 
fer Wärme aus, und ließ den freundlich Zuhörenden einen Blid in 
daB eigene heftige Streben und unfichere Schwanfen thun. Jacobi 


60 


hatte feine Kreude an dem jungen lebhaften Mann; fchon nach weni- 
gen Tagen fam er wieder und hielt fih von nun an. oft und.lange in 
dem Buchladen auf, bald die neuangelommenen deutihen, englifchen 
und franzdfifchen Schriften durchblatternd, bald ſich mit deren Eigen⸗ 
thümer unterhaltend. 

Wenige Wochen ſpäter, es war im Auguſt 1796, wurde Perthes 
von Jacobi nach Wandsbeck, wo dieſer damals wohnte, eingeladen. 
Dort ſah er Jacobi's jüngſten Sohn Mar, der fo eben feine medicini⸗ 
{hen Studien in England vollendet hatte, und Jacobi's beide Schwe- 
ftern, Charlotte und Helene, welche, Tebendig an Geift, ſcharf an Ber 
fland und voll Theilnahme für alle Bewegungen der Literatur, zu 
gleigugeichäftige und aufopfernde Sorgſamkeit im Haufe wie im Le- 
ben bewährten. Perthe3 durfte von nun an, fo oft er wollte, und er 
wollte fehr oft, das Haus Jacobi's befuchen; Helene wurde ihm eine 
treue mütterliche Freundin, und Jacobi ein väterlicher Freund, der 
wohlwollend auf die Fragen und auf die innern Kämpfe, Zweifel und 
Bedenken des jungen Mannes einging, um zurechtweifend und beleh- 
rend deffen weitere Entwidelung zu fördern. Sch liebe und ehre den 
herrlichen Mann, fchrieb Perthed dem Oheim, wie ich feinen andern 
Menſchen liebe und ehre. Mit vollem Herzen bin ich ihm entgegen 
gegangen; er erfannte es und hielt ed der Mühe werth, fi mit mer 
nem Innern zu befchäftigen. — Die Entwidelungäftufe, auf welcher 
Perthes fland, mußte die Einflüffe Jacobi's überwältigend machen. 
Jahre hindurd Hatte er fih abgemüht, feinen Willen nad) Geſetzen 
zu regeln, welche von dem Berftande ald die allein und allgemein 
giltigen aufgeftellt fein follen; Jahre lang hatte er ſich abgemüht, 
den fo geregelten Willen für fein Thun und Treiben zur ausſchließ⸗ 
lichen Richtſchnur zu nehmen, aber e3 hatte ihm nicht gelingen wollen. 
Dann hatte er mit größter Freude und Wärme das Gefühl in feinem 
eignen Innern als den Leitftern für das Leben ergriffen, aber diefes 
Gefühl follte zuvor an der Kunft gebildet und geläutert fein, und das 
wollte ihm nicht gelingen. Run ftand ihm Jacobi gegenüber mit 
der ganzen Macht eines bedeutenden und anerfannten Namen? und 
mit dem ‚ganzen Zauber feiner perfönlichen Erfcheinung. Er beftä- 
tigte dem freudig aufhorchenden jungen Mann, daß er allerding® das 


61 


eigne Gefühl als Leitftern für das Leben feithalten folle, wenn auch 
aus einem anderen Grunde und in anderer. Weife, ald er bisher ge⸗ 
meint. Wohl jei, fo lautete Jacobi's Lehre, dem Menfchen die Wahr« 
heit als eine. Mitgift für die irdifche Laufbahn von feinem Schöpfer 
offenbart worden, zwar nicht in Wort und Bild, aber, doch ald Gefühl 
in dem eignen menſchlichen Innern. Ein unerforfchliches. Ereignis 
jedoch, welches auch durch die Auffaffung ald Sündenfall feine Erflä- 
rung nicht erhalte, habe die urfprüngliche Offenbarung im Gefühl 
geſtört — und der Menfch irre, und. der Menfch fündige. Unzertrennlich 
zwar von dem Dafein ded Menſchen als Menſch fei ihm der Begriff 
einer erſten Urfache aller Dinge geblieben; aber wenn der Verftand, 
welcher nichts vermöge, als Begriffe feftzuftellen oder gehabte An- 
ſchauungen in Begriffe zu vertvandeln, jene letzte Urfache der Dinge 
durch Logifche Mechanik Demonftrieren oder aus finnlihen Wahrneh⸗ 
mungen aufffären wolle, fo gelange er unvermeidlich zu einem noth- 
wendigen Weſen ohne Perfönlichkeit, zu dem todten Abgott des Ber- 
ſſandes. Im Gefühle des Menfchen aber offenbare Gott fich felbft 
und die ewige Wahrheit in. unmittelbarer Weife. Nur indem ber 
Menfch diefe unmittelbaren Offenbarungen vernehmen und fie von 
den Eindrüden der Sinnenmwelt wie von den Einflüffen des Verſtandes 
befreien lerne, dürfe er hoffen, zu einer immer tieferen Erkenntnis der 
ewigen Wahrheit zu gelangen. 

Wie fol ich Ihnen danken, fchrieb Perthes einige Jahre waier 
an Jacobi. Sie find es, welcher mein Schickſal beſtimmte, indem Sie 
mir durch Ihre entgegenlommende,; mein jugendliche? Herz wieder 
aufrichtende Liebe eine ganz neue Laufbahn eröffneten. — Nie. ift 
in Perthes das Gefühl des Dankes und der Verehrung, durch welches 
er an Jacobi gebunden war, erfaltet, und Jacobi pflegte.den Briefen, 
die er ununterbrochen bid zu feinem Tode dem jüngeren Freunde 
ſchrieb, häufig die Ueberſchrift zu geben: der alte Jacobi an feinen 
waderen und lieben Sohn Perthe2. 

Im Haufe Jacobi's hatte Perthes fchon im September Claudius 
geſehen und am 27. Rovember betrat er zum erſtenmal das beinahe 
am Eingange des freundlichen und reinlichen Ortes an der breiten 
lübſchen Landſtraße gelegene Haus des Wandsbecer Boten. Bor ihm 


62 


fand nun der. Mann mit feiner kränklichen Gefichtsfarbe und feinem 
ſchlicht zurüdgeftrichenen, von einem Kamme zujanmmengehaltenen 
Haar. Die nicht anfehnliche Geftalt,. der bequeme Haudrod, die nie⸗ 
derſächſiſche Sprache würde jchwerlich den in dem feltenen Manne 
verborgenen Schap geoffenbart haben, wenn nicht ein himmliſches 
Feuer aus dem berrlich-blauen Auge gefprochen hätte. Claudius 
war längft von mir verehrt, fchrieb Perthes feinem Oheim; aber es 
ift ſchwer, ihm beisufommen. Mich beugte vor ihm der tiefe Sinn 
feiner Schriften, in denen jede Zeile ein Zeugnis davon ablegt, daß 
der Funke, der unfere göttliche Abkunft bekundet, in ihm wach ift wie 
in Seinem andern. — Auch in Claudius' Haufe wieder begegneten 
ihm, wie-in den Hamburger Kreifen, die großen politifhden and reli« 
gidfen Fragen, auch bier wieder die lebendigfte Theilnahme an den 
Bewegungen ber Literatur‘, aber in anderer Weife ald dort. Gegen- 
über den herrfchenden Jeitrihtungen, welche Religion und Staat mehr 
oder weniger auf menschliches Meinen und menfchliche Willkür zurüd- 
führen wollten, fand Claudius in der durch die heilige Schrift be= 
wahrten Offenbarung die einzige Quelle der wahren Religion und 
in. der angeftammten Obrigkeit das nicht zu entbehrende, von Gott 
verliehene Rettungsmittel gegen den Frevel und die Willfür der Men⸗ 
ſchen. Mit Jacobi fimmte er infofern völlig überein, als auch er 
“der logifhen Mechanik jede Kraft abſprach, die Wahrheit zu finden, 
aber freilih im übrigen gingen beide Männer weit auseinander. 
Während Jacobi ald Folge jened unerforfchlichen Ereigniſſes, welched 
Zerſtörung in die Schöpfung Gottes brachte, das Irren des Menfchen 
mit durchaus vorherrfchender Bedeutung hervorbob, fah Claudius vor 
allem auf dad Sündigen des Menfchen und auf die hierdurch hervor- 
gerufene Scheidung deöfelben von Gott. Ihm konnte daher als Heil⸗ 
mittel nicht, wie Sacobi, das die Stimme Gottes vernehmende Gefühl 
des Menſchen, fondern nur die geſchichtliche Thatſache der Exrlöfung 
und ihre den Sinn des Menſchen ändernde Macht genügen. Feind⸗ 
lich indeffen ftanden fi ungeachtet ihrer wefentlichen Berfehledenheit 
bie Uebergeugungen der beiden nahe befreundeten Maͤnner nicht gegen 
über. Ohne in einen Widerſpruch mit fich felbft zu gerathen, konnte 
Jacobi fagen, daß er denjenigen glüdlich preife, welchem ein noch hel⸗ 


m 


63 


leres Richt, eine noch freudigere und feftere Zuverficht als ihm gewor⸗ 
den fei, und Claudius fah, weil die Ahnung der Wahrheit zwar noch 
nicht groß mache, aber doch die Fähigkeit gebe, es zu werben, Jacobi 
auf Feinem Wege, der ein anderes Ziel verfolge ald dad, welches er 
felbft erftrebte. | 

Anderen Ueberzeugungen gegenüber ftand Claudius anderd. Die 
Pertonen zwar übten damals, aud wenn fie in den verfchiedenften 
Richtungen fi bewegten, größere Duldſamkeit gegeneinander, ala 
in fpäterer Zeit, aber die Meberzeugungen felbft traten. ſich fchroffer 
gegenüber. Es fehlte an jeder Bermittelung der religiöfen und poli⸗ 
tifchen Gegenfäbe, e8 gab nur ein Entweder — oder. Manches Un⸗ 
weientliche, manches Nebenwerk wurde, meil ed einmal ald Zubehör 
einer beftimmten Grundanficht hergebracht war, nicht weniger ent⸗ 
fhieden fefigehalten, ala die Grundanficht felbft, und man trug Ber. 
denken, dem Gegner irgend eine Berechtigung zuzugeftehen, weil man 
fürdjtete, die ganze Hand würde jedem genommen werden, der den 
Heinen Finger zu reichen fich geneigt zeige. Auch der Bote von 
Wandsbeck, obgleich fo ſtark und feft in feiner Veberzeugung wie we⸗ 
nige der Zeitgenofjen, wurde nicht immer völlig Herr über die Aengſt⸗ 
lijfeit und über die ſtets aus derfelben folgende Schroffbeit; aber 
einen Grundzug feine? Geiftes bildete Diefelbe weder in früheren noch 
in fpäteren Jahren. Gerade um die Zeit, in welcher Perthes Clau⸗ 
dius zum erftenmale ſah, hatte diefer Uriand Nachricht von der neuen 
Aufklärung gefchrieben und wollte fie drucken laffen, um den ihm ger 
machten Vorwurf des Obſcurantismus zurückzuweiſen. Bitterfeit ins 
deſſen oder Gereiztheit kam durch dieſe Arbeit fo wenig wie durch 
irgend eine andere Arbeit gleicher Art in fein Gemüth, und weil ihm 
der Glaube, verjühnt zu fein mit Gott, nicht ein Lehrfab war, ſondern 
ein dad ganze innere ausfüllender Zuftand der Seele, fo blieb ihm und 
feinem Haufe jedes traurige und trübfelige, jedes finftere und im Thun 
und Laien ängfiliche Wefen fremd. Unbefangen gab er fih auch im 
häuslichen Leben feinen launigen Einfällen hin und konnte ſich berg 
lih der Anabenfpäße freuen, an denen die heranwachfenden ülteren 
Söhne einen unerſchoͤpflichen Reichthum befaßen. Ich fand Claudius 
fo harmlos und deutfhhumoriftifeh wie ehemals, erzählte Ewald, ein 


64 


eifriger Anhänger der Aufklärung, welcher in Claudius, als er ihn 
1796 befuchte, einen. düftern Fanatiker zu finden erwartet hatte. Was 
man alfo au, fährt er fort, von feinen religidfen und politifchen 
Meinungen fagen mag, er it ald Mann fein anderer geworden; er 
hat feinen finfteren Blid befommen und ift allen Menfchen gut; ja er 
lat über mande Dinge, worüber ſich viele unferer Toleranz» und 
Humanitätd- und Stoicidmud- Prediger halb todt ärgern würden. 

Die Sinnedart ded Vaters, welcher dad geiftig Große und Tiefe 
nicht anders als in unfcheinbarer Form oder ‘verkleidet gar in irgend 
einer zugleich das Lächeln erregenden.. Geftalt hervortreten lafien 
mochte, fpiegelte fih, fo wie die hohe weiblidhe Einfalt der Mutter, in 
dem gefammten Leben der Familie ab. Die großen Werke Paleſtri⸗ 
na’3, Leonardo Leo's, Bach's, Händel’8, Mozart's, englifche Sprache und 
- Literatur und geiftige Intereffen aller Art waren einheimifch in dem 
Haufe, aber verftedt gleihfam unter der größtmöglichften Einfachheit 
des Lebend. Auch für die alltäglichfte häusliche Arbeit fehienen die 
Töchter nicht zu gut; und nur darauf bedacht, die tiefen Mittelpunkte 
‚de geiftigen Leben? in feinen Kindern zu kräftigen und zu bilden, Tieß 
Claudius fie im übrigen gewähren. Zwar hatte auch er mit dem 
Feinde in Inneren des Menfchen zu kämpfen, der in ihm für manche 
Verhältniſſe als eine angeborne Härte ſich geltend machen wollte, oder 
ihn verleitete, den Eindrüden des Augenblicks mehr, 'ald recht war, 
Einfluß zu geftatten ; aber das Reben der Familie wurde hierdurch nicht 
in feiner freien und unbefangenen Bewegung geftdrt; gemachte und 
anfpruchvolle Abwechſelung der irdifchen und der himmlifchen Dinge 
kannte fie fo wenig ald gewaltfame oder erfünftelte Webergänge. 

Perthes hatte es bisher für feine mwefentliche Aufgabe gehalten, 
die eignen Handlungen und Stimmungen möglihft genau zu zerglies 
dern, fie zu tadeln oder zu bewundern, und war dadurch zu einem 
ängftlichen Aufpaffer feiner felbft geworden. Der erfte bedeutende 
Eindrud, melden er von Claudius’ Haus empfing, lieg ihn ahnen, 
dag ein Zuftand des geiftigen Seins möglich fei, in welchem das 
Auflauern auf jede Regung des inneren und auf jede frifhe Bewe- 
gung des äußeren Reben? den Menfchen nicht fördere, ſondern hemme 
und ftöre, | | 


65 


Den Freunden in Hamburg, Runge, Hülfenbed und Spedter, 
entging der Eindrud nicht, welchen Jacobi und Claudius auf Perthes 
machten. Sie konnten von ihrem damaligen Standpunkte aus diefe 
Einwirkung nicht billigen und fürchteten überdies, daß Perthes ſich in 
Folge derjelben von ihnen mehr und mehr entfernen möge. Es kam 
zu einer lebhaften Erklärung, aber Perthes befeitigte durch einen 
offnen und warmen Brief an Runge den Miöflang, ber hereinzu⸗ 
brechen drohte. Allerdings hat meine Stellung zu Dir fi geändert, 
förieb er, feit ich Jacobi und feine Freunde fenne; ich vermag jept 
Dir zu widerfprechen, ja ich widerfpreche Dir, um zu widerfprechen. 
Dis dahin hatteft Du meinen Geift gefangen genommen; nun aber 
habe ich eine Sicherheit kennen gelernt, welche, obgleich an fich viel- 
leicht nicht höhern Werthes ald die Deinige, Doch anderen ihre Wahr⸗ 
beit und ihr Recht auch vergönnt, und ſeitdem ftehe ich freier. Aber 
meine. Liebe zu Dir ift unmwandelbar; ‚wen ich einmal liebe, einmal 
mit Innigkeit ergriffen habe, den laffe ich nie wieder. Glaubet auch 
Ihr an mich und werdet nicht irre. 
| Obgleich, mie diefe Worte zeigen, der Eindruck, welchen Jacobi 

und Claudius auf Perthed machten, ihn zunächft nur zu einem Aufs 
geben feines bisherigen Standpunktes geführt hatte, fo ließ fich doch 
vorausſehen, dag ein längerer und näherer Umgang mit beiden Män⸗ 
nern, mochte er nun anziehend oder abftoßend wirken, eine feftere und 
farere Ueberzeugung begründen müffe. Die Bedeutung, welche hier- 
durh das Haus Jacobi’? und das des Wandsbeder Boten für Per⸗ 
the3 gewinnen follten, wurde wejentlich erhöht, indem beide Familien 
mit allen den Kreifen nahe befreundet waren, in welchen fih damals 
da® eigenthümliche und vielfach bewegte geijtige Leben Holfteind 
ausſprach. 

Zerſtreut auf ihren Gütern ober i in Meinen Orten fand ſich eine 
nicht geringe Zahl bedeutender Männer, welche, in mehr oder meniger 
naher Berbindung ftehend, Lebendigkeit über das ganze Herzogthum 
verbreiteten. Die Griechen und Römer, Natur und Kunft, politifche 
und religiöfe Intereſſen hatten hier ihre begeifterten Freunde und 
Pileger. In Meldorf in Süderdithmarfchen lebte feit 1778 Niebuhr 
der Bater, nahe verbunden mit Boie, bem Herauögeber des deutſchen 


Perthes Leben. 1. 4. Auſl. 5 


66 


Mufeumd, welcher an demfelben Orte das Amt des Landvogtes be- 
fleidete und wie Riebuhr einen großen Reichthum an auswärtigen 
Berbindungen und ntereffen befaf. In Eutin befand fih Graf 
Friedrich Leopold Stolberg feit feiner Rückkehr aus Stalien im De 
cember 1792 als Präfident der fürftlihen Regierung. Er war voll 
Beift, Xeben und Liebe, damals wie auf jeder Stufe feiner Entwide- 
lung aber ſchon unruhig in feinem Innern, weil er den feflen äuße- 
ren Halt, den er für feine religiöfe Ueberzeugung bedurfte, nicht in der 
. proteftantifchen Kirche fand, deren hergebrachte Formen er den Angrif- 
fen der Feinde erliegen ſah. Unter Stolberg. arbeitete der ſpaͤtere 
Director im preußifchen Eultugminifterium, Nicolovius; er hatte den 
Grafen al8 Lehrer der Kinder nad Italien begleitet und 1795 in Eus 
tin eine Anftelung ald Kammerfecretär gefunden. Voß mar bereits 
1782 als Rector der Schule von DOtterndorf nad) Eutin gefommen 
und lange vorher ſchon den boljteinifchen Kreifen befannt und befreun- 
dei; die beiden Stolbergd waren im Göttinger Dichterbunde feine 
Brüder geweſen; mit Claudius und deilen edlen Freunden hatte er 
nad feinem eignen Ausdrude das feligfte Leben während des Auf- 
enthalt? in Wandsbeck 1775 bi® 1778 gelebt. In Eutin aber nahm 
er dennoch eine gereizte Stellung ein. Die Unvereinbarfeit der inner- 
ften Gefinnung, der fchroffe Gegenſatz in den Anfichten über Adel, 
Religion und franzöfiihe Revolution und vielleicht mehr noch al? al- 
les dieſes die verfchiedenartige Lebensſtellung, in welcher fich die alten 
Univerfitätäbrüder nun zu Eutin wiederfanden, hatte die frühere 
Sünglingsfreundfchaft zwifchen Boß und dem Grafen Friedrich Leo- 
pold unheilbar erſchüttert; die Unbefangenheit des Umgang? war da- 
bin, überall erblidte Voß gräflichen Stolz, überall religiöfe Ueber- 
fpannung, und widrige Zuträgereien vermehrten das Unbehagliche des 
Verhaͤltniſſes. 

Nach Emkendorf, einem Gute zwiſchen Kiel und Rendsburg, hatte 
ſich nach ſeiner Abberufung vom daͤniſchen Geſandtſchaftspoſten in 
London Graf Friedrich Reventlow zurückgezogen. Als Eiferer für 
das ſtrenge Feſthalten an der Augsburgiſchen Confeſſion, als Curator 
der Landesuniverſität und als Verfechter der Adelsrechte wurde er 
vielfach angefeindet; aber fein Geiſt und feine Redlichkeit erregten, 


67 


fo wie jeine feine Weltbildung, überall Bewunderung, und feine Ge 
mahlin Julie, geborne Gräfin Schimmelmann, hatte durch geijtvolle 
Lebendigkeit, anſpruchloſe Frömmigkeit und freudige Ergebung in 
ſchweren lörperlichen Leiden, fo wie Durch verftändige Sorge für ihre 
Öutdangehörigen, Freunde und Berehrer auch unter denen erworben, 
die ihre Gejinnung nicht theilten. Beſonders häufig in Emkendorf 
fanden Jacobi, die Stolbergd, Claudius, Cramer der Bater, Hengler 
und andere fich zufammen, und der Ernft und das vornehme Weſen, 
welches diefem Haufe eigen war, hatte feine drüdenden Formen und 
verjcheuchte weder die Freude an der Literatur, noch eine heitere, ja 
möhliche Gefelligfeit. 

Auf Altenhof, nahe bei Edlernförde an der Dftiee, hatte der Bru- 
der des Grafen Friedrih, Graf Cajus Neventlow, feinen Wohnfig. 
An Feinheit, vornehmer Weltbildung ftand er vielleicht feinem Bruder 
nach, aber nicht an Geift und Umfang der Kenntniffe, und an Kraft, 
an Geichäftsblid und einfacher Tüchtigkeit des Charakter übertraf ex 
ihn. Nahe befreundet mit Altenhof wie mit Emkendorf war Graf 
Ehriftian Stolberg, damald Amtmann in dem etwa drei Meilen von 
Hamburg entfernten Tremdbüttel. Weniger dur ihn ald durch feine 
Gemahlin Quife, geborne Gräfin von Reventlow, hatte fein Haus 
eine eigenthümliche Bedeutung für die befreundeten Kreife. Dur 
ihren fehneidenden Berftand und dur den Umfang ihrer Bildung 
behauptete die Gräfin eine überlegene Stellung und ftand in einem 
mit Geift und Selbftändigfeit geltend gemachten religiöfen und po- 
litifchen Gegenfab zu den verwandten und befreundeten Kamilien 
Holfteins. | 

Für diefe und noch manche andere bedeutende Kreife in Holftein 
hätte Kiel als Landesuniverſität den natürlichen Mittelpunkt bilden 
folen,, aber Durch heftige Parteiungen bin und her bewegt, konnte es 
eine ſolche Stellung nicht gervinnen. Als der Philologe Cramer, wels 
her feine Begeifterung für die franzöfifche Revolution in unerhörter 
Beife offenbarte, 1794 entiegt wurde, famen die politifchen, ald dad 
Guratorium der Univerfität den Lehrbegriff der Augsburgiſchen Con⸗ 
teffion umangetaftet erhalten. willen wollte, famen bie religiöfen @e- 
genfäge an den Tag. Wohl nur der alte ehrmürdige Gramer und 

| ge 


68 _ 


Hendler, deilen Bedeutung als Menſch und als Gelehrter Durch Rie- 
buhr's Briefe allgemein befannt geworben ift, ftanden in einem wir 
ih nahen Zufammenhange mit dem geiftigen Leben Holſteins. 

Bon Hamburg wurde Holftein durch die ihrem innerften Weſen 
nach verfchiedene Auffallung der großen Lebendverhältniffe getrennt 
und die innere Trennung hatte überdies eine Verfchärfung erfahren 
dur die Stellung, welche der Amtmann von Henning in Plön, be 
fannt ald Herausgeber der Annalen der leidenden Menfchheit, ein- 
nahm. Mit den Kreifen, in welchen fein Schwager Reimarus lebte, 
war er nahe befreundet; von den Holfteinern Dagegen wurde er ver⸗ 
mieden und bitter gehaßt. Demungeachtet waren Claudius, Jacobi 
und auch die beiden Stolberg oft und gerne in Hamburg; der gei-⸗ 

‚fligen Bedeutung freute man fich gegenfeitig und ertrug die Grund- 
verſchiedenheit in politifchen und religiöfen Ueberzeugungen, fo gut es 
gehen wollte, ohne ſich diefelben einander zu verbergen. Näher ala 
mit Hamburg war ungeachtet der confefjionellen Verfchiedenheit Hol» 
ftein mit dem bedeutenden Kreife im Münfterlande verbunden, ale 
deſſen Mittelpunkt Die Yürftin Gallitzin erſchien. 

Die faft in jeder, Beziehung hervorragende Stellung, welche daB 
Hochſtift Münfter feit dem Anfange der fiebenziger Jahre einnahm, 
hatte e8 einzig und allein dem Domcapitular Freihern Friedrih Wil- 
helm Franz von Fürftenberg zu verdanken, welcher ala Minifter des 
Erzbiſchofs von Köln und Biſchofs von Münfter, Mar Friedrich von 
Königsed, feit etwa 1764 die Regierung in Münfter führte. Fürften- 
berg war zunächſt und vor allem ein Staatdmann im großartigften 
Sinne ded Worted. Ihm fehlte unter den gegebenen Berhältniffen 
die Möglichkeit und gewiß auch der Wille, in den beftehenden, jede 
politische Wirkfamkeit erfchtwerenden Formen der territorialen und der 
kirchlichen Berfaffung Aenderungen vorzunehmen, und dennoch wan⸗ 
delte er in unbegreiflich kurzer Zeit da8 gefammte Leben in folchem 
Grade um, daß dad Hochſtift an. Bildung des Clerus, an Tüchtigkeit 
der Volks⸗ und der gelehrten Schulen, an Regſamkeit im Aderbau 
und in Gewerben und vor allem an Liebe feiner Bewohner zum Lande 
und feiner Verfafjung die meiften weltlichen und alle geiftlichen Ter⸗ 
ritorien weit überragte. Auch abgefeben von feiner Bedeutung als 


69 


Staatemann, nahm Fürftenberg eine geiftig hervorragende Stellung 
ein. Sachkenntnis in fehr ungewöhnlihem Umfange ftand ihm zu 
Gebote, und in den literarifchen wie in den philofophifchen Bewe⸗ 
gungen der Zeit war er einheimifch. Während er in den früheren 
Jahren feine? Lebens eine gewifle Vorliebe für die Künfte des Krieges 
nicht verleugnen konnte und deshalb beſonders Fräftig für die Ver- 
breitumg der mathematifchen Studien und für eine muthige und fräf- 
tige Ausbildung der Jugend wirkte, nahmen ihn im fpätern Alter die 
religiöfen und die philofophifchen Intereſſen vorzugsweiſe in Anſpruch. 

Zu diefem Manne und in dieſes Land kam im Sommer 1779 
die Fürftin Galligin, Gemahlin des ruffifhen Gefandten im Haag, 
um fich den Rath Fürftenberg’3 für die Erziehung ihres Sohnes ein- 
zuholen und dann fich derfelben auf einem Landfis am Genfer See 
ganz hinzugeben; aber der Eindrud, welchen Yürftenberg auf fie 
machte, war jo groß, daß fie feine? Rathes und feiner Unterftügung 
‚ nicht wieder entbehren mochte und fortan ihren dauernden Aufent- 
halt in Münfter nahm. | 

Die Fürftin, eine Tochter des preußifchen Generalfeldmarfchalld 
Grafen Schmettau, hatte eine Erziehung erhalten, welche durchaus 
nur auf dad Auftreten in der damaligen großen Welt berechnet war. 
Als Hofdame der. Prinzeffin Ferdinand wurde fie 1768 im Bade 
Spaa mit dem Fürften Galligin befannt und nach einer Belanntichaft 
von wenigen Wochen im zwanzigften Jahre feine Gemahlin. Mit 
ihm lernte fie vorübergehend das Leben an den Höfen von Wien, 
Peteröburg und Paris kennen und hatte dann als Gemahlin des 
ruffifchen Geſandten eine der erften Rollen im Haag zu Spielen. Die 
Bewunderung, welche ihrem Geifte nicht weniger als ihrer Stellung 
überall zu Theil ward, fchmeichelte ihrem Ehrgeize und ihrer Eitelkeit, 
aber befriedigt fühlte fie fi) dennoch nicht durch ihre Lage. Bon 
frühefter Jugend an hatte mit wunderbarer Stärke ein Trieb nad 
Erkenntnis der Wahrheit und nach Erreichung des ihr unter wech⸗ 
feinden Geftalten vorfchwebenden Ideals fittliher Vollkommenheit fie 
erfüllt. Die Zerftreuungen der großen Welt hatten denfelben nicht 
ertödtet; aus dem ununterbrochenen Kreife vielmehr von Spielen 
und Befuchen, von Schaufpielen und Tänzen brachte fie Abend nur 


70 


ein vermehrtes, fie bis zur größten Dual erregended Streben nadı 
etwas Beflerem mit ind Haud. Der fehnliche Wunſch ermachte in 
ihr, aus dem] Leben der großen Welt auszuſcheiden und fih, um dem 
Zwielpalt in ihrem Innern zu entgehen, ganz der Wiſſenſchaft und 
der Erziehung ihrer beiden Kinder hinzugeben. Seltſamer Weife 
mußte e8 Diderot fein, welcher, obfchon er die von ihm verlangte 
Förderung in der Erfenntnid der Dinge nicht gewähren konnte, die 
Zuſtimmung des Fürften zu dern Entichluffe feiner Gemahlin vermit- 
telte. Seit 1773 lebte die vier und zwanzig Jahre alt gewordene 
Kürftin einfam in einem Fleinen Haufe nahe dem Haag und gab fi 
mit einer an leidenfchaftlihen Ungeftüm grenzenden Energie einem 
durhaus männlichen Studium der Wiffenfhaften bin. Unter Hem- 
fterhuis’ Leitung füllten nun Mathematit, Sprachen und vor allem 
griechifche Literatırr und Platonifhe Philofophie ihre Seele aus. Ob⸗ 
gleich, da ihre Mutter Katholifin war, in den Formen der Fatholifchen 
Kirche erzogen, hatte fie doch das Chriftenthum weder ald Katholicid- 
mus noch ald Proteftantigmud in irgend einer Weife berührt. So 
lange fie im Haag und in der Nähe de® Haag lebte, hatte fie die von 
Hemſterhuis getheilte und geftärkte Ueberzeugung, daß im Grunde 
niemand an das Chriftenthum glaube ald der Pöbel, da e8 unmög- 
lich fei, an die Drohungen und Berheigungen des Chriftenthums zu 
glauben und dennoch deffen Lehren fo zuwider zu handeln, wie es in 
der Negel gefchehe. Als fie 1779 nah Münfter fam, hielt fie dem 
Herrn von Fürftenberg, deifen große Einfichten fie verehrte, fein Chri- 
ftenthHum wegen des Borurtheild feiner Erziehung zu Gute, aber bat 
fich gleich von ihm aus, daß er nicht verfuchen möge, fie zu befehren, 
weil fie, was Gott betreffe, nichts in fich leiden könne, was Gott nicht 
felbft in ihr gefhaffen habe. Noch im Jahre 1783 hatte fie in den 
Stunden, in welchen fie felbft, wie die Aerzte, jede Hoffnung auf Er- 
haltung ihre® Leben? aufgegeben hatte, den Geiftlichen, den Fürften- 
berg ihr zufendete, entfchieden abgewieſen, weil ihr jede innere Ueber⸗ 
zeugung von der Kraft und Bedeutung der Sacramente fehle In 
der Zeit ſehr langlamer Genefung, welche diefer Krankheit folgte, 
wurde fie ſich zum erftenmale zu ihrem großen Schreden bemußt, daß 
Gelehrtenehrgeiz und Gelehrtenftolz ihre ganze Seele erfülle. Mit 


711 


diefer Entdeckung war, fo äußerte fie jelbft, alle meine bisherige Freude 
an mir felbft dahin. Um diefelbe Zeit waren ihre Kinder reif zum 
Religiondunterricht geworden, und auch diefen felbft zu übernehmen 
erfchien ihr mütterfiche Pflicht. Um nicht gegen ſich felbft unwahr zu 
fein und demnad nicht die eigene Bezweiflung des Chriſtenthums den 
Kindern aufzudrängen, follte der Unterricht in der chriftlihen Religion, 
ben fie ertheilte, lediglich hiftorifch fein. Zu diefem Zweck begann fie 
ein ernfted Studium der heiligen Schrift, welche fie am liebften in 
lateinifcher Sprache lad. Was fie ihrer Kinder wegen begonnen, febte 
fie bald ihrer felbft wegen fort. Mehr und mehr wurde fie von der 
Bahrheit des Chriſtenthums, wie ihr dasfelbe aus der heiligen Schrift 
entgegentrat, ergriffen und durchdrungen, und einmal ergriffen, arbei- - 
tete fie ihr Leben hindurch mit der ganzen Energie ihres feltnen Gei- 
fled daran, ihr gefammted Sein und Thun von der Wahrheit, welche 
nun ihr Inneres beliebte, durchdringen zu laffen. Ein zwar kleiner, 
aber bedeutender Kreis ſammelte fich um die feltene Frau: Fürſten⸗ 
berg mit feiner umfaflenden Bildung und Erfahrung gehörte demfel- 
ben an und Overberg, in deſſen frommer Kindlichleit und. Einfalt der 
Scharfblid Fuͤrſtenbergs ſchnell den innern Beruf erkannt hatte, die 
für die Bollabildung gehegten Pläne ind Leben zu führen. Auch 
füngere Männer ſchloſſen fih an, unter denen fih namentlich die 
Söhne des Freiherrn Drofte zu Bilchering, Kaspar Mar, fpäter Bir 
(hof von Münfter, und Clemens Auguft, fpäter Erzdifchof von Köln, 
mit ihren beiden Brüdern und ihrem frühern Führer, dem nachheri⸗ 
gen Domcapitular Katerkamp, befanden. 

Eine Frau, welche wie die Fürſtin Galligin an Weltbildung die 
meiften und an Geiftedbildung.alle Zeitgenofien ihres Gefchlechtd über- 
ragte und nım mit dem bligenden Geifte Kindesglauben verband, 
mußte einen außerordentlichen Eindrud auf jede geiftige Groöße machen. 
Goethe und Lavater, Herder und Hamann fühlten ſich in gleichen 
Grade, wenn auch in verfchiedener Weife, durch die außerordentliche 
Erfeheinung angezogen und gehoben. Alles, was geiftig bedeutend 
war, ftand in den beiden legten Jahrzehenden des vorigen Jahrhun- 
dert3 miteinander in Verbindung; auch zwiſchen Holſtein und Mün⸗ 
ſter konnten naͤhere Berührungen, welche zunächſt wohl durch Hamann 


| 72 
vermittelt waren, nicht ausbleiben. Es war, äußerte Perthes fait 
fünfzig Jahre fpäter, eine andere Zeit als jest. Die holfteinifchen 
Familien ftanden ald chriftlih Gefinnte vereinzelt und ebenfo der 
Galligin«Droftefche Kreis. Mit Ausnahme der. Familie Kerfenbrod 
nahmen die Domherren wie die andern Vornehmen Münfterd die 
Kirche ala Weltleute; unter den Bürgerclaffen herrſchte Ueppigkeit 
und Schlimmered. Die ernften Chriften, gleichviel ob Katholiken- oder 
Proteftanten, näherten ſich einander: zu enger Verbindung. Man 
fannte fein Arg; Claudius, NReventlow, Jacobi, Stolberg® waren 
öfter in Münfter, die Fürftin öfter in Hamburg und Holftein gewefen, 
wo fie namentlich dur. Claudius und fein Haus ſich angejogen ges 
fühlt hatte. — Die Confeſſion war freilich verfhieden: Claudius 
war überzeugter Qutheraner, die Fürftin eifrige Katholifin, und ihr 
Katholicismus war derfelbe mit dem Katholicismus aller Zeiten, ſo⸗ 
fern diefer ald ein Syſtem von Dogmen und als ein Inbegriff fir 
licher Gebräuche betrachtet wird; aber fo weit er ein Leben ift und als 
Leben fich darftellt, unterfchied er fi) von dem neupoetifchen Katholi- 
cismus im erften und dem biftorijch-politifchen Katholicismus im 
vierten Sahrzehend dieſes Jahrhundert? nicht weniger ald von dem 
frivolen Katholicismus Frankreichs und dem erftarrten Deutſchlands 
im vorigen Jahrhundert. So lebensvoll und fo durchaus herrſchend 
trat in der Fürftin die dem Katholiciamus und Proteſtantismus ges 
meinſame Erlöfungäthatfache hervor, dag in Beziehung auf die Hol- 
fteiner Kreife die confeffionellen Verſchiedenheiten als verhältnismäßig 
unweſentlich erſchienen. Mit: größter Liebe und Verehrung wurden 
Fuͤrſtenberg's, Overberg's und der Kürftin Namen in Holftein genannt. 

Sobald Perthes in Jacobi's und Claudius’ Haufe befannt ge 
worden war, wurde durch beide Familien fein Blid auf diefe Lebens⸗ 
freife in Holftein und in Münfter gerichtet. . Wefentlich follten fie 
fünftig auf feine innere Entwidelung und feine äußere Stellung ein- | 
wirfen, aber zunächft Iernte er fie nur aus Erzählungen kennen. 

Eine Eifahrung anderer Art wartete feiner, aus welcher das 
Glück ſeines Lebens ihm erwuchs. 


13 


Die Berheirathung und bie eriten Jahre der Che. 
1797 — 1800. 





Garoline Claudius, die ältefte Tochter ded Wandsbeder Boten, 
war 1774 geboren, alfo 22 Jahre alt, als Perthes zuerft dad Haus 
der Eltern betrat. Ihre ganze Erfcheinung, fo angenehm die regel- 
mäßig edlen Züge, die ſchlanke Geftalt und die feine Farbe auch wa⸗ 
ren, hatte nichts überraſchendes und blendendes; aber aus dem 
lihthraunen Auge blidte ein Reichthum der Phantajie und eine 
Tiefe des Gefühld, eine Kraft und Ruhe des Charakterd und eine 
helle Klarheit ded Berftandes hervor, welche mit ftiller, unwiderſteh⸗ 
licher Macht Die Gemüther anzog. hr ganzes Leben hindurch flößte 
fie jedem, der ihr näher trat, hingebendes Vertrauen ein; zu ihr ka— 
men die Fröhlicden und waren fiher, freudige Theilnahme zu finden, 
und für viele, viele Menſchen ift fie in äußeren und inneren Leiden 
eine Quelle des Trofted, der Ergebung und eined neuen: Muthed 
geworden. Sn den einfachen VBerhältnifien des elterlichen Haufes 
war fie aufgewachſen und jedes Zufammentreffen mit der Unruhe der 
äußeren Welt erſchien ihr ala eine Gefahr für ihren findlich unbefan- 
genen Umgang mit Gott. Getheilt zwifchen häuslichen Arbeiten, 
Mufit und Bemühen um geiftige Ausbildung, ging ihre Zeit dahin. 
Eine volle, reine Stimme und ein ſicheres mufitalifches Urtheil blieb 
ihr aud im höheren Alter. Der neueren Sprachen war fie kundig 
und in der lateinifchen fo weit vorgefchritten,” daß fie fpäter. ihren 
Eöhnen wefentliche Hilfe leiften fonnte. | 

So lange Caroline im elterlichen Haufe gewefen war, batte fie 
nur wenige Eindrüde in fi aufgenommen, welche einen Urfprung 
außerhalb desjelben gehabt hätten. Mit Eindlicher Berehrung hing 
fie an der Fürſtin Galligin, welche. mehreremale ſich bei Claudius. 
aufgehalten und das Mädchen fo liebgewonnen hatte, daß fie bid zu _ 
ihrem Tode demfelben eine mütterliche Freundin blieb. Gleich nahe 
fand Caroline der Gräfin Julie Neventlow. Mehrere Monate war 
fie im Sommer 1795 in Emkendorf zum Befuche geweſen und der 


714 


Kamilie fo nahe getreten, daß dieſe fie nah Italien mitzunehmen 
dringend wünfchte, aber ded Vaters Einwilligung nicht erlangen 
fonnte. In dem folgenden Sommer führte der Tod ihrer etwas jün- 
geren Schweſter Chriftiane ihr die erfte große Lebenserfahrung zu. 
Ein Brief, den fie um diefe Zeit an die Gräfin Reventlom nad) Rom 
ſchrieb, hat fich erhalten. Es geht mir, heipt es in demfelben , mie 
einem kleinen Kinde, das, wenn es betrübt ift, die Arme außftredt 
nach denen, die es lieb hat, und Freude daran findet, fich in deren 
Schoße audzumweinen. Wie oft habe ih mich, liebe Gräfin, in die- 
fer Zeit zu Ihnen gewünſcht, und wenn mein Arın Sie au) nicht 
erreichen kann, fo kann es doch mein Brief. Wir haben eine fehr 
betrübe Zeit gehabt; unfere liebe Chriftiane wurde an einem bößarti- 
gen Nervenfieber frank und ift am 2. Juli geftorben. Sanft ift fie 
eingefchlafen, aber fie hat ſchwere Stunden gehabt, ehe fie fo weit 
war, und da fie jekt die Arbeit des Sterben überfianden hat, 
möchte ich fie nicht zurückwünſchen, auch wenn fie weiter feinen Scha⸗ 
den dabei hätte. Wie lieb ift mir das Sterbebeit geworden; dem, 
der zufieht, wird hier befonderd lebendig außgedrüdt und unvergep- 
lich gemacht, wie nöthig wir e8 haben, und nad) etwas umzufehen, 
was uns im Tode halten und begleiten fann. 

63 war am 27. November 1796, ald Perthed zum erftenmal 
Garoline im Haufe ihrer Eltern ſah. Ihr helles Auge, fchrieb er, 
‚ihr grader, Elarer Blid gefiel mir, ich war ihr gut. - Einige Wochen 
fpäter, am erften Weihnachtöfeiertage, hatte er den Mittag bei Ca» 
roline Rudolphi, der Vorſteherin der bekannten Erziehungsanftalt, 
mit Jacobi zugebradht und von diefem die Einladung erhalten, am 
Abende der Weihnadhtöbefcherung beizumohnen. Auf dem Bande 
beder Schloffe, welches Jacobi damald bewohnte, fand Perthed un- 
ter den anderen Gäften auch Claudius und deſſen ganze Familie. Der 
Zufall führte ihn, bevor der Feſtſaal geöffnet ward, mit Caroline 
allein in einem Nebenzimmer zufammen; fein Wort hatte er zu fagen, 
aber ihm war. fo unausſprechlich ftile und wohl in feinem Herzen, 
wie er ed noch nie geweſen war. Die Weihnachtsfreude begann, aber 
Perthes fah nur den Ausdrud ftiller Freude, die in Carolinens Zü- 
gen fih ausprägte. Diefem Mädchen fchien nad) feiner Meinung das 


75 


Befte zu gehören, mas der Abend darbot, und dennoch glaubte er zu 
bemerfen, daß das Gefchen? der jüngeren Schweiter fchöner fei ala 
dad ihrige. Aber hoch oben an dem Weihnachtsbaume hing ein Apfel, 
fo ſchön, fo funftreich vergoldet wie fein anderer; den holte er plöß- 
lich mit halsbrechender Kunſt herab und dunkel erröthend gab er ihn 
zur nicht geringen Berwunderung der Anweſenden dem ahnenden 
Mädchen. Run hatte fie doch eine Weihnachtögabe, wie fein anderer 
fie haben konnte. Bon diefem Abende an erging es Perthed und Ca⸗ 
rolinen, wie ed allen ergeht, die des Lebens Leid und Luft gemeinfam 
als Mann und rau erfahren follen. Zwar meinte Klopftod, ala 
er von Claudius' filberner Hochzeitfeier am 15. März 1797 mit Per⸗ 
thes nach Hamburg zurüdfuhr: Die Liebe, die wir andern Euch bei- 
den lange fehon anfehen, kennt Ihr jungen Leute felbft noch nicht. 
Aber Perthes kannte wohl die Liebe, die in ihm feimte und wuchs ; 
doch wußte er auch, daß er äußerlich und mehr noch innerlich Clau⸗ 
dius zu ferne ftehe, um fich unmittelbar an ihn wenden zu dürfen. 
Jacobi und deilen Schweitern eröffnete er deshalb zunächft fein Herz 
und bat fie, nachzuforſchen, ob er wohl Hoffnung hegen dürfe. 
Gottlob, mein lieber Perthes, fchrieb ihm Helene Jacobi am 27. 
April. Sie find doch recht verliebt, und da mein Muth fo groß if, 
wie der Ihrige Hein, fo fehe ich einer großen Seligfeit für Sie entge⸗ 
gen. Bon Caroline felbft konnte ich geftern nicht? hören, weil ich fie 
keinen Augenblid allein ſah; aber von ihrer Mutter habe ich died und 
das erfahren, was mir große® DBertrauen einflößt, und Caroline war 
auch fo freundlih, als wenn fie etwas artige® in ihrem Sinne 
trüge. — Wenige Tage fpäter, am 30. April, wendete Perthes ſich 
an Caroline ſelbſt. Wie follte ich.je, fchrieb er fpäter, des tiefbeweg⸗ 
ten Tages vergeffen, in dem ich Dir meine Liebe befannte. Stumm 
und ftille ftandft Du vor mir, fein Wort hatteft Du für mid, nur 
als ih traurig fortgehen wollte, gabjt Du mir innig die Hand. 
Garolinens Liebe fprach ſich noch an jenem Abend feit und ficher 
aus; aber dem Bater konnte der Entſchluß unmöglich leicht erfchei- 
nen. Bor wenigen Wochen erſt hatte Perthes das fünf und zwanzigſte 
Jahr angetreten, keck hatte er ein eigene® Gefchäft gegründet und 
feine natürliche Offenheit ließ darüber feinen Zweifel, daß in feinem 


76 


inneren die. Kräfte noch ungeordnet und unficher durcheinander gähr- 
ten. Ueberdies war Claudius von einer Art von Eiferfucht nicht frei. 
Ihm wurde es fehwer, die Tochter aus der eignen Obhut zu entlaf- 
fen, und nicht ohne Schmerz fühlte er, daß die Tochter einen jungen 
unerfahrnen Dann mehr liebe ald den Bater. Der Sprud: Du 
follft Bater und Mutter verlaffen, dünkte ihm ein harter Spruch. 
Zwar erklärte er fogleih, daß er der Verbindung nicht entgegen fein 
werde, aber förmlich und feierlih könne er feine Zuflimmung noch 
nicht geben. Darüber beunrubigte Perthes fich nicht und reifte, Liebe 
und Dank im Herzen, zwei Tage fpäter nad Leipzig ab. Willen 
Sie denn, meine liebe Garoline, heißt es in dem erften Briefe an 
feine Braut, noch gar nicht, was ich laſſen foll oder was ich thun foll; 
ih möchte fo gerne um Ihretwillen etwas thun oder etwas laffen. 
Gewiß ich bin fehr glüdlich und feit meinen Kinderjahren bin ich dem 
lieben Gott nicht ſo gut geweſen als jest, und er wird mir nicht 
böfe fein, daß ich ihm eben jetzt fo gut bin. Liebe habe. ich zwar 
auch fonft wohl gefühlt. Das aber war immer fo peinlich und ſchmerz⸗ 
lid; jept ift mir fo ruhig und wohl. Dank dafür, meine liebe Caro 
fine. — Lange harrte Perthes vergeblih auf Nachricht aus Wande- 
best, endlich nad) vierzehn Tagen fam ein Brief von Claudius feldft. 
Lieber Herr Perthes, lautete derfelbe, es ift und angenehm, daß Sie 
glüdlih und gefund angekommen und fih wohlauf befinden und an 
und denken. Caroline hat Ihre Briefe aus Braunfchweig und 
Leipzig gerne erhalten und gelefen und dankt Ihnen verbindlich da- 
für. Sie würde auch wohl antworten; aber fo lange die Einwil- 
ligung der Eltern noch nicht förmlich gegeben ift, Tann fie doch ihrem 
Herzen noch) nicht freien Lauf lafien. Es ift daher beffer, daß fie ihre 
Antwort erjpart, bis Sie felbft zurüdgelommen find. — Ein Brief 
von Helene Jacobi gab weiteren Aufihluß. Ihre Caroline, hieß es 
in diefem, bat dem Vater, der ihr fagte, fie dürfte nicht fehreiben, 
wie wenn feine Einwilligung fehon gegeben fei, geantwortet: Wenn 
ich nicht fehreiben darf, wie mir ed um das Herz ift, fo kann ich über- 
haupt nicht fchreiben, fondern du mußt fehreiben und erzählen, wa⸗ 
rum ih flumm bleibe. Ich habe, fügte Helene Jacobi hinzu, Ihr 
Mädchen dafür noch wärmer als font and Herz gebrüdt. 


77 


Von Leipzig aus ſchloß Perthes den Zuſtand ſeines Innern den 
drei Hamburger Freunden auf, welche eine Verbindung, die Perthes 
noch feſter an Jacobi und Claudius binden mußte, nicht als ein 
Glück für ihren Freund betrachten konnten. Woher, ſchrieb Perthes, 
regte fih in Dir die herbe Ditterfeit, ald ich Euch meine Verbindung 
mit Saroline befannt machte? Dachtet Ahr an meine zertrümmerte 
Liebe? Sie wird in mir leben, fo lange ich lebe. Oder dachtet Ihr 
an die flüchtig wechfelnden Neigungen, die oft mich bewegt haben? 
Möglich, dag diefe auch künftig mich noch bewegen. Hätten allein 
folhe Gedanken Euch gereizt, ich könnte es nicht unrecht finden. 
‚Aber höret mih! Als e8 mir zu gelingen ſchien, meine untergegan⸗ 
gene Liebe zu verwinden, ergriff mich Entjepen, daß folche Liebe, an 
welche mir das Höchfte gebunden war, verwunden werden fönne. 
Todesfälte trat an die Stelle des Feuerd. Soll denn Liebe, die der 
Grund ift von Bott und allem Guten, durch äußere, zufällige Ver- 
hältnifje getödtet werden? Etwas muß doch Stand halten! Iſt es 
die Liebe nicht, fo muß e8 die Freundfchaft fein. Aber vergebt! die 
Sreundfhaft — ich habe nicht® wider die Freundſchaft — und den- . 
noch riefelt es mir kalt durch die Glieder. Woher dann aber Hilfe 
und Rettung für mein Inneres? Meine Seele verlangt etwas nicht 
Bergehende?, mein Herz verlangt eined, was mir alles ift, mein 
Geift will ein Bleibendes, mein Ich verlangt ein Gebundenfein, ein 
Band, welches befteht, auch wenn die Welt in Trümmer geht, und 
nur die Liebe ift mehr als die Welt. Kann ich überhaupt gehalten 
werden, fo ift ed nur durch Caroline; in ihr ift Ruhe und Sicherheit, 
Hingebung und Treue. Die frühere Leidenfchaft der Liebe ift in mir 
gewürgt, aber die Liebe nicht. Nur einmal kann jene Leidenfhaft 
fein. Wie ich Friederike liebte, Tann ich Caroline nicht lieben. Aber 
fie läßt mich mein Auge wieder zu Gott erheben, und das ift Hilfe 
von oben. 

Als Perthes Ende Mai nah Hamburg zurücgefeprt ı war, hielt 
Claudius nicht länger mit der förmlihen Einwilligung zurüd, und 
nun theilte Garoline zunächft und vor allen der Fürftin Galligin ſich 
mit. Ihnen, meiner lieben Mutter Amalie, fchrieb fie der Fürftin, 
muß ich felbft fagen, daß ih Braut bin und daß ich gerne Braut 


78 


bin. Das würde mir fonft unglaublich gewefen fein, auch wenn 
Sie ed mir gelagt hätten, aber mein lieber Perthes hat mich gut 
Freund mit diefem Schritte gemacht. ch weiß und fühle ed zwar 
auch jebt, wie. groß und wichtig der Schritt für Zeit und Ewigkeit 
ift; aber ich glaube, daß ich ihn nah Gottes Willen thue, und kann 
nun nicht® weiter ald die Augen zumahen und Gott um feinen Se 
gen bitten, und das müfjen Ste auch) in meinem Namen thun, liebe 
Fürftin. Mit voller Wahrheit kann ich Ihnen fagen, daß mein lie 
ber Perthes ein guter Menſch iſt, der fich felbft noch. nicht für formiert 
hält, fondern weiß und fühlt, dag er noch nicht mit fi) fertig iſt, 
und da, denke ich, können er und ich gemeinfchaftliche Sache machen 
und werden mit Gottes Hilfe weiter kommen. 

Dftmald legte Perthed von nun an den Weg nah Wandsbeck 
zurüd und Briefe, von denen viele fich erhalten haben, gingen faft 
täglich hin und her. Am 15. Juli wurde die Verlobung, in Holftein 
eine Pirhliche Handlung, gefeiert. Die Fürftin Galligin mit ihrer 
Tochter und mit Overberg, welche in Wandsbeck zum Beſuche war 
und in Elaudius’ Haufe wohnte, nahm, fo wie Graf Friedrich Leo» 
pold Stolberg, zur großen Freude Carolinens an der feierlichen 
Handlung Theil. Kurz vor derfelben erinnerte der Paftor die Braut, 
daß fie einmal verlobt völlig feft wäre und nur durch das Conſiſto⸗ 
rium gefchieden werden könne, ch bin, entgegnete fie, ſchon lange 
völlig feft gemejen und konnte fchon lange weder von Ihnen noch von 
dem Confiftorium gefchieden werden. — Immer inniger und ftärfer trat 
die bräutliche Liebe in das ftille Mädchenleben Carolinens hinein und 
jepte auch diefen ebenen Sinn in Unruhe und Bewegung. Caroline mag 
ſich, fehrieb die Tochter der Fürſtin Galligin an Perthes, noch fo ſehr 
den Anfchein einer philofophifchen Braut geben, die Liebe dringt 
dennoch überall durch, und ich glaube feit, fie träumt von nichts ala 
von dem Buchſtaben P, und wenn ich felbft Ihnen zuweilen ein wenig 
aus der Ordnung vortommen follte, fo werden Sie wohl willen, wer 
es ift, der mic) angeftedt hat. — Dein Bruder Hans, ſchrieb Per- 
thes feiner Braut, hat die Roſe unzerbrochen bis in die Stube gebradht, 
dann aber noch gefnidt. Habe Dank für dieſe Roſe! Hand verleumdet 
Did, Du könnteft nichts finden, fagter, wenn Du etwas fuchteft. 


79 


Soliteft Du auch diefe Richttugend behalten, fo fei fie Dir verziehen, - - 
weil Du einmal nicht fuchteft und doch fandeft und Dich finden ließeſt 
von dem, der den Engel ſeines Leben? fuchte. 

Der 2. Auguft war zum Hochzeittag beftimmt. Am Tage vor- 
ber erhielt Perthes den lebten Brief von Caroline als Braut. Ich 
babe fo große Luft, heißt es in demfelben, zu einem kleinen ſchwar⸗ 
zen Kreuz und weiß ed auf feine liebere Weife zu befommen, ala 
wenn ich Dich darum bitte, und warum follte ich e8 nicht thun, Du 
lieber Perthes? Heute war ich bei dem Paftor; das Formular, nad 
welchen mir getraut werden follen, ift weder kalt noch warın, weder 
alt noch neu, fondern ein unfelige® Mittelding. Das fol und aber 
nicht ſchaden, lieber Perthes; wir wollen Gott nach alter Weife um 
feinen Segen bitten und er wird und nach alter Weife fegnen. Thue 
es doch mit mir, Du lieber Perthed, und mache die Arme weit auf 
und halte mich feft, bis Du mein Auge zudrückſt. Ich bin Dein mit 
Leib und Seele und vertraue Gott, daß ich mid) wohl dabei befin- 
den werde. 

Am folgenden Tage, den 2. Auguft 1797, wurde die Hochzeit 
gefeiert, und die erften Monate und Jahre der Ehe mußten wohl den 
großen inneren Gegenfag, in welchem Perthes und Caroline fanden, 
ſcharf und beſtimmt herbortreten laffen. 

Angeborener Sinn, früherer Lebensgang und nunmehrige Stel- 
lung in Hamburg hatten für Perthes die Mannigfaltigfeit der äuße- 
ren Berhältnifie und Eindrüde, die Kämpfe in fehwierigen und wech—⸗ 
felnden Lagen, fo wie die Berührungen mit Männern von fehr ent- 
gegengefeßten Richtungen zu dem Elemente gemacht, in welchem er 
fi freudig und muthig bewegte. Caroline dagegen hatte eine ftille, 
von dem Gewirre der äußeren Welt wenig berührte und nad) innen 
gerichtete Jugend.verlebt. Zurüdgezogen zu fein von dem irdilchen 
Zreiben, fich frei zu halten von jeder lebhaften Theilnahme für dad 
Bergängliche, fchien ihr die Aufgabe des Menfchen zu fein. Nicht 
alle Einzelheiten, wohl aber die Gefammtheit der drei erſten Bü- 
der des Thomas a Kempis möchten den Ausdruck deſſen enthalten, 
was in ihrem- Innern fich bewegte. Als fie nun dad Haus ihres 


80 


Baterd verlieh und neue Eindrüde aller Art fie berührten und ergrifs 
fen, mußte fie wohl ſich geftört und beunruhigt fühlen. 

Feſt und ſtark zwar erfüllte fie die Liebe zu ihrem Manne und 
tief im Grunde ihrer Seele war fie ſich bewußt, daß ihre neue Le⸗ 
benslage Glück und Segen für fie fei. Einft, wenige Wochen nad 
der Hochzeit, als ihr Vater fie weinend auf ihrem Zimmer traf und 
überrafcht und nicht Ohne einen Anflug von Befriedigung audrief: 
Habe ich Dir nicht gefagt, das würde nicht ausbleiben, wenn Du von 


Vater und Mutter gingft, antwortete fie: Und wenn ich auch das 


Weinen nicht laſſen fönnte, fo lange ich lebte, fo bleibe ich doch froh, 
daß ich bei meinem Perthes bin. — Diefe Sicherheit indeffen, welche 
den Grund ihred eigentlichen Seins ausmachte, vermochte richt die 
Unruhe über fo manche Störung und fo manche wirkliche oder fchein- 
bare Hemmung des innern Lebens durch das äußere auszuſchließen. 
Zaufendmal hat meine Seele mir ausgeſprochen, ſchrieb ſie an Per⸗ 
thes, daß ich nicht mehr bin, wie ih war. Fruͤher hielt mich Gott 
immer an der Hand und leitete mich auf allen Wegen und id) vergaß 
ihn nie; jebt fehe ich ihn nur von ferne ftehen und den Arm ausſtre⸗ 


cken, den ich nicht ergreifen fan. Einmal muß es doch wieder an« 


ders werden, fonft fönnte das Herz nicht immer fo verwundet -fein. 
Ich habe mich darein ergeben, lieber Perthes, daß es hier auf Erden 


fo bleiben wird; Gott erhalte mir nur bis and Ende das inwendige 


Sehnen und Verlangen und laffe mich lieber verhungern, als ohne- 
dem fatt werden. Auf Viertelftunden fann mir noch jet wohl gut 
zu Muthe werden, aber feithalten kann ich es nicht und es ift Doch 
auch nicht wie früher. Wenn Du, mein lieber Perthes, heißt es in 


einem anderen Briefe, nicht bei mir bift, fo bin-ich ganz allein und 


fühle mich ganz verlaſſen; wenn Du mid nicht hältft, fo bin ich ein 
wahre® Jammerbild. Soll das und darf das fo fein? Sonft war · es 
nicht ſo mit mir. 

Die Briefe, welche Perthes auf kleinen Reiſen aus Leipzig, Hol⸗ 
ſtein, Weſtfalen ſchrieb, zeigen, daß er ungeachtet der Freude an den 


eigenen Kräften und deren Uebung den Werth eines Lebens anzu⸗ 
‚erkennen wußte, welches ſich nach innen ſtatt nach außen wendete. 


Glaube mir, fhrieb er im Sommer 1799 an feine Frau, glaube 


81, 


mir, Du mein guter Engel, ich fühle ed, dat Du viel haft, und laß 
Dich nicht ftören. O unfer Bater hatte fehr Recht, Euch Kinder von 
der Richtung aufs Wirken und Handeln und auf das Kunftwefen zu- 
rüdzubalten. Selbft wenn er zu weit hierin gegangen wäre, felbft 
wenn er Euch ungeſchickt gemacht hätte zum Handeln und Schaffen 
im 2eben, ja felbft wenn Ihr der Welt eine Thorheit werden folltet, 
fo habt Ihr dennoch in Euch den Geift der Liebe, und der Beift der 
Liebe ift lebendig. — Die Achtung, welche Perthed vor dem Rechte 
jeder Perfönlichkeit in fih trug, würde auch dann, wenn ihm die 
Sinnedart feiner Frau nicht an und für fich fhon als berechtigt er- 
(dienen wäre, ihn von dem Verfuche abgehalten haben, die eigne 
Rebensrichtung auf Caroline zu übertragen. Einem inneren Leben, 
ihrieb er einem Freunde, anderen Inhalt geben, auf den fremden 
Stamm die eigne Frucht pfropfen zu wollen, das ift Sünde. — Ueber⸗ 
dies ftand ihm auch die Bergeblichkeit jedes ſolchen Verſuches bei Ca- 
tolime deutlich vor Augen. Meine Caroline, fchrieb er dem Schwarz- 
burger Oheim, macht mich unausſprechlich glücklich. Sie ift ein from- 
med, treued, reines und gehorſames Wefen, aber ihren inneren Gang 
geht fie, wie fie will, unabweichbar, feften Schrittes. 

Nicht weniger feften Schritted ald Caroline ging Perthes den 
Weg, der ihm ald der feinige erfchien. Alles, fchrieb er 1798 an 
ſeine Frau, alles macht e8 mir immer gewifler, daß ich recht eigent- - 
ih zu einem männlichen Menfchen gefchaffen bin, der fein Rad und 
das der anderen drehet mit: rafhem Muthe. — In Beziehung auf 
fih wurde er auch nicht durch den Gegenfaß irre, in welchem er feiner 
Frau gegenüber ftand. Iſt e8 Dir denn wirklich möglich zu glauben, 
ſchrieb er 1799, daß mein raftlofed Arbeiten, mein ganzes Thun und 
Zreiben Dir Eintrag thun könne? Dir, Caroline! Danken must Du 
ja vielmehr Gott für die Fähigkeit, die er mir gegeben hat, Tätige, 
drüdende Sachen mir zur Luft zu machen. Wie wollte ich fonft be- 
ftehen? Liebe Caroline, ich bin nicht immer fo gut, wie Du es 
glaubft, aber in diefer Rückſicht bin ich beſſer, als Du glaubft. — 
Zweifel dagegen konnten hin und wieder darüber in ihm entftehen, 
ob feine Lebendrichtung nicht ftörend in die Garolinend eingreifen 
werde. Du haft, fihrieb er ihr, fo manches Uebele an mir und mit 

Pexthes Echen. 1. 4. Aufl. 6 


82 


mir zu befämpfen. Ich habe mich gefragt, was ich thun würde, wenn 
e8 von mir abhinge, Dich in eine Lage zu verfepen, die nad) Deinem 
eigenen Geſchmacke ganz glücklich wäre, fei es in einem Klofter oder 
in den Händen eined Mannes, der Dich nicht nur liebte, wie ich Dich 
liebe, fondern auch ganz eined Sinned mit Dir wäre. Nein, Caro 
(ine, ich fönnte ed nit. Du mußt mit mir leben oder nicht leben, 
und Du, Du liebes Weib, Du fühlft, ich weiß es, ebenfo wie ich. 

Die Scheu freilich vor- Berührungen mit der Welt und die leichte 
Berwundbarleit und Beunruhigung durch äußere Verhältniſſe konnte 
Perthes nicht für gefordert von jenem inneren Leben halten. Grade 
ein folder Sinn wie der Karolinend müfle fih, ſchien ihm, in ber 
Melt und an der Welt bewähren. Glaube mir, fchrieb er ihr, ich 
verftebe jebt Dich und Dein Inneres fehr gut. So lange Du im 
elterlihen Haufe Tebteft, hatteft Du ununterbrochenen Umgang mi 
Gott, Hatteft nur einen Sinn und nur einen Weg. Zwar war Dein 
Umgang mit Gott der Umgang eine® Kindes, welches die Sünde und 
die Welt und ihre Berhältniffe gar nicht oder nur dem Namen nad 
tennt, aber Einheit war in Deinem Sein. Beil Du in der wirfli- 
‚hen Welt bift, mußte diefer Zuftand früher oder fpäter geſtört wer⸗ 
den; ich habe Dich dem Kindesleben entriffen und in dad Gewirre 
der Welt geführt. Du erfunnteft in mir ein edles Herz und ein Ge 
müth voll Liebe, aber Du fahft in mir und durch mi) auch in Dir 
die Sünde des Menfchen. Deine Liebe zu mir deckte einige Zeit, aber 
nicht lange, alles zu. Jetzt kannſt Du nicht mehr fo vertraut, wie 
früher, mit dem Unfihtbaren umgehen und er fpricht Dir nicht mehr 
wie früher zu. Du bift irre m Dir geworden und wollteft gerne jene 
Einheit und Reinheit des Kindes wieder haben und fannft doch nicht 
alfe3 reimen und ordnen in Deinem Sinn. Liebe Caroline, die Roth, 
die Du in Dir fühlft, kommt vor allem aud Deinem eigenen Kopfe. 
Du haft, Du frommesd Kind, das herzliche Vertrauen, das Beugen 
des ganzen Gemüthed unter höhern Rathſchluß in Deinem Herzen 
und in Deinem Gemüthe; aber wo andere rubig bleiben, machſt Du 
Dir Unruhe und Sorge und möchteſt fo ungeftörten und fichern We- 
ged gehen, wie einft ald Kind. Aber bier auf Erden ift nun einmal 
der Menfch ein wandelbar und unſicher Weſen; nie, in feinem ein 


83 


jelnen Moment ift er er ganz, immer nur ein Theil von fih. Werth 
freilich ift nur in der Liebe und Treue, aber mwollteft Du deshalb an 
nichts hängen, 108 fein von allem?- Wenn Du fo los fein wollteſt, 
dag fein Schmerz, feine Unruhe Dich mehr treffen könnte, weil Du 
nur dad Höchfte und nicht® anderes liebteft, fo würde Kälte in Dir 
enifiehen, und Kälte ift immer ein Schredliched. Rein, wir follen 
nicht los fein von ber Welt; ein Aufopfern aller natürlichen Bande 
verlangt Gott nicht, fondern Beugung unfered Willens unter feinen 
Billen. Dem Schmerze, der Unruhe, die, weil er und in die Welt 
geſetzt bat, uns trifft, ſollen wir nicht entfliehen, ſondern mit inne 
ver Ruhe tragen. — Es ſollte nicht gut fein, fchrieb Perthes ein an- 
deredmal, dag Du jept fühlft, daß Du ohne nrich allein biſt; es follte‘ 
beiler fein, wenn Du ohne mich geblieben wäreft, in dem früheren 
Nichtbewußtſein Deines Alleinſeins? Gewiß nicht, liebe Caroline. 
63 kann fein gutes „Ich“ jein ohne ein „Du. Dad große „Du” 
aber, zu dem alles fich neigt, alles fich erhebt, das große „Du“ theilt 
fh den Ichs in unendlichen Geftalten mit. Wo echte Liebe ift, da iſt 
dad Geliebte immer ein Theil Gottes. — Die Beränderlichkeit, die 
ih Dir Schuld gebe, heißt es in einem etwas fpäteren Briefe, liegt 
gar nicht in Deinem eigentlichen Wefen, das feft und treu ift und 
lauter wie Gold, aber fie ift doch da. Die verfchiedenen Eindrüde, 
die von augen auf Dich wirfen und die bei andern Menſchen nur 
leichte Wetter verurjachen und dann für immer vergeflen find, erregen 


bei Dir ſogleich Sturm. Was andern höchſtens eine Strieme jchlägt, 


bringt Dir eine tiefe Wunde bei und hinterläßt Narben. Steh, meine. 
Einzige, Bertraute: wenn Du nicht den tiefen Grund im Dir hätieſt, 
würdeft Du diefes Uebel nicht haben. Es ift die natürliche Folge 
Deineß lebendigen Bewußtſeins von der Bergänglichleit und der Men⸗ 
ſchennoth des jegigen Seins und Deines Gedenlens an die Unfterb- 
lichkeit und an einen befleren Zuſtand. Warum aber follte diefer 
Grund nicht bleiben können ohne jenes Dich aufreibende. heftige Hin 
und Her? . Eben Div würde Ruhe und Ebne ded Sinned jo wohl 
fieben. Ich verlange ja nichts ungewöhnliches und weiß, dag daß, 
was ich Dir gönnte, nicht vollkommen gu erlangen ift; aber Du mußt 
doch daran arbeiten. Wir wiffen ja, meine mir ewig einzige Caro- 
6 * 


84 


fine, wa8 kommt und fommen muß: der Tod, und dieſes Wiffen, dächte 
ich, müßte Dir Ruhe bringen und Dich lebendig ſtark machen für das 
Leben. — Caroline fommt nicht leicht durch das Leben, fchrieb Per⸗ 
the8 einem Freunde. ©o heiter ihr Temperament, fo fliegend und reich 
ihre Phantafie auch ift, fo wird es ihr doch fehr fchwer, das Berän- 
derlihe und Endliche diefer Zeit und Welt zu tragen. Daß fie, un« 
geachtet folcher Schmerzen, die der Tumult ded Leben? nur zu oft her⸗ 
beiführt, dennoch nicht nur in ihrem Innern feftfteht, fondern auch 
in äußeren Berhältniffen ſtets in nachgiebiger, freundlicher und edler 
Art ihre Stellung ausfüllt, das hält auch mein Herz und macht fie 
zu meinem leitenden Engel. — Berfchiedener in Art und Weife als 
Caroline und ich, verfchiedener im Aeußeren, in Bildung und Richtung 
tonnten faum zwei Menfchen fein, äußerte Perthes fpäter, und doch 
erfannte Caroline in der erften Stunde unferer Bekanntſchaft das 
Werthyvolle in mir und liebte mid. Ihr Vertrauen ift unverrüdbar, 
unmwandelbar geblieben, was auch fremdes und Widerfprechendes in 
mir ihr entgegenftand. Auch ich erfannte augenblidlich ihre Liebe zu 
mir und war berfelben ficher,; ich erfaßte fogleich Mar und feft den 
treuen, edlen Sinn, den hohen Geift, den wahren Heldenmuth für 
da8 Leben, die Demuth ded Herzen? und dieſe reine Frömmigkeit, 
die das Glück meined Leben, der Segen meiner Seele ift. 

Wenn Perthes und Caroline in fpäteren Jahren und nicht als 
Mann und Frau fich begegnet hätten, fo würden fie mwahrfcheinlich eine 
abftogende Wirkung aufeinander geäußert haben. Nun aber murbde 
die Bejeitigung aller der Schwierigkeiten, welche fich dem Eindwerden 
zweier fo ftarfer und fo verfchiedener Perfönlichkeiten entgegenftellten, 
durch die Jugend der Liebe erleichtert, deren bräutliches. Feuer weit 
hinein in die Che reichte. Viele Briefe haben fih aus jenen Jahren 
von Perthes erhalten, die oft erfüllt find von zärtlichen Spielereien, 
oft aber auch den Ausdruck glühender Leidenjchaft oder das Beugen 
vor dem ihm nod fehlenden innern Leben Carolinens wiedergeben. 

Als ich noch Mädchen liebte hier und da, fchrieb Perthes im drit- 
ten Jahre feiner Ehe an die auf einige Wochen abwefende Frau, als 
ich die Leipziger Friederike lieb hatte, als ich anfing, Dich kennen zu 


85 


lernen, da fuchte ih nur zu erobern, zu gefallen, wollte immer nur 
mi, war immer Ih. Aber an Dih, an Dich jebt babe ich mich 
verloren, ohne Dich bin ich nichts, habe ich nichts, bin mir felbft ein 
Nichte. — Du, ja Du, mein mir ewig junge® Mädchen, fchrieb er 
am folgenden Tage, Du haft mich neu geboren. Wenn Du nicht da 
bift, fo ift alles rund um mich her kalt und intereßlos; nur Du gibft 
allem Zon und Farbe. Ich wußte ed nicht, daß mein Hera noch fo 
friſch wallen könnte! Ich glaubte, die erfte Liebe wäre vorbei; aber 
nun, feit ich Dich befite, nun erft ift erfte Liebe und unendliche Liebe. 
Wo fol, wo fann fie aufhören? Immer lieben, immer mehr und 
inniger lieben! “Jeden Morgen neue Liebe und jeden Abend ruhen 
an Deinem Herzen. Ach, auch ich erfahre es wohl, wie ed einem 
öde und kalt in Mark und Bein fein kann, aber im Stillen fchlägt 
doch das Herz. 

Liebes Kind, liebe Caroline, heißt e® in einem anderen Briefe, 
ih bin wahrlich wie unfer Biſchof Caspar, ich möchte ohne Unterlaß 
Liebe, Liebe und nichts als Liebe rufen. Wenn ich ded Morgens auf- 
ſtehe, frage ich: wozu? ift doch meine Caroline nicht da! Bin ich in 
der Arbeit, immer will ih fort zu Dir, und ach! leider, Du bift 
nicht da; ich habe feine Heimat, feine Ruhe. Bin ich Abends fertig 
mit der Arbeit und will nun anfangen, ein frohes Geficht zu machen, 
— ab, für wen? ift doch mein Herz nicht da! Was ift der Menſch 
mit feiner Liebe? Wenn Du, mein Engel, mich) verließeft, mich ganz 
verlieeft, der gute Geift wäre von mir gewichen. O ja, ich glaube 
es wohl, daß ich wieder lieben würde, aber wie? Es graut mir 
vor mir felbit. — Du meinft, ich wäre eiferfüchtig auf unfer Meines 
Töchterchen,, fehrieb er ein anderedmal, weil ich Deine Liebe mit ihr 
theilen muß. Ach, ih wollte, Du hätteft ſchon zwölf Kinder, gefund 
und ſtark, voll Leben, Deine Freude. Für alle zwölf müßteft Du 
mir ja dankbar fein, Du mein herrliches, treffliches Weib. — Die 
Rückkehr Carolinend von einer Meinen Reife verzögerte fich wider Er⸗ 
warten um einige Tage. Wie wenn an jeder Stunde ein Taufend- 
Bund» Gewicht wäre, fchrieb Perthes nun, ſo ſchleichen mir die 
Tage hin. 


86 
So wie bed Wandrers Blick am Morgen 
Vergebens in die Lifte dringt, 
Wenn, in bem blauen Raum verborgen, 
Hoch über ihm die Lerche fingt: 
- &o dringet ängftlich bin und wieder 
Durch Feld und Buſch und Wald mein Blick; 
Dich rufen alle meine Lieder: 
: D komm, Geliebte, mir zurüd. 


Die weitere Geſtaltung des Geſchäfts und der Familie 
| 1800 — 1805. | 





Die Handlungägemeinfhaft, welche Perthes 1796 unter feinem 
alleinigen Namen vorläufig auf zwei Jahre gegründet hatte, entſprach 
den Erwartungen der beiden Gefellfchafter nicht. Der Capitalumſatz 
dom Juli 1796 bis zum December 1798 hatte im ganzen etwa vier 
zigtaufend Thaler betragen und für jeden Theilnehmer während des 

- Zeitraums von drittbalb Jahren nur einen Ertrag von faum drei» 
zehnhundert Thalern abgeworfen. Durch Uebereinfunft vom Decem- 
ber 1798 fchieden beide Handlungsgefellichafter and. Die Trennung 
war Perthes infofern nicht unlieb, ald er fich fehmerzlich geftehen 

- mußte, in Reffig’® Sinnedart ſich völlig getäufcht zu haben; aber da 
die Ausfcheidenden nicht nur die eingefchoffenen Capitalien, fondern 
auch den Credit ihrer wohlhabenden Familien dem Gefchäfte entzo⸗ 
gen, fo befand Perthes ſich in peinlicher Berlegenheit. Dennoch war 
er feſt entfchlofien, die Handlung auf alleinige Rechnung und Gefahr 
fortzufeßen. Wenn das junge Gefchäft auch nicht vermocht hatte, drei 
Theilnehmern den Unterhalt zu fihern, fo reichte e8 doch ſchon jebt 
aus, den einfachen Haushalt einer einzelnen Familie zu tragen, und 
mit Gewißheit glaubte Perthes ein raſches Wachfen desfelben voraus⸗ 
fehen zu können, weil die Handlung nit nur die Aufmerkjamteit 
und Zuneigung, der literarifch am meiften belebten Kreife Hamburg? 


87 
gewonnen, fondern auch in Weftfalen, Hannover, Holftein und Med- 
lenburg mannigfache Verbindungen angefnüpft hatte, welche weitere 
Ausdehnung hoffen ließen. 

Ohne Capital war freilich auch bei den beften Ausfichten für die 
Zukunft feine Möglichkeit vorhanden, die Handlung fortzuführen; 
aber ein rafch und keck benuster Gluͤcksfall ſetzte Perthes in den Befis 
einer für feine Verhältniffe bedeutenden Summe. Er hatte im De 
cember 1797 ein am Jungfernftieg gelegene? Haus gekauft; zwei 
Drittel des Kaufpreifed Tonnten auf dem Grundftüde ftehen bleiben 
und das lepte Drittel desfelben in Betrag vpn zehntaufend Ihalern 
erhielt er, da ein vermögender Freund ſich für ihn verbürgte, in meh. 
teren Tleineren Summen aus dem Münfterlande. Gin Jahr fpäter, 
im December 1798, verlaufte Perthes das Haus, noch bevor er es 
bezogen hatte, mit einem Gewinn von. fünftaufend Thalern, und bes 
gnügte fih von neuem mit einer Miethwohnung hinter St. Petri, 
nahe der biäherigen gelegen. Sogleich reifte er nah Münfter und 
erlangte von feinen dortigen Gläubigern, daß fie ihm die gehntaufend 
Ihaler auf noch zehn Jahre liefen, obgleich ex nun nicht mehr das 
Haus zur Sicherheit ftellen fonnte. In diefer Weife hatte Perthes ein 
Beiriebscapital von fünfzehntaufend Ihalern in feine Hände bekom⸗ 
men, und der Gredit, welchen ihn die Handlung. feiner Yreunde Hül- 
ſenbeck, Runge und Spedter gewährte, betrug eine gleiche Summe. 
Auf ſolche Geldmittel geftügt, ging Perthes den großen Ummälzun- 
gen entgegen, welche 1799 in den Handels⸗ und Geldoerhältniſſen 
Hamburgs eintraten. 

Als die Revolutionskriege begannen, hatte Hamburg, währenb 
das Neich fih im Kampfe gegen die junge Republik befand, den leb⸗ 
hofteften Handel mit derfelben, namentlich in Korn, unter däniſcher 
Slagge beirieben. Als der Verkehr zwiſchen England und Frankreich 
gehemmt ward und Holland in theils freiwilliger theild gezwungener 
Handelsruhe verharrte, kam der Seehandel ausſchließlich in die Hände 
der Briten, und Hamburg war der Vermittler für den gefammten 
Handel Englands mit dem Feitlande geworden; hier war der Stapel» 
plap für die britifhen Eolonial- und Manufacturwaaren; hier der 
wichtigfte Einkaufdort für die Erzeugniffe des Feſtlandes, welche, mie 


88 


z. B. Schiffsholz und Kom, England nicht entbehren konnte. Ham⸗ 
burg zog für England alle Zahlungen ein, die dasfelbe auf dem Feſt⸗ 
lande zu empfangen hatte, und erfehien zugleich ald Bürge für die- 
felben. Es galt vermöge feiner auf fefte Grundlage gegründeten Bank 
als ficherfter Wechfelplag, und bald übte e3 eine Art Alleinherrfchaft 
über den Handel des Feſtlandes aud. Große Reichthümer ſtrömten 
herbei und franzöfifhe und bolländifche Kaufleute, welche in ihrer 
Heimat fich nicht für ficher hielten, vermehrten, indem fie ihr Geld 
und ihre Waaren nah Hamburg brachten, die Mittel der Stadt; aber 
auch gewinnluſtige Menjchen der verfchiedenften Völker und Stände 
famen als reibeuter, die weder Ruf noch Vermögen zu verlieren 
hatten, von allen Seiten herbei, um in Hamburg fchnell zu reichen 
GHandelsherren zu werden. Die vielen überlühnen und doch glücklich 
auögefchlagenen Unternehmungen ließen die Meinung entitehen, es 
fönne und ed werde nicht? midlingen; leichtfertiged Wagen und die 
Sucht, alle oder nicht® zu haben, trat ala Folge ein; zahllofe Un- 
ternehmungen wurden gemacht, welche die wirklichen Kräfte der Ein- 
zelnen weit überftiegen und dem Reichthum der Stadt nicht angeme|- 
fen waren. Der alte befonnene und zuverläffige Charakter des Ham- 
burger Handeld war dahin. Nur Gefchäfte her, mögen fie fein, wie 
fie wollen, riefen damals, wie Büfch erzählt, zahllofe faufmännifche 
Wildfänge und ftürzten fi in die wildeften Speculationen hinein. 
Zugleich hatten die hohen Summen, über welche zu verfügen man fid) 
gewöhnte, die größte Geringſchätzung gegen Ausgaben jeder Art er 
zeugt. Es galt ala Fleinlih und engherzig, fi) einer auch noch fo 
hohen Ausgabe wegen irgend eine Annehmlichkeit, irgend eine feinere 
oder gröbere Schwelgerei zu verfagen. Neben der prahlenden und 
nicht felten gefhmadlofen Bergeudung gehörte es zum guten Ton der 
Reichen, die leichten Sitten, die loderen Grundfäge und vornehmen 
Laſter jener vielen Flüchtlinge nahzuahmen, welche fih in Hamburg 
aufbielten. Die unglaublich wachſende Menge der öffentlichen Luſt⸗ 
barfeiten und lärmenden Freuden, die Sucht der Hermeren, es in 
ihrer Weife den Reichen gleich zu thun, vwerwifchten mehr und mehr 
den Eindrud der Ehrbarkeit und wohlhäbigen Tüchtigkeit, welche frü- 
ber den nach Hamburg fommenden fremden in Erftaunen fegte. In⸗ 


89 


dem das Geld durch die Menge, in’ welcher ed fih vorfand, und durch 
den Leichtfinn, mit welchem es für Nichtigkeiten verfchwendet ward, 
an Werth verlor, mußten nothwendig alle Bedürfniffe des Lebens im 
Preiſe fleigen. Die Wohnungdmiethe eined Arbeitömannes betrug 
mehr ald der Gehalt eines preußifchen Lieutenants ; der jährliche Auf- 
wand für eine Loge im Theater mehr ald der Gehalt eines preufi- 
ſchen Geheimen Raths. Kein Ort und feine Zeit, bemerkt Herr von 
Heß, hat ein ähnliches Beifpiel der. Theuerung aufzuftellen, wie da⸗ 
mald das von allen Seiten der Zufuhr offene Hamburg. Neben dem 
maflenhaften Reihthum trat daher in früher unbefannter Ausdeh⸗ 
nung Noth der Armen und forgenvolle Bein aller derer hervor, welche, 
wie 3.2. die Beamten, bei dem allgemeinen Umſchwung aller Geld- 
‚verhältniffe ihre Einnahmen nicht erhöhen konnten. 

Es lag in der Natur der Sache, daß in fürzerer oder längerer 
Frift ein Zeitpunkt fommen mußte, in welchem das fi immer ftei- 
gernde Wagen nicht länger von einem glüdlichen Gelingen begleitet 
werden konnte. Seit dem Audbruche ded Krieges waren die Preife 
der Waaren, vor allem der bedeutenditen Colonialwaaren, Kaffee, 
Zuder und Tabaf, ununterbrochen in die Höhe gegangen, fo daß fie 
im Herbfte 1798 mehr ald doppelt jo hoch waren, wie wenige Jahre 
zuvor. Große Borräthe lagen ſchon 1798 in Hamburg aufgefpeichert, 
aber auf ein fernered Steigen der Preife rechnend, machten die Ham⸗ 
burger Kaufleute im Herbfte neue große Ankäufe in England zu den 
geltenden hohen Preifen, welche durch Wechſel auf kurze Friften be- 
jahlt werden follten. Um eben diefe Zeit aber begannen die unge- 
heuren Vorraͤthe, welche in den engliſchen Colonien aufbewahrt wor⸗ 
den waren, in den Handel zu fommen und mußten die Preife in Eng- 
land drüden. Ungemwöhnlic früh trat der Winter ein und hielt an 
bis ſpät in den Frühling 1799; die Schiffahrt war ganz unterbro- 
hen; weder über See noch die Elbe hinauf war Ausfuhr möglich 
und die in England gefauften Waaren mußten ein halbes Jahr hin- 
durch Dort liegen und der Berfügung der Hamburger. Eigenthümer 
entzogen bleiben. Stodung trat ein. Zuglei hatte Kaifer Paul, 
indem er Rußland gegen den Handel Hamburgs ſperrte, einen bedeu⸗ 
tenden Markt für den Abſatz verſchloſſen; nad Frankreich war der 


98 


Handel ſchon 1798 geftört geweſen, weil.England feinen alten See- 
grundſatz wieder geltend machte, nach welchem die neutrale Flagge 
feindliche® Eigenthbum nicht vor Wegriahme dedt. Die Hamburger 
Kaufleute wollten nun fämtlich den in Rußland und Franfreich ver- 
lorenen-Abfag in Deutichland erfeßen, aber in Deutfchland hatte der 
unerhört harte Winter den durch die Kriegdunfälle, durch die neuen 
Steuern und durch die vielfachen Plünderungen hervorgerufenen Geld» 
mangel allgemein bemerkbar gemadt. Es fanden fich für die uner 
meflichen Borräthe nur wenige Käufer. Sobald ein hierdurch noth- 
wendig gewordene? Sinken der Preife eintrat, wurde die Hamburger 
Börfe von Unficherheit und Schreden ergriffen. Während Die einen 
von neuem große Einkäufe in England machten, indem fie auf ein 
neues Steigen der Preiſe hofften und ben durch dad Fallen erlittenen 
Berluft dur) den Gewinn bei dem gehofften Steigen decken wollten, 
glaubten die andern ein immer tiefere Fallen vorausſehen zu kön⸗ 
nen, und um die hocheingefauften Waaren fich vom Lager zu fchaffen, 
_ forderte der eine immer noch weniger als der andere, fo daß in we⸗ 
nigen Wochen die Preife beinahe fo niedrig flanden, wie in den Zei⸗ 
ten des tiefiten Friedens vor 1789. Ungeheure Berlufte trafen den 
Beſonnenen wie den Leichtfinnigen; Hamburg konnte nicht zahlen, 
was es zu zahlen hatte, ein Handelshaus brach nad) dem andern, 
und ungeachtet der Rettungsverfuche, welche die Bank, die Admira- 
lität und die ſchnell errichtete Discontocaſſe machte, trat dennoch eine 
allgemeine Handeldzerrüttung ein. Während 1763, dem fchredlid- 
ften Handelsjahre, defien man fi erinnern fonnte, die Zahl ber 
Handlungen, welche ihre Zahlungen einftellen mußten, fi nur auf 
jechzig belief; während in den acht Jahren von 1790 bis 1798 der 
Gefammtbetrag aller Falliſſements nur achtundzwanzig Millionen be 
trug; wurden, wie ein amtliche® Verzeichnid nachweift, in dem ein⸗ 
jigen Jahre 1799 einhundertfechunddreigig Falliſſements großer 
Handlungshäufer mit einem Gefammtbetrag von ſechsunddreißig Mil 
lionen Mark Banco zu Rathe und außerdem eine Menge tleinerer auf 
den fogenannten Herren und Landherrendielen angemeldet, von denen 
manche fieben oder fünf oder drei Procent, ein? fünffechzehntel Pro⸗ 
cent und viele gar nicht? den Gläubigern zahlen fonnten. 


91 


Dem unmittelbaren Einfluffe des tief eingreifenden Ereigniffe® 
war Perthes freilich vermöge der Natur feined Gefchäftes entzogen, 
aber mittelbar hatte auch er ſchwer umter der allgemeinen Geldnoth 
wu leiden. Getragen jedoch durch feine eigene befonnene Kräftigfeit und 
durch Die helfende Treue feiner drei Hamburger Freunde, konnte er 
nicht nur die Krifis, welche außerdem unfehlbar zum Bruche geführt 
haben würde, überftehen, fondern auch dem Gefchäfte eine früher 
kaum gehoftte Ausdehnung geben. inmitten der allgemeinen Zer- 
rüttung gelangte die Handlung zu Ruf und erhielt einen Schwung, 
der freilich, weil er die vorhandenen Geldfräfte weit überftieg, ſchwere 
Sorgen und peinliche Berlegenheiten vielfach bereitete. 

Meine Berhältnifle, ſchrieb Perthes 1799, geftalten fih fo man⸗ 
niofaltig, daß ich alle meine Zeit und alle meine Kräfte aufbieten 
muß, um bie Zügel feit zu halten. Das, was man in der Welt 
Glüd nennt, habe ich wirklich; denn alle gelingt mir, was ich un⸗ 
ternehme. Aber wahrlich! leicht wird mir dieſes Glück nicht gemacht; 
und wenn ich die forgen= und peinpollen Stunden gegen die ruhigen 
und forgenlofen halte, fo haben die erfteren ein übermäßiges Gewicht. 
Sie fennen mich ja und willen, mas ed mich von jeher foftete, zu 
bitten, zu fordern, dreift zu fein; Sie willen, mie fehwer ed meinem 
Herzen wird, hart, fireng, unbiegfam zu fcheinen: — und dad alles 
babe ich fein oder jcheinen müflen. Wahr ift e8, der liebe Gott hat im⸗ 
mer geholfen, aber nur dann erſt, wenn die Noth am größten mar. 
— Gläck, Thätigfeit und eine Energie, wie fie nur ein Wagftüd - 
dem Menſchen gibt, heißt ed in einem andern n Briefe, fteht mir hel⸗ 
fend zur Seite. 

Eine große Aufgabe hatte Perthes der von ihm gegründeten 
Handlung um diefe Zeit geftellt. In Hamburg, Holftein, Medlen- 
burg und Hannover follte fie die Grundlage ihres Geſchäftsbetriebes 
finden, aber von diefer Grundlage aus eine Stellung gewinnen, durch 
welche fie zur Bermittlerin des Titerarifhen Verkehrs aller europäi- 
(hen Bölfer untereinander würde, indem fie die Literatur eines jeden 
Volkes allen andern Völkern zugänglich machte. Hamburg fehien für 
eine ſolche Stellung der rechte Ort, und in London follte eine Filial⸗ 
bandfung zur Unterftäpung gegründet werden. Um diefen umfaffen- 


92 


den Blan ind Leben zu führen, fühlte Perkhes ſich für fih allein zu 
ſchwach. Schmerzlich vermißte er die nöthigen Kenntniſſe, ſchmerzlich 
empfand er vor allem den nun nicht mehr zu erjeßenden Mangel ei- 
ner gründlichen Schulbildung. Er fah fih nad Hilfe um und fand 
fie in Johann Heinrich Befler, welcher von tun an der treuefte Freund, 
der zuverläffigfte Genofle in Freud und Leid ihm blieb und bald auch 
durch Verheirathung mit Perthes' Schweiter ihm ein lieber Schwa- 
ger ward. ’ 

Beiler war eines jener Sonntagskinder, denen jeder, dem fie be- 
gegnen, freundlich gefinnt ift, mit denen jeder gerne verkehrt, in deren 
Nähe jeder fich wohl fühlt. Schon als junger Mann war er von fehr. 
behaglihem Körperbau und der Bequemlichkeit nicht abgeneigt; in 
feinem freundlichen Auge und in feinen milden Geſichtszügen drückte 
fih vollkommen dad Liebevolle und das LXiebebedürftige feined Gemü-« 
thes aud. Ein ihm eigenthümlicher Sinn Tieß ihn fohnell die Wün- 
ſche und Nöthe anderer errathen, und ohne zu willen und zu wollen, 
half und förderte er, oft in weiterem Umfange, al? feine Kräfte er- 
laubt hätten. Unzähligen Menſchen hat er in großen und in kleinen 
Berhältniffen Gefälligkeiten erwiefen. Kinder zog er, wie der Magnet 
dad Eifen, fchon aus der Ferne an und konnte fi) ihrer anhängen- 
den Freundlichkeit kaum erwehren. Ohne inneren Kampf, ja ohne 
eined Entfchluffes zu bedürfen, handelte er immer und in allen Ber- 
hältniffen mit der reinften Lauterkeit, und dag der Menfch auch gegen 
- feine Meberzeugung reden könne, war ihm unbefannt. Später, als 
die Franzoſen Hamburg beſetzt hatten, fagte er den Officieren und 
Beamten, mit denen er vielfach verkehrte, oft zum Erſchrecken naiv 
die derbite Wahrheit grade ins Geficht und behielt dennoch ihr volles 
Bertrauen. Seine vielen Fleinen Sonderbarkeiten, feine Zerftreutheit 
und ein Hang, dem morgenden Tag vorzubebalten, was dem heuti- 
gen gebührte, förderten freilich zumeilen die wunderlichften Dinge an 
den Tag; aber fo feft waren diefe Eigenheiten mit der feltenen Lie. 
benswürdigkeit feiner Sinnesart verwachſen, daß feine Freunde mut 
ungern fie vermißt haben würden. . Befler war 1775 geboren. Sein 
Vater, welcher ald Oberprediger in Quedlinburg lebte, fendete den 
Sohn wohlausgeftattet mit Schulfenntniffen und der neueren Spra- 


93 


chen fundig nach Hamburg, um den Buchhandel zu erlernen. Hier 
zeigte fi) der heranwachſende Jüngling fo zuverläffig und tüchtig 
dag fein Lehrherr Bohn ihm ſchon nad) drei Jahren die felbftändige 
Leitung einer Nebenhandlung in Kiel anvertraute. Al Perthes nach 
Hamburg fam, trat er fchnell zu Beier, welchen er früher vorüber- 
gehend in Leipzig gefehen hatte, in ein nahes Verhältnis, und beide 
Freunde erfannten, dag ihre Raturen zur gegenfeitigen Ergänzung 
beitimmt feien. Befler ging, um feine literarifche Bildung zu erwei« 
tern und zu befeftigen, 1797 nad) Göttingen, arbeitete dort auf der 
Bibliothel und hörte literaturgefchichtliche Borlefungen. Zurüdgelehrt 
trat er 1798 in die Handlung ein; zwar wurde fie noch auf Perthes’ 
alleinigen Namen geführt, aber ſchon von jetzt an war ihr Befler un- 
entbehrlich. Nicht ein einziger Buchhändler möchte fich finden, äu- 
herte Perthes fpäter, welcher in dem Umfange wie Beiler Kenntnis 
von dem Dafein, von der Beitimmung und der Brauchbarkeit der 
verichiedenften Werke aus der Literatur aller Völker befigt, und nie- 
mand weiß in dem Umfange wie er, wo fie zu finden und wie fie 
anzufchaffen find. — Dazu fam, daß Beller ungeachtet der Weich- 
heit ſeines Gemüthes auch in verwidelten und bedrängten Lagen eine 
Ruhe und Befonnenheit bewahrte, welche, vereint mit Perthes' durch⸗ 
greifender Kraft und frifchem, unbefiegbarem Muth, große Schwie- 
rigfeiten überwinden und.die Handlung fehnell zu Anfehen und Um⸗ 
fang gelangen lie. Der Plan, fie zur Bermittlerin des literarifchen 
Berlehr der europäiſchen Bölker untereinander zu machen, mußte 
jwar fpäter in Folge der großen Störungen und Berlufte, welche das 
Jahr 1806 herbeiführte, zum größten Theil aufgegeben werden; aber 
bis dahin wurde er feftgehalten, und im deutfchen Buchhandel nahmen 
Perthes und Beffer, welche in unbedingtem gegenfeitigen Vertrauen 
ihr Leben hindurch verbunden blieben, eine bedeutende und wohlbe⸗ 
gründete Stellung ein. Ich glaube nicht, fehrieb Perthes ſchon 1802 
aus Leipzig, daß einer unferer Collegen mit fo ausgezeichneter Ge- 
fälligfeit und Zuvorkommenheit behandelt wird wie ih; es tft Feiner, 
der fih nicht um und bemühte. 

Das perfönliche Vertrauen, welches Perthe3 in weiten Kreifen 
genoß, und das Intereſſe, welches feine frifche, Fräftige Lebendigfeit 


94 


fo vielen. bedeutenden Männern einflöpte, wurde eine wefentliche 
Srundlage des Geſchäfts. Don Jahr zu Fahr vergrößerte fi im 
nordweitlichen Deutfchland die Zahl der Familien, welche fich durch 
Perthes die älteren und neueren Werke beftimmen ließen, die ihrer 
befonderen Sinnedart, ihren Neigungen und Verhältniffen die anges 
meſſenen und fördernden waren. Der gefunde Blid und die Gewiſſen⸗ 
baftigfeit, mit welcher Perthes hierbei verfuhr, läßt ſich aus den er- 
baltenen Verzeichnifien erfennen, in denen er furz aber treffend die 
literarifchen Neigungen und Bedürfnijfe der ihm bekannten Familien 
fih bemerkte, um hiernach die Auswahl der Werke zu beftimmen, die 
er bis in eine Entfernung von dreißig und vierzig Meilen, ja bid nad 
Dänemark, Schweden, Petersburg und England in längeren oder 
fürzeren Zmifchenräumen zur Durchſicht und Auswahl verfendete. 
Seiner ganzen Natur nad) war ed zwar für Perthes unmöglich, fich 
in den inneren Verhältniſſen des Menſchen zum Menſchen durch Rüd- 
fihten auf Geldgewinn oder Geldverluft in irgend einem Grade be 
ftimmen zu laffen. Alles, ſchrieb er einmal, Tann ich vergeben, nur 
den Eigennutz nit, und noch in feinem fpäteren Leben regte nichts 
am Menfchen fo ungeftüm feine Leidenſchaftlichkeit auf, als kleinliche 
Engherzigkeit in Geldſachen; auch die beſchränkteſte Lage, meinte er, 
geſtatte Großartigkeit in Verhältniſſen des Mein und Dein, und nie 
mand al? der eigentlich Arme brauche fein. Familienleben mit Geld» 
gedanken auszufüllen, wenn er nur befonnen genug fei, dad Haus⸗ 
weſen in feiner Ganzheit den ihm zu Gebote ftehenden Mitteln ent⸗ 
fprechend einzurichten. Grade diefer Sinnedart wegen konnte Perthed 
in bedrängten Augenbliden die Hilfe feiner geiftigen Freunde unbe- 
fangen annehmen, wie fie ihm unbefangen dargeboten wurde. Biel 
fach find ihm Männer, mit denen er urfprünglich nur in Gefchäfte- 
verbindungen ftand, nächte Freunde geworden, und fein audgebrei- 
teter geiftiger Berkehr fam wiederum der Handlung zu Gute. Da in 
beiten dem großen Umfchwunge des Geſchäftes noch immer die vor- 
handenen Geldmittel nicht gewachſen waren, fo hatte Perthes, unge: 
achtet aller glänzenden Erfolge, nad) wie vor zwar nicht mit Nah- 
rungöforgen,. aber immer mit Geldforgen zu. fämpfen, melde das 
fünftlihfte und befonnenfte Handeln namentlih im Wechſelverkehr 


95 


nothwendig machten. Mich quälen und geifeln, fchrieb er 1803, Die 
Arbeiten und Sorgen jetzt Tag für Tag. Meine Geichäfte, heißt es 
in einem andern Briefe, nehmen einen immer beſſern Gang; nur bin 
ich immer geldarm, und wenn hier ſolche Stodungen wirklich eintre⸗ 
ten follten, wie fie in folge der englifchen Geldoperationen und der 
Kopenhagener Finanznoth zu fürchten find, fo ift gar der Teufel los. 
Aber was hilft alled Lärmen und Klagen? Dadurch kommt kein Geld. 
— As Perthes im Herbfte 1805 da3 von Axenſche am Jungfernſtieg 
gelegene Haus bezogen hatte, welches er fortan, fo lange er in Ham» 
burg blieb, bewohnte, wurde der Gefchäftöverfehr durch die überaus 
günftige Lage aufs neue gefteigert. Meine Gefchäfte haben ſich mit 
der veränderten Wohnung fo übermäßig vermehrt, ſchrieb er, daß 
wir faum dagegen anzugehen wiſſen; aber der Laden ift auch) der ele 
gantefte in Deutjchland und die Sammlung Bücher, die darin ftebt, 
iſt gewiß in folcher Audgefuchtheit nicht zum zmeitenmal zu finden. 
Ich habe, beißt es in einem anderen Briefe, ein große®, mühevolles 
Geſchaͤft, ich bin in großen Berwidelungen und habe eine nicht Fleine 
Zahl von Freunden, jung und alt. Das alles quält, erfreut, treibt 
mi, macht mich lebendig und meinen Körper manchmal müde, ob» 
wohl er reichlich zähe ift. — Ich,bin, äußerte er um eben diefe Zeit, 
jest zwar manchmal in gewaltiger Geldflemme, aber auf ficherem 
Wege, veich zu werden, und ich wünfche mir Reihthum um meiner 
Freiheit und des allgemeinen Beften willen. Gott gebe, daß man 
einmal ruhig wirken könne! 

Mit lebendigem Dante erkannte Perthes den ihm durch feinen 
Beruf zu Theil gewordenen Segen an. Bor act Tagen habe ich, 
ſchrieb er 1906, mein zehnjähriges Handelsjubiläum begangen. Wie 
dankbar muß ich fein! . Denn wäre mir da3 Unternehmen 1796 nicht 
gelungen, fo würde ich weder meine liebe Carolme, noch meinen 
treuen Gefährten Beiler, noch meine Freunde, noch meinen jepigen 
fhönen und großen Wirkungskreis befipen.. Ja mic) felbit habe ich 
durch meinen Beruf mir gewonnen; denn bei meiner früheren Ver⸗ 
nachlaͤſſigung konnte ih nur auf dieſem Wege mich entwideln. — 
Aber dem raftlofen Getriebe und den ſorgenvollen Anftrengungen des 
Geichäftälebens gegenüber bedurfte Perthes, um innere Ruhe, Freu⸗ 


96 


digkeit und Kraft zu bewahren, eined anderweitigen Haltes und fand 
ihn in feiner Familie, deren Leben fich immer ficherer und glüdlicher 
geftaltete. Bis in die tiefften und entlegenften Falten meines Geiftes 
bift Du eingedrungen, fehrieb er feiner Krau; fein Moment meines 
Seins gibt. ed, in welchem Du nicht bei, in und vor mir wäreft; 
mir ift ed, ald wenn ich alled, was ich fehe, fühle und-bemerfe, nur 
um Deinetwillen fehe, fühle und bemerfe. — Zwar wurde Perthes 
durch bedeutende Menfchen aller Art und durch Frauen nicht weniger, 
“ wenn auch in anderer Weife ald durch Männer, fchnell und ſtark an- 
geregt und pflegte dann, auch in feinen fpäteren Jahren noch, gegen 
Freunde und Belannte, gegen Frau und Kinder den empfangenen 
Eindruck in deffen ganzer Lebhaftigfeit auszuſprechen; aber fo felfen- 
feft war feine Treue, daß nie auch nur ein einziger midtönender Aus 
genblid durch diefe leichte Erregbarkeit hervorgerufen ift. 

Am 28. Mai 1798 war ihm eine Tochter, Agned, am 16. Ja⸗ 
nuar 1800 ein Sohn, Matthiad, am 10. Januar 1802 eine Tochter, 
Luife, und am 25. Februar 1804 wiederum eine Tochter, Mathilde, 
geboren worden. In jedem Haufe freilich jind die Mühen und Freu- 
den, welche nirgends ausbleiben, wo Kinder ſich einfinden, ein Mit 
tel, durch welches die Eltern erzogen werden, aber in jedem Haufe 
find fie e8 in anderer Weile. Die Liebe zu Gott kann fi) wohl ver- 
fucht fühlen, mit dem äußeren Leben brechen zu wollen, um als ein 
ausfchlieglich Innerliches ungeftört und unzerftreut fich in fich felbft 
zurüdzuziehen; aber die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern ift ihrer 
Natur nah nächſter Zufammenhang mit dem äußeren Leben, ift un« 
mittelbar ein Schaffen und Sorgen und läßt ald ein nur Inneres und 
Beichauliches fich nicht denken. Die Liebe zu ihren Kindern wurde 
auch für Caroline die erfte Schule, in welcher fie lernte, den verbor- 
genen Menfchen des Herzens kräftig und befonnen nach außen zu be 
währen. Der wadfende Haushalt, der Einflug des Mannes, der. 
vielfach wechfelnde Verkehr mit den verfchiedenartigften lebendigen 
Menfchen bildeten fodann die Fähigkeit weiter aus, fich freien Geiftes 
im Leben zu bewegen und mitten im Wechfel äußerer. Eindrücke innere 
Stille und Bleihmäßigfeit zu bewahren. Zwar blieb ihr, fo lange 
fie lebte, die Sehnſucht nach einer ruhigen und wechſelloſen Lebens⸗ 


97 


lage und fonnte in manchen Stunden fie wehmüthig ftimmen. Mit 
mir ift e8 noch immer die alte Sache, heißt es in einem Briefe an die 
Gräfin Sophie Stolberg, ich will fehr viel und kann fehr wenig. — 
Agnes läßt Dir fagen, fhrieb fie im Frühjahr 1804 ihrem Manne 
am Tage nad feiner Abreife, Du möchteft glülih über dad Waſſer 
fommen und ift betrübt — meine Tochter; Matthias will nur wiſſen, 
wie ed mit feinem Schaufelpferde wird, und iſt luftig — Dein Sohn. 
— Ungeachtet aber der ihr bleibenden Sehnfucht nach äußerer Ruhe 
hatte fie fhon im erften Jahrzehend der Ehe die Freiheit, Ruhe und 
Kraft gewonnen, welche fie fpäter, ald-Bermögen, Familie und alles 
äußere Glück zufammenzubrechen drohte, mit wahrem weiblichen der 
denmuthe bemäbhrte. 

Sept fah fie fich nicht mehr, wie ed früher wohl vorübergehend 
gefhehen war, beunruhigt in ihtem innern Leben durch die Liebe zu 
dem Manne und durch die Einwirkung, welche feine Lebendrichtung 
und feine Lebenslage auf fie äußerte. ch habe eben, fehrieb fie einft 
dem entfernten Perthes, hinausgeſehen ins Freie und an Did; gedacht. 
Herrlich ift die Nacht mit ihren funkelnden Sternen. Sieht Did) in 
Deinem Wagen der eine heller ald die andern an, fo foll er Dir Lie- 
bed und Gutes von mir überbringen und nicht? Betrübtes; denn mir 
it nicht mehr fo wehe, wie wohl früher, wenn Du verreifteft., Aber 
id) weiß gewiß, daß darin nicht Abnehmen der Liebe ift. Könnte ich 
ed Dich nur einmal ganz wilfen laffen, wie ich wirklich zu Dir ftehe, 
fo würdeft Du Deine Freude daran haben; aber was ich auch fage 
und fchreibe, es bleibt immer ein unverftändlich Ding und ift nicht 
das Lebendige, was ich in mir trage. Wenn Du mich nach diefem 
einmal ohne Worte wirft verftehen können, dann erft wirft Du beffer 
merken, was und wie ich es eigentlich gemeint habe. — Was Sie 
jest haben, fchrieb Caroline 1803 einer vor furzem verheiratheten 
Freundin, ift nur ein Borihmad und wird mit jedem Tage mehr und 
bejfer. Mit mir hat nun der liebe Gott ſchon fech® Jahre e8 fo ge- 
maht und mir gehen die Augen über, wenn ich daran denfe. — 
Mein lieber Perthes, fchrieb fie ein Jahr fpäter ihrem Manne an dem 
Tage, an welchem diefer ihr vor fieben Jahren feine Liebe bekannt 


hatte, heute ift der 30. April und grade 9 Uhr. Weißt Du wohl, 
Perthes Leben. 1. 4. Aufl. 7 


98 


heute vor fieben Jahren gerade in diefem Augenblide? Gott fei ges 
lobt aus Herzgendgrund,, der mich Dir in den Sinn gab. Eben habe 
ich die Kinder befehen, die ſchon im Bette liegen, und Dich habe ich 
im Herzen. So find wir denn, obſchon Du weit entfernt bift, alle bei⸗ 
fammen und fegnen den lieben Augenblid, in welchem Du vor fieben 
Jahren mich anfaheft und mir fagteft: Ich habe Dich lieb. Ja, mein 
“ewig lieber Perthes, ich danfe Gott und ich danke Dir dafür, daß ed 
und fo wohl geworden iſt. Gott ftehe und ferner bei und fegne und 
and unfere Kinder und halte und durch zu einem fröhlichen und feli- 
gen Ende! | | 


Die Befeftigung des inneren Lebeus. 
18001805. 





Getragen von dem mit Liebe und Erfolg gepflegten Beruf und 
dem in geifliger Lebendigkeit erftarkenden Kamilienleben, entging Per- 
the8' glüdliche Natur der Gefahr, in haltungsloſes Schwanken oder 
verworrenes Träumen zu verfallen, als gleichzeitig fehr .entgegenge- 
jebte und fehr bedeutende Perfönlichkeiten auf ihn Einfluß gewannen. 
Zunächſt und vor allem war ed dad Haus feiner Schwiegereltern, 
welches ihn fefter und fefter an ſich zog. Auf jeden, den der Bater 
achtet, baue ih blind, vertraue ihm und mein Herz geht ihm entgegen, 
hatte Perthes jchon im Sommer 1797 an feine Braut gefchrieben. 
Niemand auf der Welt, heißt es in einem Briefe von 1802, gebt 
mir über unfern Vater; Gott erhalte una den herrlichen und lieben 
Mann. — Des Wandöbeder Boten ununterbrochen wenn aud nur 
allmählich fteigender Einfluß wurde durch manche verwandte Ein- 
drüde verſtärkt. In Klopſtockss Haufe war Perthes oft und gerne, 
bis dieſer 1803 ftarb. Die Ruhe war Klopftod fehr zu gönnen, fchrieb 
Perthes kurz nach defien Tode. Mir fagte er drei Wochen vor feinem 
Tode: Der Schmerzendzuftand ift mir jegt der liebere, denn jeder an⸗ 
dere ift Erfchlaffung. Geftorben ift er, wie er gelebt bat, friedlich, 
kindlich und in fih fiher. Keiner feiner Freunde, nicht einmal fein 


99 


Bruder ſah ihn in den legten vierzehn Tagen. Nur feine Frau, Meta, 
und die Aerzte waren bei ihm. Die Frau feheint falſche Rüdfichten 
gehabt und für Klopſtocks Größe beforgt gemwefen zu fein. Mir thut 
es leid, fie hatten es nicht nöthig; denn jeder weiß es, daß das Ster- 
ben kein Kunftwerk if. Sein Leichenbegängnid gab die Achtung zu 
erfennen,, die Hamburgs und Altona’® Einwohner für ihren Mitbürs 
ger gehabt hatten. Als Die Leiche aus der Kirche nach der Gruft 
getragen wurde, fang ein Chor von Mädchen, „Auferftehn, ja auf 
erſtehn“; — es war ein überaus ergreifender Augenblid. Aber hart 
mußte Klopftod noch im Tode büßen für die Nachficht,, die er mit dem 
Zeitgeifte und feinen eigenen fehalen und lahmen Jüngern gehabt 
bat; denn NR. hielt ihm eine Barentation!! 

In Hamburg ftand Perthed zwar nach wie vor in einem leben- 
digen Verkehr mit dem Sieveling’fchen reife und lebte froh und offen 
mit feinen alten Freunden Spedter, Runge, Hülfenbed und Herterich; 
aber tiefer und bedeutender wurden jet Die Cindrüde, welche er aus 
Holftein empfing. Gräfin Julie Reventlow auf Emkendorf blieb bis 
zu ihrem Tode eine warme Freundin Carolinend und die auch im 
.brieflichen Verkehr hervortretende anfpruchlofe Geiftigkeit und Milde 
ihred Weſens erleichterte ihren Weberzeugungen bei andern den Ein- 
gang. Ueberall, wo er erfchien, gewann der Bruder ihres Mannes, 
Graf Cajus Reventlow auf Altenhof, durch feine geiftvolle und herz 
fihe Männlichkeit Vertrauen für fih und den gefunden Ernft, der ihn 
belebte. Angejogen von Perthes' frifcher und zuverläffiger Natur, 
wurde er ihm ungeachtet der Verfchiedenheit des Alters und der Le 
bensverhältniffe ein wahrer, in Rath und That bewährter Freund. 
Der Graf war der lepte der großartigen Adelihen einer vergangenen 
Zeit, fchrieb Perthed 1834, furz nach des Grafen Tode, an deſſen Ge⸗ 
mahlin Luife. Edlerer Art, ala ihn, hatte das Baterland feinen; mir 
_ war erein güfiger Freund und ein Wohlthäter in großer Bedrängnie. 
Wie ich werden viele dem Gefchiedenen mit Liebe und wehmüthiger 
Ruhe nachfchauen. — Durch Altenhof hatte fich für Perthed und 
Caroline ein nahes Verhältnis zu der Gräfin Augufte, geborenen 
Stolberg, gebildet, welche ald zweite Gemahlin ded Grafen Andrea® 
Petrus Bernſtorff die Stiefmutter der Gräfin Luife war. Manche 

. * 


100 


fonnten an der ftillen, frommen Frau vorübergehen, ohne den in ihr 
verborgenen Schag zu ahnen; aber auch an ihr bewährte Goethe den 
ihm eigenen Scharfblic für die geiftige Bedeutung des Menſchen, wie 
feine befannte Zufchrift an die nie gefehene Jugendfreundin zeigt. 
In Briefen voll Herz und Wärme wendete fih die Gräfin in inneren 
und äußeren Angelegenheiten an Perthes und fand in ihm einen zu- 
verläfjigen Freund. So tief, fehrieb fie, als diefer fpäter Samburg 
für immer verließ, fo tief greift Ihr Leben in dad meinige ein, fo eng 
ift es mit fo vielen meiner früheren und fpäteren Erinnerungen ver⸗ 
wachen, für die mein Herz einen großen Theil feine? Lebens hindurch 
gefchlagen hat, daß mich Ihre Abreife in weitere Ferne ſehr wehmü- 
thig ſtimmt. Vergeſſen Sie mich nicht. 

Mannigfaltiger wurden die Eindrüde, welche Perthes aus Hol⸗ 
ſtein etfuhr, indem er in Kiel durch nähere Bekanntſchaft mit dem 
alten, frommen Kleuker theologiſche Gelehrſamkeit und durch Rein⸗ 
hold's Zuneigung das große Durcheinander der ſich ablöfenden und 
befämpfenden philoſophiſch⸗theologiſchen Anfichten aus eigener Ans 
ſchauung kennen lernte. . Reinhold bat mich gewohnter Weife mit 
alter Liebe aufgenommen, fehrieb Perthed 1799 an feine Frau, und - 
mir feine eigne befte Stube eingeräumt. Er gewinnt ald Menſch, je 
länger ich ihn fehe, aber freilich feine eintönige Bielfeitigkeit verfperrt 
ihm den Weg zur Wahrheit. Den Vorhang fhiebt er zurüd Schritt 
für Schritt, aber aufziehen kann er ihn nit. Die Scheidewand, 
welche zwiſchen ihm und Kleufer ift, werden fie ſchwerlich wegräumen, 
weil beide die Punkte, auf welche ed ankommt, nicht berühren mögen 
und dur wißige Anmerkungen einander erbittern. — Gebt muß. 
ieh, ſchrieb Pertbes ein anderesmal, Reinhold's Abhandlung über die 
Berechtigung des gemeinen Berftandes lefen, aber Gott weiß es, feine 
Manier vorzutragen wird mir fehr ſchwer. Wenn ic) mit ihm fpreche, 
geht es viel beffer. — Auch Jacobi's Einfluß auf Perthed dauerte 
fort und gerne unterhielt ſich der reifere Mann mit dem jüngeren 
Freunde über die Arbeiten, mit denen er ſich befchäftigte. Geftern 
gab mir Jacobi feine neue, noch ungedrudte Abhandlung zu leſen, 
Ichrieb Perthes 1801 aus Eutin an Caroline. Sie madhte mir entſetz⸗ 
fiche Arbeit. Ich habe mich geftern den ganzen Tag damit beſchäftigt, 


101 

und der lange Papa fügte mir dabei vortreffliche Dinge; heute habe 
ich wieder recht ernftlich mit ihm ftudiert. — So oft Perthes ſich 
auch in Holftein kürzer oder länger aufbielt, immer fühlte er fich ge- 
fördert und gehoben durch die Eindrücde, welche er von dem Land und 
von den Menfchen empfing. Am Sonntage, heißt es in einem Briefe 
an Caroline, war ich mit Nicolovius in Sielbed. Der Tag war präd- 
tig. Es ift ein lieber Menfch, diefer Nicolovius. Wie fühlte ich mich 
fo jugendlih, fo reich; wie dankbar bin ich Gott! Er gab mir fo 
viel, eine fo lange frohe Jugend und Did, Du Liebe, Edle. 

Nicht weniger nahe ald dem Tutherifchen Holftein trat Perthed 
dem Fatholifchen Münfter. Zuerft im Winter 1798 hatte er das dor- 
tige Leben aus eigener Anfchauung kennen lernen und ſchon auf der 
Sinreife einen tiefen Eindrud von dem weftfälifchen, namentlich dem 
odnabrüdifchen Lande mit feinen hohen Eichenwäldern und feinen tie- 
fen Thälern empfangen. Seine Reijeftimmung drüdt ſich in einem 
nach einer dDurchfahrenen Nacht gefchriebenen Briefe an Caroline aus. 
Heute Nacht, heißt es in demfelben, wie die Sterne blintten und alles 
Leben mit feinem Freud und Leid breit über die Erde hingewebt ruhte, 
und nur ich wachte und deutlich fühlte, daß der liebe Gott auch wache 
und feine Kinder in allen den ring® umher zerftreuten Hütten fehe, da 
wurde mir e8 wohl bie zu Thränen, und wunderbar! eben ala ich fo 
ann, fuhren wir vorbei an einem Chriftusbilde, welches, von dem 
ſternenhellen Himmel beleuchtet, aus Pappelbäumen von einem Hügel 
berabfchimmerte. — In Münfter fah Perthes die Fürftin Galligin 
und die Drofte wieder, fah den alten fiebenzigjährigen Fürftenberg, 
fah Kiftemafer und Katerfamp und den feltfamen Bater des als Hi⸗ 
ftorifer befannten Buchholz. Der, obſchon nur flüchtige, Münfter’fche 
Aufenthalt gab ihm das lebendige Bild ded Lebens, mit welchem er 
aus anderen Beranlaffungen in nahe Berührungen kam. Die Für- 
fin Galligin blieb bis zu ihrem Tode in brieflichem Verkehr mit Ga» 
toline und trug ungeachtet der Berfchiedenheit der Confeſſion fein Be 
denken, zugleich mit Klopftod und Claudius Pathenftelle bei Perthes’ 
älteftem Sohne zu vertreten. Caroline hielt die Fürftin in gleicher 
Liebe und Verehrung feſt. Durch nichts in der Welt, ſchrieb fie, als 


102 


1806 die Todeskrankheit der Fuͤrſtin befannt ward, habe ich einen fo 
großen und fo bleibenden Eindrud wie durch die Färftin erhalten, 
und von dem Augenblide an, in welchem ich fie zuerft fah, ift fie mein 
Leiter zu Gott gemwefen. — Mit dem Freiheren von Drofte war 
Perthes zuerſt befannt geworden, ald wenige Wochen nach feiner Ber- 
beirathung die drei Brüder Kadpar, Clemend und Franz, begleitet 
von Kellermann und Brodmann, nah Hamburg famen. Perthes 
wurde ihr Geleiter, ald fie die Stadt und deren Einrichtungen kennen 
fernen wollten. Mittags ließen fie ſich gern den fpärlidhen Tifch der 
jungen Eheleute gefallen, und zwifchen den Männern, die ungefähr 
gleichen Alters waren, entftand ein fo fefted gegenſeitiges Vertrauen, 
daß die perfönliche Achtung und Liebe auch fpäter Durch den verfchie- 
denen Lebendgang und die verfchiedene Lebendanficht nicht aufgehoben 
wurde, Mich zog, äußerte Perthes in feinen lebten Lebensjahren, 
befonder? Kaspar an, damals fchon Weihbifchof und an Liebe Jeſu 
Lieblingsjünger zu vergleichen. — Mit ihm bfieb Perthed ein Vier- 
teljahbrhundert hindurch in einem dem Herzen angehörenden Briefe 
wechſel. Wer von. und Schuld hat, Tieber Perthes, fehrieb ihm Droſte 
einmal, daß wir fo lange einander ſchwiegen, weiß ih nit. Das 
Befte wird jein, wir laffen es dahingeftelt und beſſern und; dazu will 
ich.gleih den Anfang machen. — Seit geftern, beißt e8 in einem 
Briefe Droſte's vom Jahre 1806, fehen wir unferer lieben Galligin 
in Die ihr gewiß zu Theil gewordenen ewigen Freuden nah, und be- 
trauern mit zerriffenem Herzen, daß fie nicht mehr unter und lebt. 
Am 23. gegen halb drei Uhr rief Gott fie zu fih. Ihm gehörte fie 
ganz, nun ift fie gewiß in unaudfprechlicher Glückſeligkeit ewig bei 
ihm. Die legten fünf Stunden waren noch fehr harte Stunden für 
fie, aber gewiß auch gnadenreihe. Mit vollem Bewußtſein nahte fie 
fi ihrer Vollendung, opferte ſich und ihre Leiden ganz ihrem Gott, 
und empfing noch ungefähr eine Viertelftunde vor ihrem Tode ihren 
Herrn und Heiland im allerheiligften Sacrament. So ſchied ihre 
I&höne, geläuterte, heilige Seele in der feligften, innigften Bereinigung. 
Ein fehöner Tod, lieber Perthed! Beten fie vorzüglich für die liebe Toch⸗ 
ter der Fürftin, Damit Gott ihr zu Hilfe fommen möge mit feiner 


103 


Gnade! — Sie wie ih halten den Glauben, die Erleuchtung von 
oben und die und allen nöthige Gnade für nöthig, und das andere — 
nun das wird ſich in der Folge ſchon geben, fhrieb Drofte in einem 
anderen Briefe, und fügte etwas fpäter hinzu: Mir ift ed gewiß, daß 
Sie auf dem Standpunfte nicht fiehen bleiben fönnen, auf dem Sie 
jest ſtehen. Bei und kann weder dad Treiben und Drängen, um zur 
Wahrheit zu gelangen, noch das Bedürfnis, etwas Feſtes zu gewinnen, 
ftattfinden, wie bei Ihnen; denn, lieber Perthes, wir fuchen die Wahr- 
heit nicht, wir haben fie; den Glauben, den wahren Glauben fuchen 
wir nit, wir haben ihn. Nur das ift unfere Aufgabe und unfere 
Pflicht, durch einen wahrhaft hriftlihen Wandel, durch unfer ganzes 
Thun und Laflen unfern Glauben zu beiennen. Das immer mehr 
und mehr zu thun, dahin muß unfer Streben gehen, und weil wir es 
nicht ohne befondere Gnade Gottes fönnen, fo beten wir täglich darum. 
Vergeſſen Sie, lieber Perthes, meiner nicht! 

So entſchieden Drofte feiner Kirche angehörte, vermochte er den- 
noch) freudig das Gemeinfame in dem Chriften anderer Gonfeffion an⸗ 
juerfenmen, und jede Ahnung fehlte ihm von dem aus haferfülltern 
Herzen auffteigenden Gifthauche derer, welche fich. für gute Chriften 
halten, weil fie die Proteftanten haffen. Noch im Jahre 1819 konnte 
der Weihbifchof einen Brief an die Witwe des Wandebeder Boten 
mit den Worten fchließen: Gott behüte Sie, liebe Mama, und und 
alle! Beten Sie für mih! Mit findlicher Liebe Ihr Caspar. 

Dem Münfter'fchen Kreife gehörte feit feinem Uebertritte zur fa- 
tbolifchen Kirche Graf Friedrich Leopold Stolberg an. Er hatte die 
Kirche feiner Väter verlaffen, um Ruhe zu finden für feine Seele, die 
eines fichtbaren Haltes bedurfte, damit fie ihred Glauben? ficher und 
feft werden könne. Durch das tief in den Gang der geifligen Zeit- 
entwidelung eingreifende Ereignid feine® Webertritt® war e8 an den 
Tag gekommen, wie groß die früher weniger beachtete Kluft fei, welche 
den Ehriften fatholifcher Confeſſion von dem der proteftantifchen Con⸗ 
feifion trenne; dein Stolberg, obſchon ein Chrift gewefen vor feinem 
Hebertritte und ein Chrift geblieben nach feinem Webertritte, hatte 
dennoch nicht in der einen, fondern nur in der andern Kirche innere 


104 


Ruhe finden fünnen. Mit tiefem Schmerze fahen feine Freunde auf 
Stolberg bin, aber perfönfih ihm zümen, ihn misachten konnten fie 
nicht, ſobald der erfte überwältigende Eindrud: überwunden war. Das 
Berhältnis, in welches Perthed anfangs nur als Claudius’ Schwie- 
.gerfohn zu Stolberg getreten war, hatte ſchnell einen fehr nahen, auf 
warme gegenfeitige Zuneigung und. unbedingted gegenfeitige® Ver⸗ 
trauen gegründeten Charafter erhalten. Stolberg blieb, fo lange er 
lebte, jenem befchränften, unruhigen Eifer völlig fremd, welcher fo oft 
den religiöfen wie den politiihen Bonvertiten bezeichnet. Gewiß hatte 
er auch in feinem fpäteren Reben feinen Augenblist, in welchem er den 
gethanen Schritt bereute; aber weil er weniger feinen Glauben ala 
feine Kirche gewechſelt hatte, vermochte er es, ſich dem Proteftantid- 
mus gegenüber einen ungewöhnlich freien Blid zu erhalten. Sch habe, 
fhrieb er 1809 an Perthes, Ihren lieben Brief mit der Anfündigung 
des vaterländifchen Muſeums erhalten. Wir werden und immer ver- 
ſtehen, liebſter Perthes. ine gewiſſe Stelle der Ankündigung wird 
vielen Katholiken, ach! nur zu vielen, anftößig fein, Mir ift fie.es 
nit. Die Reformation ging urfprünglich hervor aus reiner Abficht, 
und fo verfichert ich auch bin, doß Luther denen, die ihm zufielen, 
mehr nahm, ald Menfchen geben können, fo erkenne ich doch die vie- 
len und großen Bortheile an, welche denen, die katholiſch blieben, aus 
der Reibung, dem Wetteifer u. f. m. herporgegangen find. Wider die 
Perſon Luther's, in welchem ich nicht nur einen der größten Geifter, 
fo je gelebt haben, fondern auch große Religiofität, die ihn nie verließ, 
ehre, werde ich nie einen Stein aufheben. 

Sleihen Sinn bekundet e8, wenn er 1815 nah Claudius' Tode 
an Perthes fhrieb: Er kommt nicht wieder zu und; Gott führe und 
alle dahin, wohin er und vorangegangen ift, und fein Gebet wird 
und fördern. — Bid zu feinem Tode hielt Stolberg den mehr al? 
zwanzig Jahre jüngeren Freund feft und innig umfchloffen. Ihr lie 
ber Brief, fehrieb er wenige Wochen, ehe er flarb, an Perthes, in wel- 
chem Sie Ihre Reife zu und auffagen, betrübt mich fehr. Wie hatten 
meine Frau und ih und auf Sie gefreut, twie lange wuͤnſchte ich ſchon 
den Freund ‚wieder zu umarmen, und hätte auch fo gern über man» 


105 


ed und manded mit Ihnen geſprochen! Sie geben Hoffnung für 
künftiges Jahr. Ach, lieber Perthes, Klopftod fagt irgendwo: „Ein 
Jahr ift viel im Leben des Menfchen.” Wie viel im Leben des Greis 
ſes! Bon Herzen Ihr alter Stolberg. — Auch mit Sailer, damals 
Profeffor in Landshut, aber feinem Leben und feiner Weberzeugung 
nah dem Münfter'jchen Kreife angehörig, traf Perthes ſchon 1802 
zufammen. Sailer hat mich hier aufgefucht, fchrieb er feiner Frau 
aus Leipzig. Er hatmir fehr gefallen: ein überaus geiftvoller Mann, 
fieht jehr katholiſch aus, aber, wie mich dDünkt, nicht ohne einige An⸗ 
ftrengung. Er empfiehlt fi) Deinem Bater und auh Dir. — Mit 
vielen andern konnte auch Perthes fich nicht vorftellen, dag Stolberg, 
obſchon Katholif geworden, alle und jede LXehrfäbe der Fatholifchen 
Kirche als Inhalt feines hriftfihen Glaubens aufzunehmen vermöge. 
Sie fragen, ſchrieb Sailer 1803 aud Landshut an Perthed, ob es 
wirklich begründet fei, daß ein zur fatholifchen Kirche Webertretender 
dad ganze Syſtem als wahr anerkennen müſſe. Darauf weiß ich 
Ihnen nur folgendes zu antworten: Bor Gott, im Gerichtähof des 
Gewiſſens und im Urtheile eine? jeden vollendeten Selbftdenferd Tann 
niemand glauben, was er nicht glauben kann, foll ed alfo auch nicht. 
Im Urtheile der buchſtäblichen und abfoluten Orthodorie dürfte aber 
der Grundfaß anders lauten und wenigftend in der Praxis jo audge- 
fprochen werden: Das ift wahr, das muß vollitändig geglaubt wer⸗ 
den, alfo glaube auch Du ed. In der buchſtäblichen Orthodoxie und 
in der Prarid dürfte wenig Unterfchied gelten zwifchen Glaubbarem 
und Unglaubbarem. Wer fih aber in feinen Gedantenreihen aus 
diefer Buchftaben-Orthodotie und aus diefer durchaus abfoluten Recht⸗ 
gläubigfeit zu dem milden Geift aller Orthodorie hindurch gearbeitet 
bat, der wird im katholifchen Kirchenſyſtem, fo wenig wie in irgend 
einem andern, die Nothwendigfeit des Glaubens nie über die Grenze 
der Ueberzeugung ausdehnen und fih mit dem Dahingeſtelltſeinlaſſen 
deſſen, was der andere nicht glauben fann, begnügen. Mehr weiß 
ih nicht zu fchreiben. Sie follten doch auch einnal die Edlen in der 
patriarchalifhen Burg zu Wernigerode befuchen, fügte er hinzu; Sie 
lommen jedesmal angenehın um Ihres Schwiegervaterd und um 


106 


Ihrer eigenen Perfon wegen. Fenelon's Werke finden bei allen Freun⸗ 
den der Innigfeit Eingang, aber leider find die innigen Menſchen bei- 
nahe fo felten, wie die weißen Raben. 

Mährend fih für Perthes in Holftein und Münfter das innere 
teligiöfe Leben in feft Iutherifcher und in feft fatholifcher Korm dar⸗ 
ftellte, wurde ihm zugleich Durch zwei bedeutende Perfönlichleiten ein 
religiöfe® Leben nahe gebracht, welches die Ausprägung in dogma⸗ 
tifchen und kirchlichen Formen überhaupt zurüdtreten ließ. Gräfin 
Luiſe auf Windebye, welche, wie ihr Gemahl Graf Ehriftian Stolberg, 
in ununterbrochenem Briefiwechfel mit Perthes ftand, machte mit geift- 
voller Lebendigkeit und ſcharfem Verftande immer von neuem die Be⸗ 
hauptung geltend, daß der Menſch nicht in Formeln oder Formen 
irgend einer Art fein innered Verhältnis zu Gott ausdrücken dürfe. 
Ach, mein lieber Perthes, ſchrieb fie einft, angeregt durch eine Schrift, 
welche. fie nad) ihrem Ausdrude unter alten wurmſtichigen Büchern 
entdeckt hatte, es ift fo gefährlich, den wahren lebendigen Glauben, 
Die rechte wirkliche Neligiofität in Dogmen faflen und durch Dogmen 
beftimmen zu wollen. Wie müde bin ih aller Formeln! Zwar ftrebe 
ih dahin, frei genug von allem Buchftäblichen zu werden, um in je- 
dem Nitus das Wefentliche von dem Zufälligen, den Geift von dem 
Buchſtaben unterfcheiden zu können und fo wenig Anftoß an dem ka⸗ 
tholifhen wie an dem indifchen Rofenfranz zu nehmen; aber, lieber 
Perthes, mit jedem Forfchen, mit jedem Streben im Geifte nach der 
Wahrheit wird mir das katholische Wefen widriger. Auf Claudius’ 
neues Buch freue ich mich fehr. So wenig ich eind mit ihm in alfem 
bin, bin ich e8 doch in den Hauptfachen ;. denn diefe find bei ihm nicht 
Buchſtaben, fondern That. — Wer fih an Dogmen hält, fchrieb jie 
ein anderedmal, hat fich einen Planeten zum Polarftern genommen, 
und wie oft habe auch ich das Nordlicht der Nacht für Die Morgen- 
röthe ded kommenden Taged gehalten. — Reſolut ſprach fie in 
einem fpäteren Briefe aus: Jeder Dogmatiker, der fatholifche wie 
der proteftantifche, der theologifche wie der philofophifche, ift mir ein 
Göpendiener. 

Bon einem tiefen religiöfen Leben erfüllt, welches ſich gleichgil- 


107 


tig, aber nicht, wie bei der Gräfin Luife, feindlich gegen dogmatiſche 
Faſſung verhielt, trat der Mater Philipp Otto Runge als eine wun⸗ 
derbar anziehende Erfcheinung Perthes gegenüber: von ftrengfter 
Sittlichkeit, kraftvoll am Körper in feinen gefunden Tagen, eine derbe, 
fernhafte Natur, dabei voll Luft und Humor. Kremden blieb er, 
ohne es zu wollen, tief verfhlofien, Freunden entfaltete er wunder⸗ 
bar fein innerfted Wefen. Munter,. reizend wigig, reich an Ideen, die 
fi mit Leichtigkeit entwidelten, wurde der Kern feines Weſens gebil- 
det durch einen ihm eigenthümlichen Sinn, welcher die großen Ge 
heimniſſe Gottes als offenbart in fombolifchen Darftellungen der Na⸗ 
hur eriheinen lieg. Wenn irgend jemand unter den Deutſchen des 
legten Jahrhunderts echte Myſtik und Theofophie repräfentiert, fo ift 
es Runge, äußerte Perthes ſich fpäter; denn in ihm wie in feinem 
anderm vereinigten ſich von innen heraus und ohne äußere Anregung 
die großartigen theofophifchen Anfchauungen Jakob Böhme's und die 
myſtiſche Liebesinnigkeit Sufo'd. — Mit dem feierlichften Ernfte 
konnte Runge audfprechen, daß dem Künftler, welcher dahin fäme, die 
Kunft zur Religion zu machen, ein Mühlftein an feinen Hal gehängt 
und er erfäuft werden müſſe im Meere, da ed am tiefften fei; aber 
ein großer religidfer Inhalt fenkte ſich, ihm felbft oft unbewußt, auch 
den kleinſten Spielereien feines Stifte® oder Pinſels ein: überall fand 
er in den Erfcheinungen der Natur Bezüge auf da8 Geheimnid der 
Schöpfung, Erlöfung und Heiligung, und ald Aufgabe feined Leben? 
erfhien es ihm, diefe Bezüge heraudzugreifen und künſtleriſch geftaltet 
darzuftellen. Nicht immer waren feine Ahnungen zugänglich für 
dritte, und vieles in feinen Compofitionen blieb deshalb anderen un- 
verftändlich. Um Auffchluß gebeten, pflegte Runge lächelnd zu ante 
worten: Wenn ich das fagen fönnte, fo hätte ich nicht nöthig gehabt, 
ed zu malen. Aehnlich wie Novalid zur Poefie, ftand Runge zur 
Malerei, aber dennoch fanden nad) Goethe'3 eigenem Ausdrud Die 
Darftcllungen einer neuen, wunderfamen Art, in denen überall de? 
Künftlerd jchöne®, herzliches Talent und frommer, zarter Sinn fi) 
äußerte, auch in Weimar guten Eingang. Runge ift, fehrieb Goethe 
1810 an Perthes, ein Individuum, wie fie felten geboren werden. 


108 


Sein vorzügliches Talent, fein wahres, treued Weſen ald Künftler 
und Menfch erweckte ſchon längft Neigung und Anhänglichkeit bei. mir, 
und wenn feine Richtung ihn von dem Wege ablenkte, den ich für 
den rechten halte, fo erregte er in mir fein Misfallen, fondern ich be- 
gleitete ihn gern, wohin feine eigenthümliche Art ihn trug. 
Achtzehn Jahre alt, war Runge 1795, um in dem Haufe feines 
Bruders die Handlung zu erlernen, von Wolgaft, feinem Geburtsort, 
nad Hamburg gefommen. Zwar verließ er die Stadt ſchon 1798 
wieder, um ſich in Kopenhagen und Dresden für die Kunft auszubil- 
den, und fehrte erft 1804 zurüd. Das zwijchen ihm und Perthes 
ſchnell und innig entftandene Freundfchaft3verhältnis erlitt hierdurch 
feine Störung, fondern feßte fi) bis zu Runge's frühem Tode im 
Jahre 1810 mit wachfender Stärke fort. Du haft mich ganz verftan- 
den, fchrieb 1802 Runge an Perthes; was Du von mir hältft, das 
halte ih auh von mir und mehr nicht. — Noch in fpätem Alter 
war für Perthed der Eindrud unvergeßlich geblieben, den er 1802 
empfing, als er mit Runge die Dresdner Gallerie befuchte. Geſtern 
Nachmittag habe ich einzig und allein Raphaels heilige Familie anges 
jeben, fchrieb er damals feiner rau, und hoffe, daß diefer Himmel 
nie vor meiner Seele vergehen foll. Solche Schöpfungen geichaffen 
zu ſehen von unfere® Gleichen, ift etwas fehr großes; jo unmittelbare 
Ausflüffe und Zeugniſſe ded göttlichen Weſens in und find Gemälde 
diefer Art, dag Worte ihnen nicht verglichen werden fünnen. Töne 
find e3 vielleicht in einem noch höheren Sinne, find vielleicht noch 
Gott ähnlicher, aber fie find vergänglich und find mur Ahnungen. 

- Der nahen Berührungen mit Menfchen, welche wenn aud) in ver- 
jchiedener Weife ein vorwiegend inneres Leben führten, waren freilich 
viele, aber angeborener Sinn und ein Lebendberuf, der die größte 
Thätigfeit verlangte, hielten dennoch das Gleichgewicht, und zwei ſehr 
bedeutende Männer, welche in naher Verbindung mit Perthes ftanden, 
Graf Adam Moltfe und Schönborn, erregten und belebten immer 
von neuem das leicht zu belebende Interejje in Perthes für die Ver- 
hältnifje des irdifchen Lebens. 

Graf Adam Moltke, eine herrliche Männergeftalt mit edler Stirn 


109 


und bligendem Auge, Tebte feit den Anfange etwa dieſes Jahrhun⸗ 
dert? auf Nütfchau, einem holfteinifchen Gute, welches er als geringen 
Erfag für das verlorene Bamilienlehn auf Seeland erworben hatte. 
Meberbraufend an Kraft und reich an Phantafle, war er mächtig von 
den erften Eindrüden der franzöfifchen Revolution ergriffen worden und 
gehörte Jahre lang zu ihren feurigften, gewiß aber auch zu ihren rein- 
fien Anhängern. Nachdem er einen großen Theil Europa’3 gefehen 
und von manchem herben Weh des Lebens getroffen war, zog er ſich 
nad Nütſchau zurüd, wo er fern von Staatögefchäften, aber erfüllt 
von politifhem Intereſſe in gewaltfamer Refignation die eiferne Zeit 
zu dulden fih bemühte. Nur weniger Stunden Schlaf bebürftig, 
fuchte er das innere Drängen durch ernfted und nachhaltiged Studium. 
der Geſchichte zu ftillen; namentlich die Entwidelung der italienifchen 
Republilen des PMittelalterd kannte und verfolgte er bi® ind einzelne. 
Oftmals unternahm er. e3, das eigne innere Leben dichterifch zu ge⸗ 
ftalten oder mwohlgefannte politifhe Berhältniffe vergangener Tage 
hiftorifch darzuftellen , aber er vermochte nicht für Bilder, die in feinem. 
Innern fi) bewegten, die Beitimmtheit und.Klarheit zu gewinnen, 
um fie hinaus in die Außenwelt treten zu laffen. Berfagt blieb es 
ihm deshalb, durch Schrift oder That in die Gefchichte einzugreifen ; 
aber wie er in den Jahren feiner heißen und ftürmifchen Jugend ge= 
waltfam hinreißend auf jeden eingewirkt hatte, der ihm perfönlich. 
nahe trat, fo führte er auch noch als Mann rafche3 Leben allen Krei⸗ 
fen zu, die er berührte. Er war zur Vollendung feiner Natur gedie- 
ben, äußerte ſich Niebuhr 1806 über diefen feinen Tiebften Jugend⸗ 
freund; er hatte den Löwen in fih, den zu raftlofen Geift, gezähmt, 
und fein morgenländifches Feuer zur Belebung griechifcher Geftalten 
gewendet. Ä 
Perthes war zuerft 1799 in Kiel mit Moltke zufammengetroffen. 
Welch ein Menfch, fehrieb er im Januar an feine Frau, welche Kraft 
und welches Bändigen der Kraft. Caroline, ich wollte, Du fönnteft 
ihn fehen, diefen tollen Moltfe, wie fie ihn nennen. -Mir fteht er fo 
body wie einer, und hat ein liebes, Föftliches Weib. — Wenige Mo- 
nate fpäter waren beide Männer in dem nächften und offenften Ver⸗ 


110 


hältnis. Danken Sie der Gräfin für ihren lieben Brief, ſchrieb Per- 
thes ſchon im Herbfte 1799 an Moltfe. Karoline und ih mögen er⸗ 
ſtaunlich gerne lefen, was fie fehreibt, und ich wollte, ich hätte viel 
jehr Interefjantes und Wichtiged mit ihr zu correfpondieren. — Viel» 
fach fam Moltke damals, wie in fpätern Jahren, nah Hamburg und 
dann war ed um die Ruhe der Nacht für Perthes gefchehen. Abende 
zwiſchen neun und zehn, wenn Perthed aus dem Gefhäfte zu Frau 
und Kindern ging, fand Moltke ſich ein und nad wenigen Augen- 
bliden faßen fich beide Männer im heftigen, leidenfchaftlichen Gefpräche 
gegenüber, und mehr als einmal mußte die aufgehende Sonne die 
nie Einigwerdenden erinnern, daß es Zeit fei aufzubrechen. Einft, 
es war im Jahre 1803, hatte das Gerücht, Perthed werde feine Zah- 
lungen einftellen müſſen, Moltke in Florenz, wo er fi) damals aufs 
hielt, erreiht. Mit allem, was ich habe, helfen Sie fogleich meinem 
Freunde, wenn ihm noch zu helfen ift, ſchrieb Moltke feinem Ge- 
(häftsführer in Hamburg, und legte dem Briefe die nothigen Voll⸗ 
machten bei. 

Dem Grafen Moltke war faſt in allem der Legationsrath Schoͤn⸗ 
born entgegengeſetzt, deſſen Andenken Riſt durch eine treffende Schil⸗ 
derung der Vergeſſenheit entzogen hat. In den Jahren 1802 bis 
1806 wohnte er als Gaſt in Perthes' Haufe. Oft verließ der ſeltſame 
Mann, deſſen Körperbau unanſehnlich war, deſſen ſtark bezeichnete 
Geſichtszüge aber Schärfe und Tiefſinn ausdrückten, Wochen hindurch 
die Wohnung nicht, ſondern freute ſich des bequemen Schlafrocks und 
der Unordnung ſeines Zimmers, oder vergrub ſich in den Bücher⸗ 
ſchätzen, welche die Handlung darbot. An ihn, der dem fiebenzigften 
Lebensjahre nicht mehr fern ftand, hatte in der großen, vielbewegten 
Stadt niemand einen Anſpruch zu machen; nur durch feine Gewohn- 
heiten und durd feine phyſiſche Trägheit, außerdem aber durch nichts, 
wollte ex fich in diefer lang erfehnten Unabhängigkeit befchränten laſ⸗ 
fen. Nicht felten fahen ihn die Hausgenoſſen in langem, fchlottern- 
dem Oberrode, den Stod unter dem Arm, um die Mittagdftunde aud 
der Hausthür treten, fi nach allen Weltgegenden wenden, wählend 
umfchauen, ſchwanken, bei welchem Freunde oder in welchem Gafthofe 


111 


er den Mittag zubringen wolle, und dann nad einiger Zeit in das 
Haus zurüdkehren, um auf feiner Stube zu bleiben. In Perthes' 
Familie wie ein Glied derfelben angefehen, ging und fam ex. nach 
Gefallen, freute fich des lebendigen, wechfelnden Verkehr? und konnte 
dennoch, ohne zu reden, viele Stunden zerftreut oder in träumerifcher 
Behaglichkeit unter den Kindern oder den beſuchenden Freunden hin» 
bringen. Schweigen mar ihm keine Laft, bemerkt Rift, auch nicht, 
wo Unverftändige laut wurden. Später machte fich etwa der ftille Un- 
wille durch eines jener Kraftworte Luft, die er der derben niederfäch- 
ſiſchen Mundart abzuborgen gewohnt war. — Wenn aber Schön. 
born, was Perthes meifterhaft verſtand, zum Reden gebracht ward, 
fo bildete er fogleich den Mittelpunkt des Kreifed, in welchem er ſich 
befand, und der feltne Schab von Gelehrſamkeit, von Lebenskennt⸗ 
niffen und Lebenderfahrungen, welcher in ihm verborgen lag, that fich 
in überrafchenden Wendungen und in einer kurzen Kernfprache fund, 
die ſtets das unmittelbarfte Erzeugnis des Augenblidd war. Schön 
bom, 1737 geboren, war der Sohn eined vom Harz nad Holftein 
übergefiedelten Pfarrerd. Er hatte fi in manchen Zweigen der Wiſ⸗ 
ſenſchaft mit gewaltfamer, ſtoßweiſer Kraft verfucht, dann Jahre hin- 
durch in dem geiflvollen Kreife des Grafen Bernftorff,in Kopenhagen 
und Hamburg gelebt und unter den Beiten feiner Zeit als ihred Glei- 
hen gegolten. Durch Bernftorffd Vermittelung wurde er. 1773 als 
dänischer Eomftlatfecretär nach Algier gefendet. Die Herren Seeräu- 
ber hier rüften ihre Kaper, fhrieb er von feinem neuen Wohnort aus 
an einen Freund; alddann können für einen, manchmal für zwei 
Monate feine Schiffe herauskommen. Daß euch der Geier hole, ihr 
Raubvieh, aber daß er-hunderttaufendmal die europäifchen Regierun⸗ 
gen hole, welche dasfelbe füttern! — Daß Algier noch fteht, heißt 
es in einem andern feiner Briefe, hat mich, nachdem ich es felber ge- 
jehen, erflaunt, und ebenfo der kurzfichtige Geierhunger der europaͤi⸗ 
ſchen Bolitit, welcher über ein Quentchen Gegenwart herſtürzt und 
einen Gentner Zukunft liegen läßt. Man unterhält und füttert dieſe 
Nefter bier, um denen, welche fie nicht füttern fönnen, die Schiffahrt 
fauer zu machen. — Nach einem vierjährigen Aufenthalt in Algier 


112 


ging Schönborn als daͤniſcher Legationdfecretär nach London, wo er 
bi8 zum Jahre 1802 blieb und mehreremale den Poſten eines Ge⸗ 
ſchaftetraͤgers verſah. 

Geſtern Abend habe ich wieder einige Stunden mit Schönborn 

philofophirt, ſchrieb Niebuhr 1798 aus London; wir haben aus freiem 
Erguß des Herzend geredet. Er ift fehr originell im Ausdrud, Fraft- 
voll, bisweilen felbft bis zum Unfeinen, von fehr tiefer Philofophie 
und audgebreiteter. Kenntnis der Alten, beſonders ihrer Philofophie 
und Mathematif; ein außerordentlich ftarfer Kopf und .auffahrend 
gegen Widerfprudd. Sein kühner Geift, der eben die Auslegung der 
Mythologie fpielte, gewährte mir eine intereffante Unterhaltung. — 
Wenn er, heißt e3 in einem andern Briefe Niebuhr's, fein eigenes tief 
audgedachted und vielfach erwogenes Syſtem in weit verfolgter Aus⸗ 
dehnung und unter den kühnſten Wendungen zeigt, fo erhellt er den 
Geift feined Zuhdrers und reißt in zu ganz neuen Ideen hin. Wenn 
aber eben. diefer herrlihde Dann von der Tiefe der. Metaphyſik zum 
Erdboden des gemeinen Lebens fteigt, fo iſt er gar nicht mehr derfelbe. 
Er gleicht einem Mathematiker, der die Erde in Gedanken ausgemefe 
fen hat, aber darum ihr Antlit doch nicht kennt. 

Nach faft dreißigjähriger Abwefenheit kehrte Schönborn, fünf und 
fechzig Jahr alt, nach Deutfchland zurüd, welches er mährend diefes 
langen Zeitraumes nur ein einzigedmal und nur auf kurze Zeit ge 
fehen hatte. Wie wenn Jahrhunderte zwifchen feinem Fortgange 
und feiner Rüdtehr gelegen hätten, fand er Deutfchland wieder. Als 
er ed verlafien hatte, mar das erfte Jahrzehend nach dem fiebenjähri« 
gen Kriege noch nicht völlig abgelaufen; an Friedrih dem Großen 
ſuchte Deutfchland zu erftarken, fuchten die Deutfchen fich zu wärmen. 
Leffing, Schönborn’? Genoffe und naher Freund, hatte wenige Jahre 
zuvor feine Hamburgifche Dramaturgie, hatte Diinna von Barnhelm 
und Emilie Galotti vollendet, und ald Schönborn auf der Reife nach 
Tranfreih und Algier den Herrn Rath Goethe in Frankfurt befuchte, 
fah er dort auch deſſen Sohn, den fingularen jungen Menfchen, wel« 
her foeben den Götz gefchrieben und bald darauf an Schönborn nad) 
Algier meldete: Auf Wieland habe ih ein ſchändlich Ding druden 


113 


— — 


laſſen unterm Titel: Götter, Helden und Wieland. — Als Schön- 
born 1802 nach Deutichland zurüdkehrte, gehörte felbft der Revolu⸗ 
tionsjubel fhon zu den Traditionen einer vergangenen Zeit und Na⸗ 
poleon biendete Europa; Leffing, zwanzig Jahre todt, war vorläufig 
vergeſſen und Goethe rüftete fich ſchon, den Ueberfchlag eines gelebten 
Lebens zu machen. In London, im Mittelpunfte der Gefchäfte, hatte 
Schönborn die Zeit der großen politifchen Entwidelungen verlebt und 
mit einer Kenntni® Englands und deifen Beziehungen zu Europa 
fehrte er zurück, wie fie in gleich hohem Grade felbjt Gens ſchwerlich 
beſaß. Auch feine alten Leidenfchaften für die Philofophie hatten ihn 
nicht verlaffen, aber die Hoffnung, daß der Menfch die Wahrheit fin- 
den könne, war längft von ihm gewichen. Einen vollendeteren Step- 
tifer, äußerte Perthes fpäter, hat es vielleicht nie gegeben, Gott, 
‘Freiheit, Unfterblichleit waren die Gegenftände, die er ftet3 mit feinem 
Berftande befämpfte, gerade deshalb vielleicht, weil fie feft begründet 
in feiner edlen Natur fih ihm unmiderftehlih aufdrängen wollten; 
denn freiheit, die allgemeine wie die individuelle, war fein Idol und 
diefe wollte er auch durch fein eigene? Inneres fich nicht befchränfen 
lafien. Die Schranken feine? eignen Ich erfüllten ihn mit Zorn, er 
riß und big unaufhörlich in diefe Kette wie ein alter Löwe. Füge die- 
ſes königlichen Thiered waren auch in feinem Gefichte, und wenn er 
zuweilen an unferem Tiſche aus Altersſchwäche einfchlummerte, fo 
fliegen oft die Augenbraunen wie Mähnen und zeigten, daß der Geift 
im Innern fortfämpfte. Er ftarb im achtzigften Jahre; acht lange 
Zage dauerte der Kampf mit dem Tode; er wollte das Leben nicht 
laffen; er müſſe angefchmiedet fein an das Leben, fagte der Arzt. — 
Seiner tiefiten Cigenthümlichleit nach verlangte Schönborn in der . 
Philofophie, wie im Leben, nur Conſequenz und Tüchtigfeit, und wo 
ex diefe fand, glaubte er auch einer Seite der Wahrheit gewiß zu fein. 
So leidenfchaftlich heftig er jeden falfchen Schein haßte, fo anerken⸗ 
nend war er gegen jede auch noch fo entgegengefepte Ueberzeiigung, 
wenn fie wirklich Ueberzeugung war. Unmittelbar nad) feiner Rüd- 
fehr aus England, als er, aller Geſchäfte entledigt, mit dem neuen in 
Deutfhland aufgewächſenen Gefchlechte ein Leben anfnüpfen wollte, 


Perthes‘ Leben. I. 4. Auf. 8 


114 


ebenfo frifch wie das, welches er einft mit dem nun vergangenen ge 
führt, wurde er durch Klopftod- und Claudius mit Perthes befannt 
und wenig Wochen fpäter fein Hausgenoſſe. Damals noch nicht an | 
den ruhelos und unftet über die Erde hingehenden Geift der Gräfin 
Katharine Stolberg gebunden, verweilte er Jahre hindurch in dem 
Haufe, das er liebte, und eine neue Welt von Intereſſen und An⸗ 
ſichten, Kenmtniffen und Erfahrungen wurde dur ihn für Perthes 

eröffnet. | | 

Die verfchiedenen Verhältniffe und die bedeutenden Menfchen, 
unter denen Perthes fich bewegte, mußten wohl einen durchgreifenden 
Einfluß auf ihn gewinnen und ihn zu einem neuen Menfchen heran- 
bilden. Ich weiß es, fhrieb er einft dem Schwarzburger Oheim, Sie 
denken oft an ihren Friß; aber der Fritz, an den Sie denken, bin ich 
nicht mehr. Sie kennen nur den kleinen Fritz, mich müflen Sie erft 
wieder fennen lernen. Wo foll ih anfangen und aufhören; um Ihnen 
zu fagen, wer und mas ich Bin? Sie kannten mid) ala ein Kind, wel- 
ches Gutes hatte, welches man lieben fonnte und welches ſich gern 
fieben ließ und mit Herzlichleit wieder liebte; ala ein Kind, welches 
leicht begriff und nicht ohne Wi war, aber aud) eine äußert gefähr- 
liche Lebhaftigkeit und eine bi? zur Kränklichkeit getriebene Reizbarkeit 
beſaß. Seitdem ift manches Jahr vergangen — was ift von alle dem, 
was das Kind in ſich hegte, geblieben, wad dazu gefommen, was hat 
das Kind Kindliched an fich behalten? Wollte ich auch verfuchhen, den 
Gang, den ich genommen, treu Ihnen darzulegen, wer fteht mir denn 
dafür, daß ich felbft ihn wahr und wirklich fenne? 

Bon frühefter Kindheit an hatte Perthes unter mancher Angft 
und Roth geftrebt, fih und fein ganzes Thun und Wollen in Einflang 
mit dem einigen Willen zu bringen. Fortſchreitend an Bildung und 
Erkenntnis, hatte er fein Ziel auf immer geiftigerem Wege zu erreichen 
geſucht und dennoch mußte er ſich jagen, daß der Wille tief in feinem 
Innern ein anderer fei als der Wille Gottes, und daß die Neigung, 
den eigenen Willen Gott gegenüber durchzuſetzen, felbft dann bie 
ftärffte unter allen feinen Neigungen bleibe, wenn die innere Angft 
hierüber größer werde als der Leichtfinn und der Trotz. Als Per- 


115 


thes nun, beunruhigt durch ein Bemußtfein diefer Art, mit fo man 
hen bedeutenden Perfönlichkeiten zufammengeführt wurde, welche die 
immer tiefere Erkenntnis der Stellung des Menfchen zu Gott als ihre 
unmittelbare und wefentliche Lebensaufgabe betrachteten, mußte die 
Entwidelung und Befeftigung feine? geiftigen Sein? zunädhft und 
vor allem eine religiöfe werden. Lange ſchon war ihm fein früherer 
Standpunkt, von welchem aus der Menfch fi) vermöge feines ver⸗ 
fländigen Willen? zu einem vernünftigen Wefen auszubilden beftimmt 
fei, als ein befchräanfter und verkehrter erfchienen. Geftern war N. bei 
mir, fchried er 1799 an Caroline; er hat mir durchaus. miöfallen. 
. Seine regelrechte Berftändigkeit hat ihn ausgetrodnet und ihm das 
Herz weit hinein zur Schale gemacht. Mit aller feiner vielgerühmten 
Beionnenheit ift ihm höchftens nur gelungen, einer. tabellarifchen Sit- 
tenlehre genug zu thun; aber über den fogenannten guten Willen, 
immer Recht zu thun, hat er Geift und Seele verloren. Den Anre- 
gungen feined inneren Genius darf er nicht folgen, denn er muß fich 
ja befinnen, und dennod hat ihn feine Beionnenheit nicht fchügen 
können gegen gemeine Sinnedart, die doch wahrlich in feiner Natur 
nicht lag. Ä 

Das Gefühl, ald dad unmittelbare Bewußtſein feiner Seele, hatte 
Perthes lange ſchon als die einzige Kraft erfannt, welche den Men» 
ſchen frifh und muthig, Gott und der Welt gegenüber, durch das Le 
ben zu führen vermöge. Aufgegeben hatte er die unter Schillers 
Einfluß entftandene Hoffnung, dad Gefühl durch Bermittelung der 
Kunft rein und wahr bervortreten zu fehen. Könnten wir, fchrieb er 
an den Grafen Moltke, das Phufifche fo erheben und veredeln, daß es 
mit dem Geiftigen ein Ganzed, ein Einklang würde, fo wäre Die 
Menfchheit vollendet. Aber aud dem Traume einer ſolchen Hoffnung 
werden wir fchnell genug gerifjen; denn Jammer, Roth und Tod fte- 
ben überall und zur Seite. — Nun horchte Perthes unter Jacobi's 
Einfluß auf die Stimme Gottes, welche unmittelbar zum Gefühle und 
im Gefühle rede. Aber Zwiefpalt blieb in feinem Innern nad wie 
vor. Aus zwei Wefen befteht der Menſch, fchrieb er an Jacobi, das 
eine lacht das andere aus, und dieſes andere hat Beradhtung gegen 

8 % 


116 


jenes. erfte. So ift® bei jedem Dienfchen, der nicht eins mit ſich ges 
worden ift. — Sin den holfteinifchen und münfterländifchen Kreifen 
aber, denen er nahe getreten war, hatte Perthes Menſchen gefunden, 
die in einer früher ihm nicht vorgefommenen Weife ein? mit ſich er- 
fchienen. Daß es die Liebe tief in ihrem Innern war, welche ihnen 
mitten im Gewirre ded Lebend Ruhe, Freudigkeit und Einigkeit nicht 
verloren gehen ließ, wurde ihm gewiß. Nur eine überfchwengliche 
‘dee, fchrieb er an Moltfe, kann den Menfchen oben halten, ihn Noth 
und Tod, Himmel und Erde vergeffen machen. Jedes ſolches Ber- 
geſſen ift Größe, aber die Größe kann gut und kann böfe fein je nad 
dem Inhalte der dee, durch die fie hervorgerufen ift. Wir fehen 
Menfchen mit Engelsfinn und Menſchen mit Teufeldfinn dem Gräß- 
fichften feft und fur&htlod entgegen gehen. Groß ift noch nicht gut, 
obgleich gut immer groß fein muß. In Gott aber und in.un®, den 
von ihm gefchaffenen Wefen, ift ein Etwas, welches immer groß und 
gut in einem ift, und dieſes Etwas ift die Liebe. Mit ihr ift au 
der Schwache groß, und mas ohne fie die höchfte Größe ift, zeigt 
und der Teufel. Der Stein ded Anſtoßes bei Dir, lieber Moltke, 
fiegt darin, daß Du der chriftlichen Liebe genug in Deinem Herzen 
haft, aber der Römergröße zu viel in Deinem Kopfe. Warum doch 
aber an Größe denken? Größe für und ift Doch nur ein poetifcher 
Traum. Haben wir die Liebe zur überfchwenglichen Idee in und 
gemadht, jo wird die Größe fich von felbft finden. — Nur wer die 
Liebe hat, fihrieb er an Jacobi, Tann das Räthſel unferes Seins 
und unferer Freiheit Töfen. Liebe ift die fichtbare Geftalt der Frei—⸗ 
heit. Wer liebt, und auch wer nicht liebt, der kann erfahren, wenn 


er will, daß die Liebe frei ift, wie nicht® anderes auf der Welt. Ich 


bin ein Knecht, wenn ich nicht liebe, und ich fann nicht lieben, wenn 
ich Knecht bin, und. wer liebt, weiß, was fein anderer weiß, daß 
die eigene freiheit und der Wille Gotted eines ift und dasſelbe. 
Um die Liebe, als bleibenden Zuftand der Seele, auch für fih 
gewinnen zu können, fühlte Perthed, daß er der Dermittelung einer 
menfchlichen Perfönlichkeit bedürfe, und niemand auf Erden fand ihm 
näher als Garoline. Dur fie und nur dur fie glaubte er das 


117 


Weſen diefed Lebens, wie er die Liebe nannte, feinem Leben einver- 
leibt zu fehen. Daß ich etwas in mir habe, was lebt und ewig 
leben wird, ſchrieb er an feine Frau, fühle ich mit einer Gewißheit, 
deren Sicherheit durch feine Worte fich bezeichnen läßt; aber ich fühle 
auch, daß dieſes mein ewiges Ich nur in der Liebe zu Gott feine Be- 
friedigung finden fann. Jedem, der nach diefer Liebe ftrebt, dem e3 
Ernſt hiermit ift, der niederfällt, hebt, betet und danft, dem wird 
der Herr gnädig fein, ſelbſt wenn er ein Stüd Holz anbeten follte 
ftatt den Gefreuzigten. Denn da der Unfidhtbare für und hinter dem 
Borhange der fichtbaren finnlichen Welt fteht, ift jedes Medium, durch 
das ich wagen darf mich Gottes Herrlichkeit zu nähern, ein heiliges 
Erlöfungsmittel von der Sünde und feine Abgötterei. In mir tobt 
das Böfe und ift mächtig. Deine Gebete find nur Nothſchüſſe und hel- 
fen nicht, denn ich bin nicht, wie Du, durchdrungen von der Heilig- 
feit des Höchften, von feinem Fichte und feinem Glanze, aber von 
Dir, Du meine Heilige, bin ich durchdrungen, und durch die Liebe 
* zu Dir werde ih die höhere erlangen, deren ich unmittelbar nicht 
theilhaftig werden fann. — Halte Du Dich mader, Du fromme 
Garoline, heißt e8 in einem anderen Briefe, und made mid durch 
Dich ſo fromm wie Dich. 

Bald indeſſen wurde Perthes gewahr, daß die Liebe zu Gott ſich 
nicht aus dem, was er die Liebe zu den Menſchen genannt hatte, 
gleichſam von ſelbſt entwickeln werde, weil ſie nicht allein dem Grade 
nach, ſondern auch dem Gegenſtande und deshalb auch dem Weſen 
nach ein von dieſem Verſchiedenes ſei. Ungeachtet er der reiner und 
ſtaͤrker werdenden Liebe zu Caroline ſich feſt und ſicher bewußt war, 
wich er dennoch ſcheu vor Gott zurück. Wie eine für die Liebe un⸗ 
durhdringliche Mauer fah er zwifchen Gott und ſich das eigene ver- 
gangene Reben und den gegenwärtigen Zuftand feine® Innern ftehen, 
in welchem er ald Grundrichtung ein Seinwollen ohne Gott und ein 
Ankämpfen gegen Gott nicht verfennen konnte. Unmöglich erfchien 
ed ihm, daß durch den Menfhen die Scheidung ded Menfchen von 
Gott überwunden werden könne. Meine innere Angft fordert jemand, 
der ftatt meiner genug thut, fhrieb er an Caroline, und Ahnungen 


118 


fteigen in mir auf, welche einen Gott verlangen, der ald Menfch die 
Menfchenqual gefühlt hat, Schon auf manchen Stab habe ich mich 
geftüßt, der nicht gehalten hat, und manchen Stern habe ih vom 
Himmel fallen fehen. Nur Wahres, aber nicht die Wahrheit wird 
und durch die Wiffenfchaft gegeben. Manches Tann fie meffen, aber 
ausmeſſen kann fie nichts, und ewig unbegreifbar werden die großen 
Beheimniffe des Leben? fein und bleiben. Sind fie aber deshalb we⸗ 
niger da, oder weniger gewiß und lebendig? 

Bas nicht gewöhnlich, nicht wiederholt, fondern nur einmal ſich 
zuträgt, fehrieb er an Moltfe, nennen wir unnatürlih, und wenn 
wir es nicht felbit betaftet haben, nennen wir es unwahr, und bes 
- zeichnen den Glauben daran ald Aberglauben; aber freilich die Natur 
felbſt, die doch dad unnatürlichite Wunder von allen Wundern ift, 
laſſen wir und gefallen und finden fie natürlich, Und wir, die wir mit 
unferer ganzen Gefchichte nur ein Moment des großen Naturwunders 
bilden, follten über Natur und Unnatur eines einzelnen Ereigniſſes 
entfcheiden fönnen? Freilich nicht hier und da dürfen die großen Ge- 
heimniffe der Welt gefucht und gefunden werden, aber eine Ahnung 
derfelben ift und eingeboren ; unfere Seele ift von Natur eine ahnende 
Chriftin, und mas in un? ald Ahnung lebt, hat und Gotted Gnade 
außer und als Wirklichkeit offenbart. — Jacobi hatte gegen Per- 
thes geäußert: ch werde heute noch ein Chrift nach Claudius’ Art, 
wenn man mir die Fortdauer des Pfingftwunderd gewiß machen kann; 
aber kein hiftorifcher Glaube kann mir das Pfingfiwunder erfegen. — 
Nichts berechtigt den einzelnen Menfchen, entgegnete Perthes, das 
Pfingfiwunder deswegen für nicht fortdauernd zu halten, weil es in 
ihm noch nicht wirkſam geworden if. — Für Perthes ftanden Die 
Thatſachen der Offenbarung als hiftorifche Ereigniſſe unzweifelhaft 
feft, aber von der Gnade Gottes hängt ed ab, äußerte er gegen Moltte, 
warn und wie flar? fie in meinem Innern lebendig werden follen. 
Ein Ringen und Arbeiten entftand nun in ihm, damit, wie er ſich 
ausdrückte, der nie erfchaffene Sohn des Vaters auch fein Gott wirf- 
ih werde, die ihm unableugbare Wirklichkeit der Menſchwerdung 
Gottes verlangte er für fih als bie ihn in feinem Sein ausfüllende 


119 


Idee. Run trat die heilige Schrift in ihrer ganzen Macht ihm an 
die Seele, und helfend, belebend und befeftigend ftand ihm Claudius 
zur Seite, theild in dem immer inniger und näher werdenden per- 
fönlichen Verkehr, theils durch feine Schriften. Befonderd lebhaft 
fühlte er fih duch den „einfältigen Hausvaterbericht über die chrift- 
liche Religion‘ in dem fiebenten, 1803 herausgefommenen Theile dex 
gefanmelten Schriften ergriffen. Er gewann eine Sicherheit der Ueber⸗ 
jeugung, eine Ruhe des innern Lebens, wie er fie früher nie gefannt 
hatte. Du fragft, wie es jegt mit mir fteht, ſchrieb er. Lieber Moltte, 
ich weiß, was Wahrheit ift, ich weiß, was ber Menſch ift und was 
er foll, ih weiß, was in der Welt zu finden ift, ih weiß, daß dev 
Menſch, je reicher er in fich ift, um fo ärmer in der. Welt wird. ch 
danke Gott für diefe Erkenntnis und dafür, daß ich fühle, welch ein 
armer Sünder ich bin ohne Hilfe und ohne Troft aus mir felbft. Un- 
begreiflich find mir jest die Menſchen, die ſich mit ſich begnügen, oder, 
wenn fie dad nicht fönnen, von einer Frucht nach der andern genie- 
Ben, in der Hoffnung, fatt zu werden, und nicht mit Schreden fehen, 
daß der Satte verloren ifl. — Meine Jugend war friſch, beißt ed 
in einem Briefe an Caroline, und ein tiefe? Sehnen, ein heftige® 
Streben nad) oben, lebendiger wohl als jept, war in mir. Dage- 
gen habe ich nun eine klare Einficht des Weſens; ich fühle Kraft und 
Stärke, ich habe eine Feftigkeit und Traumlofigfeit, wie früher nie, 
ich weiß, Gott und diefer Zuftand ruhiger Gewißheit ift freilich nicht 
fo wohlthaͤtig, nicht fo ſchmeichelnd, möchte ich fagen, als jenes Ah⸗ 
nen und Sehnen, aber wahrlich er ift ein ſicheres Zeichen der Wahr⸗ 
beit. Wäre der Heftigfeit der Leidenfchaft nicht zu viel und das Ge⸗ 
drange der Welt nicht zu arg, fo würde es freilich beifer um und 
ſtehen; aber es ift Bermeffenheit zu fordern, was unfer Gott und 
bier nicht gewähren will. Ungeſtörte innere Sicherheit und volle 
Ruhe war auf diefer Welt nur einem möglich, und diefer eine war 
der menfchgemwordene Gott. Liebe Caroline, wenn wir lernen uns 
begnügen und und in Zeit, Umftände und Umgebungen möglichlt Har 
und ruhig zu fchiden, fo fördert da8 und mehr als alled Quälen, 
Berlangen und Drängen nah einem Ziele hin, welchem wir wohl 


120 


durch Gottes Gnade und nähern, das wir aber hier uf Erden nie 
erreichen fönnen. 

Für die Milde Ihres Briefes, fhrieb er an Jacobi, in welchem 
Eie die Scheidung unferer innerften Ueberzeugung audfprechen, fage 
ih Ihnen, mein väterliher Freund, den innigften Dank. ch habe 
nur noch anzuführen, daß ich durch die Worte: der philofophifche Un- 
glaube genüge mir fo wenig, wie der poetifche Aberglaube, mich ge- 
wiß nicht zu dem befennen wollte, was Sie tadelnd Romantik nen» 
nen. Gegen das loſe, wilde, wüfte und nichtige Hinundher glaube 
ich ficherer geftellt zu fein ald andere, weil ih mich an das geoffen- 
barte Wort Gottes halte, und dieſes Wort allein ift.über und. Alles 
andere ift nur in und und ſchweift, mag ed nun philoſophiſch niet- 
und nagelfeft oder romantifch buntfchedig fein, umher, bis es endlich 
findet, daß alles eitel fei. Mich ftört wie Sie Jean Paul’? Schwan- 
ten, fo oft ich feine Schriften leſe. Wohl verlangt auch er Wahrheit und 
feſten Inhalt des Glaubens, aber dennoch kann er es nicht laſſen, 
den Gottmenſchen hineinzuziehen in die Darſtellungen einer nur 
menſchlichen Phantaſie. Meſſiaden aber, mögen ſie nun von Klop⸗ 
flo oder von einem andern fein, werden nie gelingen. — Es iſt 
gewiß bei weitem mwürdiger, äußerte er, als er das nad) feinem Aus- 
drude unfäglih dumme Buch: Scenen aud dem Geifterreiche, gelefen 
hatte, durch Philofophieren zum Thoren zu werden, ald Geburten der 
eigenen Einbildungsfraft auf religiöfe Wahrheiten zu pfropfen. — 
Winckelmann's Briefe, wie Windelmann felbft, haben mir, fo in- 
tereffant fie find, wenig gefallen, heißt es in einem andern Briefe an 
Jacobi, und Goethe thut Windelmann zu viel Ehre an, wenn er 
ihn einen gründlich gebornen Heiden nennt und ihn gleihfam zum 
Repräfentanten feiner eignen Welt» und Menfchenanfhauung macht. 
Schön und wahr finde ich dagegen die Entwidelung des Goethe'fhen 
Heidenthums, welches fo fcharf und beſtimmt wie. fonft nirgends al? 
der andere Pol des Chriftentbums erfcheint: auf der einen Seite 
Stärke und Einheit durch die Liebe, auf der andern Seite Selbftver- 
laß. Das Chriftenthum ift ein Berliehenes und im Chriftenthbum wird 
alles fortdauernd durch die Gnade Gottes gegeben und durch die Liebe 


121 


empfangen. Das Heidenthum ift die Natur und im Heidenthum: ift 
jedes Product ein Selbft. Die religiöfen Gefühle des Menfchen er- 
fheinen als ein Erzeugnis der Natur; jedes Gefchöpf fol als fich 
ſelbſt fchaffend feft und rein auf feinen eignen zwei Füßen ftehen; der 
Menſch foll alles genießen, allem widerftehen, alles Unvermeidliche 
leiden mit eigner voller Kraft. Heidenthum und Chriftenthum er⸗ 
fhöpfen, wie mir fcheint, alle®, und das zwiſchen ihnen Liegende, 
hab’ ed nun Namen, wie es wolle, ift immer nur ein inconfequente® 
Bruchſtück, ift Lappenwerk und Eitelfeit; es gibt nur Demuth oder 
Stolz. Daß Goethe den ihn entgegenftehenden Pol haft, ift natür- 
id, und warum wollte der Chrift nicht einen vollen Feind lieber 
fih gegenüber haben als zehn hinkende Schwaͤtzer? Es verſuche nur 
einer ehrlich, ein Goethe'ſcher Heide zu werden und wirklich auf eig- 
nen Füßen zu ftehen, — das wird ihm Arbeit genug foften und dem 
Chriſtenthum viele Profelgten zuführen. Freilich ich habe über mein 
Lob des Goethe'ſchen Werkes eine tüchtige Lection von der Gräfin 
Zuife erhalten, aber indem fie fih auf Reinhold beruft, beweiſt fie 
- felbft, wie ſehr ich Recht, fie Unrecht hat. | 

Im Frühjahr 1805 verließ Jacobi Holftein, um fich nach Mün⸗ 
chen überzuſiedeln. Gott ſei mit Ihnen! ſchrieb ihm Perthes zum 
Abſchiede. Welchen Dank ſoll ich Ihnen, der Sie meine Entwickelung 
beſtimmten, ſagen! Sie haben mich die Ueberzeugung, die religiöfe 
Gewißheit, die ich jest in mir habe und in Ewigkeit haben werde, 
gewinnen laffen, indem Sie mir die Ueberzeugung aufdrängten, daß 
Eie, ih muß Ihnen das fagen, nicht fanden und nicht finden, was 
Sie fuhen. Kein anderer ald Sie hätte mid) von der Nichtigkeit des 
Eignen überzeugen fönnen, aber was Sie mit Ihrem Herzen und 
mit Ihrem Kopfe nicht fallen, nicht erhalten und halten konnten, 
dad mußte auf anderem Wege ald auf dem Jhrigen zu ſuchen 
fein. 2eben Sie wohl! Gott fegne Ihre Wege und alle®, was 
Sie thun! | 

Unter Mühen und Aengſten hatte Perthes nach langen Irr⸗ und 
Abwegen die chriſtlichen Heilswahrheiten gewonnen, nun aber auch 
gewonnen als ein Stück des eignen Lebens. Freilich fie bildeten we⸗ 


122 


der damald noch fpäter die alleinige und lange nicht immer die 
herrſchende Macht in ihm; oftmals vielmehr brach fi) durch fie hin⸗ 
durch der natürliche Menſch in Leid und Luft, im Sorgen und Schafe 
fen mit ungejtümer Gewalt feine Bahnen. Aber verloren gegangen 
find fie ihm niemald wieder, und als er viele Jahre fpäter im An- 
gefihte des Todes ftand, füllten fie feine ganze Seele aus und nah: 
men dem Tode feinen Stachel. 


Zweites Bud, 


— — — 


Die Zeit der Napoleoniſchen Herrſchaft 
in Deutſchland. 


1805— 1814. 





Die Eindrüäde der Jahre 
1805 und 1806. 





Als im Jahre 1803 die Reichsdeputation zu Regensburg die ſchwä⸗ 
cheren deutſchen Territorien maſſenweiſe unter die ftärfern vertheilte, 
war e8 Hamburg gelungen, feine Selbftändigfeit ald Reichsſtadt zu 
retten. Aber den Gewaltthaten Napoleon's und der Nichtigkeit des 
Reichszuſammenhanges gegenüber war e8 gewiß, daß Hamburg, wenn 
e8 eine Zukunft haben follte, diefelbe nur durch feine eigene politifche 
Klugheit und Kraft finden fönnte, und dennoch war von einem poli- 
tifchen Leben innerhalb der freien Reicheftadt wenig zu fpüren. Die 
Erftarrung aller ftaatlichen Zuftände, die auf ganz Deutfchland la⸗ 
fiete, hatte auch den Rath und die einft derb übermüthige Bürger- 
[haft erfaßt. Sorglos und gleichgiltig überliegen die Bürger dem 
einft mistrauifch und eiferfüchtig betrachteten Rath das Regiment der 
Stadt, und nur die Berpflichteten, nicht die Berechtigten, fanden fich 
in den bürgerfchaftlichen Collegien ein, welche den Senat überwachen 
und das Feld für die politifche Thätigkeit der Bürger fein follten. 
Bequem freilich für Obrigkeit wie für Untertanen war die Regie- 
rungsart des vorigen Jahrhunderts; aber dem Rath jo wenig wie 
der Bürgerfchaft konnte fie Kraft, Muth und Gefchid verleihen, in . 
bedeutenden Zeiten mit entſchloſſener Selbtändigfeit zu handeln, und 
ein Mann, deffen Auge und Herz für die großen Weltereigniffe nicht 


verfehloffen war, konnte unmöglich dem unbelebten reichöftädtifchen 


Gemeinweſen eine lebendige politifche Iheilnahme zuwenden. | 
Perthe3 war bei dem Ausbruche der Revolution fiebenzehn Jahre 
alt gewefen und hatte die Begeifterung feiner Zeitgenofien für den 


126 


Kampf gegen da3 altfranzöfifhe Königthum getheilt. Sobald aber 
der Krieg Frankreichs gegen das deutiche Reich ausbrach, ftand er 
anderd als die meiften andern mit feinem Herzen auf deutfcher Seite. 
Nicht in Deftreih oder in Preußen oder in einem andern der größern 
deutfchen Territorien, welche die wenigſtens ſcheinbare Möglichkeit be- 
fagen, auf fich felbft beruhen zu können, war während ded vorigen 
Sahrhundert3 ein Neichdgefühl zu finden, aber in den Heinen Graf» 
fhaften und Fürftenthümern hörte man wohl den römifchen Kaifer 
noch „unfern Kaiſer“ nennen und in den Gemüthern lebte das Bes 
wußtfein de? Reichszuſammenhanges, zwar nicht als politifhe Kraft 
und friſches Leben, aber doch als eine überlieferte politifche Gewohn⸗ 
beit fort. Perthes, in einem folhen Kleinen Territorium groß gewor⸗ 
den, hatte aus feinen Knabenjahren ein faiferlich gefinntes Herz mit- 
gebracht, und fobald fein Kaifer, ſobald das deutfche Reich von den 
Franzoſen befriegt und bedrängt ward, wurde er ein Feind der Fran- 
ofen. In Hamburg, welches die Grundlagen feiner Bedeutung aus 
Berhalb Deutichland fuchte und fand, trat der Form wie dem Wefen 
nad ein Zufammenhang mit dem Reiche nur in geringem Grade her- 
vor; aber ed war doch auch Feine widerdeutfche Stimmung vorhan⸗ 
den, welche übermwältigenden Einfluß auf die einzelnen hätte üben 
tönnen, und die frühere Hinneigung zu der franzöfifchen Republit 
war längft dem nahen, auf dem Intereſſe des Lebens ruhenden Zu- 
fammenhange mit England gewichen. 

Perthes hatte, obgleich das Leben der bedeutenden Menſchen, 
mit denen er zufammengeführt war, eine vorwiegend religiöjfe Natur 
an fih trug, dennoch einen lebendigen politifhen Sinn entwidelt. 
Da er feine Anhänglichkeit an beftimmte politifche Richtungen und 
Lehren fannte, über deren Sieg er ſich felbft dann gefreut haben 
würde, wenn berfelbe von den Feinden unferes Volfed und auf Ko« 
ften unfere® Volkes erfochten worden wäre, fo blieb feinen politifchen 
MWünfchen, Hoffnungen und Befürchtungen alles Allgemeine, Unbes 
ftimmte und Iheoretifche fremd. Da er von Haus aus Taiferlih ge 
finnt war und die Verhältniffe der Stadt, in der er fih befand, nicht 
geeignet waren, zu einem kleinlichen Aufgeben in denfelben zu ver- 

führen, fo blieb er frei von dem befchränkten und engherzigen Eifer 


127 


für einen einzelnen, au® dem Zufammenhange mit dem ganzen 
Deutfchland herausgerifjenen Theil unfered Vaterlanded. Seine po⸗ 
litifhe Gefinnung war eine deutfche im Gegenſatz nicht nur zu dem 
Kosmopolitismus, welcher die Geltung der politifchen Lehrſätze höher 
ftellt ald die der Nationalitäten, fondern auch zu dem Xocal« oder 
Zerritorialpatriotianus, welcher den Wald yor Bäumen nicht ſehen 
kann. 

Das Schickſal Hamburgs, ſo nahe es auch ſeinem Herzen lag, 
trat dem Schickſal Deutſchlands gegenüber in den Hintergrund und 
nur durch Deutſchland war, das ſah er deutlich, Rettung für deſſen 
einzelne Beſtandtheile möglich. Sein ſehnlicher Wunſch war daher, 
ſich eine Einfiht in die großen politiſchen Verhältniſſe zu gewinnen, 
und die Lebenslage, in welcher er fich befand, war auch in diefer Be- 
ziehung ihm günftig. Schon früher hatte es ihm nicht an Berührun- 
gen mit Männern gefehlt, welche die europäischen Verhältniſſe aus 
eigner Anſchauung kannten. Der mehrjährige tägliche Umgang mit 
Schönborn machte ihn mit den innern Zuftänden Englands und mit 
deffen Stellung zu der Lage des Feſtlandes bekannt. Bielfaches Zu- 
fammentreffen mit Baggefen gab ihm manchen erwünfchten Aufſchluß 
über das politifche Gewirre in Paris. Der dänifche Dichten Bagger 
fen, fehrieb er 1806, der fich mehrere Jahre in Paris herumtrieb, in 
alten und neuen Revolutiond- und Regierungszirkeln, hat mir gar 
vieled und merkwürdiges über Frankreich mitgetheilt. So wenig ih 
in manchem Betracht den Farben traue, die diefer prismatifche Menfch 
fpielt, fo gewiß hat er doch politifch einen prophetifchen Blid echt gei- 
füiger Natur. — Tiefer wurde Perthed durch einige andere Männer, 
die fich längere Zeit in Hamburg aufhielten, in die innern Zuftände 
Frankreichs eingeführt. 

Reinhard, der Sohn des würtembergifchen Pfarrerö, der frühere 
Candidat der Theologie und fpätere Graf, war bid 1798 Gefchäftd- 
träger der franzöfifchen Republif in Hamburg gewefen und ala Schwie⸗ 
geriohn von Reimarus und Schwager von Sieveling in den Kreifen. 
zu Haufe, in welchen auch Perthes Zutritt hatte. Im Jahre 1799 
zwar hatte Reinhard Hamburg verlaflen, um ald Commifjär feiner 
Regierung die neue Berwaltung in Toscana anzuordnen. Dann wurde 


128 


er vom Directorium an Talleyrand’3 Stelle zum Minifter der aud- 
wärtigen Angelegenheiten ernannt, fehrte aber, nachdem er nur furze 
Zeit dieſes Amt bekleidet, ald Gefandter bei dem niederſächſiſchen 
Kreiſe nach Hamburg zurück, wo er blieb, bis ihn im Mai 1805 
Bourrienne erfeßte. Perthed war in vielfache Berührung mit Reinhard 
gefommen und hatte feinen Blid dur die Gefpräche mit dem red- 
lihen und in den politifchen Berhältniffen erfahrenen Manne erwei⸗ 
tert, aber perfönlich näher ftanden ihm zwei Sranzofen, welche Sinn 
und Herz für deutfched Wefen hatten, Matthieu Dumas nemlich und 
Billerd. Dumas war tief in der Revolution verflochten gewefen: 
1789 hatte er an Lafayette's Seite die Nationalgarde errichtet, 1792 
gehörte er zu den bedeutendften Wortführern der Feuillantd und bes 
fehligte die gefammte bewaffnete Macht, welche des Könige Rüdkehr 
nach deſſen Flucht fichern follte, 1796 nahm er eine hervorragende 
Stellung im Rathe der Alten ein und 1797 entfloh er, in Folge der 
Umwälzung des 18. Fructidor zur Deportation verurtheilt, nach Ham⸗ 
burg, wo er unter dem Namen General Funk lebte. Er ſchloß fi) 
mit großer Liebe an Claudius, Klopftod, Jacobi, Stolberg, Revent⸗ 
low an und fühlte bei Perthes ſich wie ein Hausgenoſſe heimiſch. 


Grade und treuherzig in feinem Wefen, unabhängig in feinem wi 


fenfhaftlihen Streben und in feinem Aeuperen einem Deutfchen ähn- 
li, blieb er dennod) dur und durch Franzoſe. C’est un maitre- 
homme, pflegte er damals bewundernd von Rapoleon zu fagen, und 
am 29. Juli 1830 erfhien er, ein faft achtzigjähriger Greis, in der 
Uniform der Rationalgarde mitten unter den Sulifämpfern. Der 
deutfchen Sprache hatte er fich, wie feine fpätern Briefe an Perthes 
bezeugen, in hohem Grade bemädhtigt, und. die Anhänglichfeit an feine 
alten Freunde hatte er auch 1812-nodh bewahrt, ald er ald General 
und Intendant der großen Armee durch Deutfchland zog. 

In einem weit näheren Verhältnis ald Dumas ftand Villers 
zu Deutfchland. Der franzöftfche Artilleriehauptmann von 1792 hatte 
fih 1796 in die Reihe der Göttinger Studenten aufnehmen lafjen 
und fi) deutfche Wiffenfihaft und deutfche Bildung in einem auch 
unter Deutfchen nicht gewöhnlichen Grade angeeignet. Obgleich ihn 
feine äußeren Gründe von Frankreich ferne hielten, konnte er es den- 


129 


noch nicht über fich gewinnen, Deutfchland wieder zu verlaſſen. Seine 
politifche Theilnahme wendete fih, nachdem er feit 1797 feinen dauern⸗ 
den Wohnfig in Zübee genommen hatte, vorzüglich den Hanfeftädten 
zu, deren Stellung ihn vielfach befchäftigte, und deren Unabhän- 
gigfeit er für Deutfchland und Europa von hoher Bedeutung hielt. 
Manches haben die Städte feinen in Paris nicht einflußlofen Berwen- 
dungen zu verdanken, und in damaliger wie in fpäterer Zeit lafjen 
fih in Perthes' Anfichten über Die Stellung der Städte manche, durch 
vielfachen fchriftlihen und mündlichen Verkehr vermittelte Einflüffe 
Villers' erkennen. 

So anregend und bildend auch die Berührungen mit Reinhard, 
Billerd, Dumas und andern mehr oder minder bedeutenden Franzo—⸗ 
jen, weiche jich vorübergehend in Hamburg aufbielten, für Perthes 
waren, fehnte er ſich dennoch nach einem lebendigen Zufammenhange 
mit Männern, die nicht nur feinen politifchen Blid erweiterten, ſon⸗ 
dern auch feine politifche Gefinnung theilen und derfelben durch die 
Gemeinfhaft des Hoffend und Fuͤrchtens, des Duldens und Strebens 
immer neue Wärme, Klarheit und Kraft zuführen fonnten. Politiſche 
Gemeinschaft zu finden und zu bewahren, war damals nicht fo ſchwer, 
wie in fpätern Zeiten; denn nur zwei Parteien fanden fih in unferm 
Bolfe: eine Heine, welche gegen Napoleon, und eine große, welche 
durch Napoleon dad politifche Heil erringen wollte. Alle, welche 
Frankreich gegenüber die innere Selbftändigkeit des deutichen Volkes 
um jeden Preis zu erhalten. und die äußere Selbftändigkeit um jeden 
Preis wieder zu gewinnen fuchten, fühlten fi) politifh eins; und all 
das Berlangen nach diefer oder jener beſtimmten Geftalt der deutſchen 
politifhen Zukunft, welches fpäter die früher einigen Männer weit 
auseinander führte, war Damals durch die Sehnfucht nach Befreiung 
von Napoleon's Herrfhaft in den Hintergrund gedrängt. Unter den 
vielen deutſch gefinnten Männern, mit welchen Perthes in den Jahren 
nad) dem Reichddeputationshauptichluß von 1803 Gemeinfchaft hielt, 
gewannen vor allen andern Johannes von Müller und Niebuhr Be⸗ 
deutung für feine innere politifche Ausbildung. 

Johannes von Müller war 1804 als preußifcher Hiftoriograph 


von Wien nad) Berlin gegangen und ſetzte, damals im engften Verein 
Perthes’ Lchen. 1. 4. Aufl. 9 


130 


mit Gentz, alle ſeine Kraͤfte daran, die Schwierigkeiten beſeitigen zu 
helfen, welche das entſchloſſene und vereinte Auftreten Oeſtreichs und 
Preußens verhinderten. Zugleich war Müller unabläſſig bemüht, 
durch kuͤhne und kraͤftige Aufſaͤtze das Nationalgefühl der Deutſchen 
und den Grimm gegen deren Dränger anzuregen und zu ſtählen. 
Bon einem folchen Aufſatze nahm Perthed Beranlaffung, fi) warm 
und zutrauendvoll an ihn zu wenden. In diefer Zeit muß fich, ſchloß 
Perthes feinen erften, im Auguft 1805 gefchriebenen Brief an Müller, 
alt und jung, rei und arm, ſtark und ſchwach, wer nur das Ba- 
terland, die Freiheit, Ordnung und Gefeg liebt, zufammenhalten. — 
Dank, edeldenfender Mann, für Ihre Zufchrift, entgegnete Müller. 
Es ift Labſal, folche deutſche Gefühle zu finden ; ohne Sie gefehen zu 
haben, wurde ih Ihr Freund. Die Zeit ift da, wo alle Gleichgefinn- 
ten fi einander brüderlich anfchließen müffen in dem Werke der Ra- 
tionalrettung. Hierfür nur hat für mich das Leben noch Reiz. Es 
ift eine innere Sprache, eine unfihtbare Verbrüderung der Gleichges 
finnten, die bei jedem Worte fih erkennt. Diefe Berbrüderung, wozu 
Sie, mein Freund, gehören, ift das Salg der Erde; wer da fich zu⸗ 
fammenfindet, ift Bruder und Freund, mehr als mit vielen, bie er 
lebendlänglich gefehen. — Aus diefer erften fchriftlichen Begegnung 
beider Männer entftand ein für dad Verftändnid der Gefinnungen in 
ben Jahren 1806, 1807 und 1808 überaus merkwürdiger Briefwech- 
fel, von dem ein Theil fpäter gedruckt worden ift. Oftern 1806 ging 
Perthes zu Müller nah Berlin, im Herbfte desfelben Jahres kam 
Müller zu Perthes nad) Hamburg. Es ift etwas anderes, ſchrieb 
Perthes über diefed perfönliche Zufammenfommen an Dtüller, es ift 
etwas anderes Die Achtung vor dem großen Geift, dem fräftigen 
Mann, dem gradsoffnen Freund in Briefen, und etwas andere? dad _ 
anhaͤngliche, liebehegende Gefühl an die Perſon, an den Menſchen. 
Seit ih Sie fah, koͤnnen Sie an biefed Gefühl in mir glauben. Ich 
für meinen Theil mache keinen Anſpruch, ala dag Sie willen, daß mir 
ein Träftiges, Tebendiged Herz im Bufen fihlägt und daß ich weiß, 
was an der Zeit ift. 

Zangfamer aber tiefer als mit Müller, hatte fi für Perthes 
ein nahes Verhaältnis mit Niebuhr gebildet. Niebuhr war in den 


131 


Kreifen, in welchen Berthes ſich bewegte, lange jchon befannt. Den 
Sommer 1792 hatte er als fechzehnjähriger FJüngling in Hamburg 
bei Bülch zugebracht und Klopftiod, Reimarus, Sieveling kennen ge 
lernt; in den Jahren 1794 bis 1796 hatte er in Kiel fludiert und in 
naben Berbindungen mit den Stolbergd, mit Reinhold, Jacobi und 
vor allem mit Moltke geitanden. | 

Als er ſich vor feiner Abreife nad) England im Frühjahr 1798 
einige Zeit in Hamburg aufhielt und Perthes durch Jacobi und Clau⸗ 
dius perfönlich kennen lernte, entitand zwifchen beiden an Jahren nur 
wenig verfchiedenen Männern die Freundichaft, welche bis zu Niebuhr's 
Tode an Wärme, Stärke und Innigkeit zunahm, obſchon fie einmal 
unheilbar, wie es fheinen konnte, unterbrochen worden war. Die 
feltne, beiden Männern genieinfame Wahrheit des ganzen Weſens 
bielt fie feſt aneinander: Perthes fühlte fih unauflöslich an den edlen 
Sinn und an da8 reihe Gemüth des gropen Mannes gebunden, den 
er auch gegen dritte nicht leicht ander? als „meinen lieben Niebuhr” 
nannte, und Niebuhr war von tiefer Achtung erfüllt vor der herrlichen 
Kraft, wie er ſich ausdrüdte, und vor der männlichen Lebenstüchtigkeit 
des ungelehrten Freunded. Dem Gefchäftdinanne, welchem wilfen- 
fhaftlihe Bildung fehlte, legte Niebuhr 1811 den eriten Band feiner 
römischen Sefchichte mit den Worten vor: Gerne möchte ich ohne Rüd- 
halt gefagt willen, wie Sie mit meinem Buche zufrieden find. Eine 
gelehrte Beurtheilung verlange ich nicht, aber wern die Grundzüge 
Ihnen gefielen, würde ed mich fehr freuen. In einigen Punkten, 
fcheint e8 mir, werden: wir nicht einig fein, und in anderen troß der 
Maſſe des Publicums fehr. — Auf Perthes’ einige Monate fpäter 
erfolgte Antwort entgegnete Niebuhr: Ihr Urtheil über den erften 
Band meined Werkes hat mir unbefchreiblih wohlgethan. Rehmen 
Sie es nicht ald ein zu viel fagended Kompliment, wenn ich fage, daß 
neben Goethes Zub Ihr Gefühl mir genügt, wenn auch öffentlich fehr 
. feindjelige Stimmen fich Hören laſſen follten, wie man fie namentlich 
aus Göttingen erwarten kann. — Niebuhr's überlegener Geift und 
eine gewiſſe Schärfe, welche nicht felten die Weichheit feine Gemüthes 
plötzlich durchbrach, hatte, felbit für ehr bedeutende Männer, etwas 
drüdended. Um jo mehr fiel noch in fpäterer Zeit dritten die Freiheit 


9* 





132 


des Geifted und die Umbefangenheit auf, mit welcher ſich Perthes Nie- 
buhr gegenüber im perfönlichen Verkehr bewegte. Diefe Unbefangen- 
heit, welche Perthes auch im Verkehr mit andern bedeutenden Män- 
nern nie verlor, lag theild in feiner Stellung begründet, theild in dem 
Bewußtſein, nicht mehr gelten zu wollen, ald er war. Konnte doch 
feinem Berufe und feinem ganzen Lebendgange nad) niemand die An- 
forderung gelehrten Wiſſens oder ftaatemännifcher Durchbildung an 
ihn ftellen, und demungeachtet durfte er das Gefühl haben, auch et- 
was zu fein und zu bedeuten. In einem Briefe an Johannes Mül- 
fer drüdte er ſelbſt fich in folgender Weife hierüber aus: Ich weiß, wer 
und was ich bin, und eile immer, nicht meine Unwiſſenheit zu ver- 
bergen, fondent fie zu offenbaren, damit nicht Zeit verdorben werde. 
Halten Sie diefe Befcheidenheit aber auich nicht für zu groß; denn ob 
ih wohl weiß, daß ich nichts weis, fo weiß ich doch auch, daß ich 
viel kann. 

Im lebendigen Verkehr mit Niebuhr und mit Müller durchlebte 
Perthes die beiden fchredlichen Jahre 1805 und 1806. Die meiften 
Briefe aus diefer Zeit find zwar verloren und die feit der Echlacht von 
Jena gefchriebenen verrathen den Drud, welchen die Späherkunft der 
Franzoſen dem fchriftlichen Verkehr auflegte; aber dennoch läßt ſich 
aus dem Erhaltenen die politifche Richtung erkennen, welche Perthes 
verfolgte. Mit bitterm Unwillen und tiefem Schmerz fah er die ftumpfe 
Gleichgiltigkeit, in welcher Männer, die den Stolz unſeres Volles aud- 
machten, ſich nach dem Lüneviller Frieden und dem Regensburger 
Hauptſchluß abſchloſſen gegen das grenzenlofe Leiden Deutfchlands und 
gegen den frevelnden Uebermuth der Peiniger. Mit Grimm wurde 
er erfüllt, ald um diefe Zeit Goethe's Eugenie erſchien. Scham, glü- 
hende Scham über die Zerreigung unjered Vaterlandes, fehrieb er 1804 
an Jacobi, follte und müßte unfere Herzen foltern, aber was thun 
unjere Edelften? Statt fi) zu waffnen durch Rährung der Scham 
und fih Kraft, Muth und Zorn zu fammeln, entfliehen fie ihrem. 
eigenen Gefühl und machen Kunftftüde. So wenig aber Rettung für 
einen Sünder zu hoffen ift, der, um die Reue nicht zu fühlen, Karten 
fpielt, fo wenig wird unfer Volk, wenn feine Beften fo ſich betäuben, 
dern Schidjal entgehen, ein verlaufened, über die Erde zeritreutes 


133° 


Gefindel ohne Vaterland zu werden. — Eine neue Hoffnung der 
Rettung tauchte auf, ala im Sommer 1805 die Gerüchte von einer 
Bereinigung England®, Rußlands und Oeſtreichs fich verbreiteten. 
Mit Entfepen ſah PBerthed, tie die politifchen Wortführer Deutfch- 
lands fih auf Napoleon's Seite gegen England ftellten und das Belt 
durch die am meiften gelefenen Zeitfehriften bearbeiteten. Aus Schlech- 
tigkeit, Dummheit und Angjt oder fürd Geld reden unfere Yournali- 
ften, ich nenne nur Woltmann, Archenholz, Voß und Buchholz, dem 
Tyrannen und der großen Nation dad Wort, fchrieb er Damals und 
machte in einem Brief vom 25. Auguft an Müller feinem beflommenen 
Herzen Luft. Ihr Brief, beißt ed, hat mich bei der tiefen Rührung, 
mit welcher er mich erfüllt, betrübt! Wenn ſolche Männer an un 
fern Zeiten verzagen, — was dann? Ich bin nicht fo hoffnungslos 
und gerade in der lebten Zeit wächſt mein Muth. Freilich bin ich jung, 
von der Geſchichte nicht unterrichtet! Sie ſchließen folgerecht von dem 
Alten auf das Reue und geben darum auf. Aber wurde nicht jedes 
Bolt, ehe Einheit in ihm entfland, ftet3 erft bereitet zum Empfang bes 
Führers, des Retters, des Meffiad? Eine folche Bereitung, dünkt mich, 
ift unter uns fehr bemerfdar. Ein Schmachten, Sehnen, Greifen 
nach einem Haltungspunkt ift allgemein. Vieles ift auch ſchon wegge⸗ 
räumt — daß ich nur anführe: die Endſchaft der papiernen Zeit. 
Noch zwanzig Jahre folcher Buhlerei mit der Kiteratur, folcher Ber- 
hätfchelung geiftiger Bildung, foldher Krämerei mit belletriftifhem Lu⸗ 
Jus — und wir hätten ein siecle litteraire erlebt, abgeſchmackter al? 
das unferer Nachbarn. Sept fühlt jeder der Jüngeren, daß dad Va⸗ 
terland nicht zum Dienfte der Wiffenfchaft da ift, fondern umgekehrt. 
Wie viele find jetzt nicht ſchon überzeugt, dag Kraft und Tugend nicht 
aus moralifchen Grundfägen erwachſen, fondern einen ganz andern 
Boden haben! Wie dringt e3 jet in die Menfchen, daß die Liebe und 
freie Sorge für ihre Hütte und was dazu gehört mehr ift, als eine 
allgemeine Umfaflung ; daß berzvoller, vielleicht leidenſchaftlicher Pa⸗ 
triotismus befjer fei, als kalter Kosmopolitismus! Und felbit auch die 
Religion — obwohl durch den zu lange berrfchenden Misbrauch theo- 
logifcher Sagungen der Unglaube und die Gleichgiltigkeit tiefe Wur- 
jel gefhlagen haben, — fie, die Religion, veird immer wet wet- 


134 


mißt! Freilich ed muß noch ein Zeichen geſchehen, ehe Land und’ 
Bolk wieder einen Glauben haben werben, aber viele, viele find doch 
ſchon übel daran, möchten geme beten, und beten, um es zu fönnen. 
Waren bei unfern Nachbarn entgegengefegt- nicht eben folche Zeichen, 
ehe Beeljebub kam und fie zu einer gewaltigen Heerihar feſſelte? 
Mir büsen die Sünden unferer Bäter; die beiden legten Generationer 
arbeiteten und mit einem unglaublichen Reichtfinn nach dem Abgrunde 
bin! Muß dad Herz und nicht deshalb ſchon groß werden, daß wir 
grade in der fehlimmiten Zeit eben? Iſt auch die Schweiz gefallen, 
noch find Sie nicht ohne. Vaterland, noch ftehen die Deutfchen; de⸗ 
nen gehören Sie an und werden von Ihnen erfannt. Lind feheint es 
Ihnen nicht bedeutungsvoll, daß die Schweiz, getrennt vom deutfchen 
Reich, Jahrhunderte neben dentfelben ftand und nun, da das Reich 
aufgelöft ift, auch zertrümmert wird? Sollte man es nicht als ein 
neues Bundeszeichen anjehen? Das Wie? — ich erwarte einen Be= 
geifterten. Berzeihen Sie mir mein Lallen, ich kann es nicht befier 
heraudbringen ; was darinnen ift, ift gut. 

Auch in einem. Brief an Reimer in Berlin fprach Perthes feine 
damalige Hoffnung auf die Erfcheinung eines großen deutfchen Helden 
aus. 3 ift wahr, fchrieb er, mir find hier unferer mehrere, die einen 
feften Glauben und eine innige Liebe treu in der Bruft bewahren, und 
wir meinen, daß, wer fi fo ftil hält, auch raſch und ernit au? 
fich heraus handeln und wirken fann, wenn ed Noth thut. Aber, 
lieber Reimer, Menſchliches Hilft in ſolchen Zeitläuften nicht mehr; - 
ed muß eine höhere Erfcheinung auftreten, an die fich alled Salz der 
Erde anfchließen Tann. — Bald langte von Johanned Müller eine 
Antwort an: Den Eindrud Ihres Briefe, heißt es in derfelben, kann 
ih Ihnen nicht genug fihildern. Sie betrachten, was wir fehen, ald 
eine Vorbereitung zum Beſſeren. Ich wünſche ed, aber was hat ein 
ungeheures Weltreich voll Raubſucht, Hohn und Eitelkeit je gebeſſert? 
Die kalte Hand des Todes ift fein Scepter; Humanttät und Wiſſen⸗ 
ſchaft fterben von feiner Berührung. Doc e3 ift ein hochfinniges 
Wort, welches Sie ausſprechen: Müffen wir nicht fhon darum und 
groß fühlen, weil wir in der fchlimmften Zeit leben? Sie find ein 
Mann von feltener Seele, ih liebe Eie fehr. 


135 


Wenige Wochen, nachdem Perthes jenen Brief gefchrieben hatte, 
war Deftreich,, ed wußte felbft nicht wie, mit Rußland verbändet und 
in den Kampf gegen Rapoleon verwidelt, und ſchon am 20. October 
überlieferte der öftreichifche Herrführer fein ganzes herrliches Heer den 
Franzoſen. | | 

Mein lieber Bruder, — fchrieb Perthes im Rovember 1805 an ben 
Sohn jeines väterlihen Freundes, den Medicinaltath Jacobi, welcher, 
mit Claudius’ jüngerer Tochter, Anna, verbeirathet, fih im Früb- 
jahr 1805 aus Holftein nach München übergefiedelt hatte, — mein lieber 
Bruder, kaum ein halb Jahr find wir getrennt und eine Welt von 
Begebenheiten liegt zwifchen und. ch fann bei Dir darauf rechnen, 
Daß die Gedanken und die Empfindungen, bie jie erregten, daß der 
brennende Schmerz, die quälende Unruhe, die Angft und Scham, die 
mich umbertreiben, Dir nicht fremd find. Wir verfiehen und, Gott 
fei gedankt! aud ohne Worte, die im Briefe nicht ftehen dürfen. 
Sept freilich muß jeder von ung, der fich fühlt, ftille ftehen in aufmerf- 
famer Betrachtung der Krifid, Die zu ſtark und groß ift, um nicht bald 
abzulaufen, aber wenn fie abgelaufen ift, was fehe ich dann zu thun 
vor und, fei es im Zuftand der Freiheit oder der Knechtſchaft? Ich 
weiß Dir , mein geliebter Bruder, feinen beſſern Troſt für Deine und 
für unfere Lage zu geben, als den, daß feiter Borjag, Trieb zu wir- 
fen und Ausführung des Borgefepten und auch die härtefte Schmach, 
die wir nicht abwenden können, mit Muth erdulden läßt. ch hatte 
- Dir fo vieled auf Deinen lieben Brief zu antworten, aber das alles 
ift dahin. Aufrichtig zu fagen, ich habe nur einen Gedanken und nur 
den halte: ich feit und hoffe, alle andere, was mir noch durch den 
Kopf geht, bei Seite zu bringen. 

Nah dem unbheilvollen Tage von Ulm fchien alled verloren, 
wenn Preußen in feiner Unentfchloffenheit verharrte, vieled gewonnen, 
wenn Preußen feine Heere mit denen Rußlands vereinte und Napoleon 
entgegenftellte. Was müffen wir erleben, fchrieb Perthes an Müller, 
welche Schmach, welche Berhöhnung, welche Herabwürdigung fteht 
Deutichland, fteht den Völkern und der Welt bevor, und Doch, welche 
Momente bietet die Borfehung den Menſchen dar, die Macht haben! 
Preußen kann Oeſtreichs Retter werden, und muß ed werden, bei 


136 


Gefahr des eigenen Verderbens. Mann, der Sie von fidh fehreiben: 
„Sch gehöre einer weit älteren Zeit an, gehören Sie ihr wirflih an? - 
In alten Zeiten war der Gefchichtfchreiber feines Volkes zugleich der 
Nathgeber, oft auch der Führer feined Volles. Für Sie, der Sie 
bisher durch Schrift Die Herzen für das Vaterland gewannen, ift ed 
jest an der Zeit, dur Wort, Gegenwart und Geift zu wirken. Ge⸗ 
ben Sie hin zu Preußens König und fagen Sie ihm, was er, ein 
Deutfcher, für Deutſchlands Rettung thun kann. Umfonft ift Preu- 
pen nicht auf dieſe Spipe geftellt. Hebt Preußen Deutſchlands Pa- 
nier auf, fo ſchließen alle fi) an und geben jetzt gerne ihre geliebte 
Unabhängigfeit theilweife hin, um nur endlich der Gefahr ald Nation 
in® Auge zu fehen und nicht Knechte eined Volkes zu werden, welches 
fich als Verftandesmafchine von der Fauft des einen gebrauchen läßt, 
- der alles in der Welt gleich niedrig zu machen ftrebt. Sollen Sie, 
der Hiftoriograph, nur hinter fich fehen? Nie war ein Mann fo hoch 
auf feiner Stelle wie Sie! Für Sie kann es feine Urfache geben zur 
Abhaltung von dem, was man nicht laſſen fol. Die Ausficht des 
Bergeblichen und fomit die Ausficht, etwas Lächerliched zu thun, ift 
nichts! und weiß der Menfch, was in dem Menfchen ift, das erweckt 
werden kann? Ych bin es nicht, der Sie ruft; Deutfchland ruft. 
Kennten Sie unfere Stadt, es würde Sie begeiftern, und alle Deut« 
fchen fühlen jet wie wir. Diefe Stunde ift einzig groß; fie kommt 
nicht wieder. -— Muthlos werde ich nicht, fehrieb er kurz darauf, und 
will es nicht werden. Nie wird ed an freien deutfchen Männern fehlen 
und Gott wird für dad Weitere forgen. 

Am 2. December war die Schlacht bei Aufterlig gefchlagen und 
am 26. December 1805 der unglüdliche Frieden zu Presburg geichlof- 
fen. Baiern und Würtemberg hatten den Königstitel angenommen. 
E8 wurde unzweifelhaft, daß Preußen durch feinen Unterhändler 
Haugmwig fi tief mit Napoleon eingelaffen habe, und ſchon im Ja—⸗ 
nuar 1806 befegten preußifche Truppen die hannöverifchen Lande und 
fperrten die Elbe gegen England. Nach dem, was wir nun gejehen 
und erlebt haben, fchrieb Perthed am 12. Januar 1806 an Müller, 
hatten Sie freilich vollfommen Recht, nicht zu fprechen, und wahrlich 
auch ich will lieber zwiſchen den Zähnen des Gewaltigen frifeh bluten, 


137 


als der Mabenfraß eines verfaulten Körpers fein. Auch mid) wan⸗ 
delt die Luft an zu gehen, ohne mich umzuſehen. Aber haben wir 
auch alles gethan, was wir als freie Männer thun können? Was 
thaten die Sulioten alled, ehe fie fich zerftreuten? — Wie foll ih 
diefen Brief beginnen? fehrieb Perthe an demfelben Tage Jacobi 
nad München. Soll ih mit gebeugtem Sinn dem deutfchen Manne, 
dem alten Stimmhaber der Nation klagen über unfere Unterjohung 
durch Deftreih® Befiegung, über unfere Entehrung durch Preußens 
Selbftfucht, oder ſoll ich dem nun königlich gewordenen Geheimderath 
Glück wünfchen zu der Ehre, die ihm durch dad Königwerden feines 
Fürften widerfahren iſt? Wahrlich e8 wird den jubelnden neuen Kö- 
nigen ergeben, wie ed dem Fauſt erging: ald er mit dem Teufel ſich 
eingelaflen und A gejagt hatte, mußte er hernach auch B fagen. Wie 
Schade ift eg, daß der Heflenfürft dad Königsfleeblatt nicht voll ge- 
macht hat! Doch nicht? mehr davon, aber was der Groß - Größefte, 
der auch die Bibel feheint gelefen zu haben, dem Würtemberger Her- 
zog oder Kurfürft oder König gejagt, das gilt auch für und: Wer 
nicht für mich ift, der ift wider mid. 

Im Mai 1806 war Perthed, um Müller perfönlih kennen zu 
lernen, auf einige Tage nach Berlin gegangen. Ueber dad, was id) 
gefehen und gehört habe, fchrieb Perthed an Mar Jacobi, kann ih , 
Dir nichts mittheilen, es ift nicht geeignet für Briefe; aber mein Auf- 
enthalt war fehr intereffant. Den Tag vor meiner Ankunft hat man 
Graf Keller zum Conferenzminifter gemacht, weil Alopeus nicht mit 
Haugwitz eonferieren wollte, und am Tage meiner Ankunft warf man 
Haugwis die Fenfter ein. — Im Juli erfolgte die Stiftung des 
Rheinbundes und bald darauf ward das deutfche Reich auch der 
Form nad) aufgelöft. Die Weltbegebenheiten, fehrieb Müller an Per⸗ 
the3, find nun über alle politifche Berechnungdfraft erwachſen. Ges 
wöhnliches hilft nicht mehr, auch zeigt ſich nirgends ein Schein von 
‚Hilfe. Gott muß einen wegnehmen oder einen Größeren meden oder 
fonft etwas unvorhergefehene® herbeiführen. Zorn und Furcht find 
von mir gewichen. Die Scene wird zu feierlih. Der Alte der Tage 
figt zu Gericht, die Bücher werden aufgethan und die Nationen und 
ihre Kürften gewogen. Welches wird der Ausgang fein? Cine neue 





138 


Drdnung bereitet ſich vor, ganz etwas anderes, ald die ahnen, welche 
die blinden Werkzeuge find. Was ift, wird nicht bleiben, was war, 
ſchwerlich fo wiederlommen, und nicht darin wird der Unterſchied 
liegen, daß dort, wo ein italienifcher oder deuticher oder ſlaviſcher 
Schwächling herrſchte, nun ein Corſe herrſchen wird. 

Durch die Vernichtung des Reiches war Hamburg aus einer freien 
kaiſerlichen Stadt ein ſouveräner Staat geworden. Nur wenige deut⸗ 
ſche Männer, äußerte Perthes, weinten bei dem Untergange des 
Reiches; die meiften und unter ihnen fehr. Verfländige waren froh, 
der Audgaben für Wien und Regendburg überhoben zu fein, und 
glaubten, Hamburg bleibe Hamburg immerdar. — Blöglich in den 
erften Tagen des Auguft verbreiteten fi Gerüchte von einem nahen 
Kriege Preußen? gegen Frankreich. Wir halten über das neuefte Po- 
litiſche feit geftern hier die Köpfe hoch empor, fchrieb Perthed am 
15. Auguft an Müller, und wiffen faum, ob wir wachen oder träu- 
men. Halte ich mich an da3 Träumen, fo finde ich, alles natürlich. — 
Die Ausfihten um und werden immer dunkler, fehrieb er einige Wo⸗ 
. hen fpäter; ich bin nicht verzagt. Gott offenbart ſich immer zuerft 
durch Wunder, welche man fpäter ald Weisheit erfennt und endlich 
als natürlich begreift. — Gott Lob! ed wird Ernit, heißt e8 in ei 
nem Briefe aud der erften Hälfte des October. Der Herr der Heer 
ſcharen, der den Willen und den Eifer feiner Bölfer fieht und erforſcht, 
wird und helfen und beijtehen. Gent ift im Hauptquartier bei dem 
Grafen Haugwitz. D, daß ich meinen Kopf auf einen militärifchen 
Rumpf ſetzen könnte! 

Unmittelbar nach der Schlacht bei Jena hatte Mortier, während 
‚ Murat, Bernadotte und Soult Blücher nach Lübeck verfolgten, Han- 
nover befegt und rüdte am 19. November 1806 in Hamburg ein. 
Wie wehe wird Ihnen das Schidjal unferer Gegenden gethan haben, 
wie wehe das unferer Stadt, fchrieb Perthed an Iacobi. Zu wel 
chem Zwecke follte ich Ihnen das fehredliche Schickſal Lübecks ſchil⸗ 
dern. Schreckniſſe dieſer Art ſind nur nothwendige Folgen; iſt man 
über die Urſachen ins Reine, ſo trage jeder das Seine und es mache 
nicht einer den andern fürchten. Unſerer Stadt iſt von Kriegsunruhen 
nichts Arges widerfahren; die Einnahme ging friedlich ab und wurde 


139 


wie ein neue? Schaufpiel behandelt. In den Borftädten gab es eis 
nige Mordthaten, au etwa? der Art in der Stadt; doch waren Vor⸗ 
fälle diefer Art nur Privatangelegenheiten, die nicht erwähnt werden 
fönnen in Zeiten, in denen nur nad Maflen gerechnet wird. Meine 
Einquartierung beftand aus junger unverdorbener Mannſchaft aus 
dem Rhone-Departement, dann kamen italienifche Regimenter, denen 
das hiefige Klima befonders gut zufagte, doch haben wir fie fäntlich 
mit Mänteln fehr reichlich verforgen müffen. Diefe Sremdlinge be- 
fonderen Anfehen® haben uns feit geftern verlaffen und nun haben 
wir vollauf Holländer. Prächtig Volk! 

Bon allen Seiten liefen die fchredlichften Nachrichten ein. Die 
Vernichtung Preußen? fei gewiß, fchrieb Niebuhr aud Danzig, und 
auch nit ein Zug von Muth, Tapferkeit und Baterlandökiebe laſſe 
fi erzählen. Die Fehler, die wir machen, ſchrieb Scharnhorſt am 
11. Juni 1807, find der Art, daß nur ein Wunder und retten fann. 
Aus Berlin ſchrieb Müller die verzweiflungsvollen Worte: Sch ge- 
denfe der großen Seher alter Zeit, welche aus den Zeichen erfannt 
hatten, daß Gott etwas neued machen wolle. Die Augen hat Jere⸗ 
mia? ſich audgeweint, aber er fah, daß Aften und auch fein Volt dem 
babylonifchen Könige übergeben war, und er rieth, fi) darein zu 
ſchicken. Darüber vergaß er fein Volk und feine Grundgefühle. nicht. 
So find auch jetzt durch die Wunder des achtzehnhundertundfechäten 
Jahres die Nationen wie in dem Netz des Vogelftellerd gefangen; von 
Gadir bi8 Danzig, von Ragufa bis Hamburg und bald allerfeits ift 
alles empire francais — ob auf fiebenzig Jahre wie im babylonifchen, 
oder auf fiebenhundert Jahre wie im römifchen Reich, wer kann das 
wiſſen. 

In Hamburg ſelbſt wurde gleich nach dem Einrücken der Fran⸗ 
zoſen aller Verkehr mit England bei Todesſtrafe verboten, alles eng- 
liſche Eigenthum für verfallen erflärt, da® von Engländern gefaufte 
und bereit3 bezahlte Gut feinen Eigenthümern abgefordert und der 
Handel nur unter dem Zwange der Urfprungbefcheinigung geftattet. 
Was war, fchrieb Perthed an Jacobi, ift vernichtet; fein Handel, 
tie er biöher jemals betrieben ward, paßt in die neue Welt, die in 
Rapoleon's Rath befchloflen ift; das genialifche Decret gegen England 


140 


ift der Beweis für meine Anfiht. Wir find fchlimmer daran als alle 
anderen Städte, äußerte er gegen Müller, weil keine Stadt fo wie 
wir im regften Leben begriffen war, feine fo in dem Intereſſe des 
Welthandels fich befindet, der nun fo, wie er biäher geführt wurde, 
aufhören foll. — Für feine Perfon verlor Perthes alled, was er in 
zehn forgen» und arbeitvollen Jahren erworben hatte, weil weit und 
breit die Unmöglichkeit, Zahlungen zu leiften, eintrat. Allein in 
Medienburg berechnete er feinen Berluft zu zmwanzigtaufend Marf. 
Den Muth und die Hoffnung aber verlor er nicht. 


- Die Auffaſſung der Lage Denticlands in den Jahren 
1807 und 1808. 


In jenen Jahren des fchweren politiihen Drudes that fich für 
viele Menichen aufs neue die nicht von Staat und Bolt abgeleitete, 
fondern in ſich felbft ruhende Selbftändigfeit des Familienlebens fund. 
In alle Leiden und Freuden der Nation foll und muß die Familie 
zwar tief verflochten fein; aber fo wie fie demungeachtet in einer gro- 
gen und glüdlichen Zeit verfümmern kann, fo fann fie auch in einer 
erftorbenen und trübfeligen Zeit Kraft und Freude entwideln und 
Muth und Rüftigkeit zum Wirken nad) außen erzeugen. Je huff- 
nungsloſer Damals die politifche Gegenwart und Zukunft erfchien, um 
fo dankbarer erfannte Perthes die Größe der Gabe an, melde ihm 
in Caroline verliehen war. Frifh und Fräftig wuchfen die vier Kin- 
der heran und am 23. Sanuar 1806 wurde ihm aufs neue ein Sohn, 
Johannes, am 15. September 1807 eine Tochter, Dorothea, geſchenkt. 
Aber auch den Schmerz, der nur aus der Familie dem Menjchen er- 
waͤchſt, follte Perthes jegt zuerft erfahren, indem am 7. December 
1807 die jüngfte Tochter, Dorothea, ftarb. Liebe Mama, fchrich 
Garoline unmittelbar nad) dem Tode ded Kindes an ihre Mutter, 
Gott hat meinen Engel fanft und ruhig zu fi) genommen. Ich danke 
Gott, daß er mein Gebet erhört und mein liebed Kind ohne alle Qual 


141 


gerufen hat. Es fieht jo ruhig aus, daß man es mit ihm wer- 
den muß. 

Schwer hatte Perthes freilich in feinem Geſchaͤfte an den 'gro- 
pen Berluften des Jahres 1806 zu tragen ; aber die bewegte Zeit, in- 
dem fie viele Handlungdherren zu ängftlichem: Zaudern oder doch zu 
vorſichtiger Beſchränkung ihres Gefchäftes bewog, führte für ihn, der 
rafch und Ted einzugreifen nicht unterlaffen konnte, bald wieder einen 
jehr belebten und weit audgedehnten Betrieb feiner Handlung herbei. 
Niemand in Hamburg hat jept Gefchäfte, fchrieb er um diefe Zeit, 
die meinigen aber find größer ald je und werden bald eine noch 
größere Ausdehnung gewinnen. 

Schon damals galt feine Handlung als eine der bedeutendſten 
im Norden Deutſchlands. Ich weiß, ſchrieb ihm Hüllmann 1807 aus 
Frankfurt an der Oder, daß Sie das ſtärkſte Sortiment in Deutſch⸗ 
land befiten, und. etwas fpäter nannte Niebuhr ihn ſcherzend den 
Buchhändlerfouverän von der Em? bid an die Oſtſee. Der Muth 
und die Freudigkeit, welche während jener Jahre des Öffentlichen 
Elend Perthes in feinen Privatverhältniffen belebten, drüden fich in 
einem Briefe an Sacobi vom October 1807 aud. Mein Geift wird 
mit jedem Jahre ficherer und freier, beißt es in demfelben, und fo 
bin ich bei allen Ereigniffen muthooll und heiter. Ein gebrecdhlicher 
Meni bin ich wohl, aber ein unglüdlicher nicht, fondern vielmehr 
ein fehr glüdlicher, dem es befchieden ift, eine unruhige Laufbahn zu 
durchlaufen. Biel Intereſſe für Leben und Tod, viel Liebe, viel Lei- 
denſchaft, viel Kinder, viel Freunde, viel Arbeit, viel Gefchäfte, viel 
Luft, viel Unluft, viel Unruhe und nicht viel Geld! Dazu ein Du- 
gend Spanier im Haufe und feit neun Tagen drei Genddarmen, die 
mich faft zur Verzweifelung bringen! — Wie e8 mir geht und was 
ich treibe, fragen Sie? heißt es in einem Briefe aus derfelben Zeit. 
Ich will e8 Ihnen fehreiben, fo weit fo etwas in unferer Zeit gefchrie- 
ben werden Tann. An brieflihem Verkehre bin ich wahrhaft reich. 
Gräfin Luiſe Stolberg fehreibt mir fleißig und nie ohne irgend etwas 
bedeutendes zu fagen; von Johannes Diüller erhalte ich regelmäßig 
alle vierzehn Tage einen Brief und Niebuhr, offen wie immer, bat 
dann freilich aus feiner jegigen Stellung viel merkwürdiges zu er- 


142 


zählen. Hier an Ort und Stelle haben wir jest Marfchall Brune 
zum Gouverneur, unter dem wir und leidlich befinden, da er felbft fich 
gerne leidlich befinden mag;_aud hat diefer ci-devant-Buchdruder 
ſchon bei mir dad Handwerk begrüßt. Dann lebt jegt in Altona der 
alte Zimmermann aus Braunfchweig, der einer der geicheideften 
Menfchen ift, die ih fah, und mich im höchiten Grade interefliert ; 
ich achte und Liebe ihn, ohne ihm zu trauen. Bon Zeit zu Zeit fehen 
wir bei und oder bei Madame Sieveling Wallmoden und die Lippe 
Büdeburger jungen Gräfinnen, zwei fehr intereffante Mädchen und 
die jüngfte wirklich bezaubernd. Auch außerdem gehen viel merkwür⸗ 
dige Menfchen ab und zu, die das Leben frifch und auch muthig er- 
halten. — inen beſondern Eindrud machte Bernadotte auf Per- 
thes. Er hat, heißt e8 in einem Briefe, im Aeußern fo wie in man⸗ 
hen Manieren und Gewohnheiten viel ähnliched mit Jacobi. Auch 
philofophiert er gern. In Lübeck ließ er fich bei einer großen Tafel 
auf einen Streit über das Dafein Gottes ein, welchen er nicht zu 
glauben glaubt, und rief endlich, als er in die Enge getrieben ward, 
feinem Gegner, einem Lübeder, mit großer Lebhaftigfeit zu: Wie 
fönnen Sie für das Dafein Gottes ftreiten? Gäbe es einen Gott, 
fönnte ich denn bier in Lübeck fein! — Auch Billerd hielt ſich oft 
und gern in Hamburg auf. Er bleibt mir immer ein fehr lieber Menſch, 
ſchrieb Perthes; aber fonderbar, während er die Franzoſen gar nicht 
mehr zu erkennen und zu verftehen vermag, fieht ihm felbft der Fran- 
zofe an allen Enden heraus. 

Sich gegen außen abzufchliegen in den glüdlichen und anregen⸗ 
den Berhältniffen feine? Kamilien- und Geſchäftslebens, lag indeilen 
nicht in: Berthed’ Natur; durch eigene Neigung vielmehr und durch die 
Gewalt der Zeit wurde er zur geiftigen Theilnahme an den großen 
Begebenheiten, welche die Welt erfüllten, geführt. Mir find, ſagte 
er viele Fahre ſpäter zu einem feiner Söhne, in den Jahren von 
1806 bis 1812 liebe Kinder geboren und liebe Kinder geftorben und 
ih habe aud außerdem damals viel Freude und viel Leid im Haufe 
erfahren; aber denke ich zurüd an jene Zeit, fo ift dad alle® in mei- 
ner Erinnerung fo gut wie vernichtet durch die gewaltigen Eindrüde, 
welche die Theilnahme an den politifchen Hoffnungen und Befürch⸗ 


143 


tungen binterlaffen hat. — Perthes fcheute ſich damals ſchon nicht, 
den Zuftänden deö untergehenden alten Europa grade ins Angeficht 
zu fhauen. Wer fieht es nicht, äußerte er, daß für Europa eine Wie 
dergeburt im Staate, in der Kirche, in der Moral nothivendig war? 
wer fennt nicht die Unordnung, den Kleinigkeitöfinn, die Erftorben- 
heit im deutfchen Reiche? Und unter den einzelnen deutfchen Staaten 
gibt e3 feinen, für den der Untergang nicht eine verdiente Strafe ift, 
weil in feinem Fürft und Bolf für das Ganze leben und opfern woll- 
ten. — Notbwendig mußte fih, heißt e8 in einem andern Briefe, 
aus der allgemeinen Schwäche und jelbitfüchtigen Berdorbenheit eine 
Kraft erheben, welche alles befiegte, weil nichts kräftiges fich ihr ent- 
gegenfeßte. Napoleon ift und bleibt eine hiftorifche Naturnothwen- 
digkeit. Er, Napoleon, der Gewaltiger der Welt, ift ein? in fi 
und fiher und feft, wie fein anderer, weil er, wie fein anderer, nichts 
will als fich felbft, und wie fein anderer ift er des Teufel? geworden, 
weil er, wie fein anderer, fich felbft zu feinem Gotte gemacht hat. 
Er will nit, er wird gewollt, fagte mir mit treffendem Ausdrud 
Baggejen. — Diefem dämonifchen Menfchen glaubte Perthed die 
Welt von Gott dahingegeben, aber nicht, damit fie fich ihm füge, 
fondern damit an der peinigenden Kraft des Böfen die erftorbene 
Kraft des Guten, wenn auch unter den entiehlichften Wehen, von 
neuem geboren werde. Was da war, äußerte er, iſt ruiniert. Wels 
her neue Bau ſich auf den Trümmern erheben wird, weiß ich nicht; 
aber das Entjeglichite von allem wäre, wenn nach dieſer Zeit des 
Schreckens die alte matte Zeit mit ihren zerbrochenen Formen wieder. 


fehren follte. Zu einer neuen Ordnung will Gott uns auf praftifchen 


Noth- und Angftmegen: führen. Rüdwärts läßt ſich das Stüd nicht 
- fpielen, alfo vorwärts! Es falle, was nicht ftehen kann! Diejen 
Weltbegebenheiten wird nichts entgehen, und ed ijt ein Troft zu ſehen, 
dap die Begebenheiten größer werden ald die, welche fie herbeiführ- 
ten. Die Schaufpieler in dem großen Stüde werden jelbft zur Rolle 
und hinter den Couliſſen fteht der große unfichtbare Theatermeiiter 
und ift Troft und Halt für und arme Zufchauer, denen leider nur zu 
arg mitgefpielt wird. — Wer jebt noch, beißt e8 an einer anderen 
Stelle, das Rad rückwärts dreben will, der will nur Ruhe, Bequem 


— 


Lin 


144 


lichkeit und Privatglück. Diefen dreien freilich ift die Zeit nicht gün- 
ftig; aber danach kann die Vorfehung fich nicht bequemen; wir viel- 
mehr find es, die fih der Zeit gewachfen halten müffen, und wer 
wollte au) Anfang und Ende einer ſolchen Ummälzung, wie die ge⸗ 
genmärtige ift, in ein Menfchenleben zufammendrängen. — Ja das 
alte Laub muß herunter, entgegnete ihm Stolberg, auf daß der noch 
in brauner Knofpe fhlummernde Frühling für die Entwidelung auf- 
bewahrt bleibe. Ach könnten wir nur die erſte grüne Spibe fehen! 

Daß Gott in dem großen Umbildungsfampfe zunächft und vor 
allem auf unfer Bolt gezählt, ftand für Perthes unumftöplich feit. 
Wir Deutfche find ein auserwähltes Bolt, ſchrieb er 1807 an Müller, 
ein Volk, welches die Menfchheit repräfentierte und alles zur allgemei- 
nen Angelegenheit machte. Wir waren nie bloß national. — Naͤher 
und beftimmter führte Perthes feine Anficht von der weltgefchichtlichen 
Bedeutung des deutfchen PVolfed in einem Briefe an Jacobi vom 
19. Detober 1807 aus. Nie hat ed und Deutfchen an großen geifti- 
gen Aufgaben allgemeiner Natur gefehlt, heißt es in demfelben, im- 
mer haben gerade wir und der Wiſſenſchaft ihrer felbit wegen hinge- 
geben. War nicht Deutſchland feit langen Jahren gleichfam die all» 
gemeine Alademie der Willenfchaften für ganz Europa? Alles, was 
empfunden und erfunden, was entdedt und gedacht wurde in Deutfch- 
land und außer Deutjchland, wurde von den Deutfchen gleih auf 
das Allgemeine bezogen und für die Entwidelung der Menfchheit ver- 
arbeitet. So weit wir Deutiche überhaupt ein Leben hatten, haben 
wir ed nie für uns allein, fondern immer auch für Europa gelebt. 
Wir haben alles Recht, und reich bemittelt und tief an Charakter zu 
finden ; aber nie haben wir es verftanden, unfere Schätze anzuwenden; 
nie haben wir unfern Bolfe eine gemeinfame Tüchtigkeit und eine - 
gemeinfame Bildung gegeben und nie gemeinfame Anftalten gegrün- 
det, welche das Gefühl für Rationalehre wach erhalten und und 
Sicherheit gegen die Angriffe Fremder gewähren konnten. Dennoch 
aber kann alle®, was wir denfen und gedacht haben, nur wenn wir 
auch zu handeln lernen, Wahrheit und Wirkſamkeit erhalten. Noch 
nie gab es einen großen Heilfünftler, der nicht praftifcher. Arzt gewe- 
fen wäre, und Sie jelbft, verehrter Freund, treffen doch nur darum 


145 


fo oft die Sache und dag Herz, weil Sie neben Ihrer Speculation 
auch einmal eine thätige Periode durchlebten. Männer dagegen, die 
nichts befigen ald Wiſſenſchaft, werden, felbit wenn ihnen Geift und 
Kraft nicht fehlt, zu Narren, fobald fie in dad Leben eintreten und 
auf das Leben einwirken wollen, ohne die Anwendung ihrer Mittel 
praftifch gelernt zu haben. Ich will nur Bülow und Buchholz anführen 
und könnte auch Fichte nennen, und nun lefen Sie dagegen Rehherg. 
Wie mit dem einzelnen Menfchen, fo ift ed auch mit einem ganzen 
Volle. Sie würden mid) misverftehen, wenn Sie mir den Wunſch 
unterfohieben wollten, daß unfer Bolf jih fo wie die andern Nationen 
auf fih allein befchränfen, mie Diefe nur an fich denken und für fi 
ſchaffen follte. Solcher Wunſch, den freilich jetzt wohl mandjer hat, 
was wäre ex anders ald der Wunfch eines Deutfchen, fein Deutfcher 
zu fein, fondern eine Rationalität zu haben, wie jede andere Nation 
fie hat, nur die deutfche nicht? 

Perthes war der feiten Ueberzeugung, daß die Deutfchen das 
ausfchließliche Leben in Wiſſenſchaft und Kunft verlaffen müßten und 
jest auf ein auch handelndes Leben angewiefen feien; aber fo wie fie 
denfend und Ddichtend nicht allein für fih, fondern auch in anderer 
Meife noch ald andere Nationen für die gefammte Eulturwelt gear: 
beitet hätten, fo follten fie, eingetreten ind handelnde Xeben, handelnd 
für ganz Europa zu-wirken haben. Nur die Deutfchen können Eus 
vopa retten, fehrieb er 1806. Es kann fein, fehrieb er 1807, daß den 
Deutſchen das lebte Stündlein geichlagen hat, aber Europa wird ed 
fühlen. — In einer Reihe von Briefen, furz nach dem Tilſiter Frie⸗ 
den gefchrieben, führte er feine Anficht weiter aus. Der Friede, heißt 
es in denfelben, und folcher Friede ift alſo wirklich gefchloifen. Nun 
wohl befomms! Man könnte allenfall® vorausfegen, daß die Begeben- 
heit in Zilfit nur ein Werk der Noth und dag die Freundſchaft der 
beiden Kaifer nur eine Scene der widrigen Gewohnheit fei, nach wel⸗ 
cher Fürften, wenn fie in Haß und Widerftand nicht weiter können, 
thun, als wäre nicht® vorgefallen, und fih der Sprache der Freund⸗ 
fhaft bedienen. Geſetzt aber auch, ed wäre fo, fo ift die Herabwür⸗ 
digung Alexander's und Friedrih Wilhelm's doch fo groß, daß fie, 
wenn der Kampf de3.Nordend und Südens in einigen Jahren von 

Perthes“ Leben, I. 4. Aufl. 10. 


146 


neuem beginnen wird, unmöglich die Achtung und das Zutrauen der 
Völker, deren geiftige Kräfte fie fo wenig zu benugen verftanden, wies 
der gewinnen fönnen. Ob das die Herren in ihrer Klugheit aud) 
wohl erwägen! Aber war'die Ausföhnung der beiden Kaifer in Tilfit 
wirflih nur ein Schein? Vielleicht doch nicht. Ein Mittel nur, das 
ift jest far geworden, kann Hilfe gegen Napoleon geben, das Revo- 
Iutionieren der Völker. Wenn nun Alerander, weil er Fürft ift, dieſes 
Mittel ſcheut, follte dann nicht die falte Größe. und das Beftreben 
Napoleon's, ſich ald Netter des Menſchengeſchlechts darzuftellen, den 
Kaiſer Ruplands zu einer wahren Ausjöhnung mit feinem bisherigen 
Feinde haben führen können? ft das, wie ich aus befondern fiche- 
ven Nachrichten glauben muß, wirklich der Fall, fo ift Alerander der 
Bafall von Napoleon's Geift und ift in firengerer Knechtſchaft als wir, 
die wir nur um der Gewalt willen Knechte find. Eine gänzliche Um- 
tehrung aller Dinge ift dann unausbleiblih. Nie haben bisher der 
Norden und der Süden fi) unmittelbar berührt; deutfche felbftändige 
Völker, Schweiz, Holland, Reich, Deftreich, Preußen, ftanden zwiſchen 
ihnen und banden die beiden Ertreme, welche fi einander nicht bes 
fiegen fünnen. Nun find wir niedergetreten. Auf die Dauer zwar 
fönnen der Süden und der Norden nicht an einem Strange ziehen, 
aber auf Jahre könnten fie e8 doch verfuchen wollen, und richten wir 
Deutfehe in einer folden Zeit und nit aus und felbft wieder auf, 
fo wird eine Geifel, wie man fie hienieden noch gar nicht kannte, Eu- 
ropa züchtigen. Bon augen fann uns Hilfe nicht mehr kommen; wir 
follen und müſſen uns felbft helfen: aber dem tüchtigen Volke ift wie 
jedem ehrlichen Menſchen die Hilfe von oben, das Licht und der Er- 
loͤſer, verheigen. | 

Daß die Selbfthilfe des deutſchen Volkes ihren Ausgangspunkt 
von den deutſchen Regierungen nehmen werde, glaubte Perthes ſchon 
deshalb nicht, weil nie eine großartige und dauernde politiſche Geſtal⸗ 
tung von einzelnen wenn auch noch fo großen Fürften gegründet fei. 
Haben nicht alle Schäe, fragte er, welche die Völker an Conftitutio- 
nen, Staatöverwaltungen und Einrichtungen irgend einer Art befigen, 
fih im Laufe der Jahrhunderte von felbjt gemacht, das heißt, find 
fie nicht fämtlih durch den Berftand, die Einficht, Forfchung und 


147 


Erfahrung der Gefammtheit entwidelt worden? Wer machte die 
englifche, wer die Samburgifche Conftitution? Wir wiſſen den Dann 
nicht zu nennen, wir ehren die Väter. — Die damaligen Regierun« 
gen hatten überdies ihre felbftfüchtige Schwäche und berechnende Hin⸗ 
gebung an Napoleon deutlih genug an den Tag gelegt. Unſer Bolt 
ift verrathen, äußerte Perthes nach dem Preßburger Frieden; von den 
Unfrigen find wir der Entehrung überliefert, auch der allergewöhn- 
lichſte Gemeinfinn ift unter den Gefhäftsführern, den Machthabern 
und Stimmgebern erlofhen. — Gut und Blut, Ehre und Eigen- 
tbum haben die Völker daran geſetzt, fehrieb er nah dem Tilfiter 
Frieden. Wenn nun demungeachtet eine Ausföhnung der Fürften wie 
zu Tilfit ftattfinden fonnte, wer wird fünftig unter diefer Menfchen 
Leitung ed noch einmal wagen? — Kein Stab foll halten, heißt es 
in einem Briefe an Jacobi aus derfelben Zeit. Sie brechen alle, auf 
dag ein jeder nur Gott anhange und fich in fich bereite, bis das Ge⸗ 
richt kommt; und dad Gericht ift nahe, aber auch für die Richtenden 
bin ich bange. | 

Diefen Regierungen gegenüber, welche ihr Bolt verlaffen hatten, 
hielt Perthes e8 an der Zeit, den Deutfchen die Rechte der Bölfer zu 
fagen, zu lehren, was ihre Verfalfung ohne Bernachläffigung hätte 
werden fönnen und was die Deutfchen durch ihre Gefinnung aud 
jebt noch wieder erlangen fönnten. Er zürnte auf Klopftod, weil dies 
jer die Nationalehre höher als die Nationalfreiheit gehalten habe; er 
forfehte nach den Mitteln, durch welche das deutfche Volk feinen ver- 
zagten Regierungen gegenüber felbftändige Bervegung erringen koönnte. 
 Bie. erlangten, fragte er, die Engländer ihre Berfalfung? wie drüdten 
fie den fi) befämpfenden Parteien die Freiheiten ab, und bemwahrten 
diefelben gegen die mehreremale eintretenden concentrierten, fejten, ge⸗ 
waltigen Regierungen? Wie fam es, daß fie diefe Freiheiten nie aus 
den Augen, verloren? wer behielt fie im Auge? wie erbte das fich 
fort vom Bater zum Sohne? Den Deutfchen könnte ein guter Spies 
gel dadurch vorgehalten werden. ' 

Da Perthes weder von außen noch durch bie Regierungen Ret- 
tung erwartete, fo richtete fich feine Hoffnung damald ausfchlieplich 
auf das deutfche Volk in deffen Einheit. Schon feit den Jahren 1805 

10” 


148 


und 1806 ahnete er in demſelben eine Kraft, welche e8 zum Befreier 
Deutfchland® und Europa's machen könne und werde. Allenthal- 
ben unter dem Bolfe, heißt es in Perthes' Briefen aus jener Zeit, ift 
Wille, Kraft und Entrüftung. Selbft in Baiern bildet fich ein Ge- 
meingeift, der über den baierifchen Nationalgeift fiegen wird. Wir hier 
denfen nur an Nationalehre, und Leipzig, two in der Meſſe Menfchen 
aus allen Provinzen und allen Ständen des Reiches zuſammenkom⸗ 
men, gibt die erfreuliche Gewißheit, daß ganz Deutjchland nur eine 
Stimme hat: Vaterland, Freiheit, Rache. Ich ſprach mit Taufenden 
und ich war der Vorfichtigere in meinen Aeuperungen. Man kann 
gar fehr zufrieden fein mit dem Volle; Gott fende nur einen Geift, 
der die Gemüther binde und entlade. Nein, Deutfchland geht nicht 
unter und die Deutfchen fterben nicht ab als ein thatenlojed Volk; 
ein neues Gefchlecht deutfcher Art wird entftehen und wird blühen 
auf Sahrhunderte hinaus. 

Als aber der Tilfiter Frieden gefchloffen war, ſchien es möglich, 
daß unter dem fürchterlichen Drude auch der nationale Geift erſtickt 
werden könne. Nur eine Sorge habe ich, ſchrieb Perthed im Auguſt 
1807, eine Angft, die mich Tag und Nacht drüdt, ob auch wir Deut- 
Ihe Geſchick und Verftand genug haben, unfere Nationaltugenden und 
Eigenheiten bis auf beijere Zeiten und zu bewahren. Wir find jegt 
grade in einer Epoche, in welcher wir und ald Bolt wahrhaft groß 
beweifen fönnen. Berlafjen von unfern Fürften, dahingegeben, ohne 
Berfaflung und ohne Religion, follen und können wir unfere Haus⸗ 
und Menfchentugenden rein erhalten. — Alles fchien ihm darauf 
anzufommen, daß in der Bedrängnis und Äußeren Berwirrung ber 
innere Sinn ded Volfed uuverwirrt erhalten werde. Auch im Joche 
müffen wir Deutfche bleiben; wir mülfen und felbjt überleben und 
die einftige Auferftehung wird nicht ausbleiben. Der Charakter des 
Deutſchen, fein Sinn für Wahrheit und Recht, der muß behauptet 
werden, Tofte ed, was es wolle, jchrieb er an Jacobi und faft mit den» 
felben Worten an Müller und an Stolberg, und wer noch irgend 
Mann ift, der muß feinen Kopf daran ſetzen, daß uns nicht Unrecht 
für Recht, Lüge für Wahrheit aufgebürdet werde. — Sei über 
Deutſchland verhängt, was da wolle, heißt es in einem andern, kurz 


149 


nach der Webergabe von Ulm gefchriebenen Briefe, immer muß der 
Hauptzwed fein, in den befondern Intereffen der deutfchen Staaten 
und Völker dad Allgemeine, dad, was das Deutfche ausmacht, zu er= 
weden und zu erhalten und mehr und mehr zum Bewußtſein des Vol⸗ 
feö zu bringen. O mein Gott! wer hat je dem Deftreicher, dem Brans 
denburger, dem Heilen gefagt, was für ein Gut er habe, deutfch ge- 
boren zu fein, und wie wäre das eine Sünde gegen die Fürſten des 
Landes geweſen! 

Wer aber wird uns nun in dieſer Zeit wach erhalten? fragte 
Perthes. Seine erſte und nächſte Hoffnung ſetzte er auf Napoleon 
ſelbſt; die Völker, äußerte er, müffen erſchreckt werden, ſonſt gewöhnen 
fie ſich an alles. — Je gewaltſamer und brutaler die Maßregeln 
Napoleon's waren, deſto geeigneter erſchienen ſie ihm, den Sturz der 
Gewaltherrſchaft vorzubereiten. Köſtlich ſind, ſchrieb er 1806, die 
Verfügungen der Franzoſen in Frankfurt, Baiern und andern Län- 
dern. Nur zu! Das hilft! Der Haß der Deutfchen wird gründlicher 
werden als einer fonft. — Wenn Napoleon fi) einmal begnügen 
und gemäßigt verfahren fönnte, fehrieb er an Max Jacobi, fo wären 
wir verloren und hätten den Strid um den Hal; aber dies ift nicht 
zu fürchten. Auf Thatfachen flüge ich mich, wenn ich fage, daß des 
Kaiſers Aberglaube an fich felbit fo weit geht, daß er ſich noch wird 
anbeten latfen. Ihm fehlt in folhem Grade jeder Glaube an ein 
Etwas oben oder unten, er hat in folhem Grade nur fich felbft, er 
fieht ſich — wie ſoll ich das ausdrüden, was außerhalb des Kreifes der 
Menfchheit liegt — er jieht fich fo beftimmt als dad Werkzeug des Fa- 
tums an, daß das Schredliche, was bis jest nur in dunflen Sagen 
umherirrt, auch noch an den Tag fommen wird. — Lardinal Maury 
arbeitet an einem Plan zur Vereinigung aller Religiondparteien und 
man fchreibt, der Kaifer werde fich dann zum Oberhaupt der Gefammt- 
firche emennen. Ja ed wird dahin kommen, daß jeder fehen muß, 
diefe Ruhm⸗ und Regierungswuth habe keinen Raum auf dem Erd⸗ 
ball hienieden. 

Weil Napoleon für immer neue Aufregungen des Volkes ſorgte, 
wollte Perthes indeſſen keineswegs, daß die deutſchen Männer ihre 
Hände in den Schoß legen ſollten. Unſere ehrliche, einfältige Gut⸗ 


150 


müthigkeit ängftigt mich, äußerte er. Alfe feine Kräfte muß man in 
Zeiten, wie die unfrigen find, gebrauchen, um ſich nicht hingehen zu 
laffen in bloßem Bertrauen zu der guten Sache. — Ron allen ehr- 
lihen, treuen Männern forderte Perthed, daß fie je nach ihrem Bes 
rufe und ihrer Befähigung fehaffen und arbeiten follten, um die po« 
litifehe Rettung vorzubereiten, indem fie neue Kraft und neues Reben 
der Nation zujtrömen liegen. Bor allem hoffte Perthed auf die her- 
anmwachfende Jugend feiner Zeit. Gewiß ich ſchätze und ehre unfere 
Alten, fehrieb er an Jacobi, aber höher liebe und ehre ich für unfere 
Zeit die Jugend. Alle Jugend feit Anbeginn der Welt ift alt gewor- 
den, ohne die Jugend mit fih nehmen zu können. Immer verblieb 
bei der Jugend die Jugend und deren Friſche und Feuer. 

Das Recht und die Bedeutung, welche Perthes dem einzelnen 
entſchloſſenen Manne für außerordentliche Zeiten zugeſtand, war nicht 
in enge Grenzen eingeſchloſſen. Schon 1804 hatte er an Jacobi ge- 
ſchrieben: Es gefällt mir fehr wohl, dag Schiller den Tell, der nad 
Johannes Müller im Bunde war, von dem Bunde trennt. Nur fo 
fonnte Tell ald der fichere, feite Mann handeln, der ohne Borplan 
that, was die entjegliche Zeit forderte. — Nie gab ed einen Abfchnitt 
in unferer Gefchichte, fohrieb er 1805 an Max Jacobi, in welchem dem 
einzelnen deutſchen Manne mehr Freiheit zuftand, auf eigene Hand zu 
wirken, als eben jest. Wir leben in einer Art ded Naturzuftandes: 
von allem find wir entbunden, nur nicht von dem, was den Deuts 
fchen zum Deutfchen macht, nur nicht von Treue, Biederfeit und um⸗ 
fichtiger Befonnenheit. — Wenn aud) eine nähere Verabredung gleich 
gefinnter Männer zu Stande kommt, fchrieb er 1806, fo ift damit 
nicht gefagt, daß der einzelne, den der Geift treibt, ſich nicht treiben 
laſſen follte. Nach Schiller war Tell ja au nicht im Bunde. Ein 
jeder zählt nur ficher auf fich felbft, der Starke ift am mädhtigften a [- 
lein. — Der Muth, fih und feine Stellung einzufegen, wenn es 
galt, war Perthes angeboren,; einmal angeregt, fannte er feine 
Rüdficht auf fich felbft, und ich habe, fchrieb er, Gottlob! eine Frau, 
die meine Gefühle theilt und, wenn Noth an Mann gebt, mir den 
Muth nicht nehmen wird. Wer Geift und Kraft, Größe und Lei⸗ 
denſchaft in irgend einem Grade hat, fagte er, der ſoll und muß jekt 


151 


den Blid nad augen richten, um mit zu fhaffen und zu geftalten. 
Wer jept nur in feinem Innern Bedeutung hat, hat gar feine Be - 
deutung. 

Perthed war feiner ganzen Natur! nach zu entſchieden auf die 
Wirklichkeit und auf dad in der Wirklichkeit Erreichbare geftellt, um 
ind Unbeftimmte und Unbefonnene hinein ſchwärmeriſch für fein Va⸗ 
terland auftreten zu können. Daß jede Gewaltthat und jeded Aufleh- 
nen des einzelnen nach Lage der Dinge rafende Thorheit und deshalb 
auch ungeachtet der damaligen Auflöfung aller politifchen Ordnung 
Verbrechen fei, wußte er und mußte auch, daß ed damals für jeden 
Privatmann unmöglich war, auf die Haltung der Staatdmänner und 
Regierungen oder auf die politifche Kräftigung der Kriegs - und Geld» 
macht irgend einen unmittelbaren Einfluß zu üben. Aber den Haß 
und die Erbitterung des Volkes gegen den Unterbrüder durch jebes 
mögliche Mittel muthiger und entfchloffener zu machen, das hielt Per⸗ 
thes für jedes deutichen Mannes Recht und Pfliht. Doch auch in die- 
fer Beziehung war es ihm feiner praftifchen Natur nad) ganz unmög- 
lich, gleihjam in der Luft ftehend nach augen und auf andre Wirf- _ 
famfeit zu üben; er bedurfte, um zu handeln, eines durch das Leben 
felbft ihm gegebenen Ausgangspunktes und fand ihn in feinem Be- 
rufe ald deutfcher Buchhändler. Zunächſt und vor allem betrachtete er 
es ala feine- Aufgabe, dafür zu forgen, daß Fräftigen und anregenden 
Worten deutfchgefinnter Männer nad) allen Seiten hin ein nachhaltie 
ger Einfluß durch Drud und ſchnelle Verbreitung gefichert werde. 

Haben Sie Mittel gefunden, fehrieb er im October 1805 an Mül- 
ler, die Geng’fche Schrift über England® Krieg mit Spanien unjer- 
zubringen? Sonſt will id) Rath fchaffen; zu rathen weiß ich in fol- 
hen Fällen immer. Daß ich Dinge der Art nicht felbft unternehme, 
rührt nicht aus Furchtſamkeit her, fondern weil ich mich eigentlich 
aufhebe. Man kann in unfern Zeiten nicht wiſſen, was einem vor- 
fommt, und dann iſts beffer, man hat mit der Obrigkeit und Polizei 
noch nie etwas zu thun gehabt. — Wenn der Krieg wird audgebro- 
hen fein, ſchrieb er in den erften Tagen des October 1806, fo müßte 
eigentlich fein Tag vergehen, wo nicht eine neue und andere Stimme 
zum Ausharren und zur Einigkeit, zur Kraft und zum Muth aufmun- 


152 


terte und anfpornte. Unſere Freunde wollen beitragen, nicht ale 
wenn fie glaubten, fie könnten etwas beſſeres jagen, ald 3. B. die 
patriotifchen Männer in Berlin, fondern weil in jeder Korm und Ma- 
nier gefprochen werden muß. Für jeden Schnabel ift auch ein Ohr ge- 
wachſen. — In Nürnberg follte, nah Meinung der Franzofen, der 
Buchhändler Palm ein ähnliches Ziel wie das verfolgen, welches Per- 
thes fich geftedt hatte. Am 25. Auguft 1806 wurde Palm erjchoffen. 
Sofort jtellte Perthed eine Sammlung für die Witwe und Kinder des 
getödteten Mannes an. Der Familie werde dadurch geholfen, meinte 
er, und jeder, der. eine Beifteuer gebe, lerne dadurch fich al? Feind 
der Mörder fühlen. Als der warme Dank, den die VBormünder der 
hinterlaffenen Kinder, Roſt und Rurff, gegen Perthes ausfprachen, 
anlangte, war Hamburg ſchon mehrere Monate hindurch von franzö- 
fifchen Truppen erfüllt. Jeder thue das Seine, äußerte er kurz nach⸗ 
ber, ich laffe nicht ab anzuregen, wo nur ein Menſch ift, der Kopf 
und Herz hat. Ich treibe an, recht? und links, auf feinem Poften zu 
bleiben und nicht® aufzugeben. Um Gotteswillen bitte ich auch Sie, 
nicht nachzulaſſen, und das Ihrige zu thun. 

Lies doch, ich bitte Dich, Tieber Bruder, ſchrieb er im uni 1 1806 
an Mar Jacobi, die von Müller herauögegebenen Poſaunen des hei- 
ligen Krieged aus dem Munde ded Propheten. Es find die durch 
Meberlieferung aufbehaltenen Sprüche und Reden, dur welche Mus 
hammed feine Araber zu den Thaten entflammte, die in wenigen Jah⸗ 
ren eine halbe Welt überwanden. Die glühende orientalifche Bered- 
famfeit wird, von Herzen zu Herzen gehend, auch unfer Abendland 
ftärfen und begeiftern. Der Flammenjtrom ded Propheten wird 
viele vielleicht noch gewaltiger ergreifen als Niebuhr's Nede des Der 
mofthene?. 

Früh ſchon war es für Perthes gewiß geworden, dab einzelne 
Männer, wenn fie zufammenhanglos ihre Ihätigkeit übten, nur in 
einem fehr geringen Grade auf das Bolf wirken könnten. Als eine 
weſentliche Aufgabe erfhien e8 ihm daher, daß alle, welche in irgend 
einem Grade den inneren Beruf hatten, geiftige Leiter ihres Volkes 
zu fein, ſich in diefer oder jener Form zu gemeinfchaftlihem Wirken 
verbänden. Biel denke ich, ſchrieb er fhon 1805 an Müller, über 


153 


die Möglichkeit nach, mohlgefinnte Deutfche einander befannt zu ma⸗ 
hen, einen Mittelpunkt zu ftiften, wo Kraft an Kraft fich lehne und 
neue Kraft erwede. Dazu ift eine gewilfe Unbefangenheit, Unwiſſen⸗ 
heit, Unnambhaftigfeit, wie ich fie habe, fehr fähig. Wenn bie 
Deutfhgefinnten aller Länder miteinander Communication hätten, 
ihrer Liebe für das Vaterland gemeinfchaftliche Richtung gäben, es 
fönnte viel geſchehen. — Perthes wollte nicht hart abgefprochen ha⸗ 
ben über Männer, die zur Revolutiongzeit Frankreich angehangen hat« 
ten. Sept ſolle man fih, fagte er, nur in dem Haffe gegen die Un- 
terdrüder vereinigen, alles andere finde ſich und Löfche fih. — Auch 
große Gegenfähe in der politifchen Ueberzeugung ſchienen ihm einem 
gemeinfamen Auftreten gegen den Feind -nicht im Wege zu ftehen. 
Berfchiedene Theorien, Meinungen, Anfichten, äußerte er 1805 gegen 
Müller, müpten eben ald das Charakteriftifche deutfcher Nation ge- 
ehrt werden und könnten einem Bunde deutfcher Männer ein Hinder- 
nis nicht fein. Verſtehen Sie mich nur recht, ich meine feinen Bund, 
der gefnüpft, gebunden werden foll, fondern der Bund, der fchon da 
ift in jeded Deutfchen Bruft, foll nur gemeinfhaftliched Leben erhal« 
ten. Es ſchwebt hell vor meinem Sinn, was darand werden könnte: 
‚den deutfchen Völkern könnte ein Sinn gegeben werden, der zum Be- 
ften deuticher Fürften die Fürften zwänge, einen deutfchen Fürften- 
bund zu ftiften, den feine Macht fprengen würde. Doch jest iſts 
Zeit zu ſchweigen; die große Krifi® wird bald entfchieden fein und be» 
fiinmen, wie man feine Richtung nehmen muß. — Als Müller auf 
diefen Gedanken eingegangen war, entgegnete ihm Perthes im Ja⸗ 
nuar 1806: Ich mag nicht gern fo ind große Blaue hineinfprechen, 
fondern lieber gleich was thun. Der Verein der Baterlandöfreunde 
von den Alpen bis an die Dftfee, den auch Sie erwähnen, was 'foll 
er? wie foll ex fein? Bor der Hand doch nur erſt Berftändigung, Be⸗ 
rührung einerlei Sinnes in möglichfter Ausbreitung. Mehr zu wols 
len, jest, wo niemand das Schidfal auch nur des nächſten Tages er- 
tathen kann, hieße unverftändig der Gefahr fih ausſetzen und dennoch 
den-Zwed vereiteln. Iſt das Verftändnis eröffnet, ift der Weg berei- 
tet, fo fchließt fich vielleicht mit des Höchften Hilfe ein Thatenbund. 
Für die Ausbreitung ift mir nicht bange, fo etwas wälzt ſich fort, 


154 


aber er müßte, wie Sie ſchreiben, durch wenige einfache, unverbrüch- 
liche Grundfäge verbunden und durch die Zufammenficht talentwoller 
Männer geleitet fein. Gedrudt müßten die Grundfäße nicht werden, 
fie müßten von Mund zu Mund, von Brief zu Brief in Kraft und - 
Saft übergehen. — Das beutfche Bündnis, das ich erftrebe, heißt 
e3 in einem andern Briefe, foll das Verjtändnid über das, was Noth 
thut, um wach und würdig zu fein, verbreiten. Jeder joll werben, 
wo ein gutgefinnter und ehrliher Mann zu finden ift; Feiner foll ver 
fäumen, dad Bündnis inniger und Öffentlicher zu machen, denn es 
fann öffentlich fein. Denn was es bedeuten will, verftehen die Frem⸗ 
den nicht und auch die Deutfchen nicht, die zu den Fremden gehören. 
Nur nad perfönlichen Angriffen forſchen die Spione; die Sache ſelbſt 
verstehen fie nicht, und perfönliche Angriffe find nach der letzten Kata- 
ſtrophe ohne Frucht. Je öffentlicher wir die Sache betreiben, defto 
geheimnisreichere Chiffernſchrift ift fie den Schlechten. Drudichriften 
für diefen Zweck find recht und gut, aber das innere Verjtändnis ift 
das eigentliche Ziel. Die Lettern mit Druderfhmwärze thun wenig 
Wirkung mehr. 

Perthes hatte fi Johannes Müller ald den geiftigen Mittel- 
punft ded Bundes deutjchgefinnter Männer gedacht. Müller war tief 
eingeweiht in die politifhen Zuftände des weftlichen Deutichlande und 
in die Geheimniſſe Deftreih8 und Preußens; er hatte die ausgebrei- 
tetfte Bekanntſchaft mit deutfchen Staatemännern und Gelehrten der 
verfchiedenften Farben; er genoß ein hohes Anfehen und zeigte als 
Menſch und ald Schriftfteller ſich rüftig und entjchieden, wenn e3 galt, 
für Deutihland und gegen Napoleon zu wirken. Kein anderer fchien, 
wie er, geeignet, Die Seele des gehofften deutfchen Vereins zu fein. 
Aber die Folgen des Krieged von 1806 warfen ihn auf eine andere 
Bahn. Als die Franzofen in Berlin einrüdten, verlieg Müller Ber: 
lin nidt. Als Napoleon ihn zu einer Unterredung vorgefordert hatte, 
fhrieb er begeiftert an Böttiger in Dresden, er habe anderthalb Stun- 
den mit dem großen Manne gefprocdhen über alle großen Stellen in 
der Gefchichte und über alle Hauptgegenftände der Politik. Nun hielt 
Müller in der Akademie der Wiſſenſchaften feine befannte Rede über 
Friedrichs Ruhm, ging im Herbfte 1807 nad Parid und Anfang 


155 


1808 ald Minifter-Stantöfecretär des König? von Weftfalen nad) Kafs 
fel. Sch werde Deutſchlands nicht vergefien, äußerte er freilich, fo 
wenig wie Daniel, dem niemand die hohe Stellung zu Babel übel« 
nahm, Serufalemd bei Hofe vergaß. 

Perthes fah fih durch diefe Wendung in dem Lebensgange ſei⸗ 
nes Freundes in eine qualvolle Lage verſetzt. Er hatte Müller lieb 
gehabt, und einen Mann, den er einmal lieb gehabt hatte, innerlich 
fallen zu laſſen, war ihm fait unmöglid. Weber Müller fälle fein 
Endurtheil, fehrieb er an Mar Jacobi, Du haft ihn nicht gefehen ; 
geſehen aber muß man ihn haben, um da3 unvertilgbar Große in 
ihm anzuerkennen und de3 guten Menfchen gewiß zu fein und zu fei« 
nen Schwächen, Fehlern, vielleicht auch Laftern den Schlüffel zu ha— 
ben. — Perthes hatte in Müller einen Mann erkannt gehabt, der 
es ernft und wahr mit feinem Volke meinte, und er behielt die Ueber- 
geugung, daß Müller auch jetzt nur mit den Fremden ſich verbinde, 
um noch auf dem Wege, den er für den einzig möglichen: halte, für 
die Deutfchen wirken zu können. Weber dad, was Sie für Ihr fünf- 
tiges Schickſal befchliegen werden, bin ich in mir fiher. So gewiß ih 
weiß, was Necht ift, fo gewiß weiß ih au, daß Sie nicht? thun 
werden, wobei Sie vergeffen, was Sie fi fchuldig find. ch glaube 
voraudzufehen, daß Sie Dienfte dans l’empire frangais annehmen 
werden, und, fügte er fehmerzlich hinzu, wo wollten Sie wohl fonft 
auch Dienfte nehmen? — Ich finde, heißt ed in einem anderen 
Briefe, Ihre Recenfion des Rheiniſchen Bundes ſchön, Hug und brav. 
Es ift die Sache des Gelehrten und Sprechers der Nation, diefelbe, 
in welche Form fie auch gezwängt werde, in Schug zu nehmen und 
ihre Rechte und Nationalität immer wieder auszuſprechen. Er fchiebe 
das Gute unter, wo es nicht ift. Sehr glüdlich war ed, daß Sie das 
wirklich Gute bei dem Fürften von Berg fanden. Diefer Zug bat 
mich ungemein ergößt. — Gott gebe Ihnen Kraft, fihrieb er, ald 
Müller's Anftellung in Kaffel entfchieden war, und bewaffne Ihr Herz 
und Ihren Sinn mit Standhaftigkeit; das ift mein einziges Gebet 
für Sie. Nicht der letzte möchte ih fein, der Ihnen fagt, daß er 
fih des großen Berufs freut, der Ihnen geworden ift. Ihrer Nation 
Beruhiger, Tröfter, Erweder zu fein, das verlangt und erwartet man 


156 


von Ihnen. Ein Schilfal, wie Ihnen bereitet ift, wurde noch fei- 
nem. Ich weiß von Ihrer Pietät, daß Sie dasfelbe nicht einem blin- 
den Schickſalswurf beimeffen, fondern es als einen Beruf der höchften 
Weisheit annehmen. — Komme, mad da fomme, fei, was da fei, 
ſchrieb Perthes etwas fpäter, als Müller die Leitung. ded öffentlichen 
Unterrichts in Weftfalen übernommen hatte, Sie fönnen und werden 
ein Arbeiter im Weinberg ded Herrn fein. Sie find Vorfteher grade 
von den Einrihtungen und Snftitutionen, die dad eigentlihe Organ 
des deutfchen Volkes und Geiftes find. Gott ftärfe und erhalte Sie 
dafür! Nie habe ih an Ihnen gezweifelt, und “ babe auf Ihre 
Treue und Wahrheit geſchworen. 

Ungeachtet alles perfönlihen Vertrauens konnte ſich indeſſen Per: 
thes den entfeglichen Eindrud nicht verhehlen, welchen Muͤller's Ver⸗ 
halten auf das Volk machen mußte. Mir ift der Mann, fchrieb Per- 
thed 1807 an Jacobi, was er mir vorher war; aber Unrecht hat er 
und für die Nation ift er verloren. — Für meine Freundihaft war 
mir Ihr Brief eine große Beruhigung, fchrieb er kurz nach der Schlacht 
von Iena an Müller. Ich bin Ihres Glaubend, daß die Welt von. 
Gott an Napoleon den Großen übergeben und er darum nnüberwind- 
lih if. Nur möchte ich erwähnen, daß der univerfalhiftorifche Kopf 
das regfte Herz für die Nationalität mit dem weiten Blid auf die 
Weltregierung vereinigen fann und muß. Nicht alle aber, die einen 
kräftigen, feſten Glauben haben, find zugleich umſichtige Weltweife, 
‚und dem eigentlichen Kern der Nation mug man fein Aergerniß ge- 
ben. Es ift nicht genug, mit fih und feinen Vertrauten im Reinen 
zu fein; auch den blinden Anhängern muß man fich rechtfertigen kön⸗ 
nen. War ed doch jebt ſchon manchem Zweifler ſchwer, einzufehen, 
warum Sie nah Mainz, nad) Wien, nach Berlin gingen. Man muß 
Schonung haben mit den Gemüthvollen der Nation. Ihnen ift die 
Gewalt über unfer- Volk entwunden; died müßte nicht fein. 

Auch in ſich felbft fühlte Perthes fchwere Sorge nicht über Mül- 
ler's Nedlichkeit, wohl aber über die Wahrheit der Grundanficht, durch 
welche fich derjelbe damals treiben lieg. Müller hatte, überwältigt 
durch die ungeheuren Erfolge Napoleon’d, alles alte verloren gegeben 
und fab in Napoleon das Werkzeug Gottes, welches die Beitimmung 


157 


babe, ein Neues, nie Dagemefened in die Weltgefchichte einzuführen. 
Was werden folle, meinte Müller, fönne man nicht wiffen, aber dem 
Werden felbft fih in den Weg werfen ‚zu wollen, fei Raferei. Man 
müffe fich undenfen und die an da® morfch gewordene Alte nutzlos 
verfchwendeten Kräfte auf das Neue übertragen. Ihm, Napoleon, 
ſei die Welt dahingegeben; das fei Schickſal, das fei Gottes Finger. 
Gott fei es, der die Regierungen einfege. Wer vermag damwider? rief 
er aus. Alfo füge fich der Menfch, fuche das Befte des neuen Ganzen, 
ſuche fich felbft nicht zu verfchlechtern und erwarte die fernere Ent» 
widelung der Ereignifie, die nicht in unferer Macht ftehen. Hier han⸗ 
delt es fich nicht von Theorien; die Praxis befteht in Thatfachen; vor 
diefen fann man die Augen nicht verfchliegen, die Ohren nicht ver« 
ftopfen. — Diefen Anfichten gegenüber fehrieb Perthes an Müller: 
Nur dann wird mir die fchnelle Umänderung Ihrer Anfichten nad 
dem in jieben Tagen vollendeten Umſturz der preupifchen Monarchie 
ganz einleuchten, wenn ich von Ihnen erfahre, wie Sie in die neue 
Welt fih hineingedacht haben. So ſchwer mir e8 wird, zu begreifen, 
wie Deutfchland ohne freie Selbftändigfeit, nur von außen gehalten, 
im Innern von fraftvollen Thatmännern verlaffen, die Rolle der 
Lehrerin unter den Völkern einnehmen könne, da niemald ein Pro« 
feifor, der nur Profeilor war, Weisheit lehrte, fo will ich doch hof- 
fen und glauben auf Ihr Wort. — Ihre Rede auf Friedrich, heipt 
e8 etwas fpäter, habe ich nun ganz gelefen; es kommt mir aber doch 
vor, als wäre hierin um des Herrn willen das übrige Menſchenge⸗ 
ſchlecht zu ſehr als Pad behandelt. Goethe's Ueberſetzung der Rede 
iſt ſehr ſchön, aber wo meine Achtung und Liebe für Johannes Müller 
mich nicht überzeugt, wird auch Goethe mich nicht beftechen. Sie haben 
Recht, wenn Sie fagen: Alles hat feine Etelle, alled hat feine Zeit; 
aber es muß auch jedes wirklich feine Stelle und befonders feine Zeit 
haben, und fo :befürchte ich, daß Ihre Neußerungen über das, mas 
nun Deutfchland zu thun habe, noch nicht an der Zeit waren, der 
große Procep noch nicht entfchieden if. — Obwohl ich Ihnen nicht, 
wie die Berliner, übel nehme, fchrieb Perthes im Mai 1807, daß 
Sie ſich nicht haben füfelieren laffen, fo ift doch, vergeben Sie es Ih» 
rem Freunde, das Andenken an einen wegen Wahrheit und Recht 


158 


Füfelierten ein heilige® Denfmal. Auch glaube ich an dies Füfelieren 
noch niht. Ein Mann von fo hoher, ungeheurer Kraft und fo un 
gebrochenem Willen wie Napoleon kann auch einmal den Willen ha⸗ 
ben, ſich ſagen zu laſſen, daß noch nie ein Staat durch die Weisheit 
und den Willen eines Einzigen, ſondern nur durch das collective Wir⸗ 
ken eines verſtändigen mannhaften Volkes gegründet war und in 
Wohlftand und Feftigfeit beftand. Doc, wer weiß, vielleicht fagen 
Sie ihm auch etwas ähnliches. 

Beforgter noch, ala über die Wahrheit der veränderten Grund» 
anfiht Müller's, war Perthes über deffen Feftigkeit und innere Si« 
herbeit in der neuen, gefahrvollen und fihmantenden Stellung , die 
er eingenommen hatte, feitdem er am Hofe Jerome's ſich aufbielt. 
Es bangt Ihrem treuen Freunde, fihrieb er ihm, um Sie, den Men- 
ſchen mit dem reichen Herzen, mit der offenen Gutmüthigfeit. Was 
wird fih nicht alle8 an Sie drängen, wo und wie werden Sie helfen 
follen, und was werden Sie können? Den großen Weltplänen ded 
Kaiſers follen Sie hilfreiche Hand leiften, die Selbftändigfeit und das 
Profperieren der Monarchie Ihres Königs follen Sie begründen, fich 
felbft und Ihrer Nation, fo wie den von Ihnen audgefprochenen 
Ueberzeugungen über Freiheit und Nationalität follen Sie treu blei- 
ben und nicht8 vergeben. Diefe Aufgaben haben Sie zu löfen. Gott 
waffne Sie mit Standhaftigfeit und Nefignation; denn auch bei dem 
Größten und Beften, was Sie thun, werden Sie doch von allen Sei⸗ 
ten verfannt werden. 

Alle Belorgniffe und quälende Zweifel, welche Perthes in Be⸗ 
ziehung auf Müller hegte, hatte er fhon im März 1807 in einem 
Briefe an denfelben zufammengefaßt. Entweder ganz Freund oder 
gar nicht, fehrieb er ihm, und jo finde ich mich berufen, Ihnen zu 
ſchreiben, was ih in Hinficht Ihrer höre, fehe und erfahre. Wahr⸗ 
lich ich habe dadurch fehmerzhafte Wochen gehabt und bin mehrere 
male wahrhaft erfchüttert worden. Man declamiert, fuhr Perthes, 
einen von Müller gebrauchten Ausdruck mwiederholend, fort, von Ad} 
felträgerei, von Falfchheit, Verrätherei an Freiheit und Nation, und 
dies thut nicht allein die pöbelhafte Gemeinheit aus elendem Zeit⸗ 

geifte; bon mehreren Seiten und von Männern, die Sie lieben und 


159 


ehren, trauert und weint man am Grabe Johannes Müller'd. Ein- 
Freund fchreibt mir: „Es iſt wahrlich eine fehr böfe Zeit, in die wir 
und zu ſchicken haben; aber dieſes Schicken muß ſchicklich bleiben, das 
mit wir nicht von ihr aufgelöft und zerftört werden. Das Auflöfen 
aller Charaktere, dies moralifche Faulfieber ift jet die graffterende 
Krankheit, vor der mir ärger ald vor der Peft graufet.” Glauben 
Sie mir, feste Perthed hinzu, unter den Kümmerniffen und unge- - 
willen, unruhigen Lagen ift mir Ihr Verhältnid zur Nation eines der 
quälendften gewefen. Glauben Sie mir, es ift die Nation, die jet 
in Ungewißheit und ohne Hirten ift, und nicht weiß, ob fie ferner 
Ihre Stimme hören foll oder nicht. Ich quäle Sie, aber ih müßte 
mid nicht achten und Sie nicht lieben, wenn ich fchweigen Fönnte. 
Gott fei mit Ihnen und mit und allen; das Gottedgericht wird nun 
bald geiprochen haben. Ich fühle Kraft und Muth in mir, in jeder 
Lage deutfch und brav zu fein, und hoffe bald die Straße vorgeſchrie⸗ 
ben zu ſehen, die man wandeln muß. 


Die Bemühungen um die Erhaltung dentſcher Geſinunug 
in den Jahren 1809 und 1810. 





Obgleih Mortier am 19. November 1806 Hamburg beſetzt hatte, 
war dasfelbe eine freie und fouveräne Stadt geblieben, aber von den 
Zruppen Napoleon’3 ward ed nicht wieder verlaffen. In rafchem 
Wechſel löſten fih Franzoſen, Staliener, Holländer, Spanier, Deut- 
fche unter kaiſerlichen Oberbefehlshabern ab. Nach außen ging jeder 
Schein der Selbftändigfeit verloren, die innere Berwaltung der Stadt 
dagegen blieb ähnlich wie in den Rheinbundaftaaten der hergebrachten 
Obrigkeit überlaffen, nur die Einführung des franzöfifchen Gefehbu- 
ches ward geboten. Die Staatdeinnahmen Hamburgs hatten, da ihr 
Gebiet nicht in Betracht fommen konnte, feine andere Quelle ald den 
Handel, und der alte Handel Hamburgd war durch dad Eontinental- 
foftem vernichtet. Weber dreihundert Hamburger Seeſchiffe lagen ak« 


160 


getafelt im Hafen, und die Aſſecuranzcompagnien der Stadt erlitten 
in den nächften drei Jahren nah der Belebung einen Berluft von 
zwanzig Millionen Franken. Während die Einnahmen fich in unbes 
rechenbarem Grade verminderten, waren die hundertunddreißigtau« 
fend Menfchen, welche in der Stadt und auf deren Gebiete wohnten, 
den unerhörteften Ausplünderungen der franzöfifchern Regierung und 
den fchamlofeften Erpreſſungen der franzöfifchen Beamten, unter denen 
vor allen Bourrienne fi) auszeichnete, preidgegeben. Mancher wohl« 
habende Mann verließ, um nicht zu verlieren, was er hatte, die Stadt, 
und die Bleibenden gingen, gequält von Sorge und Noth, in dum⸗ 
pfer Trauer einher. 
In dieſer Zeit, die für Deutſchland und Europa nicht minder 
” troftlo® und hoffnungslos war, wie für die einzelne niedergetretene 
Stadt, wurde die Erhebung Spanien? gegen den Gewaltherricher mit 
allgemeiner Freude begrüßt. Den Norddeutfchen, vor allen den Ham- 
burgern, trat die Bedeutung ded neuen Kampfes lebendig vor die 
Seele, ald der Marquid de la Romana, welchen Napoleon möglichft 
fern von feinem Baterlande, nach Fünen, gejendet hatte, fich im Au- 
guft 1808 mit feinen Spaniern auf englifhen Schiffen dem Dränger 
entzog und nad Spanien zurüdfehrte. Perthes wurde um fo tiefer 
von der That des entſchloſſenen Mannes ergriffen, als er mit demfel- 
ben während deſſen Aufenthalt in Hamburg feit dem Spätfommer 
1807 in vielfachem perfönlichen Verkehr geftanden hatte. Die Spa- 
nier, die wir jeßt in unferer Stadt haben, äußerte Perthes fich 1507, 
mildern unfer Schidfal fehr. Sie find faft ohne Ausnahme gute Kin- 
der und verftändig. Gleichviel, ob fie lefen können oder nicht, man 
- erkennt doch in ihnen die Abkömmlinge einer großen und gebildeten 
Nation. Ihr General, Marquis de la Romana, ſpricht fehr gut deutſch 
. und fennt deutfche Literatur, befonderd aber die deutfchen Herausge⸗ 
ber der Glaffiter. — Noch viele Jahre fpäter erinnerte fich Perthes 
‚mit großer Freude der vielfachen belebten Gefpräche, die er mit dem 
Marquis gehabt. Richt lange nach Romana’ Fortgang aus Fünen 
erreichten dunfle Gerüchte von großen Vorbereitungen Deftreich® und 
‘von Verbindungen entihlofjener Männer in Preußen und Weſtfalen 
Samburg und hielten Perthes in ſteter Spannung. 


161 


Oftern 1809 ging er nach Leipzig. - Lieb ift e8 mir, fchrieb er an 
feine Frau, daß ich hierher gelommen bin. Es ift faum zu glauben, 
wie einftimmig die Menfchen find; fo eind wie jebt war Deutfchland 
nie. — Am 25. April Abend wurde in Leipzig die Reihe von Sies 


- gen befannt, welche Napoleon in den Tagen vom 18. bis zum 20. April: . 


über Deftreich erfochten hatte. Geftern Abend ift die Nachricht von 
den verlorenen Schlachten hier angefommen, ſchrieb Perthes; in der 
größten Beftürzung hat man geftern bier illuminiert. — — — Der 
. erfte politifche Schreck, heißt e8 in einem Briefe an feine Frau vom 
4. Mai, hat fich gelegt, und nun fangen andere und nähere Betrach⸗ 
tungen an ftattzufinden. Die Lage der Dinge ift fehredlih und die 
Ausſicht von höchfter Beunruhigung. Der große Kampf ift noch nicht 
beendet und vielleicht wird er noch lange dauern, und dann nur auf 
Koften unferer Nation. Schreiben Tann id) ed nicht, bis auf welchen. 
Grad Muthlofigkeit fich aller bemächtigt hat, aber an einen Zuftand, 
wie er jeßt fich findet, grenzt ganz nahe die Wuth der Verzweiflung, 
und dieſe wird eintreten. Es gibt hier in der Nähe nach Wittenberg 
zu fonderbare Auftritte, die ſchwer zu erflären find. Es wird das 
Gerücht davon ficher auch zu Euch gefommen fein. Beuntuhige Di 
darüber nicht. Die Sache ift bis jetzt durchaus nicht von der Art, 
daß fie mich etwad anginge. — Das Schill’fhe Infurgentencorps 
hält den Weg von hier nah Hamburg beſetzt, fehrieb er am 8. Mai, 
aber wie Ehrenmänner refpectieren fie.alle Reifenden. Du wirft nicht 
bange fein, meine liebe Caroline, vor Gefahr von außen. . Die Ge- 
fahr liegt wo anderd. O daß ich dürfte, dab Gott mir die Erlaub- 
ni® gäbe zu thun, was ich auf meinen Willen allein nicht thun darf! 
Die Schlacht von Wagram am 6. Juli und: der Wiener Friede 
am 14. October 1809 ftellten die Fortdauer der Gewaltherrſchaft Na- 
poleon’® von neuem außer Frage. Der Welten Deutihlands war 
längft mit dem franzöfifchen Reiche vereinigt; Deftreih und Preußen, 
welche den Often inne hatten, waren völlig befiegt; die zwifchen ihren 
Staaten und dem franzöſiſchen Kaiferreiche liegenden Landeötheile 
ftanden unter Fürften, die entweder der Kamilie Napoleon's angehör- 
ten oder doch ald Glieder. ded Rheinbundes Werkzeuge Napoleon’d 


waren. Jeder politifche Zufammenhang des deutigen BUB wur 
Pexthes Leben. I. 4. Xufl. . 11 


162 


zerriffen und jeder Verſuch, denfelben herzuftellen, wäre für den Pri- 
vatmann Wahnfinn gewefen. Alles aber fam darauf an, zu verhin- 
dern, daß die politifche Auflöfung nicht zugleich eine nationale Auflö- 
fung wurde. Wenn die Deftreicher und Preußen, wenn die Bewoh⸗ 
ner des linken Rheinuferd und die Unterthanen der Rheinbundsfürften 
das Bewußtſein verloren, Glieder einer und derfelben Nation zu fein, 
fo war die Herftellung einer deutſchen politifhen Einheit und Selb. 
ftändigfeit für immer unmöglih, und dennod war ed damals nur 
nad einer einzigen Seite hin den Deutfchen möglih, ihre Nationali- 
tät frei zu entfalten, ohne fogleich von dem Späherauge des Feindes 
ertappt und von feiner rohen Gewalt erbrüdt zu werden. Die Wif- 
ſenſchaft, fo lange fie nur Wiffenfchaft blieb, fürchtete Napoleon nicht 
und beachtete fie deshalb auch nicht. Für die Deutfchen aber war 
jeit manchem Jahrhundert ihr felbftändiged und eigenthümliches Leben 
in der Wiflenfchaft eine der wefentlichen Kräfte gewefen, durch melche 
fie als Nation erfchienen. Diefed Bewußtſein wiſſenſchaftlicher Selb- 
ftändigfeit und Einheit konnte freilich für fi) allein die nationale Ein- 
beit nicht erhalten, aber e8 fonnte doch fie erhalten helfen, konnte die 
Hülle werden, unter welcher verborgen der nationale Haß gegen den 
Unterdrüder ſich fräftigte, und ein Mittel fein, durch melches in un- 
verdächtiger Form ein lebendiger und fefter Zuſammenhang deutich- 
gejinnter Männer aus allen Theilen ded zeriprengten Deutſchlands 
hervorgerufen ward, der dann, wenn die Stunde der Rettung fchlug, 
auch mit andern Waffen ald mit denen der Wiſſenſchaft zu wirken 
vermochte. 

Perthes hatte in den Monaten nad der neuen Beſiegung Oeſt⸗ 
reichs Troft und Belehrung für die Gegenwart in der Gefchichte der 
vergangenen Tage gefuht. Ihm fchien die Zeit der Reformation 
- durch ihre ungeheuren Ummälzungen, die der italienifchen Republiken 
durch die politifche Zerfplitterung eines lebensvollen Volfed mit den 
Zuſtänden feit Ausbruch der Revolutionskriege vergleichbar. In die 
inneren Lebendzuftände des fechzehnten Jahrhunderts, fchrieb Perthes, 
habe ich mich durch Benvenuto Gellini einführen laffen, dann war mir 
Robertſon's Geſchichte Karl's V. Leitfaden. Sch habe gelernt, daß 
fefter Borfab und Wille, dag ruhige Befonnenheit und die Erreichung 


163 


großer Zwecke auch in einer Zeit: der "fürchterlichften öffentlichen Un 
ruhen und Ummälzungeu möglich ift. Sept erfreuen und ftärken mich 
Sismondi's italienifche Republiten. Jahrhunderte hindurch war Ita⸗ 
lien ohne gemeinſchaftlichen Mittelpunkt und ohne politiſchen Zuſam⸗ 
menhang geweſen; aber in den kleinen Kreiſen jener Republiken war 
dennoch Kraft, in ihnen erhielt man ſich dennoch mit Verſtand, und 
Italien konnte aufs neue erblühen und Menſchen erzeugen, deren Geiſt 
unſterblich, deren Thaten unvergänglich ſind. Sollten wir verzwei⸗ 
feln? nein. Obſchon das Ende aller bisherigen Hoffnungen eingetre- 
ten ift, bin ich dennoch getroft. ch liebe mein Baterland, habe oft 
gebetet, oft gezittert für dasfelbe und würde auch für dasſelbe gefochten 
haben, wenn damit etwas hätte ausgerichtet werden können; ich bin 
aber, um Adam Müller's Ausdrud zu gebrauchen, nicht mit der graf- 
fierenden Baterlandsretterei behaftet und darum auch nicht in Per- 
zweiflung, fondem habe die Heberzeugung, daß die deutiche Geſchichte 
deshalb, weil die alte Form des deutichen Reiched zertrümmert ift, 
nit eine Geichichte des Berfalld® der Nation zu werden braudt. 
Wenn ein jeder auf feinem Standpunft thut, was er Tann, fo können. 
die einzelnen viel ausrichten und dürfen ed, und ich will verfuchen, 

was ich auf dem meinigen vermag. 

Alle Deutfche, welche, ſei es fchaffend, fei- es aufnehmend, irgend 
einen Antheil an dem wiſſenſchaftlichen Leben hatten, wollte Perthes 
ohne Rüdjicht darauf, ob fie dem franzoͤſiſchen Reiche, oder den Rhein⸗ 
bundsftaaten, oder Deftreih und Preußen angehörten, möglichit feſt 
zuſammengeſchloſſen fehen. Deutfchland ift recht eigentlich, fchrieb er, 
Element und Vaterland ded Standes der Männer der Willenfchaft; 
deutfche Gelehrtenrepublif befteht noch und kann auch ferner beftehen, 
obgleich unfere Fürften befiegt find und das deutiche Reich zertrüm- 
mert if. — Zu feiner tiefen Entrüftung aber mußte er ſehen, daß 
jelbft ehrenmwerthe Männer hier und da aus Schwäche oder Unbedacht 
dem Feinde dad Wort redeten. An der Afademie,-deren Präfident Sie 
find, fchrieb er nach) dem Wiener Frieden von 1809 an Jacobi, hat 
Schlichtegroll gefagt, daß dieſesmal Deutichland durch Baiern gerettet 
fei. Wenn Napoleon da3 fagt, jo hat das feine Wahrheit; wenn die 
bairifche Regierung das fagt, fo weiß man, wie man es zu nehmen 

11 * 


164 


bat; wenn aber ein deutfcher Gelehrter in einer deutfchen Akademie 
der Wiffenfchaften das fagt, fo ift ed eine Entehrung, und wer dazu 
ſich hergibt, ift das Leichenhuhn der. Wahrheit. — Wie ift, fragte er, 
ſolchem Berhalten einzelner gegenüber die deutfche Gelehrtenrepublif 
zu fichern, wie ihr Zufammenhang zu erhalten und wie jind ihre Mit- 
glieder vor Sklaverei, das heißt vor ihrer Vernichtung, zu bemahren ? 
Wenn ihnen nur, antwortete er fich felbft, eine Freiftätte geboten wird, 
durch welche fie, fei es auch nur vor der äußerten Xebendnoth, ge⸗ 
fichert werden, fo ift mir nicht bange; dann wird, weil ſie Deutſche 
jind, die Stimme der Wahrheit erfchallen von Bafel bis Königsberg, 
von Schleswig bis Prepburg, und damit ift viel, fehr viel gemonnen 
und erhalten. Solche. Freiftätte aber hat der Buchhandel ihnen ſchon 
lange gewährt und muß fie fünftig noch mehr gewähren. Der deut- 
ſche Buchhandel ift das einzige noch. vorhandene Band, welches die 
ganze Nation umfaßt; ein Nationalinftitut ift er, frei aus fich felbit 
entfproffen und jetzt beinahe allein unfere nationalen Eigenthümlich— 
keiten echt harakterifierend. Daß er nicht altes leitete, was er leiften 
konnte, ift wahr; aber für die Zukunft fann er noch vieles Teiften, und 
er allein kann die deutfche Gelehrtenrepublif retten, und das ift meine 
Aufgabe für diefe® Leben. Das Wie ift mir Mar vor Augen und ift 
ausführbar. Komme eine Einrichtung für Deutfchland, wie fie wolle, 
fie kann diefer Sache fein Hindernis in den Weg legen. Ich habe 
durch ganz Deutfchland Freunde, von denen nicht wenige fähig find, 
aus eigener Weberzeugung mit Kraft etwas gutes und wahres zu er- 
greifen und zu verfolgen; andere werden mir zu Liebe gerne etwas 
thun, und wieder andere find mir gern gefällig um der Gegengefäl- 
ligfeiten wegen... Den Kreis der Freunde fuche ich mir auszudehnen, 
Feinde habe ich nicht. Bewahrt mir Gott das Leben, fo hoffe ich 
felbft noch tüchtig Hand anlegen zu fönnen, und was ich nicht kann, 
das werden andere nach mir thun. Bor der Hand aber muß, ehe 
ſich etwas größered- unternehmen läßt, abgewartet werden, welche 
Ordnung unſeres Paterlanded nad dem nun geſchloſſenen Frieden 
von Napoleon beliebt wird. 

Ein Unternehmen nur ſchien Perthes jetzt ſchon möglih und, von 
den verfchiedenften Geſichtspunkten aus betrachtet, nothwendig. Die 


165 


deutfchen Sournale, fehrieb er an Jacobi, find mit wenigen Ausnah⸗ 
men in ganz fhlechten Händen; fie find theil® fchlecht aus Abficht und 
Wahl, theild find fie nur des Gewinne? wegen unternommen und 
trachten deöhalb nur darnach, die verwöhnten Gaumen ftet3’mit dem 
Neueiten zu kitzeln. Das ift zu allen Zeiten traurig, zu unferer Zeit 
aber ift ed ſchrecklich. Es kommt jetzt, da es nöthig ift, zur rechten 
Zeit augenblidlich zu fprechen, viel darauf an, daß deutfche Männer 
willen, wo fie für den Augenblid etwas zu Tage fördern können. 
Eine in furzen Zeiträumen erfcheinende Zeitichrift, welche Tebendige 
Berbindung aller deutfchgefinnten Männer erhält, ift dringendſtes 
Bedürfnis. Meinen guten Willen zu fold einem Unternehmen kenne 
ih, meine Stellung ift günftig; ich kenne die Edelften der Nation theild 
perfönlich theild durch dieſe oder jene Berührungspunfte und kann 
‚mir deren Beihilfe verfprechen; mein Buchladen reicht in der gedrüd- 
ten Zeit Hilfamittel für die Nedaction dar, wie fein anderer e8 ver- 
mag.. Aber, werden Sie vielleicht fagen, was hilft Euch Euer guter 
Wille. Dürft Ihr au? Darauf antworte ih mit Jean Paul: Mit 
feinem Zwange entichuldigt die Furcht ihr Schweigen. Wir können 
auch unter Napoleon’® Herrfchaft vieles fagen, wenn wir nur die 
rechte Weife lernen, es zu fagen, und überdied wollen wir das Gute 
nicht verihmähen, was zugleich mit dem fremden Uebel uns zu Theil 
wird. Wahrlich es find gar viele heilfame Dinge, die wir von den 
Franzofen erlernen und erwerben fönnen, und e8 ift echt deutfche Sin- 
nesart, das Gute allenthalben zu erfennen. Baterländifches Muſeum 
fol fich die neue Zeitfchrift nennen. Sie foll nicht verboten werden, 
darum muß fie fehr vorfichtig auftreten. Sie foll gelefen werden, 
darum muß ihre Abficht und Richtung erfennbar für die Deutfchen 
fein. Ich werde meinen Gang ruhig vorwärts gehen, in der feften 
Veberzeugung, daß ich mein Ziel erreiche, und wahrſcheinlich ungeftört. 

Seit Ende Rovember 1809 verfendete Berthes den Plan des va- 
terländifhen Muſeums nad allen Gegenden Deutfhlands ar alle 
Männer, von deren deutſchem und wilfenfchaftlichem Sinn er Kunde 
hatte. In befondern Zufhriften, von denen manche zurücbehaltene 
Auszüge aufbewahrt geblieben find, fuchte er den einzelnen die Seite 
des Unternehmens hervorzuheben, welche er ihnen am meiften zugäng⸗ 


166 


lih bielt. Bald ſprach er von der Förderung der deutfchen Wiflen- 
fhaft, bald von der Einwirkung auf die Gefinnung ded Volkes, bald 
von der Möglichkeit, welche die Zeitfchrift den wegen ihrer deutfchen 
Geſinnung von ihren Regierungen verlaffenen oder gedrüdten Män- 
nern gewähre, fich ihr Leben bis auf beflere Zeiten zu friften. Andern 
that er dar, wie der wilfenfchaftliche Zufammenhang jet der einzig 
mögliche Zufammenhang der Deutfchen fei, und wie in dem Mufeum 
aus allen Wiffenfhaften das Nationale hervorgehoben werden follte. 
Einigen wenigen und unter diefen namentlich Sean Paul eröffnete er 
fein ganzes Herz. Ein unverdächtiger Bund der deutfchen Männer, 
welche von Gott zu geiftigen Leitern ihred Volkes berufen feien, werde; . 
fo hoffte er, den Augen der Dränger verborgen ins Leben treten; jedes 
einzelne Mitglied könne nad Map feiner Stellung und Bedeutung, 
ohne Auffehen zu erregen, gleichgefinnte Männer an ſich ziehen; ein 
Mittelpunkt, der einzige, welcher jest möglich fei, fei gegeben und 
fhnell könne fi, wenn die rechte Stunde fäme, der wiflenfchaftliche 
Verein in einen Bund umſetzen, welcher zu fräftigen Thaten Kraft und 
Zufammenbang befite. Damit der Verein eine fo breite Unterlage 
im Bolfäleben wie möglich erhalte, follte Feine Seite des deutfchen 
wittenfchaftlichen Lebens unvertreten bleiben. Bon Rumohr erbat er 
fih Nachrichten über die Werke altdeutfcher Kunft, von Wilken über 
alte Gebräuche und Gewohnheiten und über die Wahrheit und Un⸗ 
wahrheit des Gegenfaged von Nord- und Süddeutichland. euer. 
bach follte über deutſches Recht und Gefebgebung, Auguft Wilhelm 
Schlegel über deutfche, Friedrich Schlegel über öftreichifche Literatur 
insbeſondere, Sailer in Landehut über das religiöfe Leben der deut- 
[hen Katholifen, Marheineke in Heidelberg über die Bedeutung des 
deutſchen Predigtamtes, Schleienmacher über die philoſophiſche, Pland 
über die biftorifche Iheologie der Deutfchen berichten. Schelling 
machte er darauf aufmerffam, daß er wohl, wenn e8 darauf anfäme, 
fih dem großen Publicum bequemen fönne, wie die Rede über bil- 
dende Künfte zeige; Gentz erinnerte er daran, nicht deshalb ganz zu 
ſchweigen, weil er nicht alles fagen könne, was er zu fagen wünſche. 

Zahllofe Antwortfchreiben aus den großen Städten wie aus den 
entlegenften Winkeln Deutfchlanda Tiefen ein und unter ihnen waren 


167 


nur fehr wenige, welche ſich nicht mit Wärme über dad Unternehmen 
und mit Dank gegen den Mann, welcher ed verfuchte, auögefprochen 
hätten. Adam Müller, Gent und Karl Ludwig von Haller, Karl 
Friedrich Eichhorn, Thibaut, Savigny und Heife, Marheineke, Stäud- 
lin, Schleiermader und Planck, Sailer, Stolberg und Friedrich 
Schlegel, Steffen, Amim und Fouqué, Goͤrres, Franz Baader und 
Brentano, Rumohr, Tiſchbein und Fiorillo, Scheffner aus Koͤnigs⸗ 
berg und Schlippenbach aus Kurland, Lichtenftein und Grimm, Rühs 
und Heeren, Raumer und Rehberg,, der alte Feder in Hannover und 
der eben fo-alte Hegewiſch in Kiel und viele andere hegten nach dieſer 
oder jener Seite hin und in mehr oder minder hohem Grade Hoffnun- 
gen von dem angekündigten wiſſenſchaftlichen Bereinigungspunft. 
Hüllmann glaubte die deutfche Gefellihaft in Königsberg dem deut⸗ 
fhen Mufeum anfchliegen zu können, und hoffte, daß auch an andern 
Drten ähnliche Gejellfehaften eine Verbindung eingehen würden. Mit 
wärmfter Begeifterung führte Villers Deutfche in Mosſskau, Parid und 
Warſchau dem Unternehmen zu und erwedte auch Guizot's Aufmerk⸗ 
ſamkeit für dasſelbe. Goethe freilich verfagte feine Theilnahme. Ich 
muß, obgleich ungerne, ablehnen, an einem fo wohlgemeinten In⸗ 
flitute Theil zu nehmen, antwortete er; ich habe perfönlich alle Ur- 
fache, mich zu concentrieren, um demjenigen, was mir obliegt, nur 
einigermaßen gewachfen zu fein, und dann ift die Zeit von der Art, 
daß ich fie immer erſt gerne eine Weile vorüberlaffe, um zu ihr oder 
von ihr zu fprechen. Berzeihen Sie Daher, wenn ich dem Antrage 
ausweiche, und laffen Sie mid) manchmal erfahren, wie Ihr Unter- 
nehmen gedeiht. — Ich freue mich, fchrieb dagegen Graf Friedrich 
Leopold Stolberg, mid) an Sie und die Ihrigen anzuſchließen, Tie- 
ber Perthes. Wie fehr ich die Kühnheit Ihrer ald Manuſcript ge- 
druckten Ankündigung ehre und liebe, brauche ich Ihnen nicht zu fagen. 
Die für das Publicum beftimmte Anzeige mußte etwas gezwungen 
audfallen. Das wird wenig fehaden: der ungeübte Lefer merkt es 
nicht, und der geübte fieht fogleich dad Warum, der patriotifche wird 
Fhnen manche Aeußerung mit vielem Danke hoch anrechnen. — 
Gebe Gott Shnen, edler Mann, Muth, Kraft und Ausdauer, fchrieb 
Marheinefe, um ein Unternehmen behaupten zu können, das fich 


168 


durch feine Idee ſchon allen Deutfhen empfiehlt. Mit großer Ein- 
fit haben Sie eine eigene Rubrif „Kanzelredner“ aufgeftellt, denn 
grade von diefen wird das Deutfche in der-proteftantifhen Gefinnung 
dem Bolfe nahe gebracht. Gerne bin ich bereit, Ihnen einige Auf 
ſätze über den wahren Charakter eines proteftantifchen Geiftlichen zu 
liefern, welche ich mit deutſchem Sinn und deutfchen Muth zu ent- 
werfen gedente. Suchen Sie aber für andere Seiten der Theologie noch 
einen Dann von gediegener Philoſophie und von tüuͤchtiger Hiſtorie; 
in jener Rückficht weiß ih nur den einzigen Schleiermacher, in dies 
fer nur den einzigen Pland vorzufchlagen. — Ihr Unternehmen, 
hochverehrter Herr, ſchrieb Haller aus Bern, fehe ich wie eine Fügung 
Gotted an. Nie darf man verzweifeln. Das einzige Mittel gegen 
das Unglüd der Zeiten ift, beffere Grundfäge und beffere Gefinniun- 
gen in Kopf und Herz der Menfchen zu bringen. Diefe dringen zu- 
legt auch in das Gemüth der Gewaltigen ein und bringen Reſultate 
herbei, die man nie erwartet hätte. Haben ſtaats⸗- und religionsver⸗ 
derbliche Irrthümer ſelbſt auf manche Throne fich geſchwungen, wa- 
rum ſollte der himmliſchen Wahrheit nit aud ein Platz vergönnt 
fein, fie, deren am Ende jeder bedarf, die Fürften und Bölfern gleich 
nügfich ift, für welche die Gemüther wieder empfaͤnglich werden und 
die jetzt noch dazu den Reiz der Neuheit gewinnt. Laſſen Sie, vor⸗ 
trefflicher Mann, nur den Muth nicht ſinken. — Die Mannigfaltig- 
feit Ihres Muſeums hat mich keineswegs befremdet, Tiebfter Freund, 
ſchrieb Steffens aus Halle; es mußte das Eigenthümliche der ganzen 
Literatur ergriffen werden, und diefe bewegt fich in den mannigfach⸗ 
ften Richtungen. An äußere Berfnüpfung de? Bielfachen muß man 
gar nicht denken und den vielfeitigften Anfichten muß man freien 
Spielraum geben. Wenn nur ein jeder Aufſatz etwas tüchtiges in 
feiner Art leiftet, fo fpricht fich die Einheit des deutſchen Geifted von 
jelbft im Ganzen aus. Wo die Natur da3 Lebendige nicht äußerlich 
vereinigt, fondern innerlich frei walten läßt, fo, denke ich, .liegt 28 
auch und ob, überall die ebereinftimmung des Einzelnen mit dem 
Ganzen zu fuhen. Mag doch der Zwiefpalt in unferer Nation fi 
regen und ſcheinbar Geifter von Geiftern trennen; auch die Natur 
erfchien im wildeſten Kampfe mit ſich felbft, bevor das herrlichfte le 


169 


ben, ber Mittelpunkt der Schöpfung, hervortreten follte. So ſtark 
ift der Kern der deutfchen Nation, daß eine ewige: Bergangenheit in 
ihr lebt und eine ewige Zukunft mit Sicherheit weisſagt. — Nie hö⸗ 
ven Sie auf, wie ich jehe, fi mit den großen Intereſſen des ge- 
meinfhaftlichen Vaterlandes zu befchäftigen, antwortete Gen aus 
Prag, und über Meinfihe Rüdjichten erhaben, tragen Sie fein Be- 
denken, auch mich zur Mitwirkung bei dem höchſt Löblichen Unterneh⸗ 
men aufjufordern. Sie haben volltommen Recht. Die Preſſe iſt kei⸗ 
neswegs in dem Grade gefeſſelt, wie fo manche zitternde Buchhänd⸗ 
ler und Schrifiſteller wähnen. Dan darf ſelbſt in Frankreich und um 
wie viel mehr alfo in Deutfchland jept beinahe alles ſchreiben, was 
dem Publicum zu leſen frommt, wenn man fi nur in der Form 
von gewiſſen Klugheitämaßregeln nicht entfernt, die, im rechten Lichte 
betrachtet, der wahren Bervolllommnung fehrifftellerifcher Arbeiten 
am Ende wohl eher vortheilhaft ala [hädlıch find. Ahr Plan ift vor⸗ 
trefflih umd der, welcher die Ankündigung abgefaßt hat, gewiß fein 
mittelmaͤßiger Kopf... Auch kenne ich Sie-felbft genug, um mich über- 
zeugt zu halten, daß Sie zu einer folhen Sache nicht fehreiten wür—⸗ 
den, wenn Sie fih nicht audgezeichneter Werkzeuge verfichert hätten. 
. Wenn ich felbft mich nicht gleich beftimmt und unbedingt unter die 
Zahl ihrer Mitarbeiter einfchreibe, fo hat das feinen Grund in mei« 
nen perfönliden Berhältnifien. An authentischen Auffchlüffen über 
die neuefte Zeitgefchichte kann Fein Schriftfteller, Tönnen überhaupt 
wenige’ meiner Zeitgenoffen fo reich fein als ich; ich darf es fagen, 
weil Umftände, nicht mein Berdienft, mich dazu führten. Aber.grade 
das Anziehendfte, dad Wichtigfte von dem, mas ich weiß, fann ich 
nur felten dem Publicum mittheilen, weil es mir unmöglich ift, Perfo- 
nen zu compromittieren,,; die große Rollen auf dem Schauplah der 
- Melt fpielen oder fpielten,, deren Vertrauen ich um feinen Preid mid» 
brauden wollte und an deren Freundfchaft mir. oft mehr- gelegen ift 
ald an dem flüchtigen Beifall oder kalten Dank des Publicumd. Auch 
ergreife ich diefe Beranlaffung, um Ihnen etwas zu fagen, mad Ih» 
nen vielleicht in mancher Beziehung - nicht unintereffant if. Es hat 
fich nemlich ſeit den legten öftreichifchen Friedensverhandlungen, ohne 
daß in meinen Grundfäßen oder in meinen Gefinnungen oder in mei⸗ 


170 


ner übrigen Lage das geringfte alteriert oder verändert worden wäre, 
in meinem Verhältnis zur franzöfifchen Regierung eine weſentliche 
Veränderung zugetragen, indem die dee, welche der Kaifer Napo⸗ 
leon von mir gefaßt hatte, eine andere Geftalt gewonnen hat; und 
wenn Sie gleich nie von mir hören werden, daß ich meinen biäherigen 
Wandel und Charakter verleugne, jo habe ich Doch Gründe zu glau- 
ben, daß es in franzöfiihen Blättern forthin Feine Ausfälle gegen 
mich mehr geben wird. Den eigentlichen Zuſammenhang der Sadıe 
kann ich einem Briefe nicht anvertrauen, daß mir aber in der Rage, 
worin die Welt nun einmal fich befindet, diefe Art von Bacification 
nicht unwillkommen fein fann, werden Sie leicht begreifen. 

. Seit dem Frühjahr 1810 trat das deutfche Mufeum ind Leben 
" und brachte Beiträge von Jean Paul, Graf Friedrich Leopold Stol- 
berg, Claudius, Fouqué und aus dem Nachlaß Klopſtock's, Auffäbe 
bon Heeren, Sartorius, Hüllmann und Friedrich Schlegel, von Gör⸗ 
red und Arndt, von Scheffner und Zifchbein und manchen andern bes 
deutenden Männern. 

Obgleich Perthes fich zu dem Geftändniffe gendthigt fah, daß nur 
wenig von dem, was er gefagt haben möchte, in dem Mufeum ge 
fagt werden dürfe, fo übertraf die Aufnahme dedfelben dennoch alle 
Erwartungen; aber auch die durch die Herausgabe geforderte Arbeit 
überftieg neben den großen politifchen Aufregungen und neben den 
fortlaufenden Anftrengungen für das ausgedehnte Geſchäft fait dad 
Map der menſchlichen Kraft, und das Familienleben der Jahre 1809 
und 1810 trat mit feinen Freuden und Leiden hinzu. Am 2. März 
1809 ward ihm ein Knabe, Clemend, geboren. Wir haben gerne 
einen Knaben, fehrieb Perthes; durch dieſe aufwachſende Jugend Tann 
man für die Zukunft werden, was für die Gegenwart zu fein unmög⸗ 
lich if. — Am 4. April 1810 wurde ihm eine Tochter, Gleonore, ge- 
fhenft, aber auch ſchwere Kinderfrankheiten fuchten die Familie heim, 
und am 18. December 1809 ftarb Perthes' zweiter Sohn, Johannes, 
ein bedeutender, lebensvoller Knabe. Mit feinem Herzen voll reiner 
Liebe und Fröhlichkeit, fehrieb Caroline, war er unfer Glüf und 
unfere Freude. Run fehen wir ihm mit betrübtem Herzen nad und 
fönnen und noch immer nicht Darauf befinnen,, daß wir ohne ihn 


171 


weiter fortleben follen, und können und nur traurig des vielen Guten 
freuen, was Gott un? gelaffen hat. Es ift ein bitterer Schmerz, ein lie 
bes Kind fo weit entfernt zu haben, aber Gott wird mein Sehnen, Hof. 
fen und Glauben wahr machen und mir wieder geben, was mir Tag 
und Nacht fehlt und was ich fo von Herzen gern behalten hätte. 
Nach manchem Fahre der Unruhe und Anftrengung gewährte ſich 
Perthes ein, wenn auch nur furzes, forgenlofes Ausruhen, indem er 
feine liebe Schwarzburger Heimat beſuchte. Die beiden jüngften 
Kinder wurden von den Wandabeder Großeltern in Obhut genom- 
men, und mit den vier Altern reiften Perthed und Caroline Anfang 
Juli 1810 über Braunfchiweig und Naumburg nach Zhüringen ab. 
Könnte ih Euch nur, fehrieb Karoline aus Schwarzburg an ihre Mut- 
ter, die Groͤße, Schöne und Kieblichkeit der hiefigen Gegend wieder: 
geben, aber Worte reichen nicht. Und Gott fei Dank, daß der Menſch 
mehr empfinden als audfprechen kann; es bleibt ein jämmerlih Ding 
um dad Sprechen, wenn ed Ernft im inneren if. Die Thüringer 
Berge und Thäler greifen den Menfchen an der rechten Stelle, id) 
halte fie feft und werde fie fefthalten, fo lange ich lebe. Es ift zu viel, 
fage ih, und man hat nicht Kraft, alles in fich zur Ruhe zu bringen. 
In unferer Fläche fann man zu dieſem Zuftand von Freude, Dank 
barkeit und Sehnfuht nad) dem Herrn diefer himmelfchönen Natur 
nit fommen, und ich fehe es als eine große Gabe an, daß mich der 
liebe Gott dieſes alled hat fehen laffen in diefer Welt. Dad Schwarz. 
burger Thal ift die Krone, es hat einen unglaublichen Reichthum von 
mannigfaltiger Größe und Schönheit, und man kann e8 nicht Taffen, 
man muß ſich ausſtrecken nad) dem Schöpfer und Erhalter des Wun- 
derwerkes. Auf der einen Seite find große Felsmaſſen wie mit Men 
ſchenhand aufeinander gefeßt, auf der andern Seite wunderliebliche, 
bewachſene Berge, mit Feldern, Häufern, Menfchen und Vieh geziert. 
Die Schwarza fließt hell und Har in der Mitte und rauſcht und brauft 
mitunter tüchtig. Unſer Anfommen in Schwarzburg glüdte fehr gut. 
Wir waren zwei Stunden vor Schwarzburg audgefliegen und gingen 
ju Fuß; mit einemmal fam um eine felfenede der Oberftlieutenant 
und faßte Perthes in großer, herzlicher und natürlicher Freude um 
den Hald. Meinem lieben Perthes wurde fein beſonnenes, ehrbared 


172 


und verftändiged Concept verrüdt und.er mußte ſich der Freude bed 
Wiederſehens überlaffen, wie andere ehrliche Leute. Diefer Onfel 
Oberftlieutenant ift ein fehr kräftiger, grader und gefcheider alter Mann, 
den ich fehon herzlich lieb habe. Als wir noch einige Schritte weiter 
gegangen waren, hatte er auf einem breiten Felsſtück ein Frühftüd 
zurecht gemacht, das er felbit in feiner Jagdtaſche hergetragen hatte. - 
- Er war überaus fröhlich und freundlich und fonnte ſich nicht fatt er⸗ 
zählen vori der Freude, die er an Perthes gehabt, wenn fie zuſam⸗ 
men Fußtouren gemacht oder nad) dem Bogelherd gegangen mwäten. 
Noch etwas weiter kam der andere Onfel mit feiner ganzen Kinder- 
fhar. Wir padten nun da3 Fleine Bolt in den Wagen und gingen 
langfam hinterher. Bis tief in meine Seele bin ich gerührt über 
die große und allgemeine Freude, die hier ift, weil fte den Perthes 
. wieder. haben, und mein lieber Perthes ift wie ein Kind, und ih 
danfe Gott; daß er ihn und mid; dies hat erleben laſſen. Sie find alle 
initeinander wieder zwanzig Jahre jünger geworden. 

Mach einem Aufenthalte von einigen Wochen reifte Perthes mit 


Frau und Kindern von Schwarzburg nad) Gotha, wo Juſtus Per- 


thes, der Bruder feined Vaters, lebte. "Hier wären wir denn, fchrieb 
Caroline, und find aud) hier wieder unbefchreiblich freundlich aufge- 
nommen, aber unfere lieben Thüringer: Berge fehen wir nur noch in 
der Ferne. Die Kinder fehnen fih nah der Waldfreiheit und mir 
felbft geht es nicht beffer; ich Habe Mühe, es mir nicht merken zu laf- 
fen. In unferm Wald hatten wir die Franzoſen beinahe ganz ver- 
gefien, aber hier wird man tagtäglich wieder an fie erinnert. Schon 
feit Monaten werden Gefchüge, mwunderfchöne große Kanonen, aus 
Danzig und Magdeburg nad) Paris hier durchgeführt. Ad, man hat 
die Welt mit aller ihrer Noth und Unnatürlichkeit recht vor Augen, 
und fo wunderwohl, wie in den Bergen und Thälern, in denen man 
fi felbft mit allen feinen Nöthen und Gebrechen vergißt, kann es ei. 
‘nem nicht werden. In Erfurt habe ich dritthalb ftille Mefien abge 
hoͤrt oder abgefehen, die mir im höchften Grade misfallen haben. 
Auch war ich in dem Urfulinerflofter, von dem fich viel erzählen läßt, 
aber nicht? gutes; die erfte Frage einer alten Nonne war, ob der 
Kaffee in Hamburg noch nicht wieder wohlfeiler würde. Auguftiner 


173 


babe ich mehrere gefehen, die mir zu meinem größten Aerger ſaͤmtlich 
misfallen haben, dagegen bat Neudietendorf, ein Ort der Herrnhuter, 
mir wohlgethan. Die Menfchen haben-ein reines, ruhiges, fröhliches 
Auge und, ich glaube, aud eine ftille Sehnfucht im Herzen. Wenn 
ihr Innere wirklich dem Aeußeren entjpricht, möchte ich wohl, daß 
nach meinem Tode die Kinder dort fein könnten. Auch der Kirchhof 
ift fi und ruhig, und man möchte dort fchlafen. 

Ueber Kaffel und Göttingen kehrte Perthes nach Hamburg zurück. 
So eine Reife, wie wir fie genoffen haben, fchrieb er nach Schwarz. 
burg, ift ein wahres Bild des Lebens, nur was nad) der Reife noch 
übrig bleibt von der Reife, ift die eigentliche Neife. Uns ift vieles 
geblieben. . 

Nicht Tange nach feiner Ruͤckkehr wurden Gerüchte von neuen 
gewaltfamen Beränderungen, welche Napoleon in Deutfchland beab- 
fihtige, laut. Schon im Herbfte 1809 hatte fich der franzöſiſche Ge- 
fandte Reinhard in Hamburg aufgehalten, um die Entfcheidung über 
das endlihe Schickſal der Stadt vorzubereiten. Er hält, fehrieb da— 
mal? Perthed, Conferenzen mit Deputierten und Nichtdeputierten über 
die Erhaltung und Fortdauer der Hanjeftädte. Der Kaifer wird, nach⸗ 
dem er erfahren hat, wie die Lage der Dinge ift, das künftige Berhältnid 
der Städte beftimmen. — Mehr ala ein Jahr war feit diefem Briefe 
verlaufen, als kurz vor Weihnachten 1810 der Beſchluß des franzöfi- 
fhen Senats in Hamburg befannt gemacht wurde, nach welchen die 
drei Hanfeftädte zugleich mit dein ganzen nordweitlichen Deutfchland 
zu einem Beitandtheil des franzöfifchen Reiches erflärt wurden. Ham⸗ 
burg, von Karl dem Großen erbaut, fo hieß e8, folle nicht länger 
des angeftammten Slüdes entbehren, feinem größeren Nachſolger an⸗ 
jugehören. 

Hamburg war eine franzöfifche Stadt und ihre Bürger waren 
Napoleon’3 Unterthanen geworden. Da Perthed die Unmöglichkeit, 
feine Ziele in der bisherigen Form zu verfolgen, erkannte, gab er 
da8 deutſche Mufeum auf. Bei Anlegung diefer Zeitfchrift, fagte er 
am Schluffe des legten Hefte, war mein einziges Ziel, die Wohlge- 
finnten und Berftändigften unfere® Vaterlandes zu vereinigen, um 
durch Lehre und Rath in verfchiedenen Formen zur Erhaltung ded Eis 


174 





genthümlich-Guten der Deutſchen an Kraft, Wahrheit, Wiſſenſchaft und 
Religion beizutragen. Da ih aber ald Einwohner Hamburgs durch 
die neueften Einverleibungen Unterthan des franzöfifchen Kaiſerthums 
werde, fo machen die Dadurch eintretenden Berpflichtungen jene fruͤ⸗ 
here Richtung jetzt unzuläßlih, und das deutfche Mufeum kann von 
mir nicht weiter beforgt werden. — Ihr Mufeum verftummt nun 
auch, fehrieb ihm Nicoloviud, aber der Geift wird leben und Sie und 
Ihr Beftreben preifen. — Sehr wünjche ich, Tieber Perthes, äußerte 
Stolberg, daß Sie mit den waderen Männern, die Sie vereinigt hat⸗ 
ten, auch künftig in Verbindung bleiben könnten, um fi) den Ge 
danken einer neuen Bereinigung zu edlem Zwecke nicht fremd werden 
zu laffen, je nachdem Zeit und Umftände auf vielleicht nicht erwar⸗ 
tete Weife fie erfordern und begünftigen möchten. 

Wer jest, fo viele Jahre fpäter, den Inhalt des deutfchen Mu- 
ſeums überblidt, wird wohl den Eindrud deutfcher Tüchtigkeit und 
Nedlichfeit empfangen, aber nur die wenigen, die ſich den Drud je 
ner Zeit in feiner ganzen Furchtbarfeit lebendig vor die Seele zu brin- 
gen vermögen, werden ed erHlärlich finden, dag das Aufhören jener 
Zeitfchrift inmitten der ungeheuren Ereigniffe als ein nationales Un⸗ 
glüd von allen Seiten betrachtet werden konnte. 





Perthes' Haltung als frauzöfifcher Unterthan. 
| 1811 und 1812. 





Napoleon hatte, um die Berhältniffe der drei neugebildeten han- 
featifchen Departement? zu ordnen, eine eigene Commiffion beftellt, 
deren Präfident Davouft, Prinz von Eckmühl, Herzog von Auerftädt, 
wurde. Am 2. Januar 1811 langte die Commiffion und in den er- 
ften Tagen des Februar Davouft in Hamburg an; unter ihm arbei- 
tete Graf von Chaban, früher Präfeet in Koblenz; und in Brüffel, 
als Intendant des Innern und der Finanzen, und Staatsrath Faure 
follte Einrichtungen im Gerichtöwefen treffen. Am 4. Juli hatte die 
Cogmiffion ihre Arbeiten vollendet, und am 19. Juli wurde die 


175 


neue Ordnung der Dinge befannt gemacht. Davouft blieb General- 
gouverneur für die drei hanfeatifchen Departements; unmittelbar un⸗ 
ter ihm ftand ald Generaldirector der hohen Polizei Mr. D’Aubignofe. 
Gr leitete da3 gefamte Spionenwefen und benugte feinen großen Ein» 
flug auf den Prinzen, um deſſen Midtrauen gegen die Bewohner 
Hamburgs zu vermehren und zum eigenen Vortheil auszubeuten. 
Präfect des Departements der Elbemündungen wurde Baron de Co- 
nind, Maire von Hamburg der frühere Senator der Stadt Abend- 
roth. An dem in Hamburg eingefesten kaiſerlichen Gerichtähof, wel⸗ 
her die legte Inſtanz für die drei hanfeatifchen Departements und 
für dad Departement des Oſtens bildete, verfah de Serre, der fpäter 
in Stalien Niebuhr'd naher Freund ward, die Stelle des eriten Prä- 
fidenten, und Eichhorn, der fpäter das gleiche Amt am rheinischen 
Reviſionshofe in Berlin lange Jahre bekleidete, die Stelle des Ge 
neralprocurator. 

Perthes war kein blinder Feind alles deſſen, was die neue Herr⸗ 
ſchaft brachte. Glauben Sie mir nur, ſchtieb er dem Schwarzburger 
Oheim, mich leitet in meinen Anſichten nicht Leidenſchaft. Ich achte 
und ſchätze ſehr vieles der neuen Wirthſchaft und ſehr weniges von 
dem, was unſere Fürften und Regierungen früher thaten. Unter den 
höheren franzöfifchen Beamten find fehr wackere Männer, und die Ge- 
richtsverfaſſung ift ein großer Gewinn. — ber auch dem Manne, 
der nicht in blindem Eifer dahinging, mußte der neue Zuftand ſchrecklich 
erjcheinen. In dem ganzen nordmeitlichen Deutfchland waren durch 
Einverleibung in das Kaiferreich und durch die fie begleitenden Um- 
wälzungen alle Berhältniffe des Befiged und des Verkehrs von Grund 
aus verändert, und auf die Stellung, welche Perthed als Gejchäfts- 
mann einnahm, wirkte überdied das Verhältnis ein, in welchem die 
franzöfifche Regierung zu der Literatur und zu deren äußerem Träger, 
dem Buchhandel, ftand. 

Die Denkfreiheit ift die erfte Eroberung des Jahrhunderts, hatte 
Napoleon erflärt, und ich will Prepfreiheit in meinen Staaten ha» 
ben; aber ich- will willen, fügte er hinzu, was für Gedanfen und 
Ideen in den Köpfen umgehen. Cine Reihe von Anordnungen wa⸗ 
ten, um bdiefe Wißbegierde zu befriedigen, fehon durch das Decret 


176. 


vom 5. Februar 1810 getroffen worden. Die Buchhändler und Buch 
druder follten in jedem Departement Frankreichs bis auf eine Fleine 
Zahl von Männern verringert werden, deren Eifer in der Pflichterfül- 
lung gegen den Kaifer und gegen dad Wohl ded Staated unverdädh- 
fig fe Um den gejamten, durch diefe wenigen Männer betriebe- 
nen Bücherverkehr zu beauffichtigen, wurde in Paris die aus vier 
Püreaud und zahlreihen Beamten gebildete Generaldirection der 
Buchdrudereien und ded Buchhandel? errichtet, an deren Spige fich 
der Staaterath Baron Pommereul als Generaldirector befand. In. 
den einzelnen Departements führte ein Infpecteur der Buchdruderei 
und ded Buchhandeld die unmittelbare Auffiht, und neben ihm ftand, 
um da8 Stempeln der einzelnen Bücher zu beauffichtigen, der commis- 
saire-verificateur à l’estampille. Jeder Buchhändler, welcher nad) 
irgend einem Punkt des Kaiferreiches ein außerhalb desfelben gedrude 
ted Werk einführen wollte, mußte Originaltitel, franzöfifche Ueber- 
fegung desfelben, Autor, Inhalt, Jahreszahl, Format, Drudort 
dem Generaldirector in Paris einfchiden und die.Erlaubnis zur Ein- 
führung nachſuchen. Hatte diefer-Fein Bedenken, fo fendete er den 
fogenannten Permid an dad Grenzdouanenamt, über welches der be⸗ 
treffende Bücherballen. in das franzöfifche Reich eingehen follte. Das 
Douanenamt, wenn Die Bezeichnung des Ballens mit dem Permid 
übereinftimmte, fendete beides an den Präfeeten, unter welchem der 
Bücherempfänger wohnte, der Präfect übergab ed dem inspecteur de 
l’imprimerie et de la librairie, welcher es, nachdem er einen proces 
verbal darüber aufgenommen, dem verificateur à l’estampille zufen- 
dete. Der-Verificateur rief den Eigenthümer der Bücher, öffnete den 
Bücherpaden in deffen Gegenwart, verglich den Inhalt mit dem Per⸗ 
mis, nahm die nicht im Permis angegebenen Bücher fort,. wog die 
andern und beftimmte die droits nad) dem Gewicht, fünfundftebenzig 
Gentimes nemlich für jedes Kilogramme, das heipt für 2 Pfund 2 Loth. 
Dann ftempelte er jeded einzelne Buch und gab es frei. Am Ende 
jedes Monats fendete der Verifcateur ein Verzeichnis aller freigege- 
denen Bücher an den Generaldirector nah Paris, damit eine noch 
malige Vergleihung mit den in Paris geführten Liften vor fi) gehen 
Tönne. In diefer Weife fhien das Reich gegen dad Eindringen von 


177 


Schriften, die dem Kaifer hätten unangenehm fein können, ficher ges 
nug verwahrt, und um zu verhindern, daß nicht Schriften dieſer Art 
im Innern felbft zu Tage gefördert würden, mußte jeder Buchdruder 
Frankreichs von jeder Schrift, die er zu druden beabfichtigte, den 
ausführlichen Titel an den Präfecten feined Departement? und an 
den Generaldirector nah Paris fenden. Der Generaldirector konnte 
nach Gutbefinden Einfendung und Unterfuhung de? Manufcripts ver⸗ 
langen und den Druck verhindern; hielt er die Unterſuchung nicht für 
nöthig, fo ſendete er dem Buchdrucker einen Schein, recepisse,, dar⸗ 
über, daß er die Angabe des Titel erhalten habe, und der Drud 
durfte vor fih gehen, jedoch auf Verantwortlichfeit des Druders, 
Berbreiterd und Verfaſſers. 

Sobald Hamburg und dad nordweitliche Deutfchland dem fran⸗ 
zöſiſchen Kaiſerreiche einverleibt worden war, erſchien es gewiß, daß 
dieſe Einrichtungen auch in den neuen Departements Geltung erhal⸗ 
ten würden. Für jedes einzelne deutſche Buch alſo, welches in Ham⸗ 
burg gedruckt oder z. B. aus Göttingen oder Leipzig, Berlin oder Kiel 
nad Hamburg und durd Hamburg in die deutichen Theile des Kai⸗ 
ferreiche® gebracht werden follte, mußte, mie vorauszufehen war, ein 
Erlaubnisſchein aus Paris beigebracht werden. Es ſchien unmöglich, 
daß ferner noch von Buchhandel in Hamburg oder in einer andern 
deutfchen Stadt des Kaiferreiched die Rede fein könne. Um fich mes 
nigften? für die nächfte Zukunft zu helfen, erbat fich Perthes von allen 
Buchhandlungen Deutfhlands die in denfelben verlegten bedeutende- 
ren Werke auf fein Lager in Commiffion. Mafjenweife gab man ihm 
größere und Pleinere Werke, welche in möglichfter Eile, bevor die 
Sperre wirklich eintrat, nach Hamburg geſchafft wurden. Zugleich 
wendete fich Perthes an den ihm ſchon länger befreundeten Görres 
nad) Koblenz, um vor diefem Auskunft über die Art und Weife zu 
erhalten, in welcher die ftrengen den Buchhandel betreffenden Anord- 
nungen audgeführt würden. Ich erhalte eben Ihren Brief, antwor- 
tete Görres, und fee mich ſogleich hin, denfelben zu beantworten 
und Ahnen in Ihrer gegenwärtigen Lage mit Rath an die Hand zu 
gehen. Allerdings fteht Ihnen, wenn das franzöfifche Geſetz bei. Ih— 
nen eingeführt wird, viel Berluft, Störung, vemmung und Ver⸗ 

Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 12 


178 


drießlichkeit bevor. Die ganze Sache iſt noch ſehr ſchlecht organifiert, 
nichts greift ineinander, nirgends iſt Kenntnis des Gegenſtandes, al⸗ 
les ins Unabſehbare ausgezogen, ſonſt aber vor der Hand noch nicht 
eigentlich drückender Geiſt und Illiberalität. Die Bücher werden hier 
bei ihrer Ankunft, wenn fie verdächtig ausſehen, vom Präfecten un- 
ter Leute in der Stadt zur Beurtheilung vertheilt, die fie nun nad 
Gutdünfen Donate lang behalten. Doch unterwirft man nichts einer 
jolchen Unterfuhung ald politifche Schriften, und auch dieſe nur oben- 
bin; aber defto ftrenger ift man gegen theologische Werke, in denen 
man etwa ulttamontanifche Grundfäße wittert. Hier ift die Spio- 
nerei bei dem jetzigen Streite mit dem Pabfte an der Tagesordnung. 
Hefthetifche und wiſſenſchaftliche Schriften find noch nicht angefehen 
worden, auch weiter nicht® fonderliches verboten, aber die Schlech- 
tigkeit der Zeit und die Erbärmlichfeit der Deutſchen kommt den 
franzöfifchen Anordnungen überall auf halbem Weg entgegen. Gar 
manches wird bier von Deutfchen denunciert, obſchon die Franzofen 
felten eine Antwort darauf geben und auch dem Einfchmuggeln von 
Büchern, welches, um all die Weitläufigfeiten zu vermeiden, vielfach 
geihieht, wenig Hindernifie in den Weg legen. Das ganze über den 
literarifchen Verkehr jet beitehende Syftem ift der Art, daß es auf 
feine Weife langen Beftand haben fann. Die Schreibereien und des⸗ 
halb auch die Beamten find zahllos. Bald wird die Regierung ein- 
ſehen, daß die geringen Bortheile mit den großen Koften in feinem 
Verhältnis fiehen, und wird deshalb dad ganze Syſtem über kurz 
oder lang wieder aufheben. Für Sie in Hamburg fommt daher alles 
darauf an, daß Sie die Einführung der ganzen Einrichtung fo lange 
wie möglih von Ihrer Gegend abhalten, weil diefelbe dann wahrs 
ſcheinlich gänzlih an Ihnen vorübergehen wird. Ich rathe Ihnen 
deöhalb, fich zu diefem Zwecke ohne Verzug an Chaban zu wenden. 
Ich kenne diefen Dann, der vor einigen Jahren Präfect in Koblenz 
war, recht gut, er ift im ganzen billig, gutmüthig, leichtgläubig, 
blindling? vertrauend jedem erften, der, gut oder ſchlecht, fich feiner- 
bemädhtigt; aber er felbit hat fich niemals wiſſentlich fchlecht hier ge 
zeigt und wird ed auch in Hamburg nit. Sie werden fehnell fein. 
Vertrauen gewinnen können, und haben Sie ed einmal gewonnen, 


179 


jo werden Sie mandjed böfe verhindern, manches gute bewirken koͤn⸗ 
nen. Wenn Sie ihm in Beziehung auf den literarifchen Verkehr vor⸗ 
fiellen, wie die Sache fteht und wie die allgemeinen franzöfifchen Maß⸗ 
regeln unnüg und unpaffend für Ihre Gegend feien und den Ruin 
des ganzen Buchhandels nach, fich ziehen müßten, dann verwendet er 
fi) mit allem Eifer in Paris wenigftens für die Suspenfion auf un- 
beitimmte Zeit, und er hat vielen Einfluß dort. Gelingt Ihnen das 
niht, nun fo können Sie im Anfange, fo lange die Flitterwochen 
dauern, viel mit den Franzoſen anfangen, wenn Sie fie nur einiger- 
maßen zu behandeln willen. Später aber fi) viele Mühe mit ihnen 
zu geben, rathe ich Ihnen nicht; denn alles ift vom verruchten Sata- 
nad, und eben die nationale Gutmrüthigkeit, die mehr oder weniger 
in allen Franzofen liegt, ift dad Werkzeug der Sünde. In den Kern 
hat fi. der Teufel eingebiffen, und es ift alled nichtsnützig, und wer 
dauernd wirken will in diefem Kreife, muß werden wie einer von 
ihnen, habfüchtig im Herunterbliden, niederträchtig im Heraufbliden, 
und dabei muß man die Beitie ſchon von außen ihnen im Bauche 
heulen hören fönnen. Halten Sie für die Dauer fich ferne und ver⸗ 
trauen Sie ebenſowenig auf die Menge der Deutſchen, wie wenn von 
dieſen irgend etwas, was tüchtig iſt und brav, zu erwarten wäre; fie 
find ein eitel charakterloſer Haufen, Schafe, die ein Wolf zu Tauſen⸗ 
den jagt, wohin er will. 

Wenige Tage ſpäter ſandte Görres einen zweiten Brief an Per⸗ 
thes ab, in welchem er, auf fichere Nachrichten fupend, jeden Verſuch 
als vergeblich bezeichnete, der die Ausdehnung der allgemeinen Map- 
regeln über den Buchhandel auf die neuen Departement? zu verhin- 
dern ftrebte. Die Schule, in. die Sie demnach jest eintreten, fügte er 
binzu, haben wir als ältere Lehrgeſellen bereitd durchgemacht und find 
gehaͤnſelt worden nach alter Sitte, und können nun den neu eintreten- 
den Lehrburfchen ein warnend Wort zugurufen uns fchon herausneh- 
men. Zuerft und vor allem warne ich Sie vor Ruhe und beſchaulicher 
Baffivität, an der ich in diefer Zeit ſchon viele Hunderte habe ver- 
derben fehen. Entweber müfjen Sie ganz heraustreten aus allen Ge⸗ 
fhäften , fih zufammentugeln wie ein Igel zum Winterfchlaf, um ber 

Zeit fo wenig Oberfläche wie möglich zu geben, oder Sie müffen Ihre 
12 * 


180 


Thätigfeit um ebenfo viel verftärken, ald das Leben fchneidender wird. 
Unfere Zeit läßt nichts beftehen, was ruht: wie in den Wilfenfchaften 
das gemächliche alte Büchermachen aufgehört hat, fo find aud die 
Kaufleute von ihren ruhigen Sigen in den Comptoiren aufgetrieben. 
Wer nicht beftehen fann mit dem, was er früher erworben hatte, der 
muß heraus aus der Sänfte und hinauf aufs Pferd; alles alte Fuß⸗ 
vol? muß beritten werden, denn die Zeit jelbit fährt auf dem Renn⸗ 
wagen daher. Das haben fchon Taufende verfehen, ald der Sturm 
fie erreihte: wir wollen, fagten fie, das Ungewitter vorüberziehen 
laſſen, unfern Vertrieb befchränfen und alle Höhe. meiden, weil der 
Blig leicht in die Höhen einfhlägt. Aber wie irrten fie fih! Das 
Ungewitter zog nicht vorüber, fondern blieb Jahre lang feit über ihren 
Häuptern ftehen. Das Unglüd hatte ihnen Unthätigfeit gebracht und 
die Unthätigkeit brachte wieder Unglück. So fteigerte ſich das Der- 
derben immer höher, Bid alles zerronnen war. Das ift die Gefchichte 
von Unzähligen in hiefiger Gegend und der Hauptgrund des Wechfeld 
in allem Befig. ch denke nicht, daß Sie bei Ihrer Thätigfeit und 
bei Ihrem fiheren Auge Gefahr laufen, an diefer Klippe zu ſcheitern; 
ich wollte Ihnen das nur beftimmt ausdrüden, wonach Sie gewiß 
ſchon lange gehandelt haben. Alſo hinaus auf den Markt und zur 
rechten Zeit die Zeit benutzt! Jeder, der jebt praftifch auf die Welt 
einwirken will, muß ftreben zu vielfeitigem Befiß zu gelangen; denn 
alle höheren Formeln haben fich jest in geprägte Zahlzeichen unge 
feßt, mit denen fich allein noch einige Zauberei treiben läßt. Die 
Schlechtigkeit und die Gemeinheit ftreben immer deutlicher fih in den 
Alteinbefig aller Güter zu theilen, und man kann ihnen nicht wirk⸗ 
famer entgegentreten als dadurch, daß man ihnen von ihrem Raube 
entreißt fo viel ald möglih. Geld ift jebt dad erfte Werkzeug des 
Despotismus, und dieſes Werkzeugs muß ſich der bemächtigen, der 
eine Gegenwirkung üben will. Und dennoch verzettelt, was und die 
Gewalt nicht nimmt, unfer Ungefhid, unfere Dummheit und Unbe- 
hilflichkeit. Freilich wie das, was in ber Literatur Aufwand forbert, 
alſo zunächft der Verlagshandel und dann auch der Sortimentshandel, 
beſtehen fann, ift nicht abzufehen. Aber anderfeitd hat die Nation 
nichts, was fie erfreuen-fönnte, als ihre Literatur. So wenig Still« 


181 


ftand ift nach der ideellen Seite hin eingetreten, daß mehr als je die 
Production in den Geiftern drängt und der literarifche Eierftod noch 
gar nicht ausgehen will. Auch Lefe- und Studierluft ift nicht ver- 
mindert, und e3 ift daher auch wiederum nicht abzufehen, wie die 
Literatur Außerlich untergehen könnte. Alfo nur Muth zum Unter- 
nehmen! Wahr ift es freilich, wer reich werden will, fälkt in bes 
Satan? Klauen, aber eben auch nur der, welcher reich werden will. 
Der wahre Kaufmann aber ift der, welcher Erwerb allein ald Erwerb 
für höhere Zwecke betrachtet und ba erft anfängt, wo andere enden. 
Haben Sie fih Mittel gewonnen, dem zwifchen Recht und Unrecht jet 
Wankenden nur einiges zu Gunften des Befleren zu bieten, fo ift die 
menfchliche Natur fo gut immer noch, daß fie dann den Teufel von 
ſich ftößt. Rühren Sie fih, derweil ed noch Zeit ift, ſich Ihren Theil 
im Beltlauf zu gewinnen; es ift nöthig, daß Sie in Ihrem Handel 
große Geldmittel für große Zwede fammeln. Dap ich felbft nicht 
nad gleichen Grundfäben handele, darf Sie nicht wundern; ih bin 
zu fehr Gelehrter, um Kaufmann fein zu können. | 

ALS Perthes diefen Brief mit Dank und mit einer näheren Aus- 
-einanderfepung feine Gefchäftd erwiedert hatte, -fchrieb Görred: Nun - 
erſt begreife ich die Großartigkeit Ihres Gefchäftes, welches, in Deutſch⸗ 
land und Frankreich feine Wurzel fehlagend, im Norden und in der 
neuen Welt feine Zweige audbreitet. Sie find ald Geſchäftsmann ein 
wahrer Hanſeate, und es ift nichts geringes, ben .geiftigen Verkehr 
eined großen Theild von. Europa in feiner materiellen Grundlage zu 
fihern und zu leiten. Das ift der Bortheil des Meeres, welches jeden, 
auch den kleinſten Theil aufnimmt in feiner Grenzenlofigfeit, während 
im Lande jedes Flüßchen fich ein Eigned dünkt und fein Gebiet ab- 
fließt. Ich hatte Die Sache niedriger genommen, und Sie werden 
das meinem fchlechten Augenmaß in ſolchen Dingen und dem Um⸗ 
ftande zu Gute halten, daß ich felbft ein Binnenländer, ein Flußan- 
wohner bin. 

Perthes fah der Gefahr, welche feinem Gefchäfte zugleich mit dein 
ganzen deutfchen Buchhandel den Untergang drohte, befonnen und 
muthig ind Auge. Meine Lage ift durchaus verändert, fhrieb er an 
Jacobi, doch fo, daß durch alle Umftürze dad, was ih ald Geſchäfts⸗ 


182 


mann betreibe, noch größeren Aufſchwung erhalten muß. In meinem 
Innern ift die Fülle der Liebe und des Leben? nicht weniger durch die 
Fahre geworden, und fo wie ich von Tage zu Tage mich mehr bändi- 
gen lerne, vermag ich auch mehr meine Kräfte nach außen zu richten, 
um die Zwede zu erreichen, die mir nad) meinen Berhältniffen vorge» 
legt find. Furcht vor Gott und Muth gegen Menfchen find ein und 
diefelbe Sache, fo lautet meine Philofophie und mein Ehriftenthum. — 
Je fehlimmer die Zeiten find, fehrieb er feinem Handelöfreunde Rein 
nach Leipzig, um fo mehr Muth und Aufmerkſamkeit muß man haben, 
fie zu überwinden. Sei nur ruhig, wir werden ſchon in Ordnung kom⸗ 
men. — Zunächft mußten die Schwierigkeiten befeitigt werden, welche 
die franzöfifchen Zocalbehörden in Hamburg dem Einbringen deutfcher 
Schriften entgegenftellen fonnten. Nicht auf halbem fondern auf 
ganzem Wege famen die kaiferlihen Beamten entgegen. Der Veri- 
ficateur à l’estampille erhielt als folcher feinen Gehalt, fondern follte 
nad wohlgeleifteten Dienften vom Staate belohnt werden; bis dahin 
friftete er durch Buchhändler und Bücherliebhaber fein Leben. Der 
Inspecteur de la librairie, Mr. Johannot, ein charafterfofer, verwirrt. 
ter Glüddritter, bedurfte ebenfalld milder Gaben, ebenfo die Gehilfen 
beider Männer. . Die Generaldirection in Paris war meit entfernt, 
der ausgedehnteſten Nachficht der Xocalbehörden in den Weg zu treten. 
Der Kaifer hat wohl, äußerte ſich Görres gegen Perthes, eine inſtinct⸗ 
artige Abneigung gegen die Literatur, aber feinen Haß, und betrach- 
tet fie fehon lange ald das Spielwerk der deutfchen Nation, und wird 
nicht einmal einen Berfuch machen, fie und zu entreißen. Jwar wer⸗ 
ben die für das eigentliche Franfreic getroffenen Anordnungen auch 
auf uns übertragen; denn um das ungeheure Ganze überfehen zu 
koͤnnen, foll Gleihförmigkeit überall fein; überallhin werden die fer 
tigen Patronen mitgebracht, in die über Nacht alled Borgefundene 
gegoffen wird und alabald fertig da fteht. Jener alte franzöfifche 
Gartengefhmad, wie er früher aus Bäumen Menſchen fchnitt, will 
jept aus Menfchen gleiche Flächen fchneiden; Inder und Perfer, Tür- 
fen und Neufeeländer werden noch Präfecten und Unterpräfeeten, den 
Code und die Genfur befommen. Das kleinſte Grundmaß hat Na- 
poleon vom Menfchen angenommen, und alled, was größer ift, wird 


183 


abgebhauen, und jo werden Rafenpläbe glatt geichoren und gleich ge- 
walzt; aber man achtet und fcheut feine andere Oppofition, al? die 
materielle, und hat gar feinen Begriff davon, daß in Deutichland 
noch eine andere Widerſtandskraft lebt. Die Franzofen würden bier- 
über noch mehr im Dunkeln fein, märe nicht das inländifche deutſche 
Geſchmeiß, da3 ſich anhängt und zuträgt. — Davouft zwar glaubte, 
äußerte Perthes etwas fpäter, dag nur unfere Literatur ed den Deut⸗ 
fhen möglich mache, fi) noch für eine Nation zu halten, doch auch er 
mußte e8 bei dem guten Billen bewenden lafjen, denn die Sache felbft 
war feinen Begriffen zu fein. Mit Händen wollte er fie greifen und 
vergriff ſich deshalb immer nur an einzelnen Männern oder an lite- 
rariſchem Handwerksgerüſt. Tiefer ging es nit. Die Jdeologie, 
wie-Rapoleon das ihm im Wege ftehende Geiftige nannte, das heißt 
den Sinn für die Wahrheit, die Liebe zu Gott, die Furcht vor ihm 
und den und unvertilgbaren Trieb, den Urfprung der Dinge zu er» 
forfchen, — zu alle dem drang Davouſt und feine Gehilfen nicht, und 
fo wurden die Grundfäpe wahrer Ordnung, Freiheit und Nationali- 
tät wie ein ſtummes Geheimnis in und bewahrt, bid die Morgen- 
töthe Fam. 

Ber einer ſolchen Stellung der franzöfifhen Machthaber zut 
deutihen Literatur machten ſich die Herren-in Paris ihr Gefchäft nicht 
ſchwer. Der alte Generaldirector de Pommereul, welcher feit dem 
Streite Napoleon’3 mit dem Pabſte an Portalis' Stelle getreten mar, 
‚hielt die deutſchen Bücher für völlig gleichgiltig; fein Büreau war 
mit fprachunfundigen, meiften? jungen, lebensluftigen Leuten beſetzt, 
weil diefe, da fie am mohlfeilften zu haben waren, ihrem Chef den 
größten Ueberſchuß von den fechzigtaufend Franks Büreaukoften ließen. 
Diefe jungen Leute nun follten die langen, von den Buchhändlern zur 
Erlangung des Einführungspermid eingefendeten Liften der Büdher- 
titel, deren feinen fie verftanden, durchlefen und dann beurtheilen, ob 
die Einführung zu erlauben oder zu verbieten fei. An diefer Auf- 
gabe verzweifelnd, halfen fie fich mit angenehmer Leichtigkeit, erlaub- 
ten alles und ftrihen, um ihre Gefchäftdgenauigkeit zu zeigen, von je- 
der Lifte auf gut Glüd jedesmal dreißig bis vierzig Artikel, darunter 
oftmals Werfe über Färbekunft, Obſtbaumzucht, Schachſpiel u. f. w. 


184 


An der nächften Lifte führten die Buchhändler folche geftrichene Artikel 
von neuem auf, und ed war ein feltner Zufall, wenn fie zum zmeiten-- 
mal von der Einfuhr ausgeſchloſſen wurden. Perthes benutzte diefe 
Berhältniffe im vollſten Umfange. Manche der von ihm eingereichten 
Liften haben fich erhalten. Er gabfich nicht die Mühe, die einzelnen 
Titel anzuführen, fondern machte allgemeine Rubriken: wenn er z. B. 
ſchrieb: oeuvres completes in zwanzig Exemplaren, fo fam die Ein« 
führungserlaubnid, und nun konnten gefammelte Werke eingehen, 
mochten fie von Peter oder Paul fein. Aehnli finden ſich in den 
Liſten eingetragen: 25 Exemplare tragedies, oeuvres politiques, poé- 
sies, oeuvres diverses, discours, und dazwijchen wurden mit guter 
Laune und zur Verfpottung der Parifer, Werfe über die Rechtſchrei⸗ 
bung, über den Kartoffelbau, über botanifche Gärten, und dann in 
derfelben Lifte von neuem 25 Eremplare veuvres diverses, tragedies 

u. ſ. w. gefeßt. Sechzehnmal mußte freifich der Titel jedes Buches, 
welches aus Deutſchland nad Hamburg eingeführt werden follte, dem 
Geſetze nad) gefchrieben werden, aber dennoch war dad ganze mit pein- 
licher Aengjtlichkeit zur Niederdrüdung des Buchhandels errichtete Ge- 
bäude für dad Leben bedeutungslod, und in den deutſchen Theilen ded 
Kaiſerreichs erfchien der Titerarifche Verkehr nur in geringem Grade 
beengt. Da indeffen wenige die gegebenen Berhältniffe zu benutzen 
verftanden, jo gewann die Handlung von Perthed eine außerordent- 
liche Ausdehnung. Ganz Holland, dad ganze nordiweftliche Deutfch- 
fand, England und der Norden Europa’d gehörten zu ihrem Gebiete. 
Das fauerfte, mühjfeligfte Sahr meines bisherigen Lebens, fchrieb Per⸗ 
the8 im December 1811 an feinen Schwarzburger Oheim, habe ich 
diefed Jahr durchlebt: der Umfturz alled Alten nöthigte mid, um nur 
etwas zu retten, das neue Weſen mit meinem Geſchäfte auf das em- 
figfte anzufaffen. Es ift diefer Zeit eigen, dag man nicht durch Zur 
rüdziehen fi) rettet, fondern durch regfames VBorwärtdgehen. Meine 
Geſchäfte haben fich nicht verringert, fondern vermehrt, und oftmald 
war mir bange, ob ich mein nicht kleines Schiff durch die gefährlichen 
Klippen und die unerhörten Stürme durchführen könne, aber Gottlob! 
die Hauptgefahren find jebt befeitigt, und ich fehe etwas Land. — 
Da die eigenen Geldmittel bei weiten nicht audreichten, um den Be» 


185 


trieb- der Handlung im Gange zu erhalten, mußte Perthed hie und 
da nad) Aushilfe fuchen, aber in der geldarmen Zeit meiftend ver- 
gebend. Niebuhr und ich, antwortete ihm z. B. Nicolovius, haben 
darüber lächeln müffen, dat Sie, lieber Perthes, hier in Berlin Geld 
zu finden glauben ; indeflen wollen wir doch verfuchen, was möglich 
if. — Ihr Geſchäft ift.ein durchaus folided, entgegnete ihm Keet⸗ 
mann, ein fehr ehrenwerther Mann von ftrengfter Rechtlichkeit, aber 
es ift doch nur deshalb folide, weil e8 auf Ihrer Perfönlichkeit ruht. 
Wenn Sie Ihre Perfon gefährden, fo gefährden Sie die einzige fichere 
Grundlage der Handlung. Darauf follten Sie doch etwas mehr Rüd- 
ſicht nehmen, werther Freund, und fich ſchonen; fein Menſch hält es 
aus, angeſpannt thätig zu ſein von Morgens fünf Uhr bis Abends 
zehn Uhr. | 

Ein fehr reichhaltiger Briefmechfel mit bedeutenden Männern der 
verfehiedenften Richtungen und Gefinnungen, wie mit Rumohr und 
Klinkowſtröm, mit Stolberg und Drofte, mit Steffens und Kouque, 
mit Riebuhr und Ricoloviud, mit Görred und Billerd, mit Jacobi 
und Reinhold hielt das geiftige Leben wach, die Sitzungen des Ge- 
ſchwornengerichts, an denen Perthes ald Mitglied Theil nahm, und 
ein freundlicher Verkehr mit de Serre und Eichhorn regten neue In⸗ 
terefien jehr lebhaft an, und die Geburt eined Sohnes, Bernhard, 
am 27. September 1812 gab dem Familienleben neue Freude, aber 
der Drud der Zeit blieb. ſchwer und ein Ende- war nicht abzufehen. 
° Friede wird nieht, meinte Görres, bevor nicht Die ganze Generation, 
welche die Revolution gefehen hat, ausgerottet ift bid auf den Iegten 
Mann. — Sch bereite mich vor, fehrieb Nicolovius aus Berlin, im 
Glauben dahin zu fahren, ohne felbft die befjere Zeit anbredhen zu 
fehen ; aber meine Kinder will ich derfelben würdig machen. — Vor⸗ 
zeichen eined kommenden beffern Tages konnte Perthes nicht erfennen ; 
aber die Sicherheit feiner Weberzeugung, dag alle Noth und alles 
Elend der Gegenwart ein nur vorübergehendes fei, durch welches man 
ſich durchhelfen müſſe fo gut wie möglich, gab ihm im fehriftlichen mie 
im mündlihen Verkehr fo muthige Friſche und belebende Kraft, daß 
viele Männer in der Nähe und Ferne mit freudiger und bewundern⸗ 
der Theilnahme auf ihn fahen. Der Thränen fann man fich freilich 


186 


nicht immer eriwehren, fehrieb ihm Sartorius aus Göttingen, aber 
Glaube und Hoffnung follen wir nicht aufgeben. Wohl dem, der nicht 
in fich felbft verzweifelt, wohl Ihnen, daß Sie auch in der jetzigen 
Lage den Muth nicht verlieren! — Ihr Brief, fchrieb ihm Fouqué, 
bat mid mit Waffer und Feuer getauft, mit dem Ihränenmwafler der 
tiefften Wehmuth, aber auch zugleich mit den Feuer des ficherften, 
ftählendften Glaubens und Muthes. Wenn alle gute. Männer une 
red Volkes die Erfcheinungen der Zeit fo befonnen, tieffühlend und 
Har wie Sie betrachten, fo hat e8 mit dem Höchſten und Erhalten?- 
werthen in und feine Noth. — Niebuhr wird Ihnen fagen, fchrieb 
Ricolovius, wie fehr wir ihren männlichen Muth und Ihr evange- 
liſches Schlangen- und Taubenbenehmen bewundern. Bertrauen Sie 
auch und, daß wir nad befter Kraft und wader halten und Ihrer 
Zheilnahme werth bleiben werden. - 

Auch ald die Gerüchte von dem bevorftehenden Kampfe zwifchen 
dem romanischen und flavifchen Kaiferreiche laut wurden, blieb Per- 
thes getroft und hoffnungsfeſt. Ihr Muth, mein lieber, theurer 
Freund, ſchrieb Nicolovius an Perthes, ftärkt mid und macht Sie mir 
immer neu wertb. Sie haben Recht, wir ftehen am Einbruch neuer 
großer Begebenheiten, und wir müflen mit ernflem Sinne ihnen ent- 
gegengeben; aber Sram und Kummer find erlaubt, da ed nicht das 
Reich der Wahrheit und des Recht? ift, das immer mehr fich verbreitet.- 
Möchte allem, was nad Gottes Rathſchluß untergehen foll, ein Tod 
in Ehren zu Theil werden und in der finftern Nacht die Vorzeichen 
eined befjeren neuen Tages nicht ganz unferm Auge verfhwinden! — 
Die großen geiftigen Bewegungen und die fehneidenden Gegenfähe ber 
politifhen Parteien, welche damals in Preußen und vor allem in 
Berlin hervorzutreten begannen, blieben auch außerhalb Preußend den 
Männern deutfcher Gefinnung nicht unbefannt. Perthes war in fi 
nicht einig, ob dieſes gährende Durcheinander politifh aufgeregter 
Herzen und Köpfe zum Rechten führe oder nicht, und wünſchte ſchon 
im Sommer 1811 die innern Kämpfe Berlind aus eigner Anfchauung 
fennen zu lernen; aber Hindernifie ftellten ſich damals der beabfich- 
tigten Reife nach Berlin in den Weg. Wie fehr bedaure ich, daß Sie 
nicht fommen zu dürfen glauben, fchrieb ihm Niebuhr. Mich hatte fehr 


187 


verlangt, Sie zu fehen. Sie wären ein paar Tage hier geivefen und 
hätten nur Freunde gejehen, und vielleicht fennen Sie von den beiden 
Brincipien, die hier unvermifcht neben einander eriftieren, dad Gute 
noch nicht, welche? doch in manchen fo rein ift, wie Sie ed nur wün- 
fhen können. Mir find wie Ihnen die Schwäger und Maulhelden 
bis zum Abfcheu verhaßt; aber gerne hätte ih Sie mit dem Salze in 
unferer Wüjtenei befannt gemacht, und vor allem iſt e8 mir nicht we⸗ 
niger al® Nicolovius ein Bebürfni®, mit Ihnen ein paar Tage lang 
von Herzen zu Herzen zu reden. Lieber Perthes, ift ed nicht ganz feſt 
bei Ihnen entfchieden, fo fragen Sie ſich noch einmal, ob es Ihnen 
nicht möglich ift, zu und zu fommen. ch verfpreche Ihnen, daß Sie 
es nicht verdrießen fol. Ihre Grundfäge find freilich nicht allgemein 
"hier geltend, ich aber befolge fie treu und lange ſchon bis zur firen- 
gen Gewohnheit.- 

Im Juli 1812 führte Perthed den im vorigen Jahre aufgegebe- 
nen Plan aus und verlebte mitten im Getümmel der nad Oſten zie- 
benden franzöfifehen Heere einige Wochen in Berlin. Er wurde ge 
nau befannt mit dem Getriebe der fämpfenden Parteien und mit den 
MWünfchen und Ausſichten der heißen Patrioten, und durd) alles, was 
er fah und hörte, wurde fein Glaube, daß die Stunde der Befreiung 
für Deutfhland nicht ausbleiben könne, verftärkt. Crgriffen und bes 
wegt von den vielen ſich durchkreuzenden und widerfprechenden polis 
tifchen Eindrüden des damaligen Berliner Lebens, gab Perthes fich in 
fräftiger Lebendigkeit Dem Verkehr mit feinen Freunden und Belann- 
- ten hin und kehrte geftärft und mit ermeitertem Blicke nach) Hamburg 
zurüd. Perthes' geiftreiche Lebendigkeit, ſchrieb Niebuhr Damals an 
die Doctorin Hendler, hat etwas fehr belebendes. Er verlieh und am 
Freitag. Wir haben viele lebendige Stunden mit ihm genofien. Dieſe 
Regſamkeit, mit der er fich in jede verwandelte Geftalt der Zeit hinein⸗ 
“ findet, literariſch und politifeh, ohne je feine Selbftändigfeit zu verlie- 
ren, und fi) immer jung erhält und erhalten wird, ift etwas fehr 
beneidenawerthed. — Ihr Beluh, mein lieber Perthes, fehrieb Ni- 
colovius im Auguft 1812, hat mid) geftärft. Sie verftehen ed, ed mit 
der böfen Zeit aufzunehmen und ſich nicht unterbringen zu laffen. Gebe 
Gott Ihnen Kraft zu fernerem Kampf und weiterm Sieg! Unter und 


188 


bleibt Ihr Andenken fehr lebendig, und Sie dürfen Ihrer Erſcheinung 

unter und fih freuen. — Bir willen es beide gegenfeitig, ſchrieb 
Niebuhr an Perthes, dag wir nun fo recht alte und vertraute Freunde 
geworden find und es bleiben werden. Das Andenken an Ihren Auf 
enthalt bleibt und Iehendig gegenwärtig, und ich denke, es ift ganz 
in der Ordnung, wenn ed mir vorkommt, als hätten wir und noch 
eigentlich gar nicht recht audgeiprochen nd als wenn jede Stunde, Die 
wir nicht allein oder mit Nicolovius zufammen verbracht haben, halb 
verloren gewefen wäre. Ihr Beſuch, mein lieber Perthed, war ein 
fo lebendiger Beweis Ihrer Liebe, mar fo erheiternd und genußvoll, 
und eine folde Verftärfung des Bundes zwiſchen uns in der jertrüm- 
mernden Zeit, daß ich Ihnen nicht auddrüden kann, wie dankbar ich 
Ihnen dafür bin. 

Den ſchweren, furchtbaren Drud, mit welhem Frankreich auf 
Preußen laftete, hatte Perthes in Berlin nun aus eigener Anfchauung 
tennen gelernt; aber wahrlih in Hamburg war er nicht geringer. 
Handel und Schiffahrt waren zu Grunde gerichtet, von den vierhun- 
dertachtundzwanzig Zuderfiedereien hatten nur einige wenige fich er- 
halten, die Kattundrudereien hatten ohne Ausnahme aufgehört, die 
Zabafdfpinnereien waren fämtlich durch die Negie verdrängt. Zahl: 
lofe Abgaben dagegen: droits reunis, Regie, Enregiftrement, Thür⸗ 
und Fenſterſteuer, Perfonenfteuer, Grundfteuer u. f.w., waren einge 
führt und braten durch ihre Höhe und durch die Quälereien, von 
denen fie begleitet waren, die Bürger zur Verzweiflung. Die milden 
Anftalten: das Waifenhaus, der Kranfenhof, die Gottesmohnungen, 
ſahen ſich ihrer Zuflüffe beraubt und in ihrem Fortbeftand bedroht, 
das Grundeigenthbum verlor feinen Werth und die Zinfen der öffent» 
lihen Schuld fonnten nicht bezahlt werden. Die einft fo ftolze, reiche 
Stadt bot nun das Bild eines allmählichen Hinfterbend dar. Mit 

hartherziger Brutalität wurden die herben Maßregeln durchgeführt. 
Gequält durch die Erprefjungen geldgieriger Beamten jeden Ranges 
und geängftet durch die willfürlichen Bedrädungen, hatten die Ein- 
wohner Hamburgs nicht einmal den Troft, in ihren eigenen Häu- 
fern ficher gegen Beunruhigungen zu fein. Jede Ausſicht auf Rettung 
oder auch nur auf Erleichterung ſchien zu verſchwinden, ala im Spät« 


189 


fommer 1812 eine Siegednachricht nach der andern von der großen 
Armee aud Rufland einlief, und niemand wagte, den etwas fpäter 
umlaufenden dunflen Gerüchten.von fehweren Unglüddfällen verfelben 
Glauben. beizumefjen. In dumpfer, verzweiflungdvoller Trauer ſchick⸗ 
ten fich die Bürger an, dad Weihnachtsfeſt zu feiern, ‘ala faft allen 
unerwartet am 24. December das neunundzwanzigfte Bülletin befannt ' 
gemacht wurde, welche® über die Vernichtung der großen Armee feis 
nen Zweifel laffen fonnte. Ein Wunder Gotted war gefchehen und 
ein Stern der Hoffnung aufgegangen, welcher neues Leben und neuen 
Muth in allen gedrüdten Gemüthern fhuf. Ein Weihnahtsabend 
wurde in Hamburg gefeiert, wie feit langen Jahren nicht. 


- 


Der Berjud Hamburgs, ſich zu befreien. 
Jannar bis 18. März 1813. 


Seit vielen Jahren ſchon hatte Perthed in mannigfachen Be⸗ 
rührungen mit Ludwig von Heß, einem merkwürdigen und bedeu- 
. tenden Manne, geftanden, welder, Schwede und Edelmann von Ge- 
burt, einft in früher Jugend Regierungsrath ſeines Königd geweſen 
war. Um das Jahr 1780 hatte er ſich in Hamburg niedergelaffen, 
und feine. leidenfchaftlihe Liebe zu der neuen Heimat, feine ſtrenge 
Rechtſchaffenheit, fein feharfer Verftand, fein Reihthum an Auskunfts⸗ 
mitteln in ſchwierigen Lagen und feine Gabe, verwidelte Verhältniſſe 
lichtvoll darzuftellen, fanden allgemeine Anerfennung. In den Krei⸗ 
fen von Sieveking und Reimarus hatte er geglänzt und mit vielen 
bedeutenden Männern des Auslandes fand er in. naher Verbindung. 
Durch eine Reihe auögezeichneter Schriften über die innere und äußere 
Stellung Hamburgs hatte er fi) große? Anfehen unter den politifch 
gebildeten Männern, durch fein Auftreten für die Rechte der Bürger- 
ſchaft großes Vertrauen umter den Bürgern gewonnen. Vielfach hatte 
er feine günftige Stellung benugt, um durch perfönliche Einwirkung 
fördernd und verhütend in die ftädtifchen Zuftände einzugreifen; aber 


190 


nur felten war er öffentlich in Gefchäften der Stadt verwendet wor⸗ 
den, weil’ ihn ein ſtarres Fefthalten an eigenen Anfichten und eine 
unverträglidhe, von den Stimmungen. ded Augenblicks abhängige Ge- 
müthsart verhinderte, fich in gegebene Berhältniffe- zu ſchicken. Er 
hatte viele warme freunde, aber Die meijten derjelben waren zugleich 
feine heftigften Gegner; denn er felbft war ein doppelter Menſch, der 
die größten Gegenfäbe ungeeinigt in fid) trug. Er war großartig und 
edel, aber auch Fleinlih und unverföhnlid; er konnte ſich in vollem 
- Vertrauen ganz hingeben und hegte und pflegte lauerndes Midtrauen 
in feiner Seele; er verachtete alled Aeupere und war eitel und ehrgei- 
zig; er dürftete nach Freiheit und war militärifcher Despot; eine-fel- 
tene Geiftesfraft machte den reizbaren, fränklichen Körper zu den größ- 
ten Anftrengungen fähig, und dennod) jah man den Mann oftmald 
ohne äußere Veranlaſſung in tieffter Muthlofigkeit zufammenfinfen. 
Auf Perthed hatte He immer Vertrauen gefebt und gerne mit 
ihm verkehrt, aber ein nahe? Berhältnid war erft im Sommer 1812 
zwifchen ihnen entftanden, ald Napoleon’? Zug nad) Rußland beide 
Männer in die heftigfte Bewegung ſetzte. Sie fuchten. Troft und Er- 
leichterung, indem fie in der ſchweigenden Zeit ihre Anfichten, ihre 
Hoffnungen und Befürchtungen offen und rüdhaltlos austaufchten. 
Heß, einer älteren Zeit angehörend und der Geburt nach Fein Deut- 
fcher, hatte fein politifche® Hoffen und Sorgen an Hamburg, die Hei« 
mat feiner Wahl, gebunden, ein deutſches Nationalgefühl kannte er 
nicht. Perthes dagegen liebte zwar Hamburg und war der Stadt 
dankbar, in welcher er Bildung, Freunde, Beruf, Weib und Kind 
gefunden hatte, aber unummunden ſprach er fehon damals au: Wenn 
Deutſchlands Freiheit nicht erftritten wird, fo ift mir an Hamburg 
nichts gelegen. Diefer politifhe Gegenſatz verhinderte indes fo wenig 
wie die fonftigen großen Berfchiedenheiten einen lebendigen Verkehr 
und ein unbedingtes gegenſeitiges Vertrauen zwiſchen beiden. Män- 
nern. Bir flanden und, äußerte Perthes etwas fpäter, an Jahren 
fern, wir hatten einen fehr verfchiedenen Gang unferer inneren und 
äußeren Schidjale gehabt und waren in Anfichten und Ueberzeugun⸗ 
gen, beſonders infofern fie in Saft und Blut übergegangen waren, 


191 


fharf getrennt, und dennoch wurden wir Freunde im eigentlichen, 
wahren Sinne de Worte. 

Der Winter 1812 fam heran, der Brand von Mostkau eröffnete 
Die Ausficht auf eine nahe große Zukunft. Seine eigenen Hoffnungen 
theilte. Perthes manchen Männern, denen er vertraute, mit: zunächft 
von Heß und feinem alten Freunde Hülfenbed, dann dem Doctor Fer⸗ 
dinand Benede, welchem dad Herz warm bid zur hingebendften Be⸗ 
geifterung für Deutſchland fchlug, und dem Grafen Joſeph Weitpha- 
len, welchen die Ausficht, für feinen ritterlihen Sinn und feinen rit⸗ 
terlichen Muth ein weites Feld zu finden, um diefe Zeit nad) Hamburg 
geführt hatte. Bald erweiterte fich der Kreis, und die Anfichten und 
die Ausfichten wurden beftimmter. Im Januar 1813 beftand die 
franzöfifche Beſatzung aud wenig mehr als dreitaufend Mann. Die- 
fer geringen Truppenzahl gegenüber fannten die vielen Traftvollen 
Männer der großen See- und Handeläftadt, welche in ſchweren und 
gefährlichen Anftrengungen Tag für Tag fih übten, ihre körperliche 
Ueberlegenheit, und an verwegenem Muthe fehlte ed ihnen nicht. 
Unter den übrigen Bürgern wurden die Stimmen täglich lauter und 
fühner; felbft Männer, melche der alten Stadtobrigkfeit angehört hat- 
ten, gaben zu verftehen, daß man in der Stunde der Entjcheidung 
auf fie rechnen könne. Alles hing davon ab, der fräftigen aber un- 
geordneten Menge einen Zufammenhang und eine Ordnung zu geben, 
und Ende Jamıar fprad) zuerft von Heß mit feinen Freunden über die 
Errichtung einer Bürgerbewaffuung. Es ſchien nicht unmöglich, die 
Zuftimmung der von Angft gemarterten franzöfifchen Behörden zu ge- 
winnen, weil fie hoffen konnten, in dieſer Weife Sicherheit gegen 
wilde Audbrüche der Volkswuth zu erlangen. Während durh Rift 
hierüber mit den franzöfifhen Generalen verhandelt ward, trat Per- 
thes mit feinem alten Freunde Spedter und mit dem Bleideder Mett- 
lerkamp, einem muthigen, entſchloſſenen und im Volke ſehr befannten 
und ſehr beliebten Danne, in Verbindung. Mettlerfamp zog fofort 
eine Anzahl der fräftigften und tüchtigften Leute, meiftend aud dem 
Handwerksſtande, heran, ſprach mit jedem einzeln und forderte fie 
auf, andere in gleicher Weife zu demfelben Zwede zu werben. “Pers 
thes bemupte in ähnlicher Weile die ausgedehnte Befanntfchaft, die 


192 


er theil® durch feinen Beruf theild durch feine frühere Stellung ala 
Mitglied der Einquartierungdcommiffion erworben hatte. Bald konn⸗ 
. ten Berzeichniffe der Männer angelegt werden, die fi) für den Au- 
genblid, in welchem die Vertreibung der Franzoſen möglich würde, 
zu allem bereit erklärt hatten. 

Während die Aufregung und der Muth der Bürger flieg, er- 
fhien in den erften Tagen des Februar General Laurifton in Ham- 
burg, und nachdem er den größten Theil der Befagung nad) Mag- 
deburg, wo ein größeres Heer zufammengezogen werden follte, abge- 
führt hatte, erfannten die zurüdbleibenden franzöfifchen Generale 
Cara St. Eyr und Ivendorf volllommen das Gefährliche ihrer Lage 
und gaben durch das Schwanfende und Unfihere ihrer Haltung die 
inmere Unruhe zu erkennen. 

Perthes hatte unbedingtes Vertrauen zu dem Muthe und zu der 
Kraft der Bürgerfchaft, und es fchien ihm unmwürdig, die Befreiung 
den Anftrengungen Dritter zu verdanken, aber er konnte ſich nicht 
verbergen, daß die Stadt feine anderen Waffen habe ald die Fräfti- 
gen Arme und den muthigen Sinn der Bürger. Kriegerifche Uebung 
und erfahrene Kriegsführer fehlten gänzlih. Zwar war er überzeugt, 
dag an jedem Tage ein Ausbruch de? Volksgrimmes hervorgerufen 
werden fünne,,. welcher die damalige franzöfifche Beſatzung vernichten 
werde, aber wer follte dann den ohne Zweifel heranrüdenden fran- 
zöfifchen Heeren und franzöfifchen Generalen gegenüber die Bertheidi« 
gung der Stadt und die Anftrengungen ihrer kriegsunerfahrenen Bür- 
ger leiten? Ueberdies konnte und wollte Perthes die Erhebung Ham- 
burgs nicht ald ein Hamburgifches, ſondern als ein deutſches Ereig⸗ 
nis betrachtet willen. Die feierliche Losſagung der zertretenen Stadt 
bon ihrem Peiniger. [hien ihm nur dann ihre wahre Bedeutung zu 
gewinnen, wenn fie dad Zeichen wurde für Die Erhebung ded ganzen 
norbweftlihen Deutſchlands; denn in diefem Falle waren, wie es 
ſchien, die Fürften, welche in den erften Tagen de3 Februar zwifchen 
Furcht und Hoffnung ſchwebten, zu einem ſchnellen, entjcheidenden 
Entihluß gedrängt. Um dem Aufftande der einzelnen Stadt einen 
ſolchen allgemeinen Charakter zu verleihen, war ein Mann nothwen⸗ 
dig von hoher, allgemein gefannter Stellung, welcher die Leitung 


193 


übernehmen und den Bürgern erfahrene Kriegsführer aller Grade ver- 
ihaffen fonnte. Der Herzog von Oldenburg fchien diefer Mann zu 
fein, und Perthes glaubte ſich ohne weiteres mit einer fräftigen Auffor- 
derung an ihn wenden zu Dürfen. Die verhängnidvolle Zeit, heißt es 
in derfelben, erlaubt dem Bürger, fih mit Freimuth und Bertrauen 
dem Fürften zu nahen, und die Stimme des einzelnen Bürger? ift 
zugleich die Stimme vereinter Freunde. Deutichland fann nur durch 
fich felbit eine wahre und dauerhafte Unabhängigkeit erringen. Wenn 
in diefem Augenblide eine auch nur Heine Zahl Truppen in unferer 
Gegend auftritt, geführt von einem braven deutfchen Fürſten, der ſich 
einige Männer von unbefcholtenem und befanntem Namen aud dem 
Adel und dem Bürgerftande beigefelit, fo fteht alles zur Unterſtützung 
auf, und Deutfchland wird mit Gottes Hilfe allein durch ſich felbit 
frei bis an den Rhein. Der Fürft, der jebt den Deutſchen ſich hin- 
gibt, kann mit Zuverfiht auf die Nation rechnen. Immer hat der 
Deutſche feinen Fürften geliebt, und diefe Liebe ift auch jetzt noch da 
und fuht mit Inbrunft einen Gegenftand. Allgemein ift Hoffnung 
und Wunfh auf Sie, durchlauchtigiter Herzog, gerichtet, der fein 
Land wie feiner glüdlih machte, der deutſche Art und Kunft wür- 
digte und die Ehre rettete, indem er der Gewalt mit hoher Würde 
wid. | 

Am 21. Februar reifte Perthes in Begleitung feines älteften 
Sohnes? Matthias mit diefer Schrift zum Grafen Adam Moltfe nah 
Nütſchau. Moltke brachte ihn am folgenden Tage nah Eutin, wo 
auf entfchloffene® Zureden ded damaligen Regierungdrathed Runde 
der Präfident von Maltzan ſich bewegen ließ, die Beförderung der 
Schrift an den Herzog zu übernehmen. Bon Eutin ging Perthed nach 
Lübeck und fand hier die Bürger in gleicher Weife wie in Hamburg 
gefinnt und bereitet. In der Nacht vom 24. zum 25. Februar cilte 
er nah Hamburg zurüd und traf die gefamte Lage der Dinge durch— 
aus verändert. Schon am 22. hatte ſich eine große Bewegung in der 
* Stadt gezeigt, hervorgerufen durch das falfche Gerücht von dem Her- 
annahen der Rufen. Geſtern Morgen find Kojaden in Perleberg, 
fiebzehn Meilen von bier, gewefen, ſchrieb Caroline an ihren Pater 


nah Wandsbeck. Ach, daß ich taufend Stimmen hätte, vw u 
Derthes' Echen I. 9. Aufl, ” ‘ 13 


194 


gen: Benediclus qui venit! In der Stadt ift alles lebendig, und 
ganz gewiß ftehen ernfthafte Auftritte bevor. Ich habe nicht Ruhe, 
nicht Naft auf meiner Stube, Gott helfe weiter und gebe und Lob 
und Danf ind Herz gegen Gott und Menfchen, und lehre und thun 
nach feinem Wohlgefallen! — Am 24. Februar, dem Tage vor Per: 
thed’ Ankunft, war, durch unbedeutende Vorfälle veranlagt, auf zwei 
entgegengefegten Seiten der Stadt zu derfelben Stunde ein Träftiger 
Aufftand ausgebrochen. Am Altonaer Thor wurde die Douanen- 
wache vom Volke angegriffen, die Douanen gaben mehreremale Feuer; 
eine nicht ermittelte Zahl der Angreifenden fiel, aber die Wache wurde 
geftürmt, das Wahhand zertrümmert und eine lange Reihe Pallifa- 
den niedergelegt. Am Hafen, wo die aus Bürgerjöhnen gebildete 
Präfecturgarde eingeſchifft werden follte, hatte fich die dortige Bevöl⸗ 
ferung ind Mittel gelegt, den herbeieilenden Maire mit Steinwürfen 
zurüdgetrieben und, durch die Stadt ziehend, die franzöfifchen Adler 
unter lautem Jubelgeſchrei abgeriffen und mit Füßen getreten. Dann 
ward das Haus eined beſonders verhaßten franzöfifhen Polizeibeam- 
ten von Grund aus verwüftet. Sonft aber kam kein Diebftahl, feine 
Berlegung vor; ed galt nur den Franzoſen. Dad Glüd oder Unglüd, 
ſchrieb Earoline ihrem Bater, hat feinen Anfang genommen. Abend 
roth, der zur Ruhe ermahnte, ift fehwer verwundet, mehrere Doua⸗ 
nen find todt gefchlagen, eine große Menfchenmenge ift auf den Bei- 
nen; die Schiffer, welche unfere Leute auf Befehl der Franzofen fort 
fahren follten, haben ihre Schiffe im Stich gelaffen und find fortges 
laufen; es fann alfo nichts fort. Gott helfe weiter! — Kein Adler 
ift mehr in der Stadt zu fehen, fügte jie eine halbe Stunde fpäter 
hinzu; der Lärm auf den Straßen wird größer. Gott fei Lob und 
Dank — wäre nur mein Perthed hier! — Die franzöfifche Befagung 
verhielt ſich dieſen Auftritten gegenüber leidend, aber unter dem wild 
‚ aufgeregten Bolt trat fein Führer auf. Mit einbrechender Nacht zer 
ftreuten fih die Haufen und die Franzoſen blieben, wenn auch ent« 
mutbhigt durch Furcht und Schreden, in der Stadt. 

Ah, e8 hat ein andered Ende genommen, ſchrieb Caroline am 
25. Februar nah Wandsbeck, ald wir gehofft und gewuͤnſcht hatten; 
jelbft die Douanen arbeiten [don wieder auf ihren Büreaud. Die 


195 


— — — 


Sache fing gewiß ernſthaft an und ſie haͤtte auch ein ernſthaftes Ende 
genommen, wenn nicht fremde Hände mit ind Spiel gekommen wä⸗ 
ren; aber mächtiglich flankieren dänifche Huſaren durch die Straßen. 
Indeſſen ift doch auch nach diefem Ausgange fchon mehr gefchehen, 
als wir vor einigen Tagen erivarten durften, und was geſchah, wird 
nit ohne weitere Folgen fein. Ich war die legte Nacht allein im 
Haufe; alle unfere Leute waren auf der Wache. Ich bin müde und 
matt, aber mehr vom Hoffen ald vom Fürchten. 

Während ded Tumultes hatten Veſſer und von Heß durch ſchnell 
umbergefendete Einladungen die Bürger aufgefordert, firaßenmeife 
zufammenzutreten, um die Stadt vor Plünderung zu ſchuͤtzen, und 
bald lärmten mit Zuftimmung der franzöfifchen Behörden die Trom⸗ 
‚meln der alten reichaftädtifchen Bürgerwache durch die Straßen und rie- 
fen die Bürger aus allen Ständen unter ihren früheren Hauptleuten 
zufammen. Die mit Säbeln oder Stöden oder Flinten bewaffnete 
Wache war ihrer Zufammenfegung wegen fehr geeignet, die Stadt 
gegen Augfchweifungen der erregten. Menge zu ſchützen; aber die 
Stadt follte nicht allein gegen die Menge geichügt, fondern auch von 
der franzöfifchen Heerfchaft befreit werden, und dazu war die Wache 
mit ihren veralteten, unkriegeriſchen Einrichtungen nicht geeignet. 
Den Schreden der Franzoſen benugen wollend, begaben fi), ange» 
regt durch die im Anfang Januar gehaltenen Beiprechungen, einer- 
feitd von Heß und anderfeit® DBenede mit Prell und Ewald zum 
Maire und baten um die Erlaubnis, zur Unterflüßung der Bürger- 
wache einige friegerifch eingerichtete Refervecompagnien errichten zu 
dürfen. | 
Als Perthed am Morgen ded 25. Februar mit diefer Tage der 
Dinge befannt gemacht worden war, fuchte er vor allem von Heß, der 
einen grundlofen, aber, wie alle feine Stimmungen, leidenfchaftlichen 
Widerwillen gegen Benede hegte, zu bewegen, ſich mit Diefem, mit 
Prell und Ewald zu vereinigen. Nachdem Heß fich bereit erflärt und 
Perthes Mettlerfamp berbeigezogen hatte, hielten die fech® Männer 
am 26. Februar in Perthes' Wohnung die erfte gemeinfame Ver⸗ 
fammlung. Da eine Zufchrift des Maire ihnen befannt machte, daß 
die franzöfifchen Behörden die Bewaffnung von fünfhundert Bürgern, 
13 * 


196 


welchen die Gewehre geliefert werden follten . zugeftanden hätten, fo 
war die Hauptfchwierigfeit aud dem Wege geräumt; aber dur) die 
Ichneidende Cchärfe, mit welcher Heß der warmen, allgemein deut- 
hen Begeifterung Benecke's entgegentrat, zeigte ſich ſchon bei diefer 
eriten Zufammenfunft, daß ein gemeinfamed Wirken beider Männer 
faum möglich fein werde. Damals zuerft fah ih, äußerte Perthes, 
das böfe Element des Haſſes mit einer mir unbefannten Gewalt in 
von Heß hervorbredhen; ich fah, daß eine Leitung der Gefchäfte nur 
durch meine Vermittelung möglich fei, und eine ſchwere, leidensvolle 
Thätigfeit nahm für mich ihren Anfang. — Perthes beiwog den Bil- 
dungsausſchuß, wie ſich die vereinigten ſechs Männer nannten, von 
Heß zum Chef der Bürgerreferve zu wählen. ch mußte gewiß, äu—⸗ 
Berte Perthes, daß Benede der guten Sache wegen ſich freudig unter- 
ordnen werde, und ich hoffte, daß von Heß, geehrt durch dieſe Wahl, 
feinen Haß überwinden könne. Am 27. Februar wurde der Aufruf 
an die Bürger, fich bei den Refervecompagnien einzuzeichnen, erlafs 
fen: entihloffene und angefehene Männer meldeten fich in hinreichen- 
der Zahl und die Waffenübungen begannen. In Perthes' Wohnung 
fuchten die fünf Sauptleute fi der nothmwendigften Handgriffe zu be 
meiftern, welche fie dann auf dem ihnen zum Waffenplage einge- 
räumten Bauhof den andern beizubringen fi) bemühten. Einige 
Tage der unrühigften aber muthigjten Stimmung vergingen. In 
der Stadt iſt es noch ruhig, ſchrieb Caroline ihrem Vater, aber ſonſt 
regt es ſich allenthalben. Auf dem Deich haben ſie das Haus des 
Maire aufgeräumt, aber leider unſer Milchmann hat dabei einen 
Lehnſtuhl erobert und einem Douanen zwanzig Thaler abgenommen. 
Das gefällt mir nicht; reinlich muß die Sache betrieben werden. Aus 
Billwerdet find alle Douanen verjagt, vom Deiche find fie fortgelau- 
fen, an unferen Thoren find fie verfehwunden. In Burtehude haben 
fie die ganze Regie vor das Thor getragen und die Thore hinter ihr 
zugemacht. In Lübeck ift es in vollem Gange und fein Adler mehr 
‚zu fehen. Koſacken find über die Elbe ind Hannöverifche gegangen, 
aber freilich bis jegt nur als Lärmtrommel; denn wir haben Briefe 
and Berlin: dort waren fie noch nicht. Aber alles, alt und jung, 
ſtellt ſich; auch Fouque und Steffen? find mit. — Bald tndeilen 


197 
fhwanden die Hoffnungen, welche auf den neuen Waffenverein ges 
gründet waren. Der johnelle und glüdfiche Fortgang deöfelben hatte 
die Eiferfucht der Hauptleute von der alten Bürgerwache erweckt. Sie 
fürdhteten, völlig in den Hintergrund gedrängt zu werden, und ver- 
breiteten ihre feindfelige Stimmung gegen das neue Unternehmen aud) 
unter anderen. Zugleich zeigte fich der Riß unheilbar, welcher die 
leitenden Männer der Bürgerreferve trennte. Ingrimmig trat von 
Heß gegen jede allgemein deutfche Gefinnung auf, aus feinem ande» 
ren Grunde wohl, als weil Benede fie mit fleigender Wärme aus 
ſprach; er verwarf mit der leidenfchaftlichften Heftigfeit jeden Plan, 
der bei der Befreiung Hamburgs auch auf den Aufftand der nicht in 
friegerifche Ordnung gebrachten Menge zählte. Benede dagegen und 
Perthes fanden in den ungeordneten Bolldbewegungen eine Kraft, 
die nad) Lage der Dinge dankbar benußt werden müfle und zum Gu- 
ten geleitet werden fünne. Der Aufftand des 24. Februar hat be> 
wiefen, jagte Perthes, daß unfer Volk zu großen Schritten bereit und 
menig graufam-und bösartig ift. — Bor allen Dingen, erflärte Be- 
nede, muß die Bürgerreferve populär fein und deshalb alled vermei- 
den, was ihr das Vertrauen nehmen könnte; fie foll daher ihre Dienfte 
durchaus auf die Befhügung der Perfonen und Häufer ihrer Mitbür- 
ger beichränfen und nie den kaiſerlichen Militär- und Douanenbehör: 
den gegen dad Volk Beiftand leiften. Nicht die geringfte Abweichung 
von diefem Grundfaß darf fie fih erlauben. — Heß dagegen hatte 
bei mehrfachen Gelegenheiten laut und öffentlich ausgefprochen, daß, 
wenn die ungegrdnete Maſſe aufitände, die Bürgerreferve verpflichtet 
fei, den bedrohten Franzofen Schuß gegen die Volkswuth zu gewäh- 
ren; da ihm nun im Bolfe diefe Worte dahin verdreht wurden, ala 
ob er die Referve wie zum Schupe der Kranzofen errichtet betrachtet 
wiſſen wollte, fo trat allgemeine Abneigung gegen die Referve her- 
vor. Petthes erfannte, daß in dem verhängnisvollen Zeitpunfte die 
Einigkeit der Bürgerfchaft auf dein Spiele fand, und er fürchtete, 
daß fich die Leiter der Referve, wenn fie in der eingenommenen Stel- 
lung verharrten, auch für die Zukunft um das Vertrauen der Bürger 
und um den Einfluß auf diefelben bringen würden. Das einzige Mit- 
tel, um dieſe zwiefache Gefahr zu befeitigen, ſah er in der augen- 


198 


blicklichen Auflöfung der Bürgerreferve. Unterftügt von Mettlerfamp, 
gewann er am 2. März die Zuftimmung des Bildungsausſchuſſes, 
und am 3. März gingen die Refervecompagnien auseinander. An eben 
diefem Tage, an welchem Perthes ſchmerzlich bewegt die Anftalt, 
an welche er feine Hoffnung auf Befreiung gefmüpft hatte, auseinan« 
der fallen ſah, wurde er durch fröhliche Nachrichten aus Berlin ers 
muthigt und geftärft. Hier in Berlin ift jebt alle® Leben und Thä— 
tigkeit, fchrieb ihm Reimer, und jedermann ift auf feine Weife be 
müht, dem Aufruf für Vaterland und König nad Kräften zu ent- 
fprechen. In fchöner Regung und Bewegunf erfreut fich jedes Ge- 
müth, und der innere Menfch wird neu geboren, und der einzelne 
verſchwindet ſich felbft und ‚geht auf in feiner Beziehung zur Gefamt- 
heit. Durch die fichtbar gewordene Gegenwart Gotted auf Erden ift 
da8 Vertrauen bis zum böchften Grade gefteigert und die Hoffnung 
auf einen glüdlichen Ausgang ift faft zur Gewißheit geworden. So 
fteht e8 bei und, Tieber Freund, und ich hoffe, ganz Deutfchland wird 
unfere Erhebung theilen und kräftig dazu thun, daß der neue Tag 
hereinbreche und Friede und Freudigkeit wieder auf Erden wohnen 
mögen immerdar. — Als mit dem 3. März die Möglichkeit ver- 
ſchwunden war, eine größere Anzahl Männer öffentlich in den Waf⸗ 
fen zu üben, fammelten Heß, Perthes und Prell im Geheimen eine 
Heine Zahl der entfchlofjenften und zuverläffigften Mitglieder des auf- 
gelöften Bereind und fegten mit ihnen in verfchiedenen Wohnungen, 
unter andern auch auf Perthes’ Boden, die Waffenübungen fort. Es 
follten für alle vorfommende Fälle, das war die Abſicht, wenigſtens 
einige Männer fich finden, welche ala Führer auftreten könnten. 
Die franzöfifchen Behörden fahen verftört und verzweifelnd die⸗ 
fen gegen fie felbft gerichteten Berfuchen zu. Bon ihren auswärtigen 
Vorgeſetzten erhielten fie den Befehl, auf das fchärffte gegen die 
Stadt und ihre rebellifchen Bürger zu verfahren, und einige Tage 
hindurch fuchten fie dieſem Befehle nachzufommen. Die Hausſuchun⸗ 
gen gingen ins Unglaubliche, fchrieb fpäter Caroline an ihre Schwe⸗ 
fer, Anna Jacobi; feine Schublade, fein Bett, auf denen Kranke 
oder Wahnfinnige lagen, wurde verfhont. Wir wußten, daß der 
Präfert von auswärts eine Lifte von Bürgern zugefchidt erhalten 


199 


hatte, welche aufgehoben werden follten. Auf diefer Lifte ftand Per⸗ 
the obenan. ch legte jeden Abend mit Wilhelm Perthed, der in der 
Handlung arbeitet, Breter über dad Waffer hinter unferm Garten 
und nahm den Hausfchlüffel jede Nacht zu mir in meine Stube, da- 
mit Perthed, wenn die Sranzofen ihn holen wollten, Zeit und Ge- 
legenheit hätte, fich in die Nachbarfchaft zu retten. Der Präfeet aber 
war zu brav oder zu furchtſam, den erhaltenen Befehl auszuführen, 
und als er gefchärfte Ordre erhielt, hing er fi) auf feinem Boden 
auf, wurde zwar noch lebendig wieder abgefchnitten, blieb aber wahn⸗ 
finnig. — Bald verloren auch die Militärbehörden Muth und Be 
finnung; dad Schredbild des 24. Februar und die tropige, heraus⸗ 
fordernde Haltung der Bürger ftand ihnen furchtbar vor Augen. 
Die höheren Beamten mußten nicht mehr, was fie thaten, und 
ſcheuen Blickes fehlichen-die niederen umher. Allen war es unheim- 
lich in der großen, aufgeregten Stadt, und viele Anzeichen deuteten 
darauf hin, daß die Befabung in furzer Zeit den unficheren Aufent- 
halt verlaffen würde. Lieber Papa, fchrieb Caroline am 12. März 
Morgen? 7 Uhr nah Wandsbeck, taufend und eine Nacht ift an der 
Tagesordnung. ara St. Eyr, der vorgeftern Nachmittag um 5 Uhr 
wirflih den Befehl zur Räumung der Stadt erhalten hatte, bleibt 
nun nad den legten Stafetten, feine Leute haben wieder auspacken 
müffen, und dem Maire ift befohlen, mehrere Häufer mit Betten, 
Möbeln u. f. w. bereit zu halten für den Kaifer und eine Ehren- 
garde aus den angefehenften Bürgern zu errichten. Der Anfang da- 
mit hat gemacht werden müſſen; der Maire und Godefroi und Wort» 
mann ziehen in aller Eile aus ihren Häufern; andere Wohnungen 
find für die Suite beftimmt. Jeder Menfch weiß freilih, daß der 
Kaifer nicht fommt; indeflen mir müffen unfer Stüd fpielen, bi® 
Et. Eyr aufbricht. — Die Sade hat fi um 11% Uhr geändert, 
fchrieb Caroline am Nachmittage desfelbigen Tages. Die Franzoſen⸗ 
herrſchaft ift, um ſich treu zu bleiben, mit einer Rüge geendet. Al- 
led, was von Truppen hier ift, geht fort: eben ift die franzöfiiche 
Hauptwache auf dem großen Neumarkt von den Bürgern abgelöft 
worden; die Franzoſen haben fehr Tange Gefichter gehabt, fagen un⸗ 
fere Leute, und die Bürger haben fehr zufrieden audgefehen, wie 


200 


wenn fie die Urfadhe von allem wären. Sept eben ziehen die Refte 
mit einigen Kanonen und Bagage an unferm Haufe vorbei, alle 
jehr ernſthaft, die Officiere blaß wie der Tod. Da kommt Prinz 
Neuß, St. Cyr und ein dider Herr. Gott helfe mir danken! Ich bin 
durch all den Wechfel von Freud' und Leid fo matt und müde, daß 
ih zum Danfe rechter Art nicht kommen kann. 

Nah Abzug der franzöfifchen Befabung war die Stadt mit 
ihrer aufgeregten Bevölkerung ſich felbft überlaffen. Der Maire und 
die Municipalität errichteten eine qus fünf Männern beftehende Com- 
mandantichaft, welche die Bürgerwache befehligen und für Erhaltung 
der Ordnung Sorge tragen follte.. Aus dem Innern der Stadt drohte 
indeffen feine Gefahr, aber die Abficht der Franzofen, Hamburg aufs 
nene zu befegen, ließ ſich kaum bezweifeln, Cara St. Eyr befand ſich, 
obwohl er auf das linke Elbufer übergefept war, nur wenige Stun- 
den von der Stadt, und au? Stralfund war General Morand auf: 
gebrochen und zog durch Medlenburg heran, um fich in oder bei 
Hamburg mit ©t. Cyr zu vereinigen. Anderfeitd wurde es befannt, 
daß rufjifche Truppen von Berlin aus ſich näherten und alles aufbic- 
ten würden, um Hamburg nicht wieder in die Hände des Feindes fal- 
len zu lajfen. In haftiger Eile durchkreuzten ſich einander widerfpre- 
chende Gerüchte: bald jollte Morand, bald follten die Ruffen fi in 
nächſter Nähe befinden. Jubel, Angft, Wuth erfüllten wechfelnd die Ge- 
müther, aber Freude und Hoffnung behielten doch das Uebergewicht. 

Es ift himmelſchreiendes Unrecht, fehrieb Caroline in diefen Ta- 
gen an ihren Bater, daß Du mir nur durch Gedanfenftrihe antwor⸗ 
teſt. Wenn wir jebt fehweigen, fo müſſen die Steine fehreien. Ein: 
folcher Dienft ift und noch nicht geleiftet und ein ſolches Glüd und 
noch nicht zu Theil geworden, und Du mußt mir in Worten dar- 
über fehreiben, lieber Papa. ch weiß wohl, dag wir fehmeigen und 
Doch Gott danfen können, aber wes das Herz voll ift, des geht der 
Mund über. Perthes ift bis diefen Morgen 5 Uhr auf der Wache ge= 
wefen und noch habe ich ihn nicht wieder gefchen. Das Morand'fche 
Corps foll in Lübeck eingerüdt fein. Wenn ed auch wahr ift, fo fha- 
det es nicht; denn gefangen werden fie doch. Die Ruffen fönnen nicht 
ferne mehr fein, und bei und in der Etadt fteht es gut und nirgends 


201 


artet die Freude in Tumult aus, Sch bin außer mir und weiß nicht, 
wie mir gefchieht, feitdem die große Seelen- und Lebendlaft von und 
genommen ift. Gott fchaffeund unfere Confcribierten wieder und ver- 
leihe allen Gefallenen Ruhe und allen Lebendigen Muth! 

Bon Perthes' altem Freunde Keetmann, welcher fih nach Neu⸗ 
wied zurüdgezogen hatte, langte in diefen Tagen ein Brief an, der 
zum Vertrauen auf den rechten Helfer ermahnte. Möchten wir, hieß 
es in demfelben, bei den großen Entwidelungen der Gegenwart nur 
auf die Hand des Herrn fehen und nur von ihm Rettung erwarten. 
Er hat feine Macht bewährt und den Ader des menfchlichen Herzen? 
gepflügt und ihn mürbe und empfänglich gemadt. Wie oft find die 
Hoffnungen der Menfchen auf Menfchen getäufeht, und dennod) hofft 
man immer wieder auf einen fleifchernen Arm. — Das Bertrauen 
auf die Hilfe Gottes lebte feft in Perthes' Bruft, aber die Hände in 
den Schoß legen dürften die Menfchen nicht, blieb feine Ueberzeugung. 
Ald am 16. März General Morand mit etwa dreitaufend fünfhun- 
dert Mann in Bergedorf, einem nur wenige Stunden von Hamburg 
entfernten Städtchen, einrüdte und die gewaltfame Spannung der 
Bürgerfchaft den höchften Grad erreichte, waren Perthed, Mettler- 
kamp und mehrere ihrer freunde feſt entfchloffen, jedem Verſuche der 
Franzoſen, fi) Hamburgs aufs neue zu bemädhtigen, die Volkswuth 
entgegenzufegen, die, um in wilder Bewegung audzubrechen, nur de? 
leijeften Anſtoßes bedurfte. Die Nothwendigkeit aber, von dieſem 
äußerften Mittel Gebrauch machen zu müffen, verſchwand, als eine 
Abtheilung dänifcher Truppen fi) zwiſchen Hamburg und Bergedorf 
aufftellte und dem General Morand den Durchzug durch das dänifche 
Gebiet verweigerte. Während Morand ſich in Folge diefer Weigerung 
genöthigt fah, am 17. März auf das linke Elbufer überzufepen, tra- 
fen an demfelben Tage etwa fünfzehnhundert Kofaden von Berlin 
über Ludwigsluſt und Lüneburg in Bergedorf ein. Eine Streifpartie 
derfelben von dreizehn Mann, welche von dem damaligen Rittmeifter 
und fpätern Regierungsrath Bärſch befehligt ward, durchſprengte 
noch am Abend eben diefed Tages auf eine Stunde die Straßen Ham- 
burge. Sobald da8 Detachement der Stadt ſich näherte und im 
Angefichte der Steinthorwache war, ließ unfer Capitän, ſchrieb Be⸗ 


202 


nede von der Steinthborwache aus an Perthes, die Wache ind Ge⸗ 
wehr treten und ging: mit acht Mann, unter denen ich war, den Ruf- 
fen entgegen. Auf fein Zeichen ließ der ruffifche Officier halten und 
unfer Capitän überreihte ihm den Schlüffel der Stadt mit den Wor⸗ 
ten: Hier ift der Schlüffel der freien Hanfeftadt Hamburg; es lebe 
Deutfchland und Rußland hoch! Ein fi fehnell unter Taufenden 
fortpflanzender Ton übertobte die deutfche Antwort des die Schlüffel 
mit adelichem Anftand und herzlicher Freundlichkeit annehmenden ruf 
ſiſchen Officiers. Der” Jubel war unbefchreiblih. Deutfh, Ruß, 
Koſack, Alerander waren die einzigen verftändlichen Laute, in vielen 
Augen ftanden helle Thränen. Lieber Perthed, ed war ein Augenblid, 
der für die Ewigkeit Werth behält. 

Während der Naht vom 17. zum 18. März ftanden in Berge 
dorf die Nuffen Hamburg gegenüber, welches feiner Gefinnung nad) 
durch und durch deutfch, den Formen feiner Verfafiung nad) aber noch 
eine franzöfifche, alfo den Ruſſen feindliche Stadt war. Perthes 
hatte mit manchen anderen fchon feit dem 12. März die Anficht ger 
habt, daß die franzöfifche Civilobrigkeit, der Maire nemlich und die 
Municipalität, nun, nachdem die franzöfifhe Militärgewalt nicht 
mehr dränge, fofort befeitigt und hierdurd) die Losfagung von Frank⸗ 
reich förmlich und feierlich audgefprochen werden müſſe. Die Wider: 
ftandäfraft der Bürger würde hierdurch, meinte er, bis zum Muthe 
der Verzweiflung gefteigert, und nur der Staat, der alle® an alles zu 
ſetzen Entfchloffenheit genug befite, werde von Rußland und Preu⸗ 
en als felbftändiger Freund behandelt werden können. Beftärft in 
ihrer Anficht wurden die Männer diefer Gefinnung durch ein Schrei⸗ 
ben, welches der ruffifche Gefchäftdträger, Herr von Struve, am 13. 
März aus Altona gefendet hatte. Hamburgs Bürger, lautete da8- 
jelbe, find durch den Abzug der franzöfifchen Militärbehörden von 
ihren bisherigen Fefleln frei, aber Hamburg kann fein Wohl nur 
durch Schritte begründen, die Europa und feinen herannahenden Ber 
freiern beweifen, daß es frei fein will. Es muß erflären, daß ed 
Frankreich auf immer entfagt. — Die Municipalität Hamburgs war 
aus · wackern einheimiſchen Männern zufammengefegt und der fran- 

zöfifchen Herrfchaft durchaus feindlich gefinnt; aber der form nad war. 


203 


fie franzöfifche Behörde, und deshalb konnte ihr der Entfchluß, fich 
offen gegen Frankreich zu erflären, nicht fo leicht wie andern erfchei- 
nen. Es handelte fi, wenn etwa den Franzoſen die Rückkehr gelang, 
um den Kopf der einzelnen und um das Geſchick der Stadt, welde in 
diefem Falle niht nur ala eine feindliche, fondern auch ala eine res 
bellifche- Stadt die Wuth und die Rache Napoleons und feiner Hel- 
feröhelfer zu fürchten hatte. Um wenigftend den Borwurf der Res 
.bellion abweifen zu fönnen, wollte die Municipalität die Erflärung 
der eigenen Auflöfung und die Losfagung Hamburgs. von Frankreich 
wie durch die Ruffen erzwungen erfcheinen laſſen. In der Nacht vom 
17. zum 18. März erhielt fie die Nachricht, daß die Ruſſen am folgen- 
den Tage in Hamburg einziehen würden, und zwar ald Feinde, wenn 
ſich noch irgend eine franzöfifche Behörde innerhalb der Stadt in Thä- 
tigkeit befinde. Nun ſprach fie ihre Auflöfung aus, und fo wie der Tag 
anbrach, füllten fi alle Straßen mit freudig bewegten Menfchen, 
welche die bis dahin nur aus Ammenerzählungen befannten Reiter 
einer fremden Welt ankommen fehen wollten. 

Mein lieber Papa, ſchrieb Caroline einige Stunden vor Ankunft 
derfelben an ihren Vater, wie foll ich e® machen, um Dir da3 allge 
meine reudenleben von alt und jung, von arm und reich, von 
fchlecht und gut zu fchreiben? Das gefehen und gehört und em⸗ 
pfunden zu haben, ift eine Gottedgabe. Dem Grunde und der Ur- 
fache der Freude will ih nicht nachforfchen; aber der Ausbruch der 
Freude ift unverbeiierlich fhön und ift wie aus einem guten und reis 
nen Grunde. Ein Borpoften von dreizehn Kofaden kam ſchon geftern 
Abend in die Stadt mit ihren Manteltalaren und mit eben von 
Franzofen oder doch wenigſtens von deren Kleidern geziert. Ein jeder 
Mund rief und jubelte, und jedes Herz dankte Gott im Himmel und 
den Ruſſen auf Erden. Niemald, mein lieber Papa, habe ich eine 
folche Bereinigung in Einem Punkt, ausgehend von taufend Herzen, 
empfunden. Könnten wir fo zum beften Punkt und vereinigen, das 
müßte eine herrliche Kirche fein. Alſo die Koſacken kamen geritten, 
batten ihre Ranzen gefenkt, ſchwangen ihre Düsen und fahen erftaun- 
ih treuberzig und freundlich von ihren Pferden herab. Bon allen 
Seiten brachte das Volk ihnen Brantwein, Kuchen und Brot aufs 


204 


Pferd. Leute, die fein Gemüth gehabt haben, haben geftern und 
heute eins befommen, und wenn man nur öfter den Menfchen fo 
tief in die Seele kommen fünnte, follte e8 wohl gute Folgen haben. 
Sch fühle die Erlöfung mehr, als ich die Freiheit fühlen werde, denn 
fo werden wir nicht frei fein, wie wir von dem Uebel erlöft find. 
Wenn die Ruſſen eher einziehen, als der Bote geht, fo fehreibe ich 
Euch mehr; ich wollte gar zu gern, Daß. Ihr auch etwas von unſerer 
Freude hättet. 

In den Mittagsſtunden hielten die Koſacken unter unermeßlichem 
Jubel ihren Einzug, und alles Weh der Vergangenheit und alle Ge- 
fahr der Zukunft war in dem Glüde der Gegenwart untergegangen. 
Kaum eine deutfche Meile entfernt ftand der Feind und fonnte in we- 
nigen Stunden die Stadt mit Mord und Brand erfüllen, aber nie 
mand dachte an ihn und feinen Grimm. inen wunderbaren An- 
blid bot die Stadt jedem dar, der nad) dem lauten Jubel ded Tages 
in der fommerwarmen Frühlingsnacht die Straßen einfam durd- 
"wanderte. Ueberall tiefe Stille und forgenlofed Ausruhen; fein Po- 
ften war auögeftellt, Feine Patrouille durchritt die Gaflen, fein 
Polizeibeamter war zu ſehen. In hellem Glanze ſchien der Mond 
auf die Häufer mit ihren fchlafenden Bewohnern herab und vollen- 
dete das Bild des Friedens und der Sicherheit. Dem Schube Got- 
te3 allein hatte die freudenmnüde Stadt fi anvertraut. 


Die nene Bedrohung und die Wiederbeſetzung Hamburgs 
durch Davouſt. 
Bon 18. März bis 30. Mai 1813. 





Die erwartungdvolle Spannung, in welcher Deutfhland fich 
während der Monate vor den Maifchlachten von Lügen und Bausen 
befand, ließ den Abfall der einzelnen vom Feinde umgebenen Stadt 
in einem überaus glänzenden Lichte erfcheinen. Mit Jubel und Freu- 
denthränen haben wir Hamburgs That gefeiert, fehrieb der alte Rein- 


205 


hold aus Kiel an Perthed, und unfer eigened, wahrlich nicht Fleines 
- Elend haben wir darüber vergeffen. — Ich kann e8 nicht laſſen, 
Shnen zu jagen, heißt es in einem Briefe Schleiermacher'8, wie auch 
unter und allgemeine Freude ift über Hamburg® Befreiung und über 
das herrliche Beifpiel, welches die Stadt gegeben hat. Möge es weit- 
bin in ganz Deutfchland wirken und die Achtung für freie Berfaffun- 
gen auf neue beleben! — Eine kräftige Stimmung, welde zum 
Fortfchreiten auf dem betretenen Wege ermahnte, trat bejonders in 
den Briefen, welche Perthed aus Preußen empfing, hervor. Sie ath- 
men wieder frei, mein lieber Freund, fchrieb Reimer; nun aber laſſen 
Sie und auch feft daran halten, dag wir die Freiheit nicht ald Ge- 
ſchenk von fremder Hand empfangen, fondern felbit dafür kämpfen 
und und ihres Befiged durch jedes Opfer werth zeigen wollen. Feder 
Bürger Deutſchlands muß ftille vor Gott und laut vor feinen Mit- 
bürgern fehwören, daß er die Schande der Unterdrüdung nicht wieder 
tragen wolle. Gott wird helfen, und wir werden einem Baterlande 
angehören, daß feiner Größe und dem treuen Sinne feiner Bewohner 
nad) zum erften Lande von Europa beftimmt ift. — “Bor einer ver- 
Iorenen Affaire darf man ſich nicht fürchten, meinte Schleiermacher. 
Für den Anfang wünſche ich fie zwar nicht, wohl aber für die Folge; 
denn wenn der Krieg nicht fünf, wo möglich zehn Jahre dauert, fann 
es und nicht gründlich helfen. — Wer hätte ed ahnen fönnen, heißt 
es in einem Briefe Niebuhr's, daß uns ſolche Tage bereitet würden. 
Laſſen Sie und nun nur jeden predigen — uns felbft haben wir nicht 
nöthig es vorzufagen, — daß die müßige freude nicht mehr verderb- 
lich als ſchmählich if. Auch Sie laſſen es fich gewiß nicht fchreden, 
daß der Weg auf den Gipfel der Freiheit an einem Abgrunde hin- 
führt, daß wir recht wach an ihm vorübergehen müſſen, nicht zu wiel 
bineinfchauen, fondern aufwärts bliden, aber wohl aufınerfen, wohin 
wir den Fuß ſetzen. Unſere Befreiung kann nicht unvollendet bleiben, 
fie kann nicht rückwärts gehen, wenn wir nur einigermaßen thun, 
wozu und alle aufruft. 

Ermuthigende Worte, wie fie in diefen und manchen anderen 
Briefen gefchrieben wurden, waren für Hamburg zur rechten Stunde 
geſprochen; denn die Stadt war zwar frei, aber ihre Lage und das 


206 


Verhältnis der in ihr wirkenden Kräfte ließ vorausfehen, daß der 
Kampf um die Behauptung der fehnell gewonnenen Freiheit fein Teich» 
ter fein werde. Als es am 12. März nach Abzug der Franzoſen ge- 
wiß wurde, daß die Municipalität werde abtreten müffen, entftand 
die Frage, durch welche Behörde fie erfet werden könne. Am nächften 
lag e8, die frühere reichöftädtifche Obrigkeit, den Senat nemlih und 
die bürgerfchaftlichen Collegien, wieder in ihre alte Stellung einzufegen. 
Bon Heß aber und Perthes waren der Anficht, daß die Obrigfeit der 
Neichözeit wenig geeignet fei, die Kraft, Kühnheit und Schnelligkeit zu 
entwideln, welche der große, außerordentliche Augenblick erfordere. 
Beide Männer hielten bis zur Herftellung des allgemeinen Friedens 
eine höchfte Behörde für nothwendig, welche, ungehemmt. durch die 
Formen und Vorſchriften der alten Verfaſſung, allein auf eigene Ver⸗ 
antwortlichkeit und aud eigener Machtvollkommenheit die durchgrei⸗ 
fendften und entfchloffenften Anordnungen zur Bertheidigung treffen 
und dem zu jeder Aufopferung bereiten Eifer der Bürger eine bes 
ftimmte Ordnung und Richtung geben könne. Aus den Fräftigften 
Mitgliedern des früheren reichsſtädtiſchen Senated und aus einer An⸗ 
zahl allgemein befannter und des Vertrauens der Stadt genießender 
Bürger follte diefe Zwilchenbehörde gebildet werden, und ihr Recht 
und ihre Macht follte fie erhalten, indem fie von Tettenborn, dem 
Führer der ruffifhen Truppen, eingefeßt oder doch wenigſtens beftä- 
tigt würde. Bon Heß war allein von allen Hamburgern dur Stä- 
gemann in Berlin mit Zettenborn belannt und er gewann denfelben 
bei dem erften perfönlichen Zufammentreffen in Bergedorf am Abend 
des 17. März für feine Anfiht. Als aber Heß im Auftrage des Ober- 
ften nad Hamburg zurüdgefehrt war, wurde er in der Nacht vom 17: 
zum 18. durch die Municipalität erfucht, dem ruffifchen Befehlshaber 
die Anzeige zu überbringen, daß die Municipalität dad Stadtregiment 
dem Senate, aus deſſen Händen fie e8 empfangen habe, wieder zurüd- 
gebe. Noch in der Nacht wurde der alte Senat und das Collegium 
der Oberalten zufammenberufen und die ftädtifche Verfaſſung der 
Reichszeit ward ohne irgend eine Aenderung wieder bergeftellt. Lie⸗ 
ber Freund, fchrieb Heß in diefer entfcheidenden Nacht vom Rathhauſe 
aus an Perthed, die Sache ift geicheitert, aber damit nicht unfer Zweck. 


207 


Der alte Senat nimmt zwar dad auf, was der Municipalrath fallen 
läßt, aber die außerordentliche Commiffion foll doch, fo wahr ein Gott 
lebt, her. Zmeimal bin ich in diefer Nacht vor Ihrem Haufe gewe⸗ 
fen, aber ich konnte nicht hinein. Ich wollte an Ihrem Bufen meinen 
Ingrimm audweinen. 

Sobald der alte Rath feine frühere Stellung wieder eingenom- 
men hatte, erwachte in ihm die bedächtige Abwägung der fünftig mög. 
lichen Wechfelfälle und die berechnende Vorficht, deren die Reichsſtädte 
ehemals in ihren, wenn auch nicht großartigen, Doch ſchwierigen Ver⸗ 
widelungen beburft hatten. Die franzöjtfchen Truppen fanden noch 
in großer Nähe, die Ruffen waren ſchwach und die Rüdkehr der Na⸗ 
poleonifchen Herrihaft war -nicht unmöglich. Die Berüdjihtigung 
biefer Möglichkeit erfchien dem Senat daher als die erfte Forderung, 
welche an eine umfichtige Obrigkeit gemacht werden mülfe. Sein aus 
ſolcher Anfiht hervorgehendes Verhalten machte auf alle, welche für 
die außerordentlihe Zeit auch außerordentlihe Kühnheit forderten, 
den Eindrud der Halbheit und Zaghaftigkeit. Solche Ruhe und Weis- 
heit, hieß e8, fei weder geeignet, die Rückkehr der Franzofen abzuweh⸗ 
ren, noch werde durch fie der Zorn und die Wuth derfelben fich be⸗ 
ſchwichtigen laſſen, falls jie wirklich zurückkehren follten. Um die 
Wiederbeſetzung der Stadt verhindern zu können, müſſe man noth⸗ 
wendig von der Boraudfegung ausgehen, daß die Wiederbefegung 
eine Unmöglichkeit fei. In einem fo entfcheidenden Augenblide, ald 
ber gegenwärtige, dürfe man nur das Nächfte und Nothwendigfte, 
das Zurüdichlagen nemlich der Franzoſen, ind Auge fallen, und jeder, 
der bereit fei, dad eigene Gut und Blut dahinzugeben, habe dad Recht 
und die Pflicht, Gefahren außer Acht zu laffen, welche die Stadt tref- 
fen könnten, wenn aller Widerftand vergeblich fein follte. — Anſich⸗ 
ten und Weberzeugungen diefer Art hatten fi unter dem größten 
Theil der Bürger geltend gemacht: bis in die arbeitenden und dienen⸗ 
den Stände hinab trat in Worten und Werken der freudige Muth 
hervor, alled zu wagen und zu opfern, auch die in den legten fünfzig 
Jahren fait erftarrten bürgerfchaftlihen Collegien waren zu fühnen 
und großen Entſchlüſſen bereit. Ein Auftreten aber, welches auf die- 
fer Seite ald Muth und Kraft erſchien, ftellte fi) der Gegenfeite al? 


208 


unbefümmerter Leichtfinn dar, welcher dad Wohl und Wehe der Baterz 
ftadt in blindem Eifer auf das Spiel feßte. Mitten hinein in diefen 
Gegenſatz zmwifchen dem Rathe und der Bürgerpartei trat Tettenborn, 
der Führer der Ruſſen, unbekannt mit allen ftädtifchen Verhältniſſen 
und in feinem Urtheile über diefelben geleitet durch von Heß, welcher 
leidenschaftlich mit dem Senate grollte, an deflen Stelle er die außer: 
ordentliche Regierungdcommilfion hatte fehen wollen. 

Der Oberft Freiherr von Tettenborn, Sohn eines badifchen 
Forſtbeamten, war 1812 aud öftreichifchen in rufjifhe Kriegsdienfte 
getreten und hatte fi) hier wie dort den Ruf eines kecken Reiterfüh- 
rerd don perjönlihem Muthe erworben. An der Spike einer zum 
Umbherihwärmen beftinnmten Kofadenfhar war ihm bei dem Por: 
dringen des rufftichen Heeres manches Wagſtück geglüdt; nun aber 
fah er fih durch feinen Zug nad Hamburg in die ſchwierigſten Ver⸗ 
hältnifje verfeßt, ohne bisher Gelegenheit gehabt zu haben, ſich in an- 
deren Sagen zu bewähren, als in folchen, die mit den Streifereien 
eines fliegenden Corps verbunden find. Nur auf feinen Heinen Rei— 
terhaufen geftügt, fonnte er unmöglich Die Stadt gegen einen ernften 
Angriff der Franzoſen halten, und alles fan darauf an, den Mangel 
des Fußvolks zu erjegen. Die natürliche Kühnheit und der begeifterte 
Eifer der fräftigen Bevölkerung ermwedte zwar Hoffnung und PBer- 
trauen; aber kriegeriſche Borbildung fehlte ihr völlig, und ein Stamm 
geübter und erprobter Truppen war nicht vorhanden, an welche die 
junge Mannſchaft ſich hätte anfchliegen fönnen. Officiere und Unter- 
officiere zur Einübung der nöthigften Handgriffe und Bewegungen 
fanden ſich nur in fehr kleiner Zahl, und diefen wenigen mußte ihr 
Geſchäft durd dad an militärifchen Gehorſam nicht gewöhnte ftarfe 
Bürgergefühl der Hamburger erjchwert werden. Tettenborn hatte 
ſich feldft zum oberften Befehlöhaber der Etadt gemacht, und feine Auf- 
gabe war es, alle zu verfuhen, um mit dem guten und fräftigen 
Willen der Bürger die mandherlei Schwierigfeiten zu überwinden, 
welche fich einer erfolgreichen Vertheidigung der Stadt gegen den in 
größter Nähe ftehenden Feind entgegenfegten. Unmittelbar nad) fei- 
nem Ginzuge hatte der Oberft zu diefem Zwecke die Einrichtung einer 
Bürgergarde zur unmittelbaren Bertheidigung der Stadt und die Er- 


209 : 


rihtung eined Corps von Freiwilligen angeordnet, welches unter dem 
Namen Hanfeatijche Legion fich den Heeren der Verbündeten anſchlie⸗ 
Gen follte. Glüdliche Ereigniffe gewährten eine Ruhe von mehreren 
Wochen, um fi zum Kampfe gegen die franzöfifhen Truppen vorzu- 


bereiten. Ringeum nemlich war um dieje Zeit alle® in Bewegung . 


gerathen. In Medlenburg wurde muthig und Fräftig gerüftet; Frei⸗ 
willige fammelten fi in Lauenburg unter Dajor von Berger, in Lü⸗ 
bed unter dem Rittmeifter von Dobened und dem Hauptmann von 
Zucadou, im Cüneburgifchen unter dem Grafen Kielmandegge; Dörn⸗ 
berg und Tſchernyſcheff festen auf das linfe Elbufer über und die 
Franzoſen zogen fich bis zur Wefer zurüd. Faſt ſechs Wochen ver« 
gingen ohne.einen Verſuch derfelben, das rechte Elbufer zu beunruhi- 
gen; demungeachtet aber befand fih Hamburg auch nach Ablauf die- 
fer Zeit nicht in einem vertheidigungsfähigen Zuftand. Tettenborn 
verftand es wohl, einen raſchen Reiterhaufen auf gewagten Streife- 
veien zu führen, aber ihm fehlten Geduld und die nöthigen Erfahrun- 
gen, um mit geringen Kräften und mit befchränften Hilfsmitteln die 
Befeftigung der weitläufigen Stadt: den Umftänden .entfprechend zu 
leiten. Er fonnte wohl mit leidenſchaftlichen Worten die Menfchen 
zu einem fehnellen Entfchluffe drängen, aber feft und kräftig feinen 
Weg durd) die politifchen Gegenfäße der aufgeregten Stadt zu geben 
‚vermochte er nicht; denn er befaß weder bie fichere Ruhe eines bedeu- 
tenden Charakters noch das Feuer eine? fi felbft vergeffenden Helden. 
Die Pläpe auperhalb Hamburgd, auf welchen die Sicherheit desfelben 
weſentlich ruhte, blieben ſchwach oder gar nicht befeftigt, der Senat 
wurde zu keinem ausharrenden und entfchloffenen Handeln vermodht 
und der oft übergroße Eifer der Bürger wenig geordnet und.benugt. 

Die hanfeatifche Region, welche aus zwei Hamburgifchen Bataif- 
lons und etwa taufend Neitern beftand und zwei Männer, die allge 
meine? Vertrauen genofjen, den damaligen Major von Pfuel und den 
Major Graf Joſeph Weſtphalen zu Führern hatte, konnte zwar nach 
wenigen Wochen ſchon gegen den Feind verwendet werden; aber die 
Ausbildung der Bürgergarde, auf deren Tüchtigkeit die Vertheidigung 
der Stadt beruhte, ſchritt nur ſehr langſam vor. Beinghe drei Wo— 


chen waren nach dem Einrücken der Koſacken vergangen, bevor der 
Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 14 


210 


—— 


Senat den Aufruf zur Bildung derfelben erließ. Als diefer endlich 
am 6. April erfhien, hatten ſich bereits feit etwa acht Tagen dreitau- 
fend Bürger unaufgefordert in die Liſten der am 1. März aufgelöften 
Mefervecompagnien einfchreiben laſſen und ſich auf die lebendige An⸗ 
regung und unter der thätigen Leitung des Herrn von Heß, welcher 
von Tettenborn zum Oberft der Bürgerbewaffnung ernannt war, in 
den Waffen geübt. Ende April beftand die Bürgergarde aus eiwa 
6000 Mann, die fih mit Eifer zu den Uebungen drängten; aber die 
Zehrmeifter fehlten und an Waffen war in Hamburg und in der gan⸗ 
zen Umgegend ein folder Mangel durch die Plünderungen der Fran- 
sofen entftanden, daß für die 6000 Mann nur 1500 Gewehre herbei- 
gefchafft werden Fonnten, von denen der größte Theil, weil er zum 
Feuern unbraudbar war, höchftend zur Einübung der erften Hand- 
griffe dienen konnte. Die Perfönlichfeit des Herm von Heß, fo geeig- 
net fie gewefen war, den Eifer der Bürger zu entzünden und in die 
rechte Bahn zu leiten, zeigte fich nicht gefchidt, die angefangene Be- 
waffnung durchzuführen. Er felbft ſank oft von der aufgeregteften 
Begeifterung zur größten Mutblofigfeit herab und mußte nicht Ord⸗ 
nung und Zufammenbang in die Uebungen der fechötaufend eifrigen 
Männer zu bringen. Midmuth über die zwecklos verlorene Zeit und 
Unzufriedenheit mit Heß machte fich immer lauter bemerflih. Endlich 
nahm fi, fhrieb Tpäter Mettlerfamp, Herr Friedrih Perthed der 
Sade an, deſſen Scharfblide die Bernachläffigung des guten patrio- 
tifhen Willen? der Leute nicht entging. Er ließ fih zum Major bei 
dem Stabe und zum Adjutanten ded Herrn von Heß machen, gefellte 
fih ein paar junge, rüftige Leute ald Gehilfen zu, warf fih in Uni. 
form und erfhien nun jeden Morgen auf dem Uebungsplatze, wo er 
mit der größten Mühe und Thätigfeit die umherirrenden Haufen 
fammelte und zu firieren ftrebte. — Perthes hatte in den erften Ta⸗ 
gen nach Tettenborn's Einrüden alle feine Kräfte verwendet, um frei⸗ 
willige Gaben zur Augrüftung armer Bürger und zur Unterftüßung 
ihrer Familien zufammenbringen zu helfen. In allen Ständen hatte 
er überrafchend große? Entgegenfommen gefunden. Während Salo- 
mon Heine, großartig wie immer, ihm fehrieb: Sie erhalten hierbei 
dreitaufend Mark; Gott wird Ihnen lohnen, daß Sie fich diefer 


211 


Sache annehmen, berichtete ihm Peter Godeffroy, welcher in einzelnen 
Bezirken perjönlich gefammelt hatte: Es ift mir nicht möglich, diefen 
Bericht zu ſchließen, ohne Sie auf die Bereitwilligfeit und den Eifer 
aufmerfjam zu machen, den jeder ohne Ausnahme bewiefen bat. 
Bor allen aber haben fich Die ärmeren und mittleren Claffen durch 
ihre verhältnismäßig großen Gaben audgezeichnet. — Unmittelbar 
nad Beendigung diefed erften und nothwendigften Gefchäftes gab fi 
Perthed ganz den Arbeiten für die Einrichtung der hanfeatifchen Le⸗ 
gion hin. ch hatte ihr ja, fchrieb er nicht lange nachher, in den drei 
trefflichen mir anvertrauten jungen Leuten: Maufe, Weber und Wil- 
heim Perthes, mein Herzblut hingegeben. — Dann wendete er fich, 
von vielen Seiten dazu aufgefordert, der Bürgergarde zu und wurde 
am 6. April zu deren Stabsmajor ernannt. Perthes hatte damals 
dag vierzigfte Jahr bereit? überschritten und bi? zum Jahre 1813 
nie irgend eine militärische Uebung oder Erfahrung gehabt. Diejem 
Mangel ließ fich nicht plöglich abhelfen, auch fehlten ihm, wie er felbft 
fagte, die Anlagen, ſich in militärifche Uebungen hineinzufinden. AL? 
Dfficier im eigentlichen Sinne ded Worted Fonnte er daher nicht auf- 
treten und that es auch nicht, es fei denn, daß jede andere Aushilfe 
fehlte; aber den Eifer und den guten Willen der Leute wußte er neu 
zu beleben, das gute Verhältnis derfelben zu Herrn von Heß wieder 
herzuftellen, Ordnung in die durcheinander geworfenen Verhältniffe 
und die rechten Leute an die rechten Stellen zu bringen. Friſch wurde 
er angeregt durch das Erfcheinen des preußifchen Staatsraths Scharn⸗ 
weber, welcher am 11. April in Hamburg anlangte, um eine möglichft 
große Einheit für die Volksbewaffnung der einzelnen Staaten zu ver- 
abreden. Preußen ift diefen Plänen bereitd beigetreten, ſchrieb ihm 
Benede; nun gehts die Elbe herunter. Mecklenburg iſt bereit; für 
Lauenburg ift Kielmandegge einverftanden,; nun fehlt noch Hamburg. 
zettenborn hat ſich hierum nicht zu befümmern; da3 ift Hamburg? 
Sache. — Den perfönlihen Einfluß, den Perthes bei den Bürgern, 
bei einzelnen Mitgliedern des Raths und in Tettenborn’d Umgebung 
befaß, wendete er mit unermübdlicher Thätigkeit und ohne Scheu vor 
Verdrieplichkeiten und Opfern aller Art an, um das geftörte Verhält- 
nid zwoifchen der Bürgerfchaft, dem Senate und dem tuffifhen Haupts 

14 * | 


212 


quartier möglichft wieder herzuftellen. Innere Zwietracht wenigſtens 
ſollte dem Feinde den Angriff nicht erleichtern. Ein ſeltenes und all- 
gemieined Vertrauen ward ihm und feiner ebenfo entichloffenen ala 
anfpruchlofen Thätigkeit von allen Parteien ju Theil, und immer has 
ben feine Mitbürger freudig anerkannt, daß er in der außerordent« 
lichen Zeit viele® und großed gewirft. Mit folgenden Worten. legte 
einige Jahre fpäter Poel fih und andern die Gründe vor, welche es 
möglich machten, daß Perthes damals die große Bedeutung für die 
Stadt gewinnen konnte. Man darf, fagte er, um Perthes' perſön⸗ 
liche Thätigfeit zu würdigen, nur die Gefchichte, der von ihm errichtes 
ten Buchhandlung fennen, die er in wenigen Jahren ohne andere Mit- 
tel als diefe Thätigfeit zu einer der bedeutendften Deutfchland® erho- 
ben hat. Weil er früh des Beiftandes anderer Menfchen bedurfte, 
- übte fich fein Beobachtungsgeiſt, lernte er Weltflugheit in der Behand- 
lung der Schwächen anderer, Selbfiverleugnung in rüdfichtövoller 
Schonung fremder Meinungen, Befonnenheit in Bezwingung leiden- 
Ihaftliher Aufwallungen. Sollte bei dem unermeßlichen Detail feie 
nes Geſchaͤfts das Ganze nicht durch Vernachläſſigung des Einzelnen 


leiden, ſo mußte er fih die-raftlofefte Thätigkeit, den anhaltendften 


Fleiß, die firengfte Ordnung zu eigen machen. Den Mangel an ge 
lehrter Bildung erfegte reichlich „der Umgang mit den bedeutendften 
Männern Deutfchlands,. fo daß nichts großes und ſchönes in ber 
vaterländifchen Literatur zur Sprache gefommen ift, das fein Geift 
fi) nicht angeeignet hätte, und es wurde vielleicht um fo reiner voy 
ihm aufgefaßt, weil fein Blick durch Feine gelehrten Borurtheile getrübt 
war. Was aber diefer Bereinigung jo feltner Eigenschaften einen 
ganz vorzüglichen Werth gibt, ift die Wärme feined Herzens und der 
‚tiefe religiöfe Sinn, der den weltlihen Beftrebungen eines ftolzen 
Gelbftgefühld Grenzen feßt und fie veredelt. 

Endlich war die Ausbildung der Bürgergarde fo weit vorgefehrit- - 
ten, daß fie feit dem 21. April fünf Wachen der Stadt befeken und 
dem medlenburgifchen, vierhundert Mann ftarfen, Grenadierbatail- 
Ion und den beiden hanfeatifchen Bataillon? den Dienft erleichtern 
fonnte, welcher von. Tage zu Tage anftrengender und gefahrvoller 
wurde, weil Bandamme und. Davouft. aufs neue von der Wefer her 


213 


vorgedrungen waren und mit etwa 6000 Mann am 29. April Har- 
burg befett hatten, welches von Hamburg nur durd die Elbe und 
durch die großen in derfelben liegenden Inſeln Wilhelmsburg Ochjen- 
wärder und Feddel getrennt wird. Die Bürgergarde erhielt zwar am 
30. April zweitaufend Gewehre aus England, aber an weitere Waf- 
fenübungen auf dem Exercierplatz Tonnte bei dem harten Ernftdienft 
nicht länger gedacht werden. Am- 9. Mai Morgens fünf Uhr tönte 
die Lärmtrommel durch Die ganze Stadt; der Feind war auf der Wil- 
helmsburg gelandet, hatte das Bataillon Lauenburger und das Ba- 
taillon Hanfeaten,. welche dieſelbe befegt hielten, zurüdgetrieben und 
fih in den Befig der Inſel gebracht. Zwar gingen zwei Compagnien 
der medienburgifhen Grenadiere und das erfte Bataillon Hanfeaten, 
fobald der damalige Hauptmann von Canig fih an ihre Spike ge- 
ftelft hatte, mit Muth und Ordnung auf den Feind los, drängten 
ihn bi® auf die äußerſte füdliche Spibe der Inſel und fchlugen ihn 
felbft nad) Harburg zurüd, aber am 11. Mai ließ Tettenborn zum 
Grftaunen und Entfegen aller die ganze Inſel räumen,. und nun 
wurde am 12. Mai, nachdem die beiden hanfentifhen Bataillons bei- 
nahe gänzlich aufgerieben waren, auch die Feddel verloren. Der Feind 
war im Angefihte Hamburgs. In der Nacht vom 19. zum 20. Mai 
wurde die Stadt aus Kanonen und Haubiken befchoffen. Liebe Ca- 
toline , fehrieb Perthed am folgenden Tage an feine Frau, welche die 
Nacht in Wandebed zugebracht hatte, ich bitte Dich aus Grund mei- 
ner Seele, faffe Dich und ftelle Di und mid) in Gotted Hände, und 
naͤchſtdem vertraue mir und glaube, daß, was ich thue, ich vor Got- 
tes Richterftuhl verantworten fann. Das Bombardement fieht übri- 
gens fürchtlicher aus als e3 ift, und follte dieſe Scene auch noch ein- 
mal wiederholt werden, fo wird es ſo ſehr nicht ſchaden; oft ift bei 
ganz gewöhnlichen Dingen größere Gefahr als hier. — In der Nacht 
vom 22. zum 23. Mai fielen abermals etwa fünfhundert Granaten in 
die Stadt, aber der Muth der Bürger wurde nicht gebrochen. 

Seit dem 9. Mai ftellte die Bürgergarde, welche höchftens drei- 
tauſendvierhundert brauchbare Gewehre befaß und daher zum Theil 
nur mit Pifen bewaffnet war, täglich 800— 1000 Mann, um den 
- Hamburger Berg, den Stadtdeich und den Elbdeich gegen die Lan⸗ 


214 


dung des Feindes zu fihern. Nacht für Nacht mußte ein Theil der- 
felben bivouafieren. In diefen Wochen fühlte Perthbed nun auch 
durch feine Stellung in der Bürgergarde fich berufen, alles, was ihm 
felbft an geiftiger und Förperlicher Ausdauer, an friſchem Muth und 
an Gewalt über die Gemüther verliehen war, aufjubieten, um Muth 
und Ausdauer der Bürger wach zu erhalten in einer Lage, die, an 
fih ſchon ſchwierig, noch fchmerer durch das Verfahren der Militär- 
behörden wurde. Bald gab er Durch feine eigene befonnene Entichlof- 
fenheit dem Herrn von Heß, der in leidenfchaftlicher Unruhe von der 
größten Sicherheit zur muthlofen Berzweiflung, von der angeftrengtes 
ften Thätigkeit zur fraftlofen Schlaffheit überfprang, den Halt, deffen 
er bedurfte, bald beruhigte er die Bürger, wenn fie ohne irgend ge= 
gründete Urfache durch den dDumpfen Ton der Sturmglode zufammen- 
berufen wurden und in der-allgemeinen Verwirrung oft viele Stun- ' 
den vergeffen auf dem Sammelplate ftanden; bald und namentlich 
Nachts fuchte er die Bürger auf den entfernteiten Poſten außerhalb der 
Stadt auf, und für viele war feine Erfcheinung ſchon eine Quelle 
ded Muthes und der Ruhe. Seit dem 9. Mai ift Perthes, fo fchils 
derte fpäter Caroline den Zuftand jener Tage, einundzwanzig Nächte 
nit aus den Kleidern und nicht in ein Bett gefommen. Jeden Tag 
mußte ich in Sorge um fein Leben fein, und nur zuweilen war er 
auf eine halbe Stunde in unferer Wohnung. Meine drei Feinften 
Kinder hatte ih in Wandöbed bei meiner Mutter, die vier Altern 
blieben bei mir, weil ich fie nur mit Gewalt hätte entfernen fünnen. 
‘ch hatte feinen Mann mehr im Haufe, alle waren auf den Wachen. 
immer aber gingen Leute aus und ein, die effen und trinfen woll- 
ten; denn feiner unferer Bekannten hatte in der Stadt noch eine Haus⸗ 
haltung. Unfere große Stube hatte ich mit Strohfäden belegt, auf 
denen bei Tag und Nacht Bürger lagen, die ſich ausruhen wollten. 
An dem Tage auf der Wilhelmsburg verloren wir unfern Weber und 
mehrere Befannte. Tag und Naht war ich auf dem Balkon und gab 
Acht, ob Perthed oder nahe Freunde unter den Verwundeten wären, 
die vorbei getragen wurden. In den Augenbliden des heftigften 
Schießens und der größten Noth und Angft vor dem Landen der Fran⸗ 
zofen ſchickte Perthes, als ſchon alles verloren fchien, eine Ordonnanz: 


215 


ich folle ihm augenblidlich eine gewiſſe Fleine Schlachtel, die in feinem 
Schreibtiſch ftände, ſchicken. Als ich mit der Schachtel die Treppe 
berunterlief, wurde ich auf einmal gewiß, daß fie mit Gift gefüllt fei. 
Sch ließ die Ordonnanz warten und ging auf meine Stube, um zu 
entfcheiden, was ich thun mußte, denn diefe große Sache war in mei- 
ner Hand. Es war ein ungeheurer Augenblid. Die Gräßlichkeit, daß 
Perthes Tebendig in Franzoſenhände fallen konnte, wurde mir fo über- 
. wiegend und es fam mir in diefem Augenblide fo vor, al8 könnte der 
liebe Gott ihm unmöglich böfe darum werden, daß er dad nicht wollte, 
und dad Unrecht auf meiner Seite, wenn ich zwifchen ihm und Gott 
entfcheiden wollte, erſchien mir fo groß, daß ich mit zitternden Hän⸗ 
den und Knien dem Manne in Gotted Namen die Schachtel in die 
Hand gab. Mehrere Stunden mußte ih warten, ehe ich weiteres 
erfuhr. Es war Gift und Gift zu diefem Gebrauch, aber nicht für 
Perthed, der mir vor Gottes Augen verfichert hat, daß er es ſich nicht 
erlaubt haben würde, und mir ed verdacdhte, daß ich e8 von ihm 
geglaubt hatte. | | 

Das Vertrauen der Bürger zu Tettenborn war, feitdem er die 
Inſeln dem Feinde überlaffen hatte, unmwiederbringlich verloren. Viele 
erfannten, daß er unter den gegebenen Berhältniffen der Mann nicht 
fei, welcher die Bertheidigung der Stadt zu einem glüdlichen Ende 
führen werde, und mande fürchteten, er würde in dem Verlufte Ham- 
burg® nur wenig andere® ald den unglüdlichen Ausgang einer kühn 
angelegten und glüdlich begonnenen Kofadenftreiferei erkennen. Bon 
der jtädtifhen Obrigkeit war feine Hilfe zu erwarten; die friegerifchen 
Vorbereitungen, die getroffen waren, waren getroffen ohne ihr Zu- 
thbun. Für Herrn von Heß war fchon feit Erfcheinung des Feindes 
an der Elbe die Aufgabe, die er löfen follte, viel zu ſchwer. Aller 
Augen wenbeten ſich nach außen. Da weder von dem großen Heere 
der Verbündeten, noch von der Fleinen Truppenzahl, welche unter 
Wallmoden zwifchen Boigenburg und Magdeburg fich ſammelte, Hilfe 
zu erwarten ftand, fo waren es die Dänen, auf welche zunächft die 
Hoffnung gerichtet ward. Sie hatten in Altona, unmittelbar vor 
dem Thore Hamburgs, eine zu defien DBertheidigung ausreichende 
Truppenzahl vereinigt, und da fie die feit Ende März gegründete 


216 


Ausficht zu haben glaubten, für den Berluft Norwegens durch die 
Hanfeftädte entjchädigt zu werden, fo erboten fie fich fehr bereitwillig, 
die Bertheidigung der Stadt zu übernehmen, eben deöhalb aber 
machte Tettenborn erft am 11. Mai Abends, ald die Gefahr dringend 
geworden war, von ihrem Anerbieten Gebrauch. Dänifche Truppen 
erſchienen und unterftügten die Bertheidiger. In eben diefen Tagen 
aber kehrte Graf Joachim Bernftorff aus London zurüd, welcher dort 
über den Beitritt Dänemarks zu dem großen Bunde unterhandelt 
hatte. Er war hart zurücgewiefen worden; Dänemark glaubte fich 
Napoleon, als dem Einzigen, welcher ſchwere Berlufte abwenden 
fönne, in die Arme gedrängt, und am 19. Mai Abends mußten die 
dänifchen Truppen Hamburg verlaffen und in Altona eine mehr al? 
zmweideutige Haltung annehmen. Nun ſetzte Tettenborn feine Hoffe 
nung auf die Schweden. Der Kronprinz felbft war zwar noch nicht 
in Stralfund angefommen, aber in Medlenburg ftand eine ſchwediſche 
Divifion. General Döbbeln, ein braver, unerfchrodener Mann von 
echtem Schrot und Korn, befehligte diefelbe und rüdte am 21. Mai 
Abends auf eigene Gefahr und Berantwortlichkeit mit drei Bataillons 
in Hamburg ein. Sobald indeflen der Kronprinz bei feiner Ankunft 
in Stralfund erfuhr, daß die Truppen in Hamburg auf der einen 
©eite von den Franzoſen, auf der andern. Seite von den Dänen ein- 
gefchloffen feien, mußten diefelben am 25. Mai fich wieder aus der 
Stadt zurüdziehen, und Hamburg war wiederum auf ſich allein an- 
gewiefen. General Döbbeln wurde wegen jeined eigenmädhtigen Ver⸗ 
fahren? zum -Tode verurtheilt. ' 
| Schon feit den erften Tagen ded Mai hatte Perthed die aus 
den innern Zuftänden der gefährdeten Stadt hervorgehende verzweife - 
lungsvolle Lage der Dinge erfannt. Wie wird, wie fann das enden, 
äußerte er, wenn unfer guter Mille alled und alles erfegen fol! Ich 
will ja nicht reden von den Leuten, die fo handeln, wie wenn fie alle 
unfere Anftrengungen vergeblich machen wollten, aber was hilft aller 
Muth, wenn feiner unter und Bürgern die Waffen zu gebrauchen und 
militärifche Bewegungen zu machen weiß, und dennoch feine Soldaten 
und gefendet werden, an welche wir und anfchliegen fönnten? Fürch⸗ 
terlich rächt es ſich jetzt, daß unfere alte gute Wachtordnung viele 


217 


Jahre hindurch fo [handlich verfchleudert worden ift. Hätten wir nur 
drei Bataillon? Bürger, die marfchieren und fchießen könnten, hätten 
wir nur hundert junge Leute, die eine Kanone zu richten verftänden, 
fo wären wir gerettet; aber nun hängt unfere Erhaltung von der 
Hilfe Fremder ab. — Wie ed um diefe Hilfe ftand, wußte Perthes 
nur zu gut. Bon allen Samburgern war nur er über die politifche 
Gtellung der Ruffen und Dänen, und nur er und von Heß über die 
der Schweden unterrichtet. Seit Wochen ſchon war er es gewefen, 
der von Heß gehalten hatte, damit diefer das Ganze zu halten ſchien, 
und alle feine vielfachen perfönlichen Verbindungen hatte er benupt, 
um Ruſſen, Dänen, Schweden zum Beiftande zu bewegen. Die Wen- 
dung, welche in den großen europäifchen Verhältniffen eingetreten 
war, hatte indeflen jede Möglichkeit, weitere Hilfe von außen zu er 
halten, abgefchnitten, und am 26. Mai, dem Tage, nachdem die 
Schweden Hamburg verlaffen hatten, trat die Abficht Tettenborn’s, 
fi aud) mit feinen Truppen aus der Stadt zu entfernen, erfennbar 
hervor. Immer noch, liebe Caroline, geht eine Stunde nad der an- 
bern in Ungemwißheit dahin, fehrieb Perthes, und fo ift fortdauernd 
Sammer und Marter. Heute Abend aber noch wird es zur Gewiß- 
heit fommen und übermorgen mußt Du abreifen. — Wenn Tetten- 
born wirklich abzog, fo war Hamburg von allen erfahrenen Truppen 
entblößt, und jedes militärifchen Führers entbehrend, konnte es fei- 
nem Angriffe der Franzofen widerftehen. Perthes fah in einem fol- 
hen Falle für fich felbft feinen andern Ausweg als die Stadt zu ver 
laſſen und an irgend einem anderen Punkte für Deutfchland und dur 
Deutihland auch für Hamburg aus allen Kräften zu fämpfen. ch 
halte die Sache am Ende, ſchrieb er in diefen Stunden an Beriede, und 
weiß weiter aud) nicht? als fortdanernd auf ®ott zu vertrauen. Leben 
Sie wohl, geliebter, theurer Freund. Wohl fhmwerlich fehe ih Sie 
wieder; ich gehe mit fieben Kindern und einer ſchwangeren Frau in 
die weite Welt, ohne zu willen, ob ich in acht Tagen noch Brot habe. 
Doch Gott wird helfen. — Noch einmal leuchtete ein Schimmer von 
Hoffnung auf, ald am 27. Mai Wallmoden auf Tettenborn’d drin- 
gende Vorftellungen das tapfere preußifche Bataillon von Bork nad 
Hamburg’ fendete und fogleich an der Vertheidigung Theil nehmen 


218 


ließ. Unſere Lage ift zweimalvierundzwanzig Stunden älter ald vor- 
geftern, ſchrieb Perthed am 28. an Benede. Heißt das beſſer? Ich 
glaube nicht. Doch müſſen wir weiter aushalten von einer Stunde 
zur andern; denn jeden Gedanken an Rettung aufjugeben fällt mir 
nit ein, aber der Fälle, die und retten können, find faum drei, 
und wie felten trifft man eine Terne! 

Am Abend des 28. Mai ließ Perthes Frau und Kinder hinaus 
nach Wandsbeck bringen; dort auf dänifchen Gebiet waren fie gegen 
Kriegsbegebniſſe gefichert. Du fannft Dir, fehrieb Caroline einige 
Wochen fpäter an ihre Freundin Emilie Peterfen in Schweden, feine 
Borftellung machen von der Angft, Noth, Furt und Hoffnung, Die 
wir in den legten drei Wochen unfered Hamburger Aufenthaltes ges 
habt haben. Mein Herz ift voll und auch Dir wollte ich es gerne 
gönnen zu willen, wie viel mehr Guted, Wahrheit und Ausdauer wir 
alle gehabt haben, als wir und hätten zutrauen dürfen. Gebt dür⸗ 
fen wir davon fprechen, denn e8 hat fih in Noth und Tod bewährt. 
Wie danfe ich Gott für diefe Erfahrung! Ich habe die Kraft nicht ge- 
kannt, welche entteht, wenn fi alle in einem guten Punkt vereinis 
gen. Liebe Emilie, fo ein allgemeine? Wollen habe ich niemals ge- 
fühlt. Wir waren alle über alle Meinen Nöthe und Kümmerlichfeiten 
erhoben und wollten nur da® Eine, da® noth war, und wollten es 
von ganzem Herzen, ein jeder auf feine Weife, und zweifelten keines⸗ 
wegs am Gelingen. Der 28. Mai, meiner Agnes Geburtdtag, war 
der lette Tag, den ih in Hamburg zubrachte; da nahm ich mit be 
trübtem Herzen, aber doch mit Danf gegen Gott von meiner lieben _ 
Stube Abſchied. Betten und Leinwand hatte ich fchon in den Tagen 
vorher nad) Wandsbeck geſchickt und meine andern Sachen hatte ich 
zum Theil verftedt, zum Theil vertheilt. Alle größeren Stüde freilich 
mußten an ihrem Platze bleiben, weil Perthed durch Vorbereitungen 
zur Flucht die Bürger nicht entmuthigen wollte. 
| Um unfered Gotted willen, heißt e8 in einem Briefe, den Per⸗ 
thes in Diefen Tagen von feinem Freunde Moltke empfing, wa? ift, 
wie ift Euch? Bier lange bange Tage habe ich auf Euch gewartet 
und, Gottlob, Ihr jeid noch nicht da. Hätte fich die Finfternis wie- 
der erhellt? Jene Schlacht bei Baupen, deren Ausgang wir bier 


219 
noch nicht fennen, hätte fie dem Horizonte unferer Wünfche und ah» 
nungsbangen Erwartungen wieder eine lichte Farbe gegeben? Guter 
Gott, wenn ih nur eine Stunde zu Euch könnte, aber e3 ift nicht 
moͤglich; denn noch immer pocht ed Tag und Nacht an der Thür mei- 
ne® Haufe. Unſere Truppen, die alle hier wie aufeinander liegen, 
haben DOrdre, ſich täglich marfchfertig zu halten, aber niemand weiß 
wohin, niemand weiß gegen wen. So erwarte ich Euch, Geliebte, 
mit zitternden Armen, allein der frampfhafte Wunfch meines Herzens 
ift, daß Ihr Hamburg nicht zu verlaffen braucht. Müßt Ihr aber 
dennoch, warum wollt Ihr nicht in mein Haus? Ach habe hin und 
her gedacht, Du, mein Theurer, warum Ihr Wohnung bei mir zu 
nehmen fo hartnädig verweigert. Glaubt Ihr mich dadurch in Ge- 
fahr zu ſetzen? Wäre aber dad nicht das wenigfte, was ich der hei- 
ligen Sache opfern könnte? Dod ich will nicht überreden, nur da? 
noch: handelt gegen Euren Freund, der es ift mit Leib und Seele, 
auf folhe Weife, dag Ihr in Eurem Herzen fagen könnt: wir haben 
ihn al® einen Mann behandelt, der der großen Sache werth war. 
Ach, fehreibe bald, ich flehe auf das inftändigite darum. Deine Ca- 
roline fann fchreiben, Dein Sohn; nur daß ich erfahre, was Ihr 
fürchtet, was Ihr hofft. Euch alle drüde ich an mein treued, blu- 
tendes Herz. — Bald genug follte Moltke Gewißheit erhalten. We- 
nige Stunden, nachdem Caroline die Stadt verlaffen hatte, began- 
nen in der Naht vom 28. auf den 29. Mai die Gefchübe aufd neue 
zu donnern. Der Feind war von der Wilhelmdburg auf Ochſenwär—⸗ 
der übergefegt und griff das dort ftehende Bataillon Lauenburger mit 
überlegener Macht an. “Das Gefecht, welches feit heute Nacht 2 Uhr 
dauert, fchrieb Perthes an feine Frau, ift auf Ochfenmärder. So viel 
man beobadıten kann, entfernt fich der Rauch, und man kann Gute? 
hoffen, da der Angriff bereit? fünf Stunden ausgehalten ift. — Noch 
immer feine fichere Nachricht, fchrieb er einige Stunden fpäter, noch 
(hlägt man fih. Glaub do, glaub, daß ich Gott im Herzen und 
vor Augen habe. Wie könnte ich in meiner Lage ander® handeln, 
wie follte ih vor Dir beitehen? Daß ich mein Herz möglichft den Aus⸗ 
-brüchen des Schmerzes, des Gefühls verfchliege, ift um Deinetwillen; 
denn meinem Körper Toftet eine Stunde des Gefühld mehr ala zehn 


220 


durchwachte Nächte, und ich will mich Dir erhalten und den Kindern. — 
Nah muthigem Widerftande bemädhtigten fi) die Franzoſen der 
unmittelbar an der -Stadt gelegenen Infel Ochfenwärder, und nun 
ftanden ihrem Webergange nad der Stadt wenige Hinderniffe entge- 
gen. Zugleich erklärte am 29. der dänische Befehlahaber in Altona, 
daß er, wenn’er zu Feindſeligkeiten übergehen müſſe, nur zwei Stun⸗ 
den zuvor davon Anzeige machen könne. In der gewaltſamſten Span⸗ 
nung ging der unglückliche Tag dahin. Bald kamen Nachrichten, 
welche den Abmarſch Tettenborn's als bereits begonnen meldeten, bald 
liefen die entgegengeſetzten Verſicherungen ein. Perthes befand ſich 
mit von Heß auf der Wache am Steinthor. In tief bewegten Ges 
fpräche begriffen, gingen beide Männer Abends nad 10 Uhr vor 
derfelben auf und ab, ald Major von Pfuel, zum Thor hineinfah- 
rend, Heß aufforderte, ihn in die Stadt zu begleiten, Heß werde 
ſchnell wieder da fein, fagte er zu Perthed. Eine halbe Stunde etwa 
mochte Perthed mit Mettlertamp, welcher das dort aufgeftellte Bür- 
gerbataillon befehligte, über das, mas in den Gefahren der fom- 
menden Nacht zu thun fei, berathen haben, als er durch einen Offi⸗ 
cier den Befehl erhielt, fofort nach dein etwa eine halbe Stunde ent- 
fernten fogenannten Hühnerpoften zu Herrn von Heß zu kommen. 
Um Mitternacht dort angelangt, erfuhr er, daß Tettenborn mit allen 
Truppen aus Hamburg abgezogen fei. Tettenborn brachte feine Trup- 
pen nad Lauenburg in Sicherheit und überließ die Stadt ihrem 
Schickſal. Wenige Stunden fpäter, am Morgen ded 30. Mai, rüde 
ten die Dänen in Hamburg ein und. verhinderten Davouft, der nun 
aus ihren Händen die Stadt empfing, die verlaffenen Buͤrger ſofort 
mit roher Gewalt zu mishandeln. 

Perthes war, nachdem er die Schreckensnachricht durch von Heß 
erfahren hatte, nach Wandsbeck gefahren. Dort ſagte er um 2 Uhr 
Morgens feiner Frau, daß alles verloren ſei, und beſtimmte ihr Nüt⸗ 
hau, da8 Gut feines Freundes Moltke, als nächſten Aufenthalt. 
Die franzöfifchen Truppen waren nur noch wenige hundert Schritte 
von Wandsbeck entfernt. Der Gefangenfchaft und dem Rebellentode 
durch Henkershand zu entgehen, fuhr Perthes über Rahlſtedt in die 
dunkle Nacht hinein. 


221 


Die Zeit des Waffenftillftandes. 
Juni bis Mitte Anguft 1813. 





Für Garoline. war ein längerer. Aufenthalt in Wandsbeck nicht 
möglih. Nachdem mir Perthes. im Fluge Lebewohl gefagt hatte, 
fing ich an zu paden, heißt e8 in einem etwas fpätern Briefe derfelben 
an ihre Schwefter Jacobi in Saljburg. Dann fuhr id) mit fieben Kin- 
dern und der Amme fehr abgemattet und müde und fchon ſehr beſchwert 
von meiner Schwangerfchaft auf einem offenen Korbwagen fort. Es 
war ein. gewaltiger Abfchied, meine Mutter war außer fih, mein 
Vater tief bewegt, die Kinder weinten laut, ich felbit war wie ver- 
fteinert und konnte nichts als ohne Unterlaß fagen: Nun in Gottes 
Namen! Zum Troft und zur Stüge begleitete mich meine Schweiter 
Augufte und wollte Angft.und Arbeit treu mit mir theilen. Abends 
famen wir in Nütfhau an, und da wir für zehn Perfonen nur zwei 
Better fanden, mußte id unſere Mändel und Bündel mit Wälche 
vertheilen, damit die Kinder wenigftend unter Die Köpfe etwas erhiel- 
ten. — Noch an dem Abend diefed Tages fchrieb Caroline einige 
Worte an ihre Elten. Ich kann Euch, lauteten diefelben „ nur noch 
gute Nacht wünfhen, denn ich bin an der Seel’ und Leib fo müde, 
daß ich weder denken noch fehreiben mag. Wäre Perthes, wie ich. ge- 
hofft.hatte, heute Abend gefund hier eingetroffen, fo hätte ich, glaube 
ih, all mein Leid vergeffen. Jetzt bin ih hart wie-Stein und es 
graut mir vor dem Aufthauen. Den ganzen Tag war mir, wie 
wenn jemand geftorben und ich allein nachgeblieben wäre und nachfehen 
müßte. Das waren Wochen auf Leben und Tod! Gott helfe jedem 
armen Menfchen, der über diefe Angelegenheit in Leibed- oder Cee- - 
lennoth fommt! — Am 1. Juni langte Perthed an. Nun wollten 
‚wir ung befinnen und und befprechen, fchrieb Caroline, was und wo⸗ 
bin wir wollten; aber mein Bruder Johannes kam und fagte und, 
daß alle unfere Freunde und riethen, nicht zu fäumen, fondern fehnell 
weiter zu gehen; denn in unferem Hamburger Haufe ſei alled Durch. 
fucht, und Nütſchau fei Lübeck zu nahe. Perthes ging alfo augen- 


222 


blicklich weiter, ich fing wieder an aufjupaden, und am 3. Suni-fuhr 
ich nach Lütgenburg, um, wenn ed Noth thäte, nach Auguftenburg 
fommen zu fönnen. — Perthes war, begleitet von jeinem älteften 
Sohn, Matthias, nach Altenhof gegangen, dem unweit Edernförde 
an der Oftfee gelegenen Gute ded Grafen Cajus Reventlow. Ich 
habe, fchrieb er von hier aus an feine Frau, eine jo natürlich gute 
Aufnahme von dem Grafen und der Gräfin erhalten, daß ich mich 
wahrhaft daran erfreue. Der Graf will und Aſchau einräumen; es 
foll zwar wüſt fein, doch hoffe ih, e8 wird gehen. — Am Mon- 
tag den 7. Suni trafen fi) Perthed und Caroline in Edernförde wie- 
der. Hier weinten wir und aus, fhrieb Caroline, was wir in aller 
Noth nicht hatten thun können. — Bon Edernförbe ging die ganze 
Familie nah Aſchau, einem einfam an der Oftfee gelegenen Garten- 
hauſe des Grafen Reventlow, und richtete fich, fo gut es gehen wollte, 
ein. Dort vergaß ich, fehrieb Karoline, anfangs die Noth der gan- 
zen Welt vor freude, daß Gott mir meinen Perthes erhalten hatte, 
und ich kann wohl fagen, daß wir unbefchreiblich vergnügt miteinan- 
der waren. ch dachte weder an Vergangenheit noch an Zukunft, 
jondern dankte Gott immerwährend und freute mich, daß aus diefer 
Angſt Perthes mir lebendig und gefund erhalten war. 
Perthes hatte alles, was er befaß, verloren. Seine Handlung 
in Hamburg war verfiegelt, fein übriged Bermögen mit Beſchlag bes 
fegt, feine Wohnung wurde, nachdem fie aller. beweglichen Sachen 
beraubt war, von einem franzöfifhen General bezogen. Baares 
Geld zum Unterhalt für Frau und fieben Kinder hatte er nit. Glau⸗ 
ben Sie nicht, daß ich Flage, fchrieb er von Aſchau an feinen Schwarz- 
burger Oheim. Wer nicht? zu bereuen braucht, hat auch nicht? zu bes 
Magen. Ich habe vor Gottes Augen gehandelt und oft mein Leben 
- auf dad Spiel gefebt: wie follte ich nun den Muth verlieren, weil 
ih das Vermögen verloren habe! Was werden wird, mie und wo 
ih in der Fremde Brot für Frau und Kinder finden werde, weiß ich 
noch nicht. Wenn indeilen nur zwei Drittel meiner noch audftehen- 
den Forderungen eingehen, fo fann ich alle meine Verpflichtungen 
gegen Dritte erfüllen. Aber überall in unferer Gegend ift jeder, außer 
Stand zu zahlen, im franzöfifchen Reiche darf ich meine Forderungen 


223 


nicht eintreiben,, und fo wird es mir ſchwer werden, Dritte nicht in 
Schaden zu bringen. Das ift hart, fehr hart für mid. — Bon vie: 
len Seiten liefen Briefe feiner Gläubiger ein und fein einziger findet 
fih, in welchem nicht Worte wie die folgenden enthalten wären: Den- 
fen Sie jeßt nicht an meine Forderungen; ich weiß ja fo gut, wie 
Sie, daß Sie zahlen werden, wenn Sie zahlen fönnen; Sie han- 
delten, wie Sie handeln mußten. — Mit Hilfe der geretteten Hands 
lungsbücher verfchaffte ſich Perthes eine genaue Weberficht feiner Ver⸗ 
haͤltniſſe, ordnete, was zu ordnen war, und ſuchte den Gläubigern 
ſeiner Handlung wenigſtens für die Zukunft Deckung durch die Schuld⸗ 
ner ſeiner Handlung zu verſchaffen. Mit Anſtrengung aller Kräfte 
brachte er diefe Arbeit zu Ende. Er arbeitet, fchrieb Caroline, von 
des Morgen? bid des Abends mit Ausnahme einer Stunde nad 
Tiſch, wo wir uns befinnen, das heißt fchlafen, weil wir um vier 
Uhr aufitehen. Perthes hat den Kopf vollflommen oben, ift ruhig 
und, ic) darf wohl fagen, auf gewiſſe Weife heiter, und fo lange er 
bei mir ift, bin ich.e8 auch. — Kraft und Muth wurden in Perthes 
durch Worte der Achtung geftärkt, Die er von den veichiedenften Eei« 
ten empfing. Was ich von Ihnen erfahre, fehrieb ihm z. B. der 
Herzog von Auguftenburg, flößt mir die tieffte Achtung ein, Ihr un⸗ 
gebeugter Sinn erfüllt mich mit Bewunderung, und id) rechne es 
mir zur Ehre und Freude, Ihnen das fagen zu können. Es iſt doch 
eine große Sache, dieſer Ihr fefter Glaube an eine höhere Welt; die- 
fer Slaube allein gibt Ihnen Ihre Kraft. — Sobald Perthes feine 
eigenen Angelegenheiten nad) der Rage der Dinge geordnet hatte, war 
ſeines Bleibend nicht länger in Aſchau. Die dänifche Regierung er- 
Märte ihm, daß fie außer Stande fei, ihn zu ſchützen, wenn die 
Franzofen feine Auslieferung verlangten; er mußte fort. Der am 4. 
Juni zwifchen den Verbündeten und Napoleon gefchloffene Waffen 
ftillftand hielt zwar für die nächften Wochen auch im nördlichen 
Deutichland das Schwert in der Scheide; aber Perthed, der in fei- 
nem einfamen Aufenthalt feinen Ueberblick über die Lage der öffent- 
lichen Verhältnife gewinnen konnte, wollte zu einem Eutfchluffe über 
die Stellung, Die er nach Ablauf ded Waffenftillftandes einzunehmen 
babe, gelangen. In Medlenburg hatten fich bedeutende Männer als 


224 


„ler Art gefammelt; dorthin wollte er gehen, und zugleich hoffte er, 
durch Einziehung mancher dort ausſtehenden Forderungen den Unter: 
halt für die nächite Zeit fichern zu fönnen. Als wir einige Wochen 
in Aſchau zufammen gelebt hatten, fagte Perthe mir, heißt es in 
einem Briefe Carolinens, daß noch nicht aller Dinge Abend fei und 
daß er wieder fort müffe,. um für unfern Unterhalt zu forgen. Nun 
fiel e8 mir wie Schuppen von den Augen; ich wußte, ohne weiter zu 
fragen, was Perthes wollte-und was Perthes mußte, und der ganze 
Jammer brach wieder über mich herein. — Vielleicht dauert es 
Wochen, vielleicht Monate, vielleicht bis in jene Welt, ehe ich ihn wies 
derſehe, heißt ed in einem andern Briefe aus diefen Tagen. Ich fürchte 

mich vor mir felbft; denn mit ihm fann ich, glaube ich, alles ertra- 
gen, aber ohne ihn weiß ich nicht, wad aus mir wird. Ad, und um 
meinen lieben Perthes ift meine Seele voll Trauer, Angft und Sorge. 
Du haft mein Sehnen und Wünfchen um etwad mehr Ruhe und Zeit 
für Perthes gefannt, und nun muß er, da er alles in fiebenzehn ſchwe⸗ 
ren Jahren Erworbene verloren hat, im allerglüdlichften Falle wie⸗ 
derum ein Arbeitsjoch auf fi) nehmen, das ſchwerer fein wird als 
das frühere. Bete zu Gott, daß ich nicht verzage! 

Am Donnerdtag den 8. Juli nahm Perthes unter den dunfeln 
Tannen ded Garten? Abſchied von Caroline. Es war die fehmerz- 
lichfte Trennung meine? Lebens, fchrieb er Damald. Ein Tagebuch), 
welches mit diefer Trennung beginnt und außerdem nur kurze Anga- 
ben von Thatfachen enthält, beginnt nrit folgenden Worten: Ich trete 
wieder in die Welt, in eine neue, unbefannte Welt voll großer Um⸗ 
tiffe und voll Gefahren, aber ernfter, froher, großer Muth ift in mei- 
ner Seele. Ergebung in Gott, ſichere Weberzeugung und reihe Er⸗ 
fahrung, ein Herz voll Liebe, Jugend und Gefundheit, Wahrheit, Ge- 
techtigfeit und Treue im Charakter — das ift dad Gut und der Schaß 
meines vierzigjährigen Xebend. Herr, mein Gott, Dir danke ih. Ber- 
gib. dem armen Sünder und führe mid) nicht in Verfuhung. 

‚Die beiden älteften Kinder, Agnes und Matthias, begleiteten 
Perthes bis nach Kiel. Hier traf. er Beſſer und fuhr mit ihm über 
Lütgenburg nad) dem unmittelbar an der Oftfee gelegenen Städtchen 
Heiligenhafen. Die Stimmung feines Innern fand in mehreren Brie- 


225 


fen, die er von bier aus fchrieb, ihren Ausdrud, Anderthalb Stun« 
den hinter Lütgenburg ändert ſich Die Gegend in wunderbarer Schnelle, 
heißt es; alle wird mild und firuppig und das Wirthshaus Brödel 
it ein Bild des Grauſens für die Phantafie, feinen Grashalm bringt 
die Einöde hervor. DerWirth lag im Sarge, Fremde wirthſchafteten 
gleichgiltig im Haufe, felbit der Pudel vor der Thüre war faum noch 
Hund zu nennen und hatte, obfchon der Farbe nach auf ſchwarz an- 
gelegt, es nicht meiter bringen können, als bi® zum trüben Grau der 
Katur ringsumher. Aber einige Hügel weiter und man fommt in 
eine andere Welt. Zwar bleibt da Land ohne Baum und Hede, 
aber es ift bedeckt mit den herrlichiten Saaten, und zwifchen dem un- 
abfehbaren Grün der Erde und dem unabfehbaren Richt ded Himmels 
"dehnt ſich, beide verbindend und drei zu eins machend, die See im 
tiefften Blau. Am ufer, der. Erde zugewendet, wird fie immer feiter 
und dunkler , am Horizonte, dem Himmel zugewendet, wird fie immer 
durchfichtiger und heller, bis fie endlich eins ıft mit dem Lichte des 
Himmeld. Neben mir fteht im Geifte mein lieber feliger Otto Runge, 
um mit mir alle die Geheimnifje und Wunder zu fehen, welche die 
Natur und zeigt und verbirgt. — An Heiligenhafen fand ſich Per⸗ 
thes bald allein, da Beſſer ihn gleich nach ihrer Ankunft verlaffen 
mußte. Seit Wochen hat fich, fehrieb Perthes an Poel, ein Glied des 
alten Seins nad) dem andern von mir abgelöft, ein Abichied folgte 
dem andern. Nun ift auch Befler gegangen, und als er die Thür hin⸗ 
ter ſich zumachte, war mir, ald wenn der Dedel auf dem Sarge zu⸗ 
geſchlagen würde und ich aus einem vergangenen Leben in ein neues 
übergetreten ſei, aber die Liebe in mir und das Angedenken iſt fri⸗ 
ſcher und heiliger als je. Von hier will ich nach Roſtock, um ſelbſt 
zu ſehen, was ein ehrlicher Mann mit reinen Abſichten in dieſer ge⸗ 
waltigen Zeit zu thun hat. Vor Gott und meinem Gewiſſen habe ich 
ernſthaft abgewogen, ob ich der Stimme in meinem Innern folgen 
darf, die mich auſs neue in das Gewirre hineintreibt, und ich habe 
gefunden, daß ich ihr folgen muß. Aeußerer Ehrgeiz treibt mich nicht; 
denn in jedem Falle kehre ich, wenn ich leben bleibe, zu dem Gefchäfte, 
das ich Siebe, zurüd. Wohl fühlt mein noch jugendliched Herz einen 
Enthufiadmus des Haſſes gegen- unfere Unterdräder, dem: zu folgen 


Perthes“ Leben. I. 4, Aufl. 15 


226 

meine Religion mir wohl erlaubt; aber da ich nicht Militär und ohne 
Kenntnis des Mechaniſchen bin und da an muthigen und fräftigen 
Männern fein Mangel ift, fo werde ich mich nicht in die Linie drän- 
gen. Wenn aber ein Anführer eine Mannes bedarf, der im Leben und 
im Handeln geübt ift, der verwortene Verhältniife ſchnell zu über- 
blicken und zu ordnen verfteht und der mit der offenen Wahrheitd- 
liebe eines Freundes gerne den Gehorfam eines Untergebenen und die 
Dienfte und Arbeiten eined Adjutanten verbinden will, fo werde ich, 
um einem folchen Berhältniffe zu genügen, feine Gefahr fcheuen ; Ca⸗ 
toline wird mir vergeben, und meinen Kindern hinterlaffe ich das 
Vermächtnis der Ehre. Finde ih dagegen die Berhältniffe und die 
Merfonen bei meiner Ankunft im Medlendurgifchen fo, daß ed mir 
Milicht wird, mich von aller Theilnahme an denfelben fern zu halten, 
fo forge ich zunächſt für mid, gehe den Winter mit Frau: und Kindern 
nad Schweden und im nädften Frühjahr nach England, wo ich ficher 
weiß, mir durch meinen Beruf in kurzer Zeit äußere Selbftändigfeit 
verichaffen zu können. 

In einem Heinen Schifferhaufe zu Heiligenhafen am äußerften 
und lebten Ende Deutfihlands wurde Perthes faft acht Tage fefige- 
halten, weil bei hellſtem, veinftem Wetter ein frifcher Oftwind blies, 
gegen weldhen anzugehen fein Schiffer unternehmen wollte. Eine _ 
harte Gebuldprobe, meinte er; doch muß man fich von Menfchen fo 
viel gefallen laffen, warum nicht auch von der Natur? — Uebrigens 
find die Tage, ſchrieb er an Caroline, die ich hier nad) der Regel Ia 
Trappe verlebe, nicht verloren. Das Evangelium Johannis führt mich 
zu mir ſelbſt; ich recapituliere fireng mit mir, und der Schluß: aller 
Prüfung und Bettachtung iſt, daß ih in Gotted Händen war umd 
bin, fo wenig ich auch den Tempel, den er fich in mir erbaut, rein ges 
halten babe. — Endlich am Sonnabend den 17. Juli feste der 
Wind um und Nachmittags 5 Uhr fuhr Perthes, begleitet von einigen 
andern Samburgen und dem Syndikus Curtius aus Lübeck, mit 
‚einem fliegenden Sturm aus Weften hinüber nach Warnemünde, einem 

Schifferorte nahe. bei Roſtock. 
| So eben trete ih and Land, ſchrieb er von Bier aus an Caroline. 
Es war eine hertliche Ueberfahrt! Weich himmliſche Luft: diefe Waſſer⸗ 


227 


wogen! Mein Innerfted that ſich auf und wurde froh und muthig, 
ich fühlte mich wie in meinem Elemente. Die Wellen waren in Bier- 
telftunden langen und hohen Berwegungen, fo daß das offene Boot, 
welche? un? zehn grade fahte, bald hoch oben auf ihren Spitzen, bald 
tief unten im Abgrunde ftand. Mit Dunkelmerden wurden meine 
Gefährten nebft einem Bootsmann ſeekrank, ich blieb gefund. Nachts 
11 Uhr fchon hatte und der ſcharfe Wind auf die. Höhe von Warne- 
münde geführt; aber der Schiffer wagte nicht einzulaufen und wir 
freuzten bi? zum Morgen in ber finftern Nacht, die und nicht? fehen 
ließ ald die Wellenungeheuer ringdumber, welche in allen Formen 
ihren Rachen gegen und aufjperrten. Mit Tagwerden lag nun un 
mittelbar vor und Hope's Admiralichiff, ein Koloß von vierundfieben- 
zig Kanonen, und außerdem noch zweiundzwanzig andere große Schiffe 
unter englifher Flagge. Weit hinaus ind Meer warf der Mond eine 
fülberne Linie und die Sonne ein ftrahlenlofed, glühend rothes Licht. 
Nie habe ich einen ſolchen Eindrud: des Großen empfunden als auf 
diefer Fahrt. - | 
In Medlenburg, wohin Berthed, um zu einem Entfehluffe über 
feine nächſte Zukunft zu gelangen, ſich begeben hatte, war in den Wo⸗ 
ben nach Abſchluß des Waffenftillftande® vom 4. Juni ein buntes, 
bewegted Leben. Unweit der Grenzen bed Herzogthums hielt Mar- 
ſchall Davouft das linke Ufer der Niederelbe und das Land im Weften 
einer von Travemünde nach Bergedorf gezogenen Linie mit etwa 
zwanzigtaufend Franzofen und zmölftaufend verbündeten Dänen be- 
fest. Ihm gegenüber hatte der Generallieutenant Graf von Wall- 
moden-Gimborn fein Hauptquartier in Grabow nahe bei Ludwigs⸗ 
luft genommen. Sein ungefähr vierundzwanzigtaufend Dann ftar- 
kes Corps bildete einen Beftandtheil des vom Kronprinzen von Schwe⸗ 
den befehligten Nordheeres und war aus fehr verfchiedenartigen, zum 
größten Theil neuen und ungeübten Truppen zufammengefeßt. Ko- 
faden unter Tettenborn fanden neben den Lützowern; die aud-Deut- 
ſchen aller Länder erwachſene ruffifch-deutfche Legion neben den Schwe⸗ 
den unter General Vegeſack; Engländer unter General Gibbs und 
Hannoveraner unter General Lyon fanden fi neben Mecklenburgern, 
Deffauern und Hanfeaten. Das Gewirre, welches durch alle diefe 
15 * 


228 


Truppen in dem zu andern Zeiten till abgeſchloſſenen Medienburg 
entftand, wurde durch zahlloſe Flüchtlinge aud Hamburg und Lübeck | 
vermehrt. Männer traten auf, die in den Bewegungen beider Städte 
tief verflochten gewefen waren; aber auch Weiber und Kinder erfchie- 
nen, die Brot und Obdach verlangten, und neben vielen braven und 
ehrenmwerthen Dlitgliedern der ehemaligen Hamburger Bürgergarde 
trieben fich Abenteurer und patriotifche Spigbuben jeder Art umher. 
Noth und Wünfche hatten alle, und was man eigentlich wollte und 
follte, wußte niemand. Nach feiner Ankunft in Roftod fuchte ſich 
Perthes ein Bild von den Zuftänden der in dem Gewirre zerftreuten 
Hamburger und Xübeder zu verfchaften. Er ging nad Dobberan, 
nach Stralfund, Güſtrow, Parhim, Grabow, Ludwigsluſt, Schwerin, 
und überall fand er die dringendfte Noth, überall Männer, die bereit 
waren zu fämpfen, denen aber jede Möglichkeit fehlte, fich zu bewaff- 
“nen. Eine ſchnelle und Fräftige Geldhilfe war dringendes Bedürf- 
nid, und nur England konnte fie unter den damaligen Umſtänden 
gewähren. | Ä 

Nah dem Falle Hamburgs war von Heß über Stralfund und 
Schweden nad London gegangen und hatte durch feine großartigen 
Anftrengungen die lebhafteite Theilnahme für die Bewohner der un- 
glüdlichen Städte und den Zufammentritt einer Gefellfchaft zur Unter- 
ftügung der Hanfeaten hervorgerufen, welche über fehr bedeutende 
Geldmittel verfügte. Dorthin wandte fi) Perthes. Sie fennen mid), 
lieber Heß, fchrieb er, und wiſſen, daß ich das Gute und Rechte will 
und daß ich die rechten Wege, es zu erreichen, von den falfchen zu un- 
terfcheiden weiß. Nun verfagen Sie mir aber auch Ihren Rath und 
Ihren Beiftand nicht. Sollen unfere unglüdlihen Mitbürger bier im 
Lande nicht völlig zu Grunde gehen und nit viele ſtarke Arme und 
viele muthige Herzen dem Kampfe entzogen werden, ſo muß une 
Hilfe-von außen fommen. Die- Sammlungen in England find, fo 
viel ich weiß, für alle beftimmt, die durch den Krieg unglücklich wur⸗ 
den: alfo gewiß doch aud für alle, welche Hamburg und Lübeck ver- 
lajjen mußten und nun Verlangen tragen, die Waffen gegen unfere 
Dränger zu führen. Daß nicht ein Schilling des Geldes, der großen 
und guter Engländer vergeudet werde, dafür werde ich, fo gewiß ich 


229 


auf Gotted Wegen wandele, forgen. Aber Geld müffen wir haben, 
und Sie allein find es, der ed ung ſchaffen kann und wird. — Hilfe 
für den Augenblid langte zugleich mit der Antwort auf diefen Brief 
an und bedeutende Geldfendungen für die Zufunft wurden verfpro- 
hen. Um diefe Summen zu verwenden, fehien vor allen Dingen ein 
Verein nothwendig, welcher fich über die Lage der zerftreuten Ham⸗ 
burger und Lübeder genaue Kenntnis verfchaffen und demgemäß die 
Unterſtützungen unter fie vertheilen fonnte. Perthes faßte die Errich⸗ 
tung eines ſolchen Hilfsvereind lebhaft auf, aber er glaubte, daß der- 
jelbe neben feiner nädhften Aufgabe eine größere und bedeutendere 
zu löfen habe. 

Der Wiederausbruch des Krieges und die glüdfiche Beendigung 
desjelben fiand zwar zu hoffen und Hamburg, Lübeck und Bremen 
durften daher erwarten, im fürzerer oder längerer Zeit von der fran- 
zöſiſchen Herrfchaft befreit zu werden; aber ungefährdet fehien deshalb 
. die Lage der Städte nit. Schon vor dem Waffenftillftand hatten 
Rußland und Preußen unter dem Namen Berwaltungsrath eine Be⸗ 
hörde angeordnet, welche in allen von den Verbündeten beſetzten Län⸗ 
dern die obere Leitung der Gefchäfte durch Einil- und Militärgouver- 
neure führen follte. An der Spike derfelben ftand Herr von Stein, 
und für Medlenburg und die Hanfeftädte hatte fich ald Gouverneur 
ein ruffifcher Beamte, Herr von Alopeus, angefündigt. Schnell ver- 
-breiteten fich in Folge feined Auftretend dunkle Beforgniffe von Er- 
oberungsabfichten der beiden Verbündeten, deren Verwirklichung nur 
durch England und dur den Kronprinzen von Schweden verhindert 
werden fünne. Bor allem die Hanfeftädte fchienen bedroht. Sie hat- 
ten feine Obrigkeit, nicht einmal, wie die Helfen oder Braunſchweiger, 
eine vertriebene, die fich ihrer hätte annehmen fünnen, und weil ihnen 
jede politifche Vertretung fehlte, waren fie dem Willen der kriegfüh⸗ 
renden Mächte unbedingt bingegeben. Die großen Höfe, äußerte 
Perthes, werden unfere Städte während des Krieged nur ala militä- 
rifche Pläͤtze berüdfichtigen, und wenn es zu Friedendverhandlungen 
fommt, werden fie, um fich dad Ausgleichungsgeſchäft zu erleichtern, 
diefelben ald herrenloſes Gut behandeln und diefem oder jenem Staate 
als Entfchädigung zuertheilen. — Das einzige Mittel, diefe Gefahr 


230 _ 


zu befeitigen, ſah Perthes in der Bildung einer Behörde, welde, ſo 
lange die franzöfifche Kriegsherrſchaft dauerte, als anerlannte Obrig- 
feit der drei Städte deren Rechte wahrzunehmen berechtigt und ver- 
pflichtet fei._ Er wünfchte daher, jenen zur Verwendung der englifchen 
Gelder nothiwendigen Hilföverein zugleich zum politiſchen Bertreter 
der Städte zu geftalten, und bildete in vertrauten Gefprächen mit 
Dr. Ferdinand Benecke diefen Gedanken näher aud. So weit es fich 
mit der Ueberzeugung: der Menfch denkt, Gott lenkt, vereinigen läßt, 
fchrieb Perthed an Heß, bin ich entfchloffen, fünftig meinen Aufenthalt 
in England zu nehmen, aber zuvor muß dad Schidfal Deutichlands 
und der Städte entfchieden fein. Ich habe ein Paar gefunde Augen, 
Treue und guten Willen, und an Muth, dem Schwierigen und dem 
Böfen entgegenzutreten, fehlt e8 mir nicht. So will ich jept denn vor 
allem fehen, was fi thun laͤßt, um den verwaiſten Städten einen 
Hirten zu verichaffen, 

Kurz vor dem Wiedereinrüden der Srangofen in Hamburg und 
Lübeck war der Syndikus Gries aus Hamburg und der Syndikus 
Curtius aus Lübeck von den Senaten beider Städte an den Kronprin⸗ 
zen von Schweden abgeordnet worden. Beide Männer befanden ſich 
jegt in Mecklenburg und niemand fchien berechtigt, ihre Vollmacht und 
amtliche Eigenfchaft deshalb für erlofchen zu halten, weil die Obrig- 
keit, die fie abgefendet hatte, gemaltfam unterbrüdt werben war. 
Beide Männer vielmehr erfchienen als der legte Ausfluß der rechtmä- 
Bigen Obrigkeit Hamburgs und Lübecks. An fie zunächft wendete fich 
Perthes. Sie willen, meine Herren, fhrieb er ihnen am 31. Juli, 
daß ich Sie beide ald die Testen nod vorhandenen Glieder unferer 
rechtmäßigen Obrigkeit betrachte, und deshalb ſtehe ich nicht an, 
Ihnen zu jagen, daß e8 Ihre Pflicht ift, als Civilobrigkeit der Hanfe- 
ftädte aufzutreten und dafür zu forgen, daß diefelben, obgleich von 
dem Feinde unterjocht, dennoch als freie, felbftändige politiſche Körper 
auftreten können. Sie jind vom Kronprinzen ald Syndici der Städte 
anertannt und der englifche Gejandte, Herr Thornton, wird Sie, wie 
ich verſichern kann, anerkennen, fobald. Sie ihm den Wunſch zu erfen- 
nen geben. Ich hoffe und ih weiß ed, Sie werden mit voller Thä⸗ 

tigkeit helfen, und dann wird vieles zu retten-fein. Haben Sie die 





231 


Güte, mir baldigſt zu fehreiben, was Sie beſchloſſen. — Als beide 
Männer zuftimmend geantwortet hatten, ſchlug Perthes vor, daß ſich 
Mettlerfamp, Dr. Benede und Dr. Karl Sieveling mit ihm und den 
beiden Syndicid vereinigen und fi unter dem Namen Hanſeatiſches 
Directorium al® Vertreter dex drei Städte unter die kriegführenden 
Mächte einführen follten. Die genannten Männer milligten freudig 
ein, und nachdem der Herzog -von Mecklenburg, der Kronprinz von 
Schweden, der General Wallmoden und von ruffifcher Seite die Her- 
ren von Struve und von Alopeus ihre Zuffimmung Auögefprochen - 
hatten, erflärten am 15. Auguft die fech® verbundenen Männer das 
hanfeatifche Directorium für cenftituiert und gaben in einer von Per⸗ 
thes entworfenen Denkſchrift ihren Mitbürgern nähere Aufichläffe über 
die Abfichten, welche fie verfolgten. Die Hanja darf nicht unterge 
ben, beißt es in derfelben. Können die Bürger nicht innerhalb: der 
Städte fortleben, fo müffen fie außerhalb derfelben bis zur Wieder- 
eroberung der verlorenen Heimat in freier Bereinigung ein neued Ham- 
burg, ein neues Lübed, ein neue? Bremen bilden. Zu diefem Zwede 
bat fi) das hanfentifche Directorium:errichtet: es will allen hanfeati- 
Shen Audgewanderten mit Rath und That berftehen, die vorhandenen 
Geldhilfsmittel verwenden und zur Befreiung der Städte auf Diplo 
matiſchem Wege umd mit den Waffen: beitragen, fo viel es vermag. 
Das Erſcheinen einer eigenen Kriegsmacht der drei Städte fonnte, 
nachdem. Diefelben nicht nur Anerkenntnis ihrer Selbſtändigkeit, ſon⸗ 
dern auch politifhe Vertretung gewonnen hatten, nicht ald eine Un⸗ 
natürlichfeit betrachtet werden. Für die Stäbte aber mußte ed von 
größter Bedeutung fein, Truppen im: Felde zu haben, weil damals 
nur. der größere oder Kleinere Staat auf äußere Unabhängigteit hoffen 
durfte, welcher Muth genug befaß, alles für diefelbe einzufegen. Aus 
diefem Grunde und um in den Bürgern jelbft da8 Gefühl der eigenen 
Kraft und der innern Selbftändigfeit zu ftärten, fuchten Perthes und 
feine Freunde eine möglichft ftarfe Kriegsmacht der Städte herzuſtel⸗ 
len. Trümmer der hanjeatifchen Legion und Trümmer der Bürger- 
garde, welche fich nach Medlenburg gerettet hatten, gaben den Anhalt. 
Die hanfeatifche Legion beſtand noch aus zwei, freilich hart mit- 
genommenen, Bataillond Fußvolk, acht Schwadronen Reitern, einer 





232 


veitenden und einer Fußbatterie, aber fämtliche Truppen waren in der 
traurigften Lage. Ohne Sold, zum Theil ohne Schuhzeug und nur 
in Stleiderfegen gebüllt, hatten fie Wochen hindurch in Näffe, Kälte 
und Schmuß aller Art zubringen müffen und fi, weit fie einer ge- 
ordnneten Kriegszucht entbehrten, manche Wildheit und manchen Aus⸗ 
bruch des Mismuths und des Ungehorfamd zu Schulden kommen laf- 
fen. Schwer liegt mir unfere Legion auf dem Herzen, fehrieb Per- 
thes; fie ift dad Capital an Gut und Blut, welches die Städte aud«- 
gethban haben. Herrliche liebe junge Leute von frifhem Leben und 
verwegener Kühnheit machen vier Fünftheile derfelben aus; aber fie 
find hilflos in. die Welt geftopen und find Entbehrungen und Berfüh- 
rungen aller Art, wie feine anderen Truppen, preidgegeben und nie- 
mand nimmt fi) ihrer an. Sie felbft fünnen um der militärischen 
Subordination willen nicht fprechen und doch ift es nöthig, daß für 
fie gefprodgen und gehandelt werde; denn verwahrloft und mishandelt 
ift die ‚Legion von Anfang an. Unreines böfe® Gut haben unfere 
Kofadenfreunde ihr gleich nach der Errichtung einverleibt und die 
Feigheit und Gleichgiltigkeit unſeres Senates hat e8 nicht verhindert. 
Unordnungen und Schandthaten werden von foldhen Banditen, Die 
man auszuſtoßen nicht die Entfchloffenheit hat, verübt; unfer hanfea- 
tifcher Rame wird durch fie gefehändet, Ehre und Sittlichkeit der Kin⸗ 
der unferer Mitbürger, unferer Freunde und Verwandten ift ihnen 
dahin gegeben. Dem muß abgeholfen werden und fo wahr ein Gott 
lebt, ich laffe diefe Sache nicht fallen und ich ruhe nicht, bis die Tenne 
gefegt ift, und ich werde durchdringen; denn ich wende mich an die 
Engländer, und die werden mid) .verftehen. — Da die feinem Staate 
angehörende Schar nur dann vor Auflöfung und Verwilderung zu 
bemahren mar, wenn fie Beftandtheil eine® größeren Heered wurde, 
fo nahm England auf fräftiges Betreiben Wallmoden's fie in feinen 
Sold und ſtellte fie etwas fpäter unter den Befehl des Oberft von 
Wipleben. Demungeachtet fehlte e8 dem hanfeatifchen Directorium 
nit an Sorgen und Mühen, um den Truppen, denen 3 heute an 
diefem, ‚morgen an jenem gebrach, und den vielen Erkrankten und 
Berwundeten Hilfe zu verfchaffen ; aber dringender noch war die Bür- 
gergarde der Fürſorge bedürftig. 


233 


Als Hamburg gefallen war, hatte fih Mettlerfamp nad Med- 
lenburg begeben und durch Bermittelung ded Herrn von Alopeus die 
Erlaubnid vom Herzog erlangt, in Güftrow auf? neue die Hambur- 
ger Bürgergarde zu fammeln. Tapfer wollen wir ftreiten, heißt es 
in ‚einem Aufrufe deöfelben vom 21. Juni, für Vaterland, Freiheit 
und alte Heimat, und der im Himmel, auf den wir bauen, wird un- 
fer Wer? nicht untergehen laffen. — Gleichzeitig hatten Gried und 
Sievefing dem Kronprinzen von Schweden einen Plan zur Wieder⸗ 
vereinigung der Bürgergarde vorgelegt und nad) erhaltener Zuſtim⸗ 
mung am 17. Juni au) von ihrer Seite die Bürger aufgefordert, fich 
in Ribnig zu fammeln. Beide anfangs getrennte Scharen vereinigten 
fih fodann in Güftrow unter. Mettlerfamp und ſchworen Treue den 
Hanfeftädten und Gehorfam ihrem Oberften. In den legten Tagen 
des Juli fam Perthes dorthin und trat, von allen Seiten dringend 
aufgefordert, unter dem Namen eines Diajord neben Mettlerfamp 
an die-Spige der neuen Bewaffnung, melde von nun an den Namen 
Hanfeatifche Bürgergarde führte. Jede Stunde mehrt ſich unfere Zahl, 
jchrieb damals Perthed, ‚aber nicht die Zahl macht unfere Wichtigkeit 
aud. Unſer Name ift ed, der und Bedeutung gibt. Wenn der Name 
Bürgergarde vor Hamburgs Thoren gerufen wird, fo wird er die 
Thore fprengen und im Imern wird alle aufftehen. Sollte Gott 
und helfen, die Städte frei zu machen, fo wird ſchon das ein großer 
Segen fein, daß fogleich eine fefte, gefchloffene Einheit, geleitet von 
rechtlichen, freien und befonnenen Männern, ‚in der obrigfeitälofen 
Stadt auftreten fann; aber unfere eigentliche und nächte Beftim- 
mung wird immer. bleiben, Gut und Blut einzufegen, um den un- 
mittelbaren Angriff zur Befreiung der Stadt herbeizuführen. — Der 
englifche Gefandte Thornton und der ruffiiche Gefandte Alopeus be- 
 förderten die Bewaffnung und Ausbildung der Bürger in jeder Weife. 
Ein neuer, von Gried, Curtius, Mettlerfamp und Perthes unter- 
zeichneter Aufruf wurde ungeachtet der franzöfifchen Polizei an. meh» 
veren Strapeneden Hamburgs angefchlagen, der Kronprinz von Schwe⸗ 
den und der Herzog von Medlenburg gewährten Einquartierung und 
freie Belöftigung, ‚General Lyon ließ die Fleinen Bewaffnungäftüde 
aus den englifhen Magazinen liefern; aber freilich an taufend Din- 


234 


gen litt dennoch die nen fich bildende Schar Mangel, welche mit Freude 
und Eifer die Waffenübungen begann. Um für die nöthigften Be⸗ 
bürfnifje Abhilfe zu erlangen, wendete ſich Perthes an das englifche 
Hilfscomite und feine freie, kraͤftige Anſprache wurde von dem glüd- 
lihften Erfolge belohnt. Sch habe, erwiederte der Präfident.ded Co⸗ 
mite, den Auffat ded Patrioten Herrn Perthed fogleih dem Herzog 
von Sufler vorgelegt, ihn ind Englifche überfegen und unter die eifrig. 
ften Männer vertheilen lafien. {ch bin überzeugt, daß ohne Zeit. 
verluft die fo fehr verdienten Unterflügungen erfolgen werden, welche 
die heilige Sache, in die wir alle verflochten find, fördern follen. — 
Reben der englifchen Hilfe liefen bald auch Gelder vom Kronprinzen 
von Schweden und freiwillige Gaben aus Berlin und Wien ein, und 
General Begefad nahm auf des Kronprinzen Befehl die Bürgergarde 
unter feine befondere Obhut. Die Sache hatte ihren guten Fortgang. 
Misachten Sie und nit, Herr General, ſchrieb Perthed, der die 
Abneigung der Krieger gegen Bürgerbewaffnungen wohl kannte. Wir 
find freilih militärifch ungeübt, aber wir haben Muth und könnten 

Eurer Erxcelleny in vielen Beziehungen nüglich fein. Unſere Berbin- 
dungen mit den Städten find in einen fo regelmäßigen Bang gebracht, 
daß wir ftet3 die genaueite Nachricht über den jededmaligen Stand 
der Dinge geben fünnen, und bei Operationen auf Hamburg oder 
auf Holftein würden wir wegen unferer genauen Ortdfenntnid als 
Borpoften fehr gute Dienfte leiften. Sollte e8 aber zu einem: unmit- 
tefbaren Angriff auf unfere Städte fommen, dann können und wer⸗ 
den wir die erfte Stelle einnehmen. 

Ermuthigt durch den glüdlichen Fortgang, weichen das hanfen- 
tiſche Directorium und die hanfeatifche Bürgergarde genommen hat 
ten, wagte Perthes an die weitere Zukunft der Städte zu denfen. 
Dadurh vor allem ift Hamburg wieder erlegen, äußerte er, Daß nad) 
Ginrüden Tettenborn’3 dad Alte ohne innere Wiedergeburt hergeftellt 
ward. Wird Hamburg aufd.neue befreit, fo müſſen wir verhindern, 
daß nicht das fchleppende Alte voriger Zeiten den Städten zum zwei» 
tenmal durch fremde Gewalt oder einheimifche Trägheit aufgedrängt 
wird. Die möglichfte Achtung vor den alten, Tiebgewordenen Yor- 
men hat ihr gutes Recht; das Alte wird die Grundlage für die Zu- 


235 


‚Runft fein; aber die ganze frühere Verfaſſung liegt jegt zufammenge- 
drochen da, ein Theil der Glieder des Senates und des Oberalten- 
collegiums ift geftorben, ein anderer Theil läßt es fih unter der fran« 
zöfifchen Herrfchaft gefallen, noch ein anderer Theil ift außerhalb der 
Stadt, ohne für die Stadt zu wirken. Wer nun Hamburg wieder 
befreit und die alte Verfaſſung wieder aufrichtet, darf und muß fi 
durch die Nüdjicht auf die Kraft und Frifche der neuen Zeit zu befon- 
nenen aber durchgreifenden Yenderungen berechtigt halten. — Das 
hanſeatiſche Directorium hatte nach Perthes' Anficht die Aufgabe, über 
die nöthigen Umwandlungen einen vorläufigen Entſchluß zu faſſen; 
der General, welcher zuerft in Hamburg einrüden würde, follte ſo⸗ 
dann im Namen der Allitrten und nach dem Rathe ded Directoriumd 
eine Commiffion zur Feſtſtellung der künftigen Verfaffung einfepen. 
Manche Pläne wurden vorläufig entworfen und alles verſucht, um 
die in Rorddeutichland befehligenden Kriegsführer günftig für Die 
künftige Selbftändigfeit Hamburgs, Lübecks und Bremend zu ftim- 
men. Die Städte felbft follten, um träftiger inmitten der Fürften 
auftreten zu können, ihren alten Bund, die Hanfa, in erneuerter 
Form wieder herftellen, ihm durch eine gemeinfame Bewaffnung, in» 
nere Feſtigkeit und dur den Stab diefer Bewaffnung ein gemein- 
ſchaftliches Haupt verkchaffen. Für Deutichland follte der Bund durch 
bürgerliche (Freiheit und durch Freiheit ded Handel® und der Gewerbe 
werden, was England für Europa war, und fi) wie die deutfchen 
Fürften feſt der. deutfchen Reichsverfaſſung, welche man erzielte, ein⸗ 
ordnen. 

Manche fehmerzend - und forgenvolle Stunde unterbrach freilich 
dad an Muth und Hoffnung reiche Leben jener Wochen. Aus Sams 
burg liefen die traurigften Nachrichten ein. Zwar war dafelbft am 
24. Zuli ein Generalpardon befannt gemacht. Nur zehn Männer wa⸗ 
ven namentlich ausgenommen, welche ald Feinde des Staats erflärt, 
auf ewig aus dem franzöfifchen Reiche verbannt und alles ihres Ver: 
mögen? verluftig gefprochen wurden. Dank Dir von Herzendgrund, 
mein lieber Perthes, ſchrieb Garoline, dag Dein Name unter den Ra- 
men der zehn Feinde des Gewaltigen ſteht; das foll und eine Ehre 
und freude fein, fo fange wir leben. — Der Generalpardon ſchützte 


236 


indefien die Stadt nur wenig gegen die Unmenſchlichkeiten Davouſt's. 
Schon im Juli fehienen diefelben, obgleich fie ihren Höhepunkt noch 
fange nicht erreicht hatten, unerträglich. Es hat wohl fein Gutes, 
äußerte Perthes, denn außerdem würde das alte, lahme Bol, wel⸗ 
ches: jedem Eräftigen Widerftand entgegentrat, glei} wieder in die 
träge Gewohnheit des Lebens gefommen fein; aber fehredlich bleibt 
e8 immer und tief fehneidet e8 in die Seele, wenn man die Greuel 
hört. — Schwerer noch ala das Schidfal der einzelnen Stadt drückie 
die unbeilvolle Lage Deutfchlande. Die Ungewißheit, ob dem Waf- 
fenftillftande ein neuer, fühner Kampf oder ein fhmählicher Friede 
folgen, ob Deftreich dem großen Bunde beitreten oder Neutralität bes 
haupten werde, erfüllte alle® mit banger Unruhe. Bald muß es fich 
entſcheiden, ſchrieb damals ein geborner Deftreiher an Perthes, ob 
die Deutſchen eine Nation ſind oder nicht, und ob wir Stolz oder 
Scham darüber empfinden müſſen, Deutſche zu ſein. Wäre ich nur 
von der Angſt befreit, die mir Oeſtreichs Benehmen macht. Ich kann 
und mag nicht fürchten, daß hinterliſtige Politik ſeinem Zaudern zum 
Grunde liegt und daß es den Entſchluß, gegen wen es feine Waf— 
fen wenden will, von dem Ausfall der nächften Ereigniſſe abhängen 
zu laſſen beabfichtigt. — Richt weniger zweifelhaft erfchien e8 vielen, 
ob Deutſchland Preußen vertrauen dürfe. Das lange gehaßte oder 
vergeifene Preußen wurde zwar bei dem Zaudern Deftreich® immer 
entfchiedener als die Macht anerkannt, durch welche Deutſchlands 
Schickſal bedingt werde, und die aus der Erhebung ded Volkes her- 
porgegangenen großartigen friegerifchen Anftrengungen riefen in ganz 
Norddeutichland freudige Bewegung hervor. Der Muth Gottes, heit 
ed in einem Briefe Moltke's, hat fi in die Bruft der Preußen ge- 
fenkt und aus den Preußen wird der Odem Gottes Verderben fprühen 
gegen den allgemeinen Feind. — Zugleich aber ermwedten dunkle 
Gerüchte von manchem, wa3 nicht fei, wie e3 fein follte, auch wie 
der banges Mistrauen. ch weiß, antwortete Nicolovius, an den 
ſich Perthes gewendet hatte, dag im menſchlichen Treiben neben dem 
Simmlifchen auch immer das Gemeine geht und daß nur Thoren die- 
ſes nicht in Anfchlag bringen; aber ich weiß auch, daß das meit grö- 
Bere Thoren find, die nur dad Gemeine fehen und in Anfchlag brin- 


237 


gen. Die Farben, mit denen man Ihnen Preußen gemalt hat, find 
nicht die richtigen. Ich würde glauben, wider den heiligen Geiſt zu 
fündigen, wenn id) die eingetretene Wiedergeburt unſeres Volkes ver⸗ 
fennen wollte. Wohl und und unfern Kindern, daß die Herzen wie- 
der himmelwaͤrts fich richten und die Knie ſich in den Staub beugen. 
Ihnen felbft, mein theurer Freund, hat fich ein großes Leben geöffnet. 
Mein Vertrauen auf Sie war nicht Mein, aber wie weit ift ed über- 
troffen! Herrlich wird der Kampf enden, des bin ich gewiß, aber 
freilich Sie ftehen in Gottes Hand und können als Opfer fallen. Sft 
dad Gottes Wille, fo fol ed mir eine heilige Pflicht fein, für die Ih—⸗ 
rigen, infonderheit für die Söhne zu thun, was ich vermag. Sie 
wiſſen wohl, wie hoch ich Caroline verehre — das fei genug. Mit Jh: 
nen, der Sie viel thun, viel zu reden, ſchäme ich. mich. Gott fei mit 
Ihnen und mit unferer guten, Sache! — Aehnlich lauteten die An«. 
fihten, welche Niebuhr aus Reichenbach über Preußens Zuftände mit» 
theifte. Sie ſelbſt, mein treuer Perthes, fchrieb er, find mir noch 
näher und ‚lieber geworden; fo wie Sie haben fich wenige Menfchen 
bewährt. Ich fragte nach dem Falle Hamburgs jeden, ob er nichte 
von Ihnen wiffe, und man mußte Ihre Aechtung, aber nicht, ob Sie 
. gerettet wären. Auch ald ich erfuhr, daß Sie in Hofftein feien, bürgte 
mir nichts dafür, daß der König von Dänemark nicht noch Hleinere 
Shandthaten nachlefen werde. Ihre Frau, das weiß ich gewiß, be— 
hält Muth und Kraft, und hat das Vertrauen, daß Ihre Ihaten 
Segen erweden müflen. Sie wollen von Preußen willen. Die 
fehmerzliche Erfenntnis der Gebrechen, welche alle die herrlichen Kräfte 
der preußifchen Nation um ihre Erfolge betrügen müffen, und der 
Anblid der Wunden, welche der eine Theil. des Doppelkörpers dent 
Ganzen fchlägt, hält mich vom Schreiben ab. Alles Nationale ift bei 
und vortrefflih, unfere Armee ift die erfte der Welt, die ganze Na- 
tion ift werth fie zu recrutieren, und wir müßten Erfolg haben, wenn 
nicht böfe Schäden noch ſchweres Unglüd drohten. Doch ich habe 
Muth auf die Nation und auf eine unſichtbare innere Kraft, welche 
am Ende ald Strom durchbrechen wird. Mit bitterem Grolle hat 
unfere Armee den Waffenftillftand angenommen und getragen, aber 
die Vorherfagungen, daß ihr Geift und ihre Kraft niederfinfen würde, 


238 


find, Gottlob, thöricht geweſen; fie ift fo löwenmufhig wie je. So 
geneigt bin ich, an eine höhere Leitung, die auch dad Schlimmſte zum 
Beften wendet, zu glauben, daß ich den Sieg ald gewiß anfehe. 

Der große folgenreiche Gegenſatz, welcher damals zuerft zwi⸗ 
fchen Regierung und Volk in Preußen hervortrat, aber den meiften 
noch verborgen blieb, war durch die Briefe diefer und einiger ande- 
ren Freunde für Perthes aufgededt. Bewundernd ſah er auf die An- 
firengungen des Volkes, nicht ohne Mistrauen auf das Berhalten der 
Regierung, und dennoch war ihm gewiß, daß die Hanfeftädte Preu- 
end ald ihrer Stüge nicht entbehren könnten. Ausführlich legte er 
dem geheimen Staatsrath Scharnweber, der da® Pertrauen des 
Staatöfanzlerd in hohem Grade genoß, die Berhältnifie des nördli- 
hen Deutfchlands dar. Ich baue, fchloß er feinen Brief, die Rettung 
des nördlichen Deutſchlands faft ausfchlieplich auf die preußifche Na⸗ 
tion, auf den Ernſt, auf den deutichen Geift und die Freiheit, die fie 
in fi entwidelt. Das jededmalige Gouvernement, mögen deſſen 
befondere Gefinnungen und Zwecke fein, wie fie wollen, wird von 
diefem Geifte durchdrungen und fortgeriffen werden. Was Sie, ver- 
ehrter-Herr, perfönlich wollen und was und wieviel Sie können, weiß 
ih, und fo empfehle ich unfere Angelegenheiten Ihrer Fürforge. Neh⸗ 
men Sie ſich unferer an, fo haben wir einen Stüßpunft gewonnen, 
wie wir ihn bedürfen. . 

Anter folden Sorgen, Arbeiten und Zweifeln lief am 10. Au⸗ 
guft der Waffenftillftand ab, welcher auch im nördlichen Deutfchland 
die Waffen hatte ruhen laſſen. 


239 


Die hauſeatiſchen Berbältniffe während des Krieges an der 
| Niederelbe. 
Mitte Auguft bis Anfang November 1813. 





Am 17. Auguft wurde der Kampf zwiſchen Davouft und Wall: 
moden auf8 neue eröffnet. Wallmoden, deſſen Abtheilung den äu— 
berften rechten Flügel des vom Kronprinen von Schweden befehlig- 
ten Rordheered bildete, ſah fich zurüdgedrängt, und Ende Auguft 
- hatte der Feind Wismar, Gadebuſch und Schwerin eingenommen. 
In den erften Tagen aber ded September mußte Davouft wieder zu- 
rückweichen; er räumte ganz Medlenburg und nahm während des 
Septembers fein. Hauptquartier in Rageburg. Wallmoden dagegen 
ſchickte ftarfe Streifpartien auf das Tinte Elbufer, welche am 16. Sep- 
tember ein franzoͤſiſches Corps von 7000 Mann an der Göhrde ver- 
nichteten, Züneburg beſetzten und weit hinein ftreiften in da® hannö—⸗ 
verifche Land. Als mit dem Anfang October Davouft feine Haupt- 
macht an der Elbe zwischen Lauenburg und Hamburg feſt zufamnıen- 
309, ſah er fih daher von der medlenburgifchen wie von der hannö« 
verifihen Seite durch Wallmoden’d Truppen bedroht. 

Während Diefer Monate des Füͤrchtens und Hoffen? wurde Per⸗ 
thed durch die Stellung, welche er zur hanfeatifhen Bürgergarde und 
zum banfeatifchen Directorium einnahm, befchäftigt. Die Erhaltung 
der Bürgergarde erfihien ihm als eine Sache von größter Wichtigfeit 
für die fünftige äußere Stellung und innere Entwidelung der Städte, 
vor allem deshalb, weil nur fie dem auf Handel und Handwerk allein 
gerichteten Bürgergeifte einen muthigen, der eigenen Kraft vertrauen- 
den Sinn verleihen und dadurch dem eng abgeſchloſſenen jtädtifchen 
Leben ein ſtaatliches Gepräge gewähren fönne. Sollte aber die Bür- 
gergarde diefe Aufgabe löfen, fo mußte fie, bevor fie in die Städte 
zurüdtehrte, allgemeine Achtung und Anerfennung ſich erworben und 
deshalb thätigen Antheil an dem Kampfe um die Befreiung genom- 
men haben. Berthes hielt ed daher für ein Unglüd, als Ende Auguft 


240 


der General Vegeſack die Bürgergarde zur Garniſon von Roſtock im 
Rücken der kämpfenden Truppen beſtimmte. Wir haben geſchworen, 
ſchrieb er am 3. September an Mettlerkamp, fuͤr die Befreiung der 
Städte unſer Leben zu geben, und die Stunde, unſern Schwur zu 
erfüllen, hat geſchlagen. Unſere Waffenbrüder in der Legion ſind 
voraus, wir dürfen nicht zurückbleiben. Wir Bürger der Städte, wir 
bitten, zum Kampfe gelaſſen zu werden, nicht als ob unſer Häuflein 
ein. neued Gewicht verleihen fönnte, nein, unfertwillen bitten wir. — 
Am folgenden Morgen legte er den Officieren und Gemeinen eine an 
General Begefad gerichtete Bitte, fie zum Kampfe zu führen, vor; 
alle unterzeichneten, der General aber erklärte, es weder vor. feinem 
Gewiſſen noch vor der fünftigen Obrigfeit der Städte -veranhivorten 
zu können, wenn er eine faft nur aus Yamilienvätern gebildete Schar 
ohne die dringendfte Roth dem Feinde gegenüberftelle. Die Bürger- 
garde blieb daher während der Monate September und October in 
Wismar, Greſſow, Caljow und Grevismühlen ftehen ,„ nahe. dem 
Feinde, aber ohne Antheil an den Kampfe. Bald genug zeigten fi 
die nachtheiligen Folgen einer ſolchen Zwifchenftelung zwifchen Buͤr⸗ 
gerleben und Kriegerleben. Der frifche Muth nahm ab und die Un⸗ 
ordnung nahın zu. Die langen Zögerungen, ſchrieb Perthes an Rier 
buhr, und die Unthätigfeit gebiert Uebel und erregt Fäulniſſe, die 
auch die Edelften anſtecken. Gebricht es an Geift, Luft und Leben, 
fo Hilft fein guter Wille, fein edler Vorſatz, feine gute Natur; die 
Menichen verderben doch. Und dann tft auch diejed Land, in weldem 
wir ftehen, ein wahres Grab für Geift und Leben. Ganz Medlen- 
burg iſt eine große Fabrik für Lebensbedürfniffe, die freilich die erften, 
aber auch die gröbften find, alle Anftalten find nur darauf berechnet, 
und die Herren diefer Fabriken taugen fo gar viel nicht. Es iſt eine 
Freude, aus dem fetten Boden auf die reine, faubere Heide zu kom⸗ 
men. — GStreitigfeiten ohne Ende fielen vor, weil die einen militä- 
rifche Subordination forderten und die andern die Unabhängigkeit. des 
Bürgers entgegenfeßten. Gefährlicher noch ald die innere Zerrüttung 
mußte der Zwiefpalt erfcheinen, in welchen die Bürgergarde zur Ler 
gion getreten war. Müßig lägen die Bürger der Garde im Rüden 
bed Feindes, jo murrte man in der Region; fie lebten gut.bei Bürger 


241 


und Bauer, hätten warme Betten, Kleider und Geld, während die 
Bürger der Legion vor dem Feinde ftänden und Näſſe und Kälte und 
Mangel aller Art ertragen müßten. Ob diefe Bürger der Garde 
denn etwas anderes, befiered oder verdienteres feien als die der 
Legion? — Die Bürgergarde vergalt den Spott mit bitterm Groll 
und nannte die Mitglieder der Legion Miethlinge und Solddiener 
Rußlands und Englands; aber fie fühlte den Stachel des Vorwurfs 
doch und alt und jung wollte vorwärtd® und etwas thun gegen den 
Feind, ehe man in die Städte einzog. 

Schon feit Ende September fah Perthed, um Unheil für die 
Zukunft zu vermeiden, keinen andern Ausweg ald die Bereinigung 
der Bürgergarde mit der Legion unter dem gemeinfamen Oberbefehl 
des Oberften Wigleben. Mettlerfamp war entichieden dagegen unb 
wollte mit feinen Bürgertruppen eine unabhängige Stellung bewah- 
ten; aber Perthes gewann Vegeſack und Wibleben und bot feinen 
ganzen perfönlichen Einfluß auf, um aud die Mitglieder der Bürger: 
garde für fich zu gewinnen. Wenn unfere Mitbrüder in der Legion 
. und misachten, redete er am 24. October die Officiere an, wenn vor 
und mit und ein übler Name in die Städte fommt, wie foll das wer⸗ 
den? Bürgerzwift wird entfliehen und Streit in der Stadt und in 
den einzelnen Familien, Haß zwifchen Brüdern und Brüdern. Nur 
ein Mittel kenne ih), und und unfere Ehre aus diefer unglüdlichen 
Lage zu retten. Mit Genehmigung des Generald Vegefad darf ich 
ihnen den Anſchluß an die Region vorfhlagen. Laffen Sie uns mit 
unfern Brüdern in der Legion dulden und fämpfen und mit ihnen die 
Ehre und Freude des Einrüdens in die Städte und des Wiederfehens 
tbeilen. Niemand ſoll zum Webertreten gezwungen oder überredet, 
Mann für Mann foll um feinen freien Entſchluß gefragt werden, aber 
das weiß ich, daß jeder von und lieber alles ertragen wird ald Man- 
gel an Ehre. — Alle flimmten ihm bei, auch Mettlerfamp fah fich 
zum Rachgeben genöthigt und am 29. October trat zu Gadebufch die 
Bereinigung der Bürgergarde mit der Legion ein. Aller Groll und 
alle Eiferfucht war vergeflen; es war, ſchrieb Perthes, eine freudige 
Stunde, als Bürger und Bürger, Bruder und Bruder fi) wiederfan- 


den. Freilich fehr böfe Elemente waren zu überwinden, aber was nicht 
Perthes Leben. 1. 4. Aufl. 16 


242 


im Guten ging, feßte ich mit Gewalt durch. Mile Jugend in der 
Bürgergarde wie in der Legion hing an mir und. deren eiebe fiegte 
über das üble Alte. 

Im banfeatifchen Directorium hatte Perthes einen nicht feinen 
Theil der Anftrengungen auf fih genommen, welche gemacht werden 
mußten, um immer neue Geldhilfen aud Deutichland und England 
zu gewinnen und unter die von Tage zu Tage wachlende Zahl der 
Flüchtlinge zu vertheilen. Das Vertrauen zu feiner Gerechtigkeit und 
Gewiffenhaftigkeit ftand um fo fefter, weil er geglaubt hatte, jede Un⸗ 
terftügung für fich ſelbſt beftimmt und für immer zurückweiſen zu müf- 
fen. Die Stellung jedoch, welche das hanfeatifche Directorium als 
politifcher Vertreter der drei Städte einnahm, ließ deſſen Eigenfchaft 
ala Hilföverein für einige Zeit in den Hintergrund treten. Die An- 
fichten über die politifhe Zukunft hatten in diefen Monaten eine bes 
ftimmtere Geftalt gewonnen. Auf Herftellung des in fi) erneuerten 
deutfchen Reiches unter einem Kaifer aus dem Haböburgifchen Haufe 
waren die Hoffnungen des außerpreußifchen Norddeutſchlands gerichtet. 
Die zum Hanfabunde vereinigten Städte. follten einen ebenfo ſelb⸗ 
ſtändigen Beſtandtheil des Reiches wie Baiern oder Preußen oder 
Hannover bilden und, um lebenskräftig und geachtet auftreten zu koͤn⸗ 
nen, fich in fich felbit erneuern, Trennung der Juſtiz von der Ver 
waltung, bejjere Finanzverwaltung, Aufhebung der politifhen Un- 
fähigkeit aller Nichtlutheraner, Befeitigung des Oberaltencollegium? 
und eine neue Grundlage für die Vertretung der Bürgerfchaft follten, 
um die Erneuerung zu bewirken, von einer einzufeßenden Organifa- 
tiondcommiffion herbeigeführt werden. Seine audgebreitete perfön- 
lihe Belanntihaft benutzend, wendete ſich Perthes nach den verfchies 
denſten Seiten hin, um Auskunft darüber zu erhalten, inwiefern das 
Streben des Directoriums vereinbar mit den ‘Plänen der verbündeten 
Mächte fei, und von allen Seiten lief die gleichlautende Antwort ein, 
dag noch niemand, daß fein König und fein Staatsmann irgend eine 
Anficht über die politifche Zukunft Deutfchlande habe und dag daher 
Deutfchland ohne Zweifel da3 fein werde, was der von Zufällen ab» 
bängige Gang der Dinge aus ihm machen werde. Der Herzog von 
Oldenburg fei durch Kaifer Alerander beauftragt, ihm Vorfchläge über 


243 

die deutfchen Angelegenheiten zu machen. Der Kaifer von Oeſtreich 
fehe Die deutſche Krone ald eine Dornenkrone an und fein Gabinet 
verharre in einer verfchloffenen und zurüdgezogenen Haltung. Stein, 
der von Tage zu Tage bitterer und fchneidender würde, habe ben 
früheren Einfluß zum größten Theil eingebüßt und feiri Verwaltungs⸗ 
rath liege noch ganz im Rohen. Die Abfichten der preußifchen Regie- 
rung fenne niemand, aber ohne Furcht dürfe man fie in feinem Falle 
betrachten. — Unter ſolchen Umftänden ließ fih die Stellung ber 
Städte nad außen nur mit Hilfe Englands umd des Kronprinzen 
von Schweden, nach innen nur mit Hilfe bed fie befreienden Generals 
fihern und beflimmen. Gried und Sieveking begaben ſich Anfang 
September im Auftrage des Directoriumd in das Hauptquartier des 
Kronpringen, Perthes fuchte in England, befonderd in dem Grafen 
Münfter, durch perfönliche Verbindungen eine günftige Stimmung zu 
erwecken, und unermüdlich eilte er von Begefad zu Wallmoden, von 
Wallmoden zu Dörnberg, Witleben und. den übrigen in Deutſchland 
einflugreihen Männern, um ihre Theilnahme für das Schidſal der 
Städte zu erregen oder lebendig zu erhalten. 

Die Abfichten und Bemühungen des hanfeatiſchen Directoriums 
fonnten nicht verborgen bleiben und erregten den heftigften Wider- 
willen mancher früher in Hamburg einflußreichen Männer. Yür alle, 
die der ftädtifchen Obrigfeit angehört hatten, Tag in der kräftigen 
Thätigkeit ein fchneidender Vorwurf, und nie werde, meinten fie, die 
gute alte Zeit, welche durch die Gewalt ber Franzoſen fo ſchrecklich 
unterbrochen fei, wiederkehren, wenn die Neuerungsſucht unberufener 
und unbefugter Männer das Unterfte zu oberft fehre und alles ver- 
wirre. In dem von den Franzoſen fürchterlich bedrängten Hamburg 
felbft, unter den Hamburgern in Medlenburg und auch unter den 
böhern fremden Dfficieren machte fich namentlich) bei ältern Männern 
eine Stimmung bemertlih, welche. die Thätigfeit des hanſeatiſchen 
Directoriumd mit Mistrauen betrachtete und ihr im Stillen entgegen. 
zuwirken fuchte. 

Sievefing zuerft, wie es feheint, faßte die Gefahren ind Auge, 
welche aus dem Hervortreten eines folchen argmwöhnifchen Gegenſatzes 
für die Selbftändigkeit der Städte ermachlen konnten. - Wir haben, 

16 ” 


244 


fchrieb er am 19. September aus Berlin, die Denkſchrift über die 
Schritte, welche bei der Befegung Hamburgs unter militärijcher Auto- 
rität zu thun fein möchten, dem Kronprinzen übergeben. Ich kann 
aber nicht leugnen, lieber Perthes, daß mid) bei diefen Borfchlägen 
manchmal ein ängftliche® Borgefühl anmandelt. Die fünftige Unab- 
hängigfeit der Hanjeftädte fcheint mir fo jehr von der Ruhe in ihrem 
Innern und von dem Ausſchluſſe jeder Einmifchung der Fürften abzu- 
hängen, daß ih das Geftändnid eignen Unvermögend vermeiden 
möchte und Scheu fühle, Widerfpruch, bürgerliche Unruhen und Ein- 
greifen der Fürften, fei e8 auch den beiten Abfichten zu Liebe, zu ver- 
anlafien. Laſſen Sie und Mare Sinne und freie Hände behalten, da» 
mit der Untergang der Städte, den die Richtung des Zeitalterd viel 
leicht unwiderftehlich herbeiführt, nicht auf unfere Rechnung geſetzt 
wird. Laſſen Sie und nicht allzu fehr auf die gelaffene Spiepbürgerei 
unferer Mitbürger rechnen; es glimmt Feuer genug unter der Afche, 
und Sie willen fo gut wie ich, daß die Vorſehung ſich oft geſetzgebe⸗ 
rifcher Ideale bedient, um nad) und nad die verblendeten Menſchen 
zu einem politifchen Selbftmord zu verführen. Mir ift Hamburg zu 
fremd, um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der ungeänderten alten 
Verfaffung zu beurtheilen; aber das weiß ih, daß wir nur im Falle 
ihrer Unmöglichkeit viel wagen dürfen, um viel zu gewinnen, und 
auch dann dürfen wir nicht vergeflen, daß ed ein Würfelfpiel ift, das 
wir fpielen. Mich macht die Reaction, die ſich ſchon jetzt nachdruͤcklich 
äußert, immer ficherer, daß jeder Schein der Neuerungsfucht vermie- 
den werben muß. — Die Gefahr des Berfuches, Verfaffungsände- 
rungen mit fremder Hilfe durchzuführen, erſchien um fo größer, ale 
der Glaube erweckt wurde, daß von Heß feine Stellung zu den enge 
liichen Miniftern benugen, die Bürgergarde in englifchen Sold neb- 
men und in folcher Weife fich felbft zum Gründer einer neuen Berfaf- 
fung aufmwerfen möge. Dieſer Wallenftein, heißt es in einem Briefe 
an Perthes, muß wirklich ſcharf ind Auge gefaßt werden; er fucht 
in Ihnen feinen Octavio Piccolomini. Aber halten Sie fich frei, lieber 
Perthed, und hat es wirklich mit Wallenftein’3 Plänen feine Richtig- 
feit, fo laffen auch Sie fich bei dem Feſtmahl in Pilſen entfchuldigen. 

Zugleih waren dunkle Gerüchte verbreitet über tief verborgene 


245 


Abfichten, welche der Kronprinz von Echweden in Beziehung auf 
Norddeutſchland hege. Unter feinem Oberbefehl, fagte man, ftänden 
die Truppen aller kleinen deutfchen Staaten vereinigt; fo wie er für 
ſich allein einen Sieg erfochten haben würde, fünne er ganz frei über 
ein Heer non fünfzigtaufend Deutfchen und drejßigtaufend Schweden 
"gebieten; zu den Hanfeftädten habe er fich namentlich fo zu ftellen ge- 
wußt, dag ihr Schidfal in feiner Hand liege, und er vermeide es ficht: 
lich, irgend eine fefte, fie betreffende Aeuperung zu thun. In der 
That hatte der Kronprinz mit dem hanfeatifhen Directorium durch» 
aus, als menn es eine völlig "berechtigte und ſelbſtändige politifche 
Macht fei, verhandelt; aber wenn es wirklich felbftändig auftreten 
wollte, wurde wohl von revolutionären Schritten, Die vermieden wer⸗ 
den müßten, gefprochen. General Begefad, ein derber Krieger alten 
Schlages, gab auf die Bemerkungen über die künftige Verfaffung der 
Städte zur Antwort: Wenn ih in Hamburg oder Kübel einrüde, 
werde ich den Leuten fagen: Nun, Kinder, dankt Gott; da habt Ahr 
Eure Freiheit wieder; nun regiert Euch nad) Euren Geſetzen. Wo ift 
Euer alter Bürgermeifter? wo find Eure alten Rathsherren? Die 
will ih wieder auf ihre Stühle fegen. Habt Ihr dummes Zeug ge- 
macht, fo feid hinfüro flüger. Ich kenne weder die Strohlöpfe noch 
die Füchſe unter- Euch; die müßt Ihr felbft fennen. Ich kann mich um 
nicht? fümmern; nicht von Regierungdveränderungen, dazu habe ich 
den Kopf gar nicht. Das Alte fehe ich wieder ein, wie es vordem 
gewefen ift, und thue, was mir mein Herr befehlen wird. 

Perthes wurde durch dieſe Gegenfähe, deren Gewicht er nicht in 
Abrede zu ftellen vermochte, in die heftigfte innere Bewegung gebracht. 
Es ift eine große Zeit, fehrieb er, und ich bin fähig, fie zu faflen, aber 
marihmal finft der Menſch zufammen, und alles, alled wird ihm 
eitel und elend, alled wird zu Lug, Trug und Schatten. Durch folche 
elende Stunden muß man ſich durchwinden; fie gehören zum Men- 
ſchenſchickſal, und mußte doch auch der, der ohne Sünde war, fie er- 
fragen. Meine Caroline, nicht auf taufend Blättern ift es zu fagen, 
was an Gefühlen und Gedanken mir den Tag über durch den Kopf 
geht. Saure Tage habe ich jebt: wie ſchwer ift ed, der Wahrheit 
eine reine Geftalt in den Millionen Farben zu geben, die fie durch 


246 


Beimifhung von zahllofen Ihorheiten in jedem Menſchen annimmt. 
Wie ſchwach und verkehrt find die Menfchen, auch die guten! Wäre 
man nicht ein armer Sünder, man müßte fi für einen Gott hatten. — 
Möge Gott mir helfen dad Nechte thun, heißt e8 in einem andern 
Briefe, und mich vgr Weberhebung meiner felbft bewahren. Rein 
will ich bleiben, mit gutem Gewiflen will ich das Vaterland betrach⸗ 
ten können und mit freier Stirne in die Städte zurüdfehren. — 
Zwar blieb ihm die fefte Ueberzeugung, daß die Verhältniſſe, mie 
dad Reben fie "hervorgerufen habe, eine Aenderung ber Verfaſſung 
für die Städte forderten und fie dennod) ohne fremde Berntittelung 
unmöglich machten; aber was hilft es, äußerte er, daß uns die Ver- 
hältniffe deutlich und. beftimmt den Weg; vorzeichnen, den wir zu ges 
hen haben? Die Menfchen, mit denen und für die wir handeln follen, 
haben fich blind gegen das gemacht, was die Berhältnifje verlangen, 
und in diefem Augenblid ift die Meinung der Menfchen ftärker ale 
die Kraft der Berhältnifle, und fie jest außer Acht laffen wollen, wäre 
Zhorheit und Verbrechen. — Werthed gab das Borhaben auf, 
durch Hilfe Fremder eine Berfaffungsänderung für Hamburg berbei- 
zuführen. Jeder Verdacht muß entfernt werden, ſchrieb er, als ob 
wir ben politifhen Zweden auswärtiger Fürften dienen oder revolu- 
tionäre Neuerungen im Innern der Städte beabfichtigen fännten. Das 
banfeatifche Directorium muß ſich für die nächfte Zukunft ſtille verhal- 
ten und ruhig abwarten, was der Gang der Dinge bringen und, 
ohne Midtrauen und Argwohn zu erweden, mögli machen wird. 
Nur dahin muß es von jegt an alle feine Anftrengungen richten, daß 
Die verbundenen Städe nicht nur feinem Fürften untergeben werden, 
fondern auch diefelbe felbftändige Stellung wie die Fürften in dem 
künftigen Reiche einnehmen. 

Die bewegte Zeit, welche von dem Ende des Waffenftiliftandes 
bis zur Mitte November verlief, hatte von Perthes geiftige und koöͤr⸗ 
perliche Anftrengungen, Opfer und Aufregungen aller Art gefordert, 
aber fie war auch überreich an inneren und äußeren Erfahrungen für 
ihn gewefen. Er hatte die Beſchränktheit -feiner Kräfte, denen ein 
übergroßes Vertrauen zu fehenken er nie abgeneigt gewejen war, ken⸗ 
nen gelernt; aber auch deſſen bin ich ficher geworden, äußerte er, dap 





247 


die Stimme des rechtlichen Mannes, der fi frei von Selbſtſucht 
hält, eine ftarfe Kraft ift und große Gewalt hat über den Dienfchen. — 
In einzelnen Augenblicken machten es ihm freilich die Eindrücke der 
großartigen Erhebung Preußens und der an Anftrengung und Er⸗ 
folg gleich außerordentlichen Schlachten fehr ſchwer, für Berhältnifie, 
die den ungeheuren Greigniffen der Zeit gegenüber eng und kleinlich 
erfcheinen mußten, freudige Theilnahme und thätigen Muth zu bes 
wahren. Auch manche feiner Freunde wünfchten ihm einen größeren 
Wirkungskreis. Wollte Gott, fchrieb ihm Niebuhr, dag Sie jest 
ald Staatdmann im Baterlande erfcheinen könnten; jedem, der Ohren 
bat zu hören, rufe ich zu, in welcher Weiſe Sie bei unferem weites 
ven Borgehen ald Adminiftrator wirken könnten. — Perthes indeſ⸗ 
fen war ſich defien ganz gewiß, daß er vermöge feine bisherigen 
Lebendganged nur den Beruf. erhalten habe, in dem Kleinen. Kreife 
für Die große Sache zu wirken, und freute fi), ba ihm ein unmit 
telbarer Antheil an den großen deutſchen Berhältniffen verfagt war, 
des nahen Verkehrs mit. den in Norddeutfchland hervorragendften 
Männern. General Wallmoden, General Dörnberg, General Be 
gefad, der Erbprinz von Schwerin und der Oberfilieutenant von 
Wibleben vertrauten ihm perfönlich unbedingt und nahmen in un- 
zähligen Fällen feine Dermittelung in Anſpruch, wenn e8 darauf an- 
fam, neue Hilfemittel berbeizufchaffen , ſchwierige Berwidelungen zu 
löfen oder die jungen Truppen mit freudigem Muthe und hingeben- 
der Begeifterung zu erfüllen. Mit Leib und Seele, mit kindlicher 
Liebe und Bertrauen hingen die jungen Leute der Legion ihm an. 
Sie hatten ihre Freude daran, daß der Feine, zartgebaute Dann ſich 
feiner Befchwerde entzog, an ihren Freuden und Gefahren mit jugend- 
licher Frifche Theil nahm und nimmer abließ von freumndlihem und 
ernftem Zuſpruch, wenn ed galt, fie in dem wilden Xeben vor Ber- 
wilderung zu ‚bewahren. Durch die lebendigfte Anerkennung vergalt 
Perthed den jungen Männern ihre Liebe. Nicht. ohne einigen Stolz 
meldete er es hierhin und dorthin, wenn Wisleben und andere er 
fahrene Dfficiere die fröhliche Ausdauer bei allen Befchiwerden und 
den verwegenen, tolltühnen Muth bei dem Angriff an der kaum zu- 
fammengetretenen Legion rühmten, und die mandherlei Wildheiten 


248 


entfehuldigte er wenigſtens gegen Dritte ald Weberfhuß an Poeſie. 
Thränen traten ihm. in die Augen, ala Wigleben ihm fhrieb: In 
dem geffrigen Gefechte am Möllner Walde, mein lieber Perthes, hat 
die Infanterie wie ein Löwe gefochten; ich bin völlig mit ihr zufrie- 
den; den Ruhm der alten Hanfa hat fie erneuert. — Mandy herrliche 
Jugend, fehrieb Perthes, fehe ich bier, die fich kühn umd frei entfal- 
tet. Auf unferer Jugend wird Gotted Segen ruhen, und durd fie 
wird er alled gut machen. Das ift meine fefte Ueberzeugung, und meine 
Freude ift, daß alle die jungen Leute mir wie die Rinder anhängen. 
Mitten hindurch durch das frifche und muthige Leben jener Mo⸗ 
nate zog fich freilich in Perthes’ Innerem ein Zug tiefer, ſchmerz⸗ 
licher Wehmuth, hervorgerufen durch die Lage, in welcher er feine 
Frau und feine Kinder wußte. In Aſchau, jener zu Altenhof, dem 
Gute ded Grafen Cajus Reventlow, gehörenden Dieierei, hatte er fie, 
als er Anfang Juli nah Medienburg überfegen wollte, zurüdlafien 
müſſen. Dort jtand unfern der Pachterwohnung, nahe der See und 
mitten im ®ehölz, ein Gartenhaus mit einem Saale und einigen 
Meinen Kammern, in welchem Caroline mit ihren Kindern eine 
Zuflucht gefunden hatte. Außer dem Pachter wohnte im Umfreife 
einer Stunde fein Menſch. Wir konnten, fchrieb Caroline fpäter 
ihrer Schweiter nad) Salzburg, von dem Pachter, fo willig er 
auch war, durchaus nichts ald Milh und Butter erhalten; Brot, 
Salz, Seife, Oel u. f. w. war unter einer Stunde Weges nicht zu 
befommen und mußte von meiner Schwefter und den beiden größeren 
Kindern geholt werden. Fleiſch und Weißbrot haben. wir in achtzehn 
Wochen nicht im Haufe gehabt. Unſere fogenannte Küche war vierzig 
Schritte vom Haufe entfernt; unſer Küchengeräthe befand. aus vier 
fupfernen Töpfen, einer zinnernen Terrine, einigen Tellern, und damit 
Puncum. Unſere Löffel hatte ich mitgenommen, einige Meier und 
Gabeln gekauft; alled übrige ward entbehrt. Und doc find wir, 
heißt e8 in einem anderen Briefe, reich im Vergleich mit vielen an⸗ 
deren; denn immer haben wir hunderttaufendmal mehr als nichts. — 
Garoline felbft erwartete in wenigen Monaten ihre Entbindung. Von 
ihren fieben Kindern war. die ältefte Tochter fo eben fünfzehn Jahre 
alt, der jüngfte Sinabe lief noch nit. “Der. ältefte Sohn Matthias, 


249 


wanderte jeden Morgen 7 Uhr nad) dem eine Stunde entfernten Al- 
tenhof, um an dem Unterricht der Söhne ded Grafen Theil zu neh» 
men; für den Unterricht der übrigen Kinder konnte nicht? gefchehen. 
Ein altes Dienftmädchen hatte treu bei ihrer Herrihaft auögehalten, 
ein zweites anzunehmen erlaubten die Geldmittel niht. Das feuchte 
Gartenzimmer mit feinem zwölf bi8 auf die Erde hinabgehenden 
Fenſtern, die der Laden entbehrten, 309 den Kindern in dem naffen, 
regnichten Sommer Unpäßlichkeiten aller Art zu und bradte Caroli⸗ 
nen mebreremale auf das Krankenlager. Zwar war in Edernförde 
ein alter freundlicher Pferdedoctor, aber ein Arzt nur in dem vier 
bis fünf Stunden entfernten Kiel zu finden. 

Manche Hilfe und mancher Troſt wurde der verlaffenen Frau 
von freundlicher Menfchenhand zu Theil. In muthiger Ausdauer 
ſtand ihr ihre Schweſter Auguſte zur Seite, bei Tag und Nacht zu je⸗ 
der Mühwaltung bereit, und von den eine Stunde von Afchau ent« 
fernten Familien des Grafen Cajus Reventlow und ded Grafen 
Ehriftian Stolberg fehrieb Caroline: Es ift gar nicht auszuſprechen, 
wie unfere Freunde in Altenhof und Windebye fih in Worten und 
Werfen gegen und nehmen. Einer übertrifft den andern an treuer 
Eorglichkeit und an der Freude, und zu helfen. — Auch die Kinder 
bereiteten der Mutter neben vielen Sorgen und Mühen Freude und 
Stärkung; fie erquidten mich, ſchrieb fie, in meiner Noth, ein je 
de? auf feine Weife, Durch ihr Herz voll Liebe, den Heinen Bern« 
hard. nicht ausgenommen, der fich oft vor Freundlichkeit nicht zu laf 
jen weiß. Ich habe ed in der Wahrheit erfahren, heißt e8 in einem 
anderen Briefe, dag Gott und nicht? größeres geben fann in Freud 
und Leid ald ein liebhabendes und geliebted Kind. Nichte kann und 
das Herz fo erquiden, aufrichten und befchämen. Das habe ich hun- 
dertmal erfahren, und ih glaube faum, daß ich Herr geblieben wäre, 
wenn Gott mir nicht meinen Engeld- Bernhard und in ihm das le⸗ 
bendige Bild der kindlichen Liebe und des kindlichen Vertrauens gege- 
ben hätte. Wenn ich verfunten war in Angft und Sorge um Per- 
thes und in den Jammer, meine acht Kinder ohne Baterrath und 
Baterliebe ihren Weg durch das Leben anfangen zu fehen, fo war 
ih oftmals in Gefahr zu verzagen. Wenn ich dann aber meinen lie- 


. 250 


ben Bernhard in meine Arme ſchloß und ihm in fein helles Kinder- 
auge fah und gewahr ward, wie er fih um nichts befümmerte und 
für nichts fürchtete, fondern nur freundlih war und mich lieb hatte, 
fo fand auch ich meinen Haltpunft wieder und bat. Gott, mid wer- 
den zu laffen, wie mein liebes Kind: 

Gegen ‚ben fchweren Drud des äußeren Lebens konnte Freundes» 
hilfe und Kindesliebe wohl einen Halt gewähren, aber wenn die Sorge 
um den entfernten Mann erwadte, vermochten fie das betrübte Herz 
miht zu tröften. Während bei der unterbrochenen Verbindung mit 
Medlenburg nur in fehr langen Zwifchenräumen Nachrichten von 
Perthes einliefen, verbreiteten ſich die widerfprechendften Gerüchte 
über die Stellung, welche er eingenommen habe, und die Gefahren, 
in denen er fich befände, wurden bis ind Ungemefjene vergrößert. 
Garolinend bange Sorge fürdhtete das Schlimmſte; für eine nicht zu 
ferne Zukunft fah fie ihre Kinder bald ohne Mutter, bald ohne Ba- 
ter, hilflos und verlaffen in der Welt. In Briefen voll tiefer Weh⸗ 
muth legte fie den Echmerz nieder, der fie erfüllte. Ich habe Hoff- 
nung nöthig, fchrieb fie an Perthes; denn die Gegenwart ift traurig 
und mein Zuftand und meine Lage ift ernfthafter und meine Berlaf- 
ſenheit größer, ald Du in Deiner Thätigfeit und Hoffnung wiſſen 
fannft. Soll ih bier allein meiner Stunde entgegengeben, foll ih 
ohne Nachricht von Dir bleiben und Dich in beitändiger Gefahr wif 
fen, fo überlebe ih ed nit. Ich kann es Dir nicht genug and Herz 
legen, mein Perthed, daß, wenn ed möglich ift, Du ernfthaft ſor⸗ 
gen mußt, daß wir den Winter nicht getrennt bleiben. Ich ver- 
fihere Dich, es ift ein Unrecht, wenn Du mid) ohne die höchfte Noth 
bier verlaffen läßt. Ich fehe wohl, dag ‘Deine Arbeit und ihr Gelin- 
gen Dir die Sache erleichtert und daß Du die Qualen nicht haft und 
fennft, die mid) erwarten. Doc ich will fhweigen und ftille halten, 
bis es Gott gefällt, mich zu erlöfen. Mir iſt alles dunfel und angſt⸗ 
voll, und mir ift zu Muthe, wie an einem harten Sterbebette, an 
weichem man fich jeden Augenblid zurufen mug: Ich will Doch nicht 
versagen. Gott ſchütze Dich und erhalte Dich und, wenn ed möglich 
iſt; wir beten alle Zag und Nacht für Did. — Wenn Du mid 
liebſt, fchrieb fie etwas fpäter, fo forge, daß, wenn ich fterbe, meine 


251 


Kinder und fonderlich meine Meinen Kinder in Hände fommen, wo 
fie Gott lieben lernen, ehe und ohne daß fie felbft es willen. Das 
allein ift die Hauptſache, alles andere genügt fonderlich für die Klei⸗ 
nen nit, deren Herz, in dem fo vieles fehläft, erft aufgefchloflen 
werden fol. Ad, mein Perthes, Gott helfe und, mögen wir nun 
einzeln oder vereinigt leben follen hierauf diefer Welt, daß wir Got- 
ted Liebe in unfern Kindern weden. Meine Hand zittert und ich 
bin fo bewegt, daß ich nicht weiter fchreiben fann. — In andern 
Stunden überwog die Sorge um das Leben ihres Manned den Ges 
banken an die Gefahr, welcher fie felbft entgegengehen follte. Wie 
follte ich mir einreden dürfen, fehrieb fie, daß grade Du, mein lieber 
Perthes, erhalten werden müßteft! Tauſende von Männern nimmt 
Gott in diefer Zeit hinweg, die von Frau und Kindern geliebt und 
feftgehalten wurden, wie Du von mir. Perthed, mein lieber Per⸗ 
thed, Deinen leifeften Wunſch wahr zu machen, wenn ich den Jam⸗ 
mer erleben follte, ohne Die) auf diefer Welt zu fein, wird die ein» 
zige Freude fein, die ich mir dann noch denken kann. Sage mir doch 
mehr, damit ih thun kann, was Du willſt. 

Die ftille Kraft und ruhige Befonnenheit, mit welcher Caroline 
auch im tiefften Schmerze ihrem Haufe vorftand, und mancher Brief 
vol Muth und Ergebung, den fie an Frauen fehrieb, die wie fie 
von den Schlägen der gewaltigen Zeit berührt worden waren, hatte 
in weiten Freundeskreiſe die Ueberzeugung feſtgeſtellt, daß fie, ſelbſt 
wenn das Härtefte fie treffen follte, ihre innere Sicherheit nicht ver- 
lieren würde. Wohl machte fie ihrem Manne gegenüber, in welchem 
fie, fo lange fie ihn fannte, eine fefte Zuflucht in inneren und äuße⸗ 
ren Nöthen gefunden hatte, dem geängfteten Herzen in mancher 
Klage Luft, aber mitten unter den Klagen ſprach fi oftmald un- 
vwilltürlih die Kraft de® Duldens aus. Den feiten Glauben zu mir 
habe ich, jchrieb fie an Perthed, daß mein Bertrauen zu Gott niemald 
enden kann, aber nicht immer kann ich mit Freuden das wollen, 
was Gott will, und Dich kann ich nicht laſſen ohne Thränen und 
ohne ein tief verwundetes Herz; zu fehr bift Du mir alled auf diefer 
Welt. Aber glaube mir, ich murre gewiß nicht, ich weine nur, und 
Dein bin ih in Ewigkeit. — Heute kann ih Dir nicht ſchreiben, 


252 


heißt eö in einem Briefe vom erften Auguft, ich bin gar zu fehnfüchtig, 
betrübt und bange, und ein Grauen ift in mir vor dem, was kom⸗ 
nien wird. Daß ich Dich lieb habe aus aller Kraft, weißt Du au 
ohne Brief, und an Dich denken will ich morgen an unferm Hochzeit 
tage tief im innern Herzen, wenn auch mit heigen Thränen; aber in 
diefen Tagen darf ich meine Seele nicht anrühren, wenn ich fie nicht 
zerbrechen will. — Gott ſchütze und bewahre Dich, fchrieb fie etwas 
fpäter, und gebe mir Kraft zu tragen, was ich foll und muß. Das 
ganze Glück der Liebe habe ih, die Gott gibt, aber auch ihre ganze 
Angſt und Qual. Ich bin bei Dir, mein Perthes, und laſſe Did 
nit in Ewigfeit; halte auch Du mid) feft und vergiß mich nicht. 

Nur nach langen Zwiſchenräumen kamen diefe Briefe in Perthes 
Hände und feine Antworten, die oft verloren gingen, oft Monate 
hindurch umberirtten, konnten die Entſchlüſſe Carolinens nicht: be 
flimmen wollen. Frau und Kinder nach Medlenburg -in dad Kriegd- 
gewirre zu verfehen, war unmöglich, und aud) nur auf einige Tage nad) 
Holſtein zu gehen, hätte nach Andeutungen der Dänifchen Regierung 
Freiheit und Leben in Gefahr gebracht. Daß er den einmal betrete- 
nen Weg nicht verlaffen dürfe, fühlte und wußte Perthes feſt. — 
Ich folge Gottes Ruf und meiner Pflicht, fehrieb er, die mir in die 
fer Zeit fo beftimmt fpricht, wie früher nie, — aber deöhalb traf - 
ihn die Noth und die Sorge, in welcher er feine Familie wußte, nicht 
weniger ſchwer. 

Wie könnte ih, ſchrieb er, Dich täuſchen wollen und ſagen, 
daß mein bunter Wandel in jetziger Zeit nicht mehr Lebensgefahren 
in ſich trüge, als der ſichere, geregelte Gang in gewöhnlichen Tagen! 
Aber keinen Gedanken laß in Dir aufkommen, liebe Caroline, wie 
wenn meine Liebe zu Dir und den Kindern weniger tief und warm 
wäre, als etwa bei denen, die Leib und Leben für Weib und Kinder 
aufzuheben ſich aͤngſtlich bemühen. Es gibt Stunden, in denen die 
ganze Angſt des Lebens, welches verborgen vor mir liegt, und der 
ganze Jammer des Lebens, welches ich jetzt führen muß, auf mir 
laſtet. Ja wahrlich, für Dich iſt die Zeit ſchwer, aber für mich iſt 
ſie nicht leicht. Habe Geduld, Stille und Ruhe in Dir, meine herz⸗ 
liebe Caroline, traue meinem Gewiſſen und. meiner Vorſicht und über- 


253 


laffe den Ausgang Gott. Du wollteft, als wir Abfchied voneinan- 
der nahmen, wiflen, wie ed mit den Kindern werden follte für den 
Fall, daß ed mit mir hier auf Erden ein Ende nehme. Man follte 
über dad Grab hinaus wenig oder nicht? verfügen; denn jeder Augen⸗ 
blick des Lebens ift ein anderer und neuer, und jede Verfügung muß, 
weil fie feftitehend ift, unpafjend werden. Dir, Deinem: Berftande, 
Deiner Kraft und Deiner Liebe vertraue ih, und bitte Gott, daß er 
Dir gebe, was Du nicht immer haft: Ruhe. Hätte ich einen Wunfch, 
fo wäre es der, daß Du mit den Kindern an dem Orte leben könn⸗ 
teft, wo Nicolovius wohnt, und daß Matthiad unter Tweſten's Leis 
tung ununterbrochen fünf bis ſechs Jahre bliebe. Doch der Menſch 
denkt, Gott lenkt. — Gott fei ed gedankt, heißt ed in einem an« 
dern Briefe, daß Ihr mohl feid, Ihr meine Lieben und einzigen 
Güter diefer Welt. Liebe Caroline, wie groß und wild ift die Welt, 
wenn man nicht zu Haufe iſt! Dad, was mir als Süngling fehlte, 
fehlt mir jept ald Mann, aber ander? ald damald. Als Jüngling 
ſah ih Dih, das Ziel meiner Liebe und Freundfchaft, vor mir in 
reigendem Zauberlicht ; jest feh ich Dich wieder vor mir, aber im 
ganzen Ernft Deiner Wahrheit und Wirklichkeit, und kann Dich nicht 
erreihen. Die Zeit, die ich durchlebe, ift groß und intereſſant; aber 
es ift hart, Feine Heimat zu haben, und der elenden Stunden, in 
denen ich. mich. ohne Dich allein mit mir ſelbſt kümmerlich behelfen 
muß, find gar zu viele und in einer Beziehung wenigſtens iſt meine 
Lage härter ald.die Deinige. Du haft doch nur mid von. Dir gelaf- 
fen; wie viele Menfchenleben aber ließ ich zurück, von denen jedes, 
wenn es erlifcht, mir das Herz brechen wird! Der Anblid Kleiner Kin- 
der treibt mir jedegmal Thränen in die Augen. — Gott wird hels 
fen, fehrieb er ein anderesmal. ch thue, mas ich nicht laſſen darf. 
Keine Thorheit und fein Wahn verhindert mich zu fehen, daß Man⸗ 
gel an Talenten und an Kenntniffen, daß Alter und der biöherige 
bürgerliche Beruf mir, da ed an tapferen jungen Männern nicht fehlt, 
ein eigentliche militärifched Wirken nicht vorfchreiben, ‚aber meine 
Aufgabe ift ed, der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo ed nur angeht, 
mit. Berftand dad Wort zu reden und zu zeigen, daß Gottes Wille 
nicht untergegangen ift im Menfchen, wenn auch Sündhaftigleit und 


254 


Schwäche nirgends den Gotteswillen rein und völlig ericheinen laſſen. 
Daß man aber in Zeiten, wie die jetigen, in denen der Streit des 
Böfen mit dem Guten, der Lüge mit der Wahrheit, fo gewaltig ift, 
nichts ausrichten fann, wenn man fich nicht ausſetzen will, Daß man, 
um zu ſchaffen, Leib und Leben, Gut und Blut daran fepen muß, um 
der Wahrheit und dem Rechten die Ehre zu geben, das, mein edles 
Weib, weißt Du fo gut wie ih. ch habe Muth und Kraft und 
Demuth und bin einig mit Gott und mit mir ſelbſt. Ich kann beten, 
wie ich niemals gebetet habe, und bete viel. Liebe Herzens » Caroline, 
fei muthig und ruhig; Gott wird Dir und. mir helfen. — Es ift, 
fehrieb er. etwas fpäter, als wenn Gott mein Thun und Treiben recht 
fegnete. Wirklich, es ift viel gefchehen, manches Verhältnis hat Durch 
mich Geftalt geivonnen und in manches Handeln habe ich Feſtigkeit 
und Einheit gebracht. Aber nicht bloß in der Mitwirkung für das 
große allgemeine Ziel bringt unfere Trennung Früchte, fondern auch 
für viele einzelne befannte und unbelannte Menfchen; denn über nicht 
Heine Summen habe ih zu verfügen und kann Nothleidenden aller 
Art zu Hilfe kommen, nit blog mit Troſt und Rath, fondern auch 
mit Hilfe und That. Ta, liebe Caroline, alle Reizmittel, die den 
Menschen bewegen können, fräftig und thätig mit Aufopferung aller 
Erdengüter zu handeln, treffen jegt in mir zufammen: Ehre, Dant, 
Liebe, Freiheit, Thatluſt. Nichte an dem, was erreicht wird, mit 
mir Did auf und fer getroft. 

Am 17. September war Caroline mit ihren Kindern von Aſchau 
nah Kiel gezogen, wo ihr Graf Moltfe einige Zimmer eingeräumt 
hatte, die er bei längerem Aufenthalt in Kiel zu bewohnen pflegte. 
Aerztliche Hilfe, Sreunde und Verwandte fand Caroline in. der fihern 
Stadt; aber die äußerfte Geldbedrängnis, kranke Schwäche des eignen 
Körperd und Kinderfrankheiten aller Art waren geblieben, und die 
Sorge um dad Schidfal der verlaffenen Kinder, wenn fie felbft, wie 
fie fürdhtete, ihre Entbindung nicht überleben follte, wurde um ſo 
drüdender, als fie in gänzlicher Ungemwißheit über ihre® Mannes Lage 
und Aufenthalt war. Bom 7. Auguft bid zum 2. October blieb fie 
ohne Nachricht von ihm und mußte nicht, ob er lebend fei.oder todt. 
Ich bin, fehrieb fie. gegen Ende October an Perthes, in immerwähren- 


255 


— 


der großer Arbeit, um Phantaſie und Gedanken, Herz und Sehnen in 
Zaum und Zügel zu halten. Ach, mein Geliebter, ih leide unaus⸗ 
ſprechlich! — Nachdem fie ihm dann ihre und ihrer Kinder Lage 
ausführlich dargelegt hatte, fügte fie hinzu: Ich mußte Dir alles fa- 
gen, damit Du die Wahrheit weißt und thun fannft, was recht ift; 
aber ich fage Dir ed nicht, um Did) zur Rückkehr zu bewegen. Gott 
den Herrn, der mir mehr ift als Du, nehme ich zum Zeugen, daß ich 
nicht will, was Du nicht darfſt. 

Wenige Tage, nachdem Perthes dieſesmal ungewöhnlich ſchnell 
dieſe Worte Carolinens erhalten hatte, ſah er ſich in eine Thätigkeit 
verfet, Die e8 ihm erlaubte, feiner Frau zu antworten: Nun haft 
Du für mein Leben nit. mehr zu fürchten, da ich auf friedlicher 
Laufbahn bin. 


Perthes' Bemühungen für die Hanſeſtädte. 
November 1813 bis Januar 1814. | 





Durh einen fühn und glüdlich audgeführten Zug Tettenborn's 
war Bremen von der franzdfifchen Herrichaft befreit und hatte am 
6. November feine frübere Berfaffung: wieder angenommen. Eine au« 
Berordentliche Commiſſion zur vorläufigen Leitung der Gefchäfte wurde 
beftellt, und Tettenborn beauftragte zwei von ihm ernannte Dfficiere, 
Freiwillige in Bremen zu ſammeln und aus ihnen eine befondere Ab⸗ 
theilung der hanfentifchen Legion zu bilden. Als der Befehlshaber 
der hanfeatifchen Brigade, Oberft von Wigleben, dieje Nachricht ers 
* halten hatte, fürdhtete er, daß Tettenborn auch die weitere Bildung 
und fünftige Führung des neuen Truppentheil® in Anſpruch nehmen 
werde. Um einen foldhen Uebergriff zu verhindern und die Leitung 
der Rüftungen und den Befehl über die gefammelten Truppen in feine 
eigene Hand zu befommen, fendete er zwei Officiere nach Bremen und 
beauftragte Perthes, fie zu begleiten. Perthes folle verfuchen, ſchrieb 
‚er ihm, was er durch feine perfönliche Bekanntihaft mit Zettenborn 
und mehreren einflußreichen Mitgliedern des Senates außzurichten 


256 


vermöge, in jedem Falle aber nicht dulden, daß fich der Senat die 
Ernennung der DOfficiere von Tettenborn aus den Händen winden 
laſſe. Es wiſſe ja jeder, wie ſchwer es fei, fih von den aufgedrunge- 
nen räudigen Schafen zu befreien. 

Nicht weniger ungern als Wipleben fahen die Mitglieder des 
hanſeatiſchen Directoriums das Auftreten Tettenborn's in Bremen. 
Sie hatten feine Unfähigkeit zu organiſieren und feinen grenzenloſen 
Leichtfinn in Hamburg kennen gelernt und hielten es für eine Schmadh, 
dag ein Kofadenofficier die erften, vielleicht für alle Zukunft nachwir⸗ 
enden Anordnungen in der befreiten Stadt treffen follte. Sobald 
die in Medlenburg zurüdgebliebenen Mitglieder ded hanfeatifchen 
Directortumd Perthes’ Abfendung nah Bremen erfuhren, forderten fie 
ihn dringend auf, aus allen Kräften dahin zu wirken, daß der Senat 
eine feite Stellung Zettenborn gegenüber behaupte. Wir entbehren 
Sie hier freilich ungern, fchrieben fie ihm, aber in Bremen wird Shre 
Anmwefenheit von guten Folgen fein. Wenn Sie aud) die bereitd ind 
Leben getretenen Operationen nicht aufhalten können, fo find Sie doch 
vielleicht im Stande, die Uebel der Hauptquartierwirtbfchaft, welche 
Sie in Hamburg fennen lernten, zu mildern, damit ed nicht wieder 
fo wild und leichtfinnig hergehe, wie in unfern Städten. 

Perthes mar am 10. November, unmittelbar nachdem er Wip- 
leben's Auftrag erhalten hatte, aus Gadebuſch abgereift. In Witten 
berg erhielt er perfönlich von Dörnberg, in Dömig von Wallmoden 
nähere Nachrichten über den gegenwärtigen Stand der Dinge und 
am 13. November traf er in Bremen ein, wo er alles in größter Be 
wegung fand. Tettenbom war jet bier, wie früher in Hamburg, 
der Held ded Tage? und wurde, wo er fich fehen ließ, von freiheite- 
trunfenen Menfchen umlagert, die ihn mit freudigem. Hurrah begrüß- 
ten. Am 12. November ſchon war General Winpingerode mit zahl⸗ 
reichen ruffifchen Truppen, unter denen auch Tſchernyſcheff und feine 
Kofaden ſich befanden, eingetroffen, am 17. Rovember: langte der 
Kronprinz von Schweden, am 26. November der Herzog von Olden⸗ 
burg an. Mit freudigem Jubel wurden die Befreier aufgenommen, 
große Seite wurden ihnen gegeben und die Häufer ihnen gaftlich ges 
öffnet; aber zugleich fuchte Die ernannte einheimifche Regierungdcom- 


"257 


miffion kräftig und entfchloffen Bewaffnung und Verfaſſung den Ein- 
wirfungen der Fremden zu “entziehen und ſcheute, um diefed Ziel zu 
erreichen, auch die unangenehmften Mishelligkeiten nicht. Schnell 
wurde Perthes von dem Stand der Dinge unterrichtet; die Bremer 


betrachteten ihn wie einen alten vertrauten freund, der Oberftlieuter 


nant Pfuel machte ihn mit der Stellung Tettenborn’d zu Witzleben 
befannt und Tettenborn felbft verhandelte faft täglich.mit ihm ohne 
Mistrauen und Rückhalt. Ich ftehe, fchrieb damals Perthes, auf 
einer bedenklichen Stelle, da ich Freund bin der verfchiedenen, fich be- 
kaͤmpfenden Parteien. Du mein Gott, gib mir Weidheit und Ber- 
ftand und den Muth der Wahrheit und lag mich niemals dich ver- 
gefien! — Ungeduldig harrte Wigleben auf Nachricht. An gutem 
Willen fehlt es hier nicht, fehrieb ihm Perthes; bei der Obrigkeit ift 
Verſtand, bei dem Bolfe Feuer und warmes Gefühl bei den Weibern. 
Schon feit einer Woche ift alled im vollen Gange und es wird nicht® 
anderes zu thun fein, als vorläufig mit dem Strome zu ſchwimmen. 
Denn Tettenborn tritt auf und organifiert im Namen ded Kronprinzen ; 
der General Wingingerode felbft ift und bleibt hier und läßt alles 
durch Tettenborn formieren und einrichten; kurz, Tettenborn fibt mit⸗ 
ten in der Seele ded Körpers, während Sie mit der Legion außerhalb 
der Bewegung ftehen. 

Obſchon ed an muthigen Männern in Bremen nicht fehlte, rüdte 
dennoch die Bildung der einheimifchen Truppenabtheilung nur lang- 
ſam vor. Die hanfeatifche Legion, ihre Beftimmung und Einridtung, 
war der Stadt in Folge der Anftrengungen der franzöfifhen Polizei 
nur dem Namen nach befannt ; die Truppen der Befreier dagegen, vor 
allem die preußifchen Jäger ftellten fich den Augen der danfbaren 
Bürger in dem hellen Glanze eines frifchen Kriegerlebend dar, und 
viele junge Leute fuchten daher mit Umgehung der heimifchen Trup⸗ 
pen die Aufnahme unter den Preußen und Lüsowern nach. Perthes 
fühlte den Nachtheil, der aus ‚diefer Richtung für das Anfehen der 
Legion und der Städte hervorgehen mußte, und fuchte ihm entgegen- 
jutreten, indem er durch feine warmen und lebendigen Schilderungen 
bei alt und jung, bei Männern und Frauen Aufmerkſamkeit und 


Theilnahme für die hanſeatiſchen Krieger zu erwecken wußte. Von 
Perthes Leben. I. 4. Aufl. 17 


258 


vielen Eeiten aufgefordert, Tegte er die Entftehung und Ausbildung 
ber Legion in einem kurzen Auffake dar, welcher, in der Sprache bes 
Sahres 1813 gefchrieben, die Leiden und Ihaten derfelben auf das 
länzendfte darftellte. Gottes Segen den Eltern, heißt es am Schluſſe, 
die ihre Söhne dem Baterlande geben; Gotted Segen den Söhnen, 
die für ihre Eltern fämpfen; und der Friede Gotted allen denen, bie 
als Opfer fallen. Ihnen ift die Krone des Qebend geworden. — - In 
vielen Exemplaren verbreitet, war die Wirkung diefer, den Eindrüden 
des Augenblicks angehörenden Schrift eine nicht geringe und trug 
weſentlich dazu bei, Perthed in jenen, jegt längft vergeffenen Tagen 
allgemeiner Aufregung zu einem Liebling der patriotifchen Kreife Bre- 
mens zu machen, während zugleich die Erfahrungen, welche er in 
Hamburg gefammelt, fo wie da® Vertrauen, welches feine Berfönlich- 
feit einflößte, und die Stellung, welde er zu Tettenborn einnahm, 
feiner Stimme Gewicht für Die ftädtifche Obrigkeit verliehen. Smidt, 
welcher am 15. November von einer Sendung an den Kronpringen 
jurüdgefehrt war, wurde fein naher, vertrauter Freund. Die Se 
natdcommiffion zog ihn zu ihren Sigungen hinzu, der Bürgerconvent 
{ud ihn zu feinen Verhandlungen ein, und als Bremen durch eigne 
befonnene Kraft die Bewaffnung und Verfaffung zu einem guten 
Ende geführt hatte, durfte Perthes fich fagen, daß auch er zu den 
Werke mitgewirkt habe, indem durch ihn manche Echwierigfeit befei- 
tigt, mancher ſchroffer Gegenfag gelöft und manche Gefahr vermieden 
worden war. Wir haben e8 wohl gehört, jhrieb ihm damals ein 
entfernter Freund, daß Sie alter Alhymift von neuem Ihre wohlbe⸗ 
fannten Rünfte üben und Elemente, die fih einander fliehen, zufam- 
menzmwingen, indem Sie bei einem Glaje Wein, oder weisſagend und 
in Zungen redend, Ahr eigenes aus Liebe und Eifen gefchaffene® Herz 
als Bindungsmittel zwifchen die feindlichen Gegenſätze werfen. 
Während die franzöfifhe Herrſchaft in Bremen beendet war und 
in Hamburg und Lübeck fihtlid ihrem Ende entgegenging, ſchien von 
anderer Seite her die künftige Selbftändigfeit der drei Städte aufs 
nene in frage neftellt zu werden. Schon feit feinem erften Auftreten 
im nördlihen Deutfchland hatte der Kronprinz von Schweden eifrig 
geftrebt,, Hamburg und Kübel an ſich zu fefleln; er war Tängft ſchon 


259 


bemüht gewefen, die Bürgerfchaft beider Städte für fih zu gewinnen 
und fi der hanfeatifhen Legion und der banfeatifchen Bürgergarde 
als Schüger, Vertreter und Befehlshaber darzuftellen. Mit dem An- 
fange des Monats November glaubten einfichtsvolle Männer mit 
Beftimmtheit wahrzunehmen, daß er die drei Städte aus allem Zus 
ſammenhange mit den großen Yandmächten und ihrer Gentralcommifs 
fion bringen, die Legion unmittelbar an feine Perfon binden und um 
jeden Preis ſchwediſche Befasung in die Städte bringen wollte Er 
bot Davouft die vortheilhafteften Bedingungen an, wenn diefer Ham- 
burg in feine Hände liefere; er lieg in einem Gefpräcdhe mit Sievefing 
Aeußerungen fallen, welche denfelben in die größte Beitürzung ver⸗ 
feben mußten. Es ſchien gewiß, daß der Kronprinz die drei Städte 
oder doch wenigftend Hamburg und Lübeck in Befiß nehmen wolle, 
um fich fpäter durch deren Abtretung an Dänemark die Herrfchaft über 
Norwegen zu fihern. Als Perthes und Sievefing am 28. November 
dem Audfchuffe des Bremer Senats ihre eignen Befürchtungen und 
die bedenklichen Aeußerungen des Kronpringen mittheilten, erfuhren 
fie, daß der Senat alle Urfache habe, die Adfichten Hannovers nicht 
weniger als die des Kronprinzen mit größter Borficht zu beachten. 
Zwar nicht das engliſche Minifterium, wohl aber der hannöverifche 
Minifter, Graf Müniter, beabfichtigte, wie man fürdhtete, Die Hanſe⸗ 
ſtädte oder doch wenigſtens Bremen in feinen befonderen Schuß zu 
nehmen, um fie durch Eimverleibung in Sannover allen Gefahren 
einer freien Stadt zu entziehen. Solche Befürchtungen machten es 
zur dringenden Prlicht, fi) um einen mächtigen Schuß gegen Schwe⸗ 
den und Hannover zu bemühen. 

Die früheren Beforgnifje vor den Eroberungsabfihten Rußlands 
und Preußens maren im nördlichen Deutfchland ſchon vor der Schlacht 
von Leipzig in den Hintergrund getreten. Jene Abfichten waren, 
wie man glaubte, dur) das von England ünterftüste Auftreten Han- 
noverd, dur das Widerftreben ded Kronprinzen von Schweden und 
vor allem durch den Beitritt Deftreichd zur großen Allianz für immer 
vereitelt, denn Alexander's Macht, Kriegsluſt und Einfluß habe ab- 
‚genommen, je weiter er fi) von feinem Reiche entferne, und Preußens 
mittelmäßiges Cabinet fei nicht im Stande, die Stellung ju gewin- 

17” 


260. 


nen, welche der Strom der öffentlichen Meinung dem Heldenmuthe 
feiner Nation freudig zugeftehe. Fürſt Metternih wäre daher nun 
der Mann geworden, welcher faft in allen Dingen den Ausſchlag 
gebe, und Oeſtreichs weiſe, jedem Schwindel abgeneigte Mäpigung 
werde niemald die Unterdrüdung deutſcher Staaten durh Preußen 
und Rußland zugeftehen. — Als die Echlacdht bei Leipzig gewonnen 
war, erfchien die Stellung Deftreih® und Preußens wiederum in 
einem andern Lichte: beide Mächte waren von neuem die natürlichen 
Vertreter Deutfchlands geworden, und die größeren und Fleineren 
Fürften drängten fih an fie heran, um von ihnen die Entjheidung 
ihres Schickſals zu empfangen. Während ſich dad große Hauptquar- 
tier langfam von Leipzig nad) Frankfurt bewegt hatte, war bereits 
einer Anzahl deutfcher Staaten Anerkenntnis ihrer Unabhängigkeit 
und Aufnahme in die große Allianz gewährt, und al® um die Mitte 
des November fi Kaifer und Könige, Staatömänner und Generale 
in Frankfurt fammelten und zugleich der unter Stein’d Vorſitz ange 
ordnete deutſche Verwaltungsrath Leben zu gewinnen jchien, konnten 
die Hanfeftädte nur in Frankfurt Sicherung ihrer politifhen Selb- 
ftändigfeit erlangen. Perthes war zuerft durch Wallmoden auf die 
Wichtigkeit der Berfammlung in Frankfurt aufmerffam gemacht wor- 
den. Der brave Mann gab und ehrlichen Beicheid, fchrieb Perthes 
damald, und rieth den Städten, fi) unter den gegenwärtigen Um- 
ftänden feft an den Freiherın von Stein zu halten. — Auch der Her- 
30g von Oldenburg und der General Winkingerode, die nad) Perthes 
Ausdruck offen und wie gute Deutfche fprachen, waren der Meinung, 
daß in Frankfurt die wefentlichften deutfchen Fragen ihre Erledigung 
finden und deshalb die Städte große Gefahr laufen würden, wenn in 
dieſem entfcheidenden Augenblicke niemand feine Stimme für fie er⸗ 
höbe. Zwar fürchteten mehrere Mitglieder des hanfeatifchen Direr- 
toriumd, daß das Erfcheinen von Abgeordneten Hamburgs und Lü- 
becks, weil die Städte felbft noch unter franzöfifcher Gewalt ftänden, 
leicht Befremdung und Misſtimmung erregen fönnte; aber ald der 
Bremer Senat eine Deputation nah Frankfurt abfendete, Ichloffen 
ſich dennoch auf Smidt's dringended Zureden Perthed und Sievefing 
unbedenklich derfelben an. Diefer Augenblid darf nicht ;verfäumt 


261 


werden, fchrieb Perthed an einige bedeutende, in die großen Handeld- 
verhältniffe eingeweihte Hamburger Kaufleute; jest ift die allgemeine 
Aufmerkfamfeit auf Hamburg und fein Schidfal gerichtet, und der 
Congreß, welcher fi in Frankfurt verfammelt, wird auf lange Zeit 
hinaus dad Schickſal unferer Gegenden beftimmen. Wir baben und 
deshalb entichloffen, mit der Bremer Deputation nah Frankfurt zu 
gehen, und bitten Sie dringend, und durch Mittheilung Ihrer Erfah- 
rungen und Ihrer Kenntnis der Thatfachen zu unterflüben. Wie groß 
find die Verlufte, die Hamburg erlitten hat; was muß gefcheben, 
damit Hamburg ungeachtet des ungeheuren Gapitalverlufte® wieder in 
die großen Handelöverhältniffe eingreifen fönne; was ift für die Bank, 
wa3 für die Zölle, nicht allein auf der Elbe, fondern auch auf den 
andern Handelöftragen, zu erftreben? Verſäumen Sie nicht?; es ift 
in diefem Zeitpunfte vielleicht: manche? zu erlangen, was, einmal ver- 
fäumt, für immer verloren fein wird. 

Am 3. December reiften Perthes und Sievefing in Gemeinfhaft 
mit den Bremer Deputirten Smidt und Gildemeifter aus Bremen ab. 
In Hannover erhielten fie über die hannöveriſchen Abfichten Durch den 
Hofrath Rehberg, über die fchmedifchen durh A. W. Schlegel neue 
Aufſchlüſſe. Benjamin Conftant in Hannover, Billerd, Sartoriug, 
Heeren und. Hugo in Göttingen, Martens, die Brüder Grinm, Har- 
nier und Euabediffen in Kaflel, Bachler und Merrem in Marburg 
gaben ihnen in belebten Uinterredungen ein Bild von dem Gewirre der 
Wuünſche, Hoffnungen und Befürdhtungen, welche in jenen Wochen 
Deutfchland erfüllten. Am 8. December langten fie in Frankfurt an 
und am folgenden Tage ſchon hatte Perthed die Freude, von dem 
Herrn von Stein in einer langen und fehr offenen Unterredung die 
nachdrüdlichften Zuficherungen für die Selbftändigfeit der drei Städte 
zu erhalten. Das deutfche Reich,’ fagte Stein, werde hergeftellt wer⸗ 
den; aber fo lange ber Friede noch nicht gefchloffen fei, dürfe, damit 
nicht Zwiefpalt entftände, feine Verhandlung über die nähere Geftal- 
tung desfelben geführt werden. Den drei Städten fei die Stimmung 
der großen verbündeten Mächte durchaus günftig; fie würden feinem 
Fürſten untergeordnet werden, fondern eine felbftändige Stellung im 
Neiche erhalten. Nichte hätten fie von dem Kronprinzen von Schwe- 


262 


den zu fürchten; man kenne ihn ſchon mit feinen Projecten und In⸗ 
triguen und wiffe, daß der Schmuß der Revolution ihm noch anhinge. 
Sobald die Adfichten, welche derfelbe vertraulich geäußert hatte, offi« 
ciell befannt würden, werde man ihn mit feinen 25,000 Mann, die 
theuer genug bezahlt würden, einpaden und nad) Haufe ſchicken. Im 
äußerften Falle fönne man feiner immer mit Geldopfern los werden; 
jept aber den Schlangengängen feiner Politik nachzugehen, fei unter 
der Würde der verbündeten Mächte. Eben fo wenig habe Hannover 
Eingriffe zu machen; die Städte follten nur jede Zumuthung desſel⸗ 
ben ohne weiteres abweifen; . bie Verbündeten hätten überall feine 
Urſache, Hannover etwas zu ſchenken. In das Innere der Berfaffung 
der Städte werde fi, wenn diefe fih jo nähmen, daß feine Unruhen 
entftänden, niemand mijchen. Alle Misbräuche müßten abgeſchafft 
werden, und die Sleichftellung der Drei chriſtlichen Eonfefjionen in allen 
politischen VBerhältniffen mache er dringend zur Pflicht; aber fein Jude 
dürfe als gleichberechtigt aufgenommen werden. Das Verfahren des 
banfeatiihen Directoriumd billige er fehr und ganz richtig fei ed, daß 
für Hamburg eine proviforifche Regierungscommiſſion beftellt werden 
müffe, um die nothiwendigen Berfafjungsänderungen vorzunehmen. — 
Ausführlich Lie fih fodann Stein auf die Bedenken ein, welche Per- 
thed gegen den Elsflether Zoll erhob. Zölle, fagte er, feien feine 
Beſchränkung des Handels, auch England habe fie; aber-freilich nur 
für eine einzelne Gegend dürfe ein Zoll nicht beftehen, fondern eine 
einzige große Zollinie für das ganze Reich müfle von Holland bis 
Rußland errichtet werden. — So frei, fo herzlich und offen ſprach 
Stein, fchrieb Perthed, daß ich ihm alles, was ich über unfer deut- 
ſches Vaterland und über unfere Städte auf dem Herzen hatte, ohne 
Rüdhalt äußern konnte und bald merkte, daß er mich gerne hörte. 

Unmittelbar von Stein ging Perthed mit Sievefing zu Herrn 
v. Pilat, dem Cabinetöfecretär des Fürften Metternich. Als wir, 
äußerte Perthes, mit ihm und dem Baron Binder den Mittag und 
Abend in freier und fröhlicher Unterhaltung zubrachten, fpürten wir 
bald, daß Oeſtreich jedes Hinftreben auf deutfches Reich und deutfches 
Kaiferthum billige und gut aufnehme. Eine andere Seite der Dinge 
aber zeigte ſich uns, ald wir zu dem preußifchen Nathe Bartholdy 


263 


gingen, Hier deutete-alled auf große Ummälzungen hin; der König 
werde, fagte Bartholdy, in kurzer Zeit Nationaljtände zufammen ber 
rufen, und bald werde ſich Preußens Stellung zu Deutfchland entr 
wideln.: Im Innern der Städte follten wir immerhin, ohne viel zu 
fragen, machen, was wir machen fönnten; wenn ed gemacht wäre, 
würde es gebilligt ‚werden. — Am 10, December wurben die vier 
Reifegefährten durch Pilat zum Fürſten Metternich geführt. Der Fürft 
nahm und mit großer Güte auf, fchrieb Perthed, und fagte un? feſt 


- die Freiheit der Städte zu und ſprach von der ficheren Hoffnung auf 


Herftellung des deutichen Neiched. Als ich bemerkte, daß Die Städte 
an eine Neutralität wie in früherer Zeit jeßt nicht denken wollten, 
fondern fih nur durch einen feften Anſchluß an das Reich gefichert 
hielten, antwortete er: Ich fehe, Sie, wie wir alle, find von vielen 
Ehimären der früheren Zeit zurüdgelommen. — An demfelben Tage 
gewährte auch Kaifer Franz eine Audienz. Sie haben viel gelitten, 
fagte diefer ihnen freundlich, aber es wird fchon beffer werben; denn 
nun bleiben wir alle Deutfche, und ich will ſchon machen helfen. 
Dann zu Perthed und Sieveking fih wendend, febte er hinzu: Sa, 
dem Hamburg gebt es fchlecht, und der wüſte Kerl, der Davouſt, rächt 
fi) arg; aber was ich gut machen kann, yill ich thun. — Während 
die zutraufiche Anfprache des Kaiferd die Vorliebe für denfelben noch 
erhöhte, waren die kurzen, barfch Elingenden Worte ded Könige von 
Preußen, der am folgenden Tage bie vier Männer empfing, nicht im 
Stande, die Abneigung zu befeitigen, welche damals im nördlichen 
Deutfchland gegen die preußifche Negierung beftand. Der Staat?- 
kanzler Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, der Staatsrath Hippel 
ſprachen von der Freiheit der Hanfeflädte wie von einer politischen 
Nothwendigkeit, aber dennoch blieb ein geheimes Midtrauen gegen 
tief verborgene Abfichten des Berliner Hofed nach wie vor beftehen. 

Eine Maffe von großen politifhen Eindrüden drängten mäh- 
end des kurzen Aufenthalts in Frankfurt auf Perthes ein. An der 
Tafel des Staatdlanzler® fand er die herporragendften Perfünlichkeir 
ten Preußens vereinigt; Graf Neſſelrode ſprach wohlwollend zu ihm 
von der Bedeutung der Hanfeftädte für den europäifchen Verkehr; der 
bannöverifche Graf Hardenberg beeilte fih, feine freundnachbarlichen 


264 


Gefinnungen erkennen zu geben; Stägemann und der Banquier Har- 
nier erflärten ihm unummunden, daß die großen deutfchen Handels⸗ 
verhältniffe, dag Stromſchiffahrt und Zollweſen, weil niemand über 
fie eine fefte Anficht befite, lediglich dur den Zufall und durch die 
Einflüffe des Augenblids ihre fünftige Geftalt erhalten würden; die 
Bevollmächtigten der Fleinen Staaten, Kanzler von Kettelhodt, Prä- 
fident von Berg, Minifter von Gagern, fo wie die Schweizer Deputir- 
ten, Zandamınann Aloys Reding, Staatdrath Eicher und Rathöherr 
Hirzel, gewährten Aufſchluß über Einzelverhältniffe der Gegenwart, 
und an den belebten Abenden, die Perthed mit Schloffer, Zacharias 
Werner, Günderode, Paffavant, Rühle von Lilienftern und andern 
bedeutenden Männern zubrachte, kamen geiftige Intereſſen aller Art 
zur Sprache. Heute, am 16. December, ift unfere Entdeckungsreiſe 
zu Ende, ſchrieb Perthes, und wir haben gefunden, daß das fefte 
Land, welches wir fuchten, gar nicht vorhanden ift; aber unfere Her- 
zen find erfüllt von Lob und Dank gegen Gott, der un? fo viel Gu⸗ 
tes für unfer deutſches Vaterland -und für unfere Städte in den Ges 
walthabern Europa’3 finden lieg. — Während Smidt dem großen 
Hauptquartier folgte, kehrten Perthes und Sieveling nad Bremen 
zurüd, mo fie am .20. December anlangten. Kaifer Franz, König 
Friedrich Wilhelm und Kaifer Alerander erfannten in befonderen 
Handihreiben die Freiheit der Städte an, und freudig konnten Per- 
thes und Sievefing auf dem Ratheweinkeller zu Bremen den dort zu⸗ 
fammengelommenen Senatoren Bericht über ihre Reife abftatten. 
Dergebend hatte Perthed gehofft, in Bremen Briefe von Caro— 
line zu finden. Er war um fo beforgter, ald Holftein nun der Schau- 
plaß des Krieges geworden war. Der Kronprinz von Schweden hatte, 
nachdem er Bremen verlaflen, fhon am 29. November fein Haupt. 
quartier in Boipenburg genommen und ſich, nachdem er Davouft und 
die franzöfifchen Truppen auf Hamburg befchränft hatte, zum Angriff 
gegen die Dänen gewandt, er nahm am 5. December Lübeck, drängte 
nach einer Reihe von Gefechten die däniſche Kriegsmacht über den Ka- 
nal zurüd, und behauptete in dem am 15. December gefchloffenen 
Waffenftillftand ganz Holftein und das füdliche Schleswig. Es war 
auf diefen Kriegdzügen nicht grade reinlich- zugegangen, und angſt⸗ 


265 


voll hatte Perthed fchon von Frankfurt aus nach Kiel gefchaut, wo 
Caroline in eben diefen Wochen ihre Entbindung erwartete. Du bift 
gewiß noch bei mir auf diefer Erde, hatte er am 14. December an 
fie gefehrieben, ich weiß e®, ich bin deffen überzeugt. Wohl hat e8 
Stunden gegeben, in denen ich glaubte, Du mwäreft drüben bei Gott, 
zu dem auch ich früher oder fpäter komme; mit dem innerften kla⸗ 
ten Auge bes Geifted habe ih dorthin nach Dir gejchaut, aber nicht? 
vernommen, Du bift gewiß noch hier bei mir. O daß Gott Dir auch 
das geliebte Kind in Deinen Armen gelaffen hätte! Ich bin gefund 
und habe. viel erlebt, genug, um eine Lebenszeit darum zu geben, 
und kann von hier mit Muth und Ruhe und mit Glauben zu Gott 
fortgehen — was fo viel ift, ald man faum hoffen durfte, wenn man 
weiß, daß die Fürften der Welt und ihre Minifter und Feldherren 
bier verfammelt find. — Da Perthed in Bremen feine Briefe vor- 
fand, eilte er nach Lübeck und brachte auch dorthin die Zuficherungen 
für die Sreiheit der Städte. Hier erhielt er die Nachricht, daß Caro⸗ 
line am 16. December glüdlih von einem Sinaben, Andreas, ent- 
bunden fei. In der Weihnachtsnacht reifte er weiter nach dem nun 
von feindlichen Truppen befreiten Kiel, wo er am erſten Feiertage 
Nachmittags fünf Uhr eintraf. Unermwartet, Abends im Halbduntel, 
trat er nach faft ſechsmonatlicher Trennung in unfer Zimmer, fchrieb, 
Caroline; Matthias hatte ihm zuerft gefehen; alle Kinder konnte ich 
ihm gefund übergeben und noch einen lieben, gefunden Jungen oben- 
drein in Kauf. Was dad war, weiß niemand, ald der es erfah- 
ren hat. | 

Wenige Tage nad) feiner Ankunft erhielt Perthes Von dein Ge- 
neralftabe des Kronprinzen von Schweden den Auftrag, in Gemein» 
ſchaft mit zwei von Lübeck und Bremen ernannten Männern die Ber 
waltung und. Verwendung der bedeutenden Summen zu übernehmen, 
welche der Kronprinz zur Unterftügung der aus Hamburg Vertriebe- 
nen bewilligt hatte. Perthes verließ daher am 1. Januar 1814 feine 
Familie und begab fih, um den Hilfsbedürftigen nahe zu fein, nad 
dem zwei Stunden unterhalb Hamburg an der Elbe gelegenen flei- 
nen Orte Flottbeck. Hier trat ihm fogleih die Lage Hamburgs in 
ihrer ganzen Erſchrecklichkeit vor Augen. 


266 


Während der größte Theil Deutfchlands längft von den Fran⸗ 
zofen befreit war, hatte fih Davouft in Hamburg gehalten; aber er 
war mit feinen Truppen auf die Stadt felbjt und deren nächte Um⸗ 
gebung durch den General Benningjen befchränft, welcher jeit Ende 
December an General Woronzow's Stelle die Belagerung leitete. 
Was Davouft that, konnte vielleicht in der Stellung eine® belagerten 
Generals feine Entfchuldigung finden; aber wie er that, was ex that, 
laͤßt fih nur aus der Wuth und der Stumpfheit eines Boͤſewichts ab⸗ 
leiten. Unermeßliche Gelderpreffungen, Beraubung der Bank und 
barbarifhe Bedrüdungen der Bürger hatten den Anfang gemacht; 
dann waren feit der Weihnachtswoche alle Borftädte, alle Vorbörfer 
und alle die herrlichen Landhäuſer an der Alfter nad einer nur acht⸗ 
flündigen Ankündigung niedergebrannt und an zwanzigtauſend Men- 
[hen aus der Stadt geftoßen worden, zuerft die Jungen und Starken 
als gefährlih, dann die Alten und Schwachen als überflüffig; die 
Kinder aus dem Waifenhaufe, die Gebrechlihen aus den Gotteswoh⸗ 
nungen, die Verbrecher aus den Zuchthäufern wurden vor die Thore 
gebraht und ihrem Schidjal überlaffen, und am Nachmittag des 
30. December befahl Davouft, das mit achthundert Kranken und 
Wahnfinnigen gefüllte Krankenhaus zu leeren: am Mittag des andern 
Tages werde e8 in Brand geſteckt werden. 

Während Rotten betrunfener Soldaten mit den Kronfen um 
ihre Habe fämpften, die Umgegend plünderten, die nahe liegenden 
Häufer anzündeten und Scheußlichkeiten aller Art verübten, wurde 
dad Krankenhaus durch die großen Anftrengungen braver Bürger völ- 
lig geräumt; aber die Todesangft in dem wilden Gedränge und die 
ftrenge Kälte des Januar koſtete in den nächſten Tagen faft ſechshun⸗ 
dert der geflüchteten Kranken das Leben. 

Die Nachricht von diefen Greueln machte Perthes und feinen in 
Flottbeck verfammelten Freunden das Blut erftarren, und das Elend, 
welches fie mit eigenen Augen fahen, war nicht geringer. Stunden- 
weit lag die Umgegend wie ein großer, mit Schnee und Eis bebedier 
Schutthaufe da, aus welchem nur einzelned Mauerwerk und balb- 
berbrannte Bäume hervorjtarrten; Weiber und Kinder irrten, nad 
ihrem alten Eigenthum fuchend, in der Zerftörung umber, und noch 


267 


immer wurde Racht für Nacht der Himmel von der Glut brennen- 
der Häufer geröthet. In den Gaffen Altona's, auf den Landſtraßen 
und Dörfern der Umgegend fah man halberfrorene Geftalten umber- 
fhmwanfen, die nach Kleidung, Brot und Obdach in den eifigen Win« 
ternächten verlangten, und auf den Wegen nad) Lübeck und Bremen 
bewegten fi, geführt von SKtofaden, lange Züge von Alten und 
Kranken, von Weibern und Kindern, die in den Schwefterftädten Hilfe 
ſuchen wollten. Du wirft gehört haben von dem Elend diefer Ge 
gend, fhrieb Perthed an Caroline, aber fein Ausdrud reicht auß, 
um es zu bezeichnen, geſehen muß 23 werden. Aller Jammer, den ic 
in den legten dreiviertel Jahren an mir und. andern erlebt habe, ift 
nicht? gegen diefe Gegenwart. - Wie wird fie enden? Möge Gott fie 
abkürzen und uns durch fie hindurch geleiten! — Es geſchah vieles, 
um das unerhörte Elend zu lindern: in Altona, Bremen und Lübeck 
wurden große, befonnene Anftrengungen gemacht; bedeutende Gaben 
liefen au8 der Nähe und Ferne ein; ein Unterſtützungsverein ange 
fehener Hamburger Bürger übte in. Altona umfafjende Wirkjamteit, 
und die Berwaltungscommiffion der fehwedifchen Gelder that, was 
fie thun konnte: aber alle unfere Anftrengungen, äußerte Perihes, 
fönnen nur diefem oder jenem einzelnen fein Elend lindern; zu hel⸗ 
fen ift der Gegenwart nit, möge Gott die Zukunft reiten! Alles, 
was an Kräften in und lebt, müſſen wir zufammennehmen, um bie 
unglüdliche Stadt und ihre Bürger vor einem Untergange zu bes 
wahren, au® dem fein Erftehen möglich. 

Auf Jahre hin fhien Hamburg durch das, was bereit geſchehen 
war, zu Grunde gerichtet, und. wenn die Befreiung der Stadt von 
dem Erfolge der Belagerung abhängig blieb, fo fonnten Davouft und 
feine falten Gehilfen, Präfect Breteuil und Maire Rüder, noch Mo— 
nate hindurch an der Bollendung ihres Werkes arbeiten. Auf ſchnel⸗ 
lerem Wege als auf dem der Eroberung oder Aushungerung mußte 
daher Hamburg, um der gänzlihen Vernichtung zu entgehen, von 
feinen Peinigern befreit werden, und alles fam darauf an, die Ver⸗ 
bündeten zu bewegen, den Abzug Davouſt's aud Hamburg zu einer 
Präliminarbedingung ber erften Waffenſtillſtandes⸗ oder Friedensver⸗ 
bandlungen zu machen, welche fie mit Napoleon anfnüpften: Gin, 


268 





pfindlicher noch als in diefem Berhältniffe trat in den mannigfacdhen 
Verwickelungen des Augenblid® der Webelftand ‚hervor, daß Hamburg, 
obfchon es als eine freie, nur vorübergehend vom Feinde beſetzte Stadt 
betrachtet ward, dennoch der einheimifchen Obrigfeit und der politi» 
fhen Bertretung entbehrte. Die Bürgergarde, welche ſich in der äu- 
Berften Bedrängnis befand, verlangte die nöthigen Gelbmittel, um 
fih von einem Tag zum andern erhalten zu können, General Ben- 
ningfen und der Chef feined Generalftabed wollten Nachricht haben 
über die verfchiedenften Berhältniffe und Zuſtände der von ihnen bes 
lagerten Stadt; Smidt, welcher dem großen Hauptquartier gefolgt 
war, forderte dringend Auskunft über. die Berlufte und Anſprüche 
Hamburgs und über die Handeldaufgaben, welche gelöft werden foll- 
ten. Diele Dinge könnte ich jebt mit ficherer Hoffnung auf guten 
Erfolg geltend machen, fehrieb er damald, wenn ich) genaue Zahlen 
und fonftige Data hätte. Wäre doch Perthes, wie er es wollte, zu 
und zurückgekehrt. Wahrlih, die Hanfeftädte werden die Wichtigkeit 
ded gegenwärtigen Augenblid3 erſt kennen lernen, wenn er vorüber 
if. — In diefen und vielen andern Beziehungen fehlte es an einer 
Behörde, welche die Stadt hätte vertreten und Nede und Antwort 
hätte ftehen können. Das hanfeatifche Directorium hatte unter den 
ganz veränderten Umftänden feine Thätigfeit einftellen zu müſſen ge 
glaubt, und am 5. Januar zeigten Perthed und Sieveling die Auf- 
löfung desfelben den aus Hamburg geflüchteten Gliedern des Senates 
an. Nach der Befreiung zweier Hanfeftädte, heißt es in dem abge- 
ftatteten Bericht, und nachdem fo viele Mitglieder des alten Senats 
von Hamburg und fo viele in Gefchäften mehr als wir bewanderten 
Bürger fih dem franzöfifchen Einfluffe entzogen haben, halten wir 
und nicht länger für befugt, allgemeine Angelegenheiten der Städte 
zu behandeln. Wir haben daher den Senatscommiſſionen in Lübeck 
und Bremen diejenigen Aufflärungen über die Verhältniffe der Hanfe- 
Hädte gegeben, die wir und durch unfere Verbindungen hatten vers 
fhaffen können. In beiden Städten hat man mit Beifall unfere Be- 
mühungen anerfannt. Sept überliefern wir vertrauendvoll den Män- 
nern, die wir ald die natürlichen Häupter Hamburgs zu ehren ge= 
wohnt find, die ganze Sammlung von Auffägen, die für die politis 


269 


Ihe Zukunft diefer Stadt .und für die Wohlfahrt ihrer Angehörigen 
nicht ganz ohne Bedeutung find, und fordern fie auf, diejenigen 
Mapregeln zu treffen, durch welche unfere Stadt in dem Vereine der 
Schwefterftädte eine geeignete Vertretung erhalten könne. — Ein ge- 
meinfamed Auftreten indeilen der außerhalb Hamburgs ſich befinden- 
den Senatöglieder erfolgte niht und war auch für die nächſte Zu- 
funft nicht zu hoffen. 

Den einzelnen Bürgern, welchen das Wohl ihrer Stadt am 
Herzen lag, blieb e8 daher überlafien, zu verfuchen, wie viel fie durch 
ihre Anftrengungen auszurichten vermöchten. Perthes wendete fich 
zunächſt mit der dringenden Bitte an Smidt, nicht abzulaffen. von 
feinen Anftrengungen, Metternich, Hardenberg und Neffeltode zu be- 
fiimmen, daß fie den Abzug der Franzoſen aus Hamburg zu einer 
der Borbedingungen aller Berhandlungen mit Napoleon machten. 
Zugleich nahm Perthes zu demjelben Zwecke die Verwendung de? Her- 
3098 von Oldenburg, deifen perfönliches Wohlmollen er genoß, in 
Anfpruh, indem er denfelben um feine Fürfprache bei dem Kaifer 
Alerander erfuchte. Wie eine von Gott gefendete Retterin, fchrieb er 
dem Herzog, erfcheint eben jetzt die durch ein geliebted Fürſtenhaus 
für Deutfchland gewonnene Fürftin in unfern Gegenden. Ein Wort 
bei dem faiferlihen Bruder, und viele TZaufende find vom Elend und 
vom Sammertode errettet. — Der Herzog will Ihnen felbft antiwor- 
ten, entgegnete hierauf. Zehender ; vorläufig aber foll ih Sie benady- 
richtigen, daß wahrfcheinlich fchon in den nächſten Tagen ein Courier 
an den Kaifer abgeht, welcher ein gut Wort für das unglüdliche 
Hamburg mitnehmen wird. 

Die drüdende Noth der Bürgergarde fuchte Perthes durch Schritte 
die er bei Benningfen und in London that, zu erleichtern, aber ver- 
gebens; nun brachte er in Form einer Anleihe bei wohldentenden 
Männern namhafte Summen zufamınen, durch mwelchE wenigftend für 
Unterhalt und Kleidung einige Hilfe möglich ward. Die Stadt werde, 
fagte er in feiner Aufforderung, diefe Schuld fünftig ‚gewiß erfennen 
und fie ala Ehrenſchuld vor jeder anderen abtragen. — Für Smibt 
fertigte Perthes mit unfäglicher Mühe eine Zufammenftellung der Ver- 
luſte an, welche Hamburg durch die Franzofen erlitten hatte, und 


270 


unabläffig war er bemüht, dem Hauptquartier des Generals Ben- 
ningfen Männer zuzuführen, welche die nöthigen Nachmeifungen ge- 
ben fonnten. | 

Die zum großen Theil noch erhaltenen Briefe aus jener Zeit ge- 
ben ein Bild von ber faft unglaublichen Maſſe von Anforderungen, 
‚welche an Perthed während feines Aufenthaltes in Flottbeck aus der 
Nähe und Ferne in Meinen und in großen Dingen gemacht wurden. 
Das Hauptquartier der Ruflen und das des Kronpringen, die leiten» 
den Männer in Lübeck und in Bremen, Unglüdfide aller Art und 
Männer aller Parteien wendeten fih an ihn, um Auskunft, Rath 
und Unterftüßung zu erhalten oder um ihre Abfichten mit feiner Hilfe 
durchzuführen. Perthes bekleidete fein Amt und hatte feinen Rang, 
und dennoch war ed, wie wenn er im Mittelpunfte der Gefchäfte 
ftände, welche fih auf dad Schidjal Hamburgs in diefen Wochen 
bezogen. 


— — —— — — 


Die Zeit vor der Rückkehr nach Hamburg und die Ansfichten 
für die Zuknnft. 
Januar bis Mai 1814. 





Perthes hatte bie legten Tage in Flottbeck trübe und niederge- 
drüdt durch Arbeit und Sorge zugebradht. Keinen Brief, fein Wort 
von Dir, meine geliebte Caroline, hatte er am 17. Januar geſchrie⸗ 
ben; wie ift died möglih? Ich fühle mich fehr unglüdlich bier und 
fhmachte nad Dir und den Kindern, aber ich darf nicht fort, da die 
Rettung einer großen Sache von meiner Gegenwart abhängen fann. 
Seit unferem Fortgang von Hamburg iſt mir fein unglüdlicherer Zu- 
ftand geworden als biefer, und nun auch feine Nachricht von Euch. 
Es ift gewiß ein großes Unglüd gefchehen: mein Bernhard lebt doch 
noh? Er war frant, als ich fortging. — Dad Kind, ein Knabe 
von ungewöhnlicher Schönheit und ungemöhnlichem Leben, lebte zwar 
noch, als Perthes diefe Zeilen fchrieb, aber e8 rang ſchon mit dem 
Tode und zwei Tage fpäter, am 19. Januar, nahm Gott es zu fich. 


271 


Mein lieber Perthes, ſchrieb Caroline unmittelbar nach dem Tode des 
Kindes, was ih gefürchtet, ift wahr geworden: unfer lieber Bern- 
hard ift recht franf, und obgleich der Arzt mir noch geftern Abend 
verficherte, daß er ihn nicht für gefährlich halte, fo bin ich Doch voll 
Angft und Sorgen und fürchte alles. Ich wünfchte unausſprechlich 
um Deinet» und meinetwillen, daß Du bier wärft. Er leidet freund« 
lich wie ein Engel und er ift mein Engel in Ewigkeit. Gott ftehe 
und bei mit feiner Kraft! Was foll ich e8 Dir verhehlen? — unfer En- 
gel ift bei Gott; diefen Morgen um halb zehn Uhr ift er geftorben. 
Er fieht wunderbar ſchön aus, und ih bitte Di, komme fo ſchnell 
wie möglich, damit Du feine liebe Leiche noch einmal fiehft, ehe fie 
fi verändert. — Perthes hatte bei der Unterbrechung ded Poſten⸗ 
laufes weder dieſen Brief noch die früheren Nachrichten von der Krank. 
heit des Kindes erhalten und trat am 21. Januar wohlgemuth mit 
der Frage in Carolinens Zimmer: Sind alle wohl? Ich mußte mei- 
nen armen Perthes zur Leiche des lieben Kindes führen, ſchtieb Ca⸗ 
roline ihrer Schwefter, er wurde heftig in feinem Schmerze, und die 
Sorge um ihn brachte mich über die ſchrecklichen Tage fort. 
Wenige Stunden nad feiner Ankunft in Kiel erhielt Perthes die 
Aufforderung , fogleich nad) Pinneberg in das ruffifche Hauptquar⸗ 
tier zu gehen, um im Namen des Ktronprinzen die. weiteren Echritte 
zu verabreden, durch welche die Roth der vertriebenen Hamburger ge 
mildert und vielleicht die gutwillige Uebergabe der Stadt befchleunigt 
werden könnte. Wenn Du in diefer Zeit und in ſolchen Berhältnifien 
gerufen wirft, jagte ihm Caroline, fo mußt Du folgen. Perthes 
aber fühlte fi körperlich unfähig zu gehen. Catolinens Heldenmuth 
war größer, fchried er, ala meine Kraft. Nicht früher als am 27. 
Januar vermochte er ed, fi vom Haufe zu trennen. Durch meine 
fpätere Ankunft ift, Gottlob, nichts verfäumt worden, fchrieb er von 
Pinneberg aus an Caroline; fonft aber fieht ed mit dem Menſchen⸗ 
jammer ebenfo aus, wie dor acht Tagen, und zu dem Alten kommt noch 
Neues hinzu. Sei ſtark, meine Geliebte — möge Gott und nicht weiter 
srüfen — wir halten ja ftille! — Worte habe ih mit Dir nicht weiter 
gu maden — für die Ewigkeit verftehen wir und auch ohne Worte. 


272 


Gott füge Dich und meine geliebten Kinder und halte und die in 
Liebe, welche ruhen. 

Das Elend, welchem Perthed auf jedem Schritte begegnete, er⸗ 
laubte ihm nicht, dem eigenen Schmerze nachzuhängen. Alle feine 
Kräfte nahm er zufammen, um Einheit in die Anftrengungen zu brin- 
gen, welche vom Kronprinzen von Schweden und von den Städten 
Altona, Lübeck und Bremen zur Rettung der Vertriebenen, deren Zahl 
zwifchen zwanzig und dreißig TZaufend betrug, gemacht wurden. Große 
Sammlungen find in den bedeutendften Städten Europa's für die 
Unglüdlichen angeftellt, berichtete er dem General Oppermann, aber 
die eingelaufenen Gaben befinden fih in den Händen von vielleicht 
hundert Privatperfonen, und wir erfahren oft nur durch die fünfte, 
fechöte Hand, daß hier oder da Geld für und vorhanden fei. Des⸗ 
halb habe ich den Plan zu einer Gentralunterftügungebehörde entwor- 
fen, der in den verſchiedenen Orten bereit? genehmigt if. — Der 
Gentralverein trat bald ind Leben und übte unter dem Borfige de? 
tätigen und fräftigen Senatord Abendroth eine Wirkſamkeit, die 
vielen Unglüdlichen Rettung aus der äußerſten Roth gemährte. Per⸗ 
the felbft war, um dem eigentlichen Sige der Noth möglichft nahe 
zu fein, auf van der Smiſſen's Mühle an der fogenannten Teufeld- 
brüde in Slottbed einquartiert und mußte, da die Ruffen am 9. Ye 
bruar in derfelben Mühle ein fliegended Lazareth zur Anlegung ded 
erften Verbandes errichteten, feine Arbeiten unter dem Gejammer der 
Verwundeten und Sterbenden vornehmen. 

Meinen Brief vom 7. Februar, Deinem vierzigften Jahrestag, 
Du meine noch immer jugendliche Braut, wirft Du erhalten haben, 
jchrieb Perthes von hier aus an Caroline; wie gerne wäre ich in Deine 
Arme geeilt und hätte Dich and Herz gedrüdt! Sei getroft, meine 
geliebte Caroline: was fich liebt und recht liebt, das lebt; unfere ge- 
liebten Entjchlafenen find gewiß durch irgend einen Zufammenbang 
der Liebe an und gebunden. Hier geht e3 feit diefer Nacht drei Uhr 
ehr, fehr ernfthaft ber. Auf der Wilhelmsburg, in Neuhof, in Har- 
burg werden die Franzoſen von allen Seiten angegriffen, und man- 
cher der Unfrigen ift fhon verwundet gebracht. Ein fehr braver jun⸗ 
ger Mann, Boltmann, wird heute noch fterben; er ging geftern fo 


273 


heiter ab, fein Vater, ein wackerer Handwerksmann, hatte grade Die- 
jed Sohnes? wegen aus Hamburg flüchten müften und fteht nun hier 
tief betrübt, doch fügt ihn die Ehre, daß fein Sohn fo fich opferte. 
Neben mir liegt ein ruffifher Gapitän, ein alter Mann über fünfzig 
Jahre; er ſchrie, ald ihm die Kugel heraudgefchnitten wurde, daß das 
Haus erbebte. Unter Blut, Aechzen, Stöhnen ſitze ich nun unter 
Sterbenden; aber ich hoffe zu Gott, die Sache führt zu einer Ent» 
fheidung. Da kommen wieder: drei Wagen mit Berwundeten, und 
es ift fein Pläplein mehr im Haufe, neun Todte liegen ſchon der 
Reihe nach vor meiner Thür im Schnee. Wärft Du doch bier, um 
helfen und pflegen zu können, es ift wunderbar zu jehen: diefe wil- 
den Menſchen nun fo ftill und zahm. | 
Das Elend der Vertriebenen und der Sammer der Berwundeten 
in feiner unmittelbaren Nähe erfüllten Perthes, deffen Gemüth durch 
den Berluft des Kindes in anderer Weife noch als durch die Schreden 
der großen Zeit wund und weich geworden war, mit einem Grauen 
und einem Entfegen, wie er es früher nie gefannt hatte. Zugleich 
mußte er auf den durch tiefen Schneefall unwegfamen Straßen feinem 
Körper felbit dann noch maßlofe Anftrengungen zumuthen, als er 
durch einen unglüdlichen Sturz aus dem Wagen fich eine gefährliche 
Berlegung am Fuße zugezogen hatte. Ringsum führte ein bösartiges 
Nervenfieber dag Regiment, und den Keim desfelben trug Perthes mit 
fh, als er am 16. Februar Flottbed verließ, um im Hauptquartier 
und- in Lübeck einige Einrichtungen zur Unterftügung der Vertriebenen 
zum Abſchluß zu bringen. Wenn ich fomme und etwas hinfe, fo er- 
ſchrick nicht, „fchrieb er von hier aus an Garoline; ich bin vom Wagen 
gefallen und habe eine Flechfe gequetfcht; ein paar Tage weiter und. 
ed wird wieder gut fein. — Am 19. Februar langte Perthes in 
Kiel an. und nun fand. fi, daß das Bein gebrochen war. Ich hoffe, 
mein künftiger Lebensbeſchreiber wirds erzählen, fehrieb er noch ſcher⸗ 
zend an Sievefing, daß ich fait vierzehn Tage auf einem gebrochenen 
Beine umbergeftiegen und auf Nequifitiondfarren an zwanzig Meilen 
umbergefahren bin. — Neun lange Wochen war Perthed nun an 
das Bett gebunden und ein gewaltſamer Ausbruch des Nervenfieberd 
brachte ihn während der eriten Zeit feined Krankenlagers in große Ge- 
Perthes' Eben 3. 4. Aufl. 18 


274 


fahr. Bald aber trug feine gute Natur den Sieg davon und er hatte 
nur von der Qual des Stilliegend zu leiden. Hier habe ich nun 
nad manden Irrfahrten feft vor Anker gehen müſſen, fehrieb er an 
Beſſer. Es ift hart, fo ein Schickſal in dieſem Augenblid! Hätte mans 
noch von einer Kugel, fo ließ man ſichs gefallen. — Seinen guten 
Muth indeffen verlor Perthed auch jest nicht. Mein lieber Perthes 
bat fi im Liegen und Leiden wie im Kahren und Handeln bewährt, 
ſchrieb Caroline; während feine? langen Kranfenlagers ift er feinen 
Augenblid ungeduldig oder verdrieplich geweſen. Sch freute mich, daß 
er bei und war und ich ihn hegen und pflegen konnte; die Kinder 
waren alle gefund und wir waren fo vergnügt, wie wir e8 fein konn⸗ 
ten. — Un geiftigen Anregungen fehlte e8 für Perthes, fobald die 
erfte Kraft der Krankheit gebrochen war, nicht. Reinhold, Graf Adam 
Moltke, Hegewiſch, die beiden Grafen Reventlow, Dahlmann, Pfaff, 
Graf Chriftian Stolberg, die Hamburger Ferdinand Schwarz, Jakob 
Dppenheimer, Anton Schröder, ferner Rift und der alte Schönborn 
brachten manche belebte Stunde mit ihm zu. Brieflich und mündlich 
berieth er mit Beſſer, deffen Liebe und Treue ihm in diefer wie in je- 
der andern Lebenslage Troft und Halt gewährte, die Mittel und Wege 
zur Wiedereröffnung ihres Gefchäftes, und eifrig gab er fich der lang 
entbehrten Freude des Leſens bin. In Pütter's Entwidelung der 
deutfhen Reichsverfaſſung, in Friedrich Schlegel’3 Borlefungen und 
Lacretelle's Geſchichte Frankreichs fuchte er nach den Gründen, welche 
die Ereignifje der Gegenwart möglich gemacht hätten; die zahltofen 
Flugfchriften des Tages hatten auch ihr gutes Recht, und auf Nean- 
der's heiligen Bernhard wurde er Durch Nicolovius hingewiefen. So⸗ 
bald Sie fönnen, fehrieb diefer ihm, müſſen Sie Neander's heiligen 
Bernhard lefen: Sie werden erftaunen über Neander's Reichthum an 
innern Erfahrungen und über die ihm aufgehenden Blicke. Friedrich 
Leopold Stolberg bat mir mit dem gröpten Feuer darüber geſchrie⸗ 
ben und fragte mich, ob der Mann noch mehr leiften könne oder ſchon 
alt ſei. Sein Beifall auf der hieſigen Univerfität ift groß und fein 
Einflug muß fhön werden. Es ift rührend, mit welcher Einfalt ex 
die erhabenften Anfichten und Refultate feiner Studien vorträgt. — 
Mehr indeilen als durch irgend em anderes Wert wurde Perthes j 


275 


aufs neue durch Goethe’? Wahrheit und Dichtung gefeffelt. Wie die 
Bibel dad Buch des Leben? in Gott ift, möchte ich, fchrieb er da⸗ 
mals, Goethe's Wahrheit und Dichtung das Buch des Lebend in der 
Melt nennen. — Alle übrigen ntereffen aber wurden freilich. Durch 
die gewaltige Gegenwart in den Hintergrund gedrängt. In zahl« 
lofen, nach allen Seiten hin gerichteten Briefen fuchte Perthes Einheit, 
Ordnung und Ausdauer in die Maßregeln zur Unterftüsung der Ver⸗ 
triebenen zu bringen, und aud vom Krankenlager aus ift fein Bes 
muͤhen nicht vergeblich geweſen. | 
Die Berhandlungen zu Chatillon, die neuen Siege Napoleon’s, 
das Bordringen der Verbündeten, ihr Einzug in Paris wurden ihm, 
noch bevor er das Zimmer verlaffen durfte, befannt und manches be- 
geifterte Wort der Hoffnung für die Zukunft fand nach dem entlege 
nen Kiel feinen Weg. Ja wir leben unter Gotted Wunder, ſchrieb 
Nicolovius in einem Briefe, den die Gräfin Luife Stolberg Perthes 
mittheilte. Was wir unfern Kindern mit fummervollem Herzen 
wünfchten, aber niemals zuzufidern wagten, dad haben mir felbit 
noch erlebt. Und diefe wunderfchöne Morgenröthe, welch einen Tag 
verheißt fie! in Gefchlecht, das fo fish erhob, wird nicht wieder fin« 
fen, fondern von Kraft zu Kraft in Ehren wandeln. Ja ich hoffe, 
wie im neuen Serufalem wird fortan Gott felbft unjere Sonne und 
die Quelle alles vollen echten Lebens fein; denn Bolf, Heer und Her 
fcher haben ihn erkannt und fi vor ihm gebeugt. Und was füm« 
mern mic) die Minifter , die doch nur nad) eitler Ehre geizig find und 
Bald nad) dem herrſchenden Geiſte jich drehen und wenden werden. — 
Am 9. April endlich erhielt Perthes die Erlaubnis, von feinem lan- 
gen Aranfenlager aufzuftehen. ch habe, fchrieb er an Mar Jacobi, 
die Geduldsprüfung des Liegend fo ziemlich mit Ruhe und Heiterfeit 
ausgehalten. Immer hat mich wieder die große Zeit geftärkt, in wel⸗ 
her die Wahrheit fiegend wieder Freiheit, Ordnung und Liebe unter 
die Menfchen bringt. Gott ift und nahe und jeder fühlt, wie er mehr . 
gethan hat, ald er ſelbſt fich zugetraut hätte. Kein Saul ragt, Bott 
fei Dank, über dad Bolf hervor, dem man alles zu verdanken hätte, 
und fo fommt feine Abgötterei und der Dienft Gottes kann rein und 
herrlich daftehen. Laſſen wir die unglüdieligen Menfchen, die auch 
18 * 


276 
jest zur lauten Freude und zum Jubel, das heißt zum Lobe Gotted . 
nicht kommen Tönnen, laffen wir fie in der Berfnöcherung und Ver⸗ 
fleinerung einer untergegangenen Zeit und halten und an der Jugend 
des aufgehenden Frühlings. 

Am 19. April verließ Perthed mit feiner ganzen Familie Kiel 
und traf am 20. April in Blantenefe, einem Fifcherdorfe drei Stun- 
den unterhalb Hamburg, ein, wo er bis zum Abzug der Franzoſen 
aus Hamburg zu bleiben ſich entfchloifen hatte. | 

Wir find, fehrieb Perthed von hier aus an Rift, am 20. Abends 
bei guter Zeit hier angefommen,, groß und Hein gefund und munter. 
Wir können von Glüd fagen, daß wir die Reife in den ſchoͤnen Tagen 
machten; heute liegt es draußen voll Schnee und- ich fehreibe mit er- 
ftarrten Fingern. Als wir in Pinneberg anlangten, war eben der 
Fürft Galligin mit der Depefche aus Paris nad) dem Marfchall Da- 
vouft abgegangen und alle meinten, nun würde fogleih capituliert 
werden: die Männer nahmen den Hut, die Frauen die Handſchuhe, 
un nad) Hamburg hinein zu ſpazieren. Mir ſchien das nicht wahr. 
fcheinlih, und jeßt, nachdem ich den Inhalt der Depefche erfahren - 
habe, die nichts enthält ala eine Auffordetung, ſich der Parifer Regie 
rung anzufchliepen, bin ich gewiß, dag Davouft fih zwar unterwerfen, 
aber die Uebergabe der Stadt, fo lange er kann, verzögern wird, um 
an Silber und Silberwerth fo viel als möglich einzuziehen und. dad 
Eingezogene zu verwechleln , zu verfteden und zu verichleppen. 

So ungewiß indeflen der Tag der Befreiung Hamburg? aud ers 
ſchien, fo gewiß war e3, daß derfelbe innerhalb einiger Monate er- 
folgen müffe, und mit diefer Gewißheit traten zugleich alle Durch die 
Noth des Augenblicks zurüdgedrängten Hoffnungen und Befürdtun- 
gen für die fünftige politifche Geftaltung der Stadt aufs neue hervor. 
Es ftand nun feft, daß Hamburg, um der Gewaltherrſchaft entledigt 
zu werden, feiner eignen außerordentlichen Anftrengungen weiter be» 
durfte, und immer lauter fonnte die Partei ihre Stimmen erheben, 
welche fchon feit dem März 1813 jedes entfchloffene Auftreten der 
Bürger ald ein Unglüd für die Stadt betrachtet hatte. Heftig griff 
fie alle an, welche bei dem Herammahen der Ruffen nur in der allge 
meinen Erhebung der Bürger Rettung zu finden geglaubt. hatten; 


217 


heftig wies fie jeden Verſuch zuräd, der eine Aenderung in den alten 
veichaftädtifchen Verfaſſungsformen bezweckte. Weber jugendlich leb⸗ 
hafte Köpfe hörte man Flagen und über Schwärmer mit Ideen und 
PBrojecten zu leichtfinnigen Neuerungen, über eitele Menfchen, die ſich 
ala Schöpfer einer neuen Berfaffung bewundern laffen wollten, über 
Intriganten, die fi) ein bequemes Leben zu fhaffen fuchten und hoher 
Protection fih rühmten. Nicht ohne tiefen Unwillen hörte Perthes 
“bald hier bald da diefe und ähnliche Meußerungen laut werden. Was. 
wir gethban haben, äußerte er damals, mußten wir thun; denn überall 
mußte erft der Glaube an die Unüberwindlichkeit Napoleon’d gebro- 
hen.und der zitternde Dienft vor diefem Götzen befeitigt werden; 
überall mußten die Regierungen erft wieder Zutrauen zu ihrem eige- 
nen Willen und ihrer eigenen Kraft erhalten, und dieſes Zutrauen 
fonnte ihnen nur durch das muthige Auftreten des Volke gegeben 
werden. Wie die andern Deutfchen find auch die Hamburger aufge- 
ftanden, und ohne foldhed allgemeine Aufftehen war für Deutfchland 
feine Rettung möglid. Nun iſt Deutſchland gerettet und Deutfch- 
land wird Hamburg auf Jahrhunderte hin die Freiheit gewähren, 
welche fein Privateigennup und feine Magiſtratsvorſicht und hätte er- 
werben können. — Wo find die Schwärmer, fehrieb er ein anderes⸗ 
mal, wo find die Intriganten, wie heißen fie? Seid doch nicht zu 
feige, ihre Namen zu nennen. Sch will Eu zwar mit Bornamen und 
Zunamen die Männer von vorgerüdten Jahren bezeichnen, welche ver- 
möge der Befchränttheit ihrer Anfichten mit ſolchem bornierten Eigen: 
finn auf vorgefapte Meinungen beitehen, daß ihre leidenfchaftliche Hige 
weit hinaus über den Eifer aller Enthufiaften reicht; ich will Euch 
auch die jüngeren Männer namentlich bezeichnen, die nur ihrem Pri⸗ 
vatvortheil nachgehen und ſich nicht um das allgemeine Wohl beküm⸗ 
mern; ich will Euch die Jungen und Alten nennen, die alles, was 
andere thun, bekritteln, beräſonnieren und verklatſchen und, während 
ſie ſelbſt die Hände in den Schoß legen, auf Patrioten den Schein 
voreiliger und eigennuütziger Thaͤtigkeit werfen. 

Perthes hatte die feſte Ueberzeugung bewahrt, daß Hamburg nur 
dann ſich wieder erheben könne, wenn in dem Senate wie in der 
Buͤrgerſchaft eine kraͤftige und entſchloſſene politiſche Bewegung mög- 


278 


lich geworden fei. Zwar hielt er die frühere Berfaffung als Ganzes 
für ein beiwunderndwürdiged Meiſterſtück und glaubte nicht, daß fie 
einem neuern frifcheren Leben Hinderniffe entgegenfegen werde, aber 
in einzelnen Beziehungen ſchien ihm eine Fortbildung derfelben drin- 
gendes Bedürfnid. Er wuͤnſchte Gleichftellung der drei chriftlichen 
Gonfeffionen, freie, nicht, wie nach bisherigem Gebrauch, auf die aͤl⸗ 
teften Mitglieder des Sechzigercollegiumd befchräntte Wahl der Ober: 
alten, Berftärfung und Belebung der erbgefeifenen Bürgerfchaft durch 
Hinzutritt mehrerer Deputationen der Hunderte, der wiſſenſchaftlich 
Gebildeten, der Juden u. |. w., und endlich Feſtſtellung des Rechtes 
für die Bürgerfchaft, den Senat zur Vorlegung beftimmter Geſetzes⸗ 
entwürfe zu nöthigen. Viel umfallender ald in der Verfaſſung muß» 
ten nach feiner Anficht die Aenderungen in der Verwaltung fein, die 
in ihrer Geſamtheit einer Anfrifhung, Anpafjung und Umänderung 
bedürftig fei. Der Unthätigfeit der Mitglieder des früheren Senates 
gegenüber fchien e8 nicht fehwierig und, da die Stadt damals weder 
rehtmäßige Obrigkeit noch Verfaſſung beſaß, auch der Form nad 
‚nicht widerrechtlich, die vielen ältern und jüngern Männer, welche 
feine unbedingte Herftellung des Alten wollten, zu vereinigen, um 
durch ein gemeinfames fräftiged Auftreten die Zuftimmung der ver- 
bündeten Mächte und die Nachgiebigkeit der einheimifchen Gegenpartei 
zu erlangen. 

Manche fahen in Perthes den Mann, der eine folhe Vereinigung 
zu Stande bringen fönne und mülle. Perthes aber war befonnen 
genug, um zu willen, daß feine Lebendftellung ihm nicht geftatte, Auf- 
forderungen, wie fie damald an ihn gerichtet wurden, Folge zu lei- 
ften. Sie machen zu viel aus mir, fehrieb er. Wenn die Verhält- 
niffe e8 verlangten, bin ich gewiß nie aus dem Wege gegangen; oft 
habe ich mit nur zu großer Lebhaftigkeit zugegriffen: aber nun mid 
unberufen aufjumerfen, das thut nicht gut und geht auch nicht. Wohl 
weiß ih, womit Gotted Gnade mi auögeftattet hat, und preife und 
danke ihm dafür; aber um in einem fo bedeutenden Verhältnis aufzu- 
treten, muß man nicht allein Durch angeborene Anlagen, fondern auch 
durch den ganzen Gang ſeines Lebens den Ruf erhalten haben. Das 
aber ift bei mir nicht der all: mir fehlt willenfchaftlidhe Bildung 


279 


und Erfahrung und Uebung im politiihen Geſchaͤftsgang; beides 
läßt ſich nicht aus der Taſche fpielen, Alles Revolutionäre aber muß 
vermieden werben und auf die Gewalt der Fürften möchte ich mich 
in feinem alle flüben. 

Auch abgeſehen von der Erkenntnis feiner eignen Stellung war 
es Perthes mehr ald zweifelhaft geworben, ob nicht ein offner Partei- 
kampf im Innern der Stadt in diefem Augenblid größere Gefahren 
als die. in der Wiedereinführung alter abgeitorbener Einrichtungen 
liegenden hervorrufen werde. Aus dem großen Hauptquartier der 
Verbündeten mahnte eine warnende Stimme eindringlich von jedem 
innern. Zwiefpalt ab. Die Hanfeftädte können noch jept Darüber zu 
Grunde gehen, fhrieb Smidt, wenn fie e8 nicht verftehen, die Noth⸗ 
wendigfeit fremder Einmiſchung außzufchliegen. Den Verbündeten ge- 
genüber darf jede Stadt nur als ein einziger politifcher Körper, nie 
als getheilt in Parteien erfcheinen, von denen jede ein Berfchiedenes 
begehrt ; denn die Diinifter bier fagen ganz richtig: Wer in gegenmwär- 
tiger Zeit und nöthigt, und in feine inmern Angelegenheiten zu mis 
fhen und Friede und Ruhe in feinem Haufe zu ftiften, der muß, da- 
mit er die Erreichung ded einen großen Yield nicht ftöre, unter Vor⸗ 
mundfchaft gefeßt werden. So ift ed den Schweizern gegangen. er 
der Canton und faft aus jedem Canton jede Partei hatte Abgeord- 
nete geſchickt, und weil des Lärmens und Anfuchend fein Ende ward, 
hat man endlich, Lebzeltern und Capo d’Iftria nach Zürich geichidt, 
um die Saden in Ordnung zu bringen. Die Hanfeflädte genießen 
Dagegen bis jest noch die vollfte Achtung, und diefe muß uns erhal- 
ten bleiben, koſte e8 auch was ed fofte. Kein Wunſch, fein Anſpruch 
kann fo wichtig fein, daß er irgend eine Partei bererhtigte, die Einig- 
feit der Stadt den Verbündeten als geſtört erfcheinen zu lafien. Alle 
mäflen Mäßigung beobachten und jept nicht? übereilen oder etwas 
ungeitig durchſetzen wollen; dann wird alled gut gehen. Gibt ed Ge- 
genftände, über die man fich nieht einigen Tann, fp fege man fie aus 
oder wähle Schiedsrichter aus den Beiten und Einſichtsvollſten der eig- 
nen Stadt oder im äußerſten Notbfall einer andern Hanfeftadt. Zu 
etwas weiterem aber darf es in feiner. Weife fommen. 

Dem Gewichte dieſer Gründe ließ fich wenig entgegenjegen und 


‚280 


jeder Berfuch, Umgeftaltungen der ftädtifchen Verhältniffe durch Ver⸗ 
mittelung der Verbündeten oder der fremden Generale hervorzurufen, 


ward gänzlich aufgegeben. Um fo bewegter aber und heftiger wur⸗ 


den die Kämpfe, welche unter den Hamburgern, deren Zahl fidh. in 
Altona und deffen Umgegend täglich mehrte, geführt wurden. 

Ad, lieber Perthes, fchrieb ihm em Freund, wenn Gott nicht 
alles noch anders fügt, ald wir es denken, jo wird die Zukunft Ham⸗ 
burg® trübe fein; denn bald werden nun die Menichen, deren be= 
fehränfte Armfeligfeit vor einem Jahre die freudige Erhebung ftörte, 
aufs neue wieder die alten Zügel mit ungewiffer Hand ergreifen und 
jede Hoffnung vernichten, daß diefe große Zeit auch unfer Gemein- 
weſen durchdringe und befeele. Ich will ja wahrlich fein neue? Haus; 
aber im alten Haus will ich einen neuen Geiſt. Nun aber treten 
unfere Berfafiungdaltflieler auf und wollen ohne neuen Geift es treis 
ben, wie es vordem träge und traurig getrieben worden if. — — Mas 
hen Sie fi) nur feine Sorgen, heißt e8 dagegen in einem Briefe, 
den Perthed von einem Bertheidiger der Gegenfeite erhielt; wenn wir 
nur erft unfer Samburg wieder haben; fo wird fehon alled gehen, mas 
unfere eitelen Schwärmer nicht zu Grunde richten. Die unverjtändi- 
gen Menſchen follen ja jest, wie ich höre, an einer neuen Eonftitu- 
tion arbeiten. Nun ich denfe, wir laffen fie arbeiten, vielleicht finden 
fih unter dem Wuſt einige gute Ideen, die man brauchen fann. Aber 
daß nur feine Factionen gebildet werden, mein verehrter Herr Pertheg, 
um Gottes willen Feine Yactionen! Was wollen denn nur diefe tollen 
Leute? und noch unglüdlicher machen, ald wir fehon find, und felbft 
eine große Rolle fpielen? Aber fie werden in der Gefchichte jämmer⸗ 
lich paradieren; denn darüber ift Doch wohl fein Zweifel, daß wir 
erniteren, gefeßteren Männer es find, welche allein von den Mächten 
unterftügt werden Fönnen. Aber wer will, wer kann folche Unter- 
flügung von außen wünfchen? Darum’fuchen Sie, mein lieber Herr 
Perthes, wenn Sie irgend etwas über diefe Menſchen vermögen, ihrer 
verkehrten Thätigfeit Meifter zu werden; die Leute find in jeder Hin- 
fit, fo wenig diefelben felbft e® glauben mögen, zum praftifchen 
Leben verdorben und haben durchaus feinen Tact dafür. Es laſſen 


281 


ſich nun einmal die Menſchen und die Sachen in der Wirklichkeit nicht 
fo behandeln, wie in einem Roman. 

"Immer fehroffer traten ſich die Ueberzeugungen gegenüber, im- 
mer vermorrener brauften die Meinungen durcheinander. Wie in als 
len Zeiten großer politifcher Entfcheidungen trat auch damals die zähe 
Selbftfucht derer, die conferviert, und die gierige Selbftfucht derer, die 
neu eingeführt willen wollten, was gerade ihnen für ihre Perfon gut 
that, laut fich geltend machend hervor und ließ die Männer, welche 
weniger ſich als das politifche-Ganze, dem fie angehörten, wollten, 
faft wie nicht vorhanden erfcheinen. Es war ſchwer, fich zu entſchei⸗ 
den, ob man den Kämpfenden der einen oder der andern Seite fich 
anfchliegen wollte. Es offenbaren fich fo viele gemeine Gefinnungen, 
fchrieb Perthes am 10. Mai an Billerd, und durch die lange Verzö⸗ 
gerung der Räumung Hamburg erhigen fi die Gemüther fo fehr, 
daß ich für rathfam ‚halte, dem Gedränge erft etwas zujufehen, bid 
man flar wird, wo der Weg zum Beſſeren und Kräftigeren ſich ebnet. 
Noch ift mir ed nicht entfchieden: foll man mit wohlgefinnter, wacke⸗ 
rer, feiter Obrigkeit zur Schlichtung unruhigen, unbeftimmten Volkes 
binarbeiten, oder foll man da8 Streben und Drängen der Bürger 
aller Claſſen, alte Lahmbeit und Feigheit aus den Behörden zu fegen, 
unterftügen? Die Zeit wirds lehren. 

Während die an fich ſchon kleinen Berhältniffe der einzelnen Stadt 
nun durch das widrige Gezerre felbftfüchtiger Leidenfchaften auch klein⸗ 
lid) geworden waren, trat die Größe und die Großartigkeit der Beger 
benbeiten, in denen die Entfcheidung für Deutſchlands Zukunft lag, 
mit wachfender Stärke hervor. Zunächſt wurde der Unterſchied zwi⸗ 
fchen den Lebendregungen innerhalb eines Theiled der Bürgerſchaft 
Hamburgs und der gewaltigen Erhebung Preußens feharf und fchnei« 
dend durch Niebuhr vor Perthes' Augen geftellt. Niebuhr war feinem 
gefamten Lebensgange nach nur wenig zugänglich für eine allge 
mein deutfche Begeifterung, und von der Größe, die fih in Preußen 
offenbarte, fo erfüllt, daß ihm der rechte Maßſtab für das, was au- 
Berhalb Preußen geſchah, fehlte. Er mußte fih daher durch die 
Stimmung, in welcher Berthes fih befand, unangenehm berührt und 
zurüdgeftoßen fühlen; denn Perthes hatte Auge und Herz ausfchließ- 


282 


lich Deutfchland zugewendet und glaubte in Preußen eine Richtung 
zu erfennen, welche, weil fie nur Preußen wolle, Deutſchland gefähr- 
den müfle. Zugleich erfchienen ihm die Verhältnifie, in denen er felbft 
fich bewegt hatte umd in denen er felbft eine treibende Kraft geweſen 
war, ungeachtet des großen Unterfchiedes in Rückſicht auf ihre eingrei- 
fende Bedeutung, dennoch ihrem innern Wefen nach gleichartig mit 
dem Größten, was in Preußen gefchehen war. Perthes hatte wäh—⸗ 
rend feined Aufenthaltd in Bremen, als ed darauf ankam, die dor« 
tigen jungen Männer für die hanfeatifche Legion zu gewinnen, einen 
Aufſatz, der die Opfer und Thaten Hamburgs und feiner Legion in 
einem mehr der aufgeregten Stimmung des Schreiberd wie der Wirk- 
lichkeit angehörenden Glanze erfcheinen ließ, gefchrieben und denfelben 
auch dem unter Niebuhr'd Leitung ftehenden preußifchen Correfpon- 
denten eingefendet. Um diefelbe Zeit erhob er in einem Briefe. an 
Niebuhr die Herrlichkeit des Beifpield, welches Hamburg gegeben habe, 
in Ausdrüden, die nichts weniger ald genau abgemefjen waren, und 
ſprach die Meinung aus, dag der Stadt, welche für alle ſich geopfert 
babe, auch von allen geholfen werden müffe. Riebuhr war gereist 
und erklärte im preußifchen Eorrefpondenten mit feiner Namendunter- 
ſchrift, wie die Hamburger Infurrection, deren trübfeliges Ende aus 
ihrem Anfang und Fortgang unvermeidlich gefolgt fei, mit dem tie- 
fen Ernft der preußifchen Anftrengungen nicht verglichen werden dürfe; 
denn wenn Hamburg geleiftet, was Berlin gethan habe, fo hätte es 
fih durch eigene Kraft ohne alle fremde Hilfe behaupten Tönnen. 

Wie ich Sie anſehe, fchrieb er an Perthed, Sie, der Sie fich be- 
währt haben, wie Ihre Freunde ed erwarteten, habe ich nicht nöthig 
zu erflären; aber dem Hiftorifer muß man nicht zumuthen, ein Bolt 
fo unfriegerifher Art, wie Ihre Hamburger, deffen Angejebene feine 
andern als Gewerbaedanten haben, und eine jo unrühmlich gefallene 
Stadt, wie Ihr Hamburg, auszeichnend rühmen zu hören, ohne ſol⸗ 
ches Rühmen eine parteiifche und ärgerliche Mebertreibung zu nen- 
nen. — Längſt fchon, äuferte Niebuhr etwas fpäter, hatten die ifo- 
lierten handelnden Städte fein anderes als ein gefrifteteö Leben ohne 
alle politifche Regungen gehabt. Solche Bürgerfchaften waren mit 
dem Glüde des Schilfes fehr zufrieden und fahen es als ein Borrecht 


283 


an, fih vor dem Winde zu ‚beugen. Männlichkeit befteht nur bei 
den Bürgern eine? Staat? voll freien Lebens, der ald Gefamtheit mit 
eigner Kraft fih behaupten kann. Volles Leben ift jet nur in gros 
Ken Staaten möglich, die das Gleichartige zufammenfaflen. — Man» 
ches heftige, aufgebrachte Wort wechfelten im Frühjahr 1814 die al« 
ten Freunde, und Perthes fchrieb fo erbittert über Niebuhr, dap Nico» 
loviud ihm entgegnete: Auch ih mag zwar das Rechten in folchen 
Zeiten fo wenig wie Sie und ich bin überzeugt, daß man in feinem 
Berhältni Fed abjprechen darf, fobald nur der gute Geift fich regt, 
da e3 hier wie im Evangelium ein Scherflein gibt, dad. mehr werth 
ift als reiche Gaben und große Thaten; aber thun Sie Niebuhr 
nicht Unrecht, wie in Shrem legten Briefe an mid. Sie combinieren 
nicht richtig und ziehen falfche Schlüſſe. Erhalten Ste ihm Ihr gan- 
zes, volled Bertrauen, denn er verdient es. Cr ift nicht nur einer 
der tiefften, reihhaltigften Menfchen, fondern auch einer der reinften. 
Reizbar und daher biömeilen ungerecht fann er fein, aber immer ift 
er voll Demuth gegen die Guten und vor allem Göttlihen, Höheren. 

Um den Preiß eines, wie damals fheinen mußte, unbeilbaren 
Bruchs mit dem Manne, welchem er durch gemeinfchaftliches Gefühl 
und einftimmigen Sinn in leidensvoller Zeit nahegetreten war, hatte 
Perthes die Gewißheit gewonnen, daß ein großes geiftiged Ringen 
bevorftehe zwiſchen denen, die durch das deutfche Voll, und denen, 
die durch den preußifchen Staat Deutſchlands fünftiges Geſchick be 
ftimmt wiflen wollten. Manche bange Sorge mußte durch die Aus⸗ 
fiht auf einen ſolchen Kampf hervorgerufen werden; aber ber helfen 
den Hand von oben, die fo eben aus der ſchrecklichſten Noth geret- 
tet hatte, durfte niemand fein Vertrauen für die Zukunft verfagen. 
Warm und lebendig legte Nicolovius diefen Glauben Perthed an 
das Herz. Da ich heute ficher ein Blatt in Ihre Hand bringen kann, 
heißt e3 in einem Briefe desfelben vom 7. Mai, fo fehreibe ich Diefe 
Zeilen, mein lieber alter herrlicher Perthed. Gott im Himmel hat 
es doch befier gewollt und beſſer verftanden ala die klugen Köpfe in 
Chatillon, die fih mit dem Böfen vertragen wollten und nicht wuß⸗ 
ten, wie Gott wunderbar hilft, wenn man von ganzer Seele etwas 
großes will und die Erde mit Füßen tritt. Diefe mächtige, gewaltige, 


284 


gänzliche Hilfe wird auch Ihnen neues Leben in Bein und Herz ges 
geben haben und das Unterpfand eines herrlichen Lohnes jein für 
alle Aufopferungen, die Sie gemacht haben. Werden Sie forthin, 
was Sie wollen — und mid freut ed, daß Sie wieder Buchhändler 
fein wollen. Die Krone von Ihrem Haupte und den Orden von 
Ihrer Bruft und das gute Bewußtfein in derfelben wird Ihnen nie- 
mand nehmen und taufendfacher Segen wird Ihnen auch im Leiblis 
hen zu Theil.werden. Das ift mein Glaube und ich höre den Him- 
mel dazu Amen fprechen. Laſſen Ste und guten Muth haben für 
alle Krankheiten, die noch zu heben und zu heilen find, namentlich 
au für die Uebel arger Staatöverfaffungen oder Unverfaffungen. 
Eine Zeit, in der die Wolfen fo getheilt und Gott fo fihtbar unter und 
erfihienen ift und die Völker feiner Erfcheinung fo inne geworden find 
und Augen und Hände zu ihm aufheben, kann nicht porbeigehen wie 
ein Sonnenblid, fondern muß neues, echt menſchliches, das heipt 
frommes Leben erzeugen, und wir, die wir und rein gehalten und 
feine Gemeinfchaft gemacht mit dem Fürften diefer Welt, werden 
noch unſeres Lebens und freuen und, gefegnet und Gott, anderen 
helfen und wohlthun fönnen. Die neue Zeit wird fortichreiten und 
wir werden immer neue Wunder erleben. Halleluja! 

Die großen Eindrüde, welche von diefen und manden andern _ 
Seiten auf Perthes einwirften, verfchafften ihm die Weberjeugung, 
dag Die Zukunft Hamburgs weniger durch den Gang des eignen ale 
durch den des allgemeinen deutfchen Lebens ihre Geftaltung erhal⸗ 
ten werde. Die Herftellung diefer oder jener ftädtifchen Einrichtung 
verlor nach diefer Anficht vieles von ihrer Wichtigkeit und mit grö- 
Berer Ruhe und größerem Gleichmuthe konnte Perthed von nun an 
die Creigniffe betrachten, unter deren Einfluß Hamburg zu feiner 
früheren Selbftändigfeit zurückkehrte. Weberall fah er Gährung und 
Bewegung, überall im Großen die Gegenfäße, die Hamburg im 
Kleinen darbot. Mich quält, fehrieb ihm Achim von Arnim, die 
Sorge, daß jekt alle fo dumpf und lebenslos enden fönne wie nach 
“ dem dreißigjährigen Krieg. Die elende Sorge Deftreih® hat ange- 
fangen, alfe andern Regierungen zu ergreifen; aber dennoch hoffe 
ih, daß die ſchändlichſte aller Arten Furcht, dag die Furcht vor der 


285 


Freiheit der Völker endlich vor dem Triumphe über den confequente- 
ften aller Tyrannen ſchweigen wird. 

Bereits feit den erften Tagen ded Mai war durch PVermittelung 
eined aus Paris gefendeten franzöfifchen Generals mit Benningfen 
über die Uebergabe der belagerten Feſtung zunächſt an einen preußis 
hen General verhandelt worden, und noch immer hielten die Mit- 
glieder deö alten Senat? e3 für zu gewagt, außerhalb Hamburgs zu⸗ 
fammenzutreten und als die rechtmäßige Obrigfeit der Stadt Antheil 
an den Verhandlungen über diefelbe zu nehmen. Endlid am 12. 
Mai langte General Gerard an und leitete an Davouft’ Stelle den all⸗ 
mäbhlichen Abzug der Franzoſen ein; aber auch jeßt war von dem Senate 
niht8 zu hören und zu fehen. Nun freilih haben die Herren eine 
Entſchuldigung für ihre Feigheit, fehrieb dDamald Perthes; denn Ge- 
neral Gerard foll gefagt haben, fo lange eine franzöfifche Compagnie 
in Hamburg fei, werde er feine andere Behörde einreden laffen, jon« 
dern die Stadt als eine franzöfifche betrachten. Nur die Feigheit der 
Unfrigen, fügte Perthes hinzu, hat foldhe Anmaßung hevorgerufen; 
denn auch dem Erbärmlichften muß der Kamm wachſen, wenn er 
noch Erbärmlichere fih gegenüber fieht. — Ein Blid auf dad Ge⸗ 
wirre der Meinungen, welches in den zahllofen Conferenzen der Ham- 
burger in Altona ſich zeigte, Tieg mit Gewißheit vorausfehen, daß 
unmittelbar bei der Herftellung der früheren Verfaſſung fein durch⸗ 
greifender Schritt zu deren Belebung und Erneuerung gefchehen 
werde; um fo nothwendiger erfchien e8 daher, daß die vielen durch 
den Tod erledigten Stellen im Eenate und im Oberaltencollegium 
mit fräftigen und raſchen Männern wieder befegt würden. Iſt nur 
das der Fall, fchrieb Perthed, fo. mug man bei der jegigen Lage der 
Dinge zufrieden fein und dem rafcheren und befjeren Geifte unſerer 
Zeit fih vertrauend überlafien, it es aber nicht der gall, fo muß 
man wirken und thätig. fein, felbft auf die Gefahr hin, daß für: den 
Augenblid Unruhe und Unheil entftehen könnte. — Am 26. Mai 
machte der alte Senat befanmnt, daß er in Amt und Würde wieder 
eingetreten fei, und alö die am folgenden Tage verſammelte erbgefef- 
jene Bürgerſchaft auf drei Monate eine Commiſſion von zwanzig Mäns 
nern erwaͤhlt und mit den Verhandlungen über die Reorganijation 


286. 


der Stadt beauftragt hatte, waren die Verſuche zur Fortbildung 
der Verfaſſung und zur Belebung der Verwaltung in den hergebrach⸗ 
ten Gang des ſtädtiſchen Lebens gebracht worden. Bon jept an darf 
ich, fchrieb Perthed, Feine andere Beziehung zu den öffentlichen. Ber- 
bältniffen haben, als die ift, welche mir mein Recht ald Mitglied der 
Bürgerfchaft und mein Einfluß auf meine Freunde von felbit gewährt, 
und Gott bin ih von Herzen dankbar, dag mir im reichiten Maße 
meiner Mitbürger Liebe und ein Vertrauen geworden ift, welches 
fonft einem Manne felten gegönnt wird, der ein andered und ein 
mehreres that, ala fein häuslicher Beruf von ihm verlangte. 

Der Tag, an welchem Perthes mit Frau und Kindern Blanfe- 
nefe verlaffen und nach Hamburg zurüdkehren konnte, war nahe heran- 
gerückt. Diefe ſechs Wochen in Blanfenefe, ſchrieb Caroline an ihre 
Schweſter, find dad Confect meined Lebens gewefen. Ich hatte 
Perthes bei mir, die Kinder waren gejund, und die Hoffnung auf 
Befreiung unferer Stadt wurde mit jedem Tag größer. Da wehte 
plöglich in Harburg und vom Michaelisthurm in Hamburg die weiße 
Fahne, und nun ftrömten von allen Seiten die Vertriebenen wieder 
der Stadt zu. Wir wohnten nahe an der Elbe und konnten alle, Die 
von Bremen und aus dem Kannöverifchen zurüdlehrten, ankommen 
jehen. Einmal wurde und ein ganzer Wagen voll Fleiner Finder zu- 
gefhicdt, deren Eltern im Kranfenhaufe zu Bremen geftorben waren, 
Große Scharen von armen Audgehungerten zogen mit vielen Kin- 
dern und weniger Habe bepadt an unferen Fenſtern vorbei, und wun⸗ 
derbar groß und rührend war die Kiebe zu Haus und Herd erfichtlich, 
obgleich die meiften nur Jammer und Elend zu erwarten hatten. So 
wie die armen Leute and Land fliegen, brachen fie ſchweigend Zweige 
von den Bäumen, und alt und jung bi? auf die Fleinften Kinder her- 
unter befamen einen Buſch in die Hand und dankten Gott unter 
Freudenruf und Zrauerthränen für die. Erlöfung von dem großen 
und allgemeinen Uebel, wohl wiſſend, daß ein jeder feinen Privat- 
paden mit hineintrüge in die Stadt. 

Am 31. Mai hielt General Benningfen mit den Ruflen und der 
Bürgergarde feinen feierlichen Einzug. Am Morgen diefes Tages 
brach auch Perthed mit feiner ganzen Familie in Blankeneſe auf und 


287 


fehrte von Altona aus in der Mitte der eingiehenden Truppen in die 
Stadt zurüd, Die er grade vor einem Jahre hatte verlaffen müflen. 
Die Geifteäftimmung, mit welder er in feine frühere Stellung und 
in feinen früheren Beruf wieder eintrat, läßt fich aus den Briefen er- 
jehen, die er in diefen Wochen an Villers und an H. Sacobi fchrieb. 
Ich habe manches wirklih Harte und Schwere getragen, heißt 
e8 in diefen Briefen; aber wahrhaft unglüdlich ift der Menſch nur, 
wenn er mit Gott, mit fih und mit der Welt irrig, ungewiß und 
uneind iſt. Das aber war ich nie. Ich weiß, daß Gott im Himmel 
ift und daß fein ewiged Wort durch Sefum Chriftum zu und gefpro- 
hen hat, und ih weiß, daß fein Volk und kein einzelner im Bolte 
fremde Herrfchaft dulden darf und, um fie nicht zu dulden, alles und 
jedes irdifhe Gut opfern darf und muß. An diefe einfahe Wahrheit 
babe ich mich gehalten, und fie war mir bisher genug. Um ſchlechte, 
gute oder befte Staatöverfaffung mich zu quälen, hatte ich nicht nö- 
thig; ich konnte thun, was ich nicht laſſen durfte, und darum ſehe ich 
auch jeßt ruhiger und zufriedener in die Zukunft als viele andere. 
Unfer deutſches Vaterland ift zum Kern und Inhalt der großen euro- 
päifchen Staatenrepublit beftimmt. Europa ift nicht beftehend ohne 
Deutſchland und bedarf feiner jeden Augenblid, um europätfches Les 
ben leben zu fönnen, und Deutfchland kann zu Feiner politifchen Ges 
ftalt und zu feinem politifhen Zuftand oder politischen Vollkommen⸗ 
heit berufen fein, die diefer feiner Beftimmung widerfprechend wäre. 
Wir armen Deutfhen müſſen uns fhon bequemen, ald Inhaber der 
Ideen und ala Aufiteller der Ideale, durch welche das Uebergewicht 
Europa's über die übrige Welt gefchaffen wird, ein etwas unbeque-. 
med und durcheinander wogendes Leben zu ertragen. Bei jeder Un⸗ 
zufriedenheit mit dein, was unferm Baterlande zu Theil wird, müß- 
ten wir und fhämen, wenn wir die Schuld auf Kaifer Alerander 
oder auf das englifche Parlament fchieben wollten. Bon dem Augen- 
blid des Einzugs in Paris an hätte jeder Kaifer Alerander ein ruffiicher 
Kaifer und jedes englifche Parlament ein englifches fein müffen. Daß 
andere für und fämpfen und fterben, dürfen wir nicht verlangen, 
und müffen uns ſchämen, es auch nur zu wünſchen; für Deutſchland 
haben wir und mir allein zu forgen und zu ringen, und was aud) 


288 


der große Congreß, der nun in Wien bevorſteht, gebäre, die deutſche 
Nation wirds ſich ſchon bilden und fo lange fih wenden und winden, 
bis das Nechte zu Tage gefördert ift; und unfere Fürſten am wenig- 
ſten haben ein Recht, über Unrecht zu Hagen, das ihnen etwa jet 
willfürlich zugefügt werden ſollte. Was aud) fomme, die franzöfis 
che Nation hat viel Zeit gebraucht, um auf conftitutionellen Boden 
zu gelangen, fo wie Napoleon, um auf großen Ummegen von Cor» 
fica nad Elba zu fommen. Diefe Zeit und diefer Raum find mit 
Sammer, Blut und Elend angefüllt, ‘aber die Refultate rechtfertigen 
die Weltregierung. Was auch fünftig große und Kleine Tyrannen be= 
ginnen mögen, es wird ihnen doch nicht möglich fein, den Geift ord⸗ 
nungdmäßiger Freiheit, den Sinn für Verfaffung und für ftändifche 
Nechte bei den Völkern zu unterdrüden. Hat es doch auch, feitdem 
dad ChriftenthHum in die Welt trat, noch Aberglauben und Unglau⸗ 
ben genug gegeben, und ſchlechte Päbſte und Dumme Superintenden- 
ten haben ihr Unmwefen getrieben; aber hohe, geiftige Idee, Sinn 
für göttlichen und ſittlichen Adel find nicht wieder auszulöſchen gewe— 


fen. Klinger hät gefagt, die franzöfifche Revolution fei ein Schau- - 


fpiel, worin Hölle und Erde thätig waren, aber der Himmel ſchweige. 
Nun hat der Himmel gefprochen, und er wird nicht wieder ſchweigen. 
. Getroft für mich gehe ich der Zukunft enigegen und voll guter Hoff« 
nung für meine Kinder. 











Drud von Fr. Frommann in Sena, 


Friedrich Perthes Leben 
ſchriftlichen und mündlichen Mittheilungen 


aufgezeichnet von 


Olemens Theodor Merihes, 


ordentlihem Profeflor der Rechte an der Univerfität in Bonn. 


Zweiter Band. 
Vierte Auflage. 


Gotha. 
Verlag von Friedrich Andreas Perthes. 
1857. 


Borrede 


” Dar erfte Theil des Leben? meined DBaterd hat einem weit größe- 
‚ren Kreife, ald ich erwarten konnte, Freude und auch Stärkung in 
fhwerer Zeit gebracht; ich fürchte nicht, daß dieſer zweite Theil dem 
erſten nachſtehen werde. Den vielen Bekannten und Unbekannten 
in allen Theilen Deutſchlands, welche das, was meine Eltern ih⸗ 
nen gewährt haben, auch mir zu ſchulden glaubten, ſage ich für 
die freundlichen Zuſchriften, die einzeln zu beantworten unmöglich 
war, meinen herzlihen Dank. Behalte ich Kraft und Gefundheit, 
fo hoffe ih fpäter in einem dritten und lebten Theile die reichen 
Erfahrungen auch der legten zwanzig Lebendjahre meines Baterd 
mittheilen zu fönnen. 


Bonn, im Mai 1851. 


Berthes. 


Inhalt. 


Drittes Buch. 


Die Verſuche zur Wiedereinrichtuug in Hand und Stadt und 
Staat feit der Befreiung Dentſchlands. 
| 1814— 1816. 


Geite 
Perthes' Rücktritt in die früheren Berhältniffee Sommer 1814. . . » 3 


Die politifchen Stimmungen während des Wiener Congreffes und des zweiten 
Defreiungsfrieges. Herbft 1813 bie Herbſt 1815.» oo 2 0. 0. 0 

Perthes' Thätigkeit für die leidenden Stände und feine Erfahrungen in ber 
Bamilie 1814 und 1815. 0 0 0 0 0 0 ee ee een. 37 


Die politifchen Ausfichten nad dem zweiten Barifer Frieden. Herbſt 1815 
bie Herbfl 1816. . 0. 0. 0 00, 08 8 8 1 L 1 1 RL Tr. 0 


57 
Perthes’ Anfichten über die Bedeutung des. Buchhandels für Deutfchland, . 72 
Perthes' Reife nach Frankfurt am Main 19. Juli bie 4. Auguft 1816. . . 80 
Perthes' Aufenthalt in Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart. 4. Auguft bie 

20. Auguf 18116. 2 2 0 0 0 2 er ne A 
Perthes' Reife von Stuttgart nah Wien ‚und feine Rückkehr nach Hamburg. | 

20. Auguft bis 8. October 1815s8. ee. 13 
Perthes' Bemerkungen über den literarifchen Verkehr während feiner Reife 

duch Deufchland. 2 0 0 0 0 0 0 re er er en 1 


VI 


Viertes Buch. 


Perthes' brieflicher Verkehr über die politiſchen und religiöſen 
Fragen von der Zeit des Wartburgsfeſtes bis zur Zeit der 
europäiſchen Congreſſe in Troppau und Laibach. 

1817 — 1822. 


Seite 
Die Bewegungen im Volke bis zu den Karlsbader Beſchlüſſen im Spätfoms 


ma 189, 2 0 0 Eee ee ee 143 
Die Haltung der Regierungen um die Zeit der Karlsbaber Beichlüfee . . 161 
Das Herwortreten einzelner politifcher Bragen. - o 0 0 0 181 
Oeſtreich und Preußen während der erften Jahre nach ben Karlsbader Beichlüfs 

fen. 1819-1322. 2.2 0 0 02 rennen tee 1N 


Die oͤffentliche Meinung über die beutfchen Angelegenheiten während ber er= 
fien Jahre nach den Karlsbader Befchlüffen. 1819 — 1822. . . . . 211 


Die Eindrüde ber füdenropäifchen Nevolutionen auf die Stimmung in Deutfchs 
land. 1820 — 1822. [ ® U} ® ® ‘ ¶ “ 0 [2 [2 “ ¶ + “ “ 2724 


Die Heilige Allianz in ihrem DVerhältniffe zu den füdeuropäifchen Revolutios 
nen. 1820 — 1822. ‘ ® 0 “ “ “ “ ‘ 0 — — 0 0 ® “ 240 


Die religiöfen Gegenfäge der Seit. 1817— 182. 0 2 0 2516 
Die kirchlichen Gegenfäße der Zeit. 1817— 1822. . .. » 00. 2% 


Fünftes Bud. 


Berthes’ Samilienleben bis zur Verlegung feines Wohuſitzes 
. von Hamburg nad) Gotha im Jahre 1822. 


Die Verheirathung der älteften Tochter. -. > 0 0 0 een. 28 
Die Verheirathung der zweiten Tochter. » » 0 0 0 ee 301 
Der Bortgang des älteften Sohnes zur Univerſität.. 311 
Garolinens legte Lebens. 2 0 0 2 een. 2000. 327 


Drittes Buch. 


Die Berfuhe zur Wiedereinrihtung in Hans 
| nnd Stadt und Stant 
ſeit der Befreiung Dentfchlands. 


1814 — 1816. 


Pertheö’ Leben. 11. 4. Aufl. 5 1 


Rüdtritt in die früheren Berhältniffe. 
Sommer 1814. 





Als Perthes am 31. Mai 1814 die Stadt und die Wohnung wie—⸗ 
der betrat, die er ein Fahr zuvor verlaffen hatte, konnte dem Dante 
für die faum gehoffte Heimkehr ſchweres Sorgen für die nächſte Zus 
funft nicht ferne bleiben. Gott fei gelobt für fo weit, für feinen 
Beiftand und feine Nähe in diefem ſchweren und ernften Jahr! fchrieb 
Garoline am Tage der Ankunft ihren Eltern nah Wandsbeck. Ich 
will mich freuen und will alle8 vergeben und will alled vergeifen, nur 
meinen lieben Bernhard nicht. Unſerer wartet, fügte fie hinzu, wenn 
es am glüdlichften geht, eine mühjfelige Zeit. Gott erhalte mir nur 
Perthed und gebe ihm Muth und Kraft zu feinem jchweren Tage⸗ 
werfe! 

Die Wiederanfnüpfung des alten, durch ein Jahr voll Noth und 
Angſt unterbrochenen Leben? war in der That nicht leicht. Schon die 
Wohnbarmachung des Hauſes hatte ihre Schwierigkeiten: die fehönen, 
freundlichen Räume zur ebenen Erde hatten Monate hindurch fran- 
zöfiihen Soldaten ald Wachtituben gedient; mitten in dem größten 
Zimmer fland ein mächtiger Ofen; zum Fenſter hinein waren Baum- 
ftämme gefchoben, deren Ende dem Feuer im Dfen zur Nahrung 
diente, alled irgend abldsbare Holzwerk im ganzen Haufe war her- 
untergeriffen und verbrannt, Rauch und Qualm hatte feinen Weg 
Durch die Fenſter fuchen müllen. Die oberen Stockwerke waren zu⸗ 
lebt vom General Loifon bervohnt geweſen, aber. auch hier hatten die 

| 1* 


4 


Soldaten in einer ſolchen Weife gehauft, daß dag ganze Haus einem 
einzigen großen Schmutzhaufen glih. Aller Mobilien war dagfelbe 
völlig beraubt; theild hatten Freunde fie hier und da verftect, theils 
der franzöfifche Präfeet ſich ihrer bemächtigt. Nirgends war eine 
Stelle zum Ausruhen, überall mußte der fußhohe Unrath fortgefchafft, 
überall für die Einrihtungen zum Sitzen und Liegen, zum Kochen 
‚und Eſſen geforgt werden, und dennoch mahnte der Mangel an Geld 
und der herzzerreißende Anblid der vielen bleichen, halbverhungerten 
Sammergeftalten heimfehrender Flüchtlinge daran, auch die Fleinfte, 
irgend vermeidliche Ausgabe zu feheuen. Es war ein harter Wieder- 
anfang für Caroline. In unferem alten Haufe wohnen wir, fehrieb 
fie im Juli, und ftreben danach, auch wieder in das alte Geleife zu 
foınmen; ob das aber gehen wird, weiß Gott. — Es ging, wenn 
auch nicht ohne viele Arbeit und Sorge. Noch vor Eintritt ded Wins 
ter8 war das Hausweſen geordnet und in feinen früheren Gang zu- 
rüdgeführt. Mit ungleich größeren Schwierigfeiten war freilich die 
Herftellung des Geſchäfts verbunden, welches ungeachtet feiner völli- 
gen Auflöfung eine zahlreiche Yamilie erhalten und bedeutende Schul- 
den tilgen follte. 

Jede politifch ftark aufgeregte Zeit bringt außer den Abenteurern, 
den Beuteluftigen und Revolutionsmenſchen auch die bedeutenderen 
und thatfräftigeren Männer in Bewegung, entzieht fie ihrem eigent« 
lichen Lebensberufe und entführt fie in das allgemeine Gewirre, wo 
die außergewöhnlichen Zuftände auch außergewöhnliche, nicht der her⸗ 
gebraten Ordnung angehörende Kräfte fordern. Wenn nun die wil- 
den Gewaͤſſer ſich wieder verlaufen haben, fo follen diefe Männer aus 
einem bewegten, durch taufend Neizmittel immer neu angeregten und 
mit den größten Berhältniffen zufanmmenhängenden Leben wieder zu⸗ 
rüd in den ruhigen, einförmigen und engen früheren Beruf. Ein fol- 
her Schritt ift zu allen Zeiten vielen und wackeren Naturen ſchwer 
geworden und oft bat ſich aus denfelben Männern, die in der beweg⸗ 
ten Zeit Dankenswerthes leifteten, fpäter nach hergeftellter Ruhe ein 
Gefchleht von geiftig vornehmen Bagabunden gebildet, welche, in 
feinem Berufe zu Haufe, hier und da umher hantieren und, mit 
ſich und der Welt unzufrieden, fi und anderen zur Qual werden. 


5 

Für Perthes, der ſeit Jahr und Tag, ungeachtet ſo mancher ſchweren 
Stunde, nicht ohne Behagen in den gewaltſam durcheinander gewor⸗ 
fenen Verhältniſſen gelebt und gehandelt hatte, war, wenn er nicht 
einer ſolchen Gefahr unterliegen ſollte, mit der Befreiung Hamburgs 
der Augenblick gekommen, in welchem er ſich wieder mit voller und 
ganzer Kraft feinem Lebensberufe hingeben mußte, und er hatte Tüch- 
tigkeit genug, diefen Entſchluß zu faffen und durchzuführen. Die 
Lage freilich, in welcher er fein Gefhäft vorfand, machte ihm den 
Mebergang zu den Sorgen und Mühen des täglichen Lebens doppelt 
Ihwer. Es grauet mir, fehrieb er an Villers, aus der Poefie mei- 
nes bisherigen Lebens wieder in die Profa des gewöhnlichen Lebens 
zurüdzufehren, befonder® da ich auf Fahre hin Sorgen und Arbeit 
ſchwerſter Art haben werde. 

Als Hamburg ein Jahr zuvor, am 30. Mai 1813, von den 
Franzoſen wieder befegt worden war, hatte Davouft gleih am fol- 
genden Tage Perthes' Bücherlager und Handlung verfiegeln laſſen 
und bald darauf befannt gemacht, daß die Schuldner der Handlung 
nicht an Perthes, fondern an die franzöfifchen Behörden zu zahlen 
hätten. Davouft’3 erfter Anordnung gemäß follten die brauchbaren 
Bücher des Lagers an die Bibliothefen, Schulen und Behörden ver- 
theilt und der Ueberreft öffentlich verfteigert werden. Ein großer Theil 
des bedeutenden Landkartenlagers wurde auch wirklich dem topogra- 
phifchen Büreau und verfchiedenen Generalen überwiefen und man⸗ 
ches werthuolle Buch fam in die Hände einzelner Officiere; aber für 
dad Bücherlager im großen und ganzen ward die Ausführung jener 
Anordnung bintertrieben. Perthes-zwar hatte auf feinem Wander⸗ 
leben feine Sorge für das Gefchäft tragen können; aber Beffer, ob- 
gleich gleichfalls aus Hamburg geflüchtet, verlor dasfelbe nie aus den 
Augen. Mit raftlofer Thätigfeit und befonnener Aufmerffamfeit be- 
nugte er jeden Umftand, um zu retten, was zu retten war, und murde 
an Ort und Stelle durch die bewegliche Gewandtheit und den treuen 
Eifer eines fehr rührigen Dienerd, d’Hafpe mit Namen, unterftügt. 
Zunächſt gelang es, das große Commiſſionslager, weil e8 nicht Per- 
thed’, fondern fremder Buchhändler Eigenthum fei, von dem übrigen 
Lager zu trennen: es wurde der Handlung von Hoffmann und Campe 


6 


zum treuen Berwahr übergeben. Sodann bezahlte der gewandte Die- 
ner Schlädhter, Bäder, Buchbinder und andere Handwerker, welche 
an Perthes zu fordern hatten, nicht mit baarem Gelde, fondern gab 
ihnen zum Eintreiben von den Handlungsſchuldnern Peine Rechnun- 
gen, bie er felbft bei der Auflöfung aller Ordnung ſchwerlich bezahlt 
erhalten hätte. Endlich wurde nicht ohne Erfolg der Verfuch gemacht, 
unter der Firma der Handlungen von Hammerich in Altona und Mi- 
helfen in Lübeck den Faden ded Geſchäfts fortzufpinnen und dur 
perfönliche Zufprache oder durch Freunde und Bekannte die Schuldner 
der Handlung in den benachbarten Gegenden zu bewegen, ihre Schuld 
ungeachtet des Verbotes der franzöfifchen Machthaber an Beſſer zu 
bezahlen, Die fehtwierigfte Aufgabe aber war geweſen, die befohlene 
Bertheilung und Berfteigerung des eigenen Lager? in Hamburg zu 
verhindern. Zu biefem Zwede waren bie Gläubiger der Handlung 
unter der Hand angeregt worden, ji an Davouft mit der-Behaup- 
tung zu wenden, daß, bevor zu einer Bertheilung der Bücher geſchrit⸗ 
ten werden könne, ihnen aus denfelben Befriedigung für ihre For« 
derungen werden müſſe. Da fie fi) zur Begründung diefer Behaup- 
tung auf beftimmte Gefeßeöftellen berufen Tonnten, fo gab Davouft, 
welcher der Angelegenheit wiederholt perfönliche Aufmerkfamteit zu⸗ 
wandte, nach, ordnete die Verſteigerung des ganzen Lagers an und 
befahl, daß von dem Erlöfe zunaͤchſt die Handlungsgläubiger befrie- 
digt werden jollten. Da nun, bevor zur Berfteigerung gefchritten 
werden konnte, ein Katalog aller vorhandenen Bücher angefertigt wer⸗ 
den mußte, fo machte Befler, in Erwartung einer baldigen Befreiung 
von der franzöfifchen Herrſchaft, den Verſuch, die Anfertigung des⸗ 
felben möglichft in die Länge zu ziehen. Der Verfuch gelang, obfchon 
Davouft einigemale drohte, die Bücher bei längerer Berfchleppung 
pfundweife verlaufen zu lafien. Die dreißigtaufend Bände, welche 
das Lager etwa zählte, waren, um Platz zu gewinnen, von den fran- 
zöfifchen Beamten auf Blockwagen in ein andere? Haus geſchafft und 
bei diefer Gelegenheit fämtlich durcheinander geworfen worden. Dem- 
ungeachtet wurde die Aufzeichnung fofort begonnen. Sie fullten da 
die Wirthſchaft fehen, mein wohlgeborner, hochgeehrtefter Herr, fchrieb 
im Auguft 1813 der an ftrenge faufmännifche Ordnung gewöhnte 


7 


d’Hafpe: Landkarten, Kriegskunſt, Claſſiker, Campe's Robinfon, das 
Gebetbud für gute Chriften, Goethe's Werke, Band fieben, der dritte 
Theil einer Reife in die Südfee, die Anleitung einer erfahrenen Kö⸗ 
Hin, alles liegt wild durcheinander und fo wird es numeriert, und 
das Luftigfte ift, daß fie auf die Bücher nur die Einer und Zehner 
jeder Zahl feßen, aber nicht dazufügen, zu welchem Hundert oder 
Taufend diefelbe gehört. Wenn fie fertig find, müſſen fie natürlich 
wieder von vorne anfangen. Darum fünmern fie fih aber nicht, ſon⸗ 
dern fegen Tag für Tag ihre unfluge Arbeit fort; es ift unmöglich, 
daß ed vor Reujahr zur Verfteigerung fonımen fann. — Als endlich 
der Katalog fertig war, hatten die Verbündeten bereitd den Rhein 
überfchritten und Davouft hütete fi forgfältig vor jedem Schritte, 
der nun unter veränderten Umftänden einen Anſpruch an fein Privat⸗ 
vermögen hätte begründen können. Die Bücher blieben ungeachtet 
des Kataloges unverfteigert und wohlverfchloffen aufbewahrt. 

Diefe Lage ihres Geſchäftes fanden die beiden Freunde Beſſer 
und Perthes vor, als fie ſeit Ende Februar 1814 zuerft in Kiel, dann 
in Blanfenefe zufammentrafen und über dad, was zu thun fei, berie- 
then. Obſchon das ganze biöherige Publicum der Handlung zerfprengt 
war, hatten doch beide die Ueberzeugung, daß unter den gegebenen 
Umftänden die Wiederaufnahme des Gefchäftd ohne ftrafbaren Leicht⸗ 
finn gemagt werden könne und daß fie gewagt werden müffe, weil 
nur auf diefem Wege die Möglichkeit gegeben werde, die Gläubiger 
der Handlung vor Schaden zu bewahren. Bon diefer Anficht aus er- 
ließ Perthes im April 1814 ein Eircular, in welchem er den deutfchen 
Buchhandlungen die Abficht, fein Gefchäft wieder zu eröffnen, befannt 
machte. Mir würde, heist ed in demfelben, wohl niemand zumuthen 
wollen, meine Verpflichtungen ganz zu erfüllen, und ich weiß, daß 
‚ein großer Theil meiner Collegen dem Anerbieten eined Accords ent» 
gegenfieht. Da mir aber durch die Stellung des Baterlandes geftattet 
wird, mein Haus wieder aufzurichten, fo habe ich die Hoffnung zu 
Gott, daß er mir die Kräfte fchenkfen werde, enden zu können, wie 
ich begonnen habe, und jedem gerecht zu werden. Kann ich auch jept 
nit mit fo jugendlihem Muthe wie vor achtzehn Jahren beginnen, 
babe ich auch jebt ein zahlreiches Haus zu ernähren, fo befike ich doch 


8 


Erfahrungen, die manches Lehrgeld eriparen, befige die Gunft mei- 
ner Mitbürger, einen großen Kreid von Gönnern und Freunden und 
bedeutende Verbindungen im Audlande. Getroft und mit guter Hoffe 
nung und im Bertrauen auf die Freundfchaft meiner Collegen will 
ih aljo wieder anfangen und erfläre, daß ich entichloffen bin, alles 
Schuldige zu bezahlen und niemand etwas verlieren zu laffen. Das 
Wie und Wann der Zahlung muß ich bitten mir zu überlaflen, doc 
foU innerhalb dreier. Jahre alle berichtigt fein, — Zugleich erflärte 
Merthes in demſelben Circular, daß von nun an Beſſer, welcher der 
That nach fchon lange Gefellfehafter der Handlung gewefen fei, ſich 
auch in der Firma nennen und derfelben dadurch eine noch größere 
Gemwährleiftung in der Handelöwelt geben werde. 

Die großen Schwierigfeiten, welche fih dem Gelingen entgegen. 
freliten, verhehlten fich die beiden Freunde nicht und beide ftimmten 
darin völlig überein, daß es jetzt nicht an der Zeit jei, keck zu wagen, 
fondern bejonnen fih und andere vor Schaden zu bewahren. Wir 
hätten wohl noch den jugendlichen Muth, jchrieb Perthes am 5. März 
an Befler, und auch wohl noch die jugendliche Kraft, um im Ber« 
trauen auf unfer Glüdf wiederum ein Gefchäft im großen Umfange 
zu beginnen; aber befinnen wir und recht, fo muß dennoch bei unfe⸗ 
ren Fahren und in unferen Berhältniffen unfer zweites Etabliffement 
fich lediglich auf die Erfahrung, die wir befiten, gründen. Sieh, ganz 
jtill und einfach fangen wir unfer Wefen wieder an, legen immer nur 
einen Stein nach dem andern und halten und auch ftill und einfach. 
Das Publicum ift und günftig, viele Freunde find thätig für und, und 
die Menſchen, die und aus augenblidlicher Noth helfen, finden fi 
gewiß. — Auf Hamburg und feine nächfte Umgebung ſchien damals 
für die Wiederbelebung des Gefchäfte® gar nicht, auf dad übrige 
Deutfchland nur wenig gerechnet werden zu können, meil zu erwarten 
ftand, daß die Folgen der langen Noth noch auf Jahre jede Kebendig- 
feit des literarifchen Berlehrd verhindern würden. Die Aufmerkſam⸗ 
feit beider Freunde wendete fi) daher nad England, wo in Folge 
der Freiheitskriege die Theilnahme an Deutfchland größer als feit 
Sahrhunderten geworden war. Der damalige Zeitpunkt ſchien über- 
aus geeignet, um durch fräftige und nachhaltige Thätigkeit eine all- 


9 


gemeinere Verbreitung der deutſchen Riteratur in England hervorzü- 
rufen und namentlich die Blide der vielen und reichen Sammler mehr 
als bisher auf deutfche Philologie und claffifche Werke aller Art zu 
leiten. Die mangelhafte Einrichtung des englifchen Buchhandels 
fonnte fogar die Hoffnung eriweden, daß es möglich fein werde, die 
Gefamtvermittelung zwifchen England und der nicht englifchen Lite 
ratur in die Hand des deutichen Buchhandel® zu bringen. Beller war 
ſchon früher längere Zeit in England geweſen und war der Sprache 
völlig mächtig; Die beften Empfehlungen an einflußreiche Männer als 
ler Art ftanden zu Gebote. Beide Freunde befchlofien daher, daß 
Beſſer nad England gehen und verſuchen folle, das fchon immer dort- 
hin betriebene Gefchäft weiter und weiter auszudehnen. Bald waren 
die Vorbereitungen geendet und am 4. Mai ging Befler von Ritze⸗ 
büttel aus in See. 

Perthes traf inzwijchen die nöthigen Anftalten, um möglichft 
bald nad) dem Abzuge der Franzoſen aus Hamburg die Handlung er- 
öffnen zu fönnen. Am 9. Mai zeigte ihm der Maire adjoint fchriftlich 
an, daß die Beichlagnahme feines Bücherlagerd aufgehoben fei und 
dag er dasfelbe gegen Erftattung der von den franzöfifchen Behörden 
für Inventur, Miethe u. |. w. aufgemendeten Koften in Empfang neh⸗ 
men könne. Geftern ließ mich der Herr Präfect einladen, fchrieb Per- 
thes an Billerd, in die Stadt zu fommen, weil der Herr. Marfchall 
beichloflen hätte, da® Sequefter von meiner Bücherfammlung zu neh- 
men; zugleich wollte man aber 700 Francs für einen angefertigten 
Katalog. Sie fehen daraus, daß diefe Leute auch unter der ‚weißen 
Cocarde ſich gleich bleiben. Dafür, daß fie mich bildlich an den Gal⸗ 
gen genagelt, mic) von Haus und Hof gejagt, meine Handlung ver- 
nichtet, meine Bücher um die Hälfte beftohlen, meine Möbeln ver- 
brannt haben, wollen die Kerld noch 700 Franes. — Da indefjen 
Perthes kurz und beftimmt erflärte, daß er die Mühe, welche die Be- 
börden fih mit Aufbewahrung, Inventur u. f. w. gegeben hätten, 
durchaus nicht beanfprucht habe und deshalb aud nicht gefonnen fei, 
die Auslagen derjelben zu erfeßen, fo wurde das Lager am 19. Mai 
ohne weitere Bedingungen feinem Bevollmächtigten Runge überges 
ben. Nachdem die Franzofen abgezogen waren, traf Perthes am 


10 


30. Mai in Hamburg ein. Aus unferem alten Wohnort biete ih 
Dir, ſchrieb er an Veſſer, die brüderlihe Hand. Der Worte, um 
auszudrücken, was mich bewegt, bedarf ed nicht; es ift eine völlige 
und förmliche Auferftehung von den Todten. Genug davon. — Die 
Arbeiten zur Wiedereröffnung der Handlung wurden fofort begonnen 
und mit höchfter Anftrengung fortgefegt. Glauben wirft Du es, heißt 
ed in einem andern Briefe an Beſſer, aber vorftellen kannſt Du es Dir 
dennod nicht, was für eine Arbeit das ift, fo ein Wejen wieder her⸗ 
zuftellen und auseinander zu wirren; und wenn mir nur noch jemand 
helfen könnte, aber das geht nicht. Gottlob, daß ich gefund bin und 

heiteren Geiftes dazu und dankbar gegen Gott und Menſchen. Ein 
ſchlimmes Ding freilich bleiben die augenblidlihen Geldzahlungen. 
Uns bezahlen nur wenige, aber Tag für Tag gehen größere und klei⸗ 
nere Rechnungen von Peter und Paul, von Buchbindern und Hand- 
werkern und von aller Welt ein; die armen Leute find in fchredlicher 
Noth und bitten und quälen, und das thut weh. Auch von außen 
laufen jett die größeren Anweifungen und Wechfel auf und ein. 
Durchhelfen will ich mir ſchon, aber e8 koſtet Angitichweiß. — Dur 
Diefed Arbeiten, Mühen und Sorgen wurde indeffen Muth und Hoff. 
nung in Perthes nicht gebrochen und manches günftige Ereignis half 
ihm leichter über die böfen Stunden fort. Bor allem aber ift mir, 
heißt e3 in einem Briefe an Beſſer, das Jutrauen, die Liebe und 
Güte rührend, welche unfere Mitbürger in fo vielfältiger Weife ge- 
gen und äußern. Unſer Eredit ift nicht allein erhalten, fondern be- 
feftigter ald jemald. Auch auf unfer Circular find nun die Antwor- 
ten der Buchhändler eingelaufen. Sie find ſämtlich, nur.eine einzige 
Handlung ausgenommen, mit unferen Borfchlägen zufrieden und fpre- 
hen das größte Zutrauen aus. Feſt fannft Du Did darauf verlaf- 
fen, daß unfere Handlung fehr bald wieder in voller Blüte fein wird. 
Man fehnt fich ordentlich nach und. — "Ende Juni eröffnete Perthes 
den Gefchäftöbetrieb in Hamburg felbft und wenige Tage fpäter konnte 
er fchon ſchreiben: Bier ift Gotted Segen mit und und alled, wirklich 
alles fchlägt zum Guten aus; aber ich kann allein nicht mehr durd)- 
fommen und es wird hochnöthig, dag Du wieber kommſt. Eined geht 
vor dem andern; allenthalben ift eben nichts in Ordnung; jeder will 


11 


feine Freundfchaft bezeigen, Aufträge fommen von allen Seiten und 
die öffentliche Unruhe macht auch nit grade ruhig; kurz, ich bin 
ſehr im Gedränge und wünſche Dich herbei. 

Beſſer's Aufenthalt in England war urfprünglid auf längere 
Zeit berechnet gewefen, aber Beſſer faßte die dortigen Gefchäftöver- 
bältnifje in einer Weife auf, welche ihm eine weitere Anweſenheit al® 
unndthig erfcheinen ließ. Der erfte Eindrud, welchen London und 
feine Bewegung in jenen Monaten unmittelbar nach dem Sturze Na- 
poleon's auf ihn gemacht hatte, war außerordentlich gewefen. Hier 
bin ih, heißt es in feinem erſten Briefe aus London, um in dieſer 
Niefenftadt, in diefem wunderlich ſchönen Rande eine Zeit zu durch⸗ 
leben, die ihres gleichen in der Gefchichte nicht bat; fchon in den 
nächften Tagen werden die gefrönten Häupter erwartet. Aber mehr 
als auf diefe ift alles auf General Blutscher gefpannt. Es ift nicht 
zu fagen, in welchen Maße diefed Ungeheuer des lebendigen und des 
mechaniſchen Leben? den Menfchen ergreift und überwältigt; aber bei 
dem Volke ift man troß aller feiner Unliebenswürdigfeiten wie zu 
Haufe, wenn man nur feine Sprache und fein Wefen verfteht. — Mit 
Menfchen aller Art und jeden Standes nähere oder fernere Verbin— 
dung anzufmüpfen, Tag in Beſſer's Reifezwed, und feine ausgedehn- 
ten Empfehlungen öffneten ihm den Eingang in die verfchiedenften 
Kreife. Deutfche und Engländer, gentlemens und Matadore der city 
fah er; heute verkehrte er mit recht Elugen und brauchbaren Men- 
fhen, morgen mit guten und liebendwürdigen, bald mit Methopdiften 
und Quäfern, bald mit Leuten, die nicht? kannten als die ſchlechten 
Seiten des Lebend. Es iſt ein gefährliches Ding für ein ſchwaches 
Menſchenkind, rief er in einem feiner Briefe aus, Metier von dem 
Kennenlernen fo vieler anderer Menfchenkinder zu machen, mag man 
wollen oder nicht, man muß fich dabei mehr oder weniger über Die 
Perfonen ftellen, die zu beurtheilen man nicht laffen fann. Ich bin 
recht müde und mürbe davon und verlange Abends oftmald recht 
fehnlich nad) meinem Kämmerlein, um in Gedanken menigftend mit 
Euch dort drüben zu leben. — Um audzuruhen und um fi zu er- 
frifchen,, wußte er nichts liebered ala den Bejudh in den großen Mu⸗ 
feen und den vielen Privatfammlungen Londons. Wie freue id) mich, 





12 


ſchrieb er einmal, bei allen diefen herrlichen Dingen einen Mitgenof- 
fen an Hand Lappenberg zu haben. Ein junger Menfch ift Doch etwas 
herrliches, mit ihm wird man felbft wieder jung. — Durch die 
freundliche Theilnahme fo vieler und verfchiedener Menſchen an der 
deutfchen Literatur glaubte Beffer fich zu den größten Hoffnungen be- 
rehtigt und entwarf umfaffende Pläne für die Zukunft. Durch 
Schwabe, fchrieb er, der ein durch und durch vortreffliher Mann ift 
und im größten Anfehn fteht,. durch einige andere Geiftliche und durch 
Graf Münfter, fobald er hier ankommt, will ich es zur Sprache zu 
bringen fuchen, daß auf den hiefigen Schulen die deutfche Sprache 
eben fv wie die franzöfifche gelehrt wird, das heißt die Sache, lache 
nur nicht, an der Wurzel angreifen und fol fchon gehen. Sodann 
müffen wir hier ein deutfched® Journal, nach Art der englifchen Mis⸗ 
cellen , zwar nicht felbft unternehmen, aber doch veranlaffen, deutfche 
Mizcellen mit einem literarifchen Anzeiger. Die rechten Männer, das 
innere und Aeupere diefed Unternehmen? zu betreiben, habe ich ſchon 
im Auge. In enger Berbindung mit diefem Journal ließe fih wohl 
die Gründung einer deutfchen Bibliothek auf Subfeription in London 
verfuchen, welche die Liebhaber der deutfchen Literatur miteinander - 
in Verbindung brächte und die Zahl derfelben vermehren würde. Be⸗ 
finden fi) doch gegenwärtig auf den zwanzig verfchiedenen Bibliothe- 
ten Orfords gar feine deutfchen Werke. Mit großer Wärme find 
meine Borfchläge von unferen Freunden und Bekannten aufgefaßt. 
Habe nur guten Muth, ih kann Dir mit Gewißheit jagen, daß meine 
Reife hierher von bedeutenden Folgen für und fein muß. 

Nah einigen Wochen ftimmten fih jedod die anfänglichen Hoff- 
nungen Befler'd bedeutend herab. Man muß hier, äußerte er bedenk⸗ 
ih, oftmals auf einen Fleck fchlagen, bi? es Hilft. Am Schlagen laſſe 
ich ed nun zwar nicht fehlen, aber der Ausführung meiner Pläne bin 
ich noch nicht näher gerüdt. — Beſſer hatte, wie es in der Natur 
der Sache lag, in der erften Zeit feined Aufenthalt vorzugsweiſe 
bervorragende-Deutfche und Eugländer, welche deutfche literariſche Bil- 
dung und Liebhaberei befagen, gefehen und die ‘Meinung befommen, 
daß dieſe Männer nur einzelne Spipen eines bedeutenden ftarf für 
deutſche Literatur angeregten Kreiſes ſeien. Bald aber mußte er durch 


13 


diefe Männer felbit erfahren, daß fie eine vereinfamte Stellung eins 
nähmen. Leider äußern mir, fchrieb Beſſer, nicht nur die Deutfchen, 
fondern auch die Englänbder, welche mit der deutfchen Literatur gründ⸗ 
lich bekannt ſind, ihre Ueberzeugung unverhohlen, daß die Engländer 
als Volk nicht fähig ſeien, die deutſche Literatur aufzufaſſen. Goethe 
und Herder verſtehen fie nicht, Klopſtock misverſtehen fie völlig. Ich 
ſelbſt begreife es immer mehr, wie es dem Original⸗Engländer im- 
mer unmöglich bleiben wird, Sinn für Die deutſche Literatur zu bes 
fommen. Ich will gar nicht von den Männern der City reben, bie 
freilich nicht? weniger als Beſchützer der Literatur und wirflich quill- 
drivers, wie Robinfon fie nennt, find, ich will auch nicht von meinen 
Methodiftens Freunden reden, für die Goethe ein wicked fellow ift; aber 
der infularifche Charakter des Volkes bleibt auch geiftig abgefchloffen 
für fih, kann nicht aus fich heraus und kann nicht? Fremdes aufneh- 
men. Männer wie Robinfon werden ftetd eine fehr feltene Erſchei⸗ 
nung in, England bleiben. Einen befferen Vertreter ald diefen merk 
würdigen und anziehenden Mann kann Deutfchland nicht haben, und 
unwillfürlich fielle ich ihn in meinen Gedanken neben Billerd, und 
dann tritt die DVerfchiedenheit des Einfluſſes, welchen gründliche 
beutfche Bildung auf den Franzofen und auf den Engländer hat, 
mir in fehr fcharfen Zügen hervor. — Wiederum einige Wochen 
fpäter erflärte Beifer an Perthes: Gründlich habe ich jet gelernt, dag 
veriprechen, wollen und können drei verfchiedene Dinge find, und daß 
mir des eriten und des zweiten von vielen Menſchen gewiß fein kön⸗ 
nen, ohne deshalb auf das dritte rechnen zu Dürfen. Mich quält der 
Gedanke, Dir im Anfange zu große Hoffnungen von den Ergebniffen 
meines hiefigen Aufenthaltes gemacht zu haben, Doch find die einzel- 
nen Bortheile desfelben in jedem Falle fehr groß. Wir willen nun be— 
ftimmt, was wir nicht thun dürfen, und wenn wir auch neue große 
Unternehmen auf England nicht gründen können, fo werden doch die 
einzelnen pofitiven Vortheile nicht unbedeutend fein. Auf eigentlich 
gelehrte Werke, namentlich naturhiftorifche und medicinifche, müffen 
wir unfer Augenmerk richten; dagegen wird der Gebrauch der deut⸗ 
[hen Ausgaben von Claſſikern abnehmen, wie es fcheint. Ein länge 
rer Aufenthalt in London ift unter diefen Umftänden unnöthig und 


—— 14. 


Anfang Auguft hoffe ich wieder in Hamburg zu fein. — Deine Kla- 
gen erfchreden mich nicht, antwortete Perthed. Sei nur zufrieden, auch 
von England her wird und der Eegen nicht ausbleiben. Wir ftehen 
dort in gutem Andenfen und die Ruhe, die nah und nad in der 
Welt wieder eintritt, wird auch jenfeit? des Kanald neue Quellen 
eröffnen. , 

Nach Beſſer's Rückkehr aus London, im Auguſt 1814, arbeiteten 
beide Freunde nun mit vereinten Kräften an der Belebung und Aus⸗ 
dehnung des Gefhäfte. Nähere und fernere Bekannte halfen ihnen 
gerne die immer noch wiederkehrenden Geldverlegenheiten überwinden. 
Kann ich Ihnen, fchrieb 3. B. der edle Jakob Oppenheimer an Per- 
thes, von Ihren Fleinen Sorgen, die Sie eigentlich gar nicht haben 
follten, um kräftig für alled Gute und Edle wirken zu können, etwas 
abnehmen, fo thue ich e8 fehr gerne. Beſonderen Papieres bedarf es 
dazu nicht, ein Billet von Ihnen genügt völlig, und ich bitte Sie, 
bei der Rüdzahlung feine andere Rüdficht als die Ihrer Convenienz 
zu nehmen. — - Schon Oftern 1815 konnten Perthed und Beſſer an⸗ 
zeigen, dap die Handlung noch vor Ablauf der ausbedungenen drei« 
jährigen Friſt alle Verpflichtungen erfüllt haben werde. Sehr raſch 
nahm von jest an die Handlung die bedeutende Stellung ein, welche 
fie ſeitdem behauptet hat. 

So dringend Perthes auch in dem erften Jahre nach der Wieder- 
befteiung Hamburgs durch die Lage des Geſchäfts genöthigt ward, 

feine Kräfte zufammenzunehmen und auf die Ausfüllung ſeines näd- 
ften Berufs zu verwenden, jo war ed ihm in den heftigen Berwegun- 
gen jener Monate doch nicht möglich, theilnahmlod den Verſuchen zu⸗ 
zufehen, durch welche Berfaitung und Berwaltung der freien Stadt 
in die neue Zeit hinübergeleitet werden follten. Auch gab er niemals 
zu, daß in der lebendigen Theilnahme an den Öffentlichen Angelegen- 
heiten, fo fern fie nur nicht weit gefucht, fondern nahe gebracht fei, 
eine Geffahr für den tüchtigen und erniten Betrieb der eigenen Angc- 
kegenheiten liege. Lachen habe ich müſſen, fchrieb er einem Freunde, 
daß Sie Ihre Kräfte nicht verpuffen wollen. Sollten Sie wirklich fo 
wenig Munition haben? Hat nichts zu bedeuten: geiftig mehren ſich 
die Kräfte, je mehr man ihrer von ſich gibt. 


15 


Die. von den großen Mächten vielfah zur Sprache gebrachte 
Frage, ob Hamburg künftig eine Feſtung werden follte oder nicht, 
fette damals zunächſt alled in Bewegung. Nach den verfchiedenften 
- Orten bin, an denen er Einfluß und ein empfängliches Ohr vermu⸗ 
thete, wendete fich Berthed, um die drohende Gefahr abwenden zu 
belfen. Für fich felbft, für Deutfchland, für die europäifchen Bölfer 
hat Hamburg die Beftimmung, fchrieb er einmal, einen Punkt der 
Communication, der Circulation, des Vertriebes, des Erwerbens und 
Verbreitens abzugeben. Kann man, will man einen ſolchen Punkt 
nicht haben, oder hält man Hamburg nicht für den rechten, oder weiß 
man einen beſſeren? Findet ſich ein anderer Ort als deutſch⸗europäi⸗ 
ſcher Communicationspunkt und erfordert es die Sicherheit Deutſch⸗ 
lands, daß gerade der Ort Hamburg ein feſter Ort ſein muß, ſo wird 
ſich das finden; befehlen läßt ſichs nicht. Das kann niemand meinen, 
daß ein ſolcher Handelsplatz und eine Feſtung zuſammen beſtehen 
würde. Trotz der Montalembert'ſchen Thürme würden unſere Waa⸗ 
renlager und Banken den Congreve'ſchen Raketen bald zum Raube 
werden. — Was ſoll doc eigentlich Feſtung werden? ſchrieb Perthes 
ein anderesmal. Soll auch Altona, ſoll auch Harburg und ſollen die 
Elbinſeln befeftigt und demgemäp ihren bisherigen Herren entzogen 
und in das Hamburgifche Teltungdgebiet gezogen werden? Wer die 
großen Pläne gefehen hat, die unter Aufſicht des General® Bertrand 
entworfen und vom General Haro verbeifert find (einer derfelben be- 
findet ſich jept in Händen des Generald Wallmoden), der wird eine 
Borftelung von dem Niefenhaften des Unternehmens haben, Ham- 
burg in eine Feitung zu verwandeln. Hält Deutfchland etwas auf 
Hamburg, fieht ed in ihm wirklich den Berbindungspunft zwifchen 
Mitteleuropa und dem Norden, erfennt e3 in der Hamburger Banf 
das große Werkzeug eines freien gewaltigen Geldumlaufs, fo wird es 
dieſes Hamburg nicht zur Feftung machen wollen. Wie könnte Sicher: 
heit des Handelseigenthums fich mit der Herrfchaft militärifcher Noth- 
wendigkeit vertragen? Können Gefchäfte großer, lebendiger Art ge⸗ 
führt werden an einem Orte, mo Soldatenehre und Soldatenftrenge 
auch im Frieden das erfte fein muß? Hamburg fann die große Be- 
jagung ber Feſtung nicht ftellen, aljo muß e8 ein anderer. Zwar eine 


16 


fremde Garnifon wird es nicht oder doch wenigſtens nicht lange ha= 
ben; denn dem Staate, der fie gibt, wird Hamburg nicht® weniger 
als fremd bleiben, fondern binnen wenigen Jahren fein Fleiſch und 
Blut fein. Kommt es zu einem Kriege, fo muß alled Eigenthum Ham- 
burgs und das ihm von Fremden anvertraute Gut dem wirklichen 
oder vermeintlichen Intereſſe der Bertheidigung dienen. Alle Gefchäfte 
werden augenblidlich ftoden; die fremden Kaufleute der ganzen Welt 
werden augenblidfich Gelder und Waaren der bedrohten Feftung ent- 
‚ziehen, um fie niemal® wiederzubtingen. Hamburgs und feiner 
Schiwefterftäbte Stellung. wird um fo bedeutender für Europa fein, 
je ferner fie jedem nur politifchen Kriege bleiben fönnen. Gilt es 
einften? wieder dem deutfchen Baterlande, fo wird Gott. unfern Kin- 
dern Sinn und Kraft geben zu thun, was ihre Pflicht ift. Hat er doch 
auch und. nicht ganz ohne feine Gnade gelaſſen! 

Die Gefahr, in eine Feſtung verwandelt’ zu werden, ging fchnell 
vorüber, aber im Innern der Stadt lagen Gefahren mancher Art 
verborgen, wohl geeignet, ſchwere Beſorgnis für die Zukunft zu er- 
mweden. Am 27. Mai 1814 hatte die Bürgerfchaft, als fie zum erften« 
male nach Befeitigung der franzöfifchen Herrfchaft wieder zufammen- 
trat, auf Antrag des Senates eine Deputation von zwanzig Mitglie- 
dern für einen Zeitraum von drei Monaten gewählt, welche gemein- 
ſchaftlich mit dem Senate die durch die franzöfifche Herrfchaft befeitigte 
Berfaffung und Verwaltung der Stadt zu neuem frifchen Leben er- 
wecken follte. Die anfangd gehegten großen Erwartungen auf eine 
großartige politifche Wiederbelebung wollten ſich aber nicht erfüllen. 
Der in den Verhältniſſen liegenden Schwierigkeiten waren fehr viele, 
der Senat und die bürgerfchaftlichen Collegien waren noch nicht wie- 

ber vollftändig befebt und beftanden zum größten Theil aus alten 
wohlwollenden, noch zur Reichözeit gewählten Männern, welche fich 
in die neue Bewegung nicht finden konnten und vor jedem entichei- 
denden Schritte fcheu zurückwichen. Kaum vermochten fie die drin- 
genden Anforderungen, welche das tägliche Leben brachte, zu befriedi- 
gen, und für die Neugeftaltung der alten Berfaffung und Verwaltung 
war wenig geichehen, ald am 29. Auguft dad Mandat der Zwanziger- 
deputation ablief. Perthes, welcher glaubte, daß Monate, jo wie die 


17 


gegenwärtigen, geeignet zur Herftellung eines frifchen politifchen Lebens, 
nicht wiederlehren würden, ſah diefelben mit Schreden ungenupt vor⸗ 
übergehen. Schon im Juli klagte er bitter über die Armfeligkeit und 
Erbärmlichleit der Männer, die zum Handeln und Schaffen berufen 
wären, und ald im September der Senat mit einer neuen Geldfordes 
rung vor der Bürgerfchaft erfihien, trat er als Mitglied derjelben auf 
und ſprach: Seit drei Monaten tft unfere Stadt wieder frei und noch 
ift der Senat nicht wieder vollftändig befebt und läßt, wie wir. foeben 
gehört haben, die wichtigften Gefchäfte liegen, weil er zu viele Ge 
Ihäfte hat. Das Oberaltencollegium tritt meiften® nur mit fünf 
Mitgliedern zufammen, die Kammer ift unvollfländig, die Hundert- 
undachtziger haben fich nicht wieder verfammelt und die Sechziger 
find gelähmt. Die Entfheidungen aber der Bürgerfihaft können nur 
dann wahr und richtig ausfallen, wenn die an fie gebrachten Propo⸗ 
fitionen von einem kräftigen, zuverläfligen Senate entworfen, von ers 
fahrenen Oberalten geprüft, von den Sechzigern zur Verhandlung 
vorbereitet und durch die Hundertundachtziger einer großen Zahl ein- 
zelner Bürger bereit® vor der eigentlichen Berathung bekannt gewor⸗ 
den find. Bon alledem aber gefchieht jebt nichts, und ob die verfam- 
melte Bürgerfchaft zu den ihr vorgelegten Propofitionen ja oder nein 
jagt, ift — das wiſſen wir alle — fo ungewiß wie dad Spiel in der 
Lotterie. Solch ein heillofer, unverantwortlicher Zuftand in dieſer 
tobenden Zeit muß und wird und alle ind VBerderben bringen. Es 
ift hohe Zeit, da wir un? felbft helfen; wo nicht, fo wird und von 
außen geholfen werden, und dann ift ed um unfere Stadt gefchehen. 
Schweigen hat feine Zeit, aber Sprechen bat auch feine Zeit, und 
jest fehiweigend zuzuſehen, iſt eine Sünde, die wir und unfere Radh- 
fommen ſchwer büßen würden. Ich erfläre, daß ich heute zum lepten- 
male auf einen Antrag ded Senats mich bei meiner Abſtimmung aus 
Gründen, die in der Sache liegen, beftimmen laſſe; künftig werde ich 
auf jede Propofition des Senated mit nein antworten, bi® der Senat 
‚ ergänzt und dad Collegium der Oberalten durch vollftändige Beſetung 
in den Stand geſetzt iſt, ſeine Pflicht zu erfüllen. 

Wie durch dieſe Worte in der Bürgerſchaft, ſuchte Perthes auch 


unter einflußreichen Mitgliedern des Senates feiner eigenen Ueberzeu⸗ 
Pertheo' Leben. II. 4. Aufl. 2 


18 


gung von der unbedingten Nothwendigfeit entichlofiener Schritte zur 
Belebung der Verfaſſung und der Bermaltung Geltung zu verfchaffen. 
In einer fehr offenen und unummwundenen Zufchrift wendete er fich 
an Abendroth, ohne Zweifel den muthigften und Fräftigften Mann 
im damaligen Eenat. in den erften Wochen nad der Befreiung, 
äußerte er in diefem Briefe, als ed noch möglich fhien, daß heftige 
Bewegungen von innen und von außen die Stadt erfehüttern könn⸗ 
ten, begehrte der Senat die Ernennung der Zwanziger-Deputation und 
gab zu verftehen, dag diejelbe den mejentlichften Einfluß auf die Er⸗ 
neuerung der öffentlichen Angelegenheiten haben follte. Unbewußt 
hatte der Senat damals wohl die Abjiht, fich hinter die Deputation 
zu verſtecken, wenn innere Unruhen audbrechen follten. Die Bürger: 
fchaft war einfältig genug, nicht auf beflimmte und umfaflende Voll- 
machten der Deputation zu dringen, und deshalb konnte diefelbe, weil 
‚ feine inneren Unruhen entitanden, in |hmählicher Ohnmacht gehalten 
werden. Eben fo ordnete der Senat, fo lange er'noch Unruhen fürd- 
tete, eine Bürgerbewaffnung an, entzog ihr aber, da fi die Sicher- 
heit von Tage zu Tage erhöhte, Schritt für Schritt die Mittel ihres 
Beſtehens. Der Senat machte die vortrefflihe Propofition zur Um⸗ 
geftaltung unferer höchften Yinanzbehörde, fonnte aber den wichtigſten 
Theil derfelben, die Einfeßung des Generalcafjierer®, nicht durchbrin- 
gen, weil er die nötbigen Vorbereitungen verfäumt hatte. Die fehr 
gut audgearbeitete Ambildung der Baubehörde wurde vom Senate 
proponiert und wurde angenommen, aber auch bier wieder zeigte fich 
der Krebs, weil man krebsartig verfuhr. Die Kirchenbauten und 
Klofterbauten nemlih wurden dur die Bürgerfchaft von der Ober- 
aufficht der Baubehörde audgenommen und fo aufs neue der Staat 
im Staate gegründet, weil der Senat nicht den Muth hatte, gleich in 
den erften Wochen die Aufhebung diefer inneren Wechfelbälge bei der 
Bürgerfehaft zu beantragen. Dann fam es zur Berhandlung über 
die Handeläfamntern. Senat, Bürgerihaft, Publicum waren dafür 
und fie wären troß aller Gegenanftrengung der Advocaten eingeführt 
worden, wenn der Senat feinen Borfchlag nicht heimlich, fünftlich und 
unter der Hand hätte durchfegen wollen. Hierauf folgte das Reli- 
giondproject, bei welchem die Intoleranz des Senates, ber feine an⸗ 


19 





deren Chriften ald Qutheraner in feiner Mitte haben will, die Into— 
leranz der Bürger bei weiten übertrifft, die Feine Juden mit gleichen 
Rechten unter ſich dulden wollen. Doch diefed alles ift nur weniges 
von vielem. Hätte der. Senat in den erften Wochen die Gleichheit 
der hriftlichen Religionsparteien durchgeſetzt und fich ſelbſt vervollftän- 
digt, fo durfte er auf vollftändige Bürgerfchaften zu feiner Unterftü- 
gung rechnen. Statt deſſen aber blieb der Senat drei Monate hin- 
dur unvolljtändig befegt in überhäuften Gefchäften ftedten und ver- 
Ihmähte in ſtolzer Cinengung alle Hilfe in Rath und That. Ihm 
fehlt es an Freiheit des Geifted, an Kraft des Willend, an Weltum- 
figt. Die Gefchäfte beginnt er nicht aus einem Gefichtöpunft und 
nach einem Plan, fondern führt fie abgerijfen, tumultuarifch, und dies 
ſes Verfahren pflanzt fih dur alle Verwaltungen fort. Alles ſoll 
von allen gemacht und jo zu fagen aus der Tafche geipielt werden. 
Fruchtlos fcheint die Zeit an dem Senate vorübergegangen zu fein, 
und ift ein Mitglied in ihm, welches ſich befinnt und gründlich die 
Lage der Dinge anfieht, nun fo ergeht ed ihm, wie e8 ihnen. ergan- 
gen iſt. Daher it ea gefommen, daß alle Berbefferungen nur ftüdmweife, 
nur am letzten Ende beginnen fonnten, und wa? ift alles liegen ge- 
blieben — die Juſtiz, das Hypothekenweſen, die Armenanftalten. 
Was mag in London und in Wien vom Senate verabfäumt fein, 
und was man angriff, geſchah im lebten Augenblid, in Haft und 
Unficherheit und mit der Angft, ſich nicht zu compromittieren. Zu 
allem Guten mußte der Senat erit dur das Publicum gendthigt 
werden. ch ahne Unglüd von außen und Berfall im Innern. . 
Ob diefe Worte, die Berthed bier fehrieb, dort ſprach, ob die 
pielen Aufſätze, die er in jenen Tagen über einzelne ftäbtifche Angele- 
genheiten ausarbeitete, eine Einwirkung auf den Gang der Dinge ge⸗ 
übt haben, ift nicht zu entfcheiden. Wie viele aud wahrem warmem 
Herzen gefchriebene und geredete Worte verwehen in der Luft, aber 
wie oft auch hat ein eingiged Wort, am rechten Tage und in der rech⸗ 
ten Stunde geredet, viel böſes verhindert und viel gutes gefördert! 


20 


Die politiihen Stimmungen während des Wiener Con- 
greſſes nud des zweiten Befreinugsfrieges. 
Herbit 1814 bis Herbſt 1815. 





Während zahliofe Menſchen aus allen Ständen und in allen 
heilen Deutfchlande ähnlih wie Perthed daran arbeiteten, nad 
den Stürmen des Krieges ein abgeriffened Leben wieder anzufnüpfen, 
ſollten fih die Könige und Fürften, die Minifter und Diplomaten 
Europa’3 in Wien verfammeln, um auf einem großen Congreß die 
europäifchen Verhältniſſe neu feftzuftellen und um indbefondere die 
deutfchen Staaten, welche feit Auflöfung des Reiches vereinzelt neben- 
einanderlagen,, wieder in einen Zufammenhang zu bringen. 

Die unerhörten politifchen Widerfprühe, an denen Deutichland 
feit Jahrhunderten fchwer gelitten hatte, waren nothdürftig verdedt 
geblieben, fo lange die träge Macht einer langen Gewöhnung allen 
alle® erträglicher ald die Mühe politifcher Bewegung erfcheinen 
ließ. Ein politifches Leben. hatte Deutfchland freilih im vorigen 
Jahrhundert nicht gehabt, aber doch eine politifche Exiſtenz. Napo- 
leon löfte die altüberlieferten Widerfprüche nicht, aber er zerhieb den 
Knoten. Er zerftörte das deutfche Reich und nun konnten die. deut⸗ 
fhen Einzelftaaten widerfprudlod als fouveräne Staaten daſtehen; 
er machte Deftreich und Preußen ohnmächtig und nun war jede Ge- 
fahr bejeitigt, die aud deren Zuſammenſtoß hätte entitehen können: 
aber freilich Deutfchland entbehrte jegt nicht allein des politifchen Le- 
bens, fondern auch der politifchen Exiſtenz. Napoleon's Herrſchaft 
wurde vernichtet und in dem Augenblid der Vernichtung traten die 
alten politifhen Schwierigkeiten in unberechenbar erhöhten Grade 
aufd neue hervor. Deutſchland mußte ein Ganzes bilden und den- 
noch mußte eine Mehrzahl felbftändiger deutfcher Staaten auch fünfe 
tig fi finden, Deutſchlands Zukunft hatte das feite Zufammenhal- 
ten Deflreih® und Preußens zur Borausfegung und dennoch war der 
eiferfüchtige Gegenfag beider Mächte eine gegebene Thatſache. Keine 
Möglichkeit beftand, die harten Widerfprüche des Lebens wieder wie 


21 


zu der Väter Zeit in die träge Gewohnheit des politifchen Begetierend 
zu begraben: eine Gewohnheit. ift oder wird, aber niemand Fann fie 
befehlen, niemand kann fie machen, und einmal befeitigt,. ift fie für 
- immer-befeitigt. Im grellen Lichte lagen die alten Schäden, die al» 
ten Schwierigkeiten vor: mer hätte die Augen gegen fie verfchließen, 
wer fie dahin geftellt fein Tafien Fönnen? Es gab feinen Ausweg; 
der Congreß konnte feine Aufgabe nicht verlennen und nicht umgeben; 
er mußte eine politifche Geftalt Deutfchland®, melche die im Leben 
vorhandenen Widerfprüche nicht ignorierte, aber erträglich machte, 
fuchen, mußte fie finden, mußte fie beftimmt und deutlich ausſprechen 
und bindend feftftellen. Wenn diefer Bau, deffen Errichtung in 
Wien verfucht werden follte, mislang, vielleicht ſchon während des 
Bauen? zuſammenbrach, fo wurde Deutichland, fo wurden alle jene 
einzelnen, die fih fo emfig um Herftellung ihrer befonderen Berhält- 
niffe bemühten, zugleich mit allen ihren Sorgen und Arbeiten unter 
den Trümmern begraben. 

Ein Gefühl von der für Gegenwart und Zukunft unermeßlich 
großen Bedeutung ded Congreſſes ging zwar durch unfer ganzes Volt, 
aber während der erften Sommermonate 1814 hatte Die Hoffnung das 
" Uebergewicht, daß die Staatdmänner in Wien, fo bald fie nur zu- 
fammengetreten feien, der Nation eine große politifhe Zukunft ale 
fertiges Gefchen? überreichen würden. Bald jedoch nach Eröffnung 
des Congreſſes im Herbfte 1814 zeigte fich zuerft den Eingeweihten, 
dann auch den Außenftehenden, . daß die Kraft der verfammelten Di- 
‚plomaten weniger im Wollen als im Nichtwollen beftand. Jede po- 
fitifhe Form, welche für die nationale Einheit und den Zuſammen⸗ 
bang der einzelnen Staaten in Vorſchlag fam, wurde eifrig befämpft, 
aber die ſachlichen Schwierigkeiten zu überwinden und eine Verfaſſung 
für Deutfchland mit fhöpferifchem Geifte zu zeugen, wollte nicht ge- 
lingen. Die Gewalt der Dinge imdeflen war ftärfer ald die Weisheit 
der Menfchen; immer von neuem warf fie die Bundesform, ald Form 
der nationalen Einheit, in das Gewirre der Meinungen hinein. In— 
dem nun die verneinenden Geiffer des Congreſſes an der Bundesein⸗ 
beit die Einheit möglichft befeitigten, kam es endlich dahin, dag am 
8. Juni 1815 die deutfche Bundesacte unterzeichnet ward. Sie über- 


22 


ließ ed den ausführenden Staatömännern des fünftigen Bundestages, 
die Einheit wirffih ind Leben zu führen, weldhe die feitftellenden 
Staatsmänner ded Congteſſes nur anzudeuten vermodht hatten. 

Perthes war von Hamburg aus dem Gange der Verhandlungen 
mit lebhafter Iheilnahme gefolgt; unter den wiſſenden und aud uns 
ter den handelnden Perfonen befaß er nahe Freunde und viele Bes 
fannte, mit denen er in ſchriftlichem Verkehre ftand, und manche ver- 
traute, merkwürdige Nachricht über die Stellung der Perfönlichkeiten 
und über die wechfelnde Lage der Berhältniffe findet fi in den Briefen, 
die er während des Congreſſes aus Wien und während des Krieges 
aus Frankreich empfing. 

Schon feit Mai und Juni 1814 wurde er mit den großen in den 
gegebenen Verhaͤltniſſen liegenden Schwierigkeiten befannt, welche fi 
der politifchen Geftaltung Deutſchlands entgegenftellten, ſchon früh 
erhielt er Kunde von dem Ringen Deftreichd und Preußens und fah 
das unruhige Arbeiten Baierns nach einer Stellung, die für voll 
nicht nur in Deutfchland, fondern auch in Europa gelte; er hörte 
von der Sorge Würtembergs, nicht hinter Batern zurüdzubleiben, 
und von dem Mistrauen Hannovers, welches fich vieles gefallen laf- 
fen wollte, nur nicht das Anſehen Preußens; er fannte die rathlofen 
Anftrengungen der minder mächtigen deutſchen Staaten, die ihren 
Fottbeſtand durch ein deutſches Kaiferthum Oeſtreichs gefichert glaub- 
ten, fofern dasjelbe nur ihrer Souveranetät nicht zu nahe trete; er 
erfuhr, wie Baden und Heflen ſchwankten, ob fie fi Baiern und 
Würtemberg oder den Meineren Fürften anfihliegen follten, und ex 
wurde von dem Widerwillen der europäifchen Mächte gegen jeden 
Schritt unterrichtet, welcher die Bedeutung Deutſchlands oder einer 
deutfhen Macht verftärfen könne 

Lebendiger noch trat aber aus jenen Briefen die Gewißheit her- 
vor, daß die in den Verhältnitfen liegenden Gegenfäge durch die Lei- 
denfchaft der fich befämpfenden Parteien über alled Map hinaus ver- 
(härft und erweitert wurden. Grbittert griffen Belannte, welche 
Perthes auf dem Congreſſe beſaß, die Haltung Deftreihd an und 
eiferten in heftigen Worten gegen Metternich. Metternich will, fchrieb 
ihm ein Freund, nicht laſſen von den alten Künften böfer Politik, 


23 


und um für Deftreih Gewinn zu ziehen, begünftigt er am Rhein und 
in Schwaben dad Drängen nad einer faiferthümlichen Republik, in 
Baiern die Eonveränetätöfucht ehrgeisiger Minifter und in ben Elei- 
neren Staaten dad Streben der Fürften nach einem patriarchalifchen 
Kaiferthbum, zugleich aber unterhält er mit Talleyrand Verbindun⸗ 
gen, welche Deutihland und Europa ind DBerderben ftürzen kön⸗ 
nen. — Die öjtreichifchen Staatdmänner find, fchrieb ein anderer, 
dem fchlechteften Dienfte politifcher Bequemlichkeit verfallen und wol⸗ 
len mit abſcheulichem Haffe gegen alle®, was nicht hochgeboren iſt, 
ganz Oeſtreich nur ald Mittel für Die Zwede der Diplomaten gebrau⸗ 
hen. — Das Wiener Cabinet hält, heißt ed in einem anderen Briefe, 
jede Gefahr für befeitigt, weil Napoleon befiegt ift, und ahnet nicht, 
was unten laut wird und von unten zur Entfcheidung drängt. Die- 
ſes Deftreih,, in fremder Meinung geſchwächt, an eigenem Geifte 
verarmt und jeden Geift, der fih ihm bingibt, unglaublich ſchnell 
verzehrend, Tann nie und nimmer an der Spike Deutſchlands fteben. 
Soll Deutichland dem Schickſale Italiens, eine große Entſchädigungs⸗ 
maſſe für die Nachbarn zu bilden, entgehen, fo müſſen fich alle ſchwä⸗ 
cheren deutichen Kräfte der ftärkiten deutfchen Kraft, alfo Preußen 
unterordnen, es bat in feiner neueften Heldenperiode wiederum ge- 
geigt, daB es alles daran ſetzen kann und will, um Deutſchland frei 
und felbftändig zu machen. 

Nicht weniger heftig. ald die Angriffe gegen Deftreich waren die 
Angriffe gegen Preußen, welche andere Bekannte in ihren, damals 
aus Wien an Perthes geſchriebenen Briefen laut werden ließen. Wah—⸗ 
end Deftreich zwanzig Jahre hindurch, fagte einer derfelben,. unauf- 
hörlich für Deutſchland gefämpft hat, ohne je damit zu prahlen, 
während Deftreich® Kaifer, unfer eigentlicher Kaifer, mit allen jeinen 
Brüdern und feinem ganzen Cabinette deutſch gefinnt ijt durch und 
durch, lebt in ganz Preußen fein anderer Gedanke ald der des eige- 
nen Bortheil® und der eigenen Vergrößerung. Wie ein Keil hat 
Preußen fi in Deutfchland Bineingefhoben und die Splitter, welche 
es felbit hat abfallen machen, reißt e8 nun unter Dem Vorwande an 
ih, daß diefelben ihre Unfähigkeit zu leben ja längft gezeigt hätten. 
Die Preußen fonımen nicht 108 von der firen Idee, dag Preußen 


24 


Deutſchland und jede Vergrößerung Preußens eine Verſtärkung Deutfch- 
lands fei; fie meinen, die Deutfchen könnten nur, wenn fie Pren- 
fen würden, zur rechten Deutfchheit kommen. — Bon tiefer Un- 
redlichfeit ift der ganze preußifche Staatöförper durchzogen, fchrieb ein 
anderer; der Rath des Könige befteht zum großen Theil aus höchſt 
unmoraliſchen Menfchen und faft alle Beamte tragen etwas von der 
Politik des Staated an fi), nach welcher jedes Mittel „Staatsweis⸗ 
heit” heißt, fo bald ed nur geeignet ift, andere zu bintergehen. — 
Des Franzoſenthums find wir, ſchloß ein Brief vom December 1814, 
‚Herr geworden, Gott bewahre und vor dem Preußenthum. Selfen 
auch Sie, mein lieber Freund, Deutichland vor diefen Raubthieren 
ſchützen, die, um fich zu vergrößern, kalt und herzlos alles zerreißen 
wollen. 

Die gehäflige Bitterfeit, welche in den Gemüthern der Menfchen 
zu dem thatfächlich begründeten Gegenfabe zwifchen Deftreih und 
Preußen binzugetreten war, blieb felbft den Verhandlungen der Ca- 
binette nicht fremd und wurde für Perthes fchon früh aus manchen 
brieflihen Andeutungen erfennbar. Das, was in Deftreich, und das, 
was in Preußen gährt, heißt es fchon in einem Briefe vom Auguft 
1814, ift durchaus entgegengefepter Art und wird feindlich zuſam⸗ 
menftogen müffen. Noch freilich berühren ſich die entgegengefekten 
Strömungen nicht, oder: doch nur in den Köpfen einiger wenigen 
Menſchen; aber ereignisvoll wird die nächite Zeit fein. — Fort⸗ 
während werden Noten gemechfelt, fchrieb im October ein Freund 





aus Wien, und fie find abwechfelnd gelinde und heftig; daher glaubt 


man einen Tag beftimmt an den Frieden, den anderen Tag an den 
Krieg. Alles ift gerüftet und die Allianzen find geſchloſſen; die Par- 
teien haffen fih genugfam, um loszufchlagen: aber noch hält die 
Furcht fie vor dem Beißen zurüd und geftattet nur das Bellen. Wie 
bei der überall hervortretenden Selbitfucht und Erbärmlichfeit irgend 
etwas würdiges und dauerndes zu Stande fommen foll, ift nicht ab- 
zufehen und leicht Fönnte der Krieg das einzige Mittel fein, durch 
welches der ewige Schöpfer eine neue Ordnung der Dinge hervor⸗ 
bringen will. 

In den Briefen, die Verthes feit dem November 1814 empfing, 


) 


25 


trat der fortichreitende Zerfall der großen Congreßmächte immer deut- 
licher hervor. Neue Urſachen zum Groll und Haf zeigen fich täglich, 
heißt es in denſelben, aber neue Mittel, fie zu befeitigen, wollen nicht 
erjcheinen. Man weiß in der entfeglichen Lage weder Weg noch Ziel, 
und die großen Mächte gebrauchen in dem heftigen Rampfe, den fie 
gegeneinander führen, wieder. die alten Waffen: der früheren Unter- 
bandlungsfunft mit allen ihren Raͤnken, Meberliftungen, Borjpieges - 
lungen und Rüdhalten, welche durch die legte große Zeit für immer 
befeitigt fchienen. Wahrlic die Sachen find hier fo geftellt, daß man 
fih Ihämen muß, fie in einem anderen al in einem falfchen Lichte 
erſcheinen zu laſſen. Wehe dem, der feine Hoffnungen auf diefen 
Haufen Diplomaten febt, welche, der Wahrheit nach, nichts anderes 
wiffen ald die Schwierigkeiten hinaudzufchieben, zum Scheine aber 
doch, bevor fie audeinander gehen, eine Art von Schluß ded Congreſ⸗ 
ſes zuſammenſetzen werden, der mit dem Trugbilde einer Beendigung 
tröftet! Noch nie ift das Herrfchen und die Staatskunſt fo gänzlich 
aller Würde entblößt erfehienen, aber wahrſcheinlich wird fie auch nie 
fo erfolglo® gewefen fein. — Die Beichlüffe, nad) zufälligen Launen 
und wechfelnden Bequemlichkeiten anmaßender Menſchen gefaßt, ſchrieb 
ein anderer, können und werden nicht? bleibendes erzeugen und eine 
fremde Gewalt, der revolutionäre Zeitgeift, wird über kurz oder lang 
den ganzen Plunder über den Haufen werfen, aber was dann? Einen 
Mann, der der bedeutenden Zeit gewachſen wäre, haben wir nicht. 
Im ſchroffen Gegenfage zu dem erfolglofen Abmühen de? Con- 
greſſes und zu den Aengften und Nöthen der Diplomaten wurde die 
Nation von einer bis zur Begeifterung erhobenen politifhen Stim- 
mung beherrſcht, welche aus dem Zufammenwirken verjchiedenartiger 
Kräfte langſam feit. einigen Menfchenaltern erwachſen war. Es ift 
nicht möglih, Männer richtig zu würdigen, welche, wie Perthes, Die 
auf die Freiheitöfriege folgenden Jahre mit lebendiger Theilnahme 
durchlebten, wenn man nicht die mächtige Bewegung ſich vergegen- 
wärtigt, von welcher die Nation damals geiftig ergriffen war. 
Nach langer Selbftvergefienheit hatten bereit? etwa ein halbes 
Jahrhundert früher die Deutfchen ſich plößlich in dem poetifchen Bilde 
erblickt, welches Klopftod und das ihm folgende jüngere Dichterge- 


26 


fchledht von ihnen entwarf: Zu ihrer eigenen Bermunderung hatten 
fie durch die Dichter in Erfahrung gebracht, dag fie nicht nur ein 
Volk feien, fondern aud ein Voll, dem an Kraft und Herrlichkeit 
nicht leicht ein andered verglichen werden könnte. Der Glaube an 
das Dafein eines idealifirten deutfchen Volkes mar während der lebten 
Sahrzehende des vorigen Jahrhundert? ungehindert durch die Flein- 
liche Wirklichkeit tiefer und tiefer in. das geiftige Volksleben gefenkt 
und hatte eine neue Färbung durch jene in Schiller verkörperte Rich⸗ 
tung erhalten, welche für das Ideale eine Wirklichkeit zu fchaffen 
ftrebte. Dann hatte die Romantik, Werth und Wefen der Dinge und 
Verhaltniſſe faft ausfchlieglih in deren poetiſchem Gehalt erblidend, 
des Poetifhen gar viel im deutſchen Volke aufgefunden und eben um 
dieſes poetifchen Kerned wegen die nationale Herrlichkeit aufs neue 
hoch gepriefen. Als nun der Drud Napoleon'ſcher Herrichaft die Be- 
ften des Volkes in einer früher unbefannten Weife feft aneinander 
drängte, mußte wohl inmitten der politifchen Zerfplitterung deutfche 
Sitte und Spradhe, deutfche Wiffenfhaft und Kunft ald ein großes 
nationale® Gut in hellem Glanze leuchten und die außerordentlichen - 
Anftrengungen und Erfolge der Freiheitöfriege fügten diefem natio- 
nalen Schage eine große friegerifche That hinzu. Nicht mehr die Dich— 
tung allein, fondern das Leben ſelbſt lobte nun die Deutfchen und 
mit ftaunender Bewunderung fahen die Fremden auf die neu ſich er- 
bebende europäifche Kraft. Die Nation trat aus den Kampfe mit 
einem glühenden Glauben an die eigene Größe hervor, der aus der 
Dichter Poefie, aus Idealismus und Romantif, aud der Freude an 
deutfcher Wiffenfchaft und Kunft und aus dem Stolze auf das voll- 
brachte große friegerifche Werk erwachfen war. Unmöglich fonnte das 
mächtig überfchwellende Nationalgefühl wieder eingehäuft werden in 
die engen, Fleinlihen und nun in Scherben umberliegenden Formen 
des vorigen Jahrhunderts, aber eben jo wenig konnte es zertheilt 
werden in eine Bielheit vereinfamt nebeneinander liegender Staaten, 
wie zur Napoleon’fhen Zeit. Eine Form, welche die ſich ihrer aufs 
neue bewußt getvordene Ration ganz umſchloß und als politijcher 
Ausdrud für die nationale Einheit gelten konnte, war Nothiwendig- 
feit, und das Bewußtſein diefer Nothwendigkeit bemächtigte ſich der 


27 


Gemüther fo ausſchließlich, daß alles Streben und Hoffen nur auf 
die deutſche Einheitdform gerichtet war. Wie ed fünftig in den ein- 
zelnen deutfchen Staaten audfehen werde, daran dachten zunächſt nur 
wenige und der mit der ganzen Kraft des Neuen hervorbrecdhende Ju⸗ 
belruf der Rationalität drängte ſchnell die Regungen des Selbftgefühld 
“ zurüd, die fi) hier und da, namentlich in Hannover, Baiern und 
Sachſen, dem Trieb nah Einheit entgegenftellen wollten. Darüber 
war die öffentliche Meinung völlig einig, daß dem deutfchen Bolfe in 
feiner Einheit eine herrliche Zukunft zu Theil werden müffe, über de- 
ven Ratur aber waren bekanntlich nicht grade die deutlichiten Vorftel- 
lungen verbreitet. Der Mangel derfelben machte indeffen nur wenigen 
Eorge; die, meiften hielten e8 für Fleinlih und der großen Zeit nicht 
würdig, ſich mit jo untergeordneten Fragen wie der nad) der Mög- 
- lichkeit oder Unmöglichkeit beftimmter Berfaffungdformen Deutſchlands 
zu befhäftigen oder dem Widerftande, welchen die wirklichen Berhält- 
niſſe und thatfächlichen Zuftände dem Wünfchen und Hoffen entge- 
genftellten, ein aufmerkfamed Auge zu leihen. 

Indem das Streben nach einem der nationalen Einheit entfpre- 
enden politifchen Ausdrud fid) des Blickes auf die Wirklichkeit ent« 
ſchlug, trat durch ganz Deutichland ein dunkle, ungeoröneted und 
deshalb um fo heftigered® Drängen hervor nad einem. unbefannten 
Etwas, welches bald deutiche Einheit oder deutiche Ehre, bald deut. 
fche Freiheit oder deutiche Herrlichkeit, zumeilen auch wohl deutiches 
Kaijerthum genannt ward. Diefed Etwas wollten die Deutichen tm 
Fahre 1814 mit eben dem Eifer erftürmen, wie im Jahr 1813 die 
Befreiung von der franzöfifchen Herrſchaft; aber die Volksbewegung 
beider Jahre hatte durch die Verfchiedenheit des Zieles, auf welches 
fie gerichtet war, eine durchaus verfchiedene Natur angenommen. Im 
Jahr 1813 war fie auf ein einziges, feft beftimmtes Ziel: die Ber: 
nichtung der Herrſchaft Napoleon’d, gerichtet geweſen; jeder hatte ge- 
mwußt, was er wollte, und niemand befchäftigte fi mit den Dingen, 
die er etwa nicht wollte Im Jahre 1814 dagegen war allerdings 
das nationale Bedürfnis nach Einheit als ein wahres ıind wirkliches 
vorhanden, aber das Drängen und Arbeiten im Volke zur Befriedi— 
gung desfelben entbehrte jeded gemeinfamen Zieles; in taufend Rich⸗ 


28 


tungen, Hoffnungen, Beftrebungen war das vor wenigen Monaten 
noch in ſich feſt geſchloſſene Volk auseinander geſprengt; jeder wußte, 
was er nicht wollte, und machte dieſes Nichtwollen leidenſchaftlich 
geltend, aber was er wollte, wußte in einer beſtimmt gedachten und 
der Ausführung fähigen Form niemand. Denn das unter dem glän⸗ 
zenden Ramen: deutfche Freiheit oder deutfche Einheit oder deutfches 
Kaifertbum, von vielen ſcheinbar gemeinfam verfolgte Ziel gehörte 
nicht der Wirklichkeit an, fondern dem wogenden Meere eined unbe 
ftimmten Ahnen? und Sehnen; e3 glich einem Wolfenbilde, welches, 
jelbft geftaltlo8, feine Geftalt von dem befchauenden Auge empfängt 
und deshalb fo viele Geftalten befist, als es befchauende Augen gibt. 
Zwar verfuchte ed wohl diefer oder jener, das Gebilde feined Auges 
feftzuhalten und in Worte oder Paragraphen gebannt anderen vorzu⸗ 
legen; aber dur folche Verſuche ward dad Geitaltlofe nur fixiert, 
aber fo wenig geftaltet wie ein Wolfengebilde, wenn es zu Eis er- 

ftarrt. | 

Die auf ein Grenzenloſes hinarbeitende Bewegung im deutfchen 
Volksleben mußte nothiwendig mit jenem Congreſſe in Wien auf das 
heftigfte zufammenftoßen, der vor allem mit den Schwierigfeiten des 
Augenblid fi abmühte und das Ziel aud den Augen verlor, indem 
er um die Wege und Mittel ftritt. Der Congreß fah in den fpäteren 
Monaten feined Zufammenfeind auf die Bewegungen im Bolfe hin 
wie auf eine unheimliche, gefahrdrohende Macht, und die Gefchichte 
der Öffentlichen Meinung in Deutfchland beftand vom Frühfommer 
1814 bis zum Frühſommer 1815 in dem Uebergange von der Hoff- 
nung zum Zweifel, vom’ Zweifel zur Midachtung, von der Misach— 
fung zum bitterften Haß gegen die Congrepthätigkeit der Regierungen 
und zum Theil ſchon gegen die Regierungen felbit. 

In diefem großen, zwifhen Staat und Bolt, zwifchen Politik 
und Nationalität hervorgetretenen Gegenfage mußten die Männer, 
welche politifch fühlten, fi) ihre Stellung wählen, hier oder da., Per- 
thes neigte fich dem natürlichen Zuge feines Herzens nah auf Seiten 
der Nationalität. Bon Jugend auf hatte er mehr Sinn für Wefen 
und Werth des Nationalen als für Wefen und Werth des Staates 
‚ gehabt, war mehr national als politifch entwidelt gewefen. Wie 


29 


groß und bedeutend ihm damals die Macht der Nationalität vor ber 
Seele ftand, fpricht fih unter anderm in einem Briefe lebendig aus, 
den er an Fouque fchrieb, ald Chamiffo, befanntlich ein geborener 
Franzofe, in Hamburg gemwefen war. Es hat mit leid gethan, heißt es 
in diefem Briefe, dag Du über diefen wunderbaren und wunderlichen 
Mann mir nichts näheres gefagt haft. Ich babe ihn fehr Liebens- 
würdig, ſehr geiftreih, fehr verftandvoll gefunden; aber fehr unglüd- 
lich ift der Mann: er hat kein Vaterland. Seine Natur gehört ganz 
feinem franzöfifchen Mutterlande an; er kann fih davon nicht tren- 
nen und fann doch auch nicht zu den Menfchen gehören, die dort — 
faft möchte ich fagen — machen. Die Liebe zum Baterlande, das 
Gehören zu einer Nation und die Gemeinſchaft alles ihres Glüͤcks und 
Unglüds fcheint dem Menfchen fo tief eingefeelt zu fein, daß fein Ber- 
hältnis, feine Univerfalität, ja auch die Liebe und Gott nicht hienie- 
den über folchen Berluft un? tröften und ung denfelben erſetzen kann. — 
Die Mafje der Menfchen ald einzelner, fchrieb er ein anderedmal, 
mag wohl zu allen Zeiten und in allen Ländern fo ziemlich gleich fein 
in Rüdficht auf gut und böfe, aber in den Nationalitäten bildet ſich 
Gottes Ebenbild verſchieden ab. In den Nationen und nicht in den 
einzelnen liegt der Unterſchied nach Zeit und Land, und je höher die 
Nation, um fo bloßer fteht der einzelne in feiner Sünde. Wer wollte 
richten zwifchen den Millionen Franzofen und den Millionen Englän- 
dern, ob diefe oder jene einzeln genommen zur Rechten Gottes fißen 
follen oder zu den Böden gehören? Gewiß niemand, aber da3 iſt 
feine Sünde, die Franzoſen als Volf zu verdammen und die Eng- 
länder hoch zu preifen. Waren die einzelnen, welche Serufalem zer 
ftörten, beffer al® die einzelnen Juden? Das weiß Gott, aber den» 
noch mußten die Römer Jeruſalem zerftören und die Juden in alle 
Welt zerftreut werden — und das von Rechts wegen. 

Für die Deutfchen insbefondere hatte Perthed immer einen un⸗ 
gleich größeren Werth auf die Nationalität ald auf die politifhe Ber- 
faffung gelegt. Richt nur Heffen, Würtemberg oder Medlenburg, fon- 
dern auch der preußifche und der öftreichifche Staat traten ihm im 
Vergleiche mit der deutfchen Nationalität fehr in den Hintergrund. 
ALS die deutfchen Staaten, einer nad) dem andern, Napoleon unter- 


30 


legen waren, fchien ihm dennoch nicht alle8 verloren; ohne Wanken 
hoffte er auf Rettung der deutſchen Staaten durch das deutiche Volf, 
und die nationale Erhebung während des Freiheitöfrieged hatte fei- 
nen Glauben an die deutfche Nation noch geftählt. Nimm und Deut- 
hen, fehrieb er damals einem Freunde, unfere Nationalität, jo wer⸗ 
den alle unfere Staaten und Städte, alle unfere Bürger und Haus— 
väter das fein, was Zweig und Blatt der Eiche ift, wenn ihnen bie 
unfihtbare Kraft entzogen wird, die Gott in dem Stamm der (Eiche 
leben läßt. — Unter allem Wechfel der Ereigniffe in den Jahren 
1814 und 1815 bielt Perthed die Weberzeugung feſt, daß die den 
Deutfchen von Gott gegebene und von dem guten oder böfen Willen 
ber einzelnen unabhängige Nationalität groß und gut und eine ge⸗ 
waltige Kraft fei, der man vertrauen fönne und mülle, möchten die 
einzelnen Fürften oder Kaufleute, Minifter oder Handwerker, Solda⸗ 
ten oder Schriftgelehrten auch noch fo Selbftfüchtiges, Verfehrtes und 
Willfürlihes erftreben. Schon im Frühjahr 1814 hatte er geäußert: 
Was auch der große Kongreß, der in Wien zufaınmentreten fol, ge⸗ 
bäre, die deutfche Nation wirds fich ſchon bilden und fo lange ji) 
wenden und mwinden, bi das Rechte zu Tage gefördert if. — Auf 
das entfchiedenfte wies er daher, fo hoch er auch Preußen ftellte, jede 
Aeußerung zurüd, die auf ein Preußifchwerden Deutfchlands oder ein- 
zelner feiner Theile hindeutete. Immer. lebendiger wird in mir die 
Freude an der herrlichen Entwidelung des preußifchen Volkes, hatte 
ein Freund ihm geihrieben, und immer lebhafter der Wunſch, fo viel 
vom übrigen Deutfchland, wie ohne Unrecht gefchehen kann, mit dem- 
jelben zu amalgamieren, damit ed mit ihm und in ihm entwidelt 
werde. — Wad Sie mir fchreiben, antwortete Perthes, drüdt fehr 
genau die Stimmung und die Anficht der beiferen Preußen und derer, 
welche ihnen anhängen, aus, aber richtig ift es deshalb nit. Neh⸗ 
men Sie aus Ihrem Satze die Worte: „fo viel, wie ohne Unrecht ge- 
fchehen kann,“ heraus, fo ift Shre Behauptung dur und durch Na- 
poleonifeh und fie ift, auch wenn Sie jene Worte ftehen lafjen, durch 
und durch undeutich, denn der Grundzug unferer Nationalität ift: 
jeder Eigenthümlichkeit ihr freied Wachsthum zu lajfen. Warum foll- 
ten wir in diefem Augenblide, in welchem wir gezeigt haben, was 


31 


wir einem fremden Unterjodher gegenüber vermögen, unfer eigenfted 
deutfches Selbſt aufopfern, indem wir die deutfche Nation einem ein- 
zelnen ihrer Staaten unterordnen? Alle die Männer, welche jest in 
gutem Glauben Deutfchland an einen oder an zwei Staaten hirizuge- 
ben arbeiten, find, ohne es zu wifjen oder zu wollen, Werkzeuge in 
der Hand fehlauer Diplomaten, von denen fie noch dazu ala Phanta- 
ften verlacht werden. Die Deutfchen werden auch diefer neuen ihnen 
drohenden Gefahr entgehen und fie werden auch fünftig ald Nation 
. eins fein, ohne deshalb zur preußifchen oder zur öftreichifchen Fahne 
ſchwören zu müflen. 


Leider find die Briefe, welche Perthes während des Congreſſes 


an feine Bekannten in Wien ſchrieb, bis jetzt nicht zugänglich gewor⸗ 
den, aber aus den Antworten läßt ſich mit Beſtimmtheit erkennen, 
daß er in feinem Vertrauen auf das deutſche Volk und deſſen politi⸗ 
ſche Zufunft auch durch den unfichern, fen vom gehbofften Ziele ab- 
fchweifenden Gang der Staatsmänner in Bien nicht irre gemacht und 
nicht entmuthigt ward. Nicht auf das beliebige Wollen einzelner 
Männer, fondern auf die gegebene nationale Kraft der Deutſchen war 
damals feine Hoffnung gebaut. Mit Freude begrüßte er daher, als 
im März 1815 Napoleon aufs neue Europa bedrohte, den heranna- 
henden gewaltigen Kampf, weil durch ihn die Entſcheidung der Dinge 
wiederum der Willfür der einzelnen entzogen und in die Erhebung 
der Nation und in das Walten Gottes gelegt zu werden ſchien. ebt 
gilt e8 wieder, Mann an Mann, Freund an Freund, fchrieb er im 
März, nun muß e8 fich zeigen, ob es Flackerfeuer ift oder ein wirk⸗ 
liche®, was in umferer Nation brennt. — Unverantwortlich ſchien 
ihm daher die läffige Gleichgiltigkeit, mit welcher in den kleinern deut⸗ 
{hen Staaten die Rüftungen betrieben wurden. Kür Hamburg konnte 
er, da er zum Bewaffnungdcommiflär ber Bürgerichaft gemählt war, 
genau überfehen, was gefchah und mas nicht geſchah. Bitter grolite 
er auf die ftädtifche Obrigfett. Wir haben, fögrieb er im März, bis 
jebt weder aus Wien, noch von einem anderen Orte eine Marfch- 
oder Bewaffnungsordre erhalten und unfer Staat jcheint feine bes 
fannte Schläfrigfeit fortdauern laſſen zu wollen, und zwar jehr mit 
Abfiht. Hannover hat und angezeigt, daß die dortige Megierung es 


% 


32 


für nöthig finde, Mafregeln zu ergreifen, und es der Weisheit uns 
ferer Obrigkeit überlaffe, zu beurtheilen, ob ed nicht auch für fie ge- 
rathen fei, Mafregeln zu ergreifen. Nun diefesmal fann der Senat 
fein Schwanfen und feine Feigheit nicht mit der Unzulänglichkeit eines 
ruffifhen Oberften entfchuldigen. 

Deforgter noch als auf das furchtſame Zögern der kleinen nord- 
deutfchen Staaten fahen in jenen Tagen viele auf Süddeutfchland hin; 
bie bedenkflichiten Gerüchte über die Unzuverläffigkeit der Regierungen 
- von Baiern, Baden und Würtemberg waren in Umlauf. ch fehe 
Unglüd, großed Unglüd aufd neue über und fommen, äußerte Per- - 
thes, und wer Unglüd fommen fieht, muß Hand anlegen, wo und 
wie er fann, um vorzubeugen, fo viel in feinen Kräften fteht. Das 
pofitiv Böfe tritt wiederum in fraftvolliter Einheit auf. Napoleon 
gebietet unumfchräntt über eine aus allen menfehlichen und rechtlichen 
Berhältniffen herausgetretene und in militärifche Verwilderung über- 
gegangene Nation. Ihm gegenüber fann fich. das jetzt freilich überall 
vorwiegende, aber ‘tief in die einzelne Menfchenbruft verfenfte Gute 
nur unbehilflih und nur vereinzelt Geltung verfhaffen. Milttärifche 
Streitkräfte hat Deutfchland allerdingd dieſesmal für den erften 
Kriegdanfang genug; es ift heute anders als vor zwei Jahren. Da- 
mals mußte, weil das Volk die Armeen erft bilden und den Fürften 
Muth und Vertrauen verfchaffen follte, das edelfte Blut voraus. Sept 
find die Armeen unter den Waffen, jebt fönnen die Regierungen ver- 
foffungsmäßig aufbieten, was aufgeboten werden muß. Darum dür- 
fen jetzt nicht wieder wie 1813 die edelften Kräfte, das freiefte, feftefte 
Wollen auf Borpoften und in Freicorps vergeudet werden, fondern 
müfjen aufgefpart werden für die eigentlich entfcheidende Stunde, und 
diefe kann uns in furchtbarer Schredlichkeit erfcheinen. Wer-fann da⸗ 
für einftehen, daß nicht ein Unglüd eintritt oder ein Fehler gemacht 
wird und Napoleon hier oder dort ald Sieger daftehbt? Iſt aber nur 
ar einer einzigen Stelle ein Damm gebrochen, dann wird fchnell ge- 
nug in diefem oder jenem Cabinette — wir fernen ja die Gefinnung in 
manchen derfelben genau genug — Feigheit oder Berrath die Oberhand 
gewinnen. Zuerft hier, dann dort, dann an vielen Orten wird das 
Gewehr geftrecdt werden und wir alle find zugleich mit Deutfchland 


33 


verloren. Um ein-folched Unglück abzuwenden, muß fchon jept eine 
Macht gebildet werden, die ein Damm werden kann gegen den Durch« 
bruch des Feindes und ein Schreden für den treulojen Freund. 

Nach verjchiedenen ‚Seiten hin, befonderd® aber im preußifchen 
‚ Hauptquartier machte Perthes diefe Anficht geltend. Im Rüden des 
fämpfenden Heeres follten, fo war feine Meinung, die beften, edel- 
ften Kräfte aus ganz Deutſchland unter einem Führer erften Ranges 
gefammelt werden, um einen frifchen und guten Geift im Volke zu 
erhalten, die hinter fich blidenden ſchwachen Fürften zu flügen und 
fchnelle Rache zu nehmen an den Verräthern unter ihnen. Wenn fpä- 
tere‘ Greigniffe ein Aufgebot in Maije forderten, fo würde. dasfelbe 
durh Einreihung in diefe fehon gebildete Schar fofort Ordnung und 
Führer erhalten können. Schon dur ihr Dafein allein, äußerte 
Perthes, wird eine ſolche Neferve unter Preußens Leitung und Befehl 
die Gelüfte zum Abfall aus Feigheit oder Berrath auch bei den zwei⸗ 
deufigiten Regierungen zurüddrängen. — Während Perthes außer- 
halb Hamburgs nicht? thun konnte als verfuchen, die Theilnahme 
für feine Anficht anzuregen, legte er in Hamburg felbit fofort Hand 
and Werk. . Eine Anzahl muthiger und fampfesluftiger junger Män- 
ner wählte einen Ausſchuß von zehn älteren Bürgern, welcher am 
1. April in Perthes’ Wohnung zufammentrat. Die Vorbereitungen 
zur Bewaffnung wurden getroffen, Berbindungen in Lübed und: Bre⸗ 
men. angefnüpft und an den Landgrafen Ernft von Heſſen⸗Philipps⸗ 
thal« Barchfeld - der Antrag geftellt, den Befehl über ein in diefer 
Weiſe geſammeltes Banner zu übernehmen. br glüdlicher und be» 
deutender Gedanke ift zwar, fchrieb fpäter ein preußifcher Staat3- 
mann an Perthed, bei dem unglaublich fchnellen Gange ded Kriege? 
unauögeführt geblieben; aber ihn in der damaligen Lage der Dinge 
gehabt zu haben, wird Ihnen eine Freude bleiben, fo lange Sie 
leben. | 

Inmitten der allgemeinen politifhen Aufregung reifte Perthes 
am 8. April nach Leipzig ab, um die Handlung auf der dortigen Meſſe 
nach . zweijähriger Unterbrechung wieder zu vertreten. Er fand alles 
in großer Spannung über die Zukunft Sachſens, die in jenen Tagen 
entfchieden wurde. Aber die Theilnahme an dem entfeglichen Schid- 


Sperihes’ Leben. 11. 4. Aufl. 3 


34 


fal des auseinander geriffenen Landes wurde in allen nicht unmittel- 
bar Betheiligten ſchnell durch das Gewicht der großen europäifchen 
. Frage in den Hintergrund gedrängt. Was foll ich über die Weltbe- 
gebenheiten Dir fchreiben ? äußerte Perthes in einem Briefe an Garo- 
line auß ber zweiten Hälfte ded April; hier und überall ift es ſchreck⸗ 
(ich ftille wie vor einem fürdhterlihen Ausbruche. Ich habe Briefe 
aus Berlin und Wien: ein großer, gewaltiger Krieg beginnt und wir 
Deutjche fönnen und nur auf und und auf nicht? anderes in der Welt 
verlaffen. Bon manchen Berhältnijfen fehe ich jegt den Zuſammen⸗ 
hang, doch wer mag Gottes Willen erfennen? Kein Menſch, und 
kenne er die Vergangenheit auch noch fo gut und. fei fein Auge auch 
noch fo fcharf für den Blick in die Zukunft gebildet, fann ahnen, wie 
fi) Europa, wie ſich Deutfchland geitalten werde. — Ja wohl, die 
fommende Zeit fieht ſchwarz und dunkel aus, antwortete Caroline, 
der liebe Gott wolle fie und fo helle machen, wie wir es vertragen 
fönnen. Eben hat mir Runge das lebte Stüd vom Rheinischen Mer- 
cur vorgeleſen; das redet gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten. 
63 ift unmöglid, daß Die Rede ohne Folge bleibt; fie ift mir faft zu 
far, und dennoch fürchte ich, daß fie die Wahrheit fagt; und daß 
dem Manne, der fie fehrieb, nur die Wahrheit und dad Gute am Her- 
zen liegt, darüber fann fein Zweifel fein. Gewiß, lieber Perthes, ich 
wollte, diefer Auffag mwäre von Dir. Was auch darnad) fommen mag, 
ex ift beffer ald ein Feldzug. Aus Wien habe ich einen Brief von der 
Graͤfin B.; dort feinen die hohen Herrfchaften einen Fläglichen Glau⸗ 
ben zu haben und den Großen für noch größer als groß zu halten. 
Wie gewaltig Napoleon jet nad) allen vier Winden bin im Stillen 
arbeiten läßt, wird fich zwar bald genug öffentlich offenbaren, aber 
Mein muß der Große dennoch werden. — Die Angjt, welche die 
Herrſchaften haben, entgegnete Perthes, kann nicht ſchaden; fie wollen 
ja felbft noch im alten Teflament leben, wo Gott nur als Herr der 
Heerfcharen im Donner und Wetter regierte; fie, die Fürften und 
Regierungen, verftehen es nicht, die öffentliche Meinung, die ihnen 
durch die Liebe der Völker fund gemacht wird, zu benugen, und müſ⸗ 
fen deshalb durch die Zuchtruthe ded Herrn dazu gendthigt werben. 
Bald nachdem Perthes aus Leipzig zurüdgefehrt war, näberten 


35 


fih die feindlichen Heere einander und der Tag der großen Entſchei⸗ 
. dung ftand bevor. Ein friiher Kampfesmuth ging wieder durch die 
von dem langen politifchen Gezerre vertrodneten Gemüther. Zwei 
Tage vor der Schlacht bei Belle- Alliance ſchrieb Perthed an Fouque, 
der nach einem furzen Aufenthalt in Hamburg die Grafen Stolberg 
und Reventlom auf deren Gütern befuchte: Sie werden jept den ver- 
ehrten Grafen Stolberg und feine herrliche Gemahlin, Sie werden 
die fromme, edle Familie in Altenhof haben kennen lernen. Wie 
‚gerne wäre ich dort einen Zag mit Ihnen! Wir wollten gemein« 
ihaftlih eine heitere Anficht der Gefchichte geltend machen und be- 
wahrheiten, wie eine mutbige, fräftige- Jugend, die durch Anftrengung 
und Belämpfung von Gefahren und Schwierigkeiten früh zum Auf- 
blid zu Gott und zur Demuth geführt ward, wie eine folhe Jugend 
dem deutichen Volke feine uralte freie Verfaſſung wieder herbeibrin- 
" gen wird, ausgeftattet mit der Ausbildung und Bollfommenheit, die 
die Erfahrung von Jahrhunderten mit fih führt. Nicht aufhören 
möchte ich zu predigen den Muth, das frohe Vorwärts, die liebende 
Hoffnung zu dem ewig jungen Menfchen. Lange gährt und brütet 
die Zeit, ehe fie einen Schritt thut, dann aber thut fie einen riefigen, 
wobei freilich vieles Gewürme jammernd und frümmend zu Grunde 
gebt. Das muß und nicht ftören im Glauben und Vertrauen — thun 
wir doch den harten Schritt nicht im ftolzen Selbitvertrauen, fondern 
fehen tiefihauernd, wie Gott lang warnend und vorbereitend die 
Weltgeichichte den Schritt thun läßt. Wir aber haben ritterlich zu 
fämpfen mit denen, die, fich felbft verblendend, den Lauf der Gejchichte 
aufhalten wollen, um entweder despotiſch ihr Ich gelten zu laſſen ober 
bequem auf dem legten noch haltenden Polfter vergangener Zeiten 
ruhen und vergnüglich ſich darauf ergögen zu Tönnen. 

Schneller, als irgend jemand hatte erwarten können, wurden die 
kühnſten auf Befiegung Napoleon's gerichteten Hoffnungen durch dic 
Schlacht bei Belle- Alliance erfüllt. Als die erften unbeitimmten Ge⸗ 
rüchte von einem großen, entjcheidenden Schlage nah Wandsbeck ge- 
fommen waren, wo Caroline ſich einige Wochen aufhielt, ſchrieb fie 
fogleih in höchfter Bewegung nad) Hamburg: Iſt es wahr, lieber 
Perthes? — warum bift Du nicht hier oder ih bei Dir? Schreibe mir 

3 % 





36 


doch, ob ed wahr ift, oder fage mir, ob es wahr iſt; ich fann es nicht 
glauben und horche auf Töne in der Luft. — Caroline hatte ihre 
Kinder auf der nah Hamburg führenden Landitrage aufgeftellt, um 
fhon von weiten den erwarteten Boten fehen zu können; endlich 
fprengte ein Reiter in geftredttem Galoppe heran, der aus der ferne 
fhon unter lautem Jubelrufe ein weißes Tuch hoch. in der Luft wehen 
ließ. E83 war ein Freund des Haufes, welcher von Perthes nebft dem 
Zeitungsblatte mit der Siegednadhricht die Worte überbrachte: Siebe 
die Wunderwerle Gotted und preife und danke. — Das’ift ein Sieg, 
antwortete Caroline, Gott helfe weiter und, wenn es fein fann, ohne 
zu friegen und zu fiegen, wenn? nicht zu viel verlangt if. Hanbury, 
fhreibft Du, fei zufammengefchoffen? Die arme Mutter in Flottbeck! 
Sie muß aber doch Stand halten; fie fieht zu deutlich, für was es 
ift. — In wunderbar rafchem Berlaufe rüdten nun die Begeben» 
heiten weiter vor. Der erfte große Act des europäifchen Schaufpield 
ift beendet, ſchrieb Perthes am 30. Juni an Caroline; Napoleon ift 
beihronifiert. Inliegendes Ertrablatt lehrt Dich da weitere. Wenn 
die Franzoſen Diefen ihren Götzen ausliefern, fo ſetzen fie fich die Krone 
ihrer Bertworfenheit felber auf. Sch erwarte ed, und dafür will ich 
illuminieren, nicht für den Sturz des Ungeheuerd, der mir längft als 
geftürzt erfehten. — In Frankreich geht ed bunt über, fehrieb er mes 
nige Tage fpäter, und Died Höllenreich bricht ſchrecklich zuſammen. 
Welch eine Gerechtigkeit Gottes! — Geſtern hat fih das Gerücht 
von Napoleon's Gefangennehmung verbreitet, heißt ed in einem Briefe 
an Caroline vom 26. Juli; ficher aber ift e8 noch nicht. Glaube 
mir, in den jepigen alled Maß und allen Gedanken überfteigenden 
Zeitläufen ift die Perfon, Ddiefed Ungeheuer nicht mehr in ſolchem 
Grade unferer Beachtung werth, wie ed Dir und der halben Welt 
erfeheint. Betrachte das Schickſal der Franzofen, ihren bisherigen 
Untergang, ihre fürdhterliche Zukunft! Die Zerftörung der Juden ift 
nicht? dagegen. | 


37 


Berthes’ Thätigteit für die leidenden Stände und feine 
Erfahrungen in der Familie 
F 1814 und 1815. 





Die Ereigniſſe, welche vom Spätſommer 1814 bis zum Spät- 
fommer 1815 Europa aufs neue erſchütterten, drängten zwar den 
einzelnen gewaltfam aus feinem Einzelleben heraus und in die Theil- 
nahme an den allgemeinen Angelegenheiten hinein; aber in der poli- 
tiſch bewegten Zeit bleibt doch der Menfch mit feinem ganzen rein 
menfchlihen Gefchid nicht weniger bedeutend und nicht weniger be- 
rechtigt als in den Jahren tiefer politifcher Ruhe. Weil Staaten 
miteinander fämpfen, fiegen oder untergehen, thut Hunger und Froft, 
leibliche und geiftliche Noth dem einzelnen Menfchenherzen und ein- 
zelnen DMenfchenleibe nicht weniger weh, und weil große Schlachten 
gefchlagen und große Congreſſe gehalten werden, foll der Antheil an 
dem Menfchen und feinen irdifchen und ewigen Bebürfniffen nicht ge- 
ringer jein; denn auch der arme, der verfommene Menſch fteht dein 
Staate in unvergleichbarer Hoheit gegenüber; er ift auch in ewigen, 
. der Staat nur in irdifchen Berhältniffen ein Dauernded. Es wäre 
nicht ein Zeichen politifcher Größe, fondern fittlicher Kleinheit geweſen, 
wenn in der gewaltigen Erhebung der Freiheitäfriege der Menfch ver- 
geflen worden wäre. Die menfchliche Noth trat überdies in den an- 
derthalb Fahren zmifchen dem erften und dem zweiten Barifer Frieden 
überall fo ſcharf und fehneidend hervor und hatte namentlich in Ham⸗ 
burg eine ſolche Höhe erreicht, daß fie auch inmitten der größten po- 
litifhen Eindrüde nur den ftumpfen Sinn unberührt laſſen konnte. 

Lange Monate hindurch hatten in Hamburg die vielen Hände, 
die in täglicher Arbeit das tägliche Brot für- Frau und Kind verdie- 
nen, feiern müffen, weil da® ganze lebendige Getriebe, wie es der 
Handel und die Schiffahrt der Weltftadt hervorruft, einer Grabesftille 
Plap gemacht hatte. Mit dem Augenblide, in welchem der Verkehr 
im Hafen und in den Waarenlagern aufhörte, fing der Hunger an 


38 


für viele thätige und Fräftige Menfchen. Taufende hatten Obdach 

und Eigenthbum verloren, als Davouft die Vorftädte Hamburg? ab- 
brennen ließ; an fechsundzwanzigtauſend Greife, Frauen, Kinder und 
hilflofe Männer waren von ihm in harter Decemberfälte aus der 
Stadt getrieben. Schrecklich hatte zwar der Tod unter ihnen aufge: 
räumt; auf jener Wiefe hinter Ottenfen allein lagen elfhundert acht- 
unddreißig eingegraben:: aber dennod) fehrten Taufende, begleitet von 
Krankheit und Siehthum, zurüd, ohne irgend ein Befigthum als dad, 
was fie auf dem Leibe trugen. Brot und Obdach und ein Strob- 
lager mußte doc) wenigſtens jedem der vielen Hilflofen zu Theil wer⸗ 
- den. Fleißige Handwerker entbehrten, um ihr Handiwerf wieder be- 
ginnen zu fönnen, des nothwendigſten Werkzeug? ; die vielen Fleinen 
Verkäufer, durch welche der tägliche Bedarf der großen Stadt vermit- 
telt ward, mußten zur Beitreitung der erften Auslagen über ein Flei- 
ned Tapital verfügen fünnen; an allen Orten und Enden traten Be- 
dürfniffe hervor, die dringend Befriedigung verlangten. Die öffent- 
lichen Armenanftalten griffen zwar gleich nach der Befreiung der Stadt 
großartig ein; 148,000 Mark verwendeten fie jährlih an Almoſen 
und für Miethe und Bekleidung: aber die durch die außerordentlichen 
Umftände berbeigeführte maflenhafte Noth forderte außerordentliche 
Anftrengungen. Bedeutende Hilfgmittel wurden ducch Sammlungen 
unter den wohlhabenden Bürgern zufammengebraht und aus vielen 
europaͤiſchen Handeldpläßen liefen größere und Feinere Gaben ein: 
ſendete doch da3 entfernte Malta 1300 Gulden Augsburger Courant 
und in London wirkte von Heß mit unabläflichem Eifer, um feinen 
unglüdlihen Mitbürgern immer neue, reihliche Spenden zu verfchaf- 
fen. In die ſchwierige Verabreichung der Unterftüßungen hatte ſich 
eine Anzahl erfahrener Bürger getheilt; Perthes übernahm mit eini- 
gen anderen namentlid) die Berwendung der englifchen Gelder, und 
bie langen noch jegt erhaltenen Berzeichniffe der ausgetheilten Gaben 
legen em Zeugnid ab von der Eorafalt und Gewiflenhaftigfeit, mit 
welcher er fi dem Gejhäfte unterzog. Im bunten Wechfel finden 
fi angegeben: Bezahlung der Miethe für einen Blinden, Kleidung 
eines Mädchens, um wieder in Dienfte gehen zu können ; Handwerks⸗ 
zeug für einen Tifchler, Heilung eines bei der Vertreibung aus Ham- 


39 


burg wahnjinnig gewordenen Mädchens; Erziehung mehrerer Kinder, 
deren Eltern und Verwandte fäntlich während der Vertreibung um- 
gelommen waren; Unterhalt einer Witwe, deren Mann die Franzoſen 
erichoffen hatten; Wiederaufrichtung eined von Davouft abgebrannten 
Hauſes, für zwei rechtliche Weiber zum Wiederanfang ihres Fiſchhan⸗ 
dels, Unterftüßung eined achtzigjährigen Schufter® , welcher mit aus⸗ 
getrieben gewefen war. | 

Durch die Hilfe, welche er zu gewähren vermochte, war Perthes 
mit vielen in der äußerften Noth verfommenen Denfchen in nahe Be⸗ 
rührung getreten, und überall fand er, daß noch andere als Teibliche 
Bedürfniffe diefelben quälten und in tiefer Verkommenheit erhielten. 
Ich habe reiche Erfahrungen in den unterften Ständen gemacht, fehrieb 
‘er im September 1814, und Gottlob, oft habe ich gefunden, daß die 
erduldeten Leiden und Schmerzen viele Menfchenherzen aus dem frü- 
heren ftumpfen Dahinleben in der verlahmten Zeit heraudgeführt und 
auf das Weberfinnliche und Göttliche hingewendet haben, hunderte 
von Familien möchten Troft und Hilfe bei Gott fuchen, aber fie fen- 
nen die Wege, diezu ihm führen, nicht und können fie nicht Tennen, 
fo wie unfere früheren Juftände waren. Was vermögen die wenigen 
Geiftlichen diefen vielen gegenüber, und auch Bibeln find nur in we- 
nigen $amilien befannt; felbit in Schulen habe’ich Mangel daran 
gefunden. — lim eben diefe Zeit begann die 1804 gegründete Lon- 
doner Bibelgefellfehaft Fräftige Berfuche einer Einwirkung auf Deutſch⸗ 
land zu maden. Sie forderte durch die herübergefendeten Geiftlichen 
Steinfopf und Patterfon zunächſt den Senior Rambach, Perthed und 
Gilbert van der Smiſſen auf, auch in Hamburg und Altona einen 
Derein für Bibelvertheilung zu gründen, und verſprach einen foforti- 
gen Zuſchuß von mehreren hundert Pfund. Perthes und feine gleich⸗ 
gefinnten Freunde verbargen ſich nicht, daß bei der damals herrichen- 
den Richtung unter jedem DVerfuche, der ergangenen Aufforderung 
nachzufommen, ein myſtiſches oder pietiſtiſches oder mit irgend fonft 
einem vermwerfenden Namen bezeichnete Unternehmen geargwohnt 
werden würde. 

Um fo viel wie möglich dem Verdacht des Heimlichen und Sec⸗ 
tiererifchen zuvorzufomnen, wendete ſich Berthes im Auftrage der ent- 





40 


ftehenden Gefellfchaft an die Männer, welche die erften firchlihen und 
politifchen Yemter in Hamburg inne hatten, und bat fig, an dem be- 
ginnenden Werke perſönlichen Antheil zu nehmen. In einem Schrei- 
ben an den Bürgermeifter Barteld vom September 1814 bob er na⸗ 
mentlich. hervor, daß vor alleın unter den norddeutichen Proteftanten 
Vereine von Laien zur Berbreitung der heiligen Schrift ein dringendes 
Bedürfnis ſeien, weil der Einfluß der Geiſtlichen durch deren eigene 
Schuld in ſolchem Grade geſunken ſei, daß keine allein von ihnen 
ausgehende Thätigkeit durchgreifende Wirkung üben könne. Ham- 
burgs Obrigkeit möge überdies bedenken, daß ſich unter den leitenden 
Mitgliedern der engliſchen Bibelgeſellſchaft königliche Prinzen, Erz⸗ 
biſchöfe, Miniſter und viele Männer befänden, durch deren Bermitte- 
lung den Bürgern Hamburg? die reichen Gaben zur Abhilfe der leib- 
lichen Noth zugeflojjen wären. Wenn nun jept die dargebotene gei- 
flige Gabe kalt und troden zurüdgemiefen würde, fo werde auch ma- 
terieller Schaden für Hamburg nicht ausbleiben. 

Am 6. und am 13. October 1814 wurden in Perthes’ Wohnung 
die erfien Berfammlungen zur näheren Berftändigung über die in 
Deutſchland fremdartige Angelegenheit gehalten und am 19; October 
trat die Hamburgifeh- Altonaifche Bibelgefellihaft ind Leben. Als 
diefelbe 1839 ihr Fünfundzwanzigjähriges Stiftungäfeft feierte, er- 
fannte fie danfend die Förderung an, welche fie von dem nun fohon 
lange au? Hamburg entfernten Perthes erhalten habe, und konnte die 
Mittheilung maden, daß 73,000 vollftändige Bibeln durch die Gefell- 
- [haft gedrudt und in nähere und weitere Kreife vertheilt fein. Auch 
in anderen Gegenden Deutfchlands regte ſich 1814 die Theilnahme für 
dad Unternehmen, welches als eriter Anfang einer geordneten, nicht 
ausſchließlich von den firchlichen Behörden geübten Thätigfeit zur Er- 
wedung und Erhaltung chriftlihen Lebens erfcheint. Mit Freuden 
will ich, fchrieb der Herzog von Holſtein⸗Beck an Perthes, die Auffor- 
derung jur Errichtung eines Vereins für Schleswig und Holftein er- 
gehen laffen und dann mit allen Kräften im Directorium arbeiten. 
Mander Chriftud- Freund wird fih, davon bin ich überzeugt, zur 
Theilnahme melden. Feſt aber mülfen wir daran halten, daß unter 


41 - 


Proteftanten nur die Tutherifche Ueberfegung ohne jeden Commentar 
vertheilt werde. 

Sch hatte mir oft den bevorftehenden Neujahrätag, heißt. es in 
einem Briefe, den Nicolovius im December 1814 aus Berlin an Per⸗ 
thes fchrieb, als unfer kirchliches Feft eines neuen Lebens gedacht. Aber 
die Wollen ftehen noch did am Horizonte, der Athem ift noch nicht 
frei. Meine Zuverfiht wankt deshalb nicht, daß der, der dad gute 
Merk einer neuen Belebung und Heiligung unfered Volkes angefangen 
bat, es auch herrlich vollenden und zu unferem Staunen ausführen 
werde; aber ich fehe noch fo vielen Krankheitäftoff in unferen Oberen 
und fo viel Böfes in der noch immer groß fi) dünkenden franzöfifchen 
Nation, daß große Peftbeulen mit heftigem Fieber zu befürchten oder 
vielmehr, da das Gift nun einmal noch im Inneren ftedt, zu hoffen 
find. Sie find in der Bibelgefellfhaft von ganzem Herzen thätig. 
Wunderbar lebt fie auch bier auf und mir ift oft, als hörte ich Bi- 
leam's Stimme, deilen Fluch fih in Segen verwandelte. Was erle- 
ben wir und wie fönnten wir nad folchen Erfahrungen an einer gu⸗ 
ten Zukunft zweifeln! 

Es fehlte indeffen auch nicht an ernften Warnungen vor einer 
Ueberſchätzung des Einfluffed, welcher von der Bibelvertheilung zu er⸗ 
warten fei. Bibelvertheilung fei gut, fehrieb Keetmann aus Neuwied, 
aber e8 werde weniger auf die Menge der vertheilten Bibeln ankom⸗ 
men, ald auf den Sinn und den Geift, mit welchem fie vertheilt wür- 
den. In Hamburg zwar finde bei diefem Unternehmen der Ehrgeiz, 
der ja oft auch zu edler Thätigfeit die einzige Triebfeder fei, wenig 
Nahrung, aber dennoch möge fich ein jeder prüfen. — Was künnen 
die Bibelvereine für ſich allein helfen, äußerte der Herzog von Hol- 
ſtein⸗Beck gegen Perthed, wenn nicht zugleich auch in anderer Weife 
das Werk angegriffen wird! Die preußifchen Kirchenreformen find 
wohl gut und werben auch nicht, wie dad Neligiondedict Friedrich 
Wilhelm's IT., das Kind mit dem Bade verfchütten; denn es fcheint 
jest in Preußen ein Geift innerer Frömmigkeit zu berrichen, welcher, 
von guter Liturgie und. guten Gebräuchen unterftüßt, viel gutes er- 
warten läßt. Gott gebe nur, daß wir nicht einem neuen Opferdienft 
‚oder einem theatralifchen Gotteöbienft verfallen mögen! Aber was 


42 


werden und auch im beften Falle neue Kirchenreformen und neue Li- 
turgien neben den Bibelvereinen helfen, wenn nicht Träftiger auf die 
Schulen und dur die Schulen auf die Jugend gewirkt wird, damit 
jie wieder Sinn für die Religion Chrifti, Liebe zu ihm und Begierde 
nah feinem Worte befomme und die Achtung vor den Diener der 
Kirche neu erwache! Es ift ein Sammer, auf dein Lande und in den 
fleinen Städten die Kinder den ganzen Sommer hindurch neben und 
bei dem Bieh herumlaufen zu fehen, wo fie das wenige in diefer oder 
jener Schule etwa Gelernte vergeffen. In den meilten Landfchulen 
lernen fie überdied wenig oder nichtd, und wo fie etwas lernen, find 
es Worte, felten Sachen. Kommen die Kinder aus der Schule, fo er- 
fahren fie nicht? mehr vom Worte Gottes; denn dad Landvolf nicht 
weniger ald der größte Theil der Städter hält Kirchengehen für un« 
nöthig, felbft für lächerlih. Da muß geholfen werden! 

Perthes verbarg ſich nicht, day die Bibelvertheilung noch nicht 
Wiederbelebung des chriftlichen Lebens, fondern nur eine von mehre- 
ren Mitteln fei, um die Wiederbelebung möglich zu machen. Bereit⸗ 
willig erfannte er daher dad Bemühen anderer an, welche, wenn auch 
in fehr verfchiedener Weife, anregend und Träftigend auf das Bolf 
Einfluß zu gewinnen fuchten. Das Schaufpielhaus freilih, obſchon 
es Mailen von Menfchen, die jeder andern Einwirkung ich beharrlich 
entziehen, als bereitwillige Hörer verfammelt, zu einem Mittel reli- 
gidfer Belebung zu machen, fchien ihm doch mehr al® bedenklich zu 
fein. Sei mäßig, fchrieb er an Fouque, Deine religiöfen Gefühle 
oder vielmehr Deine Ueberzeugung von unferer heiligen Religion auf 
den Bretern mitzutheilen. In das Theater gehört Leben und Natur, 
d. h. das Schickſal, aber nicht der Troft darüber. Den fuche der 
Menſch in feinem Kämmerlein oder im Tempel, und Gott wird das 
Herz ihm erfchliegen. — Bolköfchriften dagegen, die das tief ver- 
ſchüttete chriſtliche Bewußtſein aufs neue lebendig machen könnten, 
hielt Perthes für ein dringended Bedürfnis. Es ift, fhrieb er an 
Fouqué, unferen Bolköfchulen ein vaterländifcher hiftorifcher Katechis⸗ 
mus ndthig, welcher der Jugend einprägt, wie wir von Gott herkom⸗ 
men; wie dad Menfchengefchlecht fich durch Sünden zur Abhängigkeit 
zurüdgeführt hat, bis der Erlöfer kam; wie das Chriſtenthum über 


43 


die Bölfer fih verbreitete und wie die Natur durch das Drängen ber 
germanifchen Völker dem Chriftenthum menſchlich Wege bereitete; wie 
wir Deutfche dann neu geboren aus der neuen Weltftellung bervor- 
drangen, und wie bei und der Same einer befieren Zukunft erhalten 
wurde und noch erhalten ift. ch verftehe es nicht fo anzugeben; 
Du aber wirft den Anklang gleich in Dir haben. Wenige Bogen 
müpten e3 fein, in Frag und Antwort oder doch in kurzen Sägen. 
Gelänge diefed, ein vor Gott und Menfchen unſchätzbares Berdienft 
würde der Geber fich erwerben. | 

Auf die heranwachfende Tugend vor allem und auf ihre noch 
nicht geftörte Empfänglichkeit baute Perthes die Hoffnung einer neuen 
beſſeren Zukunft unfere® Volkslebens. Für fie und ihre Entwidelung 
forgen zu helfen, bot fi ihm in Hamburg eine günftige Gelegenheit 
dar, die er nicht ungenupt vorübergehen ließ. Die Gloden follen 
heute, mein lieber Perthed, Gedeihen auf die Sache Deutſchlands er- 
fliehen, hatte ihm Charles Parifh gefchrieben, als die Nachricht von 
der zweiten Entthronung Napoleon’3 in Hamburg eingetroffen war. 
Sollte das nicht der rechte Augenblid fein, um eine außerordentliche 
Cammlung für unfere Armen zu machen? Sie haben ſich fo oft un- 
ferer nothleidenden Mitbürger angenomnten, dag ih Sie unbedenklich 
auffordere, den erften Schritt zu tun. — Perthes that den erften 
Schritt und nicht ohne Erfolg. Wir befamen, fehrieb er an Fouqué, 
gleich dreißigtaufend Mark zufammen zum Unterricht armer Kinder 
und wir hoffen noch viel mehr zu befommen. Nun haben wir denn 
unferer zwölf die Stadt durchſucht, und wie viel herrliche Kinder ha⸗ 
ben wir gefunden! Gotted Segen ift noch recht bei unferem Bolfe. 
Siebenhundert haben wir bereitd aufgenommen. Ein ſolches Geſchaͤft 
_ und Betreiben ift in diefer auf das Allgemeine hintreibenden Zeit, 
welche Menfchen wie Summen von Zahlen verrechnet, vecht heilfam. 
Man fühlt lebendig in ſich, was man eigentlich im natürlichen Zu- 
ftand, in der Sorge für die nächlte Erdfcholle fein follte hienieden. 
Wovon dad Herz voll ift, geht der Mund über, alfo die Kinder quel⸗ 
fen heraus. — Das fpäter weit ausgedehnte Armenſchulweſen Ham- 
burgs hat in den damals unternommenen Sammlungen einen feiner 
wejentlichften Ausgangspunkte. 


44 

Bei allen diefen und bei manden verwandten Unternehmen, 
welche in Hamburg wie in vielen deutfchen Städten begonnen wur⸗ 
den, gaben zwar viele gerne, aber nur wenige hatten Zeit, Neigung 
und Geſchick, ſelbſt Hand and Werk zu legen. Daß auch Männer zn 
gemeinfamer und geordneter Thätigkeit fih verbinden fönnten, um 
auf die an Leib und Seele verfommenen Theile unferes Volkes einen 
erregenden Einfluß zu üben, war ein Gedanke, welcher dem Jahre 1814 
durchaus ferne lag; aber auf die vielen Frauenvereine, die überall in 
Deutfhland während des Krieges zur Pflege der Berwundeten und 
zur Fürforge für die hilflofen Weiber und Kinder der Krieger hervor⸗ 
getreten waren, feste Perthes große Hoffnung. In einer einzelnen 
Angelegenheit von dem Hamburger rauenverein um Rath gefragt, 
theilte er in der Antwort feine Anfichten näher mit. Die Bereine ent- 
fprangen, äußerte er, in der-höchften Nothzeit aus der richtigen An⸗ 
fiht, daß, wenn die Männer und Jünglinge dem Tode entgegen- 
gingen, ed Sache der Frauen fei, für Rettung und Pflege der hilflos 
Gewordenen zu forgen. Zweimal in kurzen Zeiträumen haben die 
Frauenvereine ihre Beftimmung herrlich erfüllt und dem innigen Ge- 
fühle und dem unverleiteten Wahrheitäjinne der Frauen darf man 
ficher vertrauen, daß fie nun aud in der Friedendgeit, Die und Gott 
lange erhalten wolle, ihren Beruf erkennen werden. Wir Deutfche nicht 
weniger ald die andern Völker haben lange und ſchwere Lehrjahre 
durchlebt, zuerft ein halbes Jahrhundert der Bernadläffigung, der 
Berflahung, des falfchen Strebens, dann fünfundzwanzig Jahre der 
Revolution, des Krieges, der Verwilderung. Während diefer Zeit 
find die legten Nefte frommer und milder Stiftungen unferer Vor⸗ 
eltern durch Aufhebung der Klöfter und durch Raub und Vernichtung 
ded den Kranfen-, Armen- und Waifenhäufern ‚gehörenden Eigen- 
thums verloren gegangen und feine neuen Gaben und Bermächtniffe 
haben einen Erſatz geliefert. Hier ift ein unendliches Feld der Thätig- 
feit für Die zarte Sorgfalt der an Pflege und an Beiftehen gemöhn- 
ten Srauen eröffnet, welche immer auf perfönliche Hilfe fehen und 
achten. Die Bereine derfelben- werden zunächft jeder an feinem Orte 
und in feiner Provinz wirken, bald aber werden fie fich einander an- 
fliegen und gemeinfam handeln und als ein großer Bund der deut- 


45 


fhen Frauen Segen rund um ſich her verbreiten. Ihnen wird eine 
Fülle von Gaben zuftrömen, indem fromme Gemüther, wieder wie 
ehemals fie zu Ausführerinnen des eigenen Willend machen, und 
fiherer als durch die ftärffte Männerfraft werden die neuen Stif- 
tungen in Frauenhand behütet fein. Ob künftig zwei oder drei oder 
vier deutfche Staaten. brüderlich miteinander fein werden, Tann nie 
mand willen; aber durch allen Zwiefpalt und dur alle Kämpfe hin 
fönnen die Frauenvereine des ganzen Deutſchlands fich zu einem gro⸗ 
gen fegendreichen Ganzen zufammenfchliegen und. feft und einig blei- 
ben, wenn fie fich rein und frei erhalten von allem Einmifchen in die 
Berhältnifle der Staaten und in die vielen Streitfragen über Recht 
und Unrecht, welche die nächfte Friedendzeit erfüllen müffen. 

Eine anhaltende, mit Eifer und Erfolg zur Rettung der Noth- 
leidenden und Verkommenen geübte Thätigkeit hat wohl ſchon man⸗ 
chen guten Mann verleitet, das Helfen ald die Hauptfache, die Hilfe 
als die Nebenſache zu behandeln oder über das gefchäftige Mitleid 
mit anderen das Leid über fich felbft zu vergeifen und ſich wie einen 
Gefunden unter den Kranken anzufehen. Perthes indeifen ward in 
jener Zeit nicht nur durch die vielen Mübhjfeligfeiten feined Berufes, 
fondern auch durch manche ernfte Erfahrung dringend genug daran 
erinnert, Daß er nicht wie durch eine Art Privilegium über. die Noth 
des Lebens emporgehoben fei. Die Folgen des in Angft und ſchwe⸗ 
ren Sorgen bingebrachten Fluchtjahres waren für Caroline in förper- 
lien Leiden hervorgetreten, von denen fie niemals völlig genefen 
follte. Bei der ihr bis zum Zode bleibenden Frifche und Lebendigkeit 
des Geiſtes drüdten die Feſſeln Doppelt ſchwer, welche ihrem Körper 
dur die NReizbarkeit der Nerven und ein langfam ſich ausbildendes 
Herzübel angelegt waren. Ich bin noch immer nicht wieder friſch und 
kräftig, fchrieb fie ihrer Freundin Peterfen in Schweden, und mir 
vergeht auch faft die Hoffnung, es wieder ganz zu werden. Mein 
Amt im Haufe zu verwalten, wird mir oft recht fehwer und manch⸗ 
mal bin ich verzagt. — Weil fie fich frank und zu Zeiten auch wohl 
entmuthigt fühlte, war Caroline indeflen nicht falt oder gleichgiltig 
geworden gegen das viele Gute, was fie befaß. An jedem Morgen 
ift, fehrieb fie einmal, das alte Lied wieder neu, daß ich wo möglih 


46 


Perthes noch lieber habe als den Tag zuvor. Wie ift doch aller Dank 
für das große Geſchenk, ihn behalten zu haben, fo klein! — Unſere 
Kinder, heißt e8 in einem anderen Briefe, find meine Luft und meine 
Freude; fie machen und freilich Leid und Freud, aber, Gottlob, Leid 
nur durch Krankheit, und find natürlich artig und natürlich un⸗ 
artig und damit bin ich, wenn es nicht über die Schnur geht, noch 
zufrieden; mur wenn ich Gemachtes an Kindern fehe, werde ich bange 
und furdtfam. — Oftmals fpricht fih in Carolinend Briefen aus 
diefer Zeit ihr lebendiges Fortleben mit den verftorbenen Kindern aus, 
Mein lieber feliger Bernhard fehlt mir, heißt ed einmal, jeden Mor- 
gen von neuem. Möchte auch ih ihm fehlen können, dod nicht um - 
feinetwillen, fondern um meinetwillen! — Grade heute vor fieben 
Jahren war meine felige Dorothea geftorben, fchrieb Caroline einer 
jüngeren freundin, welche ihren Bruder durch den Tod verloren hatte, 
und ich bin fehr darnach zu Muthe, mich in Eure Stelle zu denfen. 
Diefes gänzliche Entferntfein ift unbegreiflich fehwer zu tragen, wenn 
man das fefte Anhängen und die volle Liebe im Herzen hat. Tröften 
fann ich nicht, fo wenig wie ich getröftet werden könnte. Sch habe 
mich feft daran gehalten, daß die Seelen meiner geliebten Kinder in 
Gottes Hand find und Feine Qual fie anrührt und ich nach Gottes 
Willen und Einrihtung die harte Entbehrung tragen muß, bis es 
ihm gefällt, und wieder zufammen zu bringen. Dabei bin ich fehr 
betrübt, aber nie verzagt geweſen. Ergib Dich ganz in Gottes Wil« 
len, wenn aud mit Thränen, liebe Fanny. 

In nächte Nähe trat eben um diefe Zeit der ganze Ernſt des 
Strebens an Caroline heran, als fie ihren Vater dem großen Augen- 
blide entgegengehen fah, in welchem Zeit und Ewigkeit ſich begegnen. 
Hart war Claudins von den Jahren 1813 und 1814 getroffen wor⸗ 
den. Dreiundfiebenzig Jahre alt hatte er dad Haus und den Dit, 
mit welchen er feit faft einem halben Jahrhundert verwachſen gewe⸗ 
fen war, verlaffen müflen und bald hier bald dort in Holftein ein 
vorübergehendes Unterfommen gefunden, oftmald von der drüdend« 
fien Roth bedrängt. Wir find hier fo weit wohl, fchrieb er einmal 
aus Lübeck an Caroline, wir haben ein Meines Stübdhen, darinnen 
ein Bett und ein Kanapee ftehen, dann aber auch fo wenig Raum 


47 


übrig ift, daß ein Menſch fih kaum ummenden kann. Wir kochen 
felbft Grüße und Kartoffeln, nur ift die Feuerung übertheuer. Aus 
der Zeitung werdet ihr erfahren haben, dag Wandsbeck in der Als 
liierten Hände ift. Fri ift dort und hält Haus und hat die Kuh ver: 
kauft. Im Keller fieht e8 aus, fchreibt er, wie vor der Echöpfung, 
wüfte und leer. — Wir wohnen ipo, fchrieb er einige Wochen fpä- 
ter, in einem größeren und man fann jagen großen Zimmer, aber ed 
ift fehr falt und unfere Kräfte reichen nicht zu, ed warm zu machen 
und zu halten. — Der äußeren Noth war viel, aber fie war nicht 
dad Schwerſte, was Claudius drüdte. Der noch aufrecht ftehende drei⸗ 
undfiebenzigjährige Mann hatte wohl die Kraft, fchrieb damals Per- 
thes, die perfönlichen Leiden und die Zerftreuung aller feiner Kinder 
zu ertragen, aber fein dankbares und treued Herz brach an der Unge⸗ 
wißheit ded Gefühld, an der Unficherheit ded Gedankens, als er fein 
deutſches Baterland im Kampfe ſah mit Dänemarf und fi fagen 
mußte: die Erhebung und der Sieg ber Deutfchen fei Die Befiegung 
ſeines eigenen Koͤnigs, den er ehrte und liebte und Urfache hatte zu - 
ehren und zu lieben. Diefen Zwiefpalt während der gewaltig aufge- 
regten Zeit im eigenen Inneren zu ertragen, war dem einfachen Sinn, 
dem liebenden Herzen des herrlichen Greifed zu viel. Er war und 
blieb gebrochen. 

Im Mai 1814 war Claudius nad) Wandöber zurüdgefehrt, 
aber recht froh ward er des alten Wohnorts nicht wieder. Erſchöpft 
von der Laft der Jahre und vielfach geftört Durch körperliche Beſchwer⸗ 
den ſah er den Eommer und den Herbft vorübergehen. Endlich im 
Anfang December gab er den dringenden Bitten feiner Tochter nach 
und 309, um dem Arzte näher zu fein, zu ihr nah) Hamburg. Papa 
ift müde und matt, fchrieb Caroline einige Tage, nachdem fie ihren 
Bater und ihre Mutter aufgenommen hatte, doch können wir Gott 
nicht genug dafür danfen, daß er fo leidenzfrei if. Er ift fo ruhig 
und freundlich, ja man möchte fagen vergnüglich, daß ich aus Freude 
darüber den Schmerz, der in mir ift, nicht zu Worte kommen laffe. — 
Bald wurde es gewiß, daß Auf Genefung nicht zu hoffen fei, aber 
fieben Wochen noch ließ die lebte Stunde auf ſich warten und dieſe 
fieben Wochen waren für Claudius eine Zeit ded Dankes und faft 


48 


ununterbrochener Freundlichkeit und Liebe; er freute ſich des blauen 
Himmels, des Aufgangs der Sonne, erfreute fich des Anblicks feiner 
Rebekka, feiner Kinder und Enkel. Einmal rief er Carolinen Nachts 
an fein Bett und fagte: Ich muß die Nacht zu Hilfe nehmen, denn 
der Tag ift wahrlich zu kurz, um Dir zu danken, liebes Kind. Er 
ift, fchrieb Caroline wenige Tage vor feinem Tode, getroft, ruhig 
und, einzelne Augenblide abgerechnet, freudig. ALS er fich geftern 
von einer beflommenen halben Stunde erholt hatte, fagte er zu Per- 
thes: Ja, lieber Perthed, gut geht es, aber nicht angenehm; dann 
ſprach er von der fauern Arbeit, die ihm bevorftände, aber er habe 
einen ftarfen Helfer neben fich und verlafje fih auf Gott. Er ift er 
ftaunlih freundlich mit und allen und hat fehr gerne, daß unfere 
Mutter an feinem. Bette fist. Auch forgt er täglich dafür, daß Ihr 
Abweſenden Nachricht befommt, und grüßt Euch jedegmal. — Ale 
Hände und Füße ſchon Tage lang ihren Dienft verfagt hatten, wirkte 
die Fräftige innere Organifation des Körpers in gefunder Arbeit fort 
und das eigentliche Weſen des förperlichen Menfchen blieb unverlept. 
Er behielt feinen fanften natürlihen Schlaf, hatte kein Fieber, feine 
Beängftigung,, und da er faft ununterbrochen volles, helle Bewußt⸗ 
fein bewahrte, fonnte er fein eigenes Sterben, die Löſung des großen 
Räaͤthſels der Trennung von Seele und Leib von Stufe zu Stufe ver⸗ 
folgen. Mein ganzes Leben hindurch, fagte er zu Perthes, habe ich 
an diefen Stunden ftudiert, nun find fie da, aber noch begreife ich 
fo wenig al® in den gefundeften Tagen, auf welchem Wege ed zum 
Ende gehen wird. In den legten Tagen betete er unabläplih, ſah 
e8 auch gerne, wenn Die Umftehenden beteten, aber lautes Beten 
und Zuſpruch mochte er nicht. Die Hoffnung, noch diesfeitd eines 
hellen Blickes in das Jenfeitd von Gott gewürdigt zu werden, gab 
er nicht auf; aber obſchon ihm das Schauen nicht zu Theil ward, 
blieb ihm der Glaube felfenfeft. 

Am 21. Januar mar fein Todestag. Nachmittagd um zwei Uhr 
“ fühlte er mit größter Gewißheit die nächfte Nähe des legten Augen⸗ 
blicks; führe mich nicht in Berfuchung und erlöfe mich von dem Uebel, 
betete er; eine-Stunde fpäter fagte er einigemafe gute Nacht und im 
Augenblide des Todes ſchlug er hell und groß das Auge auf, Tiebe- 


49 


— — — — 


voll ſeine Frau und die Kinder ſuchend, welche den letzten Blick der 
Liebe von ihm empfangen ſollten. 

Die volle Kraft des Geiſtes, ſeine Eigenthümlichkeiten und Eigen⸗ 
heiten blieben ihm bis zur letzten Stunde, ſchrieb am Sterbetage 
Perthes. Er iſt ſorgenlos, ja wahrhaftig reich geſtorben, denn ihm 
ſtand wie immer das Füllhorn der Hoffnung auch im Zeitlichen zu 
Gebote. Sein Körper gewährt einen wunderbaren Anblick: ſo müde, 
ſo ſatt und befriedigt vom Irdiſchen und dabei noch am Obertheil 
des Kopfes die großen ſchönen Formen und um den Mund noch die 
Fülle der Liebe. Das Ende dieſes Mannes iſt groß und herrlich. — 
Gott wird uns verzeihen, heißt es in einem Briefe von Nicolovius, 
wenn wir einen ſolchen Menſchen lieber der Erde als dem Himmel 
gönnen möchten. 

Die Freudigkeit, die Kraft und Ruhe, welche Caroline von dem 
Sterbelager des Vaters mit ſich hinweggenommen hatte, ſpricht ſich 
in einem Briefe aus, den ſie im März 1815 an ihre Freundin Peter⸗ 
ſen ſchrieb. Am liebſten, heißt es in demſelben, ſchreibe ich Dir von 
meinem ſeligen Vater. Mit Augen habe ich es nun geſehen, daß der 
Glaube eine gewiſſe Zuverſicht iſt des, das man hoffet, und nicht 
zweifelt an dem, das man nicht ſieht, und daß dieſer blinde Glaube 
für ſich allein Kraft genug hat, uns über alle Noth und Angſt und 
Todesfurcht ruhig, freudig und gottergeben zu erhalten in dem 
grogen ernten Augenblick des Ueberganged bei hellem "und vollem 
Bewußtſein. Ich bin auch für mich überzeugt: wir müffen glau- 
ben, wir müflen wagen, denn die Götter leihen fein Pfand. Mein 
Bater hatte fih immer gefehnt, immer gehofft, ich möchte fagen in 
jedem Augenblid feines Lebens fich vorbereitet auf eine nähere oder 
lieber auf eine bewußte und willende Mittheilung Gotted, die ihm 
dieſen dunklen und für ihn fehr grauenvollen und gefürchteten Schritt 
erleichtern und heller machen follte. Er fügte mir noch den Tag, ehe 
er farb, dag man Erfahrungen hätte, nach welchen dem Dienfchen 
noch furz vor dem Sterben lichte Blicke in jene? Leben zu Theil wür- 
‚den. Er hat darauf gewartet bi® and Ende und fie find ihm nad) 
unjerer aller Ueberzeugung nicht geworden. Er blieb aber im tiefen 


Grunde der Seele vollfommen ruhig, freundlich und gottergeben und 
Dertbed’ Leben 11. 4. Aufl. 4 


50 


— — 


fühlte das Loſsreißen des Lebens, das ihm ſehr ſchwer und ſauer wurde 
und über ſechs Stunden währte, von Stufe zu Stufe, fagte und, wie 
weit es fei, fhon einige Minuten bevor wir es an feinem Körper 
wahrnehmen fonnten, und rief’ zulegt: Nun ift ed aus, wendete feine 
Augen, die er fhon mehrere Minuten groß offen immer nach dem 
Himmel gerichtet hatte, noch einmal nad) der Seite hin, wo meine 
Mutter ftand, ſchloß fie und war todt. Es läßt fich hiervon wenig 
mittheifen, am wenigften fehriftlih. Er ift aber gewißlich wie ein 
großer Menſch und Dann geftorben und ich möchte e8 jedem Men» 
hen, der ernftlih über fih und feinen Zuftand nachdenkt, gönnen, 
an diefem Sterbebette geweſen zu fein. Schwer ift diefer Schritt, 
aber größer, al® man begreifen fann, ift ed, ihn in diefer Weife 
zu thun. 

Die ernfte Erfahrung diefer gemeinfam mit Perthes durchlebten 
Mochen wirkte lange in Carolinen fort und bei der Lebhaftigkeit ihrer 
zur Mittheilung drängenden Phantafie fühlte fie ed oftmals ala eine 
wirklich ſchwere Prüfung, daß Perthes, beladen mit Gefchäften, Sor- 
nen und Intereſſen aller Art, nur wenige flüchtige Augenblide für 
da3 Zufammenleben mit ihr und den Kindern erübrigen fonnte. Wenn 
ich mich nicht zu Grunde fehnen und wuͤnſchen foll, fehrieb fie im 
Frühjahr 1815, fo muß ich einen Schritt, der mir ſchwer wird, zu- 
rückthun. Die Hoffnung nemlich ſchwindet je länger je mehr, daß 
Perthes eine Einrichtung feines Leben? machen fann, in welcher ei- 
nige ruhige Stunden für mid) und ihn übrig bleiben. Ich fann nichts 
anderes thun, als ihn auf meine eigene Hand lieb behalten und im 
Herzen tragen, bid es Gott gefällt, und an einem Orte zufammenzu- 
bringen, wo wir feine Bohnung und Rothdurft mehr brauchen und 
feine Wechfet und Bücher zu bezahlen find. Perthed hat es bitter 
ſchwer, bleibt aber guten Muthes, wofür ich Gott danke. In acht 
Tagen geht er nad) Leipzig und wird auch dort nicht viel Freude ha⸗ 
ben. Doch Freudenzeit iſts auch nicht, und allgemeiner Jammer und 
Noth kommt wieder an die Tagedordnnung. / 

Als Perthed kurz darauf nach Leipzig abgereift war, fand Ca- 
roline für diefe und eine verwandte Stimmung, die fie fchon lange 
mit ſich umber getragen hatte, in ihren an Perthes gefchrichenen Brie- 


51 


fen die rechten Worte. Ihre Liebe zu dem Manne hatte die jugend- 
liche Frifche durch alfe fehweren und wechfelvolfen Stunden einer acht 
zehnjährigen Ehe bewahrt; in ihrem Herzen war Leben und Liebe 
nit zur Gewohnheit getworden, fondern fo neu und urfprünglich ge- 
blieben, wie einftend in der Braut. Sie felbft fprach da®, was in 
ihr lebte, ſtets auch) in einer frifchen und urfprünglichen Weife aus 
und konnte e8 ſchmerzlich empfinden, wenn Perthes jebt ald Ehemann 
fih ihr gegenüber ander® auddrüdte, ald er ed ald Bräutigam ge= 
than. Während Perthed nun eine Reihe von Wochen in Leipzig fich 
aufhalten mußte, wurde diefes Verhältnis halb im Ernfte und halb 
im Scherze zwifchen beiden Ehegatten zur Sprache gebracht. Du haft 
Dir zwar, ſchrieb Caroline einige Tage nach Perthes' Abreife, alle 
Empfindung für diefed Jahr Deiner vielen Gefchäfte wegen verbeten, 
aber ih bin eine Perfon, die nicht ohne Empfindung fchreiben kann, 
wenn fie an Dich fhreibt; denn ich empfinde mein Alle®, wenn id) 
an Did) denke. Noch habe ich fein Wort von Dir. Sage mir, ift es 
nicht hart, daß Du mir aus Braunfchmweig nicht gefihrieben haft? 
Ich wenigftend habe es fehr weh gefühlt, daß G., der mit Dir reifte, 
feiner Braut gefchrieben hat und Du mir nit. Ich habe Dich 
doch nun achtzehn Jahre fo rein, allein und von Herzen lieb gehabt, 
wie jene e3 für die Zukunft erft vorhaben, und dennoch follte diefe 
Abnahme von Deiner Seite zur Sache gehören; es ift das erflemal, 
fo lange Du reifeft, daß Du es haft laſſen können, mir ſchon von ei⸗ 
nem Zwifchenorte zu fchreiben. Ich habe mir zur Gemüthdergögung 
Deine früheren Briefe hervorgenommen und leſe mich wohl und wehe 
dabei. Im vorigen Jahre verſprachſt Du mir aus Blankeneſe fehr 
ernfihaft viel Freudenflunden, wenigften® im Zufammenleben mit 
Dir; folche Freudenftunden find mir noch nicht viel geworden und Du 
bift fie mir wahr und wahrhaftig fhuldig. — Du fehreibft, ant- 
wortete Perthes, ich hätte mir für dieſes Jahr alle Empfindung ver- 
beten. Das, mein liebe3 Herz, ift wohl nicht fo, wenigſtens etwas 
anderd: ich meine, wenn durch vieljährige® Miteinanderfein der Ge- 
fühle-, Empfindungs- und Gedanfenwechjel und Austaufch fo innig 
und vielfeitig gewefen und geworden ift, daß man fich vollfommen 
veriteht, kann von Zärtlichleitgäußerungen, die immer ein noch In⸗ 
4 * 


52 


texeflanted® und darum Fremdes gegenüber vorausfegen, nicht mehr 
die Rede fein. Sei Du nur zufrieden mit mir, mein liebe? Kind, wir 
verftehen und doch. Daß ich Dir nicht von Braunfchweig gefchrieben 
habe, hatte feinen Grund in unferer fehnellen Durchreife. Uebrigens 
ift Dein Vergleich zwifchen mir und dem mitreifenden Bräutigam auch 
nicht richtig. Die Jugend hat ihre Art und die fpäteren Jahre auch. 
Es würde doch wirklich lächerlich fein, wenn ich jet wie vor zwanzig 
Fahren im Mondfchein die Bäume und Wollen für Mädchen oder Die 
Mädchen für Engel anfehen wollte, und beſſer würde es jich auch nicht 
audnehmen, wenn Du Allemande tanzen oder auf Bäume flettern 
wolltefl. Hadern dürfen wir doch nicht darüber, daß wir älter wer- 
den; fei alfo nur zufrieden und gib Gott die Ehre, und mit mir 
babe Geduld und Nahfiht. — Hätte ih Dich doch heute an Deis 
nem Geburtötage bier, entgegnete darauf Caroline am 21. April, und 
hätteft Du doch eine halbe Stunde Zeit, um ‘Dich mit mir zu freuen. 
Die Kinder thun, wa? fie fönnen, aber Du bift doch Du und behältft 
immer einen Borfprung. Gottlob, mein Perthes, feine Zeit und 


feine Umftände fönnen meine Liebe zu Dir verändern, fie muß alfo . 


wohl über alle Beränderung hinweg fein. Der liebe Gott laſſe mich) 
noch am Leben, wenn e3 fein fann, und mache mich wieder gefund 
und erhalte Did und die Kinder, und behalte Du mid) lieb und fo 
weiter, und fo weiter. Des Bittens und Wuͤnſchens ift fein Ende, doch 
auch nicht ded Erhörend, wenn auch nicht nach. unferer, fo doch nad 
Gotted Weife. Dein legter Brief übrigen? ift ein wunderlicher Brief. 
Bei mir bleibt es nun einmal dabei, daß mein Liebhaben fein Alter 
und feine Jugend hat und ewig if. ch fpüre feine Veränderung, 
als daß ih nun weiß, was ich früher hoffte und glaubte. Ich habe 
Dich früher für keinen Engel gehalten und halte Dich jetzt nicht für 
das Gegentheil, und auch ich habe Dich früher weder mit Engeld- 
geftalt noch mit Engelömanier getäufcht, nie Allemande getanzt, nie 
Bäume beflettert und bin noch ganz diefelbe wie früher, nur etwas 
älter, und das mußt Du vorlieb nehmen, mein Perthes; kurz und 
gut, hab mich Tieb und fag es mir zu Zeiten, dann bin ich ver« 
gnügt. — Deine Antwort ift, wie fie fein foll, hieß es in Perthes 
nächſtem Briefe, nur vergiß nicht, Daß im Innern meine Liebe zu Dir 


N 


53 

ewig ift, wie Deine zu mir. Aber über fo vieles bin ich in Bewegung 
und Unruhe: was gehört der Erde und den Menfchen, was vom 
Menfchen gehört dem Himmel? ined ohne das andere hat man 
nicht. — Hiermit wurden denn die Verhandlungen über diefen Ge- 
genftand, der wohl auch anderen Ehen nicht fremd fein mag, vor: 
läufig gefchloflen; denn der folgende vom 1. Mai datierte Brief, den 
Perthes kurz vor feiner Abreife aus Leipzig von Caroline erhielt, war 
ausfchlieglich unter dem Einfluß des Andenkens diefed ihres PVerlo- 
bungstages gefhrieben. So eben fomme ich, heißt es in demfelben, 
mit allen Kindern aus Wandsbeck zurüd, wohin wir zur Feier mei- _ 
ned lieben erften Mai gefahren waren. Ich danke Gott heute wie 
jeden erften Mai dafür, daß er Dich mir gegeben hat, und Dir danfe 
ich dafür, daß Du mich haft haben wollen. Wolle mich ferner haben 
und in Ewigfeit, wenn ed Gottes Wille ift! Wir wiſſen freilich nicht, 
wie wir und haben werden, aber fhlechter kann e8 dort doch nicht 
fein als hier; das ift mein Troft und ich bin doch ſchon hier fo glüd- 
lih im Liebhaben. In Wandebel fanden wir Schönborn und die 
Gräfin Katharina; die Gräfin hatte heute ihren geiftreichen Tag. Der 
Alte ift unbefchreiblih freundlih, und es ahnet mir, daß auch er in 
unfern Armen fterben wird. Er babe, fagte er mir, viele Borboten 
vom Schlage und ftände fchon Tange vor dem Schuſſe; Tag für Tag 
jiele der Tod auf ihn, ohne lodzudrüden. 

Mitte Mai kehrte Perthes aus Leipzig nach Hamburg zurüd 
. und erlangte bald die Gewißheit, daß Carolinens Gefundheit ernfte 
Aufmerkfamkeit erfordere. Der Arzt, Dr. Schröder, ein alter Freund 
des Haufe, hatte gegen Caroline felbft geäußert, daß ihre Nerven, 
fo weit fie mehr vom Geifte ald vom Körper beftimmt würden, in 
feltener Kraft, Gefundheit und Lebendigkeit thätig feien; dagegen äu- 
Berft ſchwach .und angegriffen den Dienft verfagten, fo weit fie den 
Körper mehr als den Geift zum Herrn hätten. Das geiftige Nerven- 
leben muthe daher dem förperlichen größere Anftrengungen zu, al? 
ed zu ertragen vermöge, und müſſe hierdurch) wohl franfhafte Zu- 
ftände herbeiführen. — Dies ift nun recht gut, bemerkte Garoline 
dazu, daß er es weiß, und mir auch lieb; aber wenn er nur auch 
helfen könnte! — Um der Unruhe und dem Treiben, welches mit 


54 


dem großen Haushalte in Hamburg unzertrennlich verbunden mar, für 
einige Zeit entzogen zu fein, brachte Caroline mit ihren jüngeren Kin« 
dern den Sommer 1815 in dem Haufe ihrer Mutter in Wandsbeck zu 
und faft täglich maurden während diefer Jeit zwifchen ihr und Perthes 
Fleinere Briefe gewechfelt, welche die Etelle des Geſprächs vertraten 
und die mannigfaltigften Berhältniffe berührten. Perthes war wäh- 
rend diefer Monate durch das Gewirre feiner Arbeiten und Gefühle, 
durch ein hartnädiges Erfältungsleiden und dureh die tiefe Sorge um 
die Gefundheit Carolinens matt und niedergedrüdt. Da er überdies 
non jedem lebendigen Worte, welches er ſchrieb oder bei feiner häufi- 
gen Unmwefenheit in Wandsbech fprach, neue Aufregung für Caroline 
fürchten zu müſſen glaubte, fo enthalten feine Briefe aus jener Zeit 
vor allem nur dringende, bi? in das Kleinfte eingehende Bitten, feine 
Sorge für den Körper zu verfäumen, oder immer wiederkehrende Er⸗ 
innerungen, ſich geiftig ruhig zu erhalten. 

Mannigfache Umftände trafen: zufammen, welche damals, auch 
abgejehen von den fi) dDrängenden gewaltigen Weltereigniflen, im⸗ 
mer neue Aufregung für Caroline herbeiführten. Die Corge um die 
Gefundheit ihre® Mannes, der Ahſchied von ihrem Bruder Frig, der 
al? Fäger ins Feld zog, der Schmerz ihrer Mutter um den in den 
Kampf gehenden Sohn, das Hinfterben einer vor kurzem noch blühen- 
den Tochter in der nahe befreundeten Familie des Predigerd Schrö— 
der in Wandsbeck, der Anblid fo vieler in Krankheit und Außerfter 
Roth lebenden armen Familien ließen Carolinen nicht zur Ruhe kom⸗ 
men und forderten Perthes faft täglich auf, fie an Aufmerkſamkeit auf 
ſich felbft zu erinnern. Du haft jegt feine andere Pflicht, liebe Ca⸗ 
toline, ſchrieb er einmal, ald Dich aufrecht zu erhalten; entweder 
muß der Menfch die Dinge natürlich nehmen und. fie, wie Millionen 
ed thun, mit keichtem und gutem Muthe abwarten, oder er muß al⸗ 
led, auch da8 Härtefte, in ftiller Ergebung in Gottes Fürforge ruhig 
und demüthig ertragen. Nur diefe beiden Wege find möglih, wenn 
nicht der Menſch wenigſtens dem Körper nach. untergehen fol. Du 
nennft Briefe wie diefen Amtsbriefe. Das müffen fie aud) fein, denn 
mein Amt ift jest, dafür zu forgen, daß Du und erhalten werdeft. 

Schließe, heißt e8 ein anderedömal, aud meiner Sorge um Did) 


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nicht auf eine bedenkliche Lage Deiner Gefundheit; mich quält nur, 
dag Dein frischer, lebendiger Geift fo von körperlicher Laft niederge- 
drückt wird. Nicht Arznei ifld, mas. Dir hilft; Ruhe Deinem Geifte 
und Gemüthe. Leicht gejagt und fehmer gethan, wirft Du antwor⸗ 
ten. Wohl wahr, und doch iſts möglich unter Gottes Beiſtand. Du 
weißt, daß ich Feine ftarfen und tiefen Gefühle und Empfindungen 
tadele und aud ihrem Ausbruche großes Recht einräume; aber über 
dad Gegengewicht hinaus dürfen fie nicht gehen. Wer mächtige Ge- 
fühle in fich hegen will, ınuß auch dad Material dazu haben, fie aus» 
zubalten und den wechjelnden Eindrud des Lebens zu tragen, oder er 
vergeht füch eben fo jehr an Gott und Natur, ald der Leichtjinnige 
und Oberflächliche. — Herzlich habe ich mich gefreut, fehrieb er ein 
andereamal, Dich geftern fo wohl gejehen zu haben; jo wohl warſt 
Du noch nicht einmal in dDiefem Jahre. Um jo mehr fei aufmerk⸗ 
fam auf Did und halte diefen Gleichmuth feft umd diefe gute, frohe 
Hoffnung für diefe Welt. Roc find unfere Tage nicht zu Ende und 
noch haben wir mand Freud und Leid miteinander zu durchleben, 
wozu Kraft, Kaflung und Bertrauen gehört. — Während Perthes' 
Briefe vor allem Amtöbriefe, um Carolinens Ausdrud zu gebrauchen, 
waren, erfüllt mit Bitten und Erinnerungen, ſprach fich in allen aud) 
noch fo kurzen Zeilen Carolinens ihr von Liebe und Wehmuth tief 
bewegtes Gemüth aus. Hier fipe ich ſchon um Garten, fehrieb fie ein- 
mal, und meine kieben fröbtichen Bögel rund um mich her; ich laſſe 
mich von der lieben warmen Sonne befcheinen und gefund machen, 
werm fie will. Gott gebe ed, wenn auch nur fo weit, daß ich mein 
Amt im Haufe und über die Kinder wieber antreten kann; als Null 
‚ fühle ih mich gar zu unglüdlih. — Ich hoffe, mein lieber Perthes, 
beißt es ein anderegmal, Du follft, wills Gott, noch wieder Freude 
an mir haben. Der Brunnen fiheint mir wirklich gut zu thun. Kom⸗ 
me doch morgen nicht zu ſpät; meine Seele verlangt nach Dir. — 
Du follft Dank haben, fehrieb fie nach einer kurzen Anwefenheit in 
Hamburg, für die vergnügten Stunden, die ich geftern bei Dir und 
mit Dir gehabt habe, und für Dein liebes freundliches Geſicht, ale 
ih aus dem Wagen fieg. — Ich bin nicht, wenn Dur nicht bei mir 
bift, heißt es einige Tage fpäter; heute aber werde ih wohl umſonſt 


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bangen und verlangen, und befinne ich mich recht, fo kann es nicht 
anders fein: Weg und Wetter find zu fehleht. Verſäumt Matthias 
nichts im Lernen, fo laß ihn doch bald heraus kommen; wenn ich den 
Bater nicht haben kann, nehme ich mit dem Sohne vorlieb. — Heute 
babe ich, fchrieb fie in einem anderen Briefe, den Brunnen in vollem 
Regen getrunfen, bin aber doch meine Zeit unter den Bäumen gegan- 
gen und babe mein Theil gedacht. Meine Hühner - und Bögelbetrach« 
tung habe ich aber nicht anftellen können, weil e8 zu naß war für das 
liebe Bieh. Die Kinder genießen fröhlich ihre Freiheit und find mein 
Glück und meine Freude, fügte fie dann der Erzählung einiger kleinen 
Kinderbegebenheiten hinzu. Die armen Menſchen, die feine haben! 
Du alter lieber Bater, Du bift aber auch mein Glüf und meine 
Freude. Laß mic) einen Heinen Brief befommen; ich kann es nicht 
laffen, darnach audzufehen, und will ihn auch zehnmal leſen. Ich 
bitte Dich, vergiß Doch den Armen in der Erdhütte zu Hamm nicht; 
die Frau ift alle Morgen fo freundlich in Hoffnung und der Mann 
läßt es fi) fauer werden. Seine Wohnung ift leicht zu finden, fie 
liegt in der Allee, irgend etwa® Befonderem gegenüber; was ed aber 
für ein Befonderes ift, darauf kann ih mich nicht mehr befinnen. 
Unter manchem Wechfel des förperlichen Befinden? war der Aus 
guft herangefommen; am erften Tage desfelben trat wieder einmal 
die mit Perthed durchlebte reiche Bergangenheit recht lebendig vor Ca⸗ 
rolinen® Seele. Heute vor achtzehn Jahren fehrieb ich Dir den letz⸗ 
ten Brief vor unferer Hochzeit und that die erſte Bitte um das Feine 
ſchwarze Kreuz. Seitdem habe ich viel gebeten in den achtzehn Jah: 
ren, mein lieber Perthed. Um was foll ich Dich heute bitten? Du 
weißt ed, denn Du fennft mic) ganz und fein unmwahres Wort habe . 
ih Dir gefagt. Nur mein unbefchreibliched Liebhaben kannſt Du nicht 
ganz kennen, weil es feine Grenze hat. Perthes, mir ift das Herz fo 
voll Freude und Wehmuth; hätte ich Dich doch hier. Ich habe mich 
heute vor achtzehn Jahren nicht lebendiger und inniger nah Dir ge- 
fehnt als jest. Gott fei Dank und abermals Dank für alles! Ich 
bin und bleibe Dein in Zeit und auch, obſchon ich nicht weiß wie, in 
Ewigkeit. Sei aud ein bischen vergnügt, wenn Du morgen fommft. 
Das Liebhaben ift gewiß das größte Wunder im Himmel und auf Er: 


57 


den und dad einzige, von dem ich mir vorftellen kann, daß ich es 
in Ewigfeit nicht fatt befommen werde. 

In der zweiten Hälfte des Auguft kehrte Caroline nah Ham» 
burg zurüd, und obſchon ihr volle Gefundheit nicht wieder zu Theil 
wurde, fo Eonnte fie doch, wenn gleich mit manchen Unterbredhun- 
gen, noch Fahre hindurch dem großen Haushalte vorftehen und ift 
auch in dieſer Zeit ihres Lebens fehr vielen Menfchen verfchiedenen 
Standes und Alters Troft und Freude, Stüge und Förderung ge- 
wefen. ' Ä 


Die politifchen Ausſichten nach dem zweiten Pariſer Frieden. 
Herbſt 1815 bis Herbſt 1816. 





Am 20. November 1815 wurde der zweite Parifer Frieden un⸗ 
terzeichnet ; das blutige Kriegsvierteljahrhundert war geſchloſſen; 
Deutfchland konnte für längere Zeit auf Ruhe nach außen rechnen 
und mußte nun da® Auge wieder auf fi und feine inneren Zuftände 
wenden. Nothdürftig hatte das gemeinfame Triegerifche Auftreten in 
dem jetzt beendeten zweiten Freiheitskriege den tiefen Riß zugededt, 
welcher theils zwiſchen den einzelnen deutfchen Staaten, theild zwi⸗ 
ſchen den deutfchen Regierungen und der öffentlichen Meinung ent⸗ 
ftanden war. Aber auch unter der Dede Triegerifcher Einigkeit war 
das Midtrauen der Regierungen gegen die Bewegungen im Volke und 
dad Midtrauen im Volke gegen die Regierungen tiefer und tiefer ein« 
gedrungen. Der -gefamte geiftig regfame Theil der Nation war in 
eine wildflutende Unruhe gerathben und von den verjchiedenften 
Standpunften aus fahen erfahrene und wadere Männer mit tiefer 
Beforgnis auf die Zukunft Deutfchlandd und meidfagten eine Zeit 
großer innerer Noth und Zerrüttung. Perthe erwartete zwar auch 
Jahre ſchweren Ringens und Kämpfen®, aber Die Hoffnung auf ein 
fröhliches Ende hielt er feft und machte, neu belebt durch Belle-Alliance, 
die eigene frifehe Stimmung nad allen Seiten geltend. Seit Ihrem 
legten Briefe hat der Krieg, bemerkte er einem bedenklichen diploma⸗ 


58 


tifchen Bekannten, die Phyfiognomie erhalten, welche Sie bi dahin 
vermißten; die große Schlacht ift gewonnen. Wollen Sie auch nun 
noch fih abmühen, um aus Licht und Weißgrau Finfternid zu ma⸗ 
hen? Doch was vermöchten Schwarzkünftler nicht, zu deren Zunft 
Sie ja gehören! — Ya wohl, fchrieb Perthed einige Wochen jpäter 
an Poel, ift alled durch den ungeheuer rafchen Gang der Begebenhei⸗ 
ten zu einem Chaos geworden; aber eben weil die Nemeſis, d.h. die 
waltende Gerechtigkeit Gottes, allein zu Gerichte fipt, eben well den 
fühnften, klügſten und entwurfreichſten Menfchen aller Parteien nicht® 
nah ihrem Willen geht, und Wahrheit und Recht dennoch fiegend da⸗ 
ftehen, habe ih das Vertrauen. zum Schickſal, d.h. zur Datergüte 
Gottes: er werde lenken und leiten zu feiner Ehre. — Wie groß ift 
unfere Zeit, heißt e8 in einem Briefe an Fouque, wie groß und herr- 
lich ift fie! Die Tiefe des Ganges der Begebenheiten läßt den den- 
fenden Menfchen faum zu der Empfindung fommen, die man Freude 
nennt. Du nicht, aber. mandje andere werden meine gute Hoffnung 
„eine Ausſicht auf die Ewigkeit” nennen. Wer aber find diefe an« 
dern? Anhänger des franzöfifchen Unweſens find die einen; fie tadeln 
alles, mas jebt gefchieht, fchelten Yürften und Regierungen und wür- 
den Tyrannei und Gemeinheit gerne fehen, um nur fagen zu können: . 
Iſt es denn nun beijer als unter den Franzoſen? Dann aber gibt - 
e3 unter den Hoffnungdlofen auch Schwarzfeher der Zukunft, die ib- 
ren Gurfus in den Cabinetten und Antihambern gemacht haben und 
dort freilich viel Schwaches und Schlechtes gefunden haben. Da diefe 
Herren nun glauben, dag von dem Theater aud, auf welchen fie 
‚ wandeln, die Welt regieit werde, fo halten fte die ganze Weltgefchichte 
für ein Uhrwerk mit einem Glodenfpiele, welches immer wieder feine 
Erbärmlichkeit von der Walze abfpielt: Sie fehen daher auf jede 
frobe und freie Ausficht fein und vornehm wie auf leichtblüttge, leicht⸗ 
herzige und leichtfügige Unerfahrenheit herab. Wir Menfhen au 
dem Volke können diefen erfahrenen Berdorbenen (roues) ihre Erha⸗ 
benheit gönnen; fie fennen die Federkraft diefer Zeit nicht, die ihr 
Uhrwerk fprengt. Keine Cabinetöberechnung trifft zu; jeden Tag und 
alle Tage muß neu und aus dem Stegreif gehandelt werden, und jo 
gewinnen felbftändige und fräftige Männer unmer mehr Thätigkeits⸗ 


59 


rgum. Allen unferen Schwarzfehern aber theile ich noch eine That⸗ 
fache aud meiner Erfahrung mit: Wie man den Menfchen nimmt, fo 
ift er mit fehr wenigen Ausnahmen. Tritt ein Mann einem Zweideu⸗ 
tigen oder Jämmerlichen gegenüber und nimmt ihn als brav und tüch— 
tig, gleich bemüht fich diefer, brav zu fein oder doch zu fcheinen, und 
wenn auch nur lebteres ift, fo ift viel gewonnen und Gott fchiebt nad). 
Hätten unter und Deutjchen recht viele der Befleren den Muth, Gutes 
zu ſehen und zu hoffen und ihre Hoffnung an den rechten Mann zu 
. bringen, fo würde dad Gute und Rechte | don fommen. Laß und un« 
fere Gouvernements und Minifter edel und groß nehmen, wa? gilts, 
fie werden es. 

Die politifche Aufregung der Gemüther war in Deutfchland zwar 
um die Zeit des zweiten Parifer Friedens nicht geringer, als fie es 
um die des erften gewejen war; aber der Gegenfland ded Fürchtens 
und Hoffen? war ein anderer geworden. Im Jahr 1814 hatte die 
Einheit Deutfchlande, die. Heritellung des Reiched und des Kaifer- 
thums die politiiche Phantafie der Deutfchen erregt; im Jahr 1815 
trat allerding3 der Mismuth über den profaifchen Bundestag, wel⸗ 
hen Deutfchland ftatt des poetifhen Kaiſers erhalten follte, an mans 
hen Orten offen genug hervor: aber da der Bund nun doch einmal 
al® Form der deutfchen Einheit feititand und eine Befeitigung desſel⸗ 
ben für die nächſte Zukunft außer aller Wahrfcheinlichkeit Tag, fo wen- 
dete ſich Die im Volke arbeitende Bewegung auf einige Jahre vorwie⸗ 
gend dem Geſchicke der einzelnen deutfchen Staaten zu und erftrebte 
für diejelben unter den Namen Eonftitution, Berfaffung, Stände, 
Freiheit ein Etwas, welches nicht weniger berechtigt, aber auch nicht 
weniger unbeitimmt war ald die einige Monate früher für Deutich- 
land erftrebte Ginheit. Dur) ihr yeränderted Ziel erfchien die poli= 
tiiche Bewegung den Regierungen nicht weniger gefährlich, fondern 
rief erhöhte Beforgnis und Wachfamkeit hervor. Als nun im Som- 
mer 1815 Schmalz in jener Flugſchrift über politifche Bereine die Bes 
wegungen im Volke, deren Ziel und Mittel auf das bitterfte ange- 
griffen und dadurd eine Reihe nicht weniger bitterer Gegenfchriften: 
hervorgerufen hatte, trat allen erfennbar der Kampf im Innern uns 
jerer Nation hervor, welcher wohl durch Waffenftilfflände unterbro- 


60 


hen, aber durch feinen Frieden beendet worden ift bis zum heuti- 
gen Tag. 

Dad Drängen nach politifcher Berechtigung der Unterthanen 
hatte fi) damald noch nicht mit dem felbftfüchtigen Fanatismus für 
eine Reihe trodener Lehrſätze vermengt, fondern ftellte fich ald poe- 
tifche Sehnfucht nach einer märchenhaften Herrlichkeit dar. Die for- 
genvolle Arbeit der Regierungen, um die beftehenden Zuftände und 
Gemwalten zu confervieren, war noch nicht zu Falter Negation und ro⸗ 
her Verfolgungsſucht entartet, fondern erſchien noch als die Profa 
einer audfchlieglichen Beichäftigung mit den politifchen Einzelaufgaben 
des täglichen Lebens und als zagende Furcht, fih an Großes zu ma- 
gen. Der Stachel verjährter gegenfeitiger Erbitterung fehlte daher 
1815 allerding3 dem Kampfe, der Kampf felbft aber lag aller Welt 
vor Augen, und jeder Deutfche mußte 1815 Partei ergreifen zwifchen 
Obrigfeiten und Unterthanen, wie er 1814 hatte Partei ergreifen. 
müſſen zwifchen Nationalität und Staatsberechtigung. Der erite Ge- 
genfag, in welchem die Parteien auseinander gingen, entftand aus 
der Trage, ob die politifhe Zukunft Deutfchlands herbeigeführt wer- 
den follte durch die Negierungen und deren Polizeimaht, Geldmacht 
und Kriegsmacht, oder durch jenes Drängen und Arbeiten in den Ge— 
müthern der Unterthanen, welches vorläufig nur als öffentliche Mei- 
nung erfeheinen und wirken konnte. 

Perthes fühlte fih in vielen Beziehungen von der herrfchenden 
Richtung und deren Kundgebungen zurüdgeftoßen und ſprach feine 
Bedenken unummwunden mündlich und fehriftlih aus. Er kannte das 
Triebwerk der Zeitfchriften und Tageblätter zu genau, um deren Rich- 
tungen und Anfichten als Ausflug der öffentlihen Meinung gelten 
lafien zu können. Herr B. fehreibt wohl, äußerte er einmal, auch 
jebt wieder politifhe Zournale? und warum auch nit? Zwar die 
Politik ift gegenwärtig etwad über das Gemeine erhaben, aber wa? 
ſchadet das? Gin fo gewandter politifcher Schriftfteller wie Herr 2. 
wird fich bei einiger Anftrengung felbft in das Nichtgemeine zu ſchicken 
und Zeit und Umftände zu berüdfichtigen willen, fo gut wie der fran- 
zöfifche Senat. — Den Theoretifern und Schriftgelehrten traute 
Perthes jo wenig, daß er fie fämtlih womöglich aus allen ftändifchen 


61 





Derfammlungen ausgefchloffen fehen wollte. — Geheime Berbindun- 
gen widerftrebten feiner ganzen Natur. Weber geheime Verbindungen 
haben wir ung, ſchrieb er an Fouque, bei Deinem Hierfein audgefpro- 
hen; ich theile gänzlih Deine Anjiht und Deinen Widermillen ge⸗ 
gen fie. — Bedenklich ſah er auf das Teidenfchaftliche Fortftürmen 
der öffentlihen Meinung und auf deren Anſpruch, volle und alleinige 
Geltung zu haben. Wer dürfte hoffen, heißt e3 in einem feiner Briefe, 
dap die Wahrheit nun im Volke und in feinem Wollen und Begehren 
rein und ganz erfhienen ſei? Irrthum und Sünde bleibt unfer 
Erbtheil nach wie vor, und vergeſſen dürfen wir nicht, daß, weil ber 
Kampf für Freiheit und Recht nicht von den Regierungen, fondern 
vom Bolfe ausging, die phyſiſche Kraft und die Leidenfhaft Lodge 
bunden werden mußte. Werden fie nun ſich wieder in gefeßliche Ord⸗ 
nung und gefellihaftliche Einrichtung fügen wollen und können? — 
Mit ernften Worten warnte er vor dem blinden Eifer, der fich des 
eigenen Urtheild entichlägt und dem Zuge der öffentlichen Dleinung 
folgt. Die Zeit ift vorbei, fhrieb er einem ungeftümen Freunde, in 
welcher man ind Zeug gehen mußte für Gott und Vaterland. Glaube 
mir, Recht und Wahrheit find jegt nicht wie vor einem Jahre auf Einer 
Seite, fondern gar fehr vertheilt. Sept gilt ed vor allem die Augen 
aufthun und gebrauchen und ſich nicht von Blinden leiten laffen. 
Sei vorfihtig, fonft bift Du ungerecht. Uns drohen die 1813 Iodge- 
bundenen Kräfte und Leidenfchaften mit ſchwerer Gefahr. Wer wird 
ihnen entgegentreten? Wir find fo wenig ausgebildet für öffentliche 
Angelegenheiten, wir bejigen fo wenig Talent und Anftelligfeit zu 
Geſchäften, daß un? eine feite, monarhifch ftrenge Regierung Bedürf« 
nid bleiben wird. 

Blickte Perthed aber auf die vorhandenen deutichen Regierungen 
und auf ihr Thun und Laffen in jenen Jahren, fo konnte er weder 
glauben noch wünfchen, daß die Zufunft Deutfchlands von deren Hand 
gebildet werde. Das alte Räderwerk, äußerte er einmal, ift verroftet 
und ſtockt an allen Orten und Enden; fein Uhrmacher hat auf folche 
Tederkraft gerechnet, wie fie jeßt fich zeigt. — Mit Sorge und Un« 
muth fprachen fi) Briefe, welche Perthes in diefer Zeit von fehr ver- 
[hiedenartigen Männern empfing, über die von den Regierungen ein⸗ 


62 


genommene Haltung aus. Ich habe, lieber Perthes, ſchrieb ihm Frie- 
drich Heinrich Jacobi aud Münden, einen Briefaudzug von Ihnen 
gedruckt unter der Ueberſchrift: „Aus dem Briefe eined Norddeutfchen, 
der gute Hoffnung hat,” gelefen. Das hat mich zwar erbaut und aufs 
gerichtet, aber meinen Muth doch nicht fo geftärft, wie ich es bedurfte. 
Wäre ich nicht fo gar Frank, ich fehriebe ein Seitenftüd dazu: „Aus 
dem Briefe eined Süddeutfchen, der große Sorgen hat.” In diefen 
(egten Tagen wieder, welche Erſcheinung, die tüdifche Schrift von 
Schmalz und ihre gleichzeitige Anpreifung, fo ſchnell in allen öffent- 
fihen Blättern! Und das kommt doch aud dem Preußenreiche, Ihrem 
deutfcheften der deutichen Staaten! Wenn das in Preußen gefchieht, 
dann kann die bairifche Alemannia jebt ihre Hände in den Schoß le⸗ 
gen und thut e3 wirklich. Sollten die abfoluten Royaliften in Frank⸗ 
reich die Oberhand befommen, fo werden die unferen aus der verhei⸗ 
Genen Bolkävertretung etwas machen, dad nur ald ein Spott der Völ⸗ 
fer daftehen wird. Sch wünfche von Herzen, „daß die Federkraft der 
Zeit diefed Uhrwerk fprenge.” Was Sie an diefer Stelle und fpäter 
fagen, bat Tiefe und Wahrheit; aber e8 läßt ſich manches dabei und 
hinzu erinnern, was auch Tiefe hat und leider jehr wahr if. Warum 
muß die Stimme mir verfagen zu einer Zeit, wo ich fo gerne laut re- 
den möchte! Laſſen Sie, lieber Perthes, von Zeit zu Zeit ein freund⸗ 
liches, erquickendes Wort an den alten Dann gelangen, ber ein fo 
ſchweres Ende nimmt. Ich faffe Euch alle in einem Grufe, in einer 
Umarmung zufammen mit einer Liebe, mit einem Danke, die feine 
Worte audfprechen. — Du hatteft immer freudigen Muth, fehrieb 
ihm im Herbft 1816 ein anderer, lange ſchon weit entfernter Freund; 
hältſt Du ihn auch jetzt noch feit? Wie jammervoli fieht Deutfchland 
aus, vom fremden Lande betrachtet! Das edle, hochherzige, betro⸗ 
gene Volk, betrogen durch diejenigen, die von ihm aus der ſklaviſchen 
Knechtſchaft des tyrannifchen Napoleon mit Aufopferung von Gut 
und Blut gerettet find! Was wird aus Deutfchland werden, wenn 
die Fürften fortfahren, fo zu macchiavellieren? Statt Stände und 
Brepfreiheit habt Ihr Cenſur, Polizei, Militär und Berfolgungen 
gegen alle das Beſſere Wollende und ſchon den Anfang einer politi- 
ſchen Inauifition. Tief hat mich der fchreektiche Zuftand des füdlichen 


63 


Deutſchlands, vor allem die Lage der Bauern in Würtemberg, Ba- 
den und Baiern erfhüttert. Das hatte ich nicht gewußt, dab deut- 
ſche Fürften ihre Unterthanen fo ausfaugen und quälen könnten, um 
ein Luſtſchloß mehr zu befigen oder einige Hirfche und wilde Schweine 
oder taufend Gardiften, durch welche fie ſich gegen die zur Verzweif 
lung gebrachten Unterthanen fhüpen wollen. Es wird und muß an 
ders werden; denn unferem Volke ift in den legten Kriegen das Bes 
wußtjein feiner Kraft und Größe geworden: aber wie lange noch foll 
ed mit der Erfenntni® allein fi} begnügen und dem Tantalus glei« 
hen, während England, Amerika und felbft Frankreich in den Früch— 
ten der Erkenntnis ſchwelgen? Weinen möchte ich bei dem Gedanken, 
daß der Engel der Auferftehung nur über die Leichenhügel der Revo» 
Iution fich erheben ſoll; und nun die hungrigen Geier im Often und 
Weiten meined geliebten, theuren VBaterlanded, wie werden fie ſich 
freuen unter dem Borwande, die Ordnung herftellen zu müffen, 
Deutichland mit ihren wilden Horden zu überſchwemmen und fich in 
den Raub zu theilen! Mein Beritand fieht feine Rettung, aber mein - 
Bertrauen bleibt, dab da® Gute und Große in einem Bolfe auch unter 
dem ftärkften Drude von außen und innen nicht untergehen kann. — 
Sie Hagen mid an, fehrieb ein Mann, der mitten in großen Gefchäf- 
ten ftand, im Mai 1816 an Perthed, daß ich alles ſchwarz und nur 
immer ſchwaͤrzer fehe? Alfo von allem, wa3 id) am Rhein neuerdings 
erfahren, hier gefehen und aus Berlin, Parid, der Schweiz u. ſ. w. 
geichrieben befommen, will ich Ihnen lieber nicht? jagen. Lieber 
Perthes, wer den Aasgeruch fpürt, foll der fich nicht die Nafe zuhal- 
ten? Ich fehe dad Gute, was diefe Zeit entwidelt, vielleicht in dem 
blendenditen Schimmer, in unruhiger Begeijterung , ih bin der An⸗ 
fiht und Betrachtung, die Sie mir in freundliden Worten jo wohl- 
wollend und tröftend mittheilen,, keineswegs fremd — wer möchte, ja 
wer könnte ohne folchen Glauben, was fag’ ih Glauben? ohne folche 
beftändig zuftrömende Anſchauung die weltlichen Tage nod ertragen! — 
aber diefe Anficht führt mich weiter, ald Sie ed ausdrüden. Was über 
die Gegenwart erhebt, ändert die Gegenwart nicht. Sept ift grade 
nicht ein günftiger Gefchichtemoment auf der Erde; alles todt und 
faul, Neues erft im Keime. Und mad von dem Alten noch jteht, 


64 


das wird fallen; ich ſehe ed, wie die es umſtürzen, die e8 halten wol- 
len. Sie find älter ala ich, Tieber Perthed, und an Lebens⸗ und 
Welterfahrung reicher, aber ich fehe andere Dinge, als Sie fie in 
dem bei mittelmäßigem Winde wieder ziemlih in Gang gekommenen 
guten Hamburg aufgedrungen erhalten! Es ziemt mir nicht, Ihnen 

alles einzelne fehriftlich mitzutheilen; auch wäre e8 ſchwer: aber das 
kann ich Ihnen verfihern, bei vielem fehlügen Sie die Hände über 
dem Kopf zufammen. Wenn id) alled zufammenfaffe, fo muß ich ala 
ſchwarzer Unglücksvogel Sturm verfünden, wo foll ed bin? Les 
peuples existent, jagt Mirabeau, mais malgré les gouvernemens. 
Diefe letzteren arbeiten aber jebt an ihrem eigenen Untergange mit 
einem Eifer, einer Thätigkeit, einer Geſchicklichkeit, daß man bie 
Frucht ihres Schweißes bald wird genießen fünnen. In Deutfch- 
land kommt es fo weit, wie ed in Frankreich war, aber das fann 
noch eine Weile hin fein. Erft werden jept überall hübſche Ariftofra- 
tien eingerichtet, damit der Adel nicht milde vergehe, wie die Natur 
ed einem Sterbenden erlauben will, fondern noch jo viel Kraft ein- 
athme, um den Gang zum Schaffot auszuhalten. Raſend find die 
Menfchen, verrüdt. Hörten Sie doch, was ſelbſt die Beiferen im Ver⸗ 
trauen zu äußern wagen; fehen Sie doch neben einander, was z.B. 
Gent in feinem Innern erkennt und denkt und was er einem ver- 
ehrungdwürdigen Publicum kecklich mit Salbung vorlügt! Ich nenne 
das allereinzelfte: es foll nicht beweifen, am wenigften erfchöpfen, nur 
durch etwas Farbe beleben, was fonft ala ein afchgraues, geſichts⸗ 
loſes Phantaama gelten möchte. — Seit meinem legten Briefe, heißt 
e8 vier Wochen fpäter, hat ſich manches näher gezeigt, was mich da- 
mals befchäftigte, aber fchöner ift e8 nicht geworden. In Würtem⸗ 
berg nimmt die Sache eine recht fchlechte Wendung; daran kann kein 
Wohldenkender noch Gefallen finden! Im übrigen Deutfchland — 
dag fih Gott erbarm! Es mag gut fein, dag die Völker mit ihrer 
frifchen Naturkraft wie rohe Kinder wild aufwachfen, aber Erziehung 
foll man das denn doch nicht nennen. ch ftehe an einer Stelle, von 
welcher man in diefem Augenblide vielleicht noch mehr als in Wien 
und in Berlin das gegenwärtige deutſche Staatenweſen, die gegen- 


65 


wärtig herrſchenden Gefinnungen und Abfichten ertennen kann und in 
ihrer Erbärmlichfeit verachten muß. 

Es konnte für niemand verborgen bleiben, daß die Haltung det 
preußifchen Regierung beftimmend für die meiften anderen deutfchen 
Negierungen fein würde, Um fo größer mar daher die Sorge und 
die Erbitterung über das Herporfreten der Richtung , welche durch die 
Schrift des Geheimenrathd Schmalz ihren Ausdruck erhalten und in 
den Gegenfchriften von Niebuhr, Schleiermacher, Koppe und anderen 
heftige Bekämpfung erfahren hatte. Wohl drohen Gefahren von 
mehr als einer Seite, fehrieb Perthed an Jacobi nach München. Der 
Streit in Preußen ift ein Zeichen der Zeit; dort greift die Regierung 
in ihrer Angft den Tugendbund an, fpürt geheime Verbindungen auf, 
möchte die Öffentliche Meinung und den Volksgeiſt bannen und den 
Volkswillen nah Berfaffung, Landwehr u. f. w. hemmen. Weil fie 
unfere Zeit nicht begreift, möchte fie ſich aus derfelben heraus und in 
eine andere, vergangene hineinfegen. — Du erwähnft ded Streites 
zwifchen Schmalz und Niebuhr, heißt es in einem gleichzeitigen Briefe 
von Perthed an Fouqué. Ach betrachte diefe beiden nur als Tirail- 
leurs; gejchlofjene Colonnen ftehen hinter den Bergen. Genau ge- 
nommen follen die Ausdrüde: Jugend und geheime Verbindung, ge- 
gen welche Schmalz feine Angriffe richtet, den Volksgeiſt, die öffent: 
liche Meinung diefer Zeit, Verfaſſung, Landwehr, u. f. w. bezeichnen. 
Und welche Mittel wendet man an, um diefen Angriffen größere 
Stärke zu verfchaffen! Lobende Anzeigen der Schrift von Schmalz 
werden officiell durch alle Zeitungen verbreitet; — die Beurtheilung im 
Hamburger Eorrefpondenten z. B. war von ®. v. K. — dagegen wur⸗ 
den die Gegenſchriften, namentlich die von Koppe, ſchon verdächtigt, 
bevor ſie erſchienen waren. Wer ſchlecht iſt, iſt doch immer auch 
dumm. — Für fo verderblich hielt Perthes das damalige Auftreten 
der Regierungen, daß er fich der ſſhwierigen, unſicheren Lage freuen 
konnte, in welcher ſich dieſelben nach allen Seiten hin befanden. 
Ueber den zweiten Pariſer Frieden, wenn er auch ſchlecht' genannt 
wird, Mage ich nicht, fehrieb er an Fouque. Gefahren von außen 
müffen auch künftig die Regierungen noch bedrohen, damit fie des 
Volkes bedürftig bleiben. Wären die Staatöverhältniffe auch nur 

SPertheö’ Lehen. 11. 4. Aufl, 5 


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auf ein halbe Jahrhundert dermaßen ins Gleichgewicht geftellt, daß 
Ruhe und Friede überall in Europa wäre, fo würde auf feinen 
Wunſch, auf fein Recht des Volkes geachtet werden und alles in dem 
alten verfaffungslofen Zuftand bleiben. Conftitutionen laffen ſich frei⸗ 
ih nicht machen; die Zeit, die Gefchichte macht fie, und Thoren find 
ed, die nur gleich alle8 mit der Schneiderfchere einrichten wollen. 
- Aber anfangen mug man doch, und diefer Anfang — ad! das ift 
ſo fehwer für die Herren, die regieren und verwalten, - ſich darein re⸗ 
den zu laſſen. 

Den Regierungen, wie ſie beſtanden, die Zukunft Deutſchlands 
in blinder Hingabe anzuvertrauen, ſchien ſo wenig zuläſſig, wie dem 
Fortſtürmen der oͤffentlichen Meinung zu folgen, und vor der Anma⸗ 
Kung, fih und fein Einzelurtheil über beide zu feßen, mußte der be⸗ 
fonnene Mann zurüdichreden; aber in Perthes war der alte Glaube 
an die Macht, an die Wahrheit und das Recht des den Deutfchen ald 
ein Gefchen? von oben gegebenen nationalen Geifted unerfchüttert ge⸗ 
bfieben. In dem nationalen Geifte, den die Menfchen fo wenig zer. 
ftören wie ſchaffen könnten, fah er den Richter in dem Kampfe ziwi- 
fhen den Regierungen und der öffentlichen Meinung; denn ſchon da» 
mals trug er ald Ahnung feine fpätere Ueberzeugung in fi, daß in 
einem ſolchen Kampfe der nationale Geift nicht nothwendig mit der 
öffentlihen Meinung zufammenfallen und nicht nothwendig von der 
politiihen Richtung der Regierungen ſich unterfcheiden müfle. Für 
jeden einzelnen Yall begehrte er die Unterfuhung, ob mehr auf diefer 
oder mehr auf jener Seite der nationale Geift wirfe und malte, und 
obſchon er auch in fpäterer Zeit bereitwillig zugeftand, daß diefe Un- 
terfuchung nicht jedermannd Sade und oftmald unendlich fchwierig 
fei, fo betrachtete er diefelbe Do immer ald die weſentlichſte Aufgabe 
des deutfchen Staatdmanne® und gab niemals die Meberzeugung auf, 
daß Deutſchlands Stellung von der Verwirklichung deifen, was der 
nationale Geift erftrebe, abhängig und jedes Anfämpfen gegen deniel- 
ben nicht nur verderblih, fondern auch vergeblich fei. Gegen gleich 
fiimmiges Gefühl, ſchrieb er im December 1815 in mehreren Briefen, 
gegen gleichmäßige Erfahrung und darauf fi) gründende Ueberzeu- 


67 


— — —— — 


gung, gegen ein in der Tiefe der Natur wurzelndes Verlangen richtet 
keine Macht der Erde etwas aus. 

Die Frage nach der Stellung der Regierungen zu der öffentlichen 
Meinung war nur eine der Streitfragen jener Zeit; neben ihr ward 
mit gleicher Heftigkeit, wenn auch nicht in ſo weiten Kreiſen, die 
künftige Stellung Preußens und Oeſtreichs zu einander und in Deutſch⸗ 
land zur Sprache gebracht. Der deutſche Bund war allerdings ſchon 
im Juni 1815 vertragsmäßig gegründet, aber der deutſche Bundes⸗ 
tag, das einzige Organ, durch welches ſich der Bund äußern ſollte, 
iſt erſt am 5. November 1816 eröffnet worden. Um die Zeit des 
zweiten Pariſer Friedens lagen daher die Artikel der Bundesacte nur 
als todte Buchſtaben vor und kein Menſch konnte ahnen, wie die 
zwanzig geſchriebenen Sätze ſich ausnehmen würden, wenn ſie zu 
Thaten im Leben werden ſollten. Nur ſo viel ließ ſich ſchon damals 
erkennen, daß ungeachtet der angeordneten Entſcheidung nach Stim⸗ 
menmehrheit die deutſchen Regierungen in ihrem Gange und Verhal⸗ 
ten durch Oeſtreich und Preußen beſtimmt werden würden. Preußen 
und Oeſtreich alſo ſollten gemeinſam Deutſchland leiten, wie wenn ſie 
durch die ſtärkſten gemeinſamen Intereſſen und durch das innigſte ges 
genſeitige Vertrauen unauflöslich miteinander verbunden wären. Be⸗ 
vor indefjen durch dad Jufammentreten ded Bundestages den beiden 
Mächten wenigftend der Verſuch möglich gemacht 'war, fih Deutid- 
land gegenüber wie eine einzige Macht zu bewegen, mußte die gemeine 
jame Leitung ded ganzen Deutichland® durch zwei Cabinette, welche 
um eben dieſes Deutjchland fich ſchon lange angefeindet und argwöh⸗ 
nifch bewacht hatten, wie ein luftiger Traum erfcheinen. Der Wirk—⸗ 
lichkeit nach ftellte fich Deftreich ald der Leiter der füddeutichen, Preußen 
als der Leiter der norddeutfchen Staaten für die nächte Zukunft dar. 

Auch Perthes, obſchon feinem gefamten Entmwidelungsgange nad) 
mehr deutfch ala norddeutich oder füddeutfch, als öftreichifch oder preu- 
ßiſch, konnte ſich diefem durch die Lage der Dinge hervorgerufenen 
Standpunkt der Betrachtung nicht entziehen. Welch ein großes, wah- 
res Glück verheißt der herrliche Sieg bei Belle-Alliance! fchrieb er in 
einem jpäter etwas verändert im Niederelbifchen Mercur abgedrud- 
ten Briefe. Daß er von Preußen und Niederland im fehönen Berein 

5* 


68 


erfochten ift, gibt ihm eine nicht auszurechnende Bedeutung. Das 
Niederland, aus ungleihartigen Theilen und Stüden eben nur durch 
ftaatsanfichtlihen Entwurf zufammengefeht, hat durch den muthig be- 
ftandenen Kampf, deifen Ehre nicht zu theilen ift, Einheit der öffent» 
lichen Meinung und des Nationalwillend für alle feine Bewohner ge⸗ 
wonnen. Hannover, gleiche Ehre theilend mit dem Niederland, muß 
nun zu allgemein vaterländifchen Anfichten und Gefühlen übergehen 
. aus dem gewohnten Provincialigmusd. Preußen, feines Kranzed zu 
feinem Heldenruhm mehr bedürftig, bedurfte es doch noch, in braver 
Waffengenoffenfchaft den Sieg vom ſchönen Bündnid zu erfechten, 
damit man fagen dürfe: Ganz Niederdeutfchland hat gefochten und 
gefiegt — wer will ed trennen? Keine Macht kann ed, wenn es ſich 
ſelbſt nicht trennt. Bor folcher Trennung bemahre und Gott! Was 
entfremdet doch das norddeutiche Nicht» Preußen von dem Preußen- 
reiche, dieſem deutfcheften der deutfchen Staaten, der in den Jahren 
der Dienftbarkeit und Vorbild geweſen in Fortbildung vaterländifcher 
Cultur und in guter Haushaltung, der dann emporftieg, eine leitende 
Feuerfäule zur Erfämpfung der Freiheit, ald die Stunde gefchlagen 
hatte? Was fteht noch zwijchen dem Deutfchen.und dem Preußen, in 
defien Adern doch fo reiches vaterländifched Leben quilit? Du, mein 
freimüthiger Freund, wirft mir erlauben, freimüthig zu antworten. 
Eines Gegengewicht? in Norddeutfchland bedürfen wir, durch welches 
auch in Zufunft jedes preußifche Cabinet vor der politifchen Verſuchung 
behütet werde, alle Meineren Nebenftaaten mit fich zu verſchmelzen — 
vereinigen iſt etwas anderes —; wir bedürfen eines Gegenſtaates, 
damit Preußen vor dem Gedanken bewahrt werde, alle deutſchen 
Staaten müßten in dem preußiſchen untergehen, auf daß Deutſchland 
aus Preußen neu geboren werde, neu erſtehe wie ein Phönix aus der 
Aſche. Iſt dem Mangel eines ſolchen Strebepfeilerd gegen folches 
Uebel abgeholfen, fo wird Deutfchland dem preußifchen Staate alles 
gönnen, was er nur münfchen mag. Wer wollte verfennen, daß 
Preußen groß und ftarf fein müffe, nad) Weften und nah Often hin 
in voller Mannesfraft ſtets bereit haltend das gute Schwert! Das 
Gegengewicht aber zur Erhaltung der Freiheit Norddeutſchlands ift 
jegt wirklich gewährt dur dad Reich der Niederlande mit Hannover ; 


69 


die Meineren Staaten, Oldenburg, Braunfchweig, Medlenburg, die 
freien Städte, befonderd aber Holftein-Schledwig,. ſchweben gleich dem 
Zünglein in der Wage und geben Ausfhlag. Die politifhe innere 
Annäherung und Vereinigung Englands und Preußens, die in des 
Natur ihres ganzen Verhältniſſes begründet liegt, wird Deutfchland 
von der Achtung überzeugen, die Preußen vor der Bundesverfaffung 
unſeres Baterlandes hegt, da Hannovers, aljo des britifchen Cabi⸗ 
nets, ganzes Streben auf die Verfaffung Deutfchlands hingerichtet 
if. Geht meine Hoffnung in Erfüllung, fo ftehen Nord⸗ und Süd⸗ 
deutſchland als zwei Hälften eines ganzen Deutſchlands da zur Wehr 
gegen jeden Feind, gegen jeden Fremden, und im Innern wird der 
alte Streit zu einem Wettkampf darüber werden, wo Berfaflung, 
Freiheit, Ordnung, Liebe und Treue zum Fürften, wo geiftige Aus- 
bildung zur Ehre Gotted und zu Nub und Frommen des Volfed am. 
beften gedeihe, und wir in Norddeutfchland werden wahrlich zu thun 
haben, um uns nicht von dem Süden überbieten zu laffen; denn vie- 
les läßt fi erwarten für den Aufſchwung Süddeutſchlands von Deft- 
reichs redlihem Kaifer, den wir fo gerne wieder den unfrigen haben 
nennen wollen, und von den gründlich gebildeten Prinzen diefed Hau- 
fes, und vieles Große läßt fich hoffen von Baierns und Wüurtembergs 
Thronfolgern. | 
Daß Preußen ein durch und durch deutſcher Staat ſei, war für 
Perthes damals wie fpäter gewiß; aber eben ſo gewiß war ihm, daß 
das national Deuiſche ſich im preußiſchen Staate durch deſſen große 
Geſchichte beſonders und eigenthuͤmlich, gleichſam zu einem Dialekte 
des Deutſchen, dem preußiſchen Dialekte, ausgebildet habe. Dieſes 
unterſcheidend Preußiſche wollte Perthes in keiner Weiſe den übrigen 
norddeutſchen Ländern aufgedrängt wiſſen; fie ſollten nicht preußiſch 
in dieſem Sinne des Wortes werden. Noch weniger war feine Mei- 
nung, daß die damals in Preußen einflupreiche Partei, welche die Art 
des Regiments, wie e8 vor 1806 geführt worden war, den Grundla- 
gen nach wieder herftellen wollte, Einfluß auf dad übrige Norddeutſch⸗ 
land gemänne. In beiden Beziehungen fah er nicht ohne Sorge umd 
Mistrauen auf Preußen hin. Preußen wird die Braut heimführen, 
fchrieb er im Sommer 1815, aber nicht eher, bis Gott feinen Segen 


70 


dazu gefprochen hat; denn Deutjchland ift eine Feufche Braut. — 
Als ihm ein Freund aud Preußen die Worte gefchrieben hatte: „Es 
ift eine unglaubliche Verblendung, ſich nicht vertrauensvoll an Preu- 
fen anfchliegen zu wollen; welches Preußen ich meine, wifjen Sie,” 
antwortete Berthed: Zu Preußen, zu dem Preußen, welche? Sie mei- 
nen, haben wir Zutrauen; ob aber unfer fleiner Staat zu dem Preu- 
Ben, was Sie nicht meinen, Zutrauen haben und fi) ihm hingeben 
darf, das ift eine Frage, die ih Ihnen in Ihrem Cabinette fich zu 
beantworten überlaffe. Aber ich möchte fo gerne im Bertrauen ein- 
mal hören: Was will denn eigentlih das Preußen, dad Sie meinen, 
und dad, dad Sie nicht meinen, und was ift e8 eigentlich, dag wir 
nichtpreußifche Deutfche thun follen, um nit „unglaublich verblen- 
det” zu fein. Vielleicht wäte es fogar recht gut, wenn alles dieſes 
einmal wahr und treu, wie ed Deutichen geziemt, Öffentlich beantwor⸗ 
tet würde. Möglich, daß wir alle nicht fo weit auseinander find, wie 
die Gefpenfter, die jebt im Dunfeln fohleichen, und glauben machen 
möchten. — Mit Niebuhr war Perthed fchon im Jahre 1814 zer- 
fallen, weil er in ihm nur ein Herz für den preußifchen Staat und 
nicht für das deutfche Bolt, fo weit dasſelbe ein politifches Volt fein 
follte, zu erkennen glaubte; bitter griff er 1815 defien Schrift gegen 
Schmalz an, weil fie ihm au? einem nur preußifchen Geifte hervorge- 
gangen jhien. Bei diefem fcharfen politifchen Gegenfag zwiſchen den 
beiden alten Freunden ſchien wenig Ausfiht auf Wiederherftellung 
ihres früheren nahen Berhältniffes zu fein. Mit um fo tieferer Rüh— 
rung und Freude empfing Perthes im Frühjahr 1816 nicht lange vor 
Niebuhr's Abreife nah Rom folgende Zeilen von dem großen, edlen 
Mann: Liebſter Perthes, es ift für mich ein Bedürfnis, nicht ärmer 
zu werden und nicht ärmer zu fcheinen, als das Schickſal es unab- 
wendbar will. Das Schickſal hat mich in den nächſten Verhältniffen 
bettelarn gemacht, wo ich nod vor einem Jahre fo überſchwenglich 
reich war. Erſt vor drei Zagen ift der Todestag meined Vaters, wo⸗ 
mit die Zerftörung meined Reihthums anfing. Wenn die Vers 
traulichkeit mit Sreunden durch vorübergehende Leidenfchaftlichkeit und 
Neigungen gelitten hat, fo fei died nun auch vorübergehend und ein 


71 


jedes Misverfländnid verfchwinde, ehe ich vom väterlichen Boden 
fheide. Wollen Sie das annehmen? | 

Fahre politifher Gemädhlichkeit konnte Perthes für die Deutfchen 
nicht erwarten, mochte er auf Preußens und Oeſtreichs Stellung oder 
auf die Haltung der Regierungen und auf das Drängen ber öffent- 
lichen Meinung fehen. Die Friedenszeit, fohrieb er, der wir jept ent- 
gegengehen, wird zugleich eine Kampfeszeit fondergleichen fein. Denn 
noch ift auf feiner Seite die Wahrheit und das Recht, und nad fo ges 
waltigen Zeiten fann Unwahrbeit und Unrecht nicht ohne Gegner und 
Angriffe daftehen. Einzelne Männer und Vereine, Stände und 
Städte, Staaten und Kirchen werden im wilden Gewirre gegen einan⸗ 
der auftreten; heftige Reibungen und leidenfchaftliche Parteien werden 
überall entſtehen; jeder wird nur feine Anficht für die wahre halten 
und jeder jeglichen Anhang zu gewinnen fuchen. — Wer Tann es 
wiſſen, rief er, von Sorge ergriffen, einmal aus, ob die Zufunft 
Deutſchlands au nur zwei Staaten oder zwei Stämme fehen wird, 
die brüderlih zu einander halten! — Doch war eine folde Stim- 
mung banger Sorge nur vorübergehend bei Perthes; Hoffriung und 
Vertrauen war das Herrfchende in ihm. Wie er den deutfchen natio- 
nalen Geift ald endlichen Richter und Sieger in dem Kampfe zwifchen 
Regierungen und öffentlider Meinung anerkannte, fo glaubte er feft, 
dag auch der Kampf zwifchen Deftreich und Preußen endlich erledigt 
werden würde, indem Deutfchland zu feinem Rechte gelange und den 
beiden ftreitenden Mächten die ihnen in Deutſchlands Intereſſe gebüb- 
rende Stelle anweiſe. Glauben Sie nicht, fehrieb er, daß ich ohne 
große Sorgen bin; ich weiß viel ſchlimmes und vielleicht genauer 
und beitimmter, ald Sie es willen fönnen: aber Deutihland ſchläft 
nicht und fein Bolt wacht; überall ziehen die Vögel und man adıte 
auf ihren Flug. Die Elemente zu einer großen Zeit find vorhanden 
und e8 fehlt, um fie zu fammeln, nur an einem von Gott begabten 
Manne, und den wird Gott verleihen. Mir fteht heute fo feit wie 
vor einem Jahre, dag Europa noch nicht dem Untergange beftimmt 
it, und daß Gott ſich Deutichland aufgehoben hat, um Europa zu 
retten. Das ift meine Meberzeugung und durch fie habe ich ſchon 
manchen, der in Sorge und Furcht erftorben war, wieder lebendig ge- 


72 
ſprochen. Wir freilich werden alt werben in dem Gange ber Zeit 
und und fohlafen Iegen, bevor ein gutes Ende erfcheint; aber wer 
wollte verzagen, weil er auf hohen Berg geftiegen, neue Berge und 
Thäler in großer Zahl überfehaut und nun ſich fagen muß, daß es 
nicht eines Tages Sache fei, die letzte Höhe zu erreichen! | 


Perthes' Anfihten über die Bedeutung des Buchhandels 
fir Deutſchland. 





Perthes hatte den Buchhandel von den erſten Jahren an, in de⸗ 
nen er denfelben als feinen Lebensberuf erfannte und ergriff, nie aus⸗ 
ſchließlich als ein Mittel des Erwerben? ,, fondern immer zugleich als 
ein Glied in dem großen Zuſammenhange der Einrihtungen und Ver- 
anftaltungen aufgefaßt, durch welche eine Nation fich geiftiges Leben 
möglich macht. Weil fein Gefchäft ihm ein felbftändigesd Hausweſen 
und eine unabhängige Stellung verfchaffen und erhalten follte, ver- 
gaß er nicht, daß es zugleich die Aufgabe habe, in Gemeinfchaft mit 
dem gefamten deutſchen Buchhandel das Titerarifche Bedürfnis der 
Nation und. deren einzelnen Beftandtheile möglichft ſchnell zu erfen« 
nen und möglichft leicht zu befriedigen. In diefem fteten, Tebendigen 
Bewußtſein von der Einheit des befondern und des allgemeinen In⸗ 
tereſſes Tiegt recht eigentlich da8 Geheimnis der Erfolge, die, fo lange 
Perthes Tebte, feine Unternehmungen begleiteten. Bon diefem feinen 
Standpunfte au glaubte er im Jahre 1816, daß der deutfche Buch- 
handel einer neuen Belebung und theilweifen Umgeftaltung bedürfe. 

Unter den vielen Gefahren, von welchen Deutfchland dur die 
Menge der fcheinbar mwenigftend unauflößlichen inneren Gegenfähe 
bedroht ward, fürchtete er am meiften die Möglichkeit, daß die Schei- 
dung in Süd und Nord, in Eatholifch und proteftantifh, in öftrei- 
chiſch und preußifch nicht nur politiſch, fondern auch national ſich aus- 
prägen könne. Wenn die Nation in zwei Völker, Süddeutſche und 
Norddeutfche, fich fpalte, fo erfhien ihm jede fernere Hoffnung auf 


73 


eine bedeutende Zukunft Deutſchlands ala Thorheit. Mit Unwillen 
und Beforgnis fah er daher auf die vielen Norddeutichen hin, welche 
begeiftert von der-politifchen Einheit Deutfchlands zu fprechen wußten 
und dennoch deren nothwendige Vorausfegung, die nationale Einheit, 
jerftören halfen. Der Norden, äußerte Berthes einmal, hat fi daran - 
gewöhnt, den Süden anzuflagen, daß ſich derfelbe gegen das nord⸗ 
deutfche Wefen ängftlih und engherzig abichliepe, und dennoch macht 
der Norden ed.nicht anders, fondern ignoriert mit vornehmer Selbft- 
gefälligfeit das geiftige Leben des Süden? und weiß nicht und will 
nicht wilfen, was dort die Menfchen treibt und bewegt. Er liebt e8, 
Bildung, Berftand, Wiſſenſchaft und Kunft für fih und für den Pro- 
teſtantismus allein in Anfpruch zu nehmen, und will dem Fatholifchen 
Süden nur eine gewilfe treuherzige Gemüthlichkeit und ungebildete 
Gradheit zugeftehen. In Wahrheit find ihm die Süddeutfchen ein 
Stamm anderer Gattung und Geltung ald die Norddeutfchen. Wie 
aber ift politifche Einheit des Süden? und Nordend möglich, fo lange 
die nationale Einheit beider noch nicht lebendig in das Bewußtſein 
aller getreten ift! 

Bedeutende Gegenfäpe Wwiſchen Süd und Nord waren im Le— 
ben begründet; fie fonnten weder überfehen, noch durften fie. ver- 
wifcht werden: aber mit vollem Recht betrachtete es Perthes ala 
Prlicht der Nation, ihre ungeachtet aller Mannigfaltigkeit der Stämme 
vorhandene nationale Einheit lebendiger als bieher zu erfennen und 
kräftiger zu entwideln. Bei der trocknen Starrheit, mit welcher ſich 
die Berfchiedenheiten in Religion und in Sitten wie in biftorifchen 
und politifhen Erinnerungen feitgeftellt hatten, glaubte Perthes in 
der Literatur für die nächfte Zeit das einzige große Gut zu finden, an 
deſſen gemeinſamem Befis der Norddeutfche und Süddeutiche, der 
Proteftant und Katholif, der Preuße und der Deftreicher mehr und 
mehr lernen könne, fich als eins zu fühlen. Aber aud in Beziehung 
auf die Literatur fand Deutfchland ſcharf getrennt da. Süddeutfch- 
land, insbeſondere Deftreihh und das eigentliche Baiern, wurde tes 
nig von berfelben berührt und Norddeutfchland war fo unbefannt mit 
den irgendwie fatholifch gefärbten literarifchen Erſcheinungen Deft- 
reih® und Baiernd, daß man nach Perthes' Anficht nicht wiſſen konnte, 


74 


ob fie niht Schaͤtze enthielten, beftimmt, ein allgemein deutfches 
Gut zu fein. Diefe unnatürlihe Scheidung der deutfchen Literatur 
zu überwinden, faßte Perthes als die große und eigenthümliche Auf- 
gabe ded Buchhandel? auf. Eine Geftalt follte derfelbe geminnen, 
die e8 für die Verbreitung einer Schrift als gleichgiltig erfcheinen lieg, 
ob fie in Hamburg oder Wien, in Königdberg oder Trier gedrudt 
und verlegt war. Bon der Löſung diefer Aufgabe wußte Perthes 
aber den Buchhandel noch weit entfernt. Nur in geringem Grade 
wirfte derfelbe auf Baiern und auf manches Fleinere Land, und für 
Deftreih war er fo gut wie nicht vorhanden. Mit Ausnahme Wür- 
tembergd war noch vor wenigen. Jahren, fehrieb Perthes damals, 
das füdliche Deutſchland bis Nürnberg und Dresden, das weftliche 
bis Heidelberg und Kranffurt todt für die Literatur. Seitdem die 
Rheinlande preußifch geworden find und Deftreih und Baiern mehr 
und mehr in da8 deutfche wiſſenſchaftliche Leben eintreten, ändert 
fih das alles und die Beziehungen nad) diefen Ländern mehren ich, 
aber noch wird der gegenfeitige Verkehr nur auf gut Glück unter- 
nommen und unfundig und unbehilflich betrieben. 

Jedem Verſuche, die Scheidung in dem deutfchen literarijchen 
Leben zu überwinden, ftellte fi) ein Umftand hindernd entgegen, def- 
fen Befeitigung nicht ohne Eingreifen der Regierungen möglich war. 
Der Buchhandel einer und derfelben Sprache, Literatur und Nation 
mußte in einer Mehrheit völlig getrennter Staaten betrieben werden. 
Diefe Thatjache hatte in ihren äußerften Kolgen dahin geführt, daß 
das von dem Buchhändler ded einen deutfchen Staates ermorbene 
Recht zum Drud und Vertrieb eined Werkes von den anderen deut: 
Then Staaten nicht ala ein Recht anerfannt ward, und der Nachdrud 
als erlaubtes und felbft als begünftigte® Gewerbe galt. Das Ber: 
derbliche eines ſolchen Kriegszuſtandes fuchte Perthes um diefe Zeit in 
einer eigenen kleinen Schrift auch den ferner Stehenden anſchaulich zu 
machen. - Wenn der Schriftfteller, heißt e8 in derfelben, etwas nie- 
dergefchrieben hat, fo wendet er ſich behufs des Drudes an den Buch⸗ 
händler, da er felbft weder Zeit noch Geld noch Geſchick zur Beſor⸗ 
gung dieſes Gefchäfted hat. Hält der Buchhändler dad Dargebotene 
für gut und glaubt — wiffen fann er ed nicht —, daß dad Publicum 


75 


eben fo urtheilen werde, fo gibt er dem Schriftfteller Honorar und bes 
zahlt Drud und Papier für fo viele Eremplare, als er abfeßen zu 
fönnen meint. Der Buchhändler hatte ſich aber vielleicht geirrt und 
behält mehrere hundert Eremplare übrig, wodurd ihm nicht allein der 
gehoffte Gewinn, fondern auch ein Theil des audgelegten Capitals 
entgeht. Diefelbe Erfahrung macht der Buchhändler mehreremale 
und vielleicht erft im fechdten Falle glüctt ein Unternehmen und fönnte 
Erſatz für den vorhin erlittenen Verluft gewähren. Da findet ſich 
aber ein Nachdruder, welcher die fehlgefehlagenen Unternehmungen 
nicht beachtete, die geglüdte aber fogleich bemerkt und von dem Buche 
eine neue Auflage macht, welche wohlfeiler fein fann, da der Nach⸗ 
druder feinen früheren Verluft zu deden und fein Honorar zu zahlen 
hat. Durch diefed Verfahren bleibt dem Buchhändler die Hälfte der 
Auflage liegen und er wird abgefchredt, ferner etwas zu unterneh- 
men. Der Cchriftfteller findet folglich fünftig feinen Abnehmer fei- 
ner Arbeit, der Nachdrucker aber, der Qaurer, zieht feinen ficheren 
Gewinn. Mlerdingd hat das Publicum durch den wohlfeileren Preis 
in diefem einen Falle Vortheil; ift e8 aber ein guter Haudhalter, der 
“ fein Saatforn aufjehrt? 3. B. Profeffor Ebeling zu Hamburg gibt 
von feiner durch die Zeitläufe unterbrochenen Erdbeichreibung Ame⸗ 
rika's einen neuen Band heraus. Er bat für Bücher, Landkarten, 
Gorrefpondenz und Beiträge achthundert Thaler Unkoſten gehabt, 
eigene Arbeit und Zeitverluft nicht gerechnet. Das Buch findet Käu- 
fer. Ein Hamburger Buchdruderherr findet es nun dem Intereſſe fei- 
ner Officin gemäß, diefen Band der Erdbefchreibung nadhzudruden, 
und fann denfelben um die Hälfte wohlfeiler geben als der rechtmä⸗ 
ßige Verleger, dem dadurd ein großer Theil feiner Auflage Macula- 
tur wird. Wenn nım künftig ein neuer Band desfelben Werkes er- 
fheinen foll, fo wird der vorige Verleger ihn gewiß nicht drucken, der 
Nachdruder auch nicht; und das Publicum muß ein ſchätzenswerthes 
Werk entbehren. | 

Die zunächſt bei diefer Angelegenheit betheiligten Schriftftelle 
und Verleger hatten freilich den Nahdrud immer ald ein verderbli- 
ches Nebel anerkannt und gleich nach dem erſten Parifer Frieden ſchon 
Berfuche zu deſſen Befeitigung gemadt. Ein und achtzig angefehene 


76 


Handlungen waren im Sommer 1814 zufammengetreten und hatten 
eine Commifjion erwählt, welche bei den einzelnen Regierungen und 
bei dem damals bevorftehenden Congreffe die geeigneten Schritte thun 
follte, um für dad Eigenthumsrecht der Schriftfteller und Verleger 
geſetzlichen Schuß in ganz Deutfchland zu erwirken. Cotta und Ber- 
tuch hatten ſich als Abgeordnete der Commiffion mit einer von Kotze⸗ 
bue verfaßten Denkihrift nah Wien begeben und geneigte® Gehör 
bei Metternih und Weflenberg, Hardenberg und Humboldt gefunden. 
Der deutfchen Bundesacte waren demgemäß die Worte einverleibt 
worden: Die Bundedverfammlung wird fi bei ihrer erften Zufam- 
menfunft mit Abfafjung gleihförmiger Verfügungen über die Sicher- 
ftellung der Rechte der Schriftfteller und Verleger gegen den Rachdrud 
befhäftigen. Als nun die Zeit der Eröffnung ded Bundestages in 
Frankfurt herannahte, fehien es, um.diefen Worten ihre zweckgemaͤße 
Ausführung zu fihern, vor allem darauf anzufommen, den Staats⸗ 
männern, aus welchen die Bundesverfammlung beftehen follte, be⸗ 
ſtimmte und deutliche Einfiht in da8 ihnen fremde, halb faufmänni- 
ſche, halb Titerarifche Verhältnis zu verfchaffen. Bon verfchiedenen 
Seiten aufgefordert, entwarf Perthes im Eommer 1816 eine Denke 
ſchrift: „Der deutfche Buchhandel ald Bedingung des Dafeind einer 
deutfchen Literatur”, welche vor allem darauf berechnet war, das in 
literarifcher Beziehung Deutfchland entfremdete Deftreich zu gewinnen. 

Es ift, beißt e8 in derjelben, ein Zeichen für Unzerftörbarfeit 
der deutichen Nationalität, daß die Liebe zu vaterländifcher Sprache 
und Literatur in demfelben Maße, ald der Verfall der früheren poli« 
tifchen Verfaſſung ſich offenbarte, flärfer germorden und bi? zur Be- 
geifterung geftiegen ift, als das deutfche Reich durch franzöfifche Ueber- 
macht zerftört ward. Seitdem ift unfere Literatur ald der Gefamt- 
ausdruck des geiftigen Lebend aller deutfchen Völker und unfere ge- 
meinfame Sprache ald das .unverleglihe Bildungsmittel deuticher 
Stämme in Ehren gehalten und die Bundesacte hat verfprochen, daß 
das fo herrlich bewährte und fo ſtark befundene innere Bildungsmit- 
tel: deutfche Sprache und Literatur, geichirmt und gefchügt werden 
folle. Das wollen Fürften und Stände, Adel und Boll. Der Beſitz 
aber einer gemeinſamen Literatur für Deutſchland iſt ar die Erfuͤl⸗ 


77 


fung dreier äußerer Bedingungen. gefnüpft: die Koften zum Drud der 
Schriften müffen aufgebracht, die Schriftfteller müſſen wenigften® für 
Zeit und Arbeit entihädigt und die gedrudten Werke müffen über 
alle Länder deutfher Sprache gleichmäßig ‚verbreitet werden. Seine: 
Negierung, fein Gönner, feine Afademie, fein Inftitut trägt in 
Deutfchland zur Erfüllung diefer Bedingungen bei ; der Buchhandel al- 
lein bringt die Koften des Drudes auf; er allein hat e8 durch dad ger 
zahlte Honorar einer Reihe unferer bedeutendften Schriftiteller mög⸗ 
lich gemacht, fich frei, felbftändig. und unabhängig fo lange zu beive- 
gen, bis allgemeinered Anerkenntnis ihnen eine-geficherte Lebenslage 
verfchaffte. Seine Auslagen kann der Buchhandel nicht wie in Eng- 
land und frankreich durch den Abfak an einzelnen Orten oder in ein« 
zelnen Provinzen deden und ift daher durch die Noth dahin geführt, 
in den Gegenden, für die er überhaupt thätig fein kann, keinen Ort 
und feinen Stand unbeachtet zu lafjen, jondern feine Wirkſamkeit bis 
in die verftedteften Winkel auszudehnen. Hierdurch ift ed möglich ge- 
worden, daß wir Deutfche auch in der Heinften Stadt mit der Litera- 
tur der ganzen gebildeten Welt im Zufammenhange ftehen und aus 
hunderten von Orten die bedeutenditen literarifchen Erfcheinungen her⸗ 
portreten, während in England und Frankreich Bücher, die nicht in 
London oder Paris gedrudt wurden, nur ſchwer zu erlangen find und 
außerhalb diefer beiden Hauptftädte fein großer Schriftfteller gedeiht. 
Der Engländer und Franzofe hat nur eine Londoner und Pariſer Li- 
teratur, wir aber haben eine deutfche Literatur und würden fie nicht 
haben fönnen ohne die großen gemeinfamen Anftalten, welche der 
‚Buchhandel für Deutſchland in® Leben geführt hat. In Leipzig ift 
ein großer Stapelort entitanden, wo alljährlih alle Buchhändler 
Deutihlands zufammentommen; halbjährlich erfcheint ein allgemeines 
Berzeichnid aller in Deutfchland neu: herausgekommenen Schriften ; 
allgemein deutfche gute und richtige Bücherkataloge machen es nebft. 
anderen literarifchen Hilfsmitteln und den allgemeinen, die ganze deut- 
he Literatur umfafjenden Fritifchen Anftalten möglich, daß die Litera- 
tur der verſchiedenen deutſchen Länder ald ein einziged Ganze erſchei⸗ 
nen fann. — Dieſe in ihrer Art einzigen Borzüge und Eigenthüm- 
lichfeiten des deutfchen Buchhandels find nicht durch Gefepe, nicht 


78 


von Staat? wegen durch die Regierungen gegründet, fondern von 
feldft wie durch einen nationalen Naturjinn entftanden und auch ges 
genwärtig bedarf der Buchhandel wie jeder andere Handel nur Frei- 
beit, und feine befondere Begünftigung,, aber fordern kann derfelbe, 
daf er wie ein Nationalgut und Nationalinftitut geachtet werde und 
im ganzen Bereiche des deutichen Bundes gleichen Schug und gleiche 
gefegliche Ordnung für feine Berhältniffe finde. Das nächte und drin- 
gendfte Bedürfnis. ift gefeliche Hilfe gegen den. Nachdruck. In Deft- 
reich, Baiern, Würtemberg, Baden, Darmitadt und den Ländern 
am Rhein wird derfelbe ald öffentliche, geſetzlich anerkanntes Ge- 
werbe und in vielen andern Ländern unter der Hand und gelegent- 
lich getrieben. Privilegien gegen denfelben können zwar für ſchweres 
Geld erfauft werden, aber es ift dem Buchhändler gradezu unmög- 
ih, fi für jedes einzelne Werk achtunddreißig Privilegien von den 
achtunddreigig Bundeoftaaten zu verfehaffen. Hier muß von Bundes» 
wegen geholfen werden durch ein Gefep über dad Eigenthumsrecht 
der Schriftfteller und Berleger mit fefter Beftimmung des Umfanged 
und der Dauer desfelben und durch die Einfegung einer Behörde, vor 
welcher das gewährte Necht geltend gemacht werden kann. 

Nach diefer Auseinanderfegung ſuchte Perthed die mit dem Ber- 
falle der Reichöverfaffung zunehmende Verbreitung des Nachdrudes in 
wenigen Worten darzulegen und die oft geltend gemachte Behauptung 
zurückzuweiſen, nad) welcher Oeſtreich durch das Verbot ded Nadh- 
drud? einen bedeutenden Geldnachtheil deshalb erleiden werde, weil 
es für die au dem übrigen Deutfchland gekauften Bücher feine Gegen- 
gabe zu bieten, der Büchereinfuhr feine Bücherausfuhr entgegenzufe- 
ken habe. Schließlich befämpfte er die Anficht, welche in dem Nach⸗ 
druck das unentbehrliche Mittel finden wollte, die Schriftiteller und Ber- 
leger von einem unbilligen und übermäßigen Gewinn zum Nachtheil 
der. Leſer abzuhalten, febte die aus der Fortdauer ded Nachdrucks für 
die deutſche Literatur hervorgehenden Nachtheile auseinander und fuchte 
diejelben in einem benannten Qufterempel, wie er fi) ausdrüdte, an- 
fhaulih zu machen. 

Perthed theilte die niedergefchriebenen Bemerkungen zunächft 
handſchriftlich Friedrich Schlegel mit, welcher ſich als öftreichifcher 


79 


Legationsrath bereit? in Frankfurt aufhielt, um ficher zu fein, daß 
diefelben in Deftreih, welches zu gewinnen die Aufgabe war, keinen 
Anftoß erregten. Sie werden, mein verehrter Freund, fchrieb er, 
vielleicht über da3 Vorhaben lächeln, dem Bundestage, der noch nicht 
eröffnet ift, den allerlegten Artikel der Bundedacte zur fchleunigiten 
Erledigung an da Herz zu legen; indeffen e8 werden ja bei Ihrem 
Bundedtage jo wenig wie bei andern Berfammlungen diefer Art Pau⸗ 
fen in den eigentlich politifchen Verhandlungen fehlen, die entftanden 
find, weil Irrungen und Spannungen bervortraten, und nun ihre 
Zeit bedürfen, um wieder zu verfchwinden. In folchen Paufen wird 
man vielleicht gerne nad) einem allgemeinen und doch die Leidenfchafe 
ten nicht herausfordernden Gegenftand fuchen, um die Zeit hinzubrin- 
gen, und für diefen Fall müſſen unfere Materialien bereit fein. — 
Als Schlegel auf dad dringendfte die fofortige Belanntmachung der 
feinen Schrift angerathen und fich zu deren möglichfter Verbreitung 
unter den Staatdmännern erboten hatte, ließ Perthes diefelbe dru- 
den und vertheilen. | 
Perthes hatte indeffen nie verfannt, daß durch gefepliche Be— 
flimmungen über den Nachdrud zwar manches aber nicht alle ge- 
. wonnen fei. Sollte der deutfche Buchhandel wirklich ein geeigneted 
Werkzeug fein, un die Einheit der deutichen Literatur zu vermitteln, 
fo mußte die perfönliche Verbindung derer, die ihn betrieben, näher 
und lebendiger ſich geitalten ala bisher, und alled mußte verfucht 
werden, um die vielen Hinderniffe zu befeitigen, welche nicht nur in 
Deftreih, fondern aud in den meiften andern deutfchen Staaten durch 
politifche Einrichtungen und polizeiliche Aengſtlichkeit den literarijchen 
Verkehr und den lebendigen Zufammenhang desfelben faft unmöglich 
machten. Um die literarifchen Bedürfniffe, die vorhandenen Webel- 
ftände und die Mittel und Wege zu deren Befeitigung beurtheilen zu 
können, ward eine genaue Kenntnis der einflußreichen Staatdmänner, 
jo wie der Lebenszuſtände, Richtungen und Ziele in den verfchiedenen 
deutfchen Staaten vorausgeſetzt, und ohne eigene und perfönliche An- 
ſchauung an Ort und Stelle ließ fich diefelbe ſchwerlich gewinnen. 
Perthes durfte fich bei feiner fehr audgebreiteten Bekanntſchaft und 
bei dem Vertrauen, welches er nicht nur unter Berufögenojjen und 


80 


Schriftftellern, fondern auch unter politifhen Perſonen der verfchie- 
denften deutfchen Staaten genoß, für befonderd geeignet halten, zu 
erfahren und zu betreiben, was erfahren und betrieben werden mußte. 
Seit dem Frühjahr 1816 befchäftigte ihn bereit der Gedanke, eine. 
laͤngere Reife durch Süddeutfchland zu unternehmen, um mit eigenen 
Augen nad) den Mitteln zu forfhen, welche die Einheit des geiftigen 
Lebens in dem politifch vielfach zertheilten Deutfchland erhalten und 
fördern könnten. Er glaubte die für feine damaligen Verhältniſſe 
nicht geringen Koften einer ſolchen Reife wohl aufwenden zu dürfen, 
weil er für feine eigene Handlung bedeutende Geſchäftsverbindungen 
von dem Unternehmen erwarten konnte und überdies durch eine neue 
wohlfeile Ausgabe von Stolberg’3 Religiondgefchichte, welche er in 
und für Deftreidh zu veranftalten gedachte, einen unmittelbaren kauf⸗ 
männifchen Gewinn fich verſprach. Bon vielen Seiten ward er drin- 
gend aufgefordert, fein Borhaben auszuführen, und in manchen Brie- 
fen bedeutender und einflußreicher Männer ſprach fih mit einer nur 
damals möglichen Unbefangenheit die Hoffnung aus, daf feine Reife 
einen fegensreichen Einfluß üben werde auf die herzliche und menfch- 
liche Verknüpfung ber vielfach getrennten füdlichen und nördlichen En- 
den Deutfchlande. Im Auguft hatte Perthes feine Vorbereitungen 
beendet und ſchickte ſich zur Abreife an. 


Berthes’ Reife nad Frankfurt am Main 
19. Juli bis 4, Auguft 1816. 





Am Freitag den 19. Juli verließ Perthed in Begleitung feine? 
fechjehnjährigen Sohnes Matthiad, welcher die Reife mit ihm machen 
follte, Hamburg und gedachte über Köln, Frankfurt und München 
nach Wien zu gehen. Glüdlich find wir heute Morgen hier angelom- 
men, beißt es in feinen erften Zeilen aus Bremen. Die Naht war 
hell und warm, der Weg fahrbar, die Poftillond gut. Mein Wagen 
ift bequem und grade geräumig genug, um mich und den Jungen zu 


81 


faſſen. Ich babe diefe Nacht den fihlafenden Knaben nicht ohne 
Aengftlichfeit angefehen, wie ein mirvon Dir anvertrauted Gut, wel⸗ 
ches ich auf der weiten Reife treu für Dich zu bewahren habe. Ich 
felbft fühle mich in Gebein und Geift müde; die Arbeiten und An—⸗ 
firengungen der beiden Jahre, welche auf die Schredengzeit gefolgt 
find, haben mich wirklich mürbe gemacht. Dir, meine geliebte Caro- 
line, weiß ich bei unferer Trennung nicht? zu fagen, als daß ih auf 
Gotted Wegen gehe. Du bift unter feinem Schuge und unfere Kin- 
der mit Dir. — Ohne Aufenthalt fuhr Perthes bis Münfter, wo 
er fih einige Tage aufhalten wollte. Verdrießlich ift es, zu fehen, 
heißt es in feinen Briefen, daß die von den Franzoſen mit deutfchem 
Gelde und deutfhem Schweiße erbaute Chauſſee jetzt von der hannö⸗ 
verifchen Regierung gänzlich vernachläffigt iſt; feine Hand wird an⸗ 
gelegt, um die umberliegenden Steine zufammenzubringen;, an meh⸗ 
teren Stellen, 3.8. zwijchen Bremen und Brinfum, fann man Nachts 
nicht fahren, aber Wegegelder werden aller Orten eingefordert. Bis 
nahe vor Osnabrück ift die Gegend öde und langweilig; gegen Bohmte 
hin wird e8 angenehmer. Hier liegen wir und zu der taufendjährigen 
Eiche führen, die an der Wurzel einen Umfang von zwanzig meiner 
Schritte hat. Himmelhoch fteht diefer Rieſe da, aber ohne Rinde, 
ohne Aeſte und Zweige, nur an einer Seite läuft eine noch faftpolle 
Ader den Baum hinauf, an deren ganzen Länge bin jugendliche 
Eprößlinge im zarteflen Grün fpielen, ein rührender Anblick an die- 
fen entäfteten und entblätterten Greife, der wie ein alter Bartthurm 
augfieht, an welchem eine Epheuranke fih hinaufzieht. Gar artig 
ift hier die Sitte, allen Pferden Eigennamen zu geben. Pferde find 
edel und verftändig und verdienen dieſe Auszeichnung fo gut wie die 
Hunde; hat fol ein Thier feinen Namen, fo fteht es der Perſön⸗ 
lichleit näher. — Hier find wir, beißt es in einem anderen Briefe; 
ich habe mein alte® Münfter wieder gefunden, andäcdhtig und leben?- 
luſtig. Geftern Mittag (22. Juli) famen wir an. Im Ausſteigen ſah 
ich Graf Zofeph Weftphalen über den Platz reiten; leider war er eben 
im Begriffe abzureifen; eine Biertelftunde herzlicher Mittheilung wurde 
und aber doch. Dann fuchte ich unfere alten Freunde auf und machte 


mehrere Befuche. Der Bifchof Drofte ift verreift, wird aber morgen 
Derthes’ Leben. 11. 4. Aufl. 6: 


82 


zurüd erwartet. An dem Dechanten ... fand ich den guten, herz- 
fihen Mann wieder, aber fein Aeußeres ſchon lieg in ſchwammiger 
Aufgedunfenheit übeled vermuthen. Er gab mir geftern ein Abend- 
effen bei einem Traiteur und hatte mehrere geiftliche Herren dazu ein« 
geladen. Es wurde, ich kann es nicht anders nennen, gefoffen bis 
Morgen? zwei Uhr. Merfwürdig war mir in der Gefellfchaft ein ehe- 
maliger Benedictiner, den ich vor fiebenzehn Jahren in feiner Zelle 
tennen gelernt hatte. Damals war er faft noch Jüngling, finnig, zart 
und inbrünftig fromm; jebt fein gefchnittener Weltmann, befannt mit 
allem , was die deutfche fehöne Literatur enthält. Anfänglich gab er 
ih nur mit Feinheit und Gewandtheit, aber fo wie die Flafchen leerer 
wurden, fam die Unfauberfeit heraus, die bis zur Gemeinheit flieg. 
Diefes nächtliche Bacchanal hat mich freifich fehr intereffiert, aber 
auch fehr betrübt. In welchen Schlamm können gutmüthige Menfchen 
verfinfen, wenn fie fich gehen lafjen, und bier faßen Männer vor mir, 
welche Funken des Göttlichen in fih aufgenommen hatten und Geift- 
fiche find! Mit ihnen allen haben die Drofte jeden Umgang abge- 
brochen. Unſeren Matthias hatte ih, um ihn nicht allein, zu Laffen, 
zu dem Gelage mitnehmen müſſen; ich fonnte nicht willen, daß es fo 
‚arg hergeben würde. Zu meinem Troſte fchlief er ein, ald ed am 
tollften wurde. Heute Mittag war ich zu dem Oberpräfidenten von 
Vinde eingeladen und fand eine große Zahl Regierungsräthe aus 
Münfter und auch mehrere aus Minden vor. Die Unterhaltung war 
lebhaft und freimüthig und die Männer fchienen mir guter deutfcher 
Art, einfach, verftändig und wohlgefinnt; aber nur Binde trägt das 
Gepräge eines genialen Mannes, der durch fraftvolle, raſche Thätig- 
feit großer Gefchäfte mächtig iſt. In feinen Bewegungen und in der 
Art ih zu halten erinnerte ex oft an Niebuhr und an Scharfblid, 
. Gründlichkeit und echt deutfcher Natur ift er wohl Möfer zu verglei« 
hen. Obſchon man über feine durchgreifende Heftigkeit flagt, wird 
er dennoch in Münfter geehrt; überhaupt feheint e3, wie wenn man 
fi hier recht gut mit den Preußen zu verjtändigen und einzuleben 
wife. — Heute früh, heißt es in einem Briefe vom 24. Juli an 
Caroline, holte mich der liebe Bifchof nach feiner Wohnung ab, die 
zwar ſtandesgemäß, aber in allem höchft einfach eingerichtet ift; wir 


83 


waren zwei Stunden allein und fprachen und gegeneinander mit vol- 
ler Sreimüthigkeit aus. Wir verftehen und, fünnen und aud) ver- 
ftändigen, aber dennoch) in fehr wichtigen Punkten nicht auf eine Linie 
tommen. Cr ift überall ruhig, feſt, beſtimmt und liberal im beften 
Sinne; denn der Grund bei ihm iſt Liebe. Mit ihm ging ich zu ſei⸗ 
nem Bruder Clemens, wohin auch der dritte Bruder, Domherr Franz, 
fo wie Katerkamp und der alte wadere Bicar Conrad, der jebt Geift- 
licher auf dem Lande tft, gelommen waren. Den ehrwürdigen Dver- 
berg fah ich leider nicht, er war verreift. Die mit diefen Männern 
verlebten Stunden werden mir immer im Gedächtnis bleiben; es war 
wahrhaft ftärfend und wohlthuend, die dret Brüder zu betrachten. 
Clemens ift zur inneren Würde herangereift, ift voll Kraft und Feuer, 
einfach und fiher; Franz ift geiftreich, feharf und voll Leben. Bei 
alten dreien tritt redliche Gefinnung und Reinheit des Herzens hervor 
und das Juñnere prägt ſich in den männlichen Geftalten aus. Es 
bleibt doch ein Borzug der fatholifchen Kirche, daß fie auch Vornehme 
als Geiftliche hat, aber freilich echt vornehm müſſen fie fein. Cle— 
men? ift kürzlich aus Rom zurüdgefehrt und arbeitet mit Eifer für 
die Freiheit der Kirche, damit, wie er fagt, das Streben nad) oben, 
das höhere geiftige Xeben und defien freie Bewegung im Menfchen 
nicht auch unter Aufficht des Staated und unter Controle der Polizei 
foınme. Auf hohe kirchliche Stelle gebracht, möchte er zu abhängig 
von Rom fein, um frei wirken zu fönnen. " 

Am 24. Juli Mittag fuhren wir aus Münfter fort, erzählen 
Perthes' Briefe weiter. Bon Hagen aus, wo wir am folgenden Mor: 
gen anlangten, beginnt eine in Deutfchland gewiß einzige Gegend. 
In dem eine halbe Stunde breiten Thale, in welche? unzählige enge 
Nebenthäler münden, liegen gedrängt aneinander Fabrifgebäude, 
Mühlen, Schmieden, von zierlihen Gärten umgeben. Die nicht ho- 
ben Berge find mit Getreidefeldern und auf der Höhe mit Laubholz 
bededt. Bier Stunden fuhren wir in foldem Reichthum bis Schwelm 
und blidten dann bald von der Höhe hinab in dad Wupperthal und 
auf eine zufammenhängende ſchmale Stadt: eigentlich find es zehn 
verfehiedene Orte, welche in Summa Barmen heigen. Barmen eris 
fttert fo wenig wie dad Hamburger Bankgeld, hat aber dennoch wie 

6* 


84 


dieſes eine große Wirklichkeit. An den legten diefer Eollectivorte ſchließt 

jich Elberfeld felbft an. Bon der Höhe herab, das Thal entlang ift 
der Anblick ftaunenerregend, die Gipfel der Berge waldig, ihr Ab- 
hang oben mit Getreidefeldern, dann mit grünen Wiefen bedeckt, bald 
weiß wie Schnee, bald in Purpur glänzend, bald in bunten Farben 
fchillernd,, je nachdem die auf ihnen audgebreiteten Zeuge und Garne 
wechfeln; tief unten an der Wupper ftehen die palaftähnlichen Ge- 
bäude mit ihren prächtigen Blumengärten, alle® in übermüthiger 
Ueppigkeit audgeziert und alle® aus der unglaublichen Fabrifthätigkeit 
hervorgegangen, die ein Grab unfere® Charakters, unferer Sitten 
und unferer Kraft werden wird. Vom achten, ja vom fechdten Jahre 
an arbeiten ſchon die Kinder, werden Krüppel und zeugen Krüppel, 
und die fogenannten Frommen fönnen das fo wenig ändern, wie bie 
Bemühungen der Regierung. Nur im Durchfahren konnten wir Tei- 
- der das wunderbare Thal ſehen; doch haben wir zu unferer Freude 
3. Keetmann aufgefucht und gefunden; auch die Männer, die ich mir 
für die verfchiedenen Orte aufgezeichnet hatte, habe ich geiprochen. 
Mir ſcheint, als ob fich im Bergifchen weit mehr Unzufriedenheit mit 
Preußen äußere ald im Münfterlande. Reibungen zwifchen den Ka⸗ 
tholifen und Proteftanten find in der gemifchten Bevölkerung entftan- 
den und haben der Regierung Vorwürfe von beiden Seiten zugezogen ; 
manche Gewerbszweige leiden durch die Abtrennung von Franfreich 
und niemand will auf’ beffere Zeiten warten; der preußifche Ge- 
Häftdgang wird langfam und altoäterifh gefunden und das Recht 
auf Herftellung der Stände wird ungeflüm geltend gemacht. Doch 
habe ich freilich ein eigentliche® Urtheil nicht, weil wir und, um bald 
nach Düffeldorf zu fommen, nirgends aufhielten. 

In Düffeldorf fah Perthes bei einem fehönen Sonnenuntergang 
zuerft den Rhein. Der Eindrud des herrlichen Strome® ift groß, ſchrieb 
er. Zwar geht er hier wie die Elbe bei Hamburg in der Ebene, aber 
er fließt nicht, fondern ftrömt, ift mächtig und drängend, und der 
Unterfchied zwifchen Fluß und Strom ift groß; doch wird der Rhein 
nie einen fo wunderbar fhönen Spiegel‘, wie ihn die Elbe zu Zeiten 
bildet, gewähren fönnen. Uns trennt nun, meine geliebte Caroline, 
die Elbe, die Wefer, die Emd, die Ruhr; bald wird auch der Rhein 


85. 


zwifchen ung fließen: aber für die Liebe und für die Treue gibt es fein 
Diesfeitd und enfeit®. Habe getroften Muth! Dein Rüdwärts- 
[hauen und Borwärtsahnen und Hoffen ift Gewährleiftung für das 
.Jenſeits; aber das lebendige Tefthalten der Gegenwart iſt unfere 
Pflicht, fo lange wir auf diefer Erde find. Der dafeiende Augenblid 
ift ed, der den Muth und den Entfchluß für das Leben gibt. Nüd- 
blide erregen Wehmuth, die dunkle Zukunft erregt Grauen, und ge- 
lähmt werden wir gar leiht ohne den greifbaren Punft der Gegen⸗ 
wart. — In Düfleldorf brachte Perthes einige Tage in der Fami- 
lie feine Schwager® May Jacobi zu, welcher nicht lange zuvor die 
Stelle des Directord an dem großen Krantenhaufe in Salzburg mit 
der eine? Regierungsrathes in Düffeldorf vertaufeht hatte. Seit 1808 
hatten fich beide nahe verbundene Männer nicht gefehen und in der 
Erinnerung an manchen bedeutenden Augenblid, den beide feitdem 
verlebt hatten, gingen rafch die Stunden vorüber. Tief gerührt blidte 
Perthes in Pempelfort auf die äußeren Umgebungen bin, in denen 
Friedrich Heinrich Sacobi vor den Stürmen des erften Revolutiondfrie- 
ge3 in einer nun lange, lange vergangenen Zeit den Mittelpunft einer 
geiftoollen Gefelligfeit gebildet und in mancher heiteren und ernten 
Stunde Goethe, Herder, Lavater, Hamann, Schloffer, Heinze, die 
Fürftin Galligin und fo viele andere gaftlih aufgenommen hatte. 
Das Andenken an die vergangenen Zeiten ließ für Perthed wenig 
Raum, ſich mit der Gegenwart Düffeldorfd befannt zu machen. Der 
allgemeine Eindrud, den die Bevölkerung einer Stadt dem Reifenden 
auch bei kurzem Aufenthalte faft unwiderftehlich aufdrängt, war hier 
wenig günftig. Geftalt, Geficht und Haltung der Leute hat etwas 
Unruhiges und Unftetes, fchrieb er; ihren Zügen fehlt die fefte Form. 
In Zeiten der Gefahr würde man fi) diefe Menfchen nicht zu Ge⸗ 
fährten ausfuchen. — Flüchtig nur begrüßte Perthes die damals noch 
in Düſſeldorf wohnenden Gelehrten: Kohlraufh, Kortüm und Del- 
brüd, und traf einigemale länger mit dem Kaufmann Friedrich Hoff- 
mann zufammen, welcher auf feinen früheren Handeldreifen aller Or- 
ten den Männern von lebhaften religiöfen Intereſſe nachgefpürt und 
dadurch einen weit und breit zerftreuten Kreis höchſt verfchiedenartiger 
Bekannten gewonnen hatte. linferen alten Freund Hoffmann habe 


86 


ich aufgefucht, heißt e3 in einem Briefe an Caroline. Das Befondere 
und Eigenthümliche des alten frommen und fehr Eugen Mannes liegt 
wohl in feiner Feindſchaft gegen jede Kirche und firchliche Geftaltung.. 
Er behauptet, daß die Ausgießung des heiligen Geiftes, durch welche 
allein das Beftehen einer Kirche möglich werde, nicht über das dritte 
Sahrhundert hinaus fortgewirkt habe. Alle menfchlichen Anftrengun- _ 
gen zur Wiederherftellung der untergegangenen fihtbaren Kirche. twä- 
ren vergebend; aber den Verheißungen der heiligen Schrift gemäß 
ftehe in näherer oder fernerer Zukunft eine neue gewaltigere Audgie- 
fung des heiligen Geifted zu erwarten, und fobald dieſe eingetreten 
fei, werde die Kirche neu erjtehen und das biäherige Leben in Staa- 
ten fein Ende erreichen. Ich konnte nicht umhin, ihm darauf zu erw 
wiedern: Die Juden hätten den Erlöfer, ald er gefommen fei, ver- 
kannt, weil fie einen weltlichen Herrfcher und einen glänzenden König 
erwartet hätten; auch wir würden und zu hüten haben, das auf in- 
nere Erneuerung fchon jegt hinarbeitende Balten Gottes nicht deshalb 
zu überfehen und gering zu achten, weil wir eine herrliche, glanzvolle, 
alles befiegende Erſcheinung der Kirche als nothwendige Forderung zu 
ftellen und berechtigt glaubten. Hoffmann und Keetmanı begleiteten 
und nach Benrath, einem Luſtſchloß mit weiter prachtvoller Ausficht, 
auf weldem Murat ald Großherzog von Berg ſich oftmald aufgehal« 
ten bat; dann fuhren wir allein durch ein Uebermaß von Frucht⸗ 
barkeit über Mülheim-und Deus nah Köln. 

Bon hier, liebe Caroline, Dir zu berichten, wird ſchwer fein, 
heißt e8 in Perthes’ Briefen aus Köln; denn alles ift und neu, Mens 
fhen, Sitten und Gewohnheiten, Stadt, Häufer und Einrichtungen. 
- Wir haben ded Großen und Schönen und auch ded Komiſchen gar viel 
ſchon gefehen. Erſchrick auch nicht, wenn wir etwas katholiſch gewor⸗ 
den find. Im Dom ward Gottesdienit gehalten gegen den Regen, in 
der Nacht gingen Proceffionen mit Laternen und lauten Gebeten: Toll 
ten wir Reifende und da nicht anfchfießen? Gleich nach unferer Ans 
funft durdhgingen wir die Stadt, deren Gaſſen und Gäßchen, ſehr 
bezeichnend Spar⸗Gaſſen genannt, wunderlid durcheinander gewuns 
den find. Häufer aud den verichiedenften Jahrhunderten, Alterthü- 
mer aus allen Zeiträumen ftehen dicht nebeneinander; man durch 


87 


wandelt mit einigen Schritten die alte Gefchichte von der Römer Zei⸗ 
ten an; auf Trümmern und Steinen von anderthalb Sahrtaufend 
.. wohnt der Kölner, der an Mundart, Haltung, Sitte ſich ſogleich als 
ein Eigenthümliches darſtellt. Nach der Gafle zu haben die meiften 
Häufer unten ein Gefchäftdlocal und nur ein dunkles Stübchen; oben 
find Waarenfpeicher und große Räume ohne Fenfter, jebt oft Wirth» 
ſchaft für Fledermäufe und Eulen. Geht man aber über die Haus⸗ 
flur nach hinten zu, fo findet man hübſch ausgebaute geräumige Zim⸗ 
mer, in welchen die Familie ftill Tändlih wohnt und aus denen fie 
gewöhnlich in große Gärten treten kann, die oft zwifchen altem mit 
Epheu und anderen Rankengewächfen überzogenen Gemäuer angelegt 
find. Eine Menge Häuslein fahen wir gleich den Neftern der Mauer⸗ 
ſchwalbe mitten hinein in die alte, angeblich aus Römerzeit herſtam⸗ 
mende Stadtmauer gebaut. Wie manches Geſchlecht mag in ihnen 
ſchon dahin gegangen fein, nachdem ed Freud und Leid getragen hatte! 
Gar artig aber wurden wir unter den Trümmern vergangener Zeit 
an die Gegenwart erinnert, al® uns im Borbeigehen aus einem Fen⸗ 
fter ein Glasfaften entgegengefchoben ward, mit Draht wie ein Pa- 
pageienkäfig umflochten; darinnen ſaßen drei Iuftige Kinder. Diele 
ſchwebenden Kinderftübchen lockt Sonnenfchein heraus, oder wenns 
was zu fihauen gibt. Am erften Tage noch gingen wir halb im Dun- 
teln in den Dom, unfer Lohnbediente Hopfte unverfchämt einem fehr 
alten Priefter, der Mniend eifrig betete, auf die Schulter, der Alte 
ftand auf, um und zu führen, der Bediente niete auf derfelben Stelle 
und betete weiter. Heute waren wir zum brittenmale im Dom. Wer 
in das Chor eintritt, der wird die Arme finken laffen; einer wunder⸗ 
. baren Größe ift ber Menfch gewürdigt, daß er das Werkzeug fein darf, 
durch welches der Geift Gottes foldhe Werke ſchafft. Schreiben läßt 
fi) darüber nichts; wenn einft Boifjeree'3 Werk vor und liegt, fo will 
ih erzählen. Die Peteröfirche hat die von den Franzoſen geraubte 
und nah Paris gefchleppte Kreuzigung Petri, welche Ruben? felbft 
der Kirche, in der er getauft ward, ſchenkte, jet zurüd erhalten und 
bereit3 wieder anfgeftellt; die franzöfifhe Roheit aber, welche fi 
nicht ſcheute, am Altar der Kirche Hand an diefed Vermächtnis zu 
legen, wird, fürchte ich, bald vergefien fein. Nachdem wir heute 


88 


die Wallraf ſche Sammlung Kölnifcher Alterthümer, aus welcher ich 
jehr vieles gelernt haben würde, wenn ich mehr gewußt hätte, be- 
fihtigt hatten, waren wir zu Mittag mit Profefior Wallraf, Regie⸗ 
rungsrath von Harthaufen, Rittmeifter Bärfch und einem Herrn de 
Groot bei dem Buchhändler Du Mont Schauberg, einem fehr unter- 
richteten und vielfach gebildeten Mann. Schnell gingen einige Stuns 
den in lebhafter Unterhaltung hin; auch Katholicismus und Prote- 
ſtantismus famen zur Sprache. Als ich das Unfchonende des Lohn⸗ 
bebienten gegen den betenden Priefter im Dome und ähnliches Unge- 
ziemende, was fih täglich in katholifhen Kirchen bemerfen läßt, er- 
wähnte, wurde mir die Antwort: Dieſes Priefterd Amt fei, die Re 
liquien zu zeigen; bete er, fo müfle er fi) der Natur der Sache nad 
jederzeit gefallen laffen, aus dem Gebete ind Amt zu treten; der Ka⸗ 
tholiten Gewohnheit fei ed überhaupt, mit Gott häuslich umzugehen, 
fie tönnten ihn daher erforderlichen Falles mit Kamilienvertraulichfeit 
bei Seite fegen; die Proteftanten dagegen nähmen jedesmal einen 
Anlauf, wenn fie Gott eine Bifite machen wollten, müßten alfo mit 
ihm auch wie mit einem vornehmen Fremden Umftände machen. Mir 
fielen hierbei die betrunfenen fatholifchen Bauern ein, die, ebe fie an» 
fangen fich zu prügeln, das Herr-Gott3- Bild vertraulih unter den 
Tiſch fteden, um daß er den Scandal nicht fehe. 

Am 31. Juli fuhr Perthed Mittags aus Köln, um in Gobde3- 
berg zu übernachten. Während des Pferdemechfeld in Bonn, fchrieb 
er, beſuchte ich den alten Stegmann, der fogleich bei meinem Eintritte 
des Todes feiner Tochter, unferer lieben Hersfeld, gedachte, bitterlich 
weinte, ihr Andenfen mit emem Glafe alten Rheinwein feierte und fo 
fih wieder zu freudigem Muthe ſtärkte. O Menfchennatur! Bon _ 
Bonn au empfing und der Weinbau: das helle Grün ded Weinlau- 
bes verbreitet über Die Gegend eine Färbung, die wir im Rorden 
nieht fennen; die ganze Pflanzenwelt trägt einen üppigeren Charafter 
als bei und; durch die Getreidefelder hin ftehen reihenweife Obft« 
bäume, der Kirſchbaum fteigt im Stamme tannenartig in die Höhe, 
der Birnbaum und der Apfelbaum breitet fih aus wie die Linde. 
Hier in Godesberg ift ein Feines Stahlbad. Alles ift verdrießlich 
über den unaufhörlichen Regen; ich will heiter bleiben, ift doc) meine 


\ 


89 


Reife nicht auf Raturgenuß berechnet. Aber der Bauer hat nur zu große 
Urfache, traurig zu fein: alles misräth, Getreide, Wein, Obft; düfter 
fieht er der Zukunft entgegen. Glauben Sie mir, fagte ein verftän- 
diger Mann, der Winter von 1816 auf 1817 gibt Hungerdnoth. 
Am 1. Auguft ſpät Abends langte Perthed in Koblenz an und 
am folgenden Morgen, feinem Hochzeitstage, ſchrieb er in aller Frühe 
an Garoline: Gewiß ſchon bift Du wach und fiehft nach mir aus wie 
ih nah Dir. Wir haben der Freuden in Fülle gehabt in unferer neun« 
zehnjährigen Ehe, aber auch der Leiden, der Schmerzen viele. Dank 
an Gott für die Freuden und auch für die Leiden! Die Hand reiche 
ih Dir, geliebte Caroline, hinüber in die Jahre, die und noch zuge⸗ 
meſſen find; gebe ihnen mit Muth entgegen! Matthias erwacht, 
auch er reicht der Mutter die Hand. Es will nicht Tag werben; der 
fhwarze majeftätifche Feld des Chrenbreitenftein liegt vor mir im 
Oſten und die Sonne noch hinter ihm, doch wirft fie freundliche Strah⸗ 
len in das Thal, dag zwifchen den Höhen fich hinwindet, und auf dem 
braufenden Rhein .dicht unter mir liegt noch grauer Nebel. — Heute 
Morgen ging ich, heißt e8 in einem Briefe vom Abende desfelben Ta- . 
ge8, zu Görres. Er ift ein langer, wohlgebildeter Dann, fräftig und 
derb, leßtered aber etiwa® manieriert. Das Geninle ded Geifted, dad 
Rache der Phantafie tritt aldbald hervor. In der Geftalt hat er 
etwas von Benzenberg, doch Fräftiger,; im Gefpräh, im Vortrage 
ähnelt er Steffend. Ich traf ihn allein; feine Frau war auf der 
Bleiche mit großer Wäfche. Sie kam fpäter, eine herzliche, einfache, gar 
liebe rau von klarem Verſtande; mit ihr famen die Kinder: ein auf 
blühendes fünfzehnjährige® Mädchen, fehr hübfch, ein flinfer, zutrau⸗ 
licher Knabe von zwölf Jahren, den ich gerne gleich mitgenommen 
hätte, und noch ein kleines wildes Mädchen; die ganze Familie gar 
liebendwürdig, das Hausweſen recht bürgerlich ordentlich, einfach und 
überall reinlih. Das alles fpricht für den moralifchen Sinn von 
Görres; nicht bei allen geiftreihen Menfchen iſts jo. Mittag? waren 
wir mit Görred, dem Präfidenten Meujebah und einem früheren 
Lützower bei dem Generalprocurator Eichhorn. Görres und der Prä-. 
fident von Meuſebach geleiteten und dann auf den Ehrenbreitenftein 
und ließen ald fundige Führer und zwifchen den Trümmern der zer⸗ 


90 

iprengten Feſtung unausſprechlich ſchöne Blide hinab in das Thal 
thun. Meuſebach hatte ſeine große Freude an Matthias und jagte 
ihn von einem Felſen zum andern; das ſei nichts weiter, meinte Gör⸗ 
red, als eine Titerarifche Liebhaberei an dem Enkel von Claudius, 
welchen Meuſebach übrigend nicht recht zu würdigen willen würde, bis 
ihm deflen Werke ftatt in Octavbänden in einem mächtigen Folioband 
oder gar auf Pergament gejchrieben vorgelegt würden; das Alter- 
thümliche des Formats, des Drudes und Einbandes enticheide be- 
fanntlih bei den Herren Antiquaren über den Werth eines Buches. 
Den Abend brachten wir in belebter Gefellfehaft bei Görres zu. 

An politifchen Geſprächen konnte ed in Goͤrres' Nähe und. in der 
damaligen Zeit am Rhein nicht fehlen. Kaum fünf Bierteljahre wa- 
ren feit der Befibergreifung des Landes und jenem Aufrufe des Königs 
an deſſen Bewohner verfloſſen; alle war noch im erften Werden und 
Einrihten, und ſchon trat unverkennbar ein tiefer Riß zwiſchen der 
Bevölkerung und der Regierung hervor. Die Regierung wollte dad 
Land nicht als ein eroberted, fondern als ein befreite® behandeln, 
wollte die Deutfchland lange entfremdeten Gemüther ſchonen, ziehen 
und gewinnen, aber im Großen zaghaft, war fie im Kleinen oftmals 
kleinlich durchgreifend und verlekend. Die Bevölkerung dagegen zeigte 
fih nicht abgeneigt, es Preußen ala eine ihm von der neuen Provinz 
erwiefene Gunft anzurechnen, daß ſich diefelbe die Verſchmelzung mit 
dem großen und ruhmvollen Staat gefallen laffe, und betrachtete 
es wie eine Art Undankbarkeit, wenn die Regierung ihre Stellung zur 
Mheinprovinz nicht wie eine von den Bewohnern empfangene Gabe, 
fondern wie ihr gutes, durch eigene Kraft ermorbened Recht behandelte. 
Schon in Köln war Perthes jehr aufmerkſam auf die hervortretenden 
Gegenfäbe geweſen und theilte feine Bemerkungen dem Präfidenten, 
Grafen zu Solms⸗Laubach, mit. Ich fand in ihm, fehrieb er, ei- 
nen eimfachen, biederen, offenen Mann, welcher mancher Klage über 
Hemmungen ded Guten Luft machte. Doch böten fih in Köln, fagte 
er mir, der Regierung viele Mittel dar, um Liebe zu gewinnen; An⸗ 
- ftalten für Willenfhaft und Kunft würden bier gedeihen; die Kölner 
hätten Sinn für die große Gefchichte ihrer Stadt und deren Dent- 
mäler und erfennten e8 mit Danf, wenn die Regierung auf biefel- 


9 


ben aufmerffam würde. Noch fei großer innerer Reichthum in der 
Stadt und viel Gewerbthätigkeit. — In Koblenz aber blickte Perthes 
tiefer in das ſchon leidenfchaftliche Getriebe. Görres, defien rheini- 
cher Mercur bereit? im Anfange ded Jahres unterdrüdt worden mar, 
ſprach von der Denkichrift, die er einige Wochen zuvor dem Könige 
und dem Fürften: Hardenberg eingereicht hatte. Die Regierung habe 
die Berheigungen gebrochen, fagte er, welche fie bei der Befigergreifung 
gegeben. Bon allen höheren Regierungsämtern würden die „Einge- 
borenen”, namentlich die des linken Uferd ausgeſchloſſen; unter den 
neunzehn Mitgliedern und Beifigern der Regierung in Koblenz befänden 
fich nur zwei Katholiken und Rheinländer. In Köln und Aachen fei dad 
Verhältnis ähnlich. Die weitfchweifigen, lähmenden, geifttödtenden 
Formen der Preußen würden dem frifchen Bolfe des Rhein? aufge- 
zwaͤngt; das Gericht durch Gefchworene und bie öffentliche Rechtsver⸗ 
handlung wolle man befeitigen und Stände führe man nicht ein. Uns» 
ter ſolchen Umftänden fei ed fein Wunder, wenn dad Volk den gegen- 
wärtigen Zuftand mit dem unter franzöfifcher Herrfehaft zu: vergleichen 
beginne und eine trübe, dDumpfe Stimmung und allgemeine Unzufrie- 
denheit die Gemüther ergriffen habe. — Der heutige Mittag war jehr 
lebhaft und intereffant, heißt es in Bertbes’ folgendem Briefe aus Ko⸗ 
blenz; Meuſebach und ein eiferner Kreuzritter, welche die Preußenpar⸗ 
tei gegen den Rhein-Görres bildeten, nannten alle aus der Revolution 
bervorgegangenen liberalen Ideen und Inftitute Napoleonismus, und 
ber fei es eigentlich, den die Rheinländer liebten und den fie nicht fah- 
ren laffen wollten. — Lithauer feid Ihr, rief ihnen dagegen Gorres zu, 
Lithauer, denen die Keibeigenfchaft noch an der Ferſe klebt. — Diele 
wechfelfeitige gute Meinung haben Rheinländer und Preußen nicht 
blog dann, wie mir feheint, wenn fie miteinander zu Tifche fipen. 
Echte deutfche Kleinhändler find doch diefe Nheinländer, und zwar in 
demfelben Sinne, in welchem man die Krähminfler Kleinftädter nennt. 
An Sprache, Sitte und Art find fie wunderbarer Weife ungeachtet 
der zwangigjährigen franzöfifchen Herrfchaft durchaus deutfch geblieben, 
aber Deutfhland kennen fie über Frankfurt hinaus nicht; für wich» 
tig halten fie nur ihre Verhältniffe, für fehön nur ihr Land, für libe- 
ral nur ihre Anfichten ; jenfeitd® Frankfurt fängt ihnen die Barbarei 


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an, von welcher fie nur gelegentlich einmal mit mitleidigem Herab⸗ 
fehen Kenntnid nehmen. Die Kölner find mir am Tiebften; in ihnen 
ift neben dem Kleinländifchen etwas Großſtädtiſches geblieben aus der 
alten Zeit, in welcher auch Städte Fürften waren; fie haben und fie 
allein haben eine Gefchichte und deshalb Reſpect vor fi und können 
ihn haben. Koblenz und Düffeldorf ſich durch Liebe anzueignen wird 
den Preußen ſchwer werden; es liegt in dem Volke etwas fo Zerſtreu⸗ 
- te3, über alles leichthin Räſonnierendes, was auch in der Religion 
fih ausſpricht. Nach Münfter und Weftfalen hin: paßt der Katholi- 
cismus; dort ift er wie zu Haufe, wie dort gewachſen; am Rhein ift 
ex wie ein von außen zufällig Gebrachted, mie ein Auf- oder Angefeh- 
te8 und daher fehnörkelhaft. Mitten in dieſes Wefen hinein fangen 
nun unfere proteftantifchen Bibelgefellfehaften an zu arbeiten, um den 
Katholiten Bibeln „beizubringen“, und zwar oft durch Mittel, die wir, 
wenn Katholiken fie aniwendeten, jefuitifche Profelgtenmacherei nennen 
würden. Unendlich viel wird für die Zukunft deö ganzen Landes und 
für feine Stellung zu Preußen von der Perfönlichfeit der Biſchöfe ab- 
hängen, die nun eingefept werden follen. Dan fpricht von Kaspar 
Drofte und von Sailer. Wie vieled an Arbeit, Einfluß und Förde- 
rung werden fie dem Gouvernement abnehmen fönnen, wenn fie wol- 
In! Bon Görres habe ich heute Abend Abfchied genommen. Das 
Mebergewicht feined Geifted wird jeder, der ihn reden hört, bald ge: 
wahr werden, aber auch viel Unfichered in feinen Anfichten. Nach 
feinen Schriften und Briefen hatte ich zwar Geiftesfprünge, gewagte 
Behauptungen, zudende Blitze der Phantafie und des Witzes erwar- 
tet, aber nicht das fich felbit oft widerfprechende , recht eigentlich revo⸗ 
Iutionäre Räfonnieren. Görred weiß gewiß nicht, was er will. In 
ihm ift etwas Poſitives, aber feine Zeit und fein Land und jeine 
Stadt haben ihm eine leidenfchaftliche, nicht würdige Oppofition ein⸗ 
gepflanzt. Bon unferem Vaterlande kennt auch er über Frankfurt 
und Heidelberg hinaus nichts. 

Um in Naffau den Freiherrn von Stein zu fprechen, wählte Per- 
thes den Weg nach Yrankfurt nicht über Bingen und Mainz, fondern 
über Emd und Wiedbaden. Bon Emd aus fommend erblidt man, 
heißt e8 in Perthes ferneren Briefen, auf einem vorfpringenden Berge 


93 


die Ruine ded Stammfchloffed der Naffauer, unter ihr, aber auch noch 
hoch auf einem Felſen die Trümmer der Burg Stein; unten im Thal 
windet ſich die Lahn durch reizende Wiefengründe; eng im Grunde 
liegt das alte Städtchen Naſſau und nahe daran Stein’d jetziges 
Schloß. Ich lieg mich bei ihm melden und er empfing mid) fehr 
freundlih, wie einen alten Belannten von unferem „Zufammentref- 
fen im December 1813 ber, und commandierte zum Sitzen. Sie 
wollen nah Wien, was wolleh Sie dort, was wollen Ste bei mir? 
Sicher fommt der, welcher nicht beftimmt weiß, was er.bei Stein 
will, baldigft wieder zum Zimmer hinaus. Ich legte ihm in weni⸗ 
gen Worten meine Abfichten dar; mit Geift und Herz ging er ſo⸗ 
gleih auf das ganze Berhältnid ein. Dann fragte er mich nad) 
dern Zuftande unferer Städte und ob in den Hamburger Eenat fri- 
fche® neue? Blut gefommen fei; die Perüden, die er fonft von dort 
gefehen babe, ‚hätten ihm kein Vergnügen gemacht. Meine Bemer- 
“ Tungen über die Rheinprovinzen billigte er, aber er hege die befte 
Hoffnung, daß fich diefelben dennoch mit der Zeit in den preußifchen 
Staat verwachſen würden. Allerdingd wären dur Unentſchloſſen⸗ 
heit und Beränderlichfeit große Midgriffe von den preußifchen oberften 
Behörden gemacht, aber auf das Gute hinwirkend fei die Regierung, 
und die oberen Beamten in der Provinz wären ohne Ausnahme ver- 
ftändige, brave, deutfche Männer und der Mehrheit nah aud kraft⸗ 
voll und thätig. So vieles fei noch nicht geordnet und fo viele 
Stellen für eingeborene Rheinländer feien noch vorhanden, daß die 
Klagen über Zurüdfekung wenigſtens fehr voreilig feien. In Koblenz 
würde am allermeiften geflagt und gelärmt, und dod) fei die ganze 
Stadt nur Bagage, die ohne Beamte und Garnifon verhungern 
müßte. Görres fei ein Genie, ein gelehrter und rechtfchaffener Mann, 
aber er habe fich nicht rathen laffen, und der Staatskanzler habe feine 
Möglichkeit gehabt, ihn zu halten. Uebrigens würden in und außer 
Preußen noch Dummbeiten und Schlehtigkeiten genug begangen wer- 
den, aber ed wäre in der Welt nie anderd geweſen und werde auch 
nie ander? fein. Doch auch in Frankfurt werden Sie fehen, fügte er 
binzu, daß fich auch Gutes vorbereitet in Deutfchland, und das ift 
ein Slüd für Europa; denn die bißherigen Erhalter der Freiheit, die 


94 


Engländer, werden es ſchwerlich Tange noch fein. Stein bat mich zu 
Mittag zu bleiben und begleitete mich, als ich e8 ablehnen mußte, 
auf den Hof, um mir einen im Bau begriffenen fteinernen Thurm zu 
zeigen. Als ich ihm fagte: Dad wird wohl ein Zwing - Uri, aber 
nicht gegen das Volk, fondern für das Volk, lachte er herzlich, fehüt- 
telte mir die Hand und ich verließ freudig den Dann, der nach fo gro 
Ben Erfahrungen noch fo friſch für alle Eindrüde it und hohen Muth 
für die Zukunft befigt, obſchon ihm fo vieled, was er erftrebte, ſchei⸗ 
terte und er jo oft vor Fürftenwillen oder vor der Mehrheit im Ra⸗ 
the der Staatömänner zurüdtreten mußte mit dem Guten, was er 
durchfegen wollte. Geftern fuhren wir noch bis Wiesbaden und find 
heute Morgen, den A. Auguft, bier in Frankfurt angelommen. 


Perthes' Anfenthalt in Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart. 
4. Auguſt bis 20. Auguſt 1816. 





In Frankfurt fand Perthed Briefe vor, die ihm die Nachricht 
einer plöglichen und heftigen Erkrankung Carolinens brachten. Schon 
war er zur fehleunigen Rüdkeife entſchloſſen, als Caroline felbit ihm 
mittheilte, daß die Gefahr worüber fei. Wie foll ih Dir danfen, 
fhrieb fie, für Deine Briefe und für den lebendigen Genuß, den ich 
durch fie habe? Wenn Du mich noch nicht ganz hätteft, fo wollte ich 
mich jegt Dir ganz geben und fihenfen. Du glaubft nicht, wie er 
füllt von Dank ih bin. Heute habe ich fhon wieder Nachricht von 
Dir und bin noch fo voll Luft und Freude über Deine Briefe aus 
Köln und Koblenz. Sie find mir lebendige Bilder Deines inneren 
Leben? und Weben? für den Augenblid und mir unaudfprechlich Tieb. 
Bon manden Sachen fann ich wirklih gar nicht glauben, daß Du 
fie nur erzählft und ich fie nicht felbft gefehen habe. Ruben?’ Bild des 
Petrus wankt und weicht Tag und Nacht nicht von mir, und doch iſt 
ed zu gräßlich ſchön, um es immer vor Augen haben zu Fönnen. 
Auch gegen Gott bin ich dankbar, dag er ed Dir jo wohl werben 
läßt, nahdem "Du Jahre hindurch Dich müde gearbeitet haft. 


95 


Beruhigt und erfreut durch diefe Briefe, konnte Perthes fih un« 
geirrt den mannigfadhen Eindrüden Frankfurts hingeben. Bei meiner 
Ankunft fand ich, fchrieb er, nicht Einen meiner perfönlichen Belann- 
ten und mußte mir felbjt meine Wege bahnen. Zuerſt fuchte ih 
Friedrih Schlegel auf, den ich ungeachtet unſeres langjährigen Brief 
wechfeld nie gefehen hatte: ein fetter, runder Mann mit feurigen 
Augen, die dennoch kalt aus ihm heraudfchauen ; derb in der Manier, 
welches man für eine Art Gradheit halten fann, wenn man will. 
Er nahm mich fehr freundlih auf und dennoch fühlte ich mich nicht 
gedrungen, ihm da8 Herz zu erſchließen. Mit Buchholz, Du erin« 
nerft Dich dieſes geiftreichen, Tiebendwürdigen Sonderling® au dem 
Jahre 1813, brachte ich den Abend bei. Schlegel zu. Frau von 
Schlegel machte auf mich einen fehr guten Emdrud. Schwere Lehr⸗ 
jahre mag fie überftanden haben; jest aber hat fie, wie mir vor- 
fommt, mit Geift und Kraft überwunden und erfcheint als eine ein» 
fache und verftändige Hausfrau. Canonicus Helfrih, der befannte 
Drator ded Pabfted auf dem Wiener Congreß, war in der Gefellichaft, 
ein lebhafter, geiftreicher, offefiherziger Dann, der mir Vertrauen 
abgewann. Bald wendete ſich das Gefpräch den gegenwärtig vorlic- 
genden großen Fragen zu und ich lernte an diefem Abend ſchon die fa- 
tholifhe Auffaffung derfelben fennen , die mir in den folgenden Ta- 
gen noch deutlicher wurde, als ich wiederholt mit diefen Männern und 
mit den beiden Brüdern Chriftian und Friedrich Schloſſer, die mich 
mit alter Herzlichfeit aufnahmen, zufammen gewefen war. Schlegel, 
welcher wohl eine bedeutende perfönliche Wirkſamkeit in ben Bundes» 
verhältniifen zu erhalten denkt, äußerte, daß der erfte Act am Bun- 
dedtage ein Act der Gerechtigkeit für die katholiſche Geiftlichfeit des 
linfen Rheinufers fein müffe, welche unter der franzöfifchen Herr⸗ 
[haft in Armuth faft verfhmachtet fei. Helfrich bemerkte hierzu, daß 
auch von Seiten Roms an Hilfe für Die darbenden Geiftlichen gedacht 
werde. In jeder Diöcefe nemlich folle nach dem Willen des Pabftes 
eine Bibliothet namentlich) firchenhiftorifcher Werke und Predigten al⸗ 
ler Gonfeffionen angelegt werden, weil nach Zerflreuung der Klofter- 
bibliothefen die armen Bfarrer ohne ein ſolches Hilfsmittel jede Mög- 
lichkeit kirchlich⸗ wiffenfchaftlicher Ausbildung entbehren würden. Um 


96 


fo dringender fei jebt, meinten die anderen, eine foldhe äußere und 
innere Kräftigung des Clerus nothwendig, als unter den fatholifchen 
Prieſtern felbft Neuerer verfchiedener Art hervorgetreten wären. Einers 
ſeits wolle Sailer und feine Anhänger zugleich. mit von Meyer, Schu⸗ 
bert und anderen verfuchen, für die Gemeinfchaft der Heiligen aller 
Confeffionen eine fihtbare Geftalt herzuftellen; anderſeits arbeite von 
Konftanz aus der Generalvicar Weſſenberg eifrig an der Bereini- 
gung aller deutfchen Bifchöfe unter einem deutfchen Patriarchen. 
Würde in Deutſchland dieſes Patriarchat hergeftellt, fo könne eine 
Losreißung von Rom, alfo ein Ausfcheiden Deutſchlands aud dem 
feften Zufammenhange mit der katholiſchen Kirche und eine Herrſchaft 
der Zandesherren über die Bifchöfe nicht außbleiben. Um die Kirche 
frei von den Fürften zu erhalten, müßten die Bisthümer Rom unmit⸗ 
telbar untergeordnet bleiben und ohne Rüdficht auf die Grenzen der 
Staaten angeordnet werden, jo daß ein Territorium zu drei, - vier 
verichiedenen Bisthümern gehören und ein Bisthum in drei, vier 
verfchiedenen Territorien liegen könne. Nicht Landesbiſchöfe dürften 
die Bifchöfe fein und nicht von einem Staatdgehalt, fondern von eige- 
nem, wenn auch geringem, Vermögen leben. Arm foll die Kirche 
fein, äußerte Helfrich, die Kirche hat ein Recht auf Armuth, und dies 
ſes ihr gutes Recht ift auch von den deutſchen Prälaten nicht geachtet, 
welche, reich geworden, Die freiheit der Kirche gebrochen haben. Co 
weit ift e8 gefommen, daß die öffentlichen Stimmen der proteftanti« 
hen Geiftlichen fich jept richtiger und ficherer über die kirchlichen Ber- 
bältniffe auöfprechen, ala die katholiſchen; er habe, fügte Helfrich 
hinzu, die Acten gefammelt und nach Rom gefendet. Nun wohl be» 
komms! Auf meine. Frage, wie einer folchen unabhängigen Ein- 
heit der katholiſchen Kirche gegenüber die Stellung der Proteftanten 
in Deutſchland zu denken fei, merkte ich wohl, daß die Herftelung 
eined corpus evangelicorum fchon vielfach verhandelt iſt. Die fatho- 
liſchen Politiker feheinen gegen ein ſolches politifche® corpus an fich 
fein Bedenken zu haben; aber fie wollen, daß es wie zur Reichszeit 
unter Sachſens Vorſitz beftehe, und da fie willen, daß das jekt unmög⸗ 
ih ift und daß Preußen an die Spike treten werde, fo find fie aus 
diefem Grunde gegen die Herftellung. Weberhaupt fcheinen fie das 


97 


Recht der Proteftanten ganz ähnlich wie da® der Juden anzufehen; 
auch den letzteren will Schlegel alle Rechte im Staate mit Ausnahme 
der ftändifchen eingeräumt wiſſen. Ihr Proteftanten fteht außerhalb der 
Kirche wie die Juden, fagte er mir, und habt daher gar fein Recht, 
gegen fie zu reden. Wie verfchieden ift doch troß aller äußeren -Ein- 
heit der Katholicismus, den ich in Münftet, in Koblenz und nun in 
Frankfurt gefehen habe! Hier in diefem geiftreichen Sreife tritt die 
Furcht vor dem Einfluffe des Proteſtantismus am meiften hervor. 

Perthes war in großes Erftaunen über die Urtheile gefept, die er 
in diefen Kreifen über Sailer gehört hatte, und wendete ſich, um 
nähere Ausfunft zu erhalten, an den Grafen Friedrich Leopold: Stol- 
berg. Ich weiß wohl, antwortete diefer, daß und warum Gai«- 
fer bei einigen ſtrengen Katholiten im Verdacht ſteht. Zum Theil 
macht der Verdacht ihm Ehre, zum Theil hat er fich ihn felbft durch 
eine gewifle angenommene Manier zugezogen, dieſe aber legt er 
ſchon feit einigen Jahren mehr und mehr ab. Er hat fid um Er- 
haltung lebendiger Religiofität in Baiern wie früher in Schwaben in 
hohem Grade verdient gemacht; angefochten von Zeloten und verfolgt 
von Illuminaten, iſt er, fichtbar von Gott gefegnet, den graben Weg 
fortgegangen. 

Eben fo fehr beinahe wie in den tatholiſchen Kreiſen Frankfurts 
ſah ſich Perthes unter den Männern, die als die eifrigſten Proteſtan⸗ | 
ten angefehen wurden, zum Widerfpruche gereizt. Ich nenne vor al- 
len, fchrieb er, den Senator Johann Friedrich von Meyer, denfelben, 
der unter dem Zeichen imo die Recenfionen über Jacobi, Goethe und 
Claudius in den Heidelberger Jahrbüchern gefchrieben hat, an denen 
wir fo große Freude hatten. Mit achtungsvoller Erwartung trat ih 
ihm entgegen, fühlte mic) aber entfchieden abgeftoßen und war nad) 
wenigen Minuten ſchon in heftigem Streite mit ihm. Cr macht fo- 
gleih den Eindruck eines bedeutenden, geiftvollen Mannes, aber eben 
fo bald reizt er im Gefpräche durch die Anwendung Fleinlicher Fecht⸗ 
fünfte, zu deren Unterftügung er ſtets eine Menge Bibelftellen bei der 
Hand hat. Er ift gewiß ein wirklich frommer Menfc und voll wah- 
rer Demuth gegen Gott, aber was er fpricht, fpricht er im Namen 
Gottes und mit Stolz gegen Menſchen. Rom ift ihm der Antichrift, 


Deribed! Eben 1. 4. Aufl. 7 


98 


Stolberg ein Abgefallener, der nicht weiß, was die Gnade Gotte? 
ift, aber auch jede andere chriftfiche Kirche ift ein nur Aeußerliches 
und nur gut im Vergleiche mit Rom. Innerhalb dieſes Verderbniffes 
alfer Kirchen haben die Erwedten nur danach zu trachten, fich felbit 
und die Ihrigen zu bewahren und untereinander in Verbindung zu blei- 
ben, bis der Herr erjcheint und feine Kirche fichtbar herſtellt. Den 
Bauer Adam Müller, deſſen politifche Prophezeiungen wir vor einie 
gen Monaten lafen, hält Meyer für einen Seher, der ſich aber in 
der Auslegung feiner Gefichte und über die Zeit ihres Eintretend irren 
könne. Meyer jelbft fieht im Geifte, wie er fagt, einer großen Re- 
volution der Menfchheit, noch bevor die jegige Generation vergangen 
ift, entgegen; am Euphrat werde ihr Ausgang entichieden werden. 
Meyer ift aud einer reichen Frankfurter. Familie, ift Jurift und hat 
einen fehr wunderlichen Lebendgang hinter fih. Allgemein wird er 
als durchaus rechtſchaffener Mann, als tüchtiger Gelehrter und fehr 
thätiger und erfahrener Beamter geichäpt. Mit Meyer brachte ich 
einen Mittag bei dem Hauptmitgliede der hiefigen Bibelgefellichaft 
zu; ich mag fein Urtheil äugem; mir find diefe peinlihen Pedanten 
der Frömmigkeit fo wenig angenehm, daß ed mir ſchwer wird, ge⸗ 
recht gegen fie zu fein. — Wie kann man, antwortete Caroline auf 
biefe Mittheilungen, den Bauer Adam Müller für einen Erwählten 
Gottes halten und zugleich auch wieder Irrthümer in deflen Of⸗ 
fenbarungen annehmen, wenn diefelben nicht recht paſſen wollen? 
Warum follte Gott, wenn er wollte, nicht auch jest noch durch Men- 
ſcheimund und Dinge zu unferem Heile fund werben laſſen ‚können? 
Aber fo ein dunkler Miſchmaſch von Offenbarungen und Irrthümern 
läpt fi) unmöglich annehmen. Auch ift die Bibel viel zu groß und 
viel zu heilig, um ein Rechenbuch zu fein für äußere Begebenheiten, 
die bier auf diefer Erde mit und vorgehen. Doch muß man freilich 
Euer Geſpräch felbft mit angehört haben, um richtig urtheilen zu 
fönnen. 

- Nicht minder mannigfaltig als die kirchlichen waren die politi⸗ 
ſchen Eindrücke, welche Perthes während ſeines Aufenthalts in Frank⸗ 
furt empfing. Frankfurt war ſeit dem Herbſte 1815 der Sammelplatz 
vieler und verſchiedenartiger politiſcher Perſonen geweſen. Nach dem 


__ 


Frieden hatte der ganze Zug der aus Parid nad Oeſtreich, Preußen 
und Rußland heimfehrenden Generale, Diplomaten und Prinzen fei- 
nen Weg über Frankfurt genommen. Seit Ausgang ded Jahres 1815 
war die aud den Gefandten der europäilchen Großmächte zur Aus- 
gleichung der noch ftreitigen Gebietäverhältniffe gebildete Territorial- 
commiſſion zufammengetreten und hielt für Deftreich den Freiherrn 
von Weilenberg, für Preußen Wilhelm von Humboldt in Rranffurt 
feſt. Eine Menge Menfchen, Männer und. Frauen, die eigene oder 
fremde Angelegenheiten politiſcher Natur zu betreiben hatten, wählten 
Frankfurt zu ihrem Anfenthalt, wo fie ficher waren, einflußreiche 
Männer aller deutſchen Staaten zu treffen. Der Bundestag zwar, 
für welchen Frankfurt der Sip werden follte, war nicht, wie urfprüng- 
lich beftimmt, am 1. September 1815 zufammengetreten ; ein Schreiben 
Metternich‘ 8 hatte vielmehr im December die Eröffnung desfelben auf 
unbeftimmte Zeit hinausgeſchoben: aber die Bevollmächtigten für den 
Bundestag, welche von den meiften deutfchen Regierungen bereits 
Ende 1815 nah Frankfurt gefendet waren, behielten dort ungeachtet 
jened Schreibens ihren Wohnfig und warteten die weitere Entwidelung 
der Dinge ab. Ald nun Monat auf Monat verlief und dennoch fein 
Zeitpunkt für die Eröffnung ded Bundestages beſtimmt ward, ließen 
fih die Zweifel darüber nicht länger unterdrüden, ob es den beiden 
deutfchen Großmächten auch wirklich Ernft mit der Bundesverfaſfung 
ſei. Der Bundestag fommt noch nicht zu Stande, hatte am 28. Juni 
ein fehr unterrihteter Mann an Perthed nad) Hamburg geſchrieben; die 
großen deutfchen Mächte wolten ihn im Grunde nicht und unfere vater» 
ländifchen Sachen liegen fo.eingerichtet, daß fie ihn nicht wollen können. 
Ob man ihn aus Berlegenheit dennoch anfangen wird, Das it.die Frage; 
aber bald gefchieht es gewiß nicht: niemand weiß feine Rolle Dazu, auch 
Graf Buol hat noch feinen Schatten von Inftruetion. Zudem können 
Die ſchwebenden Territorialfragen noch ein Jahr und länger ſchweben; eẽ 
braucht nur irgend ein Bevollmädhtigter, wie feit Monaten der ruſſiſche 
thut, nähere Weifungen feined Hofes abwarten zu wollen, um alles 
fill zu ftellen. — Auf Deftreich zwar glaubten die meiften rechnen zu 
fünnen — hatte der Wiener Hof doch ſchon kurz nach dem ziveiten Pariſer 

Frieden den Freiherrn von Albini und: nach deſſen Tode den Grafen von 
7* 





100 


Buol- Schauenftein als Bevollmächtigten für den Bundestag nad 
Frankfurt gefendet. Preußen? Haltung dagegen fehien nicht grade auf 
den beften Willen für Durchführung der Bundesacte zu deuten. Zwar 
befand fi Wilhelm von Humboldt ald Mitglied der Zerritorialcom- 
miffion und Herr von Dtterftädt ald Gefchäftdträger bei der Stadt 
Frankfurt an Ort und Stelle; aber für den Bundestag war bis zur 
Mitte ded Sommers 1816 Fein Bepollmächtigter ernannt, und als 
Anfang Juli Herr von Hänlein in diefer Eigenſchaft erſchien, verbreie 
tete fich zugleich da8 Gerücht, daß derfelbe binnen kurzem wieder zu⸗ 
rüdgernfen werden würde. Manche, die Preupen mit Argmohn zu 
betrachten lange ſchon gewohnt waren, glaubten nun, daß dasfelbe 
fi) mit Deftreich über die fünftige Stellung im Bunde nicht verftän- 
gen fönne und befondere Ziele verfolge, ihnen ſchien die Zukunft 
Deutfchlands jetzt ungewiffer ala je. In diefes Fürchten und Meinen 
hinein traf den meiften unerwartet in der zweiten Hälfte des Juli die 
als amtlich angefehene Erklärung der Frankfurter Zeitungen, welche 
die feierliche Eröffnung des Bundestages ald nahe bevorftehend verfün- 
beten. Lebhafte Bewegung bemädhtigte ſich Togleich der zunächft Be- 
theiligten,; von allen Seiten eilten die Bevollmächtigten aus den be- 
nachbarten Bädern und von Fleinen Reifen zurüd. Die erften Tage 
ded Auguſt waren für Frankfurt Tage der größten Spannung, und 
grade in diefen Tagen traf Perthes ein und brachte eine vielfach be= 
wegte Woche in Frankfurt zu. | 
Die einheimifche Bevölkerung machte in der aufgeregten Zeit 
feinen günfligen Eindrud. Frankfurt ift, ſchrieb Perthes, in feiner 
Gefamtheit wie unfer Senat. Sie wollen unthätig den Ausgang der 
Dinge abwarten, um nur ihr Jh ohne Opfer zu retten. Diefe Selbft- 
ſucht führt zur Kleinlichfeit und gräbt fih in unferen Tagen felbft ihr 
Grab. — E83 war indeflen nicht die Franffurter Bürgerfchaft, welche 
damals in Frankfurt die Aufmerffamleit erregte; die ftädtifchen Ver⸗ 
hältniffe traten vielmehr den deutfchen Fragen gegenüber gänzlih in 
den Hintergrund, welche jebt zur Verhandlung gebracht werden foll- 
ten. Aus dem Öfteren Zufammenfein mit den Hannoveranern von 
Martend und von Strahlenheim, den Medlenburgern von Derzen 
"und von Plefien, dem oldenburgifchen Gefandten von Berg, dem fädh- 


101 


ſiſchen Regationdrath Gebhard, dem luxemburgiſchen Bevollmächtig⸗ 
ten Freiherrn von Gagern, welche ihm zum größten Theil ſchon aus 
früherer Zeit näher befannt waren, erhielt Perthed, fo wie aus den 
Mittheilungen feines Freundes Smidt ein lebendiged Bild der zahl. 
lofen fich Durchfreuzgenden Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtun- 
gen jener Tage; aber es wurde ihm auch gewiß, daß die Bevollmäd- 
tigten der kleineren Staaten fih in völliger Unkenntnis über die ges 
genwärtige Lage der Dinge befanden. Selbſt damald noch mußten 
fie nicht, ob der Bundestag in Tagen oder in Monaten eröffnet wer⸗ 
den würde. Wilhelm von Humboldt, den Perthes fchon aus frühe- 
rer Zeit perfönlich fannte, nahm ihn fehr freundlich auf und ging mit 
‚großem Ernte und Eifer auf feine Abfichten für den Buchhandel ein. 
Nach einem Mittage, den Perthed in deilen Familie mit den Lega- 
tionsſecretären Graf Flemming und von Bülow zugebracht hatte, 
fhrieb er: Es ift doch ein gewaltig Ding um einen Mann von wah- 
rer, großer, menfchlicher Bedeutung; nirgends fühlt man fich fo frei, 
nirgends fo angenehm; durch allen Wis, durch alle geiftreichen Ein« 
fälle hindurch, in denen Humboldt nicht weniger als feine Frau fpricht, 
tritt dennod immer wirkliche und wahre menfchliche Größe hervor 
und mein alter, oft verlachter Glaube, daß diefer Mann hinter der 
eifigen Kälte und den beifenden Sarkasmen ein tiefe, warmed® Ge 
müth, einen ernſten guten Willen und ein lebendiged Gefühl für 

Deutfchland trägt, ift mir befeftigt worden. Weber Preußens fünf 
tige Stellung im Bunde äußerte er ſich nicht und es ift mir nicht ganz 
unwahrfcheinlich, daß auch ihm die nächften Schritte, die Preußen 
thun wird, unbelannt find. Ütterftedt fpricht zwar viel, weiß aber 
wenig. Die meiften find der, Meinung, daß nur dad Ausbleiben des 
preugifchen Gejandten die Eröffnung ded Bundestages fo lange ver- 
zögert habe. Nun ift zwar Herr von Hänlein eingetroffen, foll aber, 
wie es heißt, durch Graf Golg oder Humboldt noch vor der Eröff- 
nung erfeßt werden. So wenig die anmwelenden Preußen über die An⸗ 
fihten und Abſichten ihrer Regierung reden, fo viel und fo abfichtlich, 
wie e3 fcheint, fprechen die Deftreicher. Die öftreichifche Gefandtfchaft 
tritt im Aeußeren großartig und würdevoll auf; an der Spige Graf 
Buol» Schauenftein; unter ihm vier Legationsräthe von Rang und 


102 


mehrere Zugeordnete; außerdem befindet ſich noch Herr von Weflen- 
berg ald Mitglied der Territorialcommiffion bier. Merkwürdig waren 
mir ſchon Schlegel’d Aeuperungen über Görres, deſſen Zerfall mit 
der preußifchen Regierung er fehr gut kennt; er rühmte ihn laut in 
größerer Geſellſchaft wegen feiner Anfichten über Kaifer und Reich: 
unter alten Stimmführern ded Tages fei er der einzige, bei welchem 
Wahrheit und Freiheit zu finden ſei. Graf Buol⸗Schauenſtein, zu 
welchem Smidt mich führte, ging fogleih auf die deutichen Berhält- 
niffe ein. Lange fei ed in Wien ſchmerzlich empfunden, fagte er, daß 
man von der deutfchen Nation übel angefehen fei, und man fönne 
ſich nicht fogleih in die jebt günftig veränderte Stimmung finden. 
Oeſtreichs Abficht gehe auf ein geſamtes Deutfchland; aber in dem- 
felben follte jeder Stamm, jeder Staat und jede Provinz feine Stimme 
laut werden laffen fünnen; deshalb habe Oeſtreich die öftreichifchen 
Stände wieder belebt, fie in Tirol wieder hergeftellt und. auch das 
feine Salzburg mit feiner andern Provinz vereinigt. Aus dieſer Viel- 
heit in Deftreich und in den anderen deutfhen Staaten müffe aber die 
Einheit für die Deutfchen gebildet werden; deshalb dürften die Trup- 
pen der deutfchen Staaten nicht, wie Preußen wolle, den Truppen 
Deftreih® und Preußen? angefchlofien, fondern müßten, mit diefen 
vereint, zu einem felbftändigen "deutfchen Heere aufgeftellt werden. 
Der Bundestag werde, fobald er zufammengetreten fei, die Einheit 
nad allen Seiten hin ſchon ausmitteln, und wenn Preußen, fagte 
Graf Buol, jenen Geſandten nicht bald ernennt, fo eröffne ich den 
Bundedtag auch ohne Preußen. Es fei ein großer Srrthum, zu glau- _ 
ben, dag Oeſtreichs eigentliche Macht und eigentliched Interefle außer- 
halb Deutfchland liege. Oeſtreich habe, zehn Millionen Seelen , alfo 
mehr ald Preußen, im Bunde; die Böhmen hätten ſich originell 
und gediegen zu einem deutichen Volksſtamm audgebildet; zwei Mil- 
lionen Deutſche und eine durchaus deutfche Bildung befäße Ungarn 
und man \verde doch nicht eiferfüchtig fein wollen auf Norditalien, 
deilen Befig zur Sicherung Deutſchlands durchaus nothwendig gewor⸗ 
den fei. Wie hoch Deftreich das Deutfche achte, habe es wiederholt 
gezeigt. Das Interefle der Monarchie fordere die Verlegung der Refi« 
denz nad) Ofen; ftatt defien aber habe man das deutfche Wien noch 


103 


durch Die Gründung der Nationalbant aufs neue gefräftigt; mit pro- 
‚teftantifchen Prinzeffinnen hätten ſich die Erzherzoge vermählt, ohne 
fie zur fatholifchen Kirche hinüber zu ziehen. — So viel ift gewiß, 
bemerfte Perthes, daß fich die Deflreiher mit Abficht in dieſer Weife 
ausfprechen und daß fie in Frankfurt ihren Worten eine andere Yär- 
bung geben, al? in Wien. Aber ſchon das ift gut, dag man wünfcht, 
eine folhe Meinung von fi in Deutfchland zu erweden, und die Per⸗ 

fönlihkeit jo manches Bundestagdgefandten macht e8 gewiß, daß ‘Dinge 
zur Sprache fommen werden, die, einmal ausgeſprochen, nicht wies 
der untergehen können und Deutichland immer neuen Odem einhau- 
chen müflen. 

Al Perthes eine Woche in Frankfurt zugebracht hatte, entſchloß 
er: fih zur Abreife. Ich bin, fhrieb er, de3 Sprechen? und Hörens, 
des vielen Eſſens und Trinfend und des Ueberfchuffed an Geift und 
Wis herzlih müde, und obſchon ich noch manchen bedeutenden Mann 
gerne fehen möchte, will ich fort. Nach Wien habe ich Briefe aller 
Art hier erhalten. Schlegel, den ich heute frühftüdend bei Smidt 
traf, fragte mi), nachdem er Smidt fämtliche aus Bremen. erhaltene 
neue Heringe aufgefpeift hatte, aufs Gewiſſen, ob ich Maurer oder 
Mitglied einer anderen geheimen Gefellihaft fei, und empfahl mic, 
al® ich Die Frage verneinen konnte, dem Director der Polizei in Wien, 
Hofrath von Ohms. Nun geht es zu den Vierfürften im Süden, nad 
Darmftadt, Baden, Würtemberg und Baiern. 

ALS Perthed Montag den 12. Auguft Mittags Frankfurt ver- 
laſſen hatte, fchaute er am Sadfenhäufer Thurm noch einmal zu- 
rück auf die weite, von dem filberglänzenden Fluffe durchzogene Ebene, 
die fich mit ihren zahllofen Orten und Städten in üppiger Fruchtbar⸗ 
feit vor dem Taunus binftredt. Bon hier aus wird man erft ge⸗ 
wahr, fhrieb er, wie pracdhtooll die Lage Frankfurts if. Wunder- 
lich durchkreuzten fih bei dem Blid auf die ausgebreitet daliegende 
Stadt Erinnerungen an ihre alte große Hiftorie und an dad Durch 
einandes der Beitrebungen, die ſich jebt für Deutichland und Europa 
wirbeld dort umdrehen und reiben. Unmittelbar hinter dem Sachfen- 
häufer Thurm beginnt das Darmftädter Gebiet, welches rechtes Flick⸗ 
und Stückwerk ift: bier die Hauptftadt mit dem alten landgräflichen 


104 


Beſitzthum, dort das abgefonderte Gießen, und jenſeits des Rheines 
das kurfürſtliche Mainz mit Theilen des erzbiſchöflichen Territoriums. 
Die kleine Reſidenz ſcheint auf gewaltige Größe angelegt zu ſein: die 
Thore ſtehen eine halbe Stunde vor der Stadt. Da es indeſſen mit 
der Größe der Stadt noch nicht recht gelingen zu wollen ſcheint, ſo 
wird vor der Hand wenigſtens viel regiert und exerciert und man⸗ 
ches für die Wiſſenſchaft und Literatur gethan. Ich ging zu dem Buch⸗ 
händler Leske und fragte, ob er nicht wiſſe, wo ehedem Claudius 
gewohnt habe. Hier in diefem Zimmer, antivortete er. Mein Haus 
war die Druderei für die Zeitung, die damals zum Beften der Inva- 
liden unter Claudius' Leitung begonnen ward. Spät Abends ſah ich 
noch einmal dad Haus; der Mond fchien heil auf die Claudiuswoh- 
nung und ich gedachte der Fleinen Caroline, bie hier vor vielen Jah⸗ 
ren fpielte. Auf der Bergſtraße zwifchen Darmftadt und Heidelberg 
begegneten und lange Züge Auswanderer, die aus diefer paradiefi- 
fshen Gegend in Die öden Steppen Rußlands von einer ihnen eigen- 
thümlichen Unruhe getrieben werden. Wunderlicher Weile wandern 
Dagegen große Scharen aus dem Breidgau in der Erntezeit zur Arbeit 
hierher; eine Menge folcher Schnitter und Schnitterinnen trafen wir 
am Wege und hörten Hebel's Sprache fprechen, die Mädchen, leicht 
geſchürzt an Röden und an Sitten und fehr hübſch, lebten und ſchä⸗ 
ferten höchſt natürlih. mit den Burſchen wie im alten Teftamente. 
Heidelberger Studenten, wenn fie in dieſes Kanaan kommen, mögen 
einen harten Stand haben. 

In Heidelberg brachte Perthes drei an verfchiedenartigen Ein- 
drüden wiederum fehr reiche Tage zu. Sein erfter Gang war zu dem 
ihm von Kiel her befreundeten Profeflor Thibaut. Unter feiner Lei« 
tung fah er dad Echloß und den Königaftuhl und erfreute fein Auge 
an den reizenden formen der Berge und ihrem üppigen Grün. Die 
Trauerweide beſonders in ihrer unbefchreiblihen Wehmuth und Zärte 
lichkeit feßte ihn durch die in Norddeutfchland unbekannte Mächtigleit 
des Wuchfes in Erftaunen und das allbefannte Faß ergößte ihn ale 
eine wackere echtdeutfche Narrheit. Mit Daub und Creuzer, die er 
früher perfönlich nicht gefannt hatte, brachte er einen belebten Abend 
bei dem Buchhändler Mohr zu und begegnete zu feiner großen Freude 


105 


dem Prediger Zimmer, der vor Sahren in Perthes' Handlung gear- 
beitet, dann in Heidelberg ein eigene? Gefchäft gegründet und mitten 
im Gefchäftsleben unter den ungünftigften Umftänden die alten Spra- 
hen gelernt, Theologie fludiert und das Eramen beftanden hatte. 
Nun bekleidete er dad Pfarramt in Wormd. Bei meinem lieben alten 
Zimmer fönnte man flol; werden auf die Menſchenkraft, äußerte Per⸗ 
thes; man fieht, was fie fann, wenn fie nur will. 

Damals hielten ſich noch die Brüder Boifferee und Bertram in 
Heidelberg auf. Sie hatten in der Zeit, in welcher Deutfchland unter 
Rapoleonifcher Herrſchaft für immer verloren fehien, die Hoffnung auf 
eine befiere Zukunft bewahrt und alle ihre Kräfte daran gefept, um 
der Nation die Werke ihrer großen Meifter vergangener Jahrhunderte 
zu bewahren, als fie nach Plünderung der Kirchen und Klöfter zer- 
freut und verfchleudert zu werden drohten. Dürer ımd Holbein, 
Hemmling und van Eyd follten zugleich mit unferer- Literatur den 
nationalen Sinn der Deutfchen erhalten, kräftigen und bilden helfen. 
Nun nad errungener Freiheit harrte die von den Brüdern gleihfam 
ad depositum genommene Sammlung einer föniglihen Hand, dur 
welche fie in entjprechender Aufftellung vielen zugänglih gemacht 
werde. Perthes war’ gleich am erften Tage feines Aufenthaltes zu 
den beiden Brüdern gegangen. Sulpice Boifjeree kenne ich, ſchrieb 
er an feinen funftverfländigen Freund Spedter, ſchon feit feinen Jüng⸗ 
lingsjahren, die er in Hamburg bei Reimarus zubrachte; feit jener 
Zeit Habe ich ihn öfter gefehen und jedesmal ift er mir lieber gewor- 
den; beide Brüder find nicht nur geiftvolle und kenntnisreiche, ſon⸗ 
dern auch edle und liebenswürdige Männer. Die Sammlung ift jest 
aus Mangel an einem geeigneten Raum faft unzugänglich; ein Bild 
lehnt über das andere und ich kann für die Freundlichkeit nicht danf- 
bar genug fein, mit welcher die Eigenthümer ſich der Anftrengung, fie 
mir zu zeigen, unterzogen haben. Euch Kennern gegenüber behaupte 
ih hartnädig mein Recht ald Beſchauer; Meifter, Schule, Zeichnung, 
Pinfelftrih, Colorit legt fih Euch gar oft ald dicker Nebel über den 
Geift und die Schönheit des Bildes, und der wirklich dDichterifche Ma⸗ 
ler wird, mit Deiner Erlaubnis fei e8 gefagt, lieber für und malen 
als für Euch. Jene flach und ohne Perfpective auf Goldgrund ger 


106 


malten Bilder menigften® werden fi vor Eurem „kaum gemalt” fcheu 
zurückziehen, aber bingegeben aus dem Herzen, wie fie find, werden 
fie in ihrer Kindlichkeit, Bildlichfeit und Andacht und Laien gerne 
zur Freude werden wollen. “Damit foll übrigend nicht gefagt fein, 
daß wir die wunderbare Größe nicht fpürten, welche in den Werfen 
der großen Meifter lebt. Mir wird Hemmling's heiliger Ehriftoph nie 
wieder aus dem Sinne fommen und ich kann mir fehr wohl eine Vorſtel⸗ 
lung von der Art des Eindrud® machen, der Goethe bei dem Anblice 
des Bildes zu dem Ausrufe drängte: Wäre ich nicht ein fo alter Heide, 
das Bild würde mich befehren. Boiſſerée's gefchichtliche Belehrungen 
und treffende allgemeine Bemerkungen waren fehr unterrichtend und 
find mir oft auch tief ind Herz gegangen. 
ie mit Thibaut und Boifferee war PBerthed mit Voß ſchon aus 
früheren Verhältniffen näher und perfönlich befannt. Am Tage nad 
feiner Ankunft in Heidelberg ging er zu ihm, gefpannt auf die Hal- 
‚tung des Manne3 in den neuen Umgebungen und unter den neuen 
Verhaͤltniſſen. Voß fieht gefund aus, heißt es in feinen Briefen, das 
Morfche in ihm ift in das Zähe übergegangen. ‚Erneftine aber ift 
müde geworden; es feheint mir nicht, al® ob fie noch viele Fahre zu 
leben habe. Beide nahmen mich freundfih und freundſchaftlich auf 
und laſſen Dich herzlich grüßen. Der Alte führte mich in feinen Gar- 
ten und war bei den Blumen hoͤchſt Tiebenswürdig. Ich mußte zu 
Mittag bleiben. Anfangs ſprach er mit patriarchalifcher Luifenhaftig- 
feit von Gottes ſchöner Natur, von Blumen und Gewächlen, von al- 
ten Zeiten und einfachen Menfchen; plöglich aber fuhr, ala Fouqué's 
Name genannt ward., ein Geift des Haſſes, der mich erſchreckte, in 
ben alten Mann: auch diefen Fouqué, rief er aus, hat die Buben- 
totte von Pfaffen und Adelsknechten verführt und wird ihn fatholifeh 
machen, wie fie Stolberg katholiſch gemacht hat. Dann ſchalt er hef⸗ 
tig auf die Kartoffel- und Grügnatur der Medlenburger und Holftei- 
ner, dann fprang er über auf Claudius und fagte, daß er vorhabe, 
von dem Wandsbecker Boten eine Ausgabe zu veranftalten, in wel- 
her er alle Pfaffenmärcden tilgen wolle, die der finftere Geiſt des 
Aberglaubens dem Wandsbecker eingeraunt habe. ch ſchwieg lange; 
auf die legte Aeußerung aber entgegnete ich, ich Dagegen fei im Be- 


107 


griffe, eine neue Ausgabe von Stolberg’3 Religiondgefchichte in vie 
len taufend Eremplaren zu machen, und freute mich. darüber nicht als 
lein als Verleger, fondern auch weil ich glaubte, daß Stolberg’8Werf 
einen großen und guten Einfluß im ganzen Fatholifhen Deutichland 
üben werde. Des Alten Antwort war, daß er von Stolberg nicht? 
feit deffen Abfall gelefen habe. Ich fuchte abzubrechen; denn über dad 
Katholifche und die fatholifche Kirche mag ich nur mit dem in ein Ge⸗ 
fpräch mich einlaffen, der fih in Demuth dem Glauben an Chriſtus 
zugerwendet hat. Mit ihm fann man von feftem Standpunkte aus 
die auf das innere des Chriſtenthums gebauten Formen deöfelben in 
ihrer Berfchiedenheit betrachten, aber mit dem, der in einem felbft- 
verfertigten Religiondfyftem fid herumdreht, gibt es nur ein müßiges 
oder heftiges Hin= und Herreden. Nach Tifche ging Voß mit mir 
alfein in den Garten; fehnell nacheinander befpradh er eine Reihe von 
Männern und nannte fie einen nach dem andern Schleicher, heim- 
tücifche Betrüger, Schurken. Ich ftand auf und floh. Dem verdien- 
ten und dem, alten Mann wollte ich nicht nach Gebühr antworten und 
ſchweigen durfte ich nicht. Glaube mir, in dieſem Haufe waltet troß 
aller Familienhaftigfeit und Blumenfreude ein Haß, der mich tief 
ergriffen und erfchüttert hat. 

Richt allein aus Voß’ Haufe, fondern auch aus andern mit die 
fem nahe verbundenen Kreifen nahm Perthe3 den Eindrud einer dort 
waltenden feindfeligen Bitterfeit mit fort, - der ihn, da fie vor allem 
auf dem politifchen Gebiete hervortrat, beftürzt und beforgt für die 
Zukunft machte. Mir fällt e8 Bier, fchrieb er, wie Schuppen von 
den Augen; das hatte ich nicht erwartet und gewußt. Grade bier, 
wo der pofitifche Haß zu einer Zeit, in welcher er vollkommen berech⸗ 
tigt gewefen wäre, nur von wenigen gekannt ward, bricht er jetzt 
nad Befreiung von Napoleon's Herrfchaft in ungezähmter Wuth ge- 
gen die eigene Regierung hervor. Run erft werden mir manche 
bejorgte Aeußerungen, die ich in Frankfurt hörte und überhörte, ver- 
ftändlih. Die badifche Regierung hat gewiß den beften Willen für 
das Wohl des Landes und will auch, obfchon es ihr fehr ſchwer wer- 
den foll, der Luft entfagen, freiwillig und willfürlih dad Gute, was 
fie thut, zu thun. Es liegt, wie Thibaut verfichert, ein völlig aud- 


108 


gearbeiteter Verfaſſungsentwurf bei der Regierung, den fie nur noch 
zurüdhält, um die Verhandlungen am Bundedtage und die nädhiten 
Schritte Würtembergs abzuwarten. Aber um noch ganz andere Dinge 
handelt es fich hier, wie mir fcheint. Thibaut, Der nad) feiner Ueber: 
zeugung feft an allem Monarchifchen, an dem Adel und dem Unter- 
ſchied der Stände überhaupt hält, wird fo fehr angefeindet und ift fo 
beunruhigt über den Zuftand des Landes, daß er davon ſprach, ſich 
zurüdzuziehen und nur der Mufif zu leben. — Auf der entgegenge- 
festen Seite ftand damald Martin und übte als Meifter vom Stuhl 
einen großen Einfluß aud. Durch die Maurerei waren Männer der 
_ verfchiedenften Lebensftellungen und Bildungsftufen nun auch zum po- 
litiſchen Widerftreben miteinander in eine früher unbelannte Berbin- 
dung gebracht. Gemeinfhaftlid mit Martin hatten Heidelberger 
Handwerker und Gewerbtreibende, hatte ein Apotheker, ein Strumpf- 
wirfer und ein Handſchuhmacher die Minifter um SHerftellung von 
Ständen mit den ausgedehnteften Rechten gedrängt. Martin's Stel« 
lung war hierdurch in Baden fo unhaltbar geworden, daß er einem 
Rufe nad) Jena zu folgen ſich entf&hloffen hatte. Martin .iftein Mann, 
ſchrieb Perthed, der ed weiß, worauf e8 bei dem Handeln im Leben 
ankommt, und fich ſcharf und beftimmt ausdrückt; wäre er nicht doch 
zu fehr Gelehrter, fo könnte ex gefährlich werden. Er hat mir wohl 
gefallen, aber andere Männer diefer Partei find mir widerlich gewor- 
den. Schwarz fehend und felbftfüchtig haffen fie alle Fürften und Mi⸗ 
nifter und. da® Bolf, von dem fie viel fprechen, fennen fie nicht. 
Geiftvoll und ſcharfſinnig können fie wohl reden, aber nur in allge- 
meinen, unbeflimmten Ausdrüden; die meiften von ihnen find Ge- 
genſtuͤcke zu den Räfonneurs, wie fie der Hennings'ſche Geniud der 
. Zeit vor zehn und zwanzig Jahren lieferte, wenn man fie fragt, was 
fie eigentlih wollen, und fi dur vornehme und witzige Redens⸗ 
arten nicht abmweifen läßt, fo fommt man auf das Hohle und Schlechte. 
Der Buchhändler Winter ift ein -Fluger Mann, Haudfreund bei Voß 
und Paulus und in fehr viele VBerhältniffe eingeweiht. Aus Heil- 
bronn gebürtig, fteht er mit Würternberg in engem Zuſammenhange 
und vermittelt den Zufammenhang zwifchen der dortigen und hiefigen 
Oppofition. Paulus hatte ich der Briefe wegen, die ich ihm früher 


109 


- fehreiben mußte, nicht befuchen wollen, ging aber, da er e8 wünfchte, 
zu ihm. ch fand ein altes Männlein von trodnem und verzagtem 
Ausfehen, im Gefpräche aber von vielem Feuer in den großen ſchwar⸗ 
zen Augen. Was ich ihm aus Frankfurt erzählte, gefiel ihm nicht; 
er möchte alle recht fehlecht haben, um recht räfonnieren zu fünnen. 
Sch peinigte ihn mit ragen, um feine innerfte Weisheit zu Tage zu 
bringen. In zwei große Theile müffe Deutfchland zerfallen, fagte er, 
in Süddeutfchland und in Norddeutfehland; die Meinen Staaten feien 
nur Spielbälle Fleiner Tyrannen und würden nie etwas taugen, und 
Phantafterei fei ed, von einem ganzen Deutfhland zu fprechen. Auf 
meine Frage, wie folch eine Theilung gemacht werden folle, wo die 
Grenze zwifhen Süd und Nord fei, antwortete er ohne Verlegenheit 
und zerfchnitt alles mit dem großen Vorlegemefler; als ich ihm aber 
fagte, daß man, wenn man folch eine Anficht habe, fie auch frei aud- 
fprechen und nicht in öffentlichen Blättern mit halben Redensarten zu 
deutſcher Volfdthümlichkeit anregen und das Volt zu dem Glauben 
an eine ganze Nationalität bringen dürfe, ward er fehr verdrießlich. 
Mer Fürften und Minifter fo ſchwarz macht, wie. diefe Männer bier, 
der muß doch auch fagen, was er will, und wer dad nicht kann, der 
ſoll ſich befcheiden und befcheiden fein. Auch im Politifchen fann nur 
Liebe und Vertrauen helfen; auch hier ift der Haß als Stimmung der 
Seele vom Satan. In einer Stunde fahren wir nach Stuttgart wei⸗ 
ter. Ich hätte wohl noch einige Tage bleiben follen, denn ſchwerlich 
ift an einem anderen Orte diefen Menfchen fo in ihre Karten zu fehen; 
mir aber ift mitten in diefer Schönheit und reichen Fülle der Natur 
beflommen und berbe zu Muthe. Nur wenige erfennen im Weltleben 
und noch wenigere im Wortleben das Geheimnis der Liebe und ihrer 
einigenden und rettenden Kraft, obſchon Gotted unerfchöpfliche Güte 
und immer wieder auf fie zurüdweift. Verſchlemmt wird-der Sim, 
verftodt wird der Geift; aus der Sinnlichkeit retten ſich manche, aus 
dem Hochmuthe wenige. In diefem Paradiefe hier hat mid) Betrüb- 
nid und Wehmuth ergriffen. Heute Nacht werden wir in beilbronn 
bleiben. 

Von Stuttgart aus, wo Perthes ſich vom 18. bis zum 20. Au⸗ 
guft aufhielt, gab er weiteren Bericht von feiner Neife. In Heilbronn 


110 


brachte ich, fehrieb er, die Nacht in wilden Kieberphantafien zu. Durch 
koͤrperliche Anftrengungen, durch Reden und Hören war Leib und 
Geift fehr angefpannt und die Erfahrungen in Heidelberg hatten mich 
tief ergriffen; aber der herrliche, frifche Morgen des folgenden Tages 
hat die Gefpenfter der Nacht verjagt und frifh an Geift fuhren wir 
durch das Nedarthal, in welchem dad Land fo angebaut ift, daß der 
Handwerksburſche fein Pläplein findet, auf den er ungeftraft fich la« 
gern kann. Parcellieren und Auswandern hörte ich innmer vor meinen 
Ohren. In Stuttgart langten wir Mittags an. Cotta fuhr uns in . 
der fehönen Umgebung umher und den Abend brachte ich bei diefem 
merfwürdigen Manne zu, in deſſen Charakter die ſeltſamſten Wider- 
fprüche fi vereinigen. Geftern, Sonntag Morgen, ging ih zum 
Mebdicinalrath Jäger — verreift, — dann zum ruffifchen Gejandten 
von Struve — in der Kirche, — dann zu von Wangenheim — nicht 
zu Haufe, — dann zur Wachtparade — die war zu Haufe. Mittags 
‚ war ich bei Gotta mit einigen wenigen aber interejlanten Männern, 
unter ihnen Wangenheim, den ich ſchon vor vielen Jahren als wilden 
ungen in Gotha gefannt. Die vornehme, befternte Geftalt fteht in 
feltfamem Widerfpruche mit der rüdfichtlofen Art feines Auftretens. 
Geiftreih durch und durch, wird er im Neden von liegender Phan- 
tafie ergriffen und führt den Hörer mit fi fort über Berg und Thal 
binauf in die Wolfen oder hinab in die dunfelften Tiefen der ‘Men- 
fjennatur. Weber die öffentlichen Berhältniffe hätte ih an Wangen- 
heim's Stelle nicht alles fo öffentlich ausgeſprochen, wie er ed that. 
Geftern Nachmittag und heute habe ich noch eine Reihe anderer Män- 
ner aufgefuht. Das ift ein wunderlicher und gefährlicher Zuſtand, in 
welchem ſich grade jetzt das Land. befindet. Ein Herrfchergeichlecht hat 
Würtemberg, heidnifch groß, 658 und gewaltig, recht ein Gefchlecht, 
wie die Menfchen e8 zu alten Zeiten begehrt haben, um zufrieden zu 
fein, wenn fie ſich ed auch nicht geftehen. Bon Liebe zu dem Könige 
fann nicht Die Rede fein, aber mit fihtbarem Stolze fagte mir ein 
Stuttgarter: Unfere Fürften find immer böfe Kerls gemwefen und hät- 
ten wohl verdient, auf größeren Thronen zu fipen. Die Würtember- 
ger freuen fih an der Größe der Schlöffer, an den herrlichen Gärten, 
an dem fchönen Schaufpielhaufe, an den mufterhaften Landſtraßen; 


111 


fie find. ftolz darauf, daß ihr König Hunde und Pferde hat, wie fein 
anderer Fürft, daß er der befte Schäße ift weit und breit und daß er 
alles durchführt, was er anfängt, mag er auch noch fo vielen Wi« 
derftand bei den Untertbanen finden. Das wildefte Thier in der gro- 
Ben königlichen Menagerie weiß jeder Stuttgarter anzugeben ohne 
Hehl. Sprechfreiheit ift fo ungemeſſen, daß ich nicht die Hälfte von 
dem fchreiben kann, was ich dicht neben dem Schloffe mir habe laut 
erzählen laſſen. Ordnung berrfcht überall und die Minifter follen Eh⸗ 
renmänner fein und find fo geitellt, daß fie frei bleiben vom Volks⸗ 
haß, deſſen Laft der König bei harten und tyrannifchen Maßregeln mit 
Luft allein auf fih nimmt. Diefem bedeutenden Fürſten ftehen nun 
mit eben. fo hartnädiger Kraft Die Stände gegenüber, : welche, ohne 
rechts und links zu fehen, an dem Landeswort halten wie an Gottes⸗ 
wort, und.zwifchen beiden treibt dag Weltweſen mit feiner Selbit- 
ſucht, feinen verkehrten Meinungen und eigennüßigen Abfichten ein 
arged Spiel. 

Der König hatte bekanntlich ſchon 1805 die ftändifche Berfaffung 
ganz aufgehoben, die neu erworbenen Länder mit Altwürternberg zu 
einem Staat vereinigt und unumfchräntt über denfelben regiert. Im 
Jahre 1815 aber gab er, um fpäter nicht den Aerger zu haben, 
Stände nad einem Beſchluſſe ded Bundestages einrichten zu müſſen, 
plöglich eine Berfaffung für ganz Würtemberg. Die demgemäß beru- 
fene ftändifche Repräfentation verwarf diefelbe aber einftimmig und 
behauptete, dap die alte ftändifche Berfaffung nit nur für. Altwür⸗ 
temberg, fondern auch für die neu hinzugelommenen Landestheile zu 
Recht befiehe. Der König vertagte die hartnädige ftändifche Reprä— 
fentation und legte ihr, als er fie einige Monate fpäter wieder zufam- 
menberufen hatte, vierzehn Berfafjungsartifel vor, die für ganz Wür⸗ 
temberg gelten follten; wenn die ftändifche Repräfentatton über die- 
felben nicht verhamdeln wollte, fo werde der König für Altwürtem- 
berg die alten Stände wieder beritellen, den neuerworbenen Ländern 
aber die vierzehn Artikel als Verfaſſung geben. , Die ftändifche Reprä- 
fentation, welche eine folche Zertheilung Würtembergs nicht wollte, 
erflärte, über die vierzehn Artikel verhandeln zu wollen. Eine aus 
königlichen Beamten und ftändilchen. Abgeordneten gebildete Com⸗ 


112 


miffion follte auf Grund der vierzehn Artikel die Verfaffung entwer- 
fen, aber die Beamten und die Abgeordneten fonnten ſich nicht ver- 
ftändigen, geriethen feit Oftern 1816 in heftigen Streit miteinander 
und jede der beiden Parteien arbeitete ohne Rückſicht auf die andere 
an einem Berfaffungsentwurf. - 

In dem gegenwärtigen heftigen Streit ſchrieb Perthes, fpielt 
Wangenheim die Hauptrolle auf der königlichen, Cotta auf der ftän- 
difchen Seite; beide find gute Freunde, beide benugen einander, jeder 
den andern zu feinen Zwecken; welcher den andern am meiften, ift 
fehmer zu entſcheiden. Wangenheim ift unbefcholtenen Rufes, geift- 
reich, vielwilfend und fehr thätig, aber nicht Herr feiner Phantafie; 
für ſich ſucht er nichts als Ehre bei deutfcher Nation, Würtembergs 
Wohl möchte ihm nur in zweiter Linie ftehen. Er hat eine Berfaf« 
fung audgearbeitet, die nad) feiner Anfiht alled enthält, was ein 
freier Menſch und ein freied Volk verlangen fann. Sie foll ein Vor⸗ 
bild für alle deutfche Staaten werden und ihrem Urheber Namen und 
Ehre bei dem deutfchen Bolfe für alle Zeiten geben. Wangenheim 
bat durch Geift und Rafchheit von dem Könige das Berfprechen er- 
langt, diefe Verfaffung anzunehmen, fall? die Stände gewilfe Zuges 
ftändnifje machen, namentlid) auf das nach der alten Verfaſſung ih- 
nen zuftehende Recht bei der Verwaltung der Landescaſſe Verzicht lei⸗ 
ften und diefelbe einem königlichen Beamten unterordnen wollten. 
Cotta hatte nun an Wangenheim, wie e8 fcheint, "die Zufage gege- 
ben, diefe Zugefländniffe von Seiten der Stände auswirken zu wol- 
len und zu fönnen. Da er aber nun nicht vermochte, feine Zufage 
zu erfüllen, fo ift Wangenheim in Ungnade bei dem Könige und 
Gotta bei den Ständen gefallen. Lebterer wird im Publicum grade- 
zu ded Verraths und der niedrigften Beweggründe befchuldigt. Bei 
den Vertrauen. welches Cotta feit Jahren mir erwieſen hat, hielt ich 
es für meine Pfliht, ihn auf die böfen Gerüchte aufmerkſam zu ma⸗ 
hen; er ftellte mir hierauf das Sachverhaͤltnis dar, zeigte mir die 
betreffenden Actenftüde und fteht vor meinen Augen als ein volllom- 
men redlicher Dann in diefem ganzen Berhältnid da. Was aber wird 
unter folhen Umftänden aus Würtemberg und feiner Berfaflung were 
den? Die Menfchen mifchen die Karten und fpielen bier wie überall; 


113 


aber die Dinge gehen ihren Weg. eine andere größere Hand leitet 
ihren Gang. 


Perthes Reiſe von Stuttgart nach Wien und ſeine Rüdlehr 
nach Hamburg. 
30. Auguft bis 8. October 1816. 





Am 20. Auguft verließ Perthes Stuttgart und fuhr über Eßlin⸗ 
gen, Geidlingen und Ulm nah Augsburg. Ungeachtet der rafchen 
Reife hatte er reichen Stoff zu Bemerkungen über Land und Leute in 
diefer dem Norddeutfchen fremdartigen Gegend gefunden, und wollte 
nun in Augsburg wiederum einen Halt von einigen Tagen machen, 
angezogen von dem Leben diefer alten funftgefinnten Reicheftadt. Am 
21. Mittags fuhren wir in den prächtigen Gafthof zu den drei Moh— 
ten ein, fchrieb Perthes an Caroline. Noch am Nachmittage befuchte 
ich mehrere Buch⸗ und Landfartenhandlungen und habe geftern und 
‚heute mid recht müde gelaufen und gehört. Augsburg ift eine fhöne 
und große Stadt, macht aber nicht den Eindrud ded Alten, man 
fieht fein einziges öffentliche® Gebäude, welches aus der Zeit unferer 
großen Baufımft herſtammt, und nur wenige alterthümliche Häufer; 
der bi® in die neueften Zeiten fortdauernde Wohlftand hat eö den 
Bürgern erlaubt, ihre Wohnungen ftet? nach dem herrfchenden Ge⸗ 
fhmad des Jahrhunderts zu erneuern. Im Innern der Häufer da- 
gegen, in ber Familien Art und Sitte, im Geſchäftsgetriebe tritt das, 
alte kunſtſinnige und kunftreiche Augsburg hervor. Es lebt hier, wenn 
ih mich nicht fehr täuſche, ein Fraftvolles und entfchloffened Volt, das 
fo leicht nicht zu beugen und brechen ift; dazu haben fich die Originale 
zum Theil der tollften Art in großer Auswahl erhalten. Noch jebt 
werden große Gefchäfte in Geld, Waaren und Spedition gemacht, 
mancherlei Fabriken find in Thätigfeit, Silberarbeiten und Künfte 
leten aller Art gehören auch jebt noch zu den Liebhabereien der Bür- 
ger; dennoch läßt ſich bald bemerken, daß Augsburg im Sinten ift: 
ein an Fleiß, Erfindung und Betriebſamkeit ſo gewaltiges Weſen 


Perthes Leben. II. 4. Aufl. 8 


114 


fann nun einmal nicht ohne bürgerliche, ohne freiftädtifche Freiheit 
beftehen. Die guten Augsburger haben den Glauben, der Kronprinz 
werde ald König Augsburg und Nürnberg wieder zu freien Städten 
erflären. -— Die Geftaltung des literarifchen Verkehrs am hiefigen 
Orte, heipt ed in einem anderen Briefe, ift gar wunderlich und es 
bat Mühe und Arbeit gefoftet, einen Ueberblid zu gewinnen. Dar- 
über werde ich dag Nähere an Beſſer fohreiben. 

Die Fahrt von Augsburg nah München bot in Beziehung auf 
die Natur wenig Anziehendes dar; der Sonntag aber hatte zu Perthes' 
Freude auf den Straßen, in den Dörfern und Schenken da® Land- 
volf in Bewegung gebracht, in höchit eigenthümlicher, aber unförm- 
licher Volkstracht, veih behangen mit jilbernen Schnüren , Knöpfen 
und Münzen. Auf den erſten Anblid ſchon unterfcheiden fie ſich fehr, 
bemerkte Perthed, von den Schwaben; bier find derbe, luftige Men⸗ 

hen, fleifchig und fräftig, dort ift etwas Trübfinniged und Gedrück 
te8, die Geftalten oft gelb und hager, und formlos. — Am 25. Aus 
guft gegen Abend langte Perthed in München an. Wir gingen fo- 
gleich zu Jacobi, ſchrieb er einige. Tage fpäter, wie Kinder nahm er 
uns auf und wie ein Kind umfing ich den lieben alten Dann. Im 
Aeußeren bat er wenig gealtert, er ift fo gefund, wie ein Mann von 
diefen Jahren erwarten fann, befonders ein fo zart organifierter und 
reizbarer. Im Gefpräcde unter Zweien und Dreien zeigt ſich noch der⸗ 
felbe reiche Geift, die Klarheit und Gewandtheit, für die größere Ge- 
ſellſchaft aber ift er abgeftorben; er hört etwas ſchwer, verfteht lang⸗ 
fam und fann einer rafchen Unterhaltung nicht folgen. An Liebe und 
aHerzlichleit ift er wo möglich noch reger und inniger als früher. Die 
Zurüdfegung und die Befchränktheit feiner Lage trägt er mit der Faſ⸗ 
fung eine? Weifen. Nur als er der Penfion erwähnte, die er vom Kö- 
nige bei feiner jegigen Lage für feine Schweitern erbitten müfle, brach 
ihm die Stimme und Thränen traten ihm ind Auge. An den öffentli« 
hen Begebenheiten nimmt er noch lebhaften Antheil und folgt den 
Dingen mit feharfem Auge. Biel ließ er ſich von mir über den Tod fei- 
ner Freunde in Hamburg erzählen und fcheint fich gern und ernft mit 
der legten Angelegenheit des Menfchen zu befchäftigen, ohne jedoch we» 
fentlih ander? zum Chriftentbume zu ſtehen als vor zehn Jahren. 


115 


Unter den vielen Menfchen, die ich in München aufſuchte oder auf 
einem Sprechthee der Akademiker traf, find mir die eindrüdlichiten 
Sömmering, Roth und der geheime Rath Neumeyer gewefen, ein der- 
ber, tüchtiger, vornehmer Baier von Verſtand und Phantafie, mit 
dem fi gewiß fehr gut arbeiten läßt. Sachen habe ich wenig in 
München gefehen, weil meine Zeit Jacobi gehörte, doch hat die Ge- 
mäldegallerie mich feftgehalten. Lange fand ich mich hier beängftigt, 
bi® ih) in der Mafje des Gewaltigen und Schönen mich für einzel« 
nes zu beftimmen vermochte, die Gegenfäte find übergroß. Mit un- 
geheurer Kraft hat Ruben? die Nachtfeite der Dienfchennatur durch 
drungen und in unübertrefflicher Abfcheulichfeit bildlich wiedergegeben. 
Gein trunfener Silen hat Teufel und Schwein entjeplich zum Men- 
ſchen in fich vereint; das Weib im Sturze der Verdammten, das noch 
dampfend vor Luft und Gier ſchon die Angft der Hölle im Gefichte 
trägt, ift nicht minder grauenhaft ald die Hauptfigur auf diefem Bil⸗ 
de, ein feifter Schlemmer, noch Schmedluft im Geſicht und doch auch 
ſchon große Furt vor fünftigem Hunger neben einiger Beruhigung 
durch die Gemwißheit, eine gute Weile vom eignen Fette zehren zu koͤn⸗ 
nen. In Ruben?’ Darftellungen menfchliher Niedrigkeit ift volle 
Wahrheit und volle Wahrheit ift in Guido Reni's und Raphael's 
bimmlifcher Hoheit und reiner Liebe. Hier wie dort ift der Menſch. 
Man weiß und fühlt die entgegengefegten Endpunlte, die man in ſich 
trägt, auch wohl zu andern Zeiten und an andern Orten, aber bier 
fieht man fie in Bildern, befieht fie fih und — geht weiter!! Selt- 
fam war dad Wiedererbliden der Bilder aus der früheren Düffeldor- 
fer Gallerie, die ich einft auf ihrer Flucht in einer Scheune zu Glüd- 
ſtadt, jedes einzeln aus der Kifte nehmend, mit Zifchbein ſah. — 
Matthias foll heute, antwortete Caroline auf diefen Brief, noch ei- 
nen ganz befondern Dank für feine Befchreibung der Natur haben, die 
mir fehr wohlgethan hat, nachdem Du mit Rubens’ gräßlichem Bilde 
mich wirklich fürchterlich zu Muthe gemacht Hatteft. Ich halte es für 
ſündlich und für Unrecht, ein fo großed, von Gott gegebene? Talent, 
wie Rubens es hatte, in fo verruchten und ungeheuren Gegenftänden 
zu misbrauchen. ch preife jeden glüdlich, der feine Seele durch die 
Welt getragen hat, ohne die Ungeheure gefannt, gefehen, gedacht 
g * 


"116 


und empfunden zu haben. Wie darf ein Dann dazu beitragen, dieſe 
Sachen, welche die Echande und dad Brandmal der Menfchheit find, 
durch Bilder in die Empfindungen befferer und reinerer Seelen, die 
fo glücklich find, fie nicht zu fenmen, übergehen zu laffen! Kurz, ich 
haſſe diefe Bilder, mag die Kunft auch noch fo groß fein: Es ift eine 
ſchwarze Kunſt. Matthias follte ſolche Bilder nicht malen, wenn er 
es auch könnte. Ich lobe mir Gottes Arbeit: die Natur; fie kommt 
von Ihm und führt zu Ihm, und glüdjelig, wer fie fhauen kann, 
wie Ihr fie geihaut habt. Lieber Matthias, fülle Deine Seele mit 
ihren Bildern und laß fie in Dir lebendig bleiben, bid Du auch auf 
anderem Wege ihrem Schöpfer näher kommſt, und bringe mir mit, 
was Du faſſen und mir geben kannſt; id) hungere darnadı. 

Völlig dunkel blieb für Perthes bei feiner Anmefenheit in Mün- 
hen die Stellung Baiernd ald Staat. Wie Baiern fid) politifch ge- 
ftalten werde, ſchrieb er, Darüber hat, wie es jheint, niemand hier 
eine Meinung. Das Gefühl für gemeinfchaftlich Deutfches, für den 
Zufammenhang unferer Nation liegt den Baiern ganz ferne und 
fremd; aber gewiß ließe fich ein deutfher Sinn in ihnen erwecken und 
dann würden fie einen unferer bravften, kräftigſten und .treuften 
Stämme bilden. Die inneren Berhältniffe find noch völlig im linge- 
willen. Der König wird ald ein herzendguter Bürgerdmann allge- 
mein geliebt, aber von’ Berfaffung und von Ständen will er nichts 
wiflen: wer davon fpräche, hat er geäußert, griffe ihm an die Krone. 
Montgelad foll ein fehr gebildeter und kenntnisreicher Mann fein. 
Er weiß mit der liberalften Freimüthigfeit vortrefflih über Freiheit 
und über das Recht der Völker zu reden; er foll Europa, die Höfe 
und die Menichen in feltnem Grade kennen: .aber alled und alle nur 
von der ſchwachen und von der fchlechten Seite, ohne die Gotteskraft 
zu ahnen, die auch in der Menfchenbruft walten fann und woaltet. 
Eben deshalb hat er ſich aber auch in unferer Zeit verrechnet und 
ſteht jept am Ende feiner Wirkſamkeit. Dad Fürſtenhaus ift ihm 
Dank für große Dienfte ſchuldig, aber dad Land ift Durd) ihn in mehr 

als einer Beziehung ind Berderben geführt. Ohne für fih, wie man 
| fagt, etwas ‘zu nehmen, hat er ungeheure Summen vergeudet und 
fieht fih außer Stand, Rechnung abzulegen und Rechenichaft zu ge- 


117 


ben. Seinen politifchen Anfichten nach würde er nicht gegen Stände 
- fein, aber weil diefe eine Nechenfchaft über die biöherige Staatöwirth- 
ſchaft verlangen würden, ift er ded Königs eifriger Bundesgenoſſe in 
dem Widerwillen gegen alle Verfaffung und die Haupturjache zu dem 
leidenfchaftlichen Widerftand geworden, den Baiern auf dem Wiener 
Congreß gegen den Artikel in der Bundedacte über die Stände übte. 
Montgelas muß abtreten, das fagen alle, fobald eine Berfallung ein» - 
geführt wird, und diefer Zeitpunkt kann nicht mehr ferne fein, da die 
Berwirrung in den Gefchäften bis auf den Grad geftiegen ift, daß die 
gänzliche Auflöfung nur noch durch eine Feine Zahl guter Beamten 
und durch die Treue ded Volkes verhindert wird. Ich bin noch einige 
Stunden bei Jacobi geweſen, fchrieb Perthes unmittelbar vor feiner 
Abreife aus Münden. Er nahm mich allein in fein Zimmer ; wir fpra- 
chen über vieled; oft wurde feine Stimme weich; er. fahte das Ge- 
präch immer von neuem auf und ich konnte deutlich bemerken, wie 
fehr ihn vor dem Augenblide des Abfchied® graute. Er fühlte, wie 
ih, dag wir und in diefem Leben nicht wieder fehen würden. 
Als Perthes fih nun mit dem Emtritte in die Alpen einer ihm 
durchaus fremder Welt zumendete, vergaß er Staat, Literatur und 
Buchhandel und gab fih mit der ganzen ihm eigenthümlichen Frifche 
"und freude den überwältigenden Eindrüden hin, welche die große Natur 
ihm brachte. Einige Tage verweilte er in Salzburg und befuchte von 
bier aus Berchtoldögaden, den Königäfee, die Eidcapelle und fuhr ein 
in die Salzwerfe von Hallein. Ungeachtet der ftarken förperlichen An- 
firengungen während diefer Tage behielt er dennoch Friſche genug, 
um-fpät Abends in den Briefen an Caroline febendige und anfchau- 
liche Bilder der gefehenen gewaltigen Alpenwelt zu entwerfen. Nur 
das rein Menfchliche in den Menfchen verlor auch neben diefer Natur 
feine anziehende und feflelnde Kraft für Perthes nicht. Ich habe, 
f&hrieb er, viele Menfchen und Menfchen vielerlei Art auf der meiten 
Strede von Hamburg bis hierher gefehen, vielen habe ih und viele 
haben mir Rede geftanden, aber meine Liebhaberei zu den Menfchen 
iſt nicht weniger geroorden. Ich habe weit mehr Einfiht, Tüchtigkeit 
und Rechtlichkeit und meit weniger ‘äußere Unfittlichfeit gefunden, ale 
ih erwartet hatte. Läßt man fih nur auf die Dienfchen ein und weicht 





118 


nicht ſcheu vor fremdartigen Formen und eigenthümlichen Auffaffun- 
gen zurüd, jo fühlt man überall, wie nahe der Menfch dem Men- 
fchen ſteht. Unheimlich ift mir auch in den ftodfatholifchen Ländern 
nicht geworden und aud in ihnen habe ich des Anziehenden viel gefun- 
den. Wie anfprechend ift doch der kindliche Gedanke, welcher in einer 
und derfelben Kirche zu Augsburg eine ganze Reihe Kleiner Capellen, 
jede zum befonderen Gebrauche in befonderen Lebenslagen, erbauen 
ließ. Hier eine Ehecapelle, wo unter Blumen .und Orangenblüten 
getraut wird; dort eine andere, der Mutter Gotted geweiht, um von 
ihr den Ehefegen zu erbitten; daneben eine dritte, in welcher Jung⸗ 
frauen um gute Männer bitten, und eine vierte für Eltern, deren 
Lieblinge frank oder fterbend find. Hier im Salzburgifchen fteht an 
jedem Felſenabhang, an jeder Brüde ein Crucifir oder eine Mutter 
Gotted, und der Fuhrınann oder Führer geht niemal® vorbei, ohne 
danfend zu grüßen und freundlich hinaufzufehen. Die Kölner hatten 
am Ende doch nicht fo ganz Unrecht, ald fie von dem Sonntagdgott der - 
Proteftanten und dem Familiengott der Katholifen ſprachen, an den 
fie fi wie an einen vertrauten Freund auch Werfeltaged und in al» 
len Lebenslagen wenden könnten. — Die fleinen Betcapellen haben 
mich gerührt und erfreut, antwortete Caroline; indeſſen thuft Du 
ung Proteftanten Unrecht, lieber Perthes. Ich fann ed Dir vor Gott 
fagen, daß ich in mir gar manche Meine Capelle trage und hinein 
gehe, wenn ich Hilfe bedarf, obſchon nicht jo rein und inbrünftig, 
wie ich follte und auch gern wollte. In diefer Zeit nehmen mir die 
Dantcapellen den meiften Pla fort und Du mußt nothwendig zuruͤck⸗ 
nehmen, daß die Katholifen mit: Gott vertrauter wären ald wir, und 
daß wir nur Sonntags einmal einen Anlauf nähmen, um zu ihm zu 
fommen. | 
Recht Iebendig fah Perthes namentlich in Salzburg die jüddent- 

Ihe Natur an fich herantreten. Anden Wirthötafeln traf ich, fehrieb 
er, meiſtens Officiere und Beamte. Faft ohne Ausnahme fah ich 
tüchtigen Saudverftand , der ſich über alle Lebensverhältnifje far und 
ſicher äußert, fich nicht verfteigt, nicht allgemein ind große Blaue hin- 
einfpricht. Angelernte, nachgeiprochene, aus Büchern aufgehobene 
Redensarten hört man nicht; fröhlicher Muth, frifche Lufligfeit wal⸗ 


t19 


tet vor unverhalten. Dazu paflen nun die vielartigen Sprachformen 
mit ihrem treuberzigen Anklingen jehr wohl. Das alles kommt man⸗ 
chem Reiſenden furzweilig, ungebildet, abgefchmadt vor; manche hal- 
ten fi in ihrer Abgefchliffenheit für berechtigt, ſich an diefer natür- 
lihen Menfchenart zu reiben, werden aber meiftend derb und nad 
Berdienft abgeführt. Wohl habe ich bemerkt, daß die Süddeutfchen 
den Norddeutichen oft mistrauifch ausweichen, fie links Liegen laſſen, 
wie wenn fie fämtlid den das Land durchziehenden Probereitern an- 
gehörten, die freilich oft genug unmiffend und im Reden unverfchämt 
fittenlo3 find. Sch aber bin überall leicht mit den Süddeutfchen in 
Gang gefommen. Fragft Du, wie ed um die tieferen Seiten des 
Menfchengeiftes ftehe, fo antworte ih: Hier wie überall ift Selbft- 
verlaß und Hochmuth und hier wie überall muß man voll Bewunde- 
rung vor der Weisheit der Welteinrihtung ftehen, die immer aufs 
neue Kinder und Sinderliebe kommen läßt und den Menſchen, wenn 
in ihm die Eigenweisheit recht in die Stärke kommen will, wieder 
ſchwach und dem Kinde gleich macht und da3 Freien und ſich Freien- 
laflen in die Mitte legt. Hier auf dem Kirchhofe gingen wir lange 
umber und lafen die Infchriften. Sie find freilich meift fonderbar 
und reizen oft zum Lächeln; aber nirgends blumige, phantaftifche 
oder fentimentale Redensarten, nirgends philofophifch - heidnifche Sen- 
tenzen, überall Innigfeit und ein fefter Glaube an die Gnade Gottes. 
Es ift der Liebe und des guten Willen? viel in unferem Volke, und wo 
dad Material noch fo gut oder fihon fo gut ift ald bei und, da wird 
fih die rechte politifche Geftalt fchon aufbauen, wenn wir und auch 
längere Zeit noch fo ungefhidt in den Formen bewegen, und wir 
wollen uns ja nicht? machen laffen, es foll und wird fich ſchon aus 
fich jelbft ergeben. 

Mit ſchwerem Herzen trennte ſich Perthes am 3. September von 
den Alpen. Wir fuhren, ſchrieb er, durch fehöne, anmuthige Gegen- 
den, aber Sinn und Herz war und verfchloffen. Wie wenn wir Heim- 
weh hätten, blickten wir zurüd nach der Erdenpracht, die wir ver- 
lafjen hatten, bis auch die legten Berge Salzburg? unferen Augen ver- 
ſchwunden waren. Abends famen wir über Neumark nah Vöckla⸗ 
brud und Nachts an die öftreichifche Mauthgrenze. Hart wurden wir 


120 


h 


von einem Militärpoften aus fanftem Schlafe gewedt. Der Grenz 
beamte, in feiner Ruhe geftört, fragte barfh: Sind denn die Ge- 
Ihäfte jo gar eilig, dag man Nachts reift? Als ich ihm höflich er⸗ 
wiedert hatte, daB eine Audeinanderfegung meiner Gefhäfte den Herm 
nur noch länger vom Schlafe abhalten würde, bejah er die Päſſe und 
brummte dann: Fahrens zu, aber in Lambach foll den Herren das 
Nachtfahren fehon vergehen. Beforglich über den bevorftehenden Em- 
pfang fuhren wir meiter und hielten in Lambach vor einem großen 
Gebäude. Der Poftillon fpannte aus, fagte: das ift die Mauth, 
und ritt fort. Nun war die Frage, ob wir in Geduld den Tagesan- 
bruch abwarten oder die Mauth alabald in Bewegung feten follten. - 
Endlich faßte ih Muth und klopfte an. Ein alter Soldat mit der 
Laterne erſchien und ſprach: Folgens. Er brachte mich nad) einem 
großen Saal, wo wohl für zwanzig Schreiber Tifche ftanden, ging 
in ein Nebenzimmer und kam augenblidlih mit zwei Wachskerzen 
wieder, ihm folgte ein vornehm ausfehender Herr in ſchneeweißen 
Unterkleidern, der ſehr hoͤflich ſagte: Erlauben Sie mir Ihre Pa— 
piere. Der Soldat ſprach abermals: Folgens. Er ging zum Wa⸗ 
gen, deſſen Taſchen er unterſuchte. Da habens Stricke, habens Land- 
karten, habens auch Schnaps — das andere iſt ſchwarze Wäſche. 
Zum drittenmale ſprach der Alte: Folgens. Auf dem Büreau refe⸗ 
rierte er: Die Herren haben alles ſchön beiſammen. Damit war der 
Beamte zufrieden, gab mir meine Papiere, ſagte: Richtig, verbeugte 
ſich und ging. Der Alte beſorgte uns Pferde, nahm einen Zweigulden⸗ 
zettel und nach einer Stunde Aufenthalt fuhren wir aus dieſer Fahr— 
lichkeit frank und frei davon. 

Ohne weiteren Aufenthalt reiſte Perthes nun über Wels, Amftet- 
ten, Mölt nah Wien, wo er am 5. September anlangte. 

Schnell bin ich hier ganz heimifch geworden, heißt e8 in Perthes' 
erftem Briefe aus Wien; in diefer Fülle und Regſamkeit der Men⸗ 
ſchen gewinnt man fogleich Freiheit des Lebens und der. Bewegung für 
ſich ſelbſt. Unbehaglich und befangen fühle ich mich überhaupt nur an 
dem Orte, mo ich mid) bemerft weiß und wo mir viele eigenthümliche 
und fremdartige Menfchenindividuen entgegentreten, Die noch nicht ge⸗ 
zeigt haben, ob fie Freund find oder Feind. Bon dein allem aber ift 


121 


— — — — — 


in Wien nicht die Rede. Hier ſieht der Fremde auf den Straßen und 
Spaziergängen, an den Wirthstafeln und in den Schauſpielhäuſern 
keine Officiere, keine Orden, keine Standesabzeichnungen, keine Amts⸗ 
trachten, überhaupt feine Individuen, ſondern nur Wiener, von de- 
nen ber. eine eben fo berechtigt wie der andere erfcheint und ſich in fei- 
nem Sein und Genießen durch feinen Dritten flören läßt, aber auch 
feinerfeitd von feinem Dritten Notiz nimmt. Der Fremde bemerft 
nur dad Sein und das Genieen in Wien, aber nicht die Seienden- 
und die Geniefenden; es ift eben Freiheit und Gleichheit, wie fie 
nur in einer fo wahrhaft großen Stadt wie Wien möglich wird. — 
Perthes ſah fo viele neue Sachen, Berhältniffe und Perfonen und 
hatte jede Tagesſtunde bis fpät in die Naht fo ausgefüllt, da es 
ihm, auch abgejehen von dem Bedenken, die in Wien empfange- 
nen Eindrüde in Wien dem Papiere anzuvertrauen, nicht möglich 

‚ feine Reifeberichte an Caroline in der bisherigen Weife fortzu- 
—* kurze Namendverzeichniffe traten mit Ausnahme einzelner. Tage 
an die Stelle der früheren Briefe. Selbſt über eine Audienz bei dem 
Erzherzog Johann, über ein Mittagseſſen bei Gentz, über einen Bes 
ſuch bei Collin, wo er den jungen Napoleon ſah, und über das öf- 
tere Zufammenfein mit Hammer, Baron Stahel, Stift und manchem 
anderen bedeutenden Mann finden fich nur flüchtige Angaben; aber 
der große Eindrud, ben das Leben Wiend machte, tritt faft in allen 
Briefen hervor. Jede Stunde meines Hierſeins gibt mir, ſchrieb er, 
Neues, zieht mir einen Vorhang nach dem andern auf. Es ſind jetzt 
nicht nur meine alten Bekannten, mit denen ich verkehre, oder die 
Männer, an welche ich Briefe mitbrachte; ein Fremder zieht den an⸗ 
dern nach fih. Faſt wird es des Menfchenthums zu viel und dazu 
nun das Deutfchthum, dad Ungarthbum, dad Slaventhum, dad Gtie- 
henthum, wenn aud) unter einen Hut gebracht, der fein Tyrannen⸗ 
but if. Welche Anzahl einfichtsvoller und gebildeter Männer, wie 
viel Geift und Tüchtigfeit habe ich getroffen und überall ftarf anges 
regte Baterlandsliebe, das heißt Liebe zur Gefamtheit der öſtreichi⸗ 
ſchen Monardie, deren Idee im Kaifer ruht! Hier gewefen zu fein, 
ift durchaus nöthig; ſchon nad) kurzer Zeit erhält man die Antvande- 
lung ded Eigenthümlichen einer Kaifermonardhie, die nicht auf: der 


“ 


122 


Grundlage der Nationalität, fondern nur in der politifchen Bereini- 
gung im Staate und deilen Ruhepunfte, dem Kaifer, ruht. In die 
fem Berfhwinden der Nationalität liegt eigentlich der Gegenſatz Oeſt— 
reichs zu Preußen, und dieſer große Gegenfab foll in dem einen 
Deutfchland zufammenpaffen und von Deutichland aus Europa Yeftig- 
feit und Ruhe geben und gebieten. Das ift nicht leicht. Weberall in 
Wien ift Ungewißheit über die Maßregeln, Ungewißheit in den An- 
fihten und Hoffnungen; kurz, überall ift hier wie im Norden die Aus- 
bildung der öffentlichen Meinung noch in der Arbeit und erft auf der 
eriten Stufe ded Werdend. Den Widerftreit und die Reibung der po» 
litifhen Anfihten, die hier hervortreten, hatte ich nicht erwartet und 
am wenigften die Offenheit, mit welcher fie fich darlegen. An den 
Wirthstafeln, wo jet viele Beamte und reiche Leute fpeifen, deren 
Familien den Sommer auf dem Lande zubringen, hört man die freie- 
fte Unterhaltung; ja der Inländer erlaubt ſich die keiten Aeußerun⸗ 
gen, wenn auch der Fremde einige Vorſicht nöthig haben mag. — 
Geftern Mittag war ich, heißt es in einem anderen Briefe, bei N. N. 
Es war große Gefellfchaft, der Mehrzahl nach aus höheren Beamten 
beſtehend; unter ihnen führte beſonders ein alter Major aus der Jo⸗ 
fepbinifchen Zeit dad Wort. An groben, harten Ausdrüden fchmähte 
er in diefer Umgebung die jepige Regierung und that ohne Scheu 
feine fanatifche Begeifterung für die Aufklärung des vorigen Jahr: 
hundert? fund. Hätte nicht, fagte er, das Pfaffenvolf den edlen Kai⸗ 
fer durch feine Ränke um das Reben gebracht, fo würde dieſer bei Ita- 
liänern, Ungarn und Slaven deutiche Sprache und Aufklärung mit 
Gewalt eingeführt haben und Bernunft würde jet in diefen ver- 
dummten Ländern herrfchen. — In politifches Hoffen und Fürchten 
anderer Art blidte Perthes bei wiederholtem Zufammentreffen mit 
Hormayr und deſſen Befanntenfreid hinein. Diefer Hormayr iſt, 
ſchrieb er, ein heftiger, unruhiger Geift; die hohe Polizei hat ihm 
wegen ſeines früheren Auftretens in Tirol jegt aus Wien nach Klo— 
fter Neuburg verwieſen; demungeachtet aber hält er fich, wie jedermann 
weiß, heimlih in Wien auf und befucht öffentlich alle Gefellfchaften. 
Als er das erftemal zu mir fam, faßte er mich bei meinen Thaten 
im. Hamburger Aufftand. Ich vergalt feine Höflichkeit mit Hervorheben 


123 


der Tiroler Begebenheiten und fo thaten wir einander weidlih mit 
unferer patriotifchen Tapferkeit zu Gute und ih lernte bei ihm und 
feinen viefen Belannten, daß im Kaiferreich ein Ziel verfolgt wird 
und ein Haß verbreitet ift, von dem ich ohne Hormayr nie etwas 
geahnet hätte. 

Auch mit manden einzelnen Fragen, melde damals ; zur Enticei- 
dung vorbereitet werden follten, wurde Perthe8 genau bekannt, aber 
ttefer und perfönlicher berührte ihn die religiöfe Bewegung eine? zwar 
kleinen aber entſchieden katholiſchen Kreiſes in Wien. 

Pilat iſt, ſchrieb Perthes an Caroline, ein geiſt⸗ und phantaſie⸗ 
reicher, aber leidenſchaftliche Mann. Sein Benehmen und feine Le- 
bensart ift wunderlih, iſt das, was man genial zu nenmen pflegt. 
Täglich arbeitet er mit Fürft Metternich, welcher ihm für feine Dienfte 
den öftreihifchen Beobachter als Eigenthu übergeben hat. Schlau 
ift er gewiß, aber ich glaube, er ift redlich und mit der Religion und 
mit dem, was er ald römifher Katholik dazu gehörig hält, meint er 
e3 gewiß herzlich und ernft. Gegen mich ift er wahrhaft freundfchaft- 
ih. Auch unfern alten Bekannten von Klinkowſtröm halte ich unge 
achtet des Urtheild anderer für redlih und brav. Er ift ein phans - 
taftifcher Bommeraner und diefe Zufammenfegung gibt immer Män- 
ner wunderlicher, unbehilflicher, etwas verfehrter Art, auf die gar 
leicht ein übler Schein, der aber doch nur Schein ift, fällt. Klinkow⸗ 
ſtroͤm eift arm im eigentlihen Sinne ded Wortd und hat außer einer 
Heinen Einnahme ald Mitarbeiter am öftreihifhen Beobachter nichts. 
Aeußerer Bortheil wurde ihm alfo durd feinen Uebertritt zur katholi⸗ 
hen Kirche nicht zu Theil, wie mir denn überhaupt die von Prote- 
ftanten fo oft gemachte Anfhuldigung , daß die in neuerer Zeit katho⸗ 
lifch Gewordenen durch äußeren Bortheil zu folhem Schritte geführt 
feien, nicht allein unedel, fondern auch unwahr zu fein ſcheint. Män⸗ 
ner, wie Schlegel, Werner, A. Müller u. ſ. w., würden mit ihrem 
Geifte und ihren Kenntniffen den Rang und Stand, den fie jebt ein⸗ 
nehmen, auch als Proteftanten leicht geivonnen haben. — Auf Per⸗ 
thes’ Wunſch, einen guten echt fatholifchen Prediger zu hören, wurde 
ihm von PBilat und Klinfowftröm der Pater Pascal bei den Francis⸗ 


124 


canern empfohlen. Es war, fchrieb Perthes, da heute der himmlifche 
Gruß gefeiert ward, hoher Fefttag für diefe mit einem Gnadenbilde 
der Jungfrau Maria begabte Kirche. Der Hochaltar war prachtvoll 
erleuchtet, die Kirche gedrüdt voll; hinter der Kanzel befindet ſich eine 
mehrere Schritte ange Gallerie, auf welcher der Pater herumfpasierte, 
Sadtuch und anderes Geräthe von ſich legte, überhaupt ſich es be— 
quem machte. Stimme und Gefticulation war heftig und kraͤftig, 
die. Ausfprache der gemein öftreichifche Volksdialekt; man ward an 
Abraham a Sancta Clara erinnert, mochte man wollen oder nidt. 
Zum Gegenftande feiner Predigt hatte der Pater die Macht und die 
Gnade der Jungfrau genonimen. Zwei Drittheile derfelben waren 
durchaus gegen dad Sittenverderbnid, ein Drittheil gegen die Ketzer 
gerichtet, aber gegen Die Ketzer in der Kirche, denn mit den Kebern 
außer der Kirche habe er ed an diefem Orte nicht zu thun, fagte der 
Pater. Die Bergleihung der Jungfrau, welche die geiftige Welt in 
fi getragen, mit der Are Noah, die alles Gethier umbergefahren, 
war finnreih, aber in der Ausführung wenig delicat. Die Schilde> 
rung einer Hungerdnoth und ihrer Trabunten: der Seuchen und Bers 
brechen, und der Vergleich derfelben mit einem: verhungerten ungläu- 
bigen Herzen war fehr gut, das Schlußgebet vortrefflih. Wenn der: 
Pater bei jedem neuen Flehen mit aufgehobenen Händen, nach den 
Gnabdenbilde fi) wendend, inbrünftig Maria ausſprach, fo wurde: 
man ergriffen und vergaß das Barode der ganzen Erfcheinungg kurz, 
e8 war eine tüchtige Predigt, die ihre Wirkung that. - . 
Anziehender indeſſen als Pater Pascal war für Perthes die Be- 
kanntſchaft mit dem Redemptoriftenoberen Pater Hoffbauer, auf wel- 
hen er von verfchiedenen Seiten lange ſchon aufmerffam gemacht 
war. Heute gegen Mittag traf ich, ſchrieb er am 18. September, 
nach mehreren vergeblichen Berfuchen den Pater Hoffbauer. Ich fand 
ihn in einem großen düfteren Saal, an deffen Fenfter Gitterfämmer- 
hen angebracht waren, mo junge Geiftliche theils leſend theils ſchrei⸗ 
bend faßen. Einer derfelben trat während meiner Anweſenheit ber- 
aus und nahm fich aus einem an den Pfeilern gebauten Fliegen⸗ 
ſchranke einen derben Butterfladen. Hoffbauer ſetzte ſich mit mir in 





125 


die Mitte des Saales; er ift über fiebenzig Jahre, klein von Geftalt, 
aber rüftig und kräftig. Das Auge ohne den gewöhnlichen Aufichlag 
fatholifcher Priefter ift voll Feuer, ſcharf und feft anblidend, die Ge- 
ſichtszüge find fehr beweglich und dennoch iſt dad ganze Antlig in 
einer Ruhe, die man himmliſch nennen muß. Hoffbauer begann das 
Gefpräch mit gebildeter Feinheit über gemeinfchaftliche Freunde, über 
meine Jugend und meinen Bildungsgang, leitete von Claudius zu 
Friedrich Leopold Stolberg und deffen Uebertritt über und hatte bald 
mein Herz völlig gewonnen. Ich redete mit ganzer Offenheit über 
Stolberg und defien Verhältnis zur Fürftin Gallisin, die ich meine 
mrütterliche Freundin nannte, und fagte, daß ich bei Stolberg's eigen« 
thümlicher Natur und bei dem damaligen Zuſtande der. proteftanti- 
ſchen Kirche, ihrer Lehre und ihres Lebend den Webertritt deöfelben 
nicht nur für natürlich und erklärlich, fondern faft auch für nothwen⸗ 
dig hielte. Da ich aber an dem Eindrud‘, den diefe Worte machten, 
bemerkte, daß fie in unmittelbarer Beziehung zu meiner eigenen Stel- 

lung aufgefaßt worden waren, fügte ich, um dem ehrwürdigen Greife 
gegenüber frei und wahr zu ftehen, fogleich hinzu: Wäre ich in der 
Tatholifchen Kirche geboren und erzogen, fo würde ich Katholik fein 
und bleiben. Würde ich jet in ein Land verfeßt, wo feine proteftan- 
tifchen Gemeinden, fondern nur Katholiken wären, jo würde ich, falld 
ih dafelbft bleiben müßte, Katholit werden; ja auch für den Fall, 

‚daß die jegige Richtung proteftantifch - neologifcher Theologie den vol« 
len Sieg davon tragen und in den Gemeinden allgemeine Geltung 
gewinnen follte, würde ich, um meinen Kindern die Gemeinfchaft mit 
Ehriften zu fihern, Stolberg’ Beifpiel folgen. Aber diefer Fall werde 
niemals eintreten und meiner eigenen Seele Seligfeit wegen hätte 
ih den Uebertritt unter feinen Umftänden nöthig; denn Grfenntnis 
meiner Sündhaftigfeit,, Bedürfnid und Gewißheit der Erlöfung dur 
Jeſum Chriftum, Demuth und Glaube und Umgang mit Gott: fei 
völlig unabhängig von der Zugehörigkeit zur Fatholifchen Kirche umd 
der Uebertritt einzelner gläubiger Ehriften von einer Kirche zur an⸗ 
deren möchte überhaupt wohl, wenn nicht ganz individuelle Gründe 
fih fänden, als ein Borgriff in die Wege des Herrn und als ein Hin- 


i20 


dernis der künftigen Vereinigung aller Chriſten zu einer Herde an⸗ 
zuſehen ſein. Schon jetzt hätten die Formen der katholiſchen Kirche 
vieles nachgegeben und vieles würden die Proteſtanten wieder aufzu⸗ 
nehmen haben und der Verlauf der Zeiten werde und müſſe die Ein⸗ 
heit beider wieder herbeiführen. — Hoffbauer ſah mich, während 
ich ſprach, feſt, aber ruhig an, faßte mich dann an der Hand und 
ſagte: Auch ich nehme eine unſichtbare Kirche an, ich werde für Sie 
beten, daß Sie nicht in Verſuchung fallen. Laſſen Sie uns jetzt nur 
fortreden, ohne uns durch die Erklärung, welche Sie ſo eben gaben, 
flören zu laſſen. Wir ſprachen nun über die Reformation und Hoff⸗ 
bauer fagte: Seitdem ich ala päbftlicher Abgefandter in Polen die 
religiöfen Zuftände der Katholifen und in Deutfchland die der Prote- 
ftonten habe vergleichen-Fönnen, ift e8 mir gewiß geworden, daß der 
Abfall von der Kirche eingetreten ift, weil die Deutfchen das Bebürf- 
nid hatten und haben, fromm zu fein. Nicht durch Keper und Phi- 
fofophen, fondern duch Menfchen, die wirklich nach einer Religion 
für da3 Herz verlangten, ift die Reformation verbreitet und erhalten. 
Sch habe das in Rom dem Pabjte und den Cardindlen gejagt, aber 
fie haben mir nicht geglaubt und halten feft daran, daß Feindichaft 
gegen die Religion es fei, welche die Reformation bewirkt habe. Viel 
ließ fi Hoffbauer danıı von mir über die religiöfen und firchlichen 
Zuftände Norddeutſchlands erzählen und fegnend reichte der fromme 
und milde Greid mir bei dem Abfchiede die Hand. 

Einen zwar verfchiedenartigen, aber nicht minder ſtarken Ein- 
drud als Hoffbauer machte auf Perthes ein junger fatholifcher Prie- 
fer, Horni, welcher fi) nach Claudius’ Tode mit einem Briefe voll 
warmer Verehrung und herzlicher Theilnahme an ihn gewendet hatte. 
Heute trat, fehrieb Perthes an Caroline, ein junger Mann in geift- 
licher Kleidung in meine Stube und nahte fih mir mit großem An- 
ftande. Es war Horni, deſſen Briefe nad) Deines Paterd Tode 
Du Did erinnern wirft. Mit liebendwürdiger, geiftvoller Offen- 
heit erzählte er mir von feinen Familienverhältnifien, von feiner per- 
fönlihen Lage und feinem Bildungdgange. Auch ich bin, fagte 
er, wie faft alle meine Standeögenofien, von der feit Joſeph UI. 


127 


Deftreich verheerenden religiöfen Aufflärerei ergriffen geweſen; aber 
mein irre gewordener Geift hat den Weg zur Wahrheit und Gnade 
durch Claudius’ Echriften wieder gefunden. Wie fteht diefer Diann fo 
wunderbar groß da! Ye heftiger in ganz Deutfchland unter Katholiken 
wie unter Proteftanten Sturm gelaufen ward gegen alle geoffenbarte 
Religion, um fo inniger hatte er fih an Jeſum Chriftum angefchlof- 
fen, und al® alle fogenannten Philofophen Deutfchland® wahnfinnig, 
verrüdt geworden waren, blieb er unerjehüttert und erfannte den blen- 
denden Zauber feiner Zeit im Momente der höchſten Blendungsfraft 
al® dad, was er war, das heipt, ald ein blendendes Nichts. Seine 
Weisheit freilich war zu wenig von diefer Welt, um den Kindern die. 
fer Welt zugänglich zu fein. Die Zeitgenoffen verftanden die hohe 
Einfalt nicht und ſchätzten fie gering, „fie fpannen Luftgefpinnfte und 
fuchten viele Künfte und famen weiter von dem Ziele.” ch werde 
dankbar dafür bleiben, fo lange ich lebe, daß mir die Weisheit des 
einfältigen Boten aus Wandsbeck in ihrer Höhe und Tiefe erkennbar 
wurde. Horni bat mich dann um nähere Nachricht von Deined Ba- 
ters legten Stunden ; denn obwohl es möglich wäre, fagte er, daß 
Claudius’ Körper in der Entkräftung des Todeskampfes nicht mehr 
hätte verfinnlichen können, was die nun bald mit ihrem Freunde 
und Erlöfer vereinte Seele fühlte, fo glaube ich doch, daß Claudius 
nah einem fo felten vollendeten chriſtlichen Leben auch eines fchönen 
chriſtlichen Todes geftorben fein wird, und daß der Troft,. den fein 
Erlöfer in der legten fchweren Stunde ihm in? Herz geflößt, den glüd- 
lichen Zeugen de3 Weberganged „in das Land des Wefend und der 
Wahrheit‘ bemerklih geworden if. Bei dem Abichiede bat Horni 
mich um ein Bild von Claudius. Es thut, fagte er, einem ringen- 
den Menfchen wohl, fi) von bewährten Kämpfern befländig umge- 
ben zu fehen; böfe Gedanken fliehen, wenn der Blick plöblich auf ein 
Bildnis fällt, vor deſſen Original man in diefem Augenblid erröthen 
müßte. Alles, was Homi fagte, trug das Gepräge innerer Wahr⸗ 
heit und frommer Ueberzeugung ; die Einficht, mit welcher er ſprach, 
ruht gewiß auf einem bedeutenden Wiſſen; feine Ausfprache ift geläu- 
fig und rein, wa? ſich bier felbft bei Gelehrten und Bornehmen nur 





128 


felten findet. Neben den Droſte's in Münſter ift er mir als der tieffte 
und fiherfte Katholik, den ich ſah, erfchienen,, tiefer und ficherer ge— 
wiß als alle die. geiftreichen Verfechter des Katholicismus, die ich 
fenne. | | 

Gegen Ende September hatte Perthed die Vorbereitungen zu 
feinen auf Deftreich berechneten literarifhen Unternehmungen beendet. 
Erfreut über die reihen Wochen, die er durchlebt, und über das Ver⸗ 
trauen, welches ihm von vielen Seiten zu Theil geworden war, ver- 
ließ Perthes am 22. September Wien und befand fi) nach einer ra- 
hen Reife und einem viertägigen Aufenthalt in Nürnberg am Mors 
gen des 2. October nahe bei Blankenburg im Thüringer Walde, wes 
nige Stunden nur von feiner alten Kinderheimat Schwarzburg. Die 
gewaltigen Regengüffe der letzten Monate hatten die Brüde, welche 
in der Mitte etwa zwiſchen dem Dorfe Schmwarza und dem Städtchen 
Blankenburg über den Waldbach ging, hinmweggeriflen. Perthes, noch 
wohlbefannt mit allen Fußwegen, ließ den Poſtillon nach der entfern⸗ 
teren ſteinernen Brücke fahren und wanderte mit ſeinem Sohne der 
Papiermühle zu, wo ein hoher Steg, wie er wußte, über das Waſſer 
führte; aber auch dieſer war fortgeſchlemmt und ftatt feiner ein paar 
Baumſtämme von einem Ufer zum anderen gelegt. Ein in der Nähe 
ftehender Mann fragte warnend, ob die Reifenden auf dem ſchmalen 
Holze hinüber zu gehen wagen wollten. Diefe aber gingen unbe 
denklich; hatten doch beide im Salzburgifchen mandyen weit gefähr- 
licheren Weg gemacht. In reißender Schnelle ſchoß tief unter ihnen 
die zu einem Strom angefchwollene Schwarza hin. Nur zwei Schritte 
noch waren fi: vom jenfeitigen Ufer, als der voranfchreitende Sohn 
ausrief: Halte mich, ich falle. Perthes ergriff den fallenden Knaben 
feft an dem Mantelfragen und wurde zugleich mit ihm hinab in das 
Waſſer gezogen, er fam zum Stehen, ward wieder umgeriffen,; das 
Waſſer wälzte den Knaben über ihn, dann ihn über den Knaben; 
noch einmal tauchte Perthed mit Kopf und Schulter auf, rief laut: 
Halt Dich befonnen! und fan? aufs neue in die Tiefe. Wie ein Blig 
traten Frau und Kinder vor feine Seele, dann wurde er bewußtlos 
und das Waſſer trieb beide in unaufhaltfamer Eile den Rädern einer 


129 


zweihundert Schritte abwärts Tiegenden Sägemühle zu. Unmittelbar 
vor diefer ward Perthed ſtark und feft am linken Arme ergriffen und 
langſam durch das Waſſer an das Ufer gezogen. Mit feiner rech⸗ 
ten Hand hatte er im Todeskampfe den Sohn frampfhaft feitgehalten 
und führte nun, felbft bewußtlos, auch diefen dem Ufer zu. Jener 
fremde Diann, der ihnen warnend zugerufen hatte, war der Papier- 
müller Stahl gewefen; er eilte, als er die Fremden fallen fah, über 
den gefährlichen Balken und längs ded Wafferd hin bis zur Säge: 
müble, wo ihm eine Untiefe befannt war, die weit hinein in die 
Schwarza reichte; bis in die Mitte des Leibes im Waſſer harrte er hier, 
griff zu, glaubte nur einen Menſchen vom ficheren Tode zu retten und 
rettete zwei. In der warmen Trodenftube der nahen Papiermühle er- 
holten fich Die Geretteten fchnell unter der Behandlung eines zufällig 
aus Rudolſtadt anweſenden Wundarzted und eilten Schwarzburg zu, 
wo fie, vom jchnellen Lauf erwärmt, gegen Abend anlangten. Nabe 
war der Zod an ihnen vorübergegangen, aber nicht einmal eine Erfäl- 
tung hatte er ald Folge feiner Nähe zurückgelaſſen. 

Zwei Tage ruhte Perthed in den Erinnerungen feiner Jugend 
von der Unruhe der lebten Donate aus, wie ein Kind von dem alten 
Oberftlieutenant,, dein alten Oheim Stallmeifter und der alten Tante 
Caroline gehegt und gepflegt. Dann eilte er nach kurzem Aufenthalte 
in Gotha über Göttingen und Hannover nad) Hamburg, wo er am 
Morgen ded 8. October eintraf und Caroline, deren Gefundheit ihm 
während feiner Abwefenheit mehreremale ernfte Sorge erwedt hatte, 
kräftiger fand, als er fie verlaffen hatte. | 


Perthed’ Leben. 11. 4. Aufl. j 9 


130 


Berthes’ Bemerkungen über den literarifchen Verlehr während 
feiner Reiſe durch Dentichland. 


Perthes war durch die mannigfaltigen und bedeutenden Ver⸗ 
hältniffe, in welche er hineinzubliden Gelegenheit gehabt hatte, nicht 
verleitet worden, feinen eigentlichen Reiſezweck zu vernadhläffigen. Die 
Lage ded Buchhandel® und die Mittel zur Begründung eines fefteren 
Zufammenhanges desfelben hatten ihn überall beichäftigt. In ges 
nauen, bis in die kleinſten Einzelheiten gehenden Berichten theilte er 
an Beſſer feine Beobachtungen mit. Fremd waren ihm die literari« 
hen Verhältniffe Baiernd geblieben, die wenigen Tage in München 
gehörten, fehrieb er, dem lieben alten Jacobi. — Meber den Bers 
fehr in Deftreich dagegen hatte er fich nach allen Seiten hin unterrich- 
tet. Weberull in Wien fand er bei den Männern der verfchiedenften 
Stellung und Richtung wohlmwollende Zuftimmung, wenn er auf die 
Nothmwendigfeit, Deftreih dem deutfchen literarifchen Verkehr zugäng- 
lich zu machen, hinwied. Der Erzherzog Johann verfprach, das ver- 
dienftlihe aber fchwierige Unternehmen mit allen feinen Kräften zu 
unterftügen. Der Director im Polizeidepartement, Herr von Ohms, 
ein geborner Erfurter von ftrengem Ausſehen, aber großer Nedlichkeit, 
verficherte ihm: Deutfche Sprache könne und folle freilich den verfchie- 
denen Völkern der öftreichifhen Monarchie nicht aufgedrungen wers 
den, aber ald Hauptaufgabe habe e3 fich die höchfte Stelle geſetzt, 
in allen Theilen des Reiches deutfche Bildung, alfo auch deutſche Li⸗ 
teratur zu verbreiten; dahin zielten alle Diaßregeln, aber fehr viele 
Borurtheile nach unten und nad) oben wären zu überwinden und viel 
Menfchliches falle bei der Ausführung vor, Dem Chef ded Handels- 
Departements, Herrn von Stahel, legte Perthes vorzüglich die Ab- 
hilfe gegen den Nachdrud and Herz. Es gibt, antwortete diefer, nur 
einen Weg zu dem Ziele, welches ich mit Ihnen zu erreichen lebhaft 
wünſche: bewirken Sie eine Eingabe des Wiener Buchhändler- Gre- 


131 


miumd, worin gejagt wird, daß ed nad) dem jehigen Stande der 
Literatur für dad Ganze des Büchergewerbed in Deftreich fördernd fei, 
künftig auf den Nachdruck ausländifcher Werke zu verzichten; einzelne 
Buchhändler würden zwar zeitweife Schaden erleiden, aber für den 
gefamten Buchhandel Oeſtreichs ein dDauernder Gewinn eriwachfen und 
die Handeldbilance auch dieſes Erwerbszweiges fih zum Bortheile 
Deitreich3 ftellen. Gelingt es Ihnen, eine ſolche Eingabe hervorzu⸗ 
rufen, fo haben wir gewonnen; aber täufchen Sie fich nicht über Ihre 
hiefigen Gollegen. Die öftreichifchen und indbefondere die Wiener 
Buchhändler befinden fi) in ihrer gegenwärtigen Lage zu behaglich; 
fie werden eine Stellung freiwillig nie verlajfen wollen, in welcher 
fie mit wenig Thätigfeit, mit wenig Kenntni® und Aufmerkſamkeit 
wohlhabende Leute werden. Wider den Willen der Buchhändler aber 
wird die Regierung fich ſchwerlich entichliegen, Schritte gegen den 
Nahdrud zu thun. 

Perthes hatte aus perfönlihen Berührungen und aus Mittheis 
fungen Gerold’3, deffen befonnene und ehrenwerthe Leitung eines 
großen Gefchäftd er mehrfach hervorhob, zwar ein eigene® Urtheil 
über die Stimmung der Wiener Buchhändler gewonnen, er hatte die 
fiterarifhen Bedürfniſſe Oeſtreichs und die Mittel zu deren Befriedi- 
gung genau beobachtet, aber er fand in dem Gewirre ded Wiener 
Leben? keine Zeit zu fchriftlichen Aufzeichnungen. Die Berichte da- 
gegen, welche er über das bis Wien Gefehene an Beiler fendete, Taf» 
jen manchen Blid in einen jegt längft vergeffenen Zuftand des lite- 
rarifchen Verkehrs thun. | 

Zunächſt war ihm Weftfalen ald ein in fich abgefchloffened Ge- 
biet für den Buchhandel enigegengetreten. Sinn für Wiſſenſchaft, 
namentlich für Gefchichte, hat hier, heißt es in Perthes’ Briefen, lange 
Ihon beftanden ; gelehrte Sammler und gebildete Liebhaber find von 
Alters her durch das ganze Land zerftreut. Sie waren biöher nur in 
jehr geringer Verbindung mit dem literarifchen Getreibe Deutfchlands; 
das aber wird unter den neuen politifchen Verhältniſſen bald ander? 
werden; ſchon jet ift ein neuer Geift erwacht und Binde’3 Perfönlich- 
feit regt fräftig an. Weſtfalen erfcheint in jeder Beziehung als eine 

9 * 


132 


für den Buchhandel höchft wichtige Gegend. Um den Betrieb fämpf- 
ten feit einer Reihe von Jahren Bremen und Hannover; jebt ift Bre= 
men befiegt und die Berforgung des ganzen Landes liegt fait aus- 
fhlieglih in einer einzigen Hand. Die Wirkfamkeit der Hahn'ſchen 
Handlung in Hannover reicht durch Oftfriesland bis nach Holland, 
duch Weftfalen bis zum Rhein, füdlih bis Kaflel, nördlich big 
Bremen. Man muß die Einfiht, Ordnung und Thätigfeit derfelben 
bewundern ; aber fehädlich für den Buchhandel ift eine ſolche Eentra- 
lifation und auf die Auswahl der an Schulen aller Art gebrauchten 
Lehrbüchern üben Hahn's durch die Einrichtung ihres Geſchäfts gewiß 
einen nadhtheiligen Einfluß. Sechs bis zehn tüchtige Handlungen 
fönnten in dem Umkreiſe, in welchen: jet fie allein thätig find, bes 
- ftehen und würden den literarifchen Verkehr. in weit eindringenderer 
Weife beleben. In Barmen, Duisburg, Lemgo, Detmold, Pader- 
born, Hamm fönnen fi) gegenwärtig Buchhandlungen gar nicht hal⸗ 
ten oder doch nur mit großer Mühe und geringer Lebendigkeit. In 
Osnabrück iſt die einzige ordentlihe Handlung eingegangen; nur 
Buchbinder pfufhen noch im Bücherverfehr, und dennoch muß hier 
der literariſche Sinn groß geweſen fein, wie die vielen guten Biblio- 
theken beweiſen, die aus dem Nachlaſſe verſtorbener Gelehrten und 
Geſchaͤftsmaäͤnner zur Verſteigerung kommen. Münſter iſt feine lite- 
rariſche Stadt; die früheren guten Handlungen find ſchon vor dreißig 
Jahren ſchwach geworden oder untergegangen. Einzelne Gelehrte 
und gebildete Sammler, wie Domdechant von Spiegel, die Herren 
von Drofte, Dr. Herold, Kiftemafer, Katerfamp, finden fi und das 
neue Berhältnis zu Preußen wird den wiffenfchaftlihen Sinn ſchon 
wecken. Einige junge tüchtige Buchhändler regen ſich auch bereits, 
aber ihre Verbindung mit Leipzig ift fehr erfchwert, da der Fracht⸗ 

verkehr gänzlich fehlt und die Koften der durch die heffiihen, hannd« . 
veriſchen und fächfifchen Anftalten zugleich vermittelten Poftfendungen 
unerfchwinglich find. Bom Buchhandel allein können fie daher nicht 
leben und müflen nebenbei den fogenannten Kunfthandel treiben, Bil 
der, Landkarten, Farben und Zeichenmaterial aller Art verkaufen 
und ſtehen dadurch mit den italiänifchen Colporteurs in Verbindung. 


133 


Sonderbar ift ed, daß das katholifche Weftfalen gar feinen Zufam- 
menbang mit dem fatholifchen Süden hat; höchften® werden die hier 
erfcheinenden Gebetbücher, Gefchichten der Heiligen u. ſ. w. dort nach⸗ 
gedrudt. Ich bin mehrfach gebeten worden, für die weftfälifchen 
Handlungen Verbindungen in Ulm, München, Salzburg, Augsburg, 
Deftreih anzufnüpfen. — Geſtützt auf die gemachten Erfahrungen, 
glaubte Perthed, daß die Hamburger Handlung einen größeren An- 
theil ala bisher an dem literarifchen Verkehr Weftfalend gewinnen 
fönne, und theilte in feinen Briefen an Beffer die Mittel und Wege 
mit, welche er mit Rückſicht auf die Eigenthümlichkeit der einzelnen . 
Perfonen und auf die befonderften Berhältniffe der einzelnen Orte für 
geeignet zur Erreichung feines Zieles hielt. 

Im Bergifchen, eingeflemmt zmifchen Weftfalen Und dem 


Rhein, lernte Perthes eine ihm bisher unbekannte Art des Vertriebes 


von Büchern kennen. Die mandherlei gefonderten Religionagefellfchaf- 
“ten, fchrieb er, die fich hier aufhalten, haben eine abgefchloffene, re- 
ligiöfe Literatur für fih, von der wir gar nichts wiſſen. Ohne ir- 
gend eine Bermittelung ded Buchhandel® wird fie durch eigene Anftal- 
ten und Colporteurs verbreitet und fteht in einem nahen Zufammen- 
hange mit den verwandten Religiondgenofjen in den entfernteften Ge 
genden in und außerhalb Deutfchland®, ja felbft jenfeit3 des Meeres. 
Wer das Bertrauen diefer Gefellfchaften gewonnen hätte, würde im 
Stande fein, deutjche Literatur nach Gegenden und Orten zu bringen, 
wohin der Arm ded Buchhandels nicht reicht. 

Der Rhein von Düffeldorf bis Mainz mit der Eifel, der Mofel- 
gegend und dem Hundsrück, mit dem Siegenfchen, dem Weſterwald 
und dem Taunus war biöher ein für den deutfchen Gefamtbuchhan- 
del unbelannted Land .gemwefen. Hier war, ſchrieb Perthes, das li- 
terarifche Bedürfnis bis vor kurzem auf das Engfte befhränft: die 
großen Klofterbibliothefen kauften kirchliche Werke, die fogenannten 
Gebildeten fannten nicht? ald die franzöfifche Literatur. Kür die 
Bedürfniffe beider forgten die Frankfurter, denen allein das Land zu- 
gänglih war; fie betrachteten es wie ihre Colonie und überwachten 
es ängftlih und eiferfüchtig, mie Spanien die feinigen. Seht aber 


134 


wird alles anderd: die Klofterbibliothefen find verſchwunden, das 
Intereſſe an der franzöfifchen Literatur tritt in den Hintergrund; 
neues Leben und neues literarifches Bedürfnis wird überall durch die 
preußifche Negierung und dur die preußifchen Beamten entftehen. 
Die hergebrachte Herrichaft der Frankfurter reicht nirgend® mehr bin, 
und doch liegt in den meiften Rheinftädten der eigne Betrieb nod) völ- 
lig’ danieder. In Düfleldorf fieht e8 ganz elend aus: die Gejchäftd- 
männer und Gymnafiallehrer müffen fich felbft jedes Buch, das fie be- 
dürfen, aus Frankfurt verfchreiben oder von Bädeder in Eſſen, der 
einen fehr guten Namen hat. In Bonn ift gar feine Buchhandlung, 
wohl aber der große mufifalifche Verlag Simrocks, der ein alter, ver- 
ftändiger Ehrenmann if. In Koblenz treibt nur ein waderer Buch 
binder nebenbei einigen Bücherverfauf. An diefen Orten und eben 
ſo in Aachen, Trier, Wiesbaden und allenthalben ift ein großes Feld 
für thätige und tüchtige Buchhändler, und fie werden nicht ausbleiben. 
Köln wird ohne Zweifel der Mittelpunkt des deutfchen Buchhandel? für 
das linke Rheinufer werden; es ift ein gar reges Leben unter den 
fünfzigtaufend Menfchen, und der bier herrfchende Sinn für Alter- 
thümer und Kunft wird bald auch der deutfchen Literatur Raum ver- 
ſchaffen: Männer wie Wallraf, de Groote, Harthaufen und aud 
Graf Solms⸗Laubach üben einen guten Einfluß und die Errichtung 
der neuen Univerfität, mag fie nun nad Bonn oder Köln fommen, 
wird von großer Bedeutung fein. Es find fchon jetzt Handlungen 
bier, die vajch aufblühen werden. Du Mont Schauberg ift ein un- 
terrichteter, verfländiger und angefehener Mann, bekannt und be- 
freundet mit vielen Gelehrten und Beamten; Imhof und Heberle ha- 
ben ein bedeutendes antiquarifches Gefchäft. Nachdrud wird hier wie 
in ganz Weftfalen und Elberfeld viel vertrieben und dem einzelnen 
Buchhändler ift es faft unmöglich, eine Ausnahme von der Regel zu 
maden. Kurz vor meiner Ankunft hatte Spig einen Nahdrud von 
Goethe’? und Schiller's Werken angefündigt, welchen Graf Solms⸗ 
Laubach, auf das preußifche Landrecht fich frükend , fofort unterfagte. 
Ich bemerkte dem Grafen, um ihn auf die Nothwendigkeit allgemein 
deutfcher Maßregeln aufmerkfam zu machen, daß er durd fein Ber: 


135 

bot das Eigenthum eined Würtemberger Buchhändlers ſchütze, wäh- 
rend der König von Würtemberg die Plünderung aller nicht würtem« 
bergifchen Buchhändler nad) Kräften begünftige. Ei mas, antwortete 
er; bier handelt es fih niht um Würtemberg und Preußen, fondern 
um eine Nationalfache, ich werde dem Staatskanzler fchreiben, ich 
hätte würtembergiſch Eigenthum geſchützt und er möge nun dafür for« 
gen, daß ein Gleiches in jedem deutfchen Staate gegen jeden anderen 
deutfhen Staat geſchehe. Das Wort erfreute mein Herz. 

Lebhafter noch ald Graf Solms ging Stein in Naffau auf Per: 
the3’ Anfichten ein. Das fei, fagte er mir, heißt es in Perthes’ Brie- 
fen, eine große und gute Anfiht, den Buchhandel zu einem Natios 
nalinftitut erheben zu wollen, gut für die Literatur und gut für die 
Rationalität. Ich folle mich durch keinen Widerfpruch und feine Träg⸗ 
heit irre machen laſſen, fondern tapfer vorwärts gehen. Preußen 
werde nicht? in den Weg legen und ed fei wichtig, daß ich mit Binde 
und Graf Solms, der ein fehr braver, ehrenwerther Mann wäre, 
gefprochen hätte. Deftreich freilich werde ſchwer zu gewinnen fein; 
dort lege dad Normalfyftem im Erziehungs - und Unterrichtöwefen je- 
dem Fortichritt große Hinderniffe in den Weg. Ich folle mich mit 
Bertrauen an den Erzherzog Johann wenden, der geiftvoll und theil- 
nehmend fei; auch Erzherzog Karl fei ein würdiger Herr, aber weni 
ger zugänglih. Bor allem aber müffe ich auf die Buchhändler felbft 
zu wirken ſuchen; in diefen liege das eigentliche Uebel: fie wären zu 
träge und zu kleinlich, um bedeutende Unternehmungen von nationa= 
ler Bedeutung zu übernehmen. Cr ſelbſt habe grade jest den Plan, 
einen Verein für die Herausgabe der Quellenfchriftiteller unferer Ge⸗ 
Ihichte zu gründen, und wolle mir denfelben nächften® mitteilen. 

Frankfurt mit feinem fehr lebhaften, auf einen weiten Umkreis 
ausgedehnten Verkehr, mit feinen großen Lagern alter und neuer Bü⸗ 
cher und feinen betriebfamen, klugen und zum Theil jehr' gebildeten 
Geſchäftsmännern machte einen bedeutenden Eindrud auf Perthes, 
aber nicht ohne Beſorgnis fah er auf die Form des dortigen Gefchäfts. 
Alle hiefigen Handlungen, mit Ausnahme Barrentrapp'®, nehmen, 
Ihrieb er, lebhaften Antheil am Nachdruck; fie vertreiben nicht nur 


136 
den Nachdrud fremder Buchhändler, fondern die meiften von ihnen 
druden auch ſelbſt nad) und alle fegen von ihrem rechtmäßigen Verlag 
wohl das meifte durch Verbindungen mit fremden Nachdrudern ab, fo 
daß ihr gefamter Gejhäftdgang auf dad engite mit dem Nachdrud 
verflochten iſt. Faſt alle find daher meinen Anfichten entgegen. Uebri⸗ 


gens aber find e8 der großen Mehrzahl nach rechtliche ehrenwerthe 


Männer und. über ihren Handel muß man, wenn man nicht ungerecht 
fein will, fagen: Laͤndlich, fittlih. | 

Die Wärme und der Eifer, mit welchem die damals in Franf- 
furt verfammelten Staatdmänner die Angelegenheiten des Buchhan- 
dels auffaßten, ift fehr bezeichnend für die in jenen Monaten politis 
fcher Unſchuld noch unter ihnen herrſchende Theilnahme an der deut- 
ſchen Nationalität und Einheit. Gegen den Nahdrud erflärten fi 
alle Bevollmächtigten an dem künftigen Bundestage auf das eifrigfte, 
perfönlich jelbft der bairifche und der würtembergifche Gefandte Graf 
Rechberg und Baron von Linden. Bedenklichkeiten wurden allerdings 
darüber laut, inwiefern es gerathen für die Regierungen fei, den Zu- 
fammenhang der deutfchen Literatur zu verftärfen und deren fchnelle 
und fichere Verbreitung über alte deutfchen Staaten zu fördern. Mir 
war, fchrieb Perthed, vor allem das Gefpräh mit Buchholz merf- 
würdig, weil e8 mich einen Blick in die Anfichten thun ließ, die mir 
‚in Wien entgegentreten.werden. Die von mir erftrebte Einheit des 
deutfchen Buchhandel® würde, meinte er, eine fehr gefährliche Waffe 
in der Hand der verderblichen Parteien werden und den fchädlichften 
Meinungen eine allgemeine Berbreitung auch in den Ländern fichern, 
wohin ‚fie bisher noch nicht gedrungen fein. Ganz ähnlich ſprach 
Ehriftian Schloifer au, dag er jede enge literarifche Verbindung des 
füdlih » fatholifchen mit dem nördlich- proteftantifchen Deutfchland für 
ein Unglüd halten müſſe; denn die Folge derfelben würde verftärf- 
ter Einfluß der fanatifch- proteftantifch-demofratifchen Partei auf da? 
ſüdliche Deutfchland fein. Schlegel dagegen flimmte meinen Anfid 
ten bei, fürchtete aber, daß ich in Deftreih auf großen Widerftand, 
weniger bei der Regierung als bei der Mehrzahl der Buchhändler, 
ftogen würde. In Deftreih, fagte er, lefe man nur wenige Bücher 


137 


und ein fefterer Gefchmad fei davon die Folge. Die Nachdruder hät- 
ten daher einen fiheren Anhalt für ihrd Unternehmungeu und würden 
ſich den großen Gewinn, den fie aus ihrer ifolierten Lage zögen, nicht 
durch eine enge Verbindung mit dem deutfchen Gejamtbuchhandel 
entziehen lafjen wollen. Sehr .begierig war ich nach diefen Vorgän⸗ 
gen, fehrieb Perthes weiter, auf die Aufnahme, die ich bei dem öftrei- 
chiſchen Gefandten felbft finden würde. Graf Buol hörte mich auf- 
merffam an und antwortete nach einer kleinen Paufe: Wenn die von 
Ihnen angegebenen Thatſachen ihre innere Richtigkeit haben ind Sie 
in Wien vermögen, die ganze Angelegenheit fo Flar wie jept mir dar» 
zuftellen,,. jo kann Ihnen vieles gelingen. In jeden alle thun Sie 
fehr gut, nad Wien zu gehen; denn was aud hier der Bundestag 
audfprechen mag, Wien .ift doch allein der Ort, wo es zur Wirklich 
feit gebracht werden fann. Sie werden in Wien gut aufgenommen 
werden und ich felbjt werde mir eine Freude daraus machen, dazu 
beizutragen. Da wir in Deftreidh doch glauben, da8 Wahre und Rich 
tige zu bejigen, fo müſſen wir fünftig auch mehr als bisher Gelegen- 
heit geben, daß es aus unferem Lande herausgefprochen und gefchrie- 
ben werden fünne, und dürfen und nicht allzu fehr vor den SIrrthümern 
ſcheuen, die etwa hineingeſchrieben werden könnten. 
Bon Frankfurt bis Ulm durchreifte Perthes ein ihm ald Budh- 
händler ſehr wohl bekanntes Land. Die bedeutenden und mit ein- 
ſichtsvoller Thätigkeit geleiteten Handlungen von Leske in Darmitadt, 
Mohr und Winter in Heidelberg und Cotta in Stuttgart hielten Hefe 
jen, Baden und Würtemberg mit dem übrigen Deutichland in fo 
engem literarifchen Zufammenhang, daß felbit der räuberifch betrie- 
bene Nachdruck Würtembergs ihn nicht zu zerftören vermochte. Cotta’? 
Geſchäft vor allem ſetzte Perthes durch feinen Umfang in Erftaunen. 
Cotta übt, fehrieb er, einen unglaublichen Einfluß, einen Einfluß, 
deifen ganze Größe wenige ahnen. Wie die Allgemeine Zeitung die 
politifchen Stimmungen in Deutſchland und die europäifchen Anfich- 
ten über Deutjchland jehr wefentlich mit beftimmt, fo foll jebt das 
Morgenblatt alle nicht politifchen Geijtesintereffen in feinen Bereich. 
ziehen; die ganze geiftige Welt möchte Cotta buchhändlerifch umhalſen. 


138 


In feiner perfönlichen Bedeutung, in feiner Zähigfeit, feinem großen 
Reichthum und politifchen Einfluß liegt wohl die Möglichkeit gegeben, 
daß der Buchhandel des füdmeftlichen Deutſchlands in eine einzige . 
Hand fommen und dadurch die Unbefangenheit des literarifchen Urs 
theils, die Rebendigfeit des Verkehrs und die Wirkſamkeit des Bertrie- 
bed geſtört werden könnte. 

In Augsburg traf Perthes überall auf durchaus fremdartige Ders 
bältniffe. Hier fieht es, fchrieb er, wunderfam und abenteuerlich bei 
unfern Collegen aus: Augsburg ift eine Büchermelt für ſich und ift 
es fchon feit vielen Jahren geweſen; ich hatte viel Abfonderliches er- 
wartet, aber alle meine Erwartungen find weit übertroffen. Schon 
die Geichäftdabgrenzung der vielen und großen Handlungen gegen- 
einander ift überaus eigenthümlih. Da gibt ed „lateinifche Hand- 
lungen“, die nur kirchliche, urfprünglih wohl nur in lateinifcher 
Sprache gefchriebene Werfe, und „proteftantifhe Handlungen“, die 
auch Werfe verlaufen, welche außerhalb Augsburg gedrudt find, es 
gibt Handlungen, die nur außerhalb Augsburg verfaufen oder, wie 
e3 bier heißt, den Landhandel treiben, dann hört man von Bücher- 
ejeln, d. h. Antiquaren, reden, von Apoftelhandlungen und von vie 
len Heiligen» und Apoftelfabricanten. Der Abſatz aller diefer Hand⸗ 
lungen ift fo unglaublich groß, daß, wenn man nur die Bändezahl in 
Betracht zieht, nicht im entfernteften irgend eine andere Stadt Deutfch- 
lands mit Augsburg verglichen werden kann. Laß Dir den Gefchäftd- 
betrieb einer einzelnen Handlung erzählen. An der Spike der gro- 
gen Handlung: Matthias Rieger's Erben, fteht ein fehr kluger, ein- 
fiht3voller, braver Mann; fie verkaufen in Augsburg gar nicht, ha- 
ben daher auch feinen Laden; ftille hinter großen eifernen Gittern ars 
beiten fieben Gehilfen, in Augsburg geboren und erzogen, geblieben 
und verheirathet, zwei Reifende aber durchziehen Winter und Som⸗ 
mer Oberjchwaben, die Rheingegenden bis Köln, ganz Baiern, die 
Schweiz und Tirol bis Bogen. An diefe Reifenden hat fi ihr Pu- 
blicum fo gewöhnt, daß alle Beftellungen nicht allein auf Bücher, 
fondern auch auf Kunftfahen, Bilder, Papier, Leinen, Schmud, 
kurz auf alles mögliche Augsburger Gut bi zu deren Ankunft aufge- 


139 


hoben werben. Sährli im September oder October wird ein Katar 
log neuer und älterer Bücher gedrudt und in dritthalbtaufend Erem- 
plaren verbreitet. Die beftellten Bücher werden den Beſtellern frei 
ind Haus geſchickt. Früher hatte die Handlung einen fehr bedeuten- 
den Verkehr mit Jtalien, namentlih mit Venedig, wo fie ihre Bücher 
gegen Ausgaben der Kirchenväter und ähnlicher Schriften vertaufchten. 
est können fie Werke diefer Art nicht mehr gebrauchen, mit Geld 
aber wollen die Staliäner nicht bezahlen, und fo hat der Berfehr faft 
ganz aufgehört. Bid zu den franzöfifhen Kriegen konnte die Hand⸗ 
lung feſt darauf rechnen, von jedem Buche, welches fie drudte, mochte 
ed zwei oder fünfzig Gulden foften, fünfhundert Eremplare an die 
Klöfter und an die Geiftlihen zu verfaufen. Die zweite Handlung, 
die ich mir befah, war die von Joſeph Wolf: fie befteht weit über 
hundert Jahre und hat einen fehr bedeutenden Verlag theild größer 
rer katholiſcher Werke, theild allgemein verbreiteter Volksſchriften; der 
Himmeldweg für rechtfchaffene Weibsleute z. B. wird jedes Jahr in 
dritthalbtaufend Eremplaren, manche andere Schrift der Art in tau⸗ 
fend und in achthundert Gremplaren neu gedrudt. Mit Leipzig fteht 
der Beſitzer bis jegt in gar feiner Verbindung. Schon aus der Be- 
kanntſchaft mit diefen beiden Häufern konnte ich lernen, wie die Sache 
jest in Augsburg fteht, und ich habe meine Anficht durch die Gefprä- 
Ge mit andern Augsburger Buchhaͤndlern beftätigt gefunden. Die 
Augsburger Handlungen hatten bi? in die neuefte Zeit nicht nöthig, 
ih an dem Buchhandel des übrigen Deutfchlands zu betheiligen und 
die hiermit verbundenen Gefahren und Unbequemlichfeiten zu über« 
nehmen. Sie wurden fo mohlhabend wie feiner unter und, indem 
fie größere kirchliche Werke an die Klöfter und hohe Geiftlichkeit, 
fleinere religiöfe Schriften an Bauern und Bürger in einem weiten 
Umfreife abfesten. Das alles ift nun vergangen: die Klöfter find _ 
aufgehoben, die Geiftlichen verarmt, Bürger und Bauer wollen nicht 
mehr, wie früher, die dargebotenen Schriften lefen; hier und da ift 
ein eigentlich literariſches Bedürfnis erwacht. Alle Handlungen, auch 
die größten, fühlen Die Nothwendigfeit, in den allgemeinen deutfchen 
Buchhandel einzugehen, „proteftantifhe Handlungen” zu werden ; 


140 


aber fie können ſich noch nicht entfchließen, von der alten Gemaͤchlich⸗ 
feit zu ſcheiden. Daher haben die Handlungen in Ulm, Nürnberg 
und Erlangen vorläufig bedeutende Gefchäftsverbindungen in diefer 
Gegend, da® aber wird bald.anderd werden. Binnen kurzer Zeit 
gehört Augsburg gewiß dem deutfchen Buchhandel an und wird dann 
von großer Bedentung fein; feit langer Zeit ift.man weit umher ge- 
wöhnt, viel Geld für Bücher auszugeben, wenn auch nicht für die 
rechten. | 

Nachdem Perthed während feines Aufenthaltes i in Wien aud ein 
Bild der öſtreichiſchen Zuftände gewonnen hatte, fchloß er feine Be- 
richte an Beller mit den Worten: Für mich habe ich vieles, fehr vieles 
gelernt und mandes Samentorn habe ich hier in Wien und aud an 
andern Orten audgeftreut ; ob und wann aber daraus eine Saat auf- 
gehen wird; weiß Gott. 


Biertes Bub. 


— — — 


Perthes' brieflicher Verkehr über die politiſchen 

und religiöſen Fragen 

von der Zeit des Wartburgsfeſtes bis zur Zeit der europäis 
ſchen Congrefie in Troppau und Laibach. 


1817 — 1822. 


Die Bewegungen im Bolte bis zn den Karlsbader Beſchlüſſen 
im Spätfommer 1819. 





Kurz vor Perthes’ Rückkehr nach Hamburg hatte Beſſer ihm die 
Worte gefehrieben: Du bift ausgezogen, Deutfchland zu fuchen, und 
Du haft es, fcheint mir, nicht gefunden. — Ungefähr fo war ed 
wirklich. Am Rhein, in Würtemberg, in Baiern und in Oeſtreich 
hatte Perthes zwar an Sinnedart und Sitte viel Deutſches und auch 
den Wunfch nach einem mächtigen und glänzenden Deutfchland getrof- 
fen, aber zugleich fehr deutlich bemerken können, daß der Süddeutfche 
die Unabhängigkeit und Abgefchloffenheit Badend und Würtembergß, 
Baierns und Oeſtreichs nicht gefehmälert, die fouveränen Staaten, in 
denen er fich bewegte, nicht aus felbjtändigen Ganzen zu Gliedern 
eine® Ganzen gemacht, nicht dem einigen Deutfhland eingeordnet 
und einer deutfchen Gewalt untergeordnet wiffen wollte. 

Obgleich felbit in den kleineren Ländern die Norddeutfchen eben fo 
feft wie die Süddeutfchen an ihren Einzelftaaten hingen, fo waren fie 
doch damals diefer Anhänglichkeit fi) weniger bewußt und gingen, 
aud wohl ohne ed zu willen, von der Vorausſetzung aud, daß ihnen, 
jelbjt bei der engften Verbindung mit den Süddeutfhen, da8 Ueber: 
gewicht nicht fehlen könne. Sie wollten ein glänzendes, feſtgeſchloſſe⸗ 
ned deutſches Neich und dachten mwenigftend vorläufig nicht daran, 
daß die Erreichung diefed Zieled den Einzelftaaten die Staatsnatur for 
fien werde. Heftiger und unruhiger noch als im Jahr 1814 trat feit 
1816 auf? neue in vielen Theilen des nördlichen Deutſchlands das 
Drängen nad) einem deutfchen Reiche unter denen hervor, die Damals 
jung waren oder ſich jung fühlten. 


144 

Perthes mußte zwar die Herftellung von Kaifer und Reich nad 
Rage der Dinge für eine Unmöglichkeit halten, aber er lebte der 
Meberzeugung,, daß.der Bundestag politifch verpflichtet fei, die Ein- 
heit Deutfchlands trog alles Widerftrebend der einzelnen Regierungen 
darzuftellen und zu verkörpern. Verwundern muß ich mich, fchrieb er 
um diefe Zeit an einen Freund in Preußen, daß Du in Deinen Be- 
trachtungen über die Deutfhen und deren Gefchichte nie das Wort 
Kaifer und Reich ausſprichſt. Worin hat dies feinen Grund? Ant- 
worte, die Hand auf? Herz, mein Freund! Einen ungeheuren Riß 
hat unfere Hiftorie erhalten, feitdem der Kaifer und verloren iſt. Als 
lerdings foll man, wie Du fohreibft, an den Verfaſſungen nicht brö- 
deln, fo wenig am Königsthron wie am Bauerngehöft. Aber an 
dem alten Kaiferthron, am heiligen Altar, daran ift fo lange gebrö- 
delt worden, bis der Thron zerbrochen und der Altar hörig geworden 
if. Das habt Ihr Ritter. nicht allein gelitten, fondern mit voll- 
draht. Soll nun das Bolt nicht zufehen, welche Majeftät für feine Ger 
famtheit man wieder aufbaue! Wir werden fünftig weder mora- 
liſch und hiſtoriſch, noch politifch ein Vaterland haben, wenn nicht 
die dee des Kaiferd auf den Bundestag und die Kraft des Kaifers 
auf das Bundeöheer übergeht. — Als Perthes in ähnlicher Weife ſich 
gegen Graf Friedrich Leopold Stolberg audgefprochen hatte, antwor- 
tete diefer: Die vaterländifchen fehönen Hoffnungen, die Sie auch 
jest noch feithalten, erfreuen mein Herz; Gott wolle fie erfüllen! 
Auf dem Bundedtage ruht mein Auge ınit mehr Wunfh ald Ber- 
trauen. Daß Deftreich die Kaiferfrone in dem Augenblick verſchmähte, 
in welchem ganz Europa, fo zu fagen, ihm diefelbe anbot, dafür 
wird e8 felbft, dafür wird ganz Deutfchland, ja ganz Europa büßen. 

Gleich ſtark wie die Einheit Dentſchlands befchäftigte die Frage 
nach der Form für die politifche Berechtigung der Unterthanen in den 
einzelnen Staaten die Gemüther der jungen und auch der alten Men- 
fhen jener Jahre. Heftiger und heftiger ertönte der Ruf nach der 
ſtändiſchen Vertretung, welche die Bundesacte verheigen hatte. Es iſt 
im Werfe, fchrieb Görred im Sommer 1817 an Perthes, den Bundes 
tag, wenn er wieder zufammenfommt, aus allen Theilen Deutich- 
lands mit Adreffen um endliche Ausführung des Artikels 13 zu befchi- 


. 145 


den. Der 18. October fol der Tag der Unterzeichnung gleichzeitig an 
allen Orten jein und bis dahin die Sache verſchwiegen bleiben. Ich 
weiß nicht, was aus unferem Baterlande werden foll; es ift alle® in⸗ 
nerlih gar zu wurmftidig, faul und feig und verträgt feine Kritif und 
weiß fein freied Wort zu achten und zu ſchätzen. Es kann nicht fcha- 
den, wenn die Maffe fih einmal rührt und ruft und ftampft und ei- 
nige Ungeduld laut werden läßt, damit die Regierungen erfahren, es 
jei den Leuten Ernft um die Sache. Auch dürfen wir den Bundestag, 
fo wenig er auch ift, nicht fallen laſſen; feine fchwächlichen Elemente 
bedürfen vor allem einen Rüdhalt gegen die Höfe und einen Rechtfer- 
tigungsgrund für Fräftigered Hervortreten. In Hamburg fönnten Sie 
die Unterzeichnungen wohl leiten und in Lübeck und Bremen anre⸗ 
gen. — ch habe nun, fehrieb Görres einige Monate fpäter, meinen 
anfänglichen Plan geändert; um feine Behörde zu übergehen, habe 
ich zunächft eine Adreffe an den König entiworfen. Sie ift hier in der 
Stadt allgemein unterfchrieben worden; dann habe ich fie Durch das 
ganze Land getrieben, und Dorf für Dorf bis auf zwanzig Stunden 
Entfernung ift beigetreten. In wenigen Tagen wird der Staatskanz⸗ 
ler hier anlangen; dann will ich fie ihm zuftellen und demnädhft die 
Adreſſe an den Bundestag in Umlauf fegen, Mir ift vor allem daran 
“gelegen, die Leute einmal einftimmig zu einem politifchen Werke zu- 
jammen zu bringen. | 

Bis zu den deutfchen Oftfeeprovinzen Rußlands reichten die Wel- 
len, welche die Bewegung in Deutfchland aufgeregt hatte, und riefen 
auch dort verwandte Stimmungen, wenn auch in anderer Geftalt, 
hervor. Bom Adel felbit find die wichtigen Verhandlungen über die 
- Aufhebung der Leibeigenfchaft ausgegangen, heißt e8 in einem Briefe, 
den Perthes im März 1817 aus Livland erhielt; fie befchäftigen alle 
Gemüther; auch die Widerwilligen unter meinen Standedgenoffen 
werden, wie ich hoffe, in nicht langer Zeit bemerken, daß der freie 
Mann in allen bürgerlichen Verhältniffen ein beflerer ift als der leib- 
eigene Sklave. Ich felbft bin bei der Sache in fehr hohem Mape be» 
theiligt, aber ich glaube feinen Berluft in meinen Einnahmen zu erlei- 
den, im ganzen wurde unfer Bauer immer gut behandelt und hatte 


ein eben fo reichliche® Leben, ald er ed in feinem neuen fünftigen Ber- 
perthed’ Leben. Tl. 4. Aufl. 10 


146 


haltni® nur haben kann. Für mein Einfommen kann es daher feinen 
Unterfchied machen, ob derfelbe Bauer als Leibeigener oder ald Pach- 
ter meine Güter bearbeitet. 

. Binnen wenigen Tagen erwartet man die Problication d der neuen 
Bauernverfaſſung, ſchrieb im Februar 1818 derſelbe Mann, und 
dann ift die Aufhebung der hiefigen Leibeigenfchaft mein erfted Ge- 
fhäft. Manches Jahr wird freilich noch verftreichen, bevor auch die 
Aufhebung der Seelenleibeigenfchaft erfolgen fann. — Die Bauern- 
verfaffung ift zwar, beißt e8 im Juni 1818, vom Kaifer beftätigt, _ 
aber wohl deshalb noch nicht publiciert, damit diefelbe in Livland wie 
in Efthland zugleich zur Anwendung kommen fann. Sn jeder der 
drei Oftfeepropinzen ift auf faiferlichen Befehl eine Commiſſion er- 
nannt, um die Provincialgefege zu fammeln und möglichit überein- 
fimmend zu bearbeiten. Wir leben bier in der freundlichen Hoff- 
nung, daß aus diefer Gefepgebung vielleicht eine conftitutionelle und 
fefte Beſtimmung der Rechte aller Stände hervorgehen werde. 

Das Kämpfen und Streiten jener Jahre fah Perthes ala die noth⸗ 
wendige Folge ded Ganges an, den die Geſchichte Deutſchlands ge 
nommen hatte. Cinnigdenfende und tüchtig rührfame Menfchen wer- 
den ſich, fehrieb er an Jacobi, gewiß immer wieder zufammenfinden; 
aber je unmittelbarer die Geſchichte das Aufeinanderfolgende zufam- 
“ mendrängt, um fo heftiger und allgemeiner wird der Streit fein. In 
anderen Epochen liegt die Verſchiedenheit der geiftigen Richtungen, des 
gefamten Denkens und Wollen? getrennt durch Jahrhunderte aus» 
einander; unfere Zeit aber hat das völlig Unvereinbare in den drei 
jebt gleichzeitig febenden Generationen vereinigt. Die ungeheuren Ges 
genfähe der Jahre 1750, 1789 und 1815 entbehren aller lebergänge 
und erfcheinen nicht ald ein Nacheinander , fondern als ein Nebenein- 
ander in den jet lebenden Menfchen, je nachdem diefelben Großväter, 
Väter oder Enkel find. Das muß wohl heftigen, fihroffen Streit 
geben, und wie würde es erft fein, wenn in unferer, mit unglaub» 
ficher Schnelligkeit alled Denken und Wollen umgejtaltenden Zeit mit 
ung zugleich Die zwei oder drei Generationen, welche zunaͤchſt auf und 
folgen werden, leben und kämpfen könnten! — Perthes fand das 
Daſein des Kampfes nicht nur erflärlich, fondern freute fich auch des 


147 


eifrigen Drängen? und Strebend. Du erwähnt, fehrieb er an You- 
que, wie ich Dir 1815 gejagt hätte: „Nun der äußere Kanıpf beftan- 
den ift, wird es erſt recht faure, ja auch bittere Arbeit geben; denn 
der Streit der Geifter wird beginnen.” Nun, glaubft Du, würde «8 
mir leid fein, Necht behalten zu haben. Keinesweges ift ed mir leid. 
Sieh, lieber Fouqué, hienieden foll der Menfch arbeiten, viel arbei- 
ten, in welcher Arbeit ed auch ſei; das ift Gottes Wille. Der Menſch 
bat mehr Zeit, ald er in bloßer Liebe und innerer Befchauung ver- 
brauchen fann. Darum: bete und arbeite; und Kampf und Streit ift 
auch eine Arbeit. Es reicht nicht aud, dag wir freunde und in Liebe 
die Hand geben; wollen wir und in Cchrift oder Ihat über Sein, . 
Leben, Treiben und Verhältniffe der Menfchen verftändigen, fo ftehen 
wir gegen einander, find verfchieden, müſſen ftreiten, kämpfen, bi® 
ein Ziel errungen. Auch. Du liebft ja nicht das ftille ſtehende Waſſer 
der Gleichgiltigkeit, den Sumpf der Rachgiebigfeit und Fügfamteit. 
Warum alfo betrübt fein über den Streit in diefer Zeit, wäre er au 
unter Freunden? Nie aber muß eine fchlechte oder unedle Waffe ge- 
braucht werden und immer fege man bei dem Gegner gerechte Waffe 
voraus und glaube, daß aud er dad Rechte und Gute wolle Nur 
dann erft, wenn man nad ruhiger Prüfung das Gegentheil weiß, 
ift der gerechte Eifer, der mit Schwert und Peitfche in offener Fehde 
die Lügner aud dem Heiligen treibt, Gott wohlgefällig. Das ift des 
rechtlichen Mannes rechtlicher Sinn. Unſer Volk ift feinem Inneren 
nad) ein noch fehr junges, in langen Zeiträumen erft zur Reife ge- 
deihended Volk, welches nach Stolberg's herrlihem Ausfpruch ala Herz 
Europa's die Erfüllung eines hohen und ſchweren Berufes zu feinem 
Ziele hat. Und eben deshalb ift unfere Gefchichte nicht ein Abge- 
ſchloſſenes, fondern fegt fih fort, und nichts Weltlich- Zeitliches aus 
unferer Urzeit oder Borzeit oder legtvergangenen Zeit darf mit flarrer 
Beharrlichkeit verhölzert, verfnöchert oder verfteinert werden; nur das 
Ehriftlih-Sittlihe beftehe und bleibe, weil es über aller Gefchichte 
fteht. — Durch ernfte und befonnene Männer ward Perthes indeflen 
auch daran erinnert, daß der Kampf nicht deshalb fehon, weil er 
Kampf fei, als lebendiged LXeben gelten könne, und dag nicht noth- 
wendig jeder Kampf zum Siege führe. 
10 * 


148 


Mag der Gang der Dinge noch fo glüdlich werden, fchrieb ihm 
im Sommer 1817 ein Freund, fo wird doch mancher heiße Wunfch 
der Zeit unerfüllt bleiben. Darüber kann ich mich ſchon deshalb trö- 
ften, weil nicht alle, was heftig erjtrebt wird, deshalb fchon das 
Befte oder auch nur das Gute if. Trogdem aber bleibt ed gewiß, daß, 
wenn wir in unferer Zeit nicht mehr wollten und wünfchten, als zu 
erreichen und beftimmt ift, auch das Erreichbare und vorenthalten 
bleiben würde. Auch ift die Kraft deshalb, weil ihr der Erfolg. 
fehlt, nicht nethiwendig verſchwendet; in anderen Richtungen als in 
den beabfichtigten kann fie gewirkt haben und am Ende doch noch den 
Punkt treffen, auf den es abgejehen war. Im Leben der einzelnen 
wie in den Schidfalen der Völker wird fich Leſſing's Spruch häufig 
bewähren, daß die grade Linie nicht immer die fürzefte iſt. Gleich 
den Juden wandern wir durch die Wüfte, um zu dem gelobten Lande 
zu gelangen, und bedürfen wie die Juden noch vieler Vorbereitungen 
und Reinigungen, damit die Freiheit auf der rechten Grundfäule ge- 
baut werde und in Züchtigfeit ded Sinned, in Liebe ded Gemüthes 
und in Klarheit der Einficht die Gewährleiftung ihrer Dauer erhalte. 

Wunſch und Streben war in jenen erften heftig bewegten Jah⸗ 
ren nach den Freiheitäfriegen nicht auf Verneinen und Zerftören,, fon- 
dern auf Schaffen und Herftellen gerichtet, und darin lag das Edle 
und Anziehende diefer Zeit. Ich Fenne, fehrieb Perthes, Fein de- 
mofratifched Streben in Deutfchland, aber wohl ein Drängen und 
Treiben nad) einer Ordnung für da8 Gefamtvaterland; man will den 
Erfag fehen und haben für die zerbrochenen alten Majeftäten: Kaifer 
und Kirche, man vertraut wohl den Anordnungen der Negenten, aber 
auch dem beften Negenten will man doch nicht ohne Necht gegenüber: 
ftehen. — Dbfchon jene Zeit nicht zerftören, fondern fchaffen wollte, 
wußte fie doch nicht, was gefchaffen und bergeftellt werden follte. 
Weil man die wirklichen Berhältniffe mehr unabfihtlih als ab- 
ſichtlich überſah, trug die ganze Richtung einen phantaftifchen und bei 
der Heftigfeit, mit welcher da® Unbeftimmte und deshalb Unerreich- 
bare gewollt wurde, und bei dem Hochmuthe, mit welchem viele auf 
ihre eigene politifche Einfiht und PVortrefflichkeit fahen, oft genug 
einen verrüdten Charakter. Das erfte Hervortreten der Burſchenſchaft 


149. 


und das phantaftifche Wartburgsfeſt von 1817, welches die Schlacht 
bei Leipzig und die Reformation in wunderlichfter Weife zu einer Feier 
verſchmolz, gab diefer Stimmung mit allen ihren edeln und allen 
ihren verkehrten Seiten einen treffenden Gefamtausdrud und mußte - 
wohl harte Beurtheilungen hervorrufen. Sch würde, heißt es in ei- 
nem Briefe an Perthes aus Berlin vom 29. November 1817, Ihnen 
fein Wort von dem Unfuge auf der Wartburg fagen, wenn ich Shnen 
nicht, was Sie nicht wiſſen können, mittheilen wollte, daß Richelieu 
bereit3 deshalb eine Note an unferem Hofe hat übergehen laſſen, und 
daß in jeder Stunde aud Moskau eine ähnliche mit voller Salbung 
— Sie feinen ja die Sprache dorther — erwartet Mird und daß 
Deftreich die vollfte Strenge gegen die Preſſe angelegt willen will. 
Auch von dem Beifte, durch. welchen Weimar in diefer Sache bis zum 
Schwindel und bis zum Schügen und Schäben der Frechheit getrie- 
ben ift, können Sie fich feine Vorftellung machen. Mir fällt Leſſing's 
Ausſpruch von dem Wirthe ein, der in feiner Kneipe die Leute fich ruhig 
prügeln und morden läßt. — Sie loben den Emft der Jugend, 
fchrieb um diefelbe Zeit Friedrich Leopold Stolberg an Perthes; ich 
möchte mich darüber, wie über fo vieled, mündlich mit Ihnen au?- 
Iprechen können. Lieber wünfchte ich an unferen Jünglingen fräftige 
Freudigfeit zu fehen; diefer frühe Ernft feheint mir eine wenig ver. 
heipende Nothreife. Wohl weiß ih, daß in einem Theile unjerer 
deutfchen Jugend von jenen herrlichen Zahren der Behauptung unfe- 
ter Yreiheit her ein guter, fehr edler Geift fich regt. Aber es ift 
doch nicht der natürliche Weg, daf ein Bolt von unten her, von der 
Jugend au? fol erleuchtet werden, und dag die Männer ſich wie Kin« 
ber begeifern. Auch die beften Sünglinge bedürfen des Rüdhaltes, 
des Beifpield, der Leitung. Und jept hören fie fo viel von ihrer Treff- 
lichkeit, daß ihnen die Köpfe leicht umgehen mögen. Wo e8 an Xelteften 
fehlt, da fehlt e8 der Jugend an Schuß gegen den Wind, wie jungen 
Bäumen, wo feine alten Stämme find. — Perthes indeſſen blieb. 
der Meinung, daß nach) Rage der Dinge dad Ziellofe, Unſichere und 
Phantaftifche nicht nur erflärlich , fondern wenigftend bei Jünglingen 
. und jungen Männern aud) verzeiblich ſei. Selbit an dem damaligen 
preußifchen Hauptinann von Plehwe, jenem tief aus dem Innern 


150 


aufgeregten Burfchenfchafter in Gardeuniform, fah er über die zu 
Tage liegenden Berfehrtheiten hinweg und nur in das ehrliche und 
warme Herz hinein. Daß Plehwe Eindrud auf Dich machen mußte, 
fhrieb er im October 1817, wußte ich wohl. Der innige unmittel- 
bare Bezug auf den Höchften, die einfache Anficht deffen, was hie- 
nieden ift, das ernfte, große Maß, mit welchem er die Menfchen mit, 
und die große Redlichkeit ded Innern, Died alles ift eine feltene Er- 
ſcheinung. Sch hatte ihn ſcharf in Prüfung genommen; ih weiß 
wohl, an welchen Seiten die Berfuhung zum Böfen fi ihm nahen 
fann, aber dennoch ift er mir wie ein wirklich Begeifterter vorge 
fommen. ’ 

Die Stimmung, wie fie in mandhen bedeutenden Männern ge= 
gen das Ende des Jahres 1818 lebte, drückt fich in einem Briefe auß, 
den Görres im December an Berthes fchrieb: Sie haben, mein lie 
ber hanfeatifcher Freund, gejehen, heißt es in demfelben, wie fi 
feit Ihrer lebten Zufchrift der feigfte und plumpefte Despotismus in 
meiner Adreßgefchichte benommen. So ſchwächlich und erregbar find 
diefe Leute! Der geringite Reiz, den man an fie bringt, erregt De- 
lirium und Krämpfe, und reizt man nit, fo verfallen fie gleich in 
Stumpffinn und Lethargie. Darum eben war der rheinifhe Mercur 
eine fo diätetifche Disciplin; jeden zweiten Tag reicht er ihnen eine 
Salbe, die nach Umftänden aus bitteren, erregenden, calmierenden, 
gelind eröffnenden oder Efel machenden Subftanzen zufammengefeßt 
war. Dadurch wurde das Gleichgewicht ziemlich erhalten, eine ge 
linde Trandfpiration befördert, Die zu große Erregbarkeit abgeftumpft 
und die Rebendgeifter wieder in einer beftändigen Uebung umgetrieben. 
Nach dreijährigem Stillfhweigen wollte id) wieder einmal durch Die 
Adrefie eine Leuchtlugel unter die Parteien werfen und ich fann nicht 
fügen, daß fie viel Erfreuliches beleuchtet hatte: Fürften, die in der 
Unglücksſchule ftudiert, aber gar nicht? begriffen haben, nicht ein- 
mal fo viel, daß fie ihre Würde in Acht zu nehmen wiflen, Minifter 
von gutem Willen, aber ohne Kraft, ohne Entſchiedenheit und 
Muth, eine höfiſche Oppofition, fchlecht weniger durch Anweſenheit 
von pofitiver Bosheit als durch die gänzliche Abweſenheit alles Gu- 
ten, dumm bis zur Beftialität, plump wie ein Rhinoceros, feig und 


151 


erbärmlich und unter aller Kritit von oben bis unten; eine demokra⸗ 
tifche Partei ohne Einheit und Zufammenwirken, ohne Standpunkt 
und Baſis, unthätig, jeder Jllufion nachlaufend, immer boffend, 
es werde alles über Nacht fih von felber machen, ohne Tact in den 
Führern, ohne Grundſatz, ohne Weltanficht, hochmüthig, eitel, Teicht- 
finnig, zerftreut und vergeplich, verworren und ewig ohne Refultat, 
fich felber widerfprechend , zugleich feig und anmaßend, ohne Haltung, 
NRahdrud und Ruhe. Das find die Herrlichkeiten diefer häflichen 
Zeit, wie man fie eben von einer Generation erwarten kann, die jede 
Eitelkeit und jede Demüthigung verfucht, die auf der Zinne ded Tem» 
pels geitanden und durch jeden Koth ſich hat durchichleifen laffen, die 
nur im Zerftören Talent gezeigt, im Bauen aber gänzliche Impotenz. 
Sie wird nichts fertig bringen als den Anfangspunkt von etwas 
Beflerem, wie die Juden, die, aus Aegypten audgezogen, vierzig Jahre 
in der Wüfte gelebt und das gelobte Land nicht gefehen. Es er- 
wächlt wirklich ein beſſeres Gefchlecht, von dem man ohne Leichtfinn 
und Selbſttäuſchung viel Gutes erwarten fann. Unter Zittern und 
Zagen ift nun, fügte Görred noch hinzu, die Univerfität in Bonn 
aufgethban. Sie kann viel Gutes bringen, wenn der Unfegen fie nicht 
trifft, der auf alles, was ſich von heute oder geftern her datiert, zu 
fallen pflegt. Arndt mit feinem Geifte der Zeit hätte beinahe einen 
Fluch auf fie noch im Mutterleibe herabgezogen; inzwifchen iſt die 
. Arme dem Unglüd doch glüdlich entgangen und liegt, ein ſchwaches 
Kindlein, in Baumwolle eingepadt. Mich haben fie zu groß oder 
zu klein in Geiftedlänge für fie gehalten, dagegen aber fonft allerlei 
mir angetragen, was ich audgefchlagen , weil ich auf eigenen Füßen 
ftehen und mich den Winden nicht Preis geben will, von denen man 
nicht weiß, von wannen fie fommen und wohin fie ziehen. 

Mit Recht gilt dad Yahr 1819 ala ein Wendepunkt in der Ge 
ſchichte Deutſchlands. Es offenbarte nicht nur den feindlichen Gegen- 
ſatz zwiſchen Obrigkeit und Untertbanen, fondern gab demfelben auch 
eine neue und gefährlichere Geſtalt. In wachjender Stärke trat die 
Meinung hervor, es fei das erftrebte Reue nur deshalb nicht erreicht, 
weil man dad beitehende Alte noch nicht vernichtet habe; eine große 
Zulunft werde ſchon von felbft fommen, fobald nur erft das Be⸗ 


152 


ftehende nicht mehr beftehe. Es gewann fomit da8 Streben, Beftehen- 
des au zerftören, mehr und mehr dad Uebergemicht über das Streben, 
Neues zu Schaffen; das innerfte Wefen der herrichenden Richtung wurde 
aus einem Pofitiven zu einem Negativen. Die Romantik der Freiheitd- 
friege verſchwand aus der politifchen Stimmung und machte dem Haſſe 
gegen die politifche Gefamtordnung, gegen die einzelnen Regierungen 
und gegen die Bundedverfammlung Pla. Die Zuneigung zu Ruß⸗ 
land und dem Kaifer Alerander verwandelte fich in Groll, das eben 
noch bitter angefeindete Frankreich wurde bald feiner Kammeroppofition 
wegen bewundert umd geliebt. Durd) die Preſſe, auf den Zurnplägen, 
in der Burfchenfchaft und in den Verhandlungen der neu eingeführten 
Stände machte fid) die veränderte Stimmung Luft und mehr ald eine 
Flugfchrift und mehr als. eine Berfammlung vertheidigte die Anwen- 
dung auch verbrecherifcher Mittel, fofern fie zur Befeitigung des Bes 
ftehenden geſchickt ſeien. Im füdmeftlihen Deutfchland wurden von 
den politifchen Führern bereits Berfuche gemacht, fich mit Handwerkern 
und Bauern in Verbindung zu ſetzen, um fie zu geeigneten Werkzeugen 
heranzuziehen. Man feheint im nördlichen Deutfchland nicht recht zu 
wiſſen und nicht recht zu glauben, fehrieb ein nahe befreundeter und 
fehr gut unterrichteter Mann im April 1819 an Perthes, daß im 
Großherzogthum Heilen, welches unter feinen 600,000 Einwohnern 
60,000 bewaffnete Landſturmleute hat, die fih ihre Waffen nicht mehr 
nehmen laffen, die Zügel nur noch formaliter in den Händen der Re- 
gierung find, deren Schwäche täglich fundbarer wird. Volksſchriften 
von entfchieden revolutionärer Tendenz circulieren in allen Dorfichaf- 
ten von Haus zu Haus und werden ſchon nach Kurheſſen, Naffau, 
Baden u. f. w. verbreitet. 

Mit ſchwerer Sorge für die Zukunft ftand mancher edle und be- 
deutende Mann diefen neuen, damals Liberalismus genannten, po- 
litifchen Bewegungen gegenüber. Sept werden aud Sie wohl zuge. 
ſtehen, fchrieb Graf Cajus Neventlow an Perthes, daß ich in den 
Jahren der ausgedehnteften Hoffnungen feine ganz fehl fehende Kaf« 
fandra gewefen bin. Welche unglüdlihe Misgeburt oder welche eini- 
germaßen leidliche Lage der Dinge aus dem Streite hervorgehen wird, 
weiß ich nicht und weiß wohl niemand. : Da mir nun aber einmal, 


153 


wie Sie fihreiben, etwas von der Tendenz, Echlimmes für die Zu- 
funft zu fehen, innewohnt, fo will ih Ihnen denn auch fagen, daß ich 
etwas früher oder etwas fpäter eine Revolution fürchte, welche fchlim- 
mer ift als alled, was wir bisher erlebt haben. Die in jo manchen 
Schriften zur Schau getragenen Robederhebungen der erbmonardifchen 
Form täufchen mich nicht; fie find wie die Ummidelungen in der Me- 
dicin, durch welche efelhafte Stoffe genießbar gemacht werden. Gleich 
‚heit ift der Hebel des Zeitalterd und Gleichheit wird alles verzehren 
über kurz oder lang. — Das ganze Streben dieſer Zeit, heißt es in 
einem Briefe von Friedrich Leopold Stolberg, it bemußt oder unbe- 
wußt auf politifche und religiöfe Zerrüttung gerichtet. Lange waren 
wir gedemüthigt. Da gedachten wir im Kriege an Gott und er er- 
barmte ſich unfer: fehnell aber vergaßen wir ihn, alles Dichten und 
Trachten war ohne Gott. Die Verhandlungen der Kammern in Mün⸗ 
hen, in Stuttgart, in Darmftadt tragen alle denfelben Charalter 
und erftreben ala höchites und letztes Ziel eine Verfaſſung, durch wel⸗ 
he Frankreich in Anardhie und Dedpotie gebracht worden if. Aus 
Teigheit laffen die Regierungen diefen Kobold der Zeit walten und 
wir werden, fürchte ich, aufs neue ein verzehrendes Läuterungsfeuer 
beftehen müſſen, bevor nach Jahren und wieder beijere Befinnung 
tommt. In Frankreich ift der Teufel nur mit ſchwachen Striden ges 


bunden ;— wird, wenn er ſich losreißt, Deutfchland ihm zujauchzen oder _ 


ihn bannen? Die gräßliche Möglichkeit liegt vor, daß und aus der 
= allgemeinen Verwirrung eine vollkommene Barbarei entſtehe. 
Auch Perthes war von tiefem Mistrauen gegen die lauten Wort⸗ 
führer des Jahres 1819 erfüllt. Den Weg, den Sie wählen, kann 
ich nicht für den richtigen halten, ſchrieb er einem Freunde, fondern 
glaube, daß bürgerliche Freiheit nur dann zu erlangen ift, wenn die 
Glieder ded Staat? weniger an fi als an das Ganze denken. Eine 
ſolche Gefinnung aber fann in der hriftlichen Welt nur aus der Des 
muth vor Gott hervorgehen. Berhält es fich in diefer Weife mit dem 
Streben, dem Leben und Treiben unferer Liheralen? Ich fage: Nein. 
In den jebigen Volksmännern waltet Unfrieden und Zwietracht, meil 
fie dem Geifte der Selbftfucht dienen, und biefer Geiſt ift, wie ich 
fürdte, der r Geift, welcher dem Liberalismus eigenthümlich ift. — 


154 


Würden Sie, fragte Perthes einen heftigen Oppofitiondmann, nicht 
eben fo giftig räfonnieren, wenn die Regierung dad Gegentheil von 
dem, was Sie jeßt angreifen, gethan hätte? Ohne Zweifel, antwor- 
tete mit größter Ruhe der Gefragte, und Perthes wußte nun freilich 
nicht? weiter zu fagen. 

Nicht in Verboten und Berfolgungen durch die Polizei, fondern 
nur in dem Streben, auf die Gefinnung tief im Innern unfered Vol⸗ 
kes zu wirken, fah Perthed den Meg zur Rettung uud wollte deshalb 
die beften geiftigen Kräfte der Nation zu einem Ringen mit dem Bö- 
fen. und Berkehrten verfammelt fehen. Der Boden, auf dem wir 
ſtehen, ift bi® zur oberften Rinde voll Feuers, fehrieb er im Sommer 
1819; wer fharfe Sinne hat, wittert den Dampf und fieht die Jun 
fen fprühen. Sept dürfen die Männer, die im Leben ftehen, die Gott 
fürchten und feine Ordnung ehren,. nicht zufehen, wie der Schaden 
täglich größer wird, als er fehon if. Sehr zu ihrem Nachtheile un⸗ 
terfcheidet fich unfere politifche Literatur von der Englands und Frank⸗ 
reichs dadurch, daß fie bei uns ausſchließlich in den Händen der Stu- 
bengelehrten if. Ein Damm ift hierdurch gezogen zwiſchen Schrift 
und Leben, zwiſchen Worten und Thaten, welcher, wenn nicht bald 
Abhilfe fommt, gewaltfam zerfprengt werden wird. Und dennod 
ſchweigen fo viele, die reden könnten und follten, oder jammern über 
die böfe Zeit nur, wenn niemand als Frau und Kind es hört, und 
fagen zu ihrer Entfchuldigung, daß die politifche Schriftftellerei über- 
haupt nicht wire; ungeachtet aller Schreiberei bleibe falt oder warın, 
wer einmal kalt oder warm fei. So reden nicht allein alte banfe- 
rotte Revolutionäre und bequeme und überfatte Diplomaten, die mit 
dem gemeinen Federvieh fich einzulaifen Furcht haben, fondern auch 
Männer von warmem Herzen und politifcher Erfahrung. Staatszei⸗ 
tungen und Staatöflugfchriften und Staatszeitungsartikel helfen frei» 
lich wenig und gießen, weil fie für beftellte und bezahlte Arbeit gelten, 
nur Del ind Feuer. Sollte e8 aber felbft in dieſen Augenbliden größ- 
ter Gefahr nicht möglich fein, die redlichen und tüchtigen Geſchäftsmän⸗ 
ner aus allen Ländern Deutfchlands zur Herausgabe einer politifchen 
Zeitfchrift zu vereinen, damit die bisher in der Literatur unvertretene 
Wirklichkeit zur Geltung gebracht werde? Noch etwas anderes frei- 


155 


lich müßten die Theilnehmer fehreiben koͤnnen, als den Noten⸗ und 
Protokollſtil, und weder ihrer Gefinnung noch ihren äußeren Berhält- 
niffen nach dürften fie nur Diener der Fürften und Minifter fein. 
Etwas der Art ift, wie ih höre, in Frankfurt im Werke; unter dem 
Namen „des Lootſen“ bereiten ſehr ehrenmwerthe und erfahrne Staats⸗ 
männer die Herausgabe einer politifchen Zeitfchrift vor, die bei Cotta 
erfcheinen fol. Kommt das Unternehmen zu Stande, fo haben alle, 
die es mit Deutfchland gut meinen, die Pflicht, dasſelbe in jeder 
Weiſe zu unterftägen und nicht nach der gewöhnlichen Weife den, der 
auf ihr Gefchrei das ſchwere und undanfbare Werk begonnen, gleich) 
nach dem Beginn allein zu laffen oder fich felbft durch Tadeln und Na» 
fenrümpfen den Schein noch größerer Weidheit zu geben. Gewinnen 
wir neben den Machwerken der Marktfchreier und der Stubengelchr- 
ten eine periodifche politifche Literatur redlicher, im Leben ftehender 
Männer, fo wird ein Kampf möglich, der nicht ohne Ausficht auf 
Sieg iſt. 

In der Ermordung Kotzebue's durch Sand am 23. März 1819 
trat allen erfennbar die Geftalt hervor, welche die Stimmung der 
Zeit in erhigten Köpfen anzunehmen vermöge. Heute ift, ſchrieb Per- 
thes, die Nachricht von Kotzebue's Ermordung eingetroffen und macht 
erftaunliche Bewegung in den Gemüthern. So wibderlich e8 ift, eine 
fo fhauderhafte Begebenheit mit der gemifchten Empfindung, welde - 
das Ende eined Scaramuz hervorruft, in ſich aufnehmen zu müllen, 
fo bedeutungsvoll ift fie als ſchwarzes Zeichen einer entfeplich aufge⸗ 
regten Zeit. Parteien, in Leidenfhaft bis zum Mord erregt, treten 
auf; große Misverſtändniſſe von beiden Seiten verfchleiern die Wahr- 
heit und Die geregelte Ordnung, die in Freiheit errungen werden fol. 
Kotzebue ftand da als Repräfentant einer Partei und als ein fehr ta- 
lentvoller; von der Furzfichtigen Jugend ward die Geftalt für Die 
Sache genommen und das Verbrechen war begangen. Thue die Aus 
gen auf und bleibe befonnen: bedenfe, wenn Arndt von einem Höf- 
ling oder einem Soldaten ermordet worden wäre, was hätte die wü⸗ 
thende Deutfchheit gefagt! — Das Grauenvolle der entjeglichen Be- 
gebenheit liegt mir darin, fehrieb er etwas fpäter, daß der Ausbruch 
eines frevelnden und felbft verfäguldeten Wahnſinns faft wie ein Durch 


156 


den Gang der Gefhhichte nothwendig gewordenes Ereignis erfcheint. 
Nicht der Abſcheu gegen den Mörder ift e8, den wir der vollbracdhten 
That gegenüber zuerft und vor allem fühlen folfen; darauf vielmehr 
fommt es an, daß wir alle, mögen Wir zur Obrigfeit oder zu den 
Unterthanen gehören, mit demüthigem Herzen in dem von Gott zu⸗ 
gelaffenen Morde eine lebte, mit gewaltiger Schrift gefchriebene War: 
nung Gottes erfennen, die und, nachdem alle milderen Mahnungen 
vergeblich gewefen find, die Augen aufthun foll über den gefamten 
Zuftand unfered Xebend, der eine folche Blutthat möglich machte, und 
über die Zukunft, der wir entgegengehen, wenn nicht eine volle und 
wahre politifche Wiedergeburt eintritt.. Die Keime zu neuen furdht: 
baren. Ereigniffen liegen in diefer That, die nur fheinbar Schuld ei⸗ 
ned einzelnen ift. Der einmal mit dem Dolche bewaffnete Fanatis- 
mus wird nicht bei dem Komödienſchreiber Halt machen. 

Nach ihren verfchiedenen Seiten bin faßten Briefe, welche Per⸗ 
the® im Sommer 1819 von mithandelnden Staatdmännern erhielt, 
die in der herrfchenden Stimmung liegenden Gefahren ind Auge. 
Mir fehen bier, beißt es in denfelben, von Monat zu Monat mit 
größerer Sorge auf die politifhen Richtungen hin, welche im Volke 
bervortreten. Der Haß gegen die eigenen Regierungen ift furchtbar 
gewachfen, wir find bereit in einem Zuftande, in welchem die ein- 
. ander gegenüberftehenden Parteien nicht nur fi nicht verftehen kön⸗ 
nen, ſondern auch fich nicht verftchen wollen. Ein finftere® Brüten 
über Gegenftände, welche dem nächſten Kreife ihres Thund und Trei⸗ 
bens ferne liegen, hat fi der Deutfchen bemädhtigt. Kotzebue's Er- 
mordung ift wie eine aus vulcanifhem Boden bervorgeichlagene 
Flamme; die Flamme ift zu löfchen, aber das Feuermeer tief im In⸗ 
nern bleibt. Die Urtheile über die furchtbare That find entfeglicher 
ald die That, und machen die Hoffnung zu Schanden, daf die Stim- 
mung, welde das Ereignid möglich werden ließ, nur in einem klei⸗ 
nen eraltierten Studentenkreife zu Haufe fei. Die einzelnen Schuldigen 
kann man und foll man nach der vollen Strenge des Geſetzes ſtrafen; 
wollte man aber ein Schreckensſyſtem durchzuführen verfuchen, fo 
würden die Gefahren der drohenden Revolution nur vervielfältigt 
werden; an der Stelle jedes abgehauenen Schlangenfopfes würden 


157 


zwei neue Köpfe hervorwachſen. Die Deutfchen haben das tiefſte Des 
dürfnis nach Gegenftänden gemeinfamer Liebe, gemeinfamer Achtung 
und gemeinfamer Hoffnung, und dieſes Bedürfnid hat auch nach dem 
Siege über Frankreich feine Befriedigung erhalten. Der Sieger viel- 
mehr fieht den Befiegten im Befiß großer nationaler Güter, fieht ihn 
als Volt geachtet und geehrt und fich felbft alled lebendigen politifchen 
Zuſammenhanges und aller politifchen Bedeutung beraubt. So find 
die Deutfchen zu dem Glauben gelangt, ſtatt Gegenftände gemeinja- 
mer Liebe nur Gegenftände gemeinfamen Haſſes zu haben. Keine 
Anftrengung und feine Gewalt der Regierung ift im Stande, einer 
folhen Stimmung gegenüber den politifchen Zuftand für die Dauer 
zu erhalten. Wir find verloren oder ed muß gelingen, die Nation 
dahin zu ‚bringen, ſich des Beftehenden zu freuen. | 
Während die Deutfchen in Deutſchland fih in Unzufriedenheit 
verzehrten, langen von Deutfchen aus fernen Ländern mande Rufe 
tiefer Sehnſucht nach dem lieben Vaterland hinüber. Obſchon ich, 
Ichrieb aus Kurland ein Deutfcher an Perthed, mit allen meinen per- 
ſoͤnlichen Berhältniffen alle Urfache habe fehr zufrieden zu fein, zieht 
mich die Sehnfurht doch ‚oft recht fehmerzlich nach meiner geiftigen Hei- 
mat. Wohl befteht manches höchſt Schöne und Würdige hier bei und 
und felbft im falten Petersburg; es fehlt und wirklich nicht? als war⸗ 
me Luft und warmes Leben: aber, ah, Wärme ift fo ſchön! — Hier 
auf meinern am Oftfeeftrande belegenen Gute, heißt es ein andereö- 
mal, wo id) zum Seebade ein paar Wochen verweile und täglich eine 
Menge Schiffe vorüberziehen fehe, hier am weiten freien Meere ift 
der rechte Ort, um meine Klagen auszuſprechen, daß felbft das gei- 
ftige Gut des lieben deutfchen Lahdes, welches die See auf ihrem 
Rücken herüber trägt, in unferen Häfen zur Waare wird. Zollwär- 
ter benagen es und die Civilverwaltung durchräuchert es, wie wenn 
das gelbe Fieber in den Bücherpaden wäre; Bücher follen und nichts 
bringen ald Lobfprüche und Dankfagungen für Rußland. Ihre letzte 
Sendung ift wohl glüdlich gelandet, aber was hilft dad! Die eine 
Hälfte habe ich glüdlich in meine Gewalt befommen, aber die andere 
‚Hälfte ift nah Mitau zum Eivilgouvernement abgegangen, fo daß 
3. B. vom Converfationdlerifon ich die legte Hälfte habe und das Ci⸗ 


—8ß 


vilgouvernement die erſte Hälfte; dieſe nun muß ich von den Beamten 
zu negotiieren, d. h. hier: zu erkaufen ſuchen. Unſere Cenſuredicte ſind 
ſchon gut in der Ferne, aber in der Nähe fieht man die Wunden, 
welche das böfe Leben jchlägt. Wenn ih vom Auslande her die Fort- 
fhritte der Eultur, die unfer Rorden macht, warm preifen höre, freut 
fi) mein Herz; aber fehe ich an Drt und Stelle meine zerfplitterten 
Bücher, fo erfältet fih an der falten Wirklichkeit meine freude. An 
unferem Staate fann jeder e8 lernen, daß der Civildienft nicht weni- 
‚ger ald der Militärdienft des Principes der Ehre bedarf; ohne Ehre 
in den Beamten geht alled zu Grunde, und Recht und Geſetz wird 
zur Kabel. Celbft mit dem beiten und ftärfften Willen kann die 
höchfte Staatögewalt das nicht-fchaffen, was mit Ehre in der Bruft 
fih von felbft macht. — Der Schreiber diefer Zeilen hatte feinem 
Briefe die Entfchuldigung ded Beamten, welcher das Bücherweſen be- 
forgte, im Original beigelegt. Euer .... find die Schwierigkeiten 
binlänglich befannt, heißt es in demfelben, welchen das Einbringen 
von Büchern unterworfen ift, bemerken muß ich aber, daß Eure... 
felbft daran ſchuld find, wenn ed nicht beifer mit der legten Sendung 
gegangen ift. Hätten mic) Diefelben früher dDiefermegen benachrichtigt, 
um die gehörigen Einleitungen treffen zu können, fo würde jede Un⸗ 
annehmlichkeit zu vermeiden gewefen fein. Unter fo bewandten Um- 
ftänden aber ift da®, was ich gethan habe, alle®, was mir zu leiften 
möglich war, und wenn die Herren des Civilgouvernements für ihre 
Gefälligkeit ſich ald Gegengefälligfeit das Durchlefen einiger Bücher 
vorbehielten, fo halte ich das nicht für unbillig. Die gehabten Aus- 
gaben berechne ich gelegentlih. — Nun habe ich mich mit dem Zoll 
arrangiert, ſchrieb Perthes’ Freud etwas fpäter, und werde fünftig 
die gefendeten Bücher fchon unverfehrt herausholen. 

Je länger ich hier bin, um fo mehr Sehne ich mich nad) der Hei- 
mat, fhrieb eine in dem erften Kreife London? lebende Frau an Per⸗ 
thed. An der Seite meined Mannes, bei meinem Kinde, in meinem 
Haufe fühle ich mich wohl, aber England ift und bleibt" mir fremd. 
Merkwürdig ift dad Land, aber liebendwärdig nicht: die Frauen find 
fo wenig oder doch fo einfeitig gebildet, daß man feine Freude an 
ihrem Umgange hat, und mitten in dem Gewühle der großen Welt 


159 


fühle ich mich einfam. Wie fehr England in allem, was Bildung 
und Erziehung betrifft, zurüditeht, glaubt niemand, der es nicht felbft 
gefehen hat. Biel körmten die Engländer von und lernen, und die 
deutfche Mutter, die gezwungen ift, bier ihre Kinder zu erziehen, ift 
fehr zu bedauern. Im Volke fehlt ungeachtet des vielen Redend vom 
Ehriftenthume das religiöfe Clement in erfehredendem Grade; von 
den Geiftlichen lebt eine große Zahl gar nicht in ihren Gemeinden, 
fondern läßt fih durch Vicare vertreten, die Sonntags ihre Gebete 
halten und fonft fi) um wenig fümmern. Es ift faft unbegreiflich, 
wie man in manchen Dingen fo weit und in anderen fo zurüd fein 
fann, wie die Engländer. Wenn ich in das liebe Vaterland zurüd- 
fehre, fo werde ich mehr deutfch fein ald vor meinem Aufenthalte 
in London — darauf verlaffen Sie fih. — Geſetzliche Freiheit und 
politifche Sicherheit genießen wir vielleicht in höherem Grade ale 
Deutſchland, heißt e8 in einem Briefe an Perthed aus Schweden. Der 
König ift geliebt, will wahrhaft das Befte und befept oft gegen den 
ganzen Staatsrath die erledigten Aemter mit den tüchtigften Män- 
nern. Der Kronprinz gibt große Hoffnungen und ift fo allgemein 
geehrt, daß der Vater felbft zumeilen darüber eiferfüchtig wird, ob- 
gleich er nicht ohne ihn leben kann, weil er ihn außerordentlich Tiebt. 
Das Land arbeitet fih nach allen Seiten bin allmählih in die Höhe 
und namentlich der Aderbau hat feit einigen Jahren große Fortfchritte 
gemacht; große Streden werden jedes Jahr in urbared Land umge- 
wandelt. Nur der Geldmangel ift außerordentlich drüdend und die 
Cireulation bei dem Fehlen großer Städte fehr befchräntt. Diefes 
und das auffallende Misverhältnis zwifchen Confumenten und Pros 
ducenten hindert das fchnelle Aufwachfen des Landes; denn geiftig 
erweckt ift e8, aber die vorhandenen alten ftaatswirthfchaftlichen Feh⸗ 
ler ſchnell zu verbeffern, geht nicht Teicht unter der beftehenden Staate- 
berfaffung. Denn jede Veränderung muß nothwendig gegen das In- 
terefle de® einen oder des andern der vier Stände anftoßgen, durch 
welche das Land repräfentiert wird; der bedrohte Stand bietet dann 
alles auf, um noch einen zweiten auf feine Seite zu ztehen und Stim⸗ 
mengleichheit, die eine Aenderung unmöglih macht, hervorzurufen. 
Da indeffen die Nation ald Ganzes wirklich das Beflere will und der. 


160 ° 


Preife wenig in den Weg gelegt wird, fo arbeitet ſich das Gute ben- 
noch langfam aber fiher durch. Mir ift, wie Sie fehen, Schweden 
fieb und werth, aber wer auf deutfchem Boden und in deuticher Luft 
groß gezogen ift, kann Deutfchland nie vergeffen; überall wird er ein 
Fremder fein und fich überall nach lebendigem Zufammenhang mit 
der irdifchen Heimat feines Geifted fehnen. Hier aber erfahren wir 
von dem, was Deutfchland und die Welt bewegt, wenig oder nichts. 
Der Schwede hat nur ein Intereſſe für dad, was fein Vaterland be⸗ 
trifft; die wenigen auswärtigen Zeitungen, die zu und gelangen, kön⸗ 
nen fein Bild der Zeit geben, und deutfche, franzöjifche oder englifche 
Bücher ſich anzufhaffen, überfteigt bei unferem höchſt nachtheiligen 
Courſe und bei der Schwierigkeit ded Verkehrs alle Kräfte des Pri- 
vatmanned. — Die deutfche Nation, Regierungen ſowohl wie Bolf, 
ift Sypochonder geworden, heißt es in dem Briefe eined andern ent⸗ 
fernten Freundes. Ihr redet da drüben fo viel von Gefahr und Un⸗ 
tergang, daß Ihr aus Furcht vor dem Sterben wirklich fterben wer- 
det; fchafft Ihr Euch aber die Todesangft vom Leibe, fo feid Ihr ge- 
fund, fo weit der Menfch auf Erden e8 eben ift. Ihr habt fehr viel 
eingebildete Uebel und viel wirkliches Gute; weil Ihr aber Hypochon⸗ 
der feid, werdet Ihr Argerlih, wenn Euch jemand fagt: Lieber 
Freund, es fteht wirklich nicht fo fhlimm mit Dir. Seht nur ein- 
mal Franfreih an: dort ift viel wirkliches Webel und viel eingebilde- 
tes Gute, aber alle Welt ift doch fröhlih und guter Dinge in dem 
Iuftigen Bewußtfein, die große Nation zu fein. Könnte das deutfche 
Volk einmal die große Tour durch Europa machen, fo würde fie es 
nach ihrer Rückkehr doch ganz erträglich in den vier Pfählen finden. 


161 


Die Haltung der Regiernugen um die Zeit der Karlsbader 
Beſchlüſſe. 


Die größeren deutſchen Regierungen batten unmittelbar nad 
dem Kriege die Nothwendigkeit politifhen Schaffen? vielleicht nicht 
weniger lebhaft gefühlt, ala das junge, heftig erregte Gefchlecht. 
Mande Stellen aus den erften Reden am Bundedtage würden auch 
auf der Wartburg mit Subel aufgenommen worden fein. Die Re 
gierungen aber follten nicht reden, fondern handeln, und da dennoch 
auch fie nur die Nothwendigkeit, nicht den Gegenftand ded Schaffens 
erfannten, alfo zu handeln felbft bei dem beften Willen nicht vermoch⸗ 
ten, fo ließen fie bald auch dad Reden und erfchienen nım wie gleich 
giltig und theilnahmlo® mitten in der wilden Bewegung. Perthes 
theilte den allgemeinen Unmillen über die Thatlofigfeit der Regierun- 
gen und konnte ihn zu Zeiten in herben Worten ausfprechen. Bon 
oben muß gehandelt werben, fehrieb er einmal, wenn nicht die Ideen, 
die unten umberturnen, das Webergewicht erhalten follen, und den- 
noch wird von oben ohne einen neuen ftarfen Anſtoß ficher nicht? ge- 
fchehen. Das Erfcheinen der consideralions sur la revolution von 
Frau von Stael hat wirflih fein Guted. Die Fürſten werden das 
geiftreiche Wert lefen, weil e8 in ihrer Salonfpradde und Salonmanier 
gefchrieben ift. Wenn fie fehen, wie dad Mordbeil der Revolution 
über dem Haupt des Königs hing, fo werden fie, weil fie die Gut⸗ 
berzigfeit der Deutfchen nicht fennen, mit Angft und Zittern den Sturm 
auch gegen ihre Throne braufen hören. Nun vielleicht drängt, wo 
fein anderer Beweggrund hilft, die Angft zum Handeln. Auch Stef- 
fens' Schrift über die gegenwärtige Zeit fol gut und tüchtig fein; 
ih aber fann fie nicht leſen: fie ift mir zu wortreich und abſatzlos. So 
eine unendliche Wendeltreppe ohne Ausruher läßt den geiftigen Athem 
mir bald audgehen. 

Auch für die Haltung der Regierungen war das Jahr 1819 ein 
Wendepuntt. Hatten fie unmittelbar nad) dem Kriege nicht? gefchaf- 


erthed’ Leben. 11. 4. Aufl. , 11 


162 


fen, weil fie nicht? zu fchaffen wußten, fo fehufen fie nun auch des⸗ 
halb nichts, weil fie nicht fchaffen wollten. Ihr früheres Nichtkön⸗ 
nen war zugleich ein Richtiwollen geworden. Conſerviert follten nicht 
nur die Zuftände und Einrichtungen werden, welche Die innere Trieb- 
fraft unferer Nationalität und unferer Gefchichte hervorgerufen, ſon⸗ 
dern auch alle jene Zufälligfeiten und Willfürlichkeiten, welche der. 
matte Strom der lebten inhaltlofen Sahrhunderte an feinen Ufern 
abgejeßt hatte. Der ſchon durch das Wartburgöfeft gegen jeden politi⸗ 
ſchen Gegner heftig aufgeregte Argwohn der Regierungen ſah ſich nicht 
ungern zum fehroffen Handeln gedrängt, nachdem die’ europäiichen 
Mächte im Herbfte 1818 in Aachen zufammengetreten waren. Sehr 
allgemeine Anerkennung fand zwar der Aachener Congreß, als er die 
baierifhen Verſuche, einen Theil Baden? an fich zu bringen, vereitelte 
und dad Zuſammenbleiben ded Großherzogthums, jo wie die Erb» 
folge der Grafen Hochberg feſtſtellte. — Wir haben hier im kleinen 
ein ganzes Geſchichtsſchauſpiel durchgemacht, fchrieb an Perthes ein 
Staatsmann in bedeutender Stellung Anfang 1819. Baden und die 
Nuhe von Süddeutſchland ftand auf dem Spiele. Dem Audgange 
: dankt Baden feine Berfaffungdurfunde und Deutfchland hat erlangt, 
daß wenigſtens Einer feiner Staaten fich ganz dem Bundesverhältnifie 
bingibt, Bortrefflih benahm fih der König von Würtemberg, Hug 
und fräftig als edelgefinnter Nachbar; fein Auftreten und Baden? 
Landesbewaffnung hieft Batern von dem beabfichtigten Gewaltſchritte 
ab und auf dem Eongrefje in Yachen wurde man bereitwillig, denen 
zu helfen, die fich ſelbſt zu helfen befchloffen hatten. Die Sache naht 
jebt ihrem völligen Ende und Baden wird nichts verlieren. Der Tod 
des Großherzogs, wäre er früher erfolgt, hätte ohne allen Zweifel 
den Ausgang fehr geändert; fein Leben erftredte ſich grade fo weit, 
um fein Land während der gefährlichen Conjuncturen mit feinem 
Rechte, feinem Namen und felbft mit feiner Krankheit und deren tie- 
fem Eindrude auf die Gemüther der Monarchen zu deden. Den Ge- 
rüchten, daß er vergiftet worden, feheint fchon diefer Umſtand zu wi⸗ 
derfprechen ; folch ſchwarzes Verbrechen, unferer Zeit und Sitte fremd, 
. wäre beffer berechnet worden. Der jebige Großherzog wird das ge⸗ 
rettete Land unfehlbar zu großem Gedeihen fördern und friſches Leben 


163 


wird ſich in der fländifchen Verfaffung entwiceln. Deutfchland ift 
den Mächten, die in Aachen verfammelt waren, zu großem Danfe 
verpflichtet. | 

Adgefehen aber von diefem einzelnen VBerhältniffe, wurden Die 
fehr geheim gehaltenen Verhandlungen des Congreſſes mit großem 
Mistrauen betrachtet. Vereinigt ftellen ſich, fchrieb damals Perthes, 
die europäifchen Fürften den noch zwifchen Schlafen und Wachen lie 
genden Nationen gegenüber und wollen ald Großfchneidermeifter den- 
felben das Kleid anmeffen, das fie tragen follen. Regiert freilich müf- 
fen wir werden und Monarchen und Fürften müffen wir haben, aber 
leibeigen brauchen wir deshalb doch nicht zu fein. — Lebhaft Tpricht 
ſich das Gereiste der Stimmung jener Monate in einem Briefe aus, 
den Perthed Ende December 1818 empfing. In Weimar kam ich, 
heißt es in demſelben, diefegmal mit Kaifer Alerander wie vor zwölf 
Fahren mit Kaifer Napoleon in Collifion. Ich fand alle Gemüther 
faft eben fo wie damald in Unruhe und Aufregung ; felbft Goethe 
redete von nichts als von. der Madferade, in welcher er den hohen 
Herrfchaften feine eigenen vorzüglichften Dichtungen perfonificiert vor- 
führen wollte. Bor zwölf Jahren hatte Napoleon große Eile, aber 
er fam von Parid, ging, ich weiß nicht wohin, und hatte in feinem 
Gefolge Anige hundert Kanonen. Große Eile hatte jet auch Ale 
gander, aber er fam — von Aachen, ging — nad) Peterdburg und 
hatte als Gefolge einige zwanzig Wagen voll fimpler und vornehmer 
Lakaien theild mit fpigen theil® mit ftumpfen Nafen. Es ſcheint 
doch wirklich felbft zwiſchen Kaifern noch ein Unterfchied zu fein. Das 
willen die Herren Lieutenants auch; über alle Maßen habe ih in Er- 
furt von den Officieren auf Napoleon fehimpfen hören. Solches 
fommt mir, nachdem derfelbe auf St. Helena refidiert, vor wie Blu» 
menbach's zornige Ereiferung über die ſchändliche Gefinnung der Skor⸗ 
pione, wenn er felbige in Spiritus eingemadht feinen Zuhörern vor⸗ 
zeigt. — Unleugbar hat der Hachener Eongreß, fehrieb im Frühjahr 
1819 ein feharfblidender Staatemann an Perthed, die früher allge- 
mein verbreiteten Anfichten über Frankreich und über Rußland grade- 
zu umgekehrt. Jedermann ift der Meinung, daß man in Aachen viel 
Verkehrtes ziemlich einträchtig gewollt und vorbereitet habe, und jeder- 

11 * 





% 


164 


mann glaubt, daß das in Aachen Vorbereitete innerhalb und außer- 
bald Deutfchland ſchon jept zur Ausführung gelommen fein würde, 
wenn die gleich nachher beabfichtigte Minifterialveränderung in Frank⸗ 
veich geglüdt wäre. Weit und breit hat ſich daher im Bolfe die Mei- 
nung verbreitet, daß Deutfchland durch die liberale Partei Frankreichs. 
gegen feine eigenen Fürften gefchüpt und Frankreich dafür zu großem 
Danke verpflichtet fei. Wohin folher Glaube, wenn Begebenheiten 
zum Handeln drängen, füßren fann, ift leicht zu fehen. Dagegen bat 
dad Gewicht, welches Kaifer Alerander auf die von Stourdja dem 
Aachener Congreß überreichte Schrift legte, eine antiruffifhe Stim- 
mung auffeimen lajfen. Man beginnt Gefahr für die höchften geifti- 
gen und natienalen Intereſſen von diefer Seite her zu fürchten und 
glaubt zugleih, Rußlands zur Sicherung des deutſchen Territorial« 
beftande® gegen Frankreich für lange Zeit entbehren zu fünnen. 
Wenige Wochen fchon nad) beendetem Congreſſe traten die deut- 
ſchen Regierungen mit den Gewaltwaffen ded Staates? gegen die Zer⸗ 
ftörungdangriffe auf, welche im Volke zunächſt noch mit geiftigen 
Waffen verfucht worden waren. Im Yrühjahr 1819 wurden Die 
Zurnpläße gefchlofien, im Laufe. ded Sommerd viele Berhaftungen 
vorgenommen und in noch weiteren Kreifen Hausfuchungen angeftellt. 
Bor acht Tagen hat Beſſer feine Reife angetreten, ſchrieb Perthes am 
17. Juli. Als er nad) Berlin fam, wurden grade Reimer's Papiere 
verfiegelt und die Polizet unterfuchte zwei Tage hindurch deffen Haus. 
Die preußifche Regierung meinte in den Briefen einiger kurz zuvor 
Arretierten Berdächtiged gegen Reimer gefunden zu haben. Ich mei- 
neötheild kann überhaupt nit glauben, daß man finden wird, was 
man fucht, dad Project nemlich einer allgemeinen deutfchen Republik, 
und fände man wirklich folch Vorhaben, fo follte man die Menfchen, 
die jo etwas wollen, ind Narrenhaus fperren, ftatt fie zu richten. 
Unfere Deutfchen und unfere Berhältniffe in einer Republif! Es hat 
gewiß niemand folch einen tollen Plan gehabt; ich kanns nicht glau- 
ben. Reimer indbefondere ift abgefehen von allem anderem zu fehr 
Stodpreuge, um fo an Deutfchland fich zu fegen, und ift geiftig viel 
zu abhängig von Schleiermacdher, um an wahnfinnigen Unternehmen 
fih zu betheiligen. Was aber auch aus dem Einfchreiten der Regie 


® 


165 


rungen fich ergeben mag, immer wird e8 da8 Gegentheil von dem fein, 
was diefe zu erreichen gedachten, und fo treibt das Rad des Schickſals 
fi) immer weiter; Gott aber lenkt zur rechten Zeit. — Es wird wie- 
der bunt audfehen in Deutfchland, fehrieb Perthed in einem anderen 
Briefe. Eine neue Welt will fich geftalten, aber es fcheint nicht, daß 
ein heiterer Morgen unferer wartet: femeidende Winde der Kälte ge- 
ben dem Sonnenaufgang voraus. — Wenn ich auf Deutichland 
im ganzen blide, heißt es zu Anfang 1819 in dem Briefe eine® po- 
Titifch fehr unterrichteten Mannes, fo fließen die allerlei bunten und 
fogar heiteren Farben, die da8 einzelne zeigen mag, mir in ein ziem⸗ 
liches Grau, man könnte e8 auch wohl Schwarz nennen, zuſammen. 
Auch Sie finden den jegigen Zuftand langweilig; Langeweile ift die 
dunfelfte Farbe. Für die Gegenwart foll nicht® geſchehen, damit zu 
einem politifchen Gebäude für die ferne Zukunft die erften Baufteine 
zufammengefucht werden können. Unſer jett lebendes Volksgeſchlecht 
gilt gleichfam wie nicht berechtigt den Nachlommen gegenüber, wie 
wenn wir Jetztlebenden feinen Anſpruch machen könnten, das Beifere, 
das fich bereiten läßt, auch felbft noch) zu genießen. Haben wir denn 
nicht dasfelbe Recht, wie unfere Nachkommen, und ift es nicht Schmadh 
und Echande und Unglüd, wenn die Entwidelungen eined ganzen 
Volkes fo wie bei und fich immer weiter verfpäten und am Ende die 
allgemeinen Naturfräfte mehr dabei thun als die fittlich befonnenen ? 
Langſam fchleppen fih unfere allgemeinen Angelegenheiten weiter; 
die ungehenerften Zufchülfe von Eifer und Talent der einzelnen halten 
das fchlecht beftellte Triebwerk nicht im Gange. Der Bundestag bringt 
alled nur zu einem gewiſſen Punkt; da bleibt es liegen. LUnfere 
Ständefachen fhleihen mühſam und trübfelig aus ſchwerem Ringen 
hervor: überall find die Schwingen fhon im voraus zerichnitten, der 
Muth gekühlt; am manchen Orten wagt man es troß diefer Vorfeh- 
rungen doch noch nicht mit ihnen. Alles Gemwonnene fteht jeden Au- 
genblid immer noch ganz auf dem Spiele; nichts haben wir in Si⸗ 
herheit gebracht, nicht einmal unfere Grenzen und unfer Bertheidi- 
gungsweſen. Und dennoch ftehen wir nicht ftill; es ift zum Erftaur 
nen, wie alled fortfchreitet, aber nur als Begebenheit, die mächtiger 
ift -ald die Menfchen, und der die Menſchen daher jeden Augenblid 


. 166 


erliegen können. ft das nicht Revolution und können Cie es leug- 
nen, daß wir und inmitten der Revolution beivegen, obſchon wir es, 
getäufcht durch die polizeiliche Ruhe, nicht ahnen? Wie ragt Franf- 
reich mit feinem ſtarken Geifte freien Lebens über und in diefer Be⸗ 
jiehung hervor! | 

Die beiden großen deutfchen Staaten mußten fehr wohl, daß 
mit allen polizeilichen Berfolgungen wenig geholfen fei. Mochte in 
dem einen deutfchen Lande auch) noch fo viel gefhehen, fo war es ver- 
gebend, wenn in andern deutfchen Ländern wenig oder nicht® geichah. 
Preſſe, geheime Verbindungen, Univerfitäten konnten auf alle deut- 
ſchen Staaten einen tiefen und erfchütternden Einfluß üben, fo lange 
fie auch nur in einem einzigen deutfchen Staate eine Stätte fanden, 
um ihre Angriffe zu bereiten. Die Regierungen hatten in den weni- 
gen feit dem Wiener Congreß verlaufenen Jahren erkennen gelernt, 
daß auch fie, um die Außerlichfte Ordnung erhalten zu fönnen, der 
Einheit Deutſchlands bedürften. Der Bundestag aber ſchien den bei- 
den Großmächten nicht geeignet, ſtarke einheitliche Maßregeln herbei- 
zuführen. Es war nicht nur die Verhandlung mit fo vielen Gefand- 
ten, fondern auch der Widerfprud von Männern wie Wangenheim, 
Gagern, Lepel und mancher anderer zu fürchten. Fürft Metternich 
forderte daher eine. Feine Anzahl größerer deuticher Höfe auf, Be- 
vollmächtigte zu Conferenzen nach Karlsbad zu fenden, welche im Juli 
und Auguft 1819 gehalten werden follten. Jedem politifih lebendi⸗ 
gen Mann mußte fofort die Frage nach den Geſichtspunkten fih auf: 
drängen, von denen aus in Karlsbad die ſchwierigen Verhältniſſe be- 
handelt werden könnten und würden. 

Berthed hatte während der Jahre 1818 und 1819 mit meh⸗ | 
veren Bundestagsgefandten in einem lebhaften Briefwechſel gejtanden. 
Zunächft waren in demfelben die Maßregeln gegen den Rachdrud, die 
Einrihtung ded Oberappellationdgericht® in Lübeck, die für die Hanfe- 
fädte damals fehr wichtige Barbaresfenfrage und die Geftaltung der 
Dundeshriegdeinrichtungen in Hamburg zur Sprache gebracht worden. 
Zugleich aber verfchaffte Perthes fich durch dieſen fchriftlicden Verkehr 
Einfiht in die Pläne, welche mithandelnde Männer für die Kortbil- 
dung der Bundeöverfaffung begten. Die Anfichten, welche er fich 


167 


dutch diefe Briefe, durch mebrere ihm mitgetheilte Denffchriften und 
durch Geſpräche mit Mänmern alter Art feftgeftellt hatte, theilte Per⸗ 
thes hierhin und dorthin mit. Etwa in Folgenden lafjen fie fih zu- 
fammenfafien. | 

Ehrlich. und redlich müſſen die Regierungen, nıeimte er, dem all» 
gemeinen Streben nah etwas Gemeinſamem die Hand bieten; es 
macht fich fonft ohne fie und früher, als fie denken, Luft, und ein 
kleines euer kann den großen Bald in Brand ſetzen. Es genügt 
nicht, daß jede Regierung nur innerhalb der Grenzen ihre® Landes 
handele, und es ift nicht möglich, da® gemeinfame Deutfche fo lange 
zu verſchieben, bi® in allen einzelnen Staaten alled geordnet tft. We⸗ 
nigftend etwad Gemeinfame? muß dem Ganzen zu thun gegeben wer⸗ 
den, woran ſich die Hoffnung auf ein mehreres halten und die Geduld 
ſich ſtärken kann, und dieſes Etwas muß dad Wichtigfte menigften® 
berühren. Das wichtigfte aber ift, daß Deutſchland ald Deutichland 
nicht weniger felbftändig ald frankreich oder England in Europa da- 
ftehe. Die Verhandlungen der baieriſch⸗badiſchen Streitigfeit vor. 
einem europäiſchen Tribunal, die rufjifchen, franzöfifchen und engli- 
ſchen hortatoria und debortatoria an den Kurfürften von Heilen, die 
außerhalb des Bundes geführten Berhandlungen über die Bundes⸗ 
feftungen und viele andere der Art find ein Aergernis und eine 
Schmach für die deutiche Nation und haben den Glauben verftärkt, 
dag Deftreidh und Preußen den Bund nicht ald Zweck, fondern ala 
Mittel anfehen und, weil fie lieber im Verein mit den europäifchen 
Mächten ald im Verein mit der Bundedverfammlung über die deut- 
hen Angelegenheiten verfügen wollen, das gänzliche Stoden des Ge- 
ſchäftsganges in Frankfurt hervorgerufen haben. Nicht bloß der baie- 
rifhe Gefandte wird bei feinem Hof Dank verdienen, wenn er berich 
tet, es ſei Gottlob in der Bundesverfammlung nicht? bemerkenswer⸗ 
thes vorgefallen; man finde fich vielmehr altmählich darein, die Si⸗ 
gungen auf eine in der Woche zu beſchränken; es fei wieder glüdlich 
gelungen, Ferien auf drei Wochen anzufegen, und die Zeit der gro- 
Ben Ferien werde ſchon berechnet. Für manche Gegenden Deutſch⸗ 
lands ift, heißt es weiter, bereit? die Zuverſicht verſchwunden, auf 
immer zu Deutſchland zu gehören, mit Deutſchland zu ſtehen und zu 


168 


fallen. Im Norden und im Welten lebt man. fih in den Glauben 
hinein, gelegentlih von Deutfchland aufgegeben und einem europäi- 
chen Staate überlaffen zu werden. Wahrlich der Schmerz und der 
Zorn über das Entbehren jeglicher Nationalehre ift nur zu gerecht und 
ſchreit um Abhilfe. Abhilfe aber kann nur gefchaffen werden, wenn 
eine felbftändige Politit des Bundes zum eigentlichen Kern desfelben 
wird. Die Bewohner Deftreichd und Preußen? freilich fühlen bei der 
europäifchen Geltung ihrer Regierungen da® Bedürfnis, Deutfchland 
als europäifche Macht in der Reihe der Nationen genannt und geach⸗ 
tet zu fehen, weniger lebhaft al® jeder andere Deutfche, aber grade 
wegen diefed Bewußtſeins der Ungleichheit fpricht fich im nichtöftrei- 
chiſchen und nichtpreußifchen Deutfhland der Ingrimm nur um fo 
ftärfer aud, bald ald Neid der Entbehrenden gegen die Genießenden, 
bald als Furcht vor einer früheren oder fpäteren völligen Unterord- 
nung. Man will in Europa nicht durch Deftreih und Preußen ge- 
ſchützt, ſondern man will in Europa ald Deutfcher wirklich repräfen- 
tiert fein. Alles auf einmal kann freilich nicht gefchehen, aber ein er- 
fter Schritt darf doch nicht aufgehalten werden, und ein folcher erfter 
Schritt wäre ed, wenn in der Bundedverfammlung eine in mannig⸗ 
facher Weife denkbare Commiffion für die auswärtigen Angelegenhei- 
ten niedergefegt würde, welche die Angelegenheiten des Bundes als 
einer europäifchen Macht zu führen und fofort Gefandte bei den euro- 
päiſchen Mächten zu beglaubigen hätte. Sehr bald würde fih als 
Folge dieſes erften Schritte ergeben, daß die Gefandtfchaften der ein- 
zelnen deutfchen Staaten mit Ausnahme Oeſtreichs und Preußens von 
felbft verfehwänden, und dann wäre die Zeit gefommen, auch das 
ſchwierige Verhältnid der Gefandten des Bundes zu denen der beiden 
Großmächte ind Auge zu faflen. 

Mit der wachſenden Einheit nad außen follte die wachfende Ein- 
heit im Innern Hand in Hand gehen. Gemeinfchaft der Kriegsmacht 
aller einzelnen Staaten hat durch Einfegung der Bundesmilitärcom- 
miffion wenigftend begonnen, heißt e3 in den vielen während des 
Sommers 1819 zwiſchen Perthes und feinen politifchen Freunden ge« 
wechjelten Briefen, aber Gemeinihaft des Handeld und Verkehr?, 
gemeinfame Anordnungen über Zoll, Buchhandel, Nachdruck, Poſt⸗ 


169 


weien, Münze, Maß, Gewicht und viele andere Gegenftände find 
eben fo wie ein Bundesgericht ein fehnfüchtig erftrebtes Bedürfnis, 
deflen Befriedigung zwar mit großen Schwierigfeiten zu fämpfen hat, 
aber möglich wird, wenn man nur nicht alled auf einmal und alles 
auf einem und demfelben Wege erreichen will. Wollte man Deftreich® 
eigenthümliche Lage, die ihm die enge Gemeinſchaft mit den Bundes⸗ 
ftaaten für viele Berhältniffe unmöglich macht, wollte man die befon- 
deren Bedürfniffe und Intereſſen der einzelnen Staaten nicht anerken⸗ 
nen, wollte man ſchonungslos gegen eingebildete Befürchtungen und 
verjährte Borurtheile verfahren, fo würde man, weil man alles er⸗ 
reichen will, nicht8 erreichen. Mögen daher immerhin einzelne Staa⸗ 
ten anfangen, fich über einzelne Berhältniffe durch befondere Verträge 
ju einigen, und den anderen den fpäteren Zutritt offen halten und 


felbft einen verfuchdmweifen Zutritt auf zwei, auf vier, auf fünf Jahre 


geftatten. Der Zug der Dinge, wenn ihm nur der Weg eröffnet ift, 
wird ſchon nachdrängen und mehr bewirken, als es bei den beftehen- 
den eiferfüchtigen Borurtheilen eine allgemeine Anordnung vermöchte. 
Anomalien find nicht einmal in einem Staate, viel weniger alfo im 
Bunde ein Unglüd, und die Bundedverfammlung ift da, um die Jer- 
fprengung der Einheit durch die Einzelverträge zu verhüten und die 
möglichfte Gemeinfchaftlichfeit herbeizuführen. Sie bedarf aber, da- 
mit fie auch nur die Möglichkeit zur Löſung diefer Aufgabe erhalte, 
einer Ergänzung, für deren nähere Einrichtung bereit3 ein Borbild 
in der dem Bundedtage zugefellten technifchen Militärcommiffion ge 
geben iſt. Sachverftändige aus allen Bundesftaaten müßten für die 
verfchiedenen Gefchäftökreife in Frankfurt verfammelt und in verfchie- 
dene Commiſſionen vertheilt werden; jie würden eine Art zweiten, 
aud dem Bolfe genommenen Rath bilden und beffer ald die Negie- 
rungdmänner willen, wo und der Schuh drüdt. Mit ihnen in Ge 
meinfhaft wäre die Bundesverfammlung im Stande, eine reelle 
Zhätigfeit zu üben, und nur wenn fie reelle Thätigfeit übt, fann fie 
eine Macht in Deutfchland fein, und nur wenn fie eine Macht ifl, 
fann fie hoffen, dem drohenden Umſturze Deutſchlands mit Erfolg 
entgegen zu treten. - 

Die Briefe, welche Perthes im Sommer 1819 aus Frankfurt er- 


170 


bielt,, Tonnten indeflen feine Hoffnung erweden, daß in Karlsbad 
wirklich kräftige Berfuche zur Ausbildung des Bundes gemacht wür⸗ 
den. Wir wollten, ſchrieb ihm ein Freund, die Karlsbader Confe⸗ 
renz jegnen, wenn fie auch nur einen erften Schritt, um Deutfchfand 
018 Deutihland zur Geltung zu.bringen, thäte, aber meine Befürdy- 
tungen find ftärfer al8 mein Vertrauen. Männer, die zu den polis 
tiſchen Detailliften, nicht zu den Großhändlern gehören, haben jetzt 
das Regiment, Gegenftänden von nationaler Bedeutung find fie nicht 
gewachſen. Die Leute in Karldbad hat offenbar die Angft zuſammen⸗ 
getrieben und von manchem derjelben möchte man, wenn fie fi) in 
ihrer Angſt ſelbſt überlaffen bleiben, wenig Gutes erwarten, fo 3. 2. 

von Graf Münfter und Graf Rechberg, die den früheren beijeren Er- 
wartungen nicht entfprochen haben. Preußen ift vor allem berufen, 
die Leitung zu übernehmen; aber wer glaubt an feine Ehrlichkeit ? 
Richt duch ſchöne Worte, fondern nur durch) die That wäre das Mis— 
trauen zu befeitigen, daß es Deutfchland durch allmählich anfchlie- 
Bende Kunftallifationen an dad Preußenthum zu einer nationalen Ein⸗ 
beit erheben wolle; aber die Preußen feheinen in allen Beziehungen 
von Gott verlajien und immer nur auf dad Widerfinnigfte audzuge- 
ben; ich hoffe vom Grafen Bernflorff in Karlsbad nichts. Oeſtreich 
fühlt fih in feinen eigenen Landen ficher und würde fich daher eine 
gewiſſe Praxis liberaler Grundfäge bei anderen wohl gefallen laifen, 
wenn ed nur mit Ruhe und Ordnung zugehen könnte. Metternich 
ift perfönlich der Bundeseinheit gemeigt, mehr als die anderen öftrei« 
chiſchen Mintfter, aber Ruhe ift ihm das erfte. Als er vom Aachener 
Congreß zurüdfam, war er voll findlicher Freude über das feiner 
Meinung nach dort gelungene Werk der volllommenen Beruhigung 
Europa's. Nun könne, fagte er, jeder hingehen und lange Zeit hin- 
durch ruhig feinen Kohl bauen, und wenn den Gefandten verboten 
würde, an ihre Höfe zu berichten, fo würde die einzige Urfache zu 
Differenzen entfernt fein. Die Richtung des Königs von Würtemberg 
iſt deutfh, und ich habe Urfache zu glauben, daß des Grafen Win- 
gingerode Inftructionen nicht die fchlechteften find. Don Raflau wird 
Herr von Marfchall hingehen; er ift der Uebelfte nicht, weil er Flug 
ift und daher bei aller perfönlichen Neigung zu durchgreifenden Map- 


171 





regeln dennoch im rechten Augenblide einzulenken verfieht. — Die 
durch ſolche Mittheilungen hervorgerufene Unruhe zu befehwichtigen, 
waren die Briefe, welche Perthes aus Karlsbad empfing, wenig geeig- 
net. Was die Freiheit der Preſſe betrifft, fehrieb ihm Adam Müller, 
jo bin ih nicht bezahlt, ihr entgegen zu arbeiten. Paffieren doch meine 
Schriften vielfach die Genfur in Wien nicht! Aber zuwörderft diene ich 
nicht einer Staatächimäre, die ich nach meiner Einficht deuten fönnte, 
fondern einem leibhaftigen Kaifer von Fleiſch und Blut, defien Wille 
mein Geſetz iſt; dann bin ich Katholik, alfo von der Partei derer, 
weiche glauben, dag die Wahrheit bereit? vorhanden und nicht erft 
unter dein Schirme der Preßfreiheit zu entdeden fei; endlich halte ich 
dafür, da die vorhandene weltliche Autorität um jeden Preis gerettet 
werden muß, wenn auch nur ald Unterbau und nicht um ihrer Selbit- 
heit wegen. Daher fage ih: „Keine Cenfur, feine Obrigfeit‘, wie 
die Epifcopalen des 17. Jahrhunderts: „no bishop ne king‘‘, aber 
ich ſage es mit blutendem Herzen und mit tiefem Granı darüber, daß 
wir fo weit gefunfen find, den Beamtenklauen unfered Jahrhunderts 
die geiftige Obhut überlaffen zu mülfen. 

Am 31. Auguft 1819 war die lebte Sigung der in Karldbad 
verfammelten Minifter; die gefaßten Befchlüffe wurden den in Karls⸗ 
bad nicht vertreten gemefenen Regierungen mitgetheilt und ihnen quf⸗ 
gegeben, ihre Gefandten am Bundestage fofort mit der nöthigen In⸗ 
ftruction zu verfehen, damit die Karlöbader Schlülfe zu Bundesſchlüſ⸗ 
jen erhoben und dadurch bindend für ganz Deutfchland gemacht wer- 
den fönnten. Da den einzelnen Regierungen feine Zeit gelaffen war, 
fi unter einander zu bereden, nnd feine derfelben für fich allein dem 
- Willen der beiden Großmächte entgegenzutreten wagte, fo wurden 
am 20. September fchon die Karldbader Beſchlüſſe einstimmig von 
der Bundeöverfamnilung anerkannt. Sie legten befanntlich allen ein- 
zelnen Staaten die Pflicht auf, für Schriften unter zwanzig Bogen 
Genfur und für jede Univerfität die Beauffichtigung durch einen befon- 
beren landeöherrlichen Bevollmächtigten anzuordnen. Bon Bundes 
wegen follte außerdem eine Gentralbehörde in Mainz zur weiteren 
Unterfuchung der in mehreren Bundesftaaten entdeckten revolutionä- 
ven Umtriebe eingefebt, eine proviforifche Erecutiondordnung zur An⸗ 


172 





wendung gebracht und eine Commiffion zur Unterdrückung gefähr- 
licher Schriften eingefeßt werden. 

Der folgenreiche und lange nachwirkende Eindrud, den die Karls⸗ 
bader Schlüffe in faft ganz Deutfchland machten, ſprach fich auch in 
den Briefen an Perthes bald ald Schmerz und Trauer, bald ald Zorn 
und Ingrimm aus. Ich habe Sie nicht -gefehen, ſchrieb Sartorius 
aus Göttingen, feit Ihrer Durchreife ind Hauptquartier im Winter 
1813; damals in militärifcher Kleidung, fprudelnd von Hoffnung 
und nun — welche lange, lange Zeit, erfüllt von getäufchten Erwar⸗ 
tungen, Herabftimmungen und Ausfichten ind Leere, Tiegt zwifchen 
damals und jetzt! Bildet fich nicht bald in der Mitte der beiden 
PBarteien, die fih einander den Tod gefchmoren haben, eine fefte 
Macht, die, ſelbſt Maß Haltend, dad Maßloſe der einen wie der an⸗ 
dern zu überwältigen vermag, fo verfallen wir der Revolution, die 
freilich nur ein Durchgangspunkt ift, aber der Durchgangspunkt ent- 
weder zur Despotie oder zur Anarchie. — Wie im wilden Fieber radte 
Görres' fliegende Phantafie in einem Briefe, den er am 2. October 
1819 an Perthes fihrieb. Sie werden, heißt e8 in demjelben, Die 
Karlsbader Beichlüffe erhalten haben. Man muß geftehen, daß die- 
fen Leuten ein fchäbbared Talent innewohnt, immer dad Gegentheil 
von dem hervorzubringen, was fie besweden, und daß es feine är⸗ 
geren Unrubftifter gibt, als diefe Waffermänner, die dad Schmiede- 
feuer mit ihren naſſen Haderlumpen imıner nur zu größeren Zorned« 
gluten anjchüren. Ich kann mir? gar nicht anders Elar machen, als 
dag fie Würmer in den Hirnfammern fiten haben; dann befommen: 
die Hammel bekanntlich die Drehkrankheit und werden wüthend in ih. 
rer Art, freilich nicht in blutdürftiger Weife, aber fie ftampfen, trom- 
meln, blafen und fauchen und ihre Sanftmuth fcheint fehr zornig. 
Man follte glauben, Leute, die durch ihre Stellung die Sachen von 
oben her betrachten, müßten fehon deswegen eine ruhige, feite Anficht 
gewinnen; aber weit das Gegentheil. Weil fie ſchwache Köpfe haben, 
werden fie gleich ſchwindlig auf ihrer Höhe; fo wie fich etwas regt, 
geht die Welt um fie her im Kreife herum; fie fürchten, die Häufer 
ſchlügen ihnen die Köpfe ein und die Bäume fehritten einher und fpieß- 
ten fie. Dan kann fich eben nicht verhehlen, daß, fo lange Died Ge⸗ 


173 


ſchlecht befchränkter, verzagter, jämmerlicher Menfchen, die mit lachen» 
dem Muthe einmal im tiefften Abgrunde ded Schimpfed, der Schande 
und der Nieberträchtigkeit gelegen haben und dann vom umfreifenden 
Nade gefaßt und auf die Höhe geführt find und dort oben nichts als 
Kleinmuth, Angft und Todesfchreden mitten in kläglichem Hochmuth 
empfinden, daß, fo lange diefe Schächer an der Spipe der Geſchäfte 
ftehen, kein Heil zu erwarten ift und fein Glüddftern über Deutfch- 
land leuchten wird. Inzwiſchen hat ihnen die Roth die Vollziehung 
des 13. Artikels abgedrungen. Wie fie ihn zu vollziehen gedenken, ha⸗ 
ben fie freilich deutlich genug ausgeſprochen; aber das hat wohl alles 
gute Wege. Was fie. geben, ift gegeben, was fie vom Rechte nicht ge- 
geben, wird ihnen abgenommen, und fo fommt die Sache, freilich 
unter Streit und Stößen, doch ind rechte Gleis. Am allerlächerlich 
ften ift, was fie über Preßfreiheit verfügt; fie könnten wohl leichter 
ein Sieb mit Flöhen hüten, als das Gedanfenreih in ihre Pferche 
Iperren. Sch möchte gleich Idyllen diefer neuen diplomatifhen Schä- 
fer fchreiben und die Noth und Angft fhildern, in der diefe Jammer⸗ 
bilder fih die faure Laft aufgeladen haben, Ure, Einhörner und 
fonftige® ungebändigte® Vieh zu meiden; fie werden fich in diefem 
Garten die faftigften und fhmadhafteften Stechäpfel zum Deffert zie- 
ben. Als ich mein Buch ſchrieb, habe ich felbit nicht geahnet, daß 
e3 beftimmt fei, als die Declaration ded gefunden Menfchenverftan- . 
des gegen eine Staatsweisheit aufzutreten, die nun in den Karlöba- 
der Beichlüffen auf dem Culminationspunft der Verrüdtheit angelom- 
men ift. — Ein wunderlicher Gegenfag zu diefen wilden Worten war 
ed, wenn das Mitglied eines Eleineren deutfchen Fürftenhaufes an 
Perthes ſchrieb: Was fagen denn Sie zu den fogenannten politifchen 
Umtrieben? Biel Freigeifterei, Anfprüce und Forderungen werden 
freilich laut und Schwindelföpfe find genug da; aber die Sache wird 
do fo ſchlimm nicht fein. — Auf Perthes' Antwort folgte dann im 
December die Entgegnung: Wie Sie fo fihreiben können, wie Sie 
es gethan haben, begreife ich bei Ihrem fonftigen Vertrauen auf die 
Borjehung und bei Ihrer Freude an politifcher Reibung nicht. Warum 
follte die Freiheit verloren fein? Ich hoffe, es. findet fi) alles, und 
wenn die Auswüchſe und Misbräuche ein wenig eingefchränft wer⸗ 


174 


den, ſchadet e8 wohl nit. Etwas wahrhaft Wiſſenswurdiges wird 
gewiß nicht unterdrüdt, das Gute arbeitet ſich ſchon durch und die 
engliſche Preßzügellofigkeit fheint mir wahrlih auf feinen Fall wün- 
ſchenswerth. Nachdem der erfte Unmuth vorüber ift, wird man ſich 
ſchon zufrieden geben und wird ohngefähr eben fo viel Gutes fagen 
fönnen, wie vorher, wenn man nur Anftand und Schonung zu beob⸗ 
achten weiß. 

Die Größe der Aufregung, weldhe die Karlöbader Beichlüffe 
hervorriefen,, hatte ihren Grund wohl weniger in deren Strenge als 
in der durch dieſelben rückſichtslos audgefprochenen Verneinung alles 
deſſen, mas damald das Bolt bewegte. Nicht in dem, was die Con⸗ 
ferenzen gethan, fchrieb Perthed im Herbft 1819, fondern in dem, 
was fie nit gethan haben, liegt das Böfe und liegt die Gefahr. 
Wollen die Beichlüffe wirklich nicht? weiter al® dad, was fie fagen, 
fo thun fie feinen Schaden und unterdrüden manches Böfe; wollen fie 
aber ein andered oder ein mehreres, fo werden fie es nicht durchfegen. 
Daß dagegen in diefen Augenbliden unermeßlicher Gefahr die Staats» 
männer der größten deutichen Regierungen fich zur Berathung über 
die Rettungdmittel verfammeln und nichts, gar nicht? thun, um 
für das Bedürfnis der Nation nah Freiheit und nad) Einheit Befrie- 
digung zu ſchaffen, das ift entfeglih. Mit einigen Verboten iſt noch 
nie ein wahres und wirkliches nationales Verlangen erſtickt und nie der 
Meg zu den fchredlichiten Abirrungen verfperrt worden. — Sie haben 
nur zu Recht, heißt e8 in der Antwort auf diefen Brief; mit ſolchen 
nur Nein fagenden Mitteln wird der unbändige Geift nicht gebändigt. 
D daß diefer Geift aufhörte, nur Geift zu fein, und, angethan mit 
Fleifh und Bein, in verzerrter wirklicher Geftalt das graufenvolle 
Reich einer alled auflöfenden Berwirrung vor unſeren Augen entfal- 
tete! Dann würden die Regierungen wohl verftehen lernen, daß das 
pofitio Böfe ſich nur dur das pofitiv Gute befiegen läßt. 

Welches Anfehen und welche Ehre die Bundedverfammlung um 
jene Zeit noch in der Nation befaß, läßt fih aus dem fehr allgemei- 
nen fehmerzlichen Erjtaunen über die Wiltfährigkeit abnehmen, mit 
welcher fich diejelbe die Befchlüffe der Gonferenzen gefallen lief. Es 
ift entfeßlich, fchrieb ein fehr conjervativer Mann an Perthed, daß 


175 


der. Bundestag, flatt in ſtolzer Kraft aufzuftehen, ſich ſtumm zum 
Diener eines, ich darf es wohl fagen, fchlechten Principe und einer 
illiberal⸗ terroriftifhen Faction erniedrigt hat. Die Folgen für den 
einzelnen wie für da® Ganze find unberechenbar und der Revolus 
tionsteufel , jo fange ald Mittel zum Schreden von den Regierungen ° 
gebraucht, wird in leibhaftiger Geftalt ſich ihnen wirklich und riefen- 
groß gegenüber flellen. Noch ſchwebt ein Dunkel über den ganzen 
Hergang: man weiß nicht, ob die größeren Mächte gemaltfam die 
übrigen zum Schweigen gebracht, oder dem deutichen Volke Einftimmig- 
feit vorgelogen haben, während ed an Widerfpruch nicht fehlte. Bid 
heute hört man noch nicht, daß auch nur ein einziges Mitglied der 
Bundesverfammlung feine Entlajfung eingereiht hat, um nicht länger 
unter dem Echeine der Selbftändigfeit todtes Werkzeug in der Hand 
der Böfen fein zu müjfen. | 

Als Perthes diefen Brief erhielt, war er bereitd durch ausführ⸗ 
liche Mittheilungen politifcher Freunde näher über die Stimmung un⸗ 
terrichtet, mit welcher die von Karlebad dem Bundedtage aufge: 
drängten Beſchlüſſe in Frankfurt und von einer nicht Kleinen Zahl 
deutfcher Regierungen aufgenommen worden waren. Mein Bedürf- 
nis, Ihre Anfichten über die gegenwärtige Lage unſeres Baterlandes 
mit den meinigen audzutaufchen, ift jo groß, heißt ed in einem Briefe 
an Perthed vom 23. October 1819, daß ich die fichere Gelegenheit, 
die fich mir in diefen Tagen darbietet, Ihnen zu fehreiben, nicht un- 
benugt vorübergehen lafjen will. Sie fünnen, wenn fie wollen, mei» 
nen Brief als eine Predigt über das erfte Buch Mofe, Capitel 50, 
Berd 20 betrachten, wo es heipt: „Ihr gedachtet ed böfe mit mir zu 
machen, aber Gott gedachte e8 gut zu machen.” Mit den Glauben, den 
diefe Worte audfprechen, ftehen wir wirklich den Karldbadern gegenüber. 
Zwei Wege, den der. Klugheit und den der Gewalt, gab ed, auf de- 
nen ſich das, was die Karldbader Conferenzen wollten, hätte durdh- 
jepen laſſen. Wenn weniger Angft, welche den erften beiten Rohr: 
ftod frampfhaft ergreift, und mehr kalter, überlegender Berftand in 
Karlabad gewefen wäre, fo würde Dad panem et circenses nicht ver« 
geilen fein, und dann würden die Dinge fehr gefährlich Tiegen. Hätte 
man auch nur gegenfeitige Aufhebung aller Mauthen in ganz Deutfch- 


176 | . 


land und völlige Freiheit des Verkehrs Ted durchgreifend beſchloſſen⸗ 
fo würden höchſt wahrſcheinlich diefelben Schlüffe, welche jekt das 
Innerſte aller Gemüther ergreifen, nur von wenigen beachtet fein 
und die Maflen felbft hätten den Regierungen ‚willig den Holzſtoß 
zum Aubotafe Tiberaler Schreiber und Sprecher zufammengetragen. 
Wollte oder konnte man aber in Karlabad nicht Flug verfahren, fo 
mußte man, um durchzudringen, mit kalter Entfchtoffenheit gewalt- 
fam das Verfügte fofort ausführen. Schlag auf Schlag mußten die 
Opfer fallen, niemand durfte zur Befinnung fommen. Wäre das 
Revolutionstribunal in Mainz am Publicationstäge der Karlsbader 
Befchlüffe in Wirkſamkeit getreten, wären Berhaftungen und Unter- 
drüdung eine? Dutzend liberaler Journale zugleich erfolgt, wurden 
bon vier zu vier Wochen einige Todedurtheile vollzogen, fo hätte ein 
Napoleonifcher Terrorismus noch einmal in Deutfchland feften Fuß 
fafjen können, aber zu einem ſolchen Auftreten hätten Männer aus 
anderem Holze ald die gutmüthigen Bonvivand in Karldbad gehört, 
die gewiß feinem Menfchen.auf der Welt pofitived Leid zufügen wol⸗ 
len, fondern nit? ald Ruhe in der Welt und Sicherheit auf ihrem 
Poften begehren. Nur weil fie, um diefe matterfehnten Ziele zu er- 
reichen, feine anderen Wege wußten, find fie zu den fcheinfräftigen 
Beichlüffen gefommen und mühen fich auch jetzt noch ab, fich gegen- 
feitig von deren Trefflichkeit zu überreden. 

Weil man in Karlsbad, heißt es weiter, weder Flug noch ge⸗ 
waltfam zu fein ſich entſchließen konnte, werden die ergriffenen Maß⸗ 
regeln nur weniges, vielleicht gar nichts bewirken, denn ihrer Durch⸗ 
führung fteht eigentlich alles entgegen. In Karlabad haben aller- 
dings eine Anzahl Staatemänner berathen und beichloffen, aber die 
Richtungen der Staatdmänner und die Richtungen der von ihnen ver- 
tretenen Staaten find nicht immer identifh und waren e3 in Karldbad 
fo wenig, daß die dortige Berfammlung faft wie der Club einer Mi⸗ 
nifterfaction erfcheint. Schon jebt mußten ſich mehrere der aus Karls⸗ 
bad Zurüdfehrenden in dem Minifterrathe der Staaten, in denen ber 
Minifter des Auswärtigen nicht allmächtig ift, Tadel und lebhaften 
Widerfpruch gefallen laſſen; Hardenberg und Bernftorff namentlich 
find auf das heftigfte von Humboldt angegriffen. Sodann werden 


177 


für die nächſte Zufunft die größeren deutſchen Staaten, vielleiht mit 
Ausnahme Oeſtreichs, ſämtlich eine innere Kriſis zu überſtehen ha- 
ben, welche entweder die Haltung der gegenwärtigen Minifter än- 
dern oder neue Minifter an die Stelle der gegenwärtigen führen muß. 
In dem einen wie in dem andern Kalle werden bald genug felbft die 
Minifter der in Karlabad vertretenen Staaten gegen die wirkliche 
Durchführung der dort gefaßten Befchlüffe fein. Einige ſelbſtdenkende 
und felbftregierende Yürften find, wie ich weiß, durch die Refultate 
der Conferenzen fehr unangenehm überrafcht und faft alle möchten 
wenigftend den Schein retten, nur gezwungen in diefelben eingemilligt 
zu haben. Die Bundesverfammlung endlich ift in ihren meiften Mit- 
gliedern empört über eine Behandlung, durch welche fie zu einem wil⸗ 
lenlofen Inftrumente der Karlabader Eonferenzen gemacht ward, und 
‚wird wenig willfährig fein, die Beichlüffe durch großen Eifer bei de- 
ren Durchführung zu Anfehen und Ehren zu bringen. Wenn nun 
zu diefem allem das beleidigte Selbitgefühl der kleineren Fürften, 
welche fich wie Mediatifierte behandelt glauben, und der wilde Ingrümn 
der Öffentlichen Meinung fommt, die jegt wie immer durch Beichrän- 
fung ihrer Aeußerung an intenfiver Kraft gewinnt, fo kann dau- 
ernder Beitand und wirkliche Durchführung deifen gewiß nicht eriwar- 
tet werden, was ſchon jest den beabfichtigten Effect eine? allgemeinen 
Schreden® gänzlich verfehlt und deshalb eigentlich aufgehört hat zu 
beftehen,, bevor es noch ind Xeben getreten war. 

Während die Karlsbader Befchlüffe, heißt es in ben weiteren 
Mittheilungen, das, was fie erreichen wollen‘, nicht erreichen, könnte 
es leicht gejchehen, daß fie etwas bewirften, was fie nicht bewirken 
wollten. Im Jahre 1815 war die Bundsacte ald ein durch Napoleon's 
furchtbares Wiedererfcheinen hervorgerufener Niederfchlag aus den ſich 
bald anziehenden bald abftoßenden verfchiedenartigen Elementen des 
Wiener Congreſſes feftgeftellt; aber die feindlichen Gegenfähe der deut- 
(hen Staaten gegen. die Gefamtheit Deutfchlands blieben nad wie 
vor beſtehen. Der alte Kampf indeffen mußte von einem neuen Bo⸗ 
den aus geführt werden; denn das föderaliſtiſche Princip des Bundes 
faßte als Befriedigung eines in unferer Gefchichte und unferer Natio⸗ 


nalität begründeten Bedürfniffes alabald fo fefte Wurzel, daß es be- 
‚perthes' Lehen II. 4. Aufl. 12 


178 


ftimmend für die Geftalt aller ferneren politifchen Kämpfe in Deutich- 
fand ward. Oeſtreich und Preußen haben ihr alted Streben, Deutfch- 
land zu beherrfchen,, in die Form einer Leitung der Föderation gießen 
müflen und glaubten in Karlabad, ohne weitered Herren der deut- 
ſchen Staaten zu fein. Sie irrten ſich und der Widerftand, den fie 
finden, wird fie für längere Zeit nöthigen, die Gemeinfchaft mit dem 
ganzen übrigen Deutfchland zu fuchen, fo oft fie für Deutfchland po- 
litifh handeln wollen. Daß den Duumpiralgelüften der beiden Groß⸗ 
mächte gegenüber die Gleichberechtigung der anderen deutfchen Staa⸗ 
ten, alfo das Föderationdprincip von. neuem ficher geftellt iſt, wird 
der eine Segen fein, den und die Karlöbader Conferenzen wider Wil- 
fen bringen; aber es ift nicht das einzige. Die einzelnen deutfchen - 
Regierungen nemlich wollten bisher ihrer Souveränetät zu Liebe auf 
feine Unterordnung unter die deutfche Gefamtheit, d.h. unter den 
Bund, eingehen. Nun aber haben fie, um die Karlöbader Zwede 
zu erreichen, fein andered Mittel finden können al? die Uebertragung 
der politifchen Polizei, des politifchen Gerichts, der Aufjicht über 
die Preffe und über die Lehranitalten auf die Gemeinfchaftsanftalt, 
d. b. auf die Bundesverfammlung. Der gewollte Zweck wird freilich 
micht erreicht werden, aber die angewendeten Mittel erkennen in über: 
aus wichtigen Verhältniſſen die deutiche Gemeinfchaft als eine über 
den einzelnen Staaten ftehende Macht an und die Sonfequenzen dies 
fed Anerfenntniffes werden fich fehr bald auch in anderen Berhältniften, 
3. B. in denen des Handeld, zeigen. Die Unterordnung der einzel» 
nen Staaten unter die Gemeinfchaft des Bundes tft fomit der zweite 
Segen, den und die Karlabader Eonferenzen bringen können, wenn 
und die Öffentliche Meinung nicht durch eine ſchlimme Abirrung um 
denfelben bringt. So lange nemlich das böfe Princip vorwiegend 
bei den Einzelregierungen gefucht ward, ſchrie alles nach. Eentralifation 
und Einheit Deutfchlande. Set, nachdem einzelne Bundesftaaten 
liberalere Verfaſſungen erhalten haben, und der erfte Verſuch der Gen- 
tralifation auflinterdrüdung der politifhen VBeftrebungen im Volke ge- 
richtet ift, wird, fürchte ih, alles Die Souveränetät der einzelnen Staaten 
verfechten und und vielleicht um die möglich gewordene Einheit Deutſch⸗ 
lands bringen. Don der nunmehrigen Haltung der Bundedverfamm- 


179 


(ung hängt es vor allem ab, welchen weiteren Gang unjere Geſchichte 
nehmen wird. Die Bundedverfammlung ift freilich durch die ihr in 
revolutionärer Weife von Karldbad aufgezwungenen Beſchlüſſe tief 
herabgewürdigt, aber die meiften Mitglieder fühlen die tiefe Herab⸗ 
würdigung tief, und da ihr Doch wieder Gefchäfte, wenn auch zunächſt 
nur widerwärtige, übertragen find, fo wird fie auch wieder in Deutſch⸗ 
land beachtet, gelobt oder getadelt werden. Weil man wieder etwas 
von ihr erwartet, wird fie au) im Stande fein, etwa? zu leiften, und 
ich hoffe bei ihrer gegenwärtigen Stimmung Gutes von ihr und ver- 
zweifele nicht. Die außerordentliche Zufammenfunft in Wien ift freilich 
zu laut angefündigt, als daß man davon zurüdgehen könnte. Aber 
die größeren Staaten fühlen fchon, daß ed unheimlich fei, allein im 
Finftern zu wandeln, und begehren größere Gefellfchaft, und durch 
diefe kann vielleicht fchon jebt die Sache eine andere Wendung nehmen. 

Zum November 1819 war eine Verfammlung von Bevollmäd- 
tigten aller deutſchen Etaaten zur weiteren Ausbildung der Bunde3- 
verfaffung nah Wien berufen worden. Das tiefe Midtrauen, mit 
welchem auch die Berfammlung felbft in den Kreifen fehr befonmener 
Märnmer betrachtet ward, fpricht ſich in einem Briefe, den Perthes im 
December 1819 erhielt, lebhaft aus. Was und der Wiener Congreß 
bringen wird? heißt es in demfelben. Bielleicht find Doch die Macht« 
baber nicht einig genug, um ihre Pläne durchzuführen, und Hum- 
boldt wird das feinige thun, Bernftorff aus dem Sattel zu heben. 
Dahin find wir gefommen, daß wir von der Eiferfucht und dem Arg- 
wohn der Höfe und Minifter unter einander das meifte hoffen müffen; 
denn allen den edlen Gefinnungen und fraftvollen Beftrebungen, an 
denen ed trop des vielen Böfen und Berkehrten im deutichen Volke 
nicht mangelt, fehlt zum gedeihlichen Wirken der Mittelpunkt umd die 
geregelte Richtung, und wenn alle edlen Kräfte vereinzelt, ohne Zus 
fammenbang und Leitung wirken, fo können fie eben fo leicht zum 
Ehaotifchen führen, wie zur Ordnung und zum Recht. — Sekt ſol⸗ 
len wir wieder, heißt e8 in einem anderen Briefe, das Schidfal un⸗ 
fere® Baterlandes von der Weisheit der in Wien verfammelten Herren 
erwarten, dort ift es jegt eben fo ſtill und ſchwuͤl ald im vorigen 
Jahr zu Karlebad. Kür Minifter gibt e8 feine Gefchichte, feine Er⸗ 

12 * 


180 


fahrungen , feine politifhen Fdeen, fondern nur Sacobiner, die ein- 
gefperrt werden müflen. — Die unter heftigen Kämpfen der Höfe 
zu Stande gebrachte Schlußacte der Wiener Minifterialeonferenzen 
änderte in der That wenig an dem Bundeszuftande Deutichlands, wie 
ex fich feit den Karlsbader Schlüffen geftaltet hatte; fchärfer und aus⸗ 
führlicher aber wurde das vorher ſchon Beftandene feftgeftellt. 
Während die deutfhen Regierungen mit den ihnen zu Gebote 
fiehenden Waffen der Gewalt die aus dem Volke gegen fie gerichte- 
ten Angriffe zu unterdrüden fuchten, ftand ein Kämpfer auf, der mit 
dem Schwerte ded Geifted den heftigften Krieg gegen die gefamte 
politifche Zeitrihtung eröffnete. Seit 1816 hatte K. 2. von Haller 
angefangen, fein umfangreiches Werk „die Reftauration der Staats⸗ 
wiſſenſchaft“ herauszugeben, und die Mitglieder mander deutjchen 
Regierungen fahen in ihn fofort einen Bundedgenoffen, weil er mit 
ihnen denfelben Gegner befämpfte, und bedacdhten nicht, daß Haller 
feinem Principe nah ſich in kürzerer oder längerer Zeit mit demfel- 
ben Ingrimm gegen den von den Regierungen vertretenen Staat wen- 
den müffe, wie jebt gegen den von den Volksbewegungen erftrebten. 
Adam Müller, einer der geiftreichften Anhänger der neuen politifchen 
Lehre, lebte damals als öftreichifcher Generalconful in Leipzig und 
ftand in lebhaftem mündlichen und fehriftlichen Verfehr mit Perthes. 
Eine Einigung indeſſen zwifchen beiden Männern war fo wenig in’ 
politifher wie in veligiöfer. Beziehung möglih. Scharf und beftimmt 
vielmehr trat Perthed dem Standpunkte Haller’d und Müller'd ent» 
gegen, wenn er fchrieb: Auch darin ftimme ih ih Ihnen und Herrn 
von Haller völlig bei, daß wir nur zu retten find, wenn wir dem 
von Gott au in der äußeren Weltordnung pofitiv Gegebenen und 
unterordnen und ihm gehorchen. Wo aber ift dieſes poſitiv von Gott 
Gegebene? Es ſprach ſich einftmald aud in der Theofratie unter Mo- 
ſes ald Borbild, und von ihr war das Pabſtthum in feiner beften Zeit 
ein Schatten. Wo aber ift jetzt Mofed, wo dad Pabſtthum? Sept 
haben wir die Kirche neben dem Staate, im Weltlichen unter, im 
Geiftlihen über ihm. Diefe Scheidung des urfprünglih Emmen: ift 
das für unfere Zeit pofitio von Gott Gegebene, und diefe Ccheidung 
follen wir nicht aufheben; wir follen die Kirche nicht menſchlich ma⸗ 


181 

chen und den Staat nicht göttlich. Was aber thut Herr von Haller? 
Sie ſchreiben freilich: Haller hat nur den ſtrengen Rechtsbegriff re 
ftauriert und den naturrechtlihen und ftaatörechtlichen Träumereien 
des Jahrhundert? einen Damm entgegengefebt, den ed zu durchbre⸗ 
hen vergeblich unternehmen wird. Darauf antworte ih: Gut, aber 
Haller erweiſt diefem reftaurierten Rechtöbegriff, einem weltlichen, 
von der Kirche gefchiedenen Geſetz, göttliche Ehre. Diefen feinen 
Rechtsbegriff follen wir über alle Dinge fürchten, lieben und ihm ver- 
trauen. Heißt das nicht ein goldene? Kalb aufrichten, während doch 
Mofed noch auf Sinai weilt? Steinerne Tafeln, die nicht? mit denen 
des Mofed gemein haben ald den Stein, ftellen Sie auf ald Gottes 
Geſetz, und Gottes Geſetz felbft wird darüber verfpottet werben. 

Geftern war, heißt ed in einem Briefe Garolinend, der Haupt- 
mann von Gerlach bid Nachts zwei Uhr bei und. Cr ift ein ernfter 
und gewiß grundguter und überaus lebendiger und origineller Mann. 
Das Gefpräh war intereffant und bald fehr heftig, da Perthes mit 
feiner Anficht nicht Hinter dem Berge hielt. Sonderlich von Könige 
thum und freier Verfaſſung, von Leibeigenfhaft und Adel war die 
. Rede. Gerlah hat ungeheured zu Gunften der Könige gefagt und 
ich habe wieder einmal gefehen, was der Menfch doch alles aus der 
Bibel beweifen kann und will, wenn es ihm darauf anlommt, Be 
weife für feine eigene Anficht zu finden. ZZ 


Das Hervortreten einzelner politifcher Kragen. 





Eindringende Unterfuchungen über dad Weſen und die form 
wirklicher, beftimmt abgegrenzter politifher Verhaͤltniſſe lagen nicht 
in der Richtung jener für das Allgemeinfte heftig bewegten Jahre. 
Die ſchweren und wichtigen Zweifel über die Geftaltung des Stante- 
dienfte®, der Steuern, der Gerichte, der Polizei fanden wenig Theil 
nahme; hin und wieder nur erregten faft wie zufällig einzelne Kragen 
allgerneine Aufmerkffamfeit. Die faufmännifche Welt namentlich be- 


182 


fhäftigte fi) feit dem Aufhören des franzöjifchen Drudes lebhaft mit 
dem Berhältniffe des Geldes zu den da® Geld vertretenden Papieren 
und mit der Zuläffigfeit der Zölle neben einem lebendigen Handels⸗ 
verkehr. 

Um für fi) und wo möglich auch für weitere Kreife eine Auf- 
Märung über die dunfle Natur des Geldverkehrs zu erhalten, hatte 
Perthes ſich fhon 1817 an Gens nach Wien gewendet, für den die 
Frage lange ein Gegenftand ſcharfer Unterfuhung geweſen war. Eine 
Anfrage, die von Ihnen fommt, antwortete Gens, findet ſicher alle- 
mal eine gute Aufnahme bei mir, aber in diefem Falle ift es fehr 
ihmwer, Ihrem Wunfche zu genügen. Das Geldwefen ift feiner au- 
perordentlihen Berwidelung und Schwierigkeit wegen fein populärer 
Gegenftand und Klarheit der Darftellung ijt deshalb das erjte Ver⸗ 
dienft, wonach jeder ftreben muß, der dasfelbe behandelt. Weber Geld- 
verhältniffe zu fehreiben habe ich deshalb immer für die fchwierigite 
aller fchriftftellerifchen Aufgaben gehalten und bin der Meinung, daß 
fie in Deutfchland noch niemand gelöft hat. Solche phantaftifche und 
myſtiſche Schreibereien, wie unfer Freund Adam Müller fie kürzlich 
unter dem Titel einer Theorie ded Geldes and Licht gefördert hat, die- 
nen nur dazu, die ohnehin ſchon arge Berwirrung der Begriffe vol- 
lends unbeilbar zu machen, und ein einziged Capitel fo fehreiben zu 
tönnen, wie Adam Smith gefchrieben hat, ift rühmlicher als die Ver 
fertigung von hundert Bänden folder metaphyſiſchen Phantafien. Als 
in den Jahren 1810 und 1811 die interejjante Frage, ob der dama⸗ 
lige hohe Prei® des Goldes feinen Grund in einer wirklichen Herab- 
würdigung der englifhen Noten habe, im Parlament verhandelt 
wurde, gelang ed mir, mid) in den Bejig fämtlicher Acten zu ſetzen, 
und mit Begierde verfolgte ich eine Verhandlung, welche großes Licht 
auf mehr ald eine der wichtigiten fragen der Geldtheorie: Papiergeld, 
Bankweſen, Wechfelcourd, Handelöbilance, werfen fonnte. Zugleich 
hatte es einen befonderen Reiz für mich, in meiner Einfamfeit — 
denn in Wien war kein Menſch, mit welchem ich über Gegenjtände 
diefer Art nur ein Gefpräch hätte anknüpfen können — mich über 
jo fehwierige und verwidelte fragen in eine ftille aber lebhafte Dis⸗ 
cuffion mit den beiten Köpfen und größten Autoritäten Englands ein⸗ 


183 


zulaſſen. Hieraus erwuchd eine Arbeit, die ih im Monat Juni 1812 
“über Eicilien nah England fchidte, wo fie aber erft fpät im Jahre 
1813, alfo in einem Zeitpunfte anlangte, in welchem der allgemeine 
Krieg bereit? ausgebrochen war. Dad Manufceript könnte dem Ken⸗ 
ner vielleicht die Antwort auf manche ſchwere Frage erleichtern, aber 
fo wie e8 ift, ift ed für dad Bublicum unbraudhbar; es würde zmei 
ftarfe Octapbände füllen und hat die Form eines fortlaufenden Com- 
mentard über den Bericht ded Parlamentdcomited. Sch habe eine 
geheime Neigung, die mühfame Arbeit in veränderter Geftalt wieder 
von den Todten zu erweden und fie bei einem Werke über das Papier- 
geld, mit deffen Idee ich mich unabläffig befchäftige, früher oder ſpä⸗ 
ter in Umlauf zu bringen. Sollte ich diefen Plan nicht ausführen 
fönnen, fo bin ich jehr bereit, Ihnen meine fämtlichen Materialien 
zut weiteren Benugung mitzutheilen. — In weſſen Hände die in 
jedem Falle höchſt unterrichtende Schrift, deren Gentz in diefen Briefe 
erwähnt, ſpäter gekommen ift, läßt fi) aus Perthes' Papieren nicht 
erſehen. 

Die Zollfrage wurde bald nach beendetem Kriege auf das leb⸗ 
haftefte angeregt, al® Deutſchland mit Aufhebung der Eontinental- 
ſperre plöglich von englifhen Waaren überſchwemmt, die Einfuhr 
deutfchen Kornd nad) England dagegen fo gut wie verboten und in 
Frankreich und Holland dad Prohibitivfyftem neu verfchärft ward. 

Wenn alle fremden Waaren frei nach Deutfchland und feine deut- 
ſchen Erzeugniſſe in fremde Länder gebracht werden konnten, fo ſchien 
Deutſchland nicht beftehen zu köͤnnen. Das 1818 feftgeftellte neue 
Zollſyſtem Preußens wurde ald eine Abfperrung gegen Deutichland 
aufgefapt und man hielt, wenn diefer Zuftand dauernd würde, den 
auf die Fleineren Staaten beſchränkten deutfchen Handel für vernichtet. 
An vielen Orten wurden Wünfche und Pläne zur Abhilfe laut. In 
Frankfurt trat 1819 der Handeld- und Gewerbverein ind Xeben, wel⸗ 
her unter Liſt's Führung eine allgemeine deutfche Zollabſchließung 
zum Echuß deutſcher Fabriken und Gewerbe erftrebte. Die Hanje 
ftädte dürfen fih von dem neuen und fehr thätigen Verein nicht ferne 
balten, heißt es in einem Briefe aus Frankfurt an Perthes; denn 
nur durch ihre Theilnahme fann der Verein vor einer durchaus ein- 


184 


feitigen Richtung bewahrt werden. Ziehen ſich die Städte vornehm 
und ftolz zurüd, fo wird fehr bald eine ihnen feindfelige Richtung 
fich geltend machen. Schon jegt ift der Verein geneigt, in dem Stre- 
ben der Städte nad) voller Handelsfreiheit nichts ala Selbſtſucht zu 
fehen, während das Intereſſe der Städte in Wahrheit doch mit dem 
Intereſſe von ganz Deutfchland zufammenfällt. — Auf das beftigfte 
ward die Leidenfchaft in den Hanfeftädten erregt, als 1820 die be- 
kannte Schrift Lindner'd: Manufeript aus Süddeutſchland, erfhien. 
Ihre eigentliche Abficht war, die Nothwendigkeit nachzumeifen , daß 
Baiern auf Koften feiner ſchwächeren Nachbarn zu einer großen Macht 
erhoben werden müſſe; aber auch auf Norddeutichland waren Blicke 
geworfen und unter anderem gefagt: Was jollen die deutfchen Bar- 
bareöfen, die Hanfeftädte, deren Intereſſe als englifcher Factoreien 
auf Plünderung des übrigen Deutfchlands und auf Vernichtung fei- 
ner Induftrie gerichtet ift? Deutfchland muß felbft im Beſitze feiner 
wichtigften Häfen fein und fie nicht einer privilegierten Kafte von 
Kaufleuten anvertrauen, melde durch ihren Eigennuß an England 
gebunden find. Diefe Republifen find in jeder Beziehung ein hors 
d’oeuvre im Vaterlande; der Wiener Congreß wußte nicht, was er 
that, als er ihre Abfonderung anerkannte. 

- Unmittelbar nachdem diefe Schrift befannt geworden war, fchrieb 
ein in Eüddeutfchland lebender Freund an Perthed: Jetzt wird es 
Zeit, daß das phlegmatifche Eis der norddeutichen Handelsftädte ge- 
brochen werde. Da Sie nit täglih mit Süddeutſchen verkehren, fo 
haben Sie feine Vorftellung davon, in welchem Maße die Borurtheile 
gegen den freien Handel und indbefondere gegen die Hanfeftädte im 
füdlihen Deutfchland verbreitet find. Dazu kommt, da gegenmwär- 
tig die Verbindung der füddeutfchen Staaten zu einem gemeinfchaft- 
lihen, dem preugifchen Zolliyftem gegenüberftehenden Berein mit Ernft 
und Eifer betrieben wird. In Deutfchland leben jetzt nicht viele Män- 
ner, die etwas wollen und ſchaffen fönnen, und unter diefen wenigen 
arbeiten einige mit raftlofer Thätigkeit an Herftellung eines Zollfy- 
ftemd, welches den Handel Deutſchlands vernichten kann. In die- 
jeın Augenblide find in aller Stille Bevollmädhtigte in Darmitadt 
verfammelt und fie haben fämtlich eine ihnen überreichte Denkfchrift 


185 


vortrefflich gefunden, welche durch möglichfte Beichräntung ded Han» 
dels die Induſtrie zu heben vorfchlägt. — Bielfah war damals die 
Anſicht verbreitet, daß auch die neue preußifche Zollgefeßgebung die 
Bedeutung des deutfchen Handels verfenne und im vermeintlihen In⸗ 
tereife der Fabriken fehr leicht zu den verderblichften Beſtimmungen 
für den Handel verleitet werden könne. Perthes war von der Größe 
der Gefahr überzeugt und glaubte, daß diefelbe nur durch eine Fräf- 
tige Einwirfung auf die öffentliche Meinung befeitigt werden koönne. 
Die große Gefahr, fehrieb er einem einflußreihen Manne, welche dem 
deutichen Handel durch das beftehende preußifche und das beabfichtigte 
füddeutfche Zollfuftem droht, iſt durch das Manufcript aus Sübd- 
beutichland fehr erhöht. Es wird bald in Mittel» und Süddeutfch- 
land ald Autorität bei dem Theile ded Publicums gelten, welcher ſchon 
jebt die Hanfeftädte als Schmarogerpflanzen betrachtet. Aus Berlin 
böre ih, daß hohe Beamte die Behauptungen des Manuferiptd als 
richtig betrachten oder wenigſtens ſich fo ftellen, um anderweitige Ab- 
ſichten zu erreichen. Gegenbücder werden wenig helfen, aber für viele 
Gegenartifel in den am meiften gelefenen Zeitungen muß geforgt wer⸗ 
den. Das Sprichwort fagt, von einer böfen Nachrede bleibe immer 
etwas hängen, aber aud von der Wahrheit bleibt etwas hängen, 
wenn fie nur immer und immer wieder gefagt wird: erft wird einer 
bier, dann einer dort gewonnen, aus einigen werden viele und die 
Meinung der vielen hat oft, wenn fie unwahr, und zuweilen auch, 
wenn fie wahr ift, großen Einfluß auf die Handlungen der Regierun- 
gen. — Perthes felbft regte eine Anzahl erfahrener Kaufleute an, 
größere und Fleinere Artikel für die am meiften verbreiteten Zeitungen 
zu fehreiben. Die Allgemeine Zeitung nahm eine Reihe bedeutender 
Auffäge auf und von Heß kämpfte in einem befonderen Werke: „Aus 
Norddeutfchland”, für Handelöfreiheit und für die Hanfeftädte. Ganz 
ohne Einfluß mögen diefe Bemühungen auf den fpäteren Gang der 
Handelögefeßgebung nicht gewefen fein. 

Weit allgemeiner ald durch diefe Handelöftagen wurden in der 
damaligen Zeit die Köpfe und die Herzen der Menfshen durch die Frage 
nad) der Stellung der Ständeverfammlung und nad der Stellung 
des Adels befhäftig.. | 


186 


Stände wurden freilich leidenfchaftlich begehrt, aber nur Stände 
ganz im allgemeinen. Alle die unermeßlichen Schwierigkeiten, welche 
entftehen mußten, fobald nicht von Ständen überhaupt, fondern von 
Ständen in den wirklich vorhandenen deutfchen Verhältniffen die Rede 
war, erregten nur in überaus wenigen Kreifen Aufmerkſamkeit und 
Iheilnahme. Auch in den vielen Briefen politiichen Inhalts, melche 
Perthes in jenen Jahren empfing, heißt es wohl einmal ganz allge: 
mein: Die jegigen Kammern werden fcheitern , neue Berfuche werden 
. gemacht werden; man wird vielleiht auf die allgemeinen Bolkövers 
fammlungen germanifcher Urmwälder zurüdtommen, aber bald bemer- 
fen, daß diefelben für unfere Zeiten ihre Schwierigkeiten haben. — 
Oder es ſchrieb eben fo allgemein ein anderer: Kaum kann ein Zwei⸗ 
fel darüber fein, daß bei jeder deutfchen oder europäifchen Jufammen- 
funft der Gabinette Hemmungen des conftitutionellen Lebens immer 
aufs neue an den Tag treten werden. — Gebr felten aber finden ſich 
die großen Fragen nad) der Berechtigung und Zuſammenſetzung, nad 
der Gliederung und Gefchäftdordnnung der begehrten Stände auch nur 
erwähnt. Weber einen einzelnen, freilich überaus wichtigen Punkt ge⸗ 
langte indefien Perthes ſchon früh zum vollen Berftändnid. Vielfach 
nemlicd war die Behauptung geltend gemacht worden, daß die Mehr⸗ 
heit der Stimmen letzte und höchſte Quelle ded Recht? fei. Bereit? 
1817 hatte Falk aus Kiel in einem Briefe an Perthes hiergegen den 
entfchiedenften Widerfpruch erhoben. Nichts ift verderblicher al® der 
Wahn, äußerte er, nach welchem die Menichen fein höhere® Gefek 
anerkennen wollen als ihren eigenen Willen, und jede Thorheit für 
gerechtfertigt halten, fobald ein Concluſum der Majorität vorgelegt 
werden fann. Major pars meliorem vicit, fagt Liviud und der alte 
Sprud hat aud) heute noch feine Wahrheit. Wenn wirklich fein hö⸗ 
berer Beftimmungsgrund ald der Wille der einzelnen in deren Majo- 
rität vorhanden wäre, fo müßte ed das erfte Streben jeded Zuſam⸗ 
menlebens fein, dur die Schöpfung eined hoch über allen Willen 
der einzelnen ftehenden Gefebed den eigenen Willen zu bändigen. 

Perthes felbit hegte darüber feinen Zweifel, daß, wenn die Mehr- 
beit der Köpfe zu gebieten und zu verbieten habe, die Herrfchaft des 
Staates in Die Hände derer kommen mülfe, denen das Gehordhen bef- 


187 


fer gezieme als das Herrfchen. Sehr beitimmt ſprach er feine Anficht 
in einem Briefe vom 4. März 1821 aus, in welchem er fehrieb: Zu 
einer verfaſſungsmäßigen Ordnung werden wir noch lange nicht fom- 
men und das Hindernis liegt mehr in der liberalen als in der monar⸗ 
chiſchen Partei. Noch einmal werden wir durd) die Despotie hindurch 
müffen, aber diefegmal wird der Name ded Tyrannen fein: Majoris 
tät der Stimmen. Wenn Kammern fih wie in Frankreich geftalten, 
oder Corted wie in Spanien und ausfchmeifender noch in Portugal 
auftreten, fo ift der Staat und alled, was mit ihm zufammenhängt, 
den Parteihäuptern preidgegeben, deren Gefchrei ſich Volksmeinung 
‚nennt. Schon find die Leidenfchaften wieder wie früher in der fran⸗ 
zöfifchen Revolution auf das wüthendfte entflammt und die Repräfen- 
tativverfaſſung jener Länder bietet, um der gräßlichiten Verwirrung 
zu entfliehen, nur einen einzigen Weg: die einzelnen Stimmen wer- 


ben abgegeben, gezählt und die größere Zahl hat Recht. Oder glaubft 


Du vielleicht, dag Menfchen, die von entgegengefeßten politifchen Lei⸗ 
denfchaften beſeſſen find, fi durch Gründe und Gegengründe einan« 
der belehren, befehren und anderen Einned mahen? Nimmermehr; 
jeder nagelt fi nur immer fefter auf feiner Seite und in feiner Par- 
tei. Die Volfövertreter werden alfo wie Rechenpfennige anzujehen 
fein; je nachdem fie durch Cabale, Geld, Furcht fo oder anderd ges 
wonnen find, fann man fchon im voraus willen, wie fie ftimmen, 
und alle Worte für das Wohl des Staates ſchweben in leeren Lüften 
und verhallen, ohne eine Spur zu binterlaffen. Unfere Vorfahren 
in Hamburg kannten den ſcheußlichſten Tyrannen: Majorität der 
Stimmen, fehr gut und haben feine Macht zu brechen gefucht, indem 
fie nicht nad) Köpfen, fondern nach den fünf Kirchfpielen ftimmen lie 
gen. Abhilfen diefer Art zu finden, iſt die erfte und wichtigfte Auf« 
gabe jeder deutfchen Verfaſſung; wo nicht, fo werden wir Knechte der 
Matten oder vielmehr der fchlechten Kerle, die fie führen und betrügen. 
Veberall ift Sucht nach größerem Wohlleben,‘ überall Neid gegen 
Rechte anderer und gegen höhere Gewalt; überall vermeint man 
Drud zu fühlen und will ihn durch Berfaifungsurfunden befeitigen, 
und wo wirklicher Drud ſich findet, erfennen nur wenige die wirfli- 
hen Wege zur Abhilfe. Wo es aber fo fteht, da find die Maſſen 


188 

leicht auf die Beine gebraht. Die Männer, die dad Wahre kennen 
und dad Gute lieben, könnten freilih kühn und thätig die Sache in 
die Hand nehmen, aber fie hüllen fich überall in den Mantel der Tu⸗ 
gend und fehmweigen. Die Maffen fallen daher nothiwendig in die Ge⸗ 
walt der Schreier, der Schlechten, der Böfen, und alled wird darun- 
ter und darüber gehen. Daß der Liberalismus im Bordringen zum 
enticheidenden, wenn auch nur vorläufigen, Siege über den Monar- 
chismus ift, kann ich nicht - bezweifeln; darum möge immerhin das 
Unvermeidliche raſch gefchehen und den Völkern ihr Wille gewährt 
‚werden. Bald genug werden fie erfahren, daß politifch frei fein und 
feinen oder einen ſchwachen König haben, zwei fehr verjchiedene Dinge 
find. Hat der Liberalismus erreiht, was er erftrebt: einen König, 
der unter dem Namen König eine Null, und eine Majorität, die unter 
dem Namen Kammern ein Despot ift, fo wird der Kampf kommen 
und mit dem Kampfe Blut und Tod und entfegliched Elend unter den 
Menſchen, aud denen die Demuth verſchwunden if. Das Ende aber 
wird fein, daß, weil jeder viel haben und nichts geben, alles fein 
und nicht? anerkennen will, jeder unterdrüdt wird, damit er die an« 
dern nicht unterdrüde. 

Obſchon Perthes die Gefahr einer unheilvollen Abirrung erkannte, 
verfolgte er dennoch mit lebhafter Theilnahme den Gang, melden die 
Ausbildung der Stände in den einzelnen deutſchen Ländern nahm. 
Sm Großherzogthum Heilen waren die Abgeordneten zum Mai 1820 
einberufen, fie wollten aber das Edict des Großherzogs nicht ald Ber- 
faffung anerkennen, bevor ed auf dem Wege des Vertraged abgeän- 
dert und feftgefeßt jei. Der Großherzog dagegen wollte zuerſt Aner- 
fennung, und dann Revifion. Der Darmftädter Hof ift jebt beſonders 
im Gedränge, fehrieb ein Mitglied der Bundesverfammlung am 30. 
Mai 1820; die Stände benehmen ſich dort fo mäßig und bejonnen, 
dag man ihnen wenig anhaben fann. Deshalb behauptet man nun, 
daß Die Regierung, um einen Borwand zum gewaltſamen Einfchrei- 
ten zu gewinnen, den Umtrieben der Demagogen im Geheimen Bor- 
(hub leiſte. Dazu aber ift fie viel zu flug ; fie fieht fehr gut, daß fie 
fih aus ihren Finanznöthen nur zu retten vermag, wenn fie den bil⸗ 
ligen Anforderungen der Stände im Vertragswege entfpriht. Wenn 


189 


man von außen her nicht flörend eingreift, fo werden fich die Dinge 
im Großherzogthum Heflen gewiß ruhig geftalten und ordnen; das 
aber ift e8 eben, was diejenigen fo in Harniſch feßt, welche befürchten, 
es könne, wenn das fo fortgeht, mit der Zeit auch an fie die Reihe 
kommen, Verſprochenes präftieren zu müffen. — In befonderd.ho- 
hem Grade zog damald Würtemberg die Augen auf fi. Der im Dcto- 
ber 1816 zur Regierung gelommene König Wilhelm hatte ſchon al® 
Kronpring große Erwartungen erregt und ſelbſt während feine® Kam- 
pfes mit den Ständen um die neue Berfaffung allgemeined Vertrauen 
gewonnen. Bon Würtemberg erwarte ich viel, ſchrieb Nicolovius 
1817 an Perthes; dahin fehen meine Augen jest. Ich glaube, daß 
jene Fürften, Mann und rau, die Zeit begriffen haben und Sinn 
für dad Nechte und Perftand für die Ausführung befigen. — In 
der Bundesverfammlung nahm der würtembergifche Benollmächtigte, 
Herr von Wangenheim, welcher zuvor ald Minifter in dem Verfaſ⸗ 
fung2ftreit des Königreich® die Hauptrolle gefpielt hatte, fehr bald 
eine hervorragende Stellung ein. Diefen vielgefcholtenen Wangen- 
beim halte ich, fchrieb ein Frankfurter Freund an Perthes, für das 
tüchtigfte Mitglied der ganzen Bundesverfammlung. Alle, mas er 
macht, trägt den Charakter der Tüchtigkeit. — Als nun die Karldba- 
der Befchlüffe befannt wurden, verbreitete fich die Meinung, daß fie 
recht eigentlich auf die Wiederaufhebung der würtembergifchen Ber- 
faffung binzielten. Die Haltung des Königs erfchien daher entfchei- 
dend für Deutfchland. Man wähnte in Karlsbad, heißt es in einem 
Briefe aus Frankfurt an Perthed, den König von Würtemberg zu 
fhhreden und den würtembergifhen Berfaffungsverhandlungen eine 
andere Wendung zu geben. Der König läßt ſich aber nicht fchreden 
und wird, was er befchlofien hat, aufrecht zu erhalten willen. — 
In der Stuttgarter Hofzeitung ift, fchrieb Graf Moltke, der fi da- 
mals in Heidelberg aufhielt, an Perthed, eine jehr verftändliche Ge- 
generflärung gegen die Karlsbader Befchlüffe erfchienen. Der König 
hat überdies feine beftimmte Abneigung erflärt, Mitglied derjenigen 
Commiffion zu fein, welche Delegierte zu dem beliebten Inquiſitions⸗ 
tribunal zu fenden hat. In ganz Süddeutichland wird der König 
enthufiaftifch geliebt. 


190 


Sn Baiern hatte man erwartet, daß der dur Ertheilung der 
Berfaffung 1818 hervorgerufene Freudenrauſch auch die Verhandlun⸗ 
gen des erften 1819 berufenen Landtages erfüllen werde. Auch Cie 
werden, ſchrieb Cchlichtegroll am 31. Januar 1819 aus München an 
Perthes, Ihre Gedanken jetzt doppelt oft und theilnehmend nad) Mün- 
hen und nad) unfern Landtagsvorbereitungen fenden. Es ift eine jehr 
intereffante Zeit für und; alles läßt fih auf das beſte an; unter den 
Deputierten find viele fehr mwürdige Männer; der König, treu feiner 
herrlichen Natur, lebt und webt in freundlichen Landtagdgedanten und 
geftern fagte er einem Deputierten mit feiner befannten Herzlichkeit, 
der Tag der Eröffnung des Landtages werde einer der glüdlichften 
feined Lebens fein. Die Geiftlichfeit, aufgeregt durh Nom, hatte 
Schwierigkeiten über den Schwur auf die Eonftitution gemadht, ſcheint 
fih jebt aber zum Ziel zu legen. So viel mwenigften® ift gewiß, daß 
der König feft in feinem Entſchluſſe bleibt und nicht nachgibt. — Un- 
mittelbar indeffen nah Zufammentreten des Landtages brach der 
Zwieſpalt zwifchen der erften und zweiten Kamıner aus. Die Reich 
räthe ftellten ſich und den König ald eine Einheit, die Deputierten- 
fammer aber als einen gemeinfamen, vereint zu befämpfenden Feind 
dar und die legtere fchritt fofort auch zum Gebraud der in ihrer Hand 
fich befindenden Waffen. Schöner als das Berhältnid zwifchen unfe- 
rem König und feinen Ständen bei der Eröffnung ded Landtages 
war, heißt e3 in einem Briefe an Perthed von 28. Februar, fann es 
auf der Welt nicht fein. Der vierte Kebruar bot das erhabenfte Schau- 
fpiel dar, das ein deutſches Auge fehen kann. Auch jetzt noch hoffe ich, 
daß der grade Sinn unſeres herrlichen Königs Stand halten wird 
gegen die Machinationen, welche Zwietracht zwiſchen ihm und der 
Deputiertenkammer zu ſäen trachten; alle die bubenhaften Angriffe 
innerhalb und außerhalb der Verſammlung werden der Deputierten⸗ 
kammer nicht ſchaden, wenn ſie ſich ſelbſt keine Blößen gibt und ſich 
vor müßigem Geſchwätz zu hüten weiß. Die Motion wegen des Mili⸗ 
taͤreides auf die Verfaſſung ſcheint mir aber eine ſolche müßige Schwä⸗ 
tzerei geweſen zu ſein, die ein entſchloſſenes Benehmen des Praͤſidenten 
ſogleich hätte unterdrücken müſſen. Trotz ſolcher einzelnen Misgriffe 
der Deputierten werden aber die, welche durch boshafte Verleumdungen 


191 


und Ecurrilitäten das fo fhön begonnene Werk verderben, eine furcht- 
bare Berantwortung vor Gott und ganz Deutfchland zu tragen ha— 
ben. — Als nun wenige Wochen fpäter zu dem Zwiefpalte zwifchen 
Ariftofratie und Demagogie der Zwiefpalt zwifchen Regierung und. 
Ständen über die Geldfragen hinzutrat, fanden fich bald Land und 
Obrigkeit eben jo ergrimmt und argwoͤhniſch gegenüber wie überall. 
Lebhafter als das ſtändiſche Verhältnis nahm eine andere die 
Zeit beſchäftigende Frage Perthes’ perfönliche Theilnahme i in Anſpruch. 
Schon während des Wiener Congrefjed hatte ſich der alte, in den beiden 
großen Kriegsjahren zurüdgedrängte Streit über die Bedeutung des nie- 
deren Adels wieder geregt. Privilegienfucht, Hochmuth und Argwohn 
auf der einen, Egalitätsſucht, Misgunſt und Aerger auf der andern 
Seite ſchärften den in thatfächlichen Berhältniffen wurzelnden Gegen» 
fa. Wunderliche Erwartungen einer neuen phantaftifch » glänzenden 
Zufunft für den niederen Adel, wie fie fih 3.8. in der damals viel 
beiprochenen Adelskette fund thaten, riefen in den Gegnern des Adele 
eine noch wunderlichere Angft vor der Möglichkeit der Erfüllung diefer 
Erwartungen hervor. Wie allgemein die Abneigung gegen den Adel 
verbreitet war, trat fehr erfennbar hervor, als Voß den Grafen 
Friedrich Leopold Etolberg mit den unwürdigften Waffen angegriffen 
batte. Die öffentliche Meinung war entfchieden für Voß, zwar auch 
weil diefer den Katholicismus, vielmehr aber noch, weil er den Adel 
in Stolberg leidenfchaftlih angefeindet hatte. Es ift wahr, heißt es _ 
in einem Briefe aus Berlin, Voß hat ſich inhuman und Fleinlich gegen 
Stolberg benommen, aber volled Recht hat er in feinen Beichuldigun- 
gen de? Adeld. Täglich drängen ſich hier in Berlin, wie überall in 
Deutfchland, die Belege zu feinen Behauptungen auf. — Voß hat fich, 
fhrieb ein Freund aus Franken, großes Verdienft um die gute Sache 
erworben, indem er dad dunkle, fchleichende Treiben der Adelspar⸗ 
tei offen gelegt hat. Wenn es unfere geiftige und bürgerliche Freiheit 
gilt, muß jede Rüdjicht auf die Schonung des einzelnen fehweigen. 
Unfere edelften Güter werden von der Adelskette bedroht und deshalb 
freue ih mich fehr darüber, daß hier in Franken Voß nur wenige 
Gegner und Stolberg feinen einzigen Vertheidiger findet. — Matt 
und zmweideutig erfchienen jelbft einem fo edlen, mäßigen und gerech⸗ 


192: 


ten Mann wie Graf Cajus Reventlow die einzelnen Stimmen, welche 
fich gegen den allgemeinen Angriff auf den Adel hier und da erhoben. 
Höchſtens will man, fehrieb er 1820 an Perthed, den Adel, weil er 
nun einmal da ift, nicht todtfchlagen, aber ein bloßer Dunftadel ift 
fein Adel. Auch ift der Streit über ihn, wie er jebt geführt wird, 
fein Streit zwifchen folchen, die verfchiedene Anfichten und verichiedene 
Erkenntnis, fondern zwifchen folchen, die verfchiedene Gelinnung ha⸗ 
ben, und deshalb wird er durch Gründe und "Gegengründe nie erle- 
digt werden. Die Gefhhichte wird wohl ald Schiedörichter angerufen, 
aber doch nur ſcheinbar; denn in Wahrheit gebraucht jeder die hiſto⸗ 
rifhen Thatfachen nur als Mittel, um feine bereitd vorhandene un- 
umftöglihe Meinung in rabuliftifcher Weife zu begründen und zu 
rechtfertigen. Gleichmüthiger betrachtet man den Kampf und feine 
wechjelnden Erfolge, wenn man zu der Ueberzeugung gelangt ift, daß 
ed weniger auf die Vollkommenheit des gefellihaftlihen Zuſtandes 
al? darauf anfommt, dag die einzelnen Geifter, welche fich hier nicht 
wohl fühlen, zu Gott zurüdgeführt werden. Dann erfcheint dad nie 
endende Spiel mit dem umgebenden natürlichen und geiftigen Ele 
mente wie eine förderlihde Schule, und man ift beruhigt. 

Während im Volke die beftehende Stellung ded Adeld allgemein 
als unhaltbar betrachtet ward, zwängten ſich große und kleine Regie- 
rungen mehr und mehr in die Anficht hinein, daß nur Edelleute be- 
fähigt und befugt feien, die Öffentlichen Angelegenheiten zu leiten. Sie 
machten hierdurch eine Frage, die für viele Gegner des Adeld nur eine 
perfönliche oder fociale war, zugleich zu einer Frage von durchgreifender 
politifcher Bedeutung und riefen Kämpfer in die Schranken, die nicht 
nur fich felbft, fondern aud den Staat gegen die Edelleute vertheidi- 
gen zu müffen glaubten. Der poetifch - Hiftorifche Adel früherer Jahr⸗ 
hunderte ift längft untergegangen, heißt es in einem Briefe aud dem 
Sabre 1819 an Perthed; nicht nur die allgemeine Umwandlung aller 
Zuftände, fondern auch die gänzlich veränderte Lebensſtellung jedes ein- 
zelnen Mitgliedes diefed Stande? hat ihn unmöglih gemadt. Er 
fann fo wenig zurüdfehren, mie ein Todter aud dem Grabe, mögen 
auch die diplomatifhen Aerzte verordnen, was fie wollen. Dennoch 
möchten felbft unfere edeliten Edelleute am liebften ſchnurſtracks zurüd 


193 


in die fehönen Zeiten Kaifer Friedrih’3 IH. Nun wohlan, der. Verfuch 
werde gemaht! Die Edelleute follen alfo wieder wie damals nichts 
fein ala Ritter, und nur die Ritter; nicht aud Bürger und Bauer, 
find friegspflichtig und bilden, das Gewehr auf der Schulter, unfere 
Negimenter; jeder Ritter weiſt ftolz jeden Sold zurüd. Wenn aber 
unfere Edelleut? das nicht wollen und nicht fönnen, fo find fie der 
alte ritterfiche Adel nicht mehr, und Rechte und Anſpruͤche eines Stan- 
des leben nicht länger ald der Stand felbit. Neue, früher nicht ge- 
kannte Rechte muß alfo der Adel in Anfpruch nehmen, um eine bevor- 
zugte Stellung zu behaupten. Weil der Hunger ihn von den zjerbro- 
chenen Burgen feiner Väter herabgetrieben hat, will er von der Tafel 
der Bürger ſchmauſen; weil er früher außer dem Staate ſtand, will 
er jetzt über den Staat herrſchen, und weil früher nur Ritter Krie— 
ger waren, follen jest nur Edelleute Minifter und geheime Näthe 
fein. Ich weiß wohl, daß mir eines Adels bedürfen, aber ich weiß 
auch, daß nicht der Vortheil der Edelleute, fondern das Bedürfnis 
des Staates es ift, welches die Stellung des Adel? zu beftimmen hat. 

Die in diefen und in manchen ähnlichen Mittheilungen allge- 
mein audgefprochenen Anfchuldigungen fanden fi in anderen Briefen: 
an Perthes für das bejondere Verhältnis einzelner Länder wiederholt. 
Das Gelingen der guten Sache, heißt ed in einem Briefe aus Hol- 
ftein, findet. hier dasſelbe Hindernid wie überall in Deutfchland. Die 
der Ariftofratie angeborne und neuerdings künſtlich vermehrte Furcht, 
an eigenem Nechte zu verlieren, wenn andere Menfihen auch Rechte 
erhalten, treibt den Adel dahin, fich allein auf die Gnade des Kö— 
nigs, als einzige Erhalterin aller Borrechte, zu verlaffen und darüber 
das gute Recht des Landes und alle Die vielen, welche e8 vertheidigen 
wollen, bei Seite liegen zu laſſen. Für die nächite Zeit wird das 
Zreiben gelingen, aber auf die Dauer nicht. — Es ſcheint, fehrieb 
ein preußifcher Staatsmann gleichfalld 1819 an Perthes, noch für 
lange Zeit das Befte in Deutfchland der Dienftbarkeit des Schlechten 
untergeben bleiben zu follen. Alles liegt in den Feſſeln der Ariftofra- 
tie und der Verſuch, fie zu löfen, welcher in den niederen Lebens⸗ 
und Staatöverhälinifien mit Erfolg gemacht ift, hat auf die höheren 
Kreife gar keinen Einfluß geäußert. In fleinlihen Privatrüdfihten 


Yerthed’ Leben. I. 4. Aufl. 13 


194 


geht das öffentliche Xeben hin und Staat, Regierung, Aemter, Ein- 
richtungen dienen zunächſt und vor allem zum Pug einer verhältnis- 
mäßig Meinen Zahl von Kamilien. Das ift eine Thatſache, die Sie 
aber in Ihrem Freiftaate unmöglich fo fühlen, alfo auch nicht in fol- 
chem Umfange ermeſſen fönnen, als wir, wenn wir unfere Augen 
nicht zumachen. Ich weiß wohl, das wahre Leben drängt dennod 
immer über Abfiht und Willfür hinaus und geht in wrfprüngli- 
her Kraft auf feine Weife fort, was aud einzelne ſich einbilden mö- 
gen; aber welche Berfümmerung doch für dad ganze jept lebende Ge- 
ſchlecht! Ich habe feine Hoffnung, fo lange das Dogma befteht, daB 
die Minifterien nur unter den Mitgliedern einiger wenigen Familien 
Begenftand des Kampfes fein können. Friſcher Wind wird erſt dann 
in die Segel wehen, wenn ein nicht in den Borurtheilen der Ariftofra- 
tie geborener und auferzogener Geift Einfluß auf die Leitung des Staa- 
te8 befommt. 

Selbſt ein fo alter und bewährter Kenner des Adel? wie Reh- 
berg äußerte fich beforgt über den Wahn der Regierungen, nach wel- 
chem nur Edelleute befähigt zum politifhen Herrſchen und alle ande- 
ven nur beftimmt zum politifchen Gehorchen fein ſollten. Es freut 
mich fehr, fchrieb er an Perthed, daß Sie meine Darftellung der Ver⸗ 
bältniffe des Adels einer Berüdfichtigung auch für die jetzige Zeit 
werth halten. Ich wüßte auch wirklich nicht? an meiner früheren 
Veberzeugung zu ändern und möchte fie heute mit verdoppelter Kraft 
geltend machen können; denn es ift faft erftaunendwürdig, wie weit 
und wie geſchwind die Regierungen und mit ihnen der Adel zurüd» 
fpringen, nachdem fie fih von dem Schreden erholt haben, der Die 
Eiegenden 1813 ergriff, ald fie vor den eigenen Erfolgen zurüd- 
bebten. — Weil ich den Abel liebe und ihn für nothwendig halte, 
fhrieb in einer ähnlichen Stimmung Graf Adam Moltfe, empfinde 
ih e8 um fo fehmerzlicher, daß man ihn mit Borurtheilen feſtzuhal⸗ 
ten ftrebt. Um den Adel, fo wie e3 jest mit ihm beftellt ift, bleibt 
es ein übled Ding. Für die Gegenwart fteht er da wie ein hiftori« 
ſches gewaltfam aufbewahrted Unrecht. Wird er nicht nad dem 
Geifte und nach dem Bedürfniffe der Zeit geftaltet, fo bleibt nicht 
einmal eine Ruine von ihm übrig. 


195 


Ungeachtet aller der leidenichaftlichen Kämpfe über, für und ge 
gen den Adel wurden in jenen Jahren nur felten Berfuche gemacht, 
eine ſichere Einficht in da3 innere Wefen und in die äußere Bedeu- 
tung des vielbefprochenen Standes zu gewinnen. Auch innerhalb 
des deutfchen Adel® dachten gewiß fehr viele ganz ähnlich, wieder 
furländifche Edelmann, welcher 1820 an Perthed fchrieb: Gerne will 
ih Ihnen meine und meiner Freunde Anfichten über den Adel mit 
theilen,, jo bald ich ed vermag. Bid jetzt aber habe ich eine Unter- 
fuchung über den Grund des Adels fo wenig angeftellt, wie darüber, 
ob die Mutter dad Kind zu fäugen hat oder nicht, mich konnte der 
Gegenftand bisher nicht beichäftigen, eben weil ich Edelmann bin 
‚und in unjeren Berhältniffen durchaus feine Aufforderung zur -Prüs 
fung deöfelben liegt. Daß Ritterfinn und Militärehre bier zu Lande 
gedeiht wie heimiſch Korn, hat Rußland bewiefen. Europa nahm 
ja alle die Saat nur von und, mit der ed die Felder feines Ruhmes 
beftreute und von der ed jegt jo viel Frucht geemtet zu haben glaubt, 
dag die Erntefränge kein Ende nehmen. Unſer Adel denkt dabei fehr 
liberal. Wir freuen und wohl, wenn ein edler Ritter fiegt, aber wir 
freuen und auch, wenn ein plumper Junker fällt; der Gelehrte und 
wer fich einigermaßen durch Bildung erhebt, wird und nad ruffifchen 
Gefegen gleichgeftellt.. Wir kennen daher feine Midgunft und feinen 
Streit und find wahrfcheinlich für das nächfte Jahrhundert auf fiche- 
rem Berge. Grade deöhalb aber, weil wir aud der Ferne ald linbe- 
theiligte Dem Kampfe der Meinungen um den Ritterhelm zufehen, wird 
unfere Anficht vielleicht eine richtigere fein. Wer felbft in der Schlacht 
ringt, fieht nicht? ala den nahen Feind, aber weder Schlachtfeld noch 
Poſition. 

Perthes hatte, um ſich eine feſtere Anſicht zu bilden, Männer 
der verſchiedenſten Stellung gebeten, ihm ihre Meinung über die 
Grundlage des Adels mitzutheilen. Von vielen Seiten wurde ſeinem 
Wunſche entſprochen. Das Weſen des Adels, ſchrieb Graf Friedrich 
Leopold Stolberg, kann nicht ausſchließlich im Grundbeſitze oder im 
Berufe oder-in dieſer oder jener Lebensſtellung liegen. Das Zufäl- 
lige der Geburt würde nicht lange und nicht allenthalben in befon- 
derer Achtung fteben können. Dem Adel muß eine dee innewoh- 

13 * 


196 


nen, von welcher feine gefamte äußere Stellung nur die Folge ifl. 
Es liegt etwas Poetiſches, die Empfindung Anfprechended im Adel. 
Wie der Kriegerftand ein fihtbarer Nepräfentant ded Muthes, der 
geiftlihe Stand Repräfentant der Frömmigkeit ift, fo foll der Stand 
des Adels fichtbarer Repräfentant edler Gefinnung fein. Und- wenn 
diefe Idee nicht immer auf eine bedeutende Zahl der Mitglieder des 
Standes gewirkt hätte, fo würde troß Grundbeſitz und fonftiger äufe- 
ren Stellung ſchon lange nicht mehr vom Adel die Rede fein. — 
Die Kraft des Adel liegt, heißt ed in einem anderen Briefe, in der 
öffentlichen Meinung: . er ift und bedeutet fo viel, al®d die Stimme 
der Nation ihn gelten läßt; feine eigene Anftrengung wird ihn auf 
die Dauer ein mehrere®, aber auch fein Lärmen der Echreier ein we⸗ 
nigereö fein laffen. — In einer Reihe von Briefen an Perthes ſprach 
Kouque über dad Weſen de? Adels fih aud. Der Adel ift freilich, 
fhrieb er, in England und in Deutichland ein und dasfelbe, aber 
die Geftalt, in der er in beiden Ländern erfcheint, ift eine ganz ver⸗ 
ſchiedene, und auch in dieſer Verfchiedenheit fol man die Gefchichte 
. ehren und nicht ‚die Geftaltung des Adeld in dem einen Lande auf 
das andere übertragen wollen. Auch in England aber ift Grundbe- 
fi nicht Adel, fondern kommt zum Adel hinzu, und in Deutfchland 
bleibt doch gewiß der Edelmann ein Edelmann, wenn er aud) feine 
einzige Hufe befigt. Wenn aber der Adel auch ohne Grundbefiß et- 
was ift, fo muß in ihm etwas liegen, was fich nicht durch großen 
Güterbefip ausmitteln und darftellen läßt. Der ihm eigenthümliche 
und wefentliche Ritterfinn, die Seele gleihfam des Adels, ift ein zar- 
tes Wefen, faft eben fo zart, wie die jungfräuliche Unfchuld, und will 
gleich ihr nicht definiert, fondern in lebendigen Perjonen dargeftellt 
fein. Ich kann Dir nicht fagen: Das ift der Nitterfinn, aber ich 
fann Dir fagen: In diefem Manne lebt der Ritterfinn. Wenn aber 
in dem Adel ald Stand eine folhe Seele wohnt, fo kann diefer oder 
jener einzelne zwar ein Ritter werden und in den Stand hinein 
wachſen; damit fich aber eine gefamte Ritterfhaft darftelle, wird 
vorauögefept, daß das Inſtitut von Jahrhundert zu Jahrhundert 
fortlebe und die Flamme des Nittergeifted bewahrt werde vom Ba- 
ter auf den Sohn. Jedes Glied des Standed muß von Kindesbei- 


197 __ 


nen an willen, daß ed zu diefem Stande gehört, und Die englifdhe 
Einrichtung, nad) welcher ein jüngerer Sohn ober ein jüngerer Zmeig 
der Familie unvorbereitet plöglich durch den Tod des älteren zum Adli⸗ 
hen gemacht wird, verträgt ſich nicht mit dem Geifte des Adels. 
Ungeachtet diefer und vieler anderen entgegenftehenden Anfichten 
blieb Perthes dennoch im ganzen der Auffaffung treu, welche Reh: 
berg ſchon 1803 in feiner Schrift „über den deutichen Adel” ausge 
fprochen hatte. In einer Reihe von Briefen, die in veränderter Ge- 
ftalt unter dem Titel „Etwas über den deutfchen Adel’ gedrudt wor: 
den find; fuchte Perthes das ganze Verhältnis fich felbft deutlicher zu 
machen. Dir ift, heißt es in denfelben, Ritterthum gleichbedeutend mit 
Adelftand. Das zünftige Rittertpum aber ift doch nicht der Adel, fon- 
dern nur eine einzelne vorübergehende Geftalt des Adels geweien und 
läpt jich nicht deshalb, weil es ehrmürdig und herrlich war, für unfere 
Zeit wiederherfiellen. Ritterthum, aus dem Mittelalterlichen ind 
Reudeutfche überfept, ift Militäradel; wie aber kann, ſeitdem ſich 
1813 das ganze Volk den Sporn verdient hat, heute ein Militäradel 
befteben? Dem Nitterfinne, wie Du ihn poetifch auffaffeft, fehlen 
für unfere Tage die Ritterburgen, die Ritterherrfchaften und die Rit- 
ter felbft. Der Nitterfinn müßte doch ein Sinn fein, der nur oder 
doch vorzugäweife nar im Adel lebte. Wenn Dir nun Ritterthum und 
Militäradel zufammenfällt, fo muß Dir auch NRitterfinn und Officier- 
ehre ein und. dasfelbe fein. Das Wefen aber der Officierchre Tiegt 
barin, daß fie feinen Zweifel an perfönlihem Muth duldet und au 
den entfernteften Schein der Feigheit fchon mit Blut abwäſcht. Das 
ift Officierehre, fo weit reicht fie,. weiter aber auch feinen Schritt; denn 
Frömmigkeit, Rechtfchaffenheit, Treue, Muth, Ehrerbietung gegen das 
weibliche Geſchlecht, das alles ift nie und nimmermehr Eigenthum 
eined Standes, ſondern ift etwas, was der Menſch ald Menfch haben 
oder doch gewinnen foll ohne irgend eine Rüdjicht auf feinen Stand. 
Wenn Du daher nicht die Officierehre zur Seele des Adels machen 
willft, fo muß unfer heutiger Adel eine andere Grundlage haben, al? 
den von Dir behaupteten Ritterfinn, und dieſe andere Grundlage kann 
ich nirgends finden, als in dem großen, an beftinimte Familien feſtge⸗ 
bundenen Grundbeſitz. Adelsgeſchlechter und grundherrliche Geſchlechter 


198 


fheinen nur ein und dasſelbe und der grundherrliche Erbadel fcheint mir 
ein nothwendiges und natürliches Element des deutichen Landes und 
des deutſchen Volkes. Iſt dieſe Anficht richtig, fo fann aber auch der 
Mdel eben fo wie das Grundeigenthum nur auf den älteften Sohn 
übergehen und die Nachgeborenen müflen in die anderen Etände des 
Volkes zurüdtreten, wenn nicht ganz Deutfchland mit unberedhtigten 
Candidaten für alle einflupreihen Stellen überſchwemmt werben foll. 
Perthes konnte feine Anfichten über die Unhaltbarkeit der gegen- 
wärtigen Stellung des Adeld den dieſem Stande angehörenden Freun⸗ 
den unter Umftänden fehr fcharf hervorheben, aber anderen gegenüber 
verhehlte er Die große Beſorgnis nicht, mit welcher er die wilden An- 
griffe auf Die nad) Herlommen und Geſetz beftehenden Rechte des Adels 
betrachtete. Ich fige nicht auf der ariftofratifchen Bank, fchrieb er im 
Frühjahr 1821, und mein Auge fchielt auch nicht zu dem Adel hin- 
über, Als freier Bürger einer deutichen Stadt auf meinen Beinen feft 
zu ftehen, das ift mein Wunfh und Wille; aber das fchlieht nicht 
aus, daß auch andere in anderen Berhältniffen feft auf eigenen Bei⸗ 
nen ftehen. So viel freilich ift mir gewiß: Der Adel, fo wie er ift, 
kann nicht fortbeftehen und wird nicht fortbeftehen ; aber fehr ungewiß 
und undeutlich bleibt mir die Antwort auf die Frage: Warum find 
Vermögensrechte unantaftbar, wenn PBerfonenrechte entzogen werden 
fönnen? warum fann id dem Wohlhabenden nicht mit demfelben 
Rechte fein Vermögen wie dem Edelmann feine Adelsrechte nehmen? 
Soll dad Boll, wie Ihr Liberalen wollt, wirklich nur aus Gleichen 
beftehen,, fo bleibt es zwar demungeachtet möglich, daß ich mit mei« 
nem eriworbenem Vermögen fchalten und walten fann, wie ich will; 
aber wie wird Gleichheit herrfchen Fönnen, wenn der Sohn, der zu- 
fällig einen reihen Vater hat, Schon deshalb mitten unter Darbenden 
ein bequemes, träges Leben führt? was hat mein Sohn für ein Recht 
auf mein faner erworbene Gut? Sollen die Kinder nicht eben jo 
thätig fein als die Eltern ? ift die gefellfchaftliche Ordnung zum Nutzen 
fauler Bäuche gemacht? Nein! Eollen wirklich alle gleich fein, fo 
muß das Eigenthum, wenn fein Befiger ftirbt, an den gefellichaft- 
lichen Berein, der es neu vertheilt, zurüdfallen. Aber damit ift es 
noch lange nicht genug, um die Gleichheit wirklich herzuftellen. Die 


⸗ 


199 


Berichiedenheit in der Erziehung der Kinder wird au, wenn dad 
Erbrecht aufgehoben ift, immer wieder Ungleichheit heroorrufen. Wes⸗ 
bald jollten die Kinder der Armen deshalb, weil ihre Eltern weniger 
arbeiteten, weniger gebildet, weniger unterrichtet, weniger fittlich ala 
die Kinder der Wohlhabenden erzogen werden? Alſo werden wohl 
allgemeine Bolfderziehungshäufer gebaut und alle Kinder in ihnen 
untergebracht werden müjjen. Das ift Die Gonfequenz der Forderung, 
dag dem Adel feine befonderen Nechte entzogen werden müßten. Nun 
weiß ich zwar, daß alle Gonfequenz vom Zeufel-ift; aber derer we⸗ 
gen, die ſich heutzutage fo viel auf die Gonfequenz berufen, ift e8 
doch recht gut, theoretiich zumeilen ganz conjequent zu fein. Manche 
fehen dann vielleicht, Daß ed um die Conſequenz ein gefährliches Ding 
ift, und werden anderer Meinung. 


Oeftreih und Preußen während ber erften Jahre nad den 
Karlebader Beſchlüſſen 
1819 — 1822. 





. Die Karlebader Schlüffe und die Wiener Schlußacte erhielten für 
eine Neihe von Jahren Ruhe und äußere Ordnung in Deutichland. 
Eine neue Frift hatten die Regierungen gewonnen, um, ungeirrt durch 
unberufene Schreier und tumultuarifche Auftritte, fich politifch fchd- 
pferifch zu bewähren. Wenn aber in jener Zeit viele einen erften 
Schritt, einen neuen Anftoß von der Bundesverfammlung erwarteten, 
jo vergaßen fie, daß diefe Bundesverfammlung aus Bevollmächtigten 
beftand, welche nicht nach eigener Einficht und Ueberzeugung, fondern 
nach dem Willen ihrer Höfe zu reden und zu ſtimmen hatten. Bon 
den Regierungen der einzelnen deutfchen Staaten, vor allem alfo von 
Deftreidh) und Preußen hing es ab, ob die Zeit der wiederum ver- 
gönnten Ruhe zur Yusbildung der politiihen Verhältniſſe benupt 
werden würde, oder nicht. 

Die Erwartung gut unterrichteter Männer über den Weg, den 
Oeſtreich einichlagen werde, findet fich fehr deutlich in einer Mitthei— 


200 


lung audgefprochen, welche Perihes aus Wien erhielt. Sie haben 
ohne Zweifel, heißt es in derſelben, den Brief des Fürften Metternich 
gefehen. Mit Recht hält der Fürft die Rückkehr zum Alten für eben 
fo. gefährlich, wie den Uebergang zu Neuem. Das eine wie dad an- 


dere fann den Ausbrud ‚von Unruhen herbeiführen, und Unruhen 


müſſen in der'gegenwärtigen Epoche um jeden Preis vermieden wer⸗ 
den. Es darf daher von der politifchen Ordnung, wie fie nun einmal 
befteht, nicht abgewichen werden, weder um rüdwärt® noch um vor- 
wärts zu kommen. Die unbedingte Aufrehthaltung ded Vorhande⸗ 
nen, mag ed entftanden fein Durch Die Revolution oder gegen die Re⸗ 
bolution, ift das einzige Rettungsmittel und vielleicht auch ein Mit- 
tel, um wieder zu gewinnen, was bereit3 verloren fcheint. Hm Die- 
fen Grundſatz der Fürſten nicht nur für die öftreihhiichen Staaten, 
fondern auch für Deutfchland in feiner ganzen Strenge durchzuführen, 
wird ed Oeſtreich an Macht nicht fehlen; ift doch da® ganze Bundes⸗ 
verhältnis fo eigenthümlicher und wunderlicher Natur, daß, es feine 
Theilnehmer ſchwach im Schaffen, aber ftarf im Berhindern macht. — 
Oeſtreich konnte, wenn es fein Ziel erreichen wollte, unmöglich das 
Gewicht der zu einer großen politifchen Macht herangewachfenen öf- 
fentlihen Meinung überfehen und lieg mancherlei Berfuche anftellen, 
dieſelbe feinen Anfichten geneigt oder doch weniger abgeneigt zu 
maden. . . 

WVon 1817 bid 1819 gab Freiherr von Hormayr, damald noch 
Hiſtoriograph des Neiched und noch nicht mit Metternich zerfallen, die 
allgemeine Gefchichte der neueften Zeit im öftreichifchen Sinne heraus. 
Hormayr'd Buch habe ich mit Intereſſe gelefen, fchrieb im Juni 1819 
ein Freund an Perthed. Es ift immer merkwürdig, gedrudt zu fehen, 
was man fonft nur in mündlicher Rede hörte. Aber freimüthig möchte 
ich das Buch nicht nennen, wie ed wohl mandje thun. Wer wie Hor« 
mayr Metternich gradezu unter die Götter feht, kann leicht etwas 
ftarfe Urtheile über die Sofephinifche Regierung wagen, die nota bene 
in Wien jegt nicht beliebt if. Die Anfichten über Preußen? . Politik 
im Revolutionskrieg und 1805 unterfchreiben wir alle, aber Oeſtreichs 
Sache ift doch überalt fo advocatoriſch geführt, 3.8. ın der Bertau- 
hung von Mainz gegen Benedig, in der angedeuteten Heirath der 


201 I _ 


Marie zuiſe u. ſ. w., daß man bald mertt, zu welchem Zwecke das 
Buch gefchrieben ift,. und alles Zutrauen zu einem ſolchen viſtoriker 
verliert. 

Seit dem Fruühzahr 1820 befämpfte ſodann Friedrih Schlegel 
in feiner Zeitfchrift Concordia alle Abftufungen und Geftaltungen der 
Feindſchaft gegen das Beftehende mit der ganzen Kraft feines großen 
Talented. Perthes wurde vor allem durch den Auffag „Signatur des . 
Zeitalterd” Tebhaft angeregt und fuchte im Briefwechfel mit verſchiede⸗ 
nen Freunden ſich ein ſicheres Urtheil über denſelben zu bilden. Grade 
der große Eindruck, den der bis jetzt vorliegende erſte Theil der Ab⸗ 
handlung auf mich macht, ſchrieb ihm ein Freund, heißt mich vor- 
fihtig fein. Wie viel dunkel Gefühltes und unvollkommen Erkanntes 
ift hier Mar und finnig audgefprochen! Aber im Ganzen finde ich eine 
Abfichtlichkeit der Anordnung. und eine Künftlichkeit der Haltung, die 
mid) noch zu feinem feiten Urtheil fommen läßt. Die hiftorifch- phi- 
loſophiſchen Unterfuchungen find mit fo vieldeutigen Worten geführt, 
daß fie fi) auf der Zunge umdrehen laffen und den Sinn verwirren. 
Ach bin überzeugt, daß Schlegel bei der Herausgabe diefer Zeitfchrift 
nicht die unbefangenie Erforfhung der Wahrheit, fondern die Befefti- 
gung der päbftlichen Kirche im Auge hat. Es wäre nicht das erſte⸗ 
mal, daß große Gaben, tiefer Blick, umfaffende Gelehrfamfeit, ja 
die Elemente wahrer Weisheit felbit ſolchen äußeren Zwecken dienft- 
bar fein müßten. Daß e3 ihm um eine für gut gehaltene Sache Ernſt 
fei, bezweifle ih nicht; nur glaube ih, daß er, was den lebten 
Grundbegriff betrifft, in einer völligen Täufchung befangen iſt, und 
daß er vom erften Worte an alles auf den letzten Hauptfchlag berech⸗ 
net hat. Bevor dad Ende der Abhandlung erjehienen ift, ein feites 
Urtheil andzufprechen, möchte daher nicht gerathen fein. Eine Be— 
merfung aber mill ich doch jetzt fehon äußern. Es ift ein gefährliches 
Ding, Gutes und Böfes an Maffen und in Maffen beobashten und 
richten zu wollen. Wer ein ganzes Zeitalter ſchmäht oder lobt, trifft 
freilich fo gewiß irgend etwas, wie der, welcher einen Stein in einen 
biden Haufen wirft, aber etwas ift nicht alles. Nur allgemein be» 
trachtet fheinen Die Dinge immer ſchlimmer oder. beffer, als fie find, 
weil ein Unendliches vor den engen Focus unferes ſchwachen Auges 


202 


gebracht wird. Wir wählen aus dem Geſchehenen, wir reducieren, 
wir abftrahieren, und in dem allgemein audgefprochenen Urtheil feh- 
len meiften® grade die Schattierungen, durch welche die Thaten und 
die Zeiten doch erft ihre rechte Wahrheit und ihren rechten Charakter 
erhalten. Das Zeitalter vor der Revolution wird 3.2. jebt ald all- 
gemein erfchlafft, kleinlich und frivol bezeichnet. Sagte man das von 
den höheren Ständen und von der Literatur, jo könnte ich einitim- 
men und wohl noch härter al® Schlegel urtheilen. Aber wird ein 
ganze? Zeitalter durch die Literatur und durch die geringe Minder- 
zahl der fogenannten Gebildeten zu dem, was e3 ift? Ich möchte 
behaupten, daß, während die da oben in den lesten Sahrzehnden 
vor der Revolution den Thurm zu Babel bauten, unten noch ein- 
fältiger Sinn, Genügfamleit und ftomme Sitte zu Haufe war. Nur 
langfam theilt fi von oben die Richtung nad unten mit und erft in 
heutiger Zeit, in welcher oben wieder eine Umkehr zum Befleren be- 
merkbar wird, bemächtigt ſich Verderbnis, Leichtfinn und Gottver- 
geffenheit der unteren Stände. Da lobe oder ſchmähe mir nun jemand 
auf einigen gedrudten Seiten frifchweg ein ganzes Zeitalter! Und 
nun gar das vielgeitaltige Wefen, das zwifchen gut und böfe ge- 
.theilte Herz des einzelnen! Wer findet da den Faden, wer fann aus 
der That den Gedanken richten? Sollten nicht oft die verborgenen 
Tugenden der einzelnen da® Verderbnis der Völker audgleihen? Das 
gefährlichfte aber ift ed, die Zeit, in deren Strom wir felbft ſchwim⸗ 
men, meiftern und troftlo® verurtheilen zu wollen. Seiner Zeit einen 
haltenden Damm entgegenzumerfen vermag niemand ; aber unfer In⸗ 
neres iſt Gottlob zu jeder Zeit unfer eigen, und fo ſchlimm ift feine 
Zeit, dag ich für mich nicht den Weg zum Heile finden könnte. Von 
innen heraus muß die befjere Zeit fommen. Sie wird lommen, aber 
fie will und wird ſich anders geftalten ald die vergangene. Was leben- 
dig ift von den alten. Formen, wird ſich in den Berfaffungen erhalten, 
aber das Bergängliche darf deshalb nicht, wie man in Deftreih zu 
wollen fcheint, als unvergänglich verehrt und dad Todte nicht ale 
lebendig behandelt werden. Roc mancher haftig gemachte Verſuch 
wird fehlfchlagen, aber vor einem gänzlichen Berfinten und Zerfallen 
der europäifchen Menfchheit ift mir nicht bange. Ihr ift durd den 


208 __ 


chriſtlichen Glauben ein Princip des inneren Lebens, ein Unterpfand 
der Wiedergeburt gegeben, welches feine geiftige Kraft in allen Ber- 
wirrungen des äußeren Leben? bewähren wird. 

Auch den Wiener Jahrbüchern fuchte die öftreichifche Regierung, 
wie mancher Brief an Perthes nachweift, eine allgemeine Berbreitung 
in Deutſchland zu verichaffen und ftrebte eifrig, politifhe Kräfte für 
biefelben unter den hervorragenden Männern zu gewinnen; aber alle 
diefe Verſuche blieben ohne Erfolg. Die Abfishten Deftreichd für 
Deutfchland und für Europa fanden in zu ſtarkem Widerfpruche mit 
allem, was die Zeit bewegte, und blieben für niemand ein Geheim- 
nie. Sehr allgemein war feit 1819 dad Midtrauen gegen die Regie 
rung Oeſtreichs verbreitet, welches ein Brief an Perthes in folgenden 
Worten andeutet: Das jebt fehr erfichtlich hervortretende Streben dee 
Wiener Hofe® hat feine Wurzel nicht in einzelnen Männern und nicht 
in den vorübergehenden Greigniffen des Tages, fondern in der ge 
ſamten Natur und Gefihichte des Reiched. Eeitdem Deftreich in den 
Jahren der Reformation den großen Bewegungen der Geifter nicht 
hatte folgen wollen ober fönnen, fah es fich ſelbſt wie eine fremdar- 
tige Erfcheinung in der neuen Welt ftehen und begehrte, um dieſer 
unheimlichen Lage zu entgehen, dag, da Deftreich fich nicht in die Zeit 
fhiden fönne, die Zeit ſich in Deftreich ſchicken folle. Seitdem fpäter 
das türfifche Reich aufgehört hatte, eine Gefahr für Europa zu fein, 
war das Band weggefallen, welches die unvereinbaren Gegenfäge der 
öftreihifhen Staaten zufammengebunden hatte, damit fie vereinigt 
eine Bormauer für die Chriftenheit bilden könnten. Die nicht gemeine 
Herricherfeele Joſeph's II. ahnete bereits’ die künftige Zerfegung ber 
öftreichifchen Herrlichfeit, und feit Joſeph ift Diefe Ahnung die beiwe- 
gende Kraft in der öftreichifcehen Regierungspolitif geworden. Damit 
das Aggregat der Faiferlihen Länder nicht durch Ausbildung diver- 
gierender Richtungen audeinanderfalle, erfchien feit dem Ausbruche der 
franzöfifhen Revolution die Hemmung der geiftigen Entwidelung und 
da® Zurüddrängen der vorfchreitenden einzelnen Landestheile ald das 
Lebensprincip der Gefamtheit Deftreihd und als die conftante Regie⸗ 
rung3praris für da8 Innere. Ceitdem nun Deftreich nah Napoleon’? 
Befiegung auch nach außen wieder Einfluß übt, muß ed, wenn es 


204 
nicht mit fich felbft in Widerfpruch gerathen will, alle Kräfte daran 
feben, um diefelbe Tendenz, die ed im eigenen Innern verfolgt, auch 
in jedem anderen Staate verfolgt zu fehen. Es ift daher durchaus 
dem politifhen Bedürfniffe Oeſtreichs entfprechend, wenn deſſen Ne- 
gierung nicht nur die revolutionären Principien, fondern auch jede 
politifche Idee, welche im Kaiferreiche gar nicht oder doch nur in ei- 
nem einzelnen Rande desfelben verwirklicht werden kann, überall in 
Europa befämpft und zu unterdrüden ftrebt. Wie Deftreih in Aas 
hen, in Karlabad, in Wien aufgetreten ift, fo wird es fortan in der 
Bundesverfammlung und bei jedem fünftigen europäifchen Congreß 
auftreten. Das darf niemand vergeffen, der in deutfchen Staatd- 
verhältniffen urtheilen oder handeln will. | 
Während Deftreihd Gegenfab gegen die gefamte politifche Zeit- 
rihtung faft wie eine unabänderliche Naturnothwendigkeit betrachtet 
und allenfall® bedauert ward, ſah man in Preußeng ganzer Haltung 
‚ nur eine fehwere Berfchuldung und verfolgte Preußens Regierung mit 
grimmigem Haſſe. Zwar hat der fpätere Gang der Gefchichte außer 
Zweifel geftellt, dag auch in dem Thun und Laffen der Männer, 
welche damal® Preußen leiteten, die Urſachen großen Unglüdes zu 
juchen find; aber Berblendung war es, die unermeßlichen Schwierig- 
feiten, die nicht minder in Preußens als in Oeſtreichs politifcher Stel⸗ 
lung begründet waren, zu leugnen und in Preußen, weil es Schat- 
ten hatte, das Licht nicht zu fehen. Nur wenige hatten damals ein 
Berftändnis davon, was ein großartig ausgebildetes Kriegäheer und 
eine redliche .und wohlwollende Verwaltung für dad Zufammenleben 
der Menfchen zu bedeuten hat; nur wenige danften Gott dafür, daß 
in der verworrenen Zeit ein König über Preußen herrfähte, welcher 
an ftrenger Rechtlichfeit und maßhaltender Billigkeit, an Ehrfurcht vor 
Gott und an gutem Willen. für das Land und für das Volk feinem 
feiner Unterthanen nachſtand; nur wenige machten ſich dad Unheil in 
jeiner ganzen Größe lebendig, welches Deutſchland treffen mußte, 
wenn in jenen Jahren Frivolität und Bosheit, launifche Willkür und 
despotiſches Gelüfte, wie es oft genug auch auf Thronen erfchienen 
ift, die Leitung Preußens in der Hand gehabt hätte. Anerkennender 
Danf für das gemährte Gute war der Zeit fremd; nur das, was fie 


205 


nicht befaß, ftellte fich vor ihre ergrimmmte Seele und wenig fehlte, fo 
hätte man mit Gott gegrollt, wie wenn er den Preußen ein gute? 
“ Hecht, in jedem Zeitabfchnitte einen außerordentlihen König zu ha⸗ 
ben, vorenthalte. | 

Die Anfichten über Preußens Stellung, welche während der er⸗ 
ften Jahre nach den Karlsbader Schlüffen in bedeutenden Kreifen ver 
breitet waren, fpricht der Brief eines einflußreihen Manned an. Per- 
thes aud. Preußen kennt fchon feit einem Jahrhundert nur ein ein« 
ziges Ziel, heißt es in demfelben; ed will um jeden Preis zu den 
großen europäifchen Mächten gehören, durch alle feine Staatsmän⸗ 
ner, durch feine Beamten, fein Heer, feine Bevölkerung geht. das 
Streben nad diefem Ziele inftinctiv hindurch. Seine reelle Macht und 
Größe fteht mit demfelben in fchneidendem Widerfpruch; aber die’ 
hohe Ausbildung feiner Verwaltung und vieler feiner politifchen In» 
ftitutionen legt eben fo wie die geijtige Entwidelungäftufe feiner Be⸗ 
wohner ein unberechenbares Gewicht in die Wagſchale und führt ihm 
Deftreich gegenüber die anderen beutfchen Staaten ald natürliche 
und bis auf einen gewiffen Grad abhängige Bundedgenoifen zu; 
Preußens Macht hat eine andere Grundlage als jeder andere Staat 
der Welt, und diefe Grundlage fordert die zarteſte Nüdjicht und. die 
forgfamfte Pflege. Unmittelbar aber nach den Freiheitskriegen ift 
Preußen mit feinen eigenen feit 1808 bervorgetretenen Inftitutionen 
und mit der geiftigen Bedeutung feiner eigenen Bevölferung in ſchrof⸗ 
fen Widerfpruch getreten. Seitdem es dem eigenen Lande die Vers 
faffung verweigerte und jeder liberalen Maßregel im übrigen Deutfch- 
land entgegentrat, hat es die einzige Grundlage feiner europäifchen 
Stellung untergraben; e3 hat die eigene Bevölkerung zum Gegner und 
bat fich die übrigen deutfchen Staaten entfremdet. Diefen in fein 
eigened Innere aufgenommenen Widerfpruch büßt es fehwer, indem 
es troß ded Namen? einer europäifchen Macht eine durchaus unter 
geordnete Stellung gegen Rußland und Oeſtreich einnimmt. Es weiß 
fehr wohl, daß feine felbitändig geäußerte Stimme in dem europäi- 
fhen Rathe überhört werden würde, und fagt daher ftet3 nur das, 
was eine andere wirklich in Europa zählende Macht gefagt hat oder 
fagen will; in den erften Jahren nah dem Kriege warf es fih Ruß⸗ 


206 


land, jebt Deftreich. in die Arme. Die Regierung hat eine unüber- 
windliche Abneigung vor jeder politifchen Maßregel, welche die unter 
den gegebenen Berhältniffen einzig mögliche Grundlage der Kraft 
Preußens ftärfen kann; in dem Staate jelbft aber liegt der Trieb, ſich 
mit fich felbit zu verfühnen. Niemand kann fagen, ob der Wille der 
Regierung oder die Triebfraft ded Staated den Sieg davon tragen 
wird. Gewiß aber ift ed, daß Preußen die Möglichkeit eines felbftän- 
digen Willen? und die Kraft, denfelben in Europa geltend zu machen, 
‚nur gewinnen kann, wenn. e8 im Inneren eine liberale Berfaffung 
ausbildet und durch Entfagung jelbitfüchtiger Anmaßungen die Kräfte 
der minder mächtigen Bundesftaaten mit feiner eigenen Macht ver- 
ſchmilzt. Bis dahin wird ed auch in den deutſchen Verhältniffen nur 
al8 Mittel dienen, den Geboten Deftreihd größeren Nachdruck zu 
geben. - 

Viele Briefe politifhen Inhalts erhielt Perthed in jenen Zahs 
ren aus den verfchiedenartigften Streifen, aber auch nicht in einem ein- 
zigen findet ſich Bertrauen auf die an der Spike der Gefchäfte ftehen- 
den Männer audgefprochen, niemand glaubte, daß fie die Aufgaben 
zu erkennen vermöchten, welche in der Gefchichte und in der Stellung 
Preußen? zu Deutjchland und zu Europa gegeben wären. Schon im 
Frühjahr 1817, als zuerft der Gegenfag zwifchen den höchften preußis 
ſchen Staatdmännern ſich ſchärfer zu geftalten begann und der alternde ° 
Staatsfanzler, obſchon er das Steuer noch führte, unficher zwiſchen 
den ftreitenden Parteien und deren Führern bin und ber ſchwankte, 
hatte Nicolovius an Perthes gefchrieden: Mir ift das Herz gepreßt, 
mein lieber, verehrter alter Freund; nicht daß ich an der Zeit verza- 
‚gen oder irre werden follte; im Gegentheil täglich tritt Die Wiederge- 
burt des. Bolfed mir Harer vor die Augen und die herrliche Läuterung 
des nachwachlenden Geſchlechts. Das aber ift mein Gram, daß die 
Oberen von der Zeit nicht Durchdrungen find, fondern fih nur be- 
läftigt und angefochten von ihr fühlen und daher Stimmen wie der 
Schmalziſchen Ohr und Herz leihen und gern im alten Sünden- 
fchlafe ungeftört fortträumten. Sieht man, was gejchehen follte und 
leicht geichehen könnte, wenn Gottes Geijt die Führer des Volkes triebe 
und aus ihnen fpräcdhe, umd fieht man dann, was wirklich geſchieht: 


207 


Nichts oder Halbe oder Verkehrtes, jo muß man freilich ſich grämen, 
daß die Zeit des Heild fo verfcherzt wird. Dennoch wankt mein Glaube 
nit. Was Taufenden und aber Taufenden die Bruft bewegt, wird 
doch am Ende That und wir erleben noch beſſere Tage; Gott wird 
fich feine Zeit erfehen, troß den. blöden, dumpfen oder leichtfinnigen 
Machthabern, die ihm und feinen Wundern zu widerftreben gedenken. 
Plutarch erzählt, daß man die Palmen mit Steinen erſchwere, weil 
diefer Baum alddann defto Fräftiger und grader in Die Luft ſteige. So 
kommt mir jept der Zuftand Preußens vor und in diefem Glauben 
bin ich felig. — In feiner Sprache drüdte Görred diefelbe Sache 
aus, wenn er 1817 über Hardenberg und defien Gehilfen an Perthes 
ſchtieb: Dad ift ein Haufe alter, furchtfamer, verfchüchterter Leute; 
‚halb aus boͤſem Gewiſſen, halb aus undiäter Lebensart und Nerven- 
zufällen fahren fie bei jeden Geräufch zufammen und vertragen gar 
feine Quft, ohne daß ihnen Kopf und Geſicht aufſchwellen und die 
paar Zähne fehmerzen. So lange der Franzofenfchreden als heilfa- 
med Gegengift wirkte, ging es leidlich; nun ift die alte Hpfterie zus 
rüdgefehtt. 

Im März 1817 war der Staatdrath eingeführt und aus deſſen 
Mitte die Commiffion zur Ausarbeitung einer Verfaſſungsurkunde er- 
nannt. Weber die Geftaltung der Landesrepräfentation und über den 
von dem Finanzminifter Grafen Bülow vorgelegten Entwurf einer 
neuen Steuerverfaffung entbrannte ein heftiger Kampf unter den Füh- 
rern der fich entgegenftehenden Parteien. Wilhelm von. Humboldt 
galt feit diefer Zeit ald Haupt der Oppofition. Ueber unfere öffent 
liche Lage kann ic) Ihnen nicht mit wenigen Zeilen und überhaupt 
nicht fchriftlih Auskunft geben, fchrieb im November 1817 ein mit 
bandelnder Mann an Perthes; wir fchlafen nicht, aber das ftarfe Le- 
ben ift noch geftaltlod und daher noch nicht unbedingt erfreulich. Der 
Saatöfanzler feheint audgelebt zu haben und um feinen künftigen po- 
litiſchen Nachlaß zanfen fich jest ſchon lachende Erben. Wichtige Tage 
ftehen un® bevor, in denen der Ernjte wohl die Hände zum Himmel 
aufheben mag. — Das Ergebnid des Parteifampfed war vorläufig, 
daß Die Steuerfrage wie die Verfaſſungsfrage zur Erledigung an die 
Zukunft verwiefen, Wilhelm von Humboldt dur feine Ernennung 


208 


zum Gefandten in London von dem Kampfplage entfernt und tm Som⸗ 
mer 1818 nicht er fondern der biöherige dänifche Gefandte in Berlin, 
Graf Ehriftian von Bernftorff, zum Minifter ded Auswärtigen er- 
nannt ward; im Januar 1819 aber erhielt wiederum Humboldt einen 
Ruf nah Berlin und gleih darauf das halbe Minifterium des Innern, 
während die andere Hälfte dem Herm von Schudmann verblieb und 
das Minifterium des königlichen Haufe dem Fürften Wittgenftein 
ftatt feines bisherigen Polizeiminifteriumd übertragen ward. Im 
_ Sommer 1819 begannen hierauf die Verfolgungen der Demagogen 
in Berlin. Kommen Sie do auf einige Wochen zu und berüber, 
ſchrieb im Juni ein Freund. aus Berlin an Perthes; Ihre Reife würde 
eine Reife auf den Veſuv fein, wenn auch feine malerifhe. — Wir 
fhiffen hier jet, heißt e8 in einem Briefe aus dein Auguft 1819 an 
Perthed, auf einem wunderſamen Meere, dad, von entgegengefeßten 
Strömungen bewegt, in ſturmhohen Wellen geht. — Bei diefem 
Kampfe der Geifter und der Dämonen, äußerte ein anderer Freund, 
werden, wie Quther gefagt, nach Kriegslauf einige fallen, Die Siegen- 
den aber gefrönt. Und das macht mir Luft; denn ich bin fiher, dag 
die unreblichen und nur dem eigenen Sch Iebenden Klugen fallen und 
die auf den Feld der Wahrheit Geftemmten endlich beftehen werden. — 
Zunädjft freilich ging die Hoffnung des Schreibers diefer Zeilen nicht 
in Erfüllung. Auf Beranlafjung der Karlsbader Beihlüffe war es 
im Herbfte 1819 zu einem faft offenen Kampfe im Staatdminiftertum 
gefommen. Wilhelm von Humboldt, Beyme, Boyen ftanden auf 
der einen, Fürft Hardenberg und Graf Bernftorff auf der anderen 
Seite und Fürft Wittgenftein arbeitete mit einem ſtarken Anhange im 
Stillen. Der Ausgang des Kampfes blieb-nicht lange zweifelhaft: am 
Ende de? Jahres wurden Humboldt und Beyme aus dem Minijtes 
rim entfernt, nachdem kurz zuvor die Generale Boyen und Groll- 
mann den geforderten Abfchied erhalten hatten. Friede und Zeftig- 
feit herrſchte zwar auch jeßt nicht im Staatsminiſterium, aber die fort⸗ 
dauernden Spaltungen hatten fortan ihren Grund nicht in einem 
Kampfe der politifchen Principien, fondern in Streitigkeiten der Per- 
fonen. Es ift unmöglich, ſchrieb ein tief in das Getriebe des Har⸗ 
benberger Kreifed eingeweihter Mann an Perthes, ſich ein Bild von 


209 


der allgemeinen Verwirrung innerhalb der höchften Regierung zu ma⸗ 
hen, ohne unmittelbar in diefelbe hineingefehen zu haben. Partei⸗ 
gegenfäbe liegen wohl auch den Kämpfen zum Grunde, welche in 
dem Minifterium, wie es nun zufammengefebt ift, geführt werden; 
aber die jebt noch auf dem Kampfplate ftehenden Parteimänner ha⸗ 
ben Sahre hindurch über fo viele Kleinigkeiten, Perjönlichkeiten und 
vorübergehende, nur dem Tage angehörende Dinge miteinander ge⸗ 
fämpft, daß fie eigentlich fämtlich nergelfen haben, was fie urfprüng- 
ih wollten; eine Menge kleiner, meift aus perfönlichen Intereſſen 
hervorgegangener Cotterien ängftigen und heben einander und bekäm⸗ 
pfen fich erbost um leeres Stroh. Selbſtſucht, Frivolität, Kleinlich 
feit haben den rechten Exrnft verdrängt. Die einen frohnen dem’ Zeit- 
geift, um den Zeitgeift zu betrügen, reden überall vom Licht, mwäh- 
rend fie fi um feinen Preis von der Finfternid trennen möchten, 
und wollen den Schein ftatt der Wahrheit geben. Die anderen wol« 
len Stellung und Borrechte bewahren oder wieder erwerben und hän- 
gen unter dem Namen „höhere Anficht”, „tiefere Gefinnung” einen 
Prunflappen um die nadte Selbftfudt. Wie kann bei einer folchen 
Regierung irgend etwas fich geftalten! Difformitäten und Inconſe⸗ 
quenzen find die Miögeburten, welche täglich zu Tage gefördert wer⸗ 
den. Unter den Männern, die an zweiter und dritter Stelle flehen, 
meinen manche es gut und arbeiten ehrlich und fleipig, aber bei der 
Berwirrung nad) oben müflen fie fehl greifen und können troß aller 
Anftrengung dad Rad nicht aufhalten. Schon oft habe ich und nicht 
von den fehlechteften Leuten fagen hören, man müfle den gangen be⸗ 
ftehenden Plunder wegwerfen, damit dann aus dem Chaos ſich etwas 
neue? gebäre. — Die großen Fragen der Zeit fangen endlih an, 
auch unfere Regierung in Bewegung zu feben, beißt es höhnifch in 
einem anderen Briefe. Seit mehreren Wochen befhäftigt fih das 
Staatminifterium ununterbrochen mit dem Schnitte der Nöde, die 
von den jungen Leuten getragen werden, aber bis heute ift es noch 
zu feiner Bereinigung darüber gefommen, ob die deutichen Röde gänz- 
lich verboten oder unter der Bedingung, daß fie nicht unter einer be- 


ftimmten Länge feien, erlaubt werden follen. — Der Bang des öfe 
fentlihen Lebens hatte eine Zeitlang meinen Muth gebeugt, fchrieb 
Perthes' Leben. 11. 4. Aufl, 14 


210 


Nicolovius anı 21. Zuli 1820 an Perthed. Zu keiner Zeit freilich bin 
ich ſo befangen geweſen, daß ich nicht geieben hätte, wie viel Gefähr- 
liches in den Bewegungen der letzten Jahre liegt und. wie viel ein 
Gott oder gotterfüllter Prophet zu ftrafen und zu beffern hätte; aber 
die Menfchen, die nun ald Sieger ftrafend auftreten, die find nicht 
Gotterfüllte, nicht Höhere und Beſſere. Ihr Gott ift ein Teufel, der 
in niederen Leidenschaften verftedt liegt, ihre Einficht eine feichte, bes 
fhränfte, ihr Glaube eine Lüge und ein wahrhaft irreligiöfer Hang 
am Gewohnten, Gemeinen, Bequemen. Manches, was geichab, traf 
mich in meinen edelften Theilen zu fehmerzlih, als daß ich mit ge- 
wohnter Hoffnung auf die Zufunft hätte bliden Tönnen. Nun aber 
fehe ich nach Beobachtung des Beginnend, Fortführens und Endens 
der gegenwärtigen Machthaber, daß auch fie Werkzeuge in der Hand 
der ewigen Weidheit gewejen. Nicht das, wa? fie wollten, nicht Tod 
des neuen Reben? und Ermwedung ded Alten und Abgeftorbenen, fon- 
dern Räuterung bed Neuen, Lenkung des Strebend auf das Richtige, 
ernftere Befonnenheit und heilige Scheu werden fie bewirken. Der 
Schaden wird zu Gewinn, dad Gift zur Arznei fich verwandeln. 
Laffen Sie und alfo muthig weiter wandeln in der Welt, die wir un- 
fern Kindern hinterlaffen müffen,, nicht verzweifeln und dem verborges 
nen Gotte in feftem Glauben ergeben bleiben. 

Mit Humboldt's Rüdtritt war es entfchieden, dag Preußen für 
längere Zeit nicht nach den Anforderungen feined eigenen Lebens, 
fondern nad den Bedürfniffen, die aus der eigenthümlichen Lage 
Oeſtreichs herborgingen, geleitet werden würde. Cine Aenderung 
dieſes Verhältniffed trat auch dann nicht ein, ald der Staatskanzler 
im Jahre 1822 ftarb. Die Stellung Preußen? war verfhoben und 
die Meinungen über Preußen in Deutfchland verwirrt. Nur ein fefter, 
ſicherer, mit fih und Gott einiger Mann könnte, fehrieb ein preußi⸗ 
fher Staatdmann 1822 an Perthed, die Wogen ftillen, von denen 
Preußen umhergeworfen wird, und den haben wir nicht. Preußens 
hiſtoriſches Dafein und politifches Recht wird für nähere oder fernere 
Zeit die Quelle fürdhterlicher Kriege werden, und dann wird die jet 
hervorgerufene Verwirrung der Meinungen über Preußen ein uner⸗ 
meßliches Unglüd für Preußen fein. 


211 


Die öffentliche Meinung über bie beutfchen Angelegenheiten 
während der erften Jahre nach den Karlsbader Beſchlüfſen. 
1819 — 182, 





Bei der Stellung, welche Oeftreich und Preußen einnahmen, war 
ed freilich für Die Bundeöverfammlung nicht möglich, eine irgend er⸗ 
bebliche Thätigkeit zu üben. Bid auf die Kriegsverfaſſung und den 
Schus der Mediatifierten blieb alles liegen. Kaum wird man fi) 
wundern dürfen, wenn die in den gegebenen Verhältniffen und in 
dem Auftreten revolutionärer Demagogen liegenden Hinderungen und 
Gefahren ſehr allgemein überfehen und die eigentlichen Gründe des 
unbeilvollen Zuftandes fat ausfchließlich in der Schlechtigkeit der Re⸗ 
gierungen gefucht wurden. Weder in Öffentlihen Berfammlungen 
noch in der Preije durfte fih die durd) ganz Deutfchland herrfchende 
Stimmung Luft maden, aber fie durchzog als verbaltener Ingrimm 
die innerfte Sefinnung ded Volkes. In einem, wern auch nur Fleinen, 
Kreiſe tauchten ſchon feit 1820 Berfchwörungen aüf, welche den Um⸗ 
fturz des gefamten politifchen Zuftandes zum Ziele hatten, und auch 
Männer, welche das im Berborgenen wachjende Verbrechen nicht ab- 
neten, gaben der Stimmung ihred® Inneren in mündlichem und 
ſchriftlichem Berkehr einen entfprechenden Ausdrud. Angriffspunfte 
boten die Regierungen freilich. mehr als einen dar. 

Innerhalb mancher regierenden Familie und unter deren Unge- 
bungen und Anhängern wurde damald mit dem Begriffe der Obrig- 
feit bald mehr bald weniger bewußt die Vorftellung verbunden, daß 
die Krone ihren Träger aud einem Menſchen zu etwas Uebermenſch⸗ 
lichem umwandle und ihn durch die Verleihung eine® neuen politiſchen 
Vermögens innerlich hoch über alle nicht gefrönten Menfchen empor- 
hebe. Ein König follte, mochte er als Menſch fein, was und wie 
er wollte, ala Infpirierter gelten, das im PBolitifchen fein, was der 
Pabſt im Kirchlichen zu fein beanſprucht. Diefer mit unferer ganzen 
Geſchichte und der gefamten nationalen Anfchauungdweife in Wider. 
ſpruch ftehende Aberglaube mußte wohl die Deutfchen reizen, welche 

14 * 


212 


in ihren Fürften nie ein halbdämonifches, fpufhaftes Wefen, fondern 
immer und zu allen Zeiten den fernigen, männlishen Mann gefucht 
hatten, der das Recht und die Pflicht, fein Land zu regieren, von 
den Vorfahren ererbt hatte, wie jeder Unterthan fein Recht und feine 
Pflicht. Die Großen fühlen mehr und mehr, heißt e8 in einem Briefe 
an Perthes, daß fie nicht durch ihre Kraft, fondern durch die Kraft 
anderer über Napoleon gefiegt hatten; aber weil fie um feinen Preid 
dem Bolfe dankbar fein wollen, durch deifen mannhafte? Auftreten im 
legten Kriege fie zu dem, was fie jebt find, gemacht wurden, greifen 
fie zu einem bequemen Ausweg und reden ſich ein, fpecielle Gegen- 
ftände der göttlichen Gnade, politiihe Propheten, Bevollmächtigte 
und Stellvertreter Gottes, Abbilder feiner Weisheit, Untrüglichkeit 
und Unantaftbarkeit zu fein, und glauben an allerlei dämonifche Mitt- 
fer. Liſtige Menſchen willen diefen Glauben zu benugen und die gro- 
gen Herren an diefer ſchwachen Stelle und an noch fchmächeren zu faf- 
fen. — In demfelben Augenblide, heißt es in einem Briefe aus Ber- 
lin vom Juli 1820, in welchem verblendete Anhänger der Regierun- 
gen durch ganz Europa dad Wefen des monardhifchen Princips in einer 
politifhden Menſchwerdung Gottes gefunden haben wollen, wird das⸗ 
felbe monardifche Princip zur Caricatur durch Begebenheiten wie in 
Spanien und durd Skandale wie.in England. 

Weit allgemeiner ald der Widermwille gegen den hier und da ex 
hobenen Anſpruch auf Göttlichkeit nicht nur des Herrfcheramtes, fon- 
dern auch der Herricherperfon, war der Grimm verbreitet gegen die 
Neigung der Regierungen zu Schranfenlofigfeit des Rechts und zu 
Maplofigkeit des Handelnd. Ich weiß nicht, heißt es in einem Briefe 
an Perthes, ob ed Wahrheit oder Dichtung ift, wenn am Bundedtage 
gefagt wird, daß wir einer großen politifchen Gefahr in den letzten 
Fahren entgangen feien; wenn ed aber Wahrheit ift, fo bin ich fehr 
ungewiß, ob ic) mich darüber freuen foll oder betrüben. Eine Kata- 
ſtrophe überftanden zu haben, ift für viele eine größere Gefahr ale 
die überftandene Gefahr felbfl. Die Klugen befpiegeln fih, obſchon 
doch fat immer ein günftiges Gefchid die Rettung brachte, rückwaͤrts 
als Lenker und Leiter der Begebenheiten und trogen um fo mehr auf 
ihre Kräfte und Mittel, die Dummen verlaflen fih um fo mehr auf 


213 


ihr Glüd und beide blähen fich auf und werden blinder und deöhalb 
auch dreifter ald zuvor. Den einen wie den anderen ift ein gegen- 
wärtiged Elend wohlthuend, ein überftandenes ſchädlich. Das gilt 
nicht weniger von Regierungen ald von einzelnen. Nur wer wirklich 
mit fih und mit den Dingen abrechnet, und weife genug ift, zu er⸗ 
fennen, wie prefär alle die klugen Maßregeln waren, die von hinten 
herein jo gut fi audnehmen, und wie ſchmal die Grenze ift zwifchen 
einem guten und fchlechten Ausgang, nur der wird durch eine glüd- 
lic) überftandene Gefahr fehonender,, milder oder, wie Sie ed nennen 
würden, demüthiger. In diefer Weife mit ſich abzurechnen, fcheint 
aber die Meinung der deutfchen Regierungen nicht zu fein. 

Mit vulcanifher Beredfamkeit hatte Görres 1819 in feiner be- 
fannten Cchrift: Deutfehland und die Revolution, die Regierungen 
angegriffen. Perthes, um fein Urtheil über das Werk befragt, fehrieb 
Ende Septeinber 1819 an Görred: Gegen Staat, Religion und 
Sitte ift nichts im Buche; von diefer Seite aus fönnen Sie nicht an- 
gegriffen werden, aber die Gefinnungen und Abfichten, welche Sie 
den Regierungen zufchreiben, werden Sie eben fo wenig zu beweifen 
im Stande fein, wie die preußifche Polizei ihren Verdacht umd ihre 
Behauptungen republicanifcher Verſchwörungen bemeifen kann. — 
Sie fhrieben mir zulekt, entgegnete der inzwifchen nach Straßburg 
geflohene Görres im December 1820, ed möge mir jchiver werden, 
die von mir voraudgefegten Abfichten‘ der Regierungen zu bemeifen. 
Sept haben diefe felbft den mangelnden Beweis geliefert. Schon ein- 
mal ift e8 mir ähnlich gegangen, als ich im Widerfpruche mit allen 
Leuten vor zwanzig Jahren Napoleon ald einen Suetonifhen Tyrdn- 
nen bezeichnete. Heute wie damals ift freilich der Gang der Sachen 
nit abſichtlich, mit flarem Bewußtfein calculiert, fondern vielmehr 
inftinctartig durch dunkle Ideen hervorgetrieben. In diefen habe 
ih aber etwa® früher ald andere gelefen und der Welt die dunklen 
Ideen in deutliche Rede jebt ſchon feit fünf Jahren umgeſetzt; dafür 
haben die Herren den unbequemen Seher zum Lande hinaudgejagt. 
Das ift eben in der Kürze die ganze Gefchichte. Dad dumme Bolt 
wird noch eine Zeit hindurch in der Verwirrung umhertappen, aber 
Männer wie Sie müſſen fi ind Klare ſetzen, und müſſen willen, daß 


214 


deutfch jept wieder, wie vor 1813, ehrlos heißt. Webrigend wird es 
den heutigen Machthabern noch weniger ald Napoleon gelingen, zum 
Ziele zu gelangen; ift der Wolf in der Grube gefangen, fo werden 
Köther nicht da8 Regiment behaupten. Gegen dad Karlöbader Er- 
periment babe ich gar nichts; denn läßt Deutfchland das ſich bieten, 
fo zeigt fich eben die Leerheit ded ganzen Treiben? und wir find des 
Geſchnatters überhoben. Was ih von dem Liberalismus diefer Zeit 
halte, babe ich deutlich genug audgefprochen, aber e3 gilt Tyrannei 
gegen Tyrannei. Daß ich mit den Franzofen meinen Frieden auf eh⸗ 
tenvolle Bedingungen gefchloffen habe, werden Sie in den Zeitungen 
gelefen haben. Hier können fich die Leute nod) nicht von der Bewun⸗ 
derung erholen, in die fie über einen Liberalismus gerathen find, der 
fi wie der meinige mit dem Adel und dem Pabfte verträgt. Ich 
ſehe dem ruhig zu und erde ficher nicht? erhebliches in meinen 
Grundfäben ändern. Wie in Deutfchland ift auch in Frankreich das 
Gute in der Mafje tief vom Böſen verfchladt; im Innern fhäumen 
die fchlechteften Keidenichaften, während der Mund weile Reden hält; 
hölzerne Andachtshände heben fich betend zum Himmel auf, während 
unter dem Mantel die wirklichen Diebeshände den Nachbar beftehlen 
und bemaufen. Welche Partei auch fiegen mag, man wird fi zu« 
gleich freuen und betrüben müſſen. Die Jugend wählt gegen dad 
Alte in einem Haffe auf, den die Schufte und Thoren, die in deffen 

Bertheidigung ſich theilen, jeden Tag mehr rechtfertigen, und fo wird 
por Ablauf der erften Hälfte diejes Jahrhunderts fein Stein mehr 
auf dem anderen bleiben. — Bevor ich auf eine nähere Neußerung 
über Ihre Schrift eingehen könnte, beißt es in Perthes’ Antwort, 
müßte ich wiſſen, was Sie eigentlich mit Herausgabe derfelben bezweck⸗ 
ten. Wollten Sie, wie Sie fchreiben, zur Auflöfung der vielen er- 
ftarrten Ideen beitragen, Die fih feit Jahren in den Maſſen ange- 
feßt haben, fo mußten Sie mit derfelben bewundernswürdigen, in 
Deutichland noch nicht gehörten Beredfamfeit, mit welcher Sie die 
Enden der Regierungen darftellen, auch die Sünden derer, von de- 
nen die Regierungen angegriffen werden, und vor die Augen führen, 
und zwar dieſe letzteren zuerſt. Was -gilt e8? fie fähen noch ruhig 
in Koblenz; man hätte Ihnen das eine um das andere verziehen. 


215 


In Ihrem Briefe, den Sie mir im December 1818, aljo wenige 
Monate vor dem Erfcheinen Ihres Buches fchrieben, haben Sie die 
deutfche demokratiſche Partei in deren ganzer Fülle von Confufion, 
Unwiffenheit, Roheit und volllommener Richtigkeit Dargeftellt — warum 
thaten Sie nicht ein gleiches in Ihrem Revolutionsbuche? Dieje de 
mofratifche Partei hat ihre Nichtigkeit feit den Karlsbader Beichlüffen 
bewiefen, aber nicht dadurch, daß fie nur von den Regierungen vor⸗ 
audgefegt würde und in Wirklichkeit nicht da wäre, fondern dadurch, 
dag fie wirklich da ift und doch nichts if. Das Abfonderliche bleibt 
nur, daß die Regierungen fich jet nicht an dad unmwürdige, lumpige 
Dafein zu halten: verfiehen, fondern nach noch ärgeren Qumpen in has 
fliger Angft fuchen. Der zweite Theil Ihres Buches ift gradezu ums» 
fonft gefehrieben. Die Fürnehmen haben ſich am erften Theil in Wuth 
gelefen und halten, was nadhfolgt, für Spott; die Liberalen haben 
fi in Jubel gelefen und halten, weil fie die Sntoleranteften find, 
den Schluß für Ironie oder für verrüdt. — Was ich. eigentlich ge- 
wollt, heißt e8 in Görre®’ Erwiederung, das werden Ihnen meine 
gedrudten Epifteln nun wohl verftändlid gemadjt haben. Die Ge⸗ 
ſchichte hat meine Vorherſagungen fo fehr gerechtfertigt, da ſcharfſin⸗ 
nige Leute wohl auf ein geheimes Einverftändnis zwifchen mir und 
den Machthabern ſchließen werden, kraft deſſen ich freilich Teicht die 
Nummern, welche im nächiten Sabre aus der Ziehung kommen, zum 
voraus verrathen könnte. Nichtödeitorweniger ift mein Wahrfagungd- 
beruf doch ein ziemlich unnüges Gefchäft; denn die Herren rufen mir 
zu: Wenn wir nun die verfluchte Wahrheit nicht wollen, wie wiltf 
du fie und aufzjwingen? Wir fpeien fie aud, denn die Lüge ift und 
nun einmal zur anderen Natur geworden, und wir würden gewiß 
ſterbenskrank, wenn wir auf Deine verdriepliche Art gefund werden 
follten. Das läßt ſich nun freilich hören. ch kann die Arznei dem 
Kranken nicht eingiepen, dispenfiere aber fort und nehme meine Tro⸗ 
pfen für mid) felbft, wenn andere fie nicht dulden wollen, und fie ge 
deihen mir nicht ſchlecht. Jetzt habe ich den politifhen Plunder wie 
der auf eine gute Zeit von mir gethan und bin zu dem Treiben zurüd- 
gelehrt, das mic) ſeit Jahren befchäftigt: die Sagengeſchichte der al» 
ten Welt, an welcher ich wieder arbeite, foll alled, was der fogenann- 


216 


ten eracten Gefchichte bei allen Völkern vorhergegangen ift, in einem 
großen Blid zufammenfaffen. Wo möglich ſchon im nächften Jahre 
denke ich ald Anfang ein Altdeutfchland druden zu laffen, damit ich 
die Maſſe des lange aufgehäuften Stoffe? 108 werde. Unſere Vorzeit 
wird, wie ich denke, in einem ganz anderen Lichte erfcheinen, als bei 
dem armfeligen Lampenlicht unferer ftarren ‚Stubengelehrfamteit. 
Im Gegenfage zu diefer gegen die Regierungen gerichteten Stim- 
mung fanden jich zerftreut durch ganz Deutfchland Männer, welche 
fih der Obrigkeit und deren Recht mit Herz und Sinn hingegeben hat- 
ten. Manche unter ihnen aber hielten in der damaligen Zeit das 
Recht der Obrigkeit in einem höheren Grade durch die Handlungsweiſe 
der Fürften und Minijter ald durch. die Angriffe der Demagogen 
gefährdet und wollten in jenem Augenblide nicht für die Obrigfeit ges 
redet und gehandelt wiſſen, weil ed nicht gefchehen könnte, ohne zu- 
gleich die zeitigen Regierungen zu fügen und zu ſtärken, Die Doch im 
Intereſſe des obrigfeitlichen Rechtes nicht gefördert, fondern befeitigt 
werden müßten. So richtig es ift, heißt ed in einem Briefe an Ber- 
thed, was unfer Freund über die Stellung der Obrigfeit im Staate 
fagt, fo unrichtig ift es doch, alles, was richtig ift, zu jeder Zeit fa- 
gen zu wollen. Unfer Freund würde und im unrechten Augenblicke 
in einen behaglichen Schlummer einfchläfern und mit feinen Klagelie- 
dern über da3 revolutionäre Princip die Meinung fördern, dag nur 
der braufende Strom und nit aud) das willfürlich ihm gebaute enge 
und morfche Ufer den Unfegen der Gegenwart verfchuldet habe. — 
Dem Principe nach, heißt es in einem anderen Briefe, ftehe ich heute 
. wie immer auf Seiten der Obrigkeit; daß man aber dennoch Gegner 
unferer Regierungen fein muß, das ift das Allertraurigfte in unferm 
Zuftande. In Welthändeln wird nun einmal unfer Verhalten weniger 
duch das Princip der Dinge als dur die Richtungen der Perfo- 
nen beſtimmt, welche dasſelbe augenblicklich zu vertreten haben. 
Anderen unter den Anhängern der Obrigkeit ſchien dagegen jede 
Gefahr gering im Vergleiche mit dem Unheil, welches aus der Ge 
fährdung der Regierungen erfolgen müßte. Mit unverhaltenem Zorne 
wendeten fie fir) gegen die Demagogen jener Zeit. Weberall began- 
nen die Anfänge der Freiheit zu treiben, heißt eö in einem Briefe an 


217 


Perthes aus dem Jahre 1821, und überall liegen nun die jungen 
Triebe verwelkt danieder, weil fie gewaltfam mit künſtlicher Hitze 
großgezogen werden follten. D, diefe Buben, deren Neid und Eigen- 
fucht fi gegen jede Herrfchaft auflehnt und die dennoch die Tyrannei 
fieben, wie fie nur je geliebt worden ift! Sie allein tragen bie 
Schuld, wenn auf lange Zeit Deutfchland unter dem Despotismus 
fih beugen muß, um dem Untergang zu entgehen. — Die Sadıe 
der Freiheit, fehrieb 1821 ein Edelmann von altem Schrot und Korn 
an Perthes, wird durch niemand mehr gefährdet ald durch jene Men- 
fhen, die und zwingen wollen, Nationalcocarden und Freiheitämü- 
pen: zu tragen. Obſchon fie, wenn fie Freiheit rufen, Herrſchaft mei» 
nen, nehmen fie e8 dennoch denen, die Beruf und Kraft zum Herr⸗ 
jhen haben, übel, wenn fie wirklich herrfchen. Wie oft habe ich mic 
über die Könige geärgert, welche die eigenen und die fremden Böl- 
fer zwingen wollen, fo und nicht anders zu leben und zu denten! 
Aber thun dieſe Zaunfönige nicht dasſelbe? Wie in meiner Dorf 
firche die Orgelpfeife mit der verdorbenen Klappe greifen fie in jede 
Melodie mit ihrem einen fchneidenden Tone ein, und möchten jede 
andere Meinungsäußerung überfchreien und zum Schweigen brin- 
gen. — WWiedergeboren, fagen die Herren, wäre dad Bolf, heißt es 
ein anderedmal, und müfle deshalb aud in einen neuen Schlaud) 
gethan werden. Ich glaube auch nicht, daß ed gut war, un? die al- 
ten Röcke wieder anzuziehen, aber jene Schreier fühlen ſich gedrückt, 
nicht weil die Nöde zu eng, fondern weil fie zu aufgeblafen find. 
Wie ein Meer voll ſchmutzigen Waſſers hat die Eitelkeit ganz Deutſch⸗ 
land übergoffen, und wir alle mögen und hüten, daß wir nicht 
darin erfaufen. 

Bor allem in den Briefen, melde Pertheö in den Jahren 1820 
und 1821 aus Livland und Kurland erhielt, fprach fich der Wider- 
wille gegen das Treiben der Demagogen in Deutfchland aus. Da? 
Lärmen und Toben in Deutfchland, weil das Unerreishbare noch nicht 
erreicht ift, heißt es in denfelben, hat feinen Hauptgrund in der 
Wichtigkeit, welche die deutfchen Schriftfteller fi andichten. So ein 
alter Profeffor auf feinem Lehnftuhle ſitzend und mit Medicinflafhen 
für feine Unterleibsbeſchwerden umgeben, glaubt, daß feine Schreib- 


218 


feder eigentlich die Uhrfeder fei, welche die Weltgefchichte im Gange 
halte, und doch hätten die Schreibfedern von ganz Deutichland den 
Rost bis zur heutigen Stunde nicht von den deutſchen Schwertern ab- 
gekratzt, wenn das ruffiihe Jahr 1812 nicht gelommen wäre. In 
Rußland ftachen die Spieße der Kofaden und Bauern tiefer als die 
Federn in Deutfchland, und der Bolfägeift war fehr echt, ohne dag 
ihn erft ein alter Profeffor auf feiner Studierftube in der Retorte deftil- 
liert hätte. Das politifh Gute, das durch Schriften fabriciert werden 
foll, ift wie Runfelrübenzuder künſtliches Product, ſchmeckt wohl ähn- 
lih, bat aber feine Kraft. Schidfale und Zeiten, aber nicht Reden 
bilden ein Bolt, und nicht der Schriftfteller fol den Volksgeiſt, ſon⸗ 

dern der Volksgeiſt den Schriftiteller fehaffen. — Die -Fürften und 
Herren der deutfchen Nation.fehen den Grünfpan nicht, heißt es in 
“ einem anderen Briefe, der, von der Volksſäure gebildet, ſich an ihre 
Scepter anfebt, oder fie fchlagen, wenn fie ihn fehen, mit ihrem Re- 
gierungsſtäbchen höchſt gewaltiglich um ſich in die blaue Luft. Das 
freifich wird den Gifthauch fehwerlich fortfchaffen, aber der tobende 
Parteigeift wird dennoch Deutichland fo wenig zeriprengen, als ein 
gährendes Gebräu troß alles Brauſens und Ziſchens das gut ver- 
wahrte Faß auseinander brechen kann. Deutfchland ift dur ein 
paar recht derbe eiferne Reife zufammengehalten; die beiden Nachbar⸗ 
flaaten Rußland und Deftreich find fejt genug, um dem gährenden 
Volksgeiſt zu widerftehen, und das bifchen Schaun, das bier und 
da aus dem Zapfen dringt, hat nicht viel zu jagen. Der Wein frei- 
lich, der gähren will, fehimpft recht arg auf die Bänder, die ihn auf: 
zubraufen hindern, und doch find ed nur diefe, die ed möglich ma— 
hen, dab der Moft zum Wein und ald Wein Par und ftark wird. 
Sch gebe die Hoffnung nicht auf, dag auch in Deutfchland fih alles 
gehörig fepen und die gährenden Hefen dorthin fommen werden, wo—⸗ 
bin fie gehören, das heißt auf den Kehricht. Hefen, nicht? ald Hefen 
iſt diefer illiberale, fich liberal nennende Geift, der alles zerftören 
will, um felbft als Blafe auffteigen zu förmen. Wir werben ed noch 
erleben, daß alle diefe Revolutionshelden am Ende ihrer Laufbahn 
ftehen, ohne irgend etwas ausgerichtet zu haben. In Deutfchland . 
gibt es nun einmal feine Nation im politifehen,, fondern nur im li 


219 

terarifchen Sinne und es ftehen, wie gejagt, ein paar Schildhafter 
da, die das Wappen der Ordnung fchon halten werden, und was 
man nicht wegichlagen kann, wird man weder wegfchreien noch weg⸗ 
fhimpfen. Im politifchen Leben wie im Privatleben ift der ein 
roher Thor, der dad, was er mit dem Degen nicht ausmachen kann, 
mit groben Worten, die allenthalben überflüffig find, auszumachen 
gedenkt. | 

Bon und und unferem Leben begehrt in Deutichland niemand 
etwas zu willen, chrieb ein anderer. Will man etwa deshalb Ruß⸗ 
lands Oſtſeeprovinzen auch geiftig von der deutfchen Mutterbruft ent- 
fernen und als unebenbürtig behandeln, weil Alerander ihr Kaifer 
iſt? Ich glaube, jede deutfche Monarchie könnte, ohne zu verlieren, 
einen Herrfchertaufch mit Rußland eingehen, felbft wenn ihr Fürft fo 
eben eine ganz frifche Konftitution aus dem Ei der Zeit losgeklopft 
hätte. Blinde Zuneigung und blinde Abneigung, eine Einfeitigfeit, 
welche wie der Pallatwind nur einen Strih hält und Steuer und 
Ruder wirkungslos macht, ift der Fluch, der jebt auf Deutfchland 
laftet. Wirklich fonderbar ift die Mode, alles, was ruffifch heißt, 
zu haften, Es geht Rußland wie dem Knechte Ruprecht: Ruprecht 
bat den Deutfchen als fchöne Weihnachtsgabe Freiheit und Wieber- 
geburt gebracht, und doch nennen die Befchenkten den Geber nicht 
gerne und fprechen nicht von ihm ald Wohlthäter, weil er unter Um⸗ 
ftänden auch einmal mit der Ruthe kommen fönnte. Wir haben frei« 
lih von den Deutſchen nichts, gar nichts zu fürchten, ala literari⸗ 
ſchen Tadel; aber ich fühle e3 tief, daß wir Deutfchland nicht lange 
mehr ald die Wiege unferer Bildung verehren und ala den Eip der 
Biederkeit, der Nedlichfeit und der Ehre in allen Ständen lieben fön- 
nen. Doch laffen fie mich abbrechen, denn Recht geben Sie mir doch 
nicht. Thut auch nichts: wir jehen hier vom feften Lande aus auf die 
‚armen Seefahrer hin, die feefrant in ihren von Wetterflürmen ge= 
peitfchten kleinen Fahrzeugen haltlos umhertaumeln. — Perthes 
theilte eine Anzahl diefer Briefe, die er aus den ruffifchen Oftfeepro- 
vinzen erhalten hatte, einem Freunde mit und fügte die Worte hinzu: 
Wahres und falfche®, deutſches und ruffifche® geht freilich wunder» 
lich in diefen Briefen durcheinander, aber böfe kann ich denen, die 


220 


fie fchrieben, nicht fein. Aus allem bitteren Grolle fieht Doch immer 
die tiefe Sehnfuht und Liebe einer verlegten und zurüdgeftoßenen 
Braut hervor, und ich weiß gewiß, daß diefelben Männer, die uns 
fo ſtolz auf Rußland entgegentreten, ſich den Ruſſen noch ſtolzer als 
Deutfche gegenüberftellen und das Uebergewicht deutfcher Bildung und 
deutfchen Ehrgefühl® muthig geltend machen in der Nation, wel⸗ 
cher ſie politiſch untergeordnet ſind. 

Es gab zu jener Zeit Männer in Deutſchland, welche den gan⸗ 
zen Haß dieſer Edelleute gegen die Demagogen und Görred’ ganzen 
Haß gegen die beſtehenden Regierungen zugleich in ihrem Herzen tru⸗ 
gen. Wie die Sturmwinde ſich heulend um die Zeit der Sonnen⸗ 
wende befämpfen, ſchrieb ein ſolcher Mann an Perthes, fo ertönt jetzt 
alles rings umher in ganz Europa von dem Zufammentreffen teufli- 
ſcher Parteien. — Unſer Zuftand, heißt es in einem anderen Briefe, 
ift der gefahrvollfte, welcher überhaupt in der Gefchichte eined Volkes 
vorfommen kann; mitten inne fehweben wir zwifchen Anarchie und 
Despotie; die Frage, ob man fich auf die eine oder die andere Seite 
ftellen wolle, wäre die frage an dad zwilchen Bär und Wolf gefal- 
lene Lamm, ob es lieber von diefem oder von jenem verzehrt werden 
wolle. — Eine ähnliche Anſicht, wie die hier ausgeſprochene, fand 
ſich bei vielen geiſtig bedeutenden Maͤnnern wieder; ſie ſahen völlig 
ab von jedem politiſchen Princip, von der Obrigkeit, wie ſie ſein 
könnte, und von den Unterthanen, wie ſie ſein könnten; ſie faßten 
lediglich die damaligen deutſchen Regierungen und Liberalen ins Auge 
und gelangten zu dem Schluſſe, daß beide gleich unberechtigt und 
gleich verderblich für Deutſchland ſeien. Der Kampf beider Parteien 
erſchien ihnen wie ein großer biftorifcher Proceß, in welchem jede Par- 
tei zwar für ihre Zwecke zu handeln glaubte, in Wirflichfeit aber nur 
als Werkzeug diente, um für die Zukunft einen von feiner Partei ge- 
wollten politifchen Zuftand herbeizuführen. Vielleicht von jedem wich⸗ 
"tigen Stüde unſeres geiftigen Dafeind kann man fagen, heißt es in 
einem Briefe an Perthes, daß ed in unferer Zeit zugleich in frucht« 
barer Entwidelung fteht und von drohenden Gefahren umringt iſt. 
Es wäre thöricht,, fich über diefen großen Gang der Zeit abgrämen zu 
wollen, und ed wäre anmaßend, zu glauben, daß von einem oder 


221 


von mehreren einzelnen darin bedeutend eingegriffen werden koͤnne. 
Das befte ift wohl, das eigene Herz fo viel möglich friſch und kräftig 
zu erhalten, um mit dem ganzen, ungetheilten Dienfchen bereit zu 
jein, wenn Gott und zu einer Arbeit beruft; und das wollen wir 
nah Kräften thun. — Wir beide, lieber Perthed, haben eine fehr 
denfwürdige Zeit durchlebt, fhrieb ein Freund aus Schweden; aber 
die vergangenen dreißig Jahre ſcheinen doch nur ein Borfpiel der kom⸗ 
‚menden gewefen zu fein. Deutfchland und Europa jteht am Vor⸗ 
abend einer neuen Geburt; die Wehen werden fürchterlich fein und 
ich bebe zuſammen, wenn ich mir fagen muß, daß Mutter und Kind 
leicht in ihnen zu Grunde gehen künnen. Handeln muß freilich in 
diefer Zeit auch ein jeder in feinem Kreife und nach feiner Ueberzeu- 
gung, aber weniger vielleicht, als zu’ irgend einer andern Zeit, wird 
die Zufunft durch das Wollen und Laufen der Menfchen beftimmt 
werden. — Go verzweiflungdvoll erfchien für Gen das Durchein- 
ander in Deutichland, daß er gegen Perthes äußerte: Gewiß ift, daß, 
wenn ich je wieder für dad Publicum fehreibe, ed nur über ſtaats⸗ 
wirthichaftliche Gegenftände ift; denn die Divergenz oder vielmehr die 
abfolute Verwirrung und Anarchie der Meinungen, die heute in An- 
febung aller legislativen, politifchen und religiöfen Fragen obwaltet, 
und der Ton, in welchem die deutſchen Schriftfteller einander wechſel⸗ 
feitig behandeln, ſchreckt mich von aller Einmiſchung in diefe Händel, 
auf immer zurüd. — Die Gefahr der Revolution ift vorüber, rief 
verzweiflungsvoll ein anderer aus; das für und Deutfche untrügliche 
Symptom der Rettung ift eingetreten; der wie die fliegende Gicht 
umberziehende Giftjtoff hat fich von den. Fäuften auf die Federn ge⸗ 
worfen; an allen Orten und Enden blüht das literarifche Gezänke 
wieder auf; die Fürften und Minifter athmen tief, reiben fich ver- 
gnüglich die Hände, rufen: Das wäre vorüber! und fegen fich zu 
Tiſch. 

In dem unerhörten Gewirre der Meinungen gelang es wohl nie⸗ 
mand, der jene Jahre geiſtig friſch und regſam durchlebte, zu einem 
feſten Abſchluſſe ſeines politiſchen Urtheils zu kommen. Auch im ein⸗ 
zelnen ſpiegelte ſich der Kampf und das Ringen der Zeit wieder. Be⸗ 
rührung und Verkehr mit Männern anderer politiſchen Ueberzeugung 


222 


zu meiden, wäre damals franfhafte Zaghaftigkeit geweien. Perthes 
erfannte zwar faſt immer fehr fohnell eigentlich gemeine Naturen und 
brach dann raſch und entichteden mit denfelben. Wo er aber nicht 
Gemeinheit, fondern nur einen verfchiedenen wenn auch jehr ver 
fhiedenen Standpunkt fah, war er der Meinung, daß irgend ein ge 
meinfamer Boden nicht fehlen könne. Diefen fehnell ausfindig zu 
machen, befaß er eine befondere Gabe und fonnte deshalb auch mit 
fehr entgegengelegten und ſchroffen Menfchen in nahe Verbindung tre- 
ten; aber indem er das Gemeinfame gleihfam nur ahnen ließ, ftellte 
er fih in allen einzelnen ragen auch Männern, die feheinbar völlig 
mit ihm übereinftimmten, faft immer entgegen, griff fie an, reizte 
fie und erweckte dadurch ihr Intereſſe. In feinen Briefen findet fi 
der Regel nach die Anficht vertreten, welche der Anficht defien, an 
den er fchrieb, entgegengefebt war. Nicht ald ob er aus Widerfpruchd- 
luft die Wahrheit verleugnet hätte, aber auch die Wahrheit hat meb- 
rere Seiten, unter denen der, welcher fie ‚betrachtet, wähten kann 
und wird. Nur felten wurde Perthes durch den Kampf um politifche 
Anfihten zu einem völligen Bruch mit dem Gegner geführt, und 
wenn in einzelnen Fällen die unbedingte Unvereinbarfeit der politis 
ſchen Gefinnung jeden weiteren politifhen Verkehr mit diefem oder 
jenem Manne unmöglich machte, fo fuchte er fich Doch den Menfchen 
zu erhalten, indem er den SPolitifer aufgab. Weber unfern N. bift 
Du im Irrthum, fchrieb er 1820 an einen Freund, der fi) mit war⸗ 
mem, phantaftifhem Herzen der damaligen Richtung des preußifchen 
Hofes hingegeben hatte. N. liebt und ehrt Dich nach wie vor; da er 
aber über die öffentlichen Verhältniffe jebt nicht mit Dir verkehren 
will, vermag er überhaupt nicht mit Dir zu verkehren. Ich bin an- 
derer Art und taufche auch jebt gerne mit Dir die Anfichten aus 
über alles Menſchliche und über alled, was die Liebe erregt; was 
aber das Baterländifche und die gefellfehaftliche Ordnung betrifft, 
darüber werde auch ich künftig fehweigen. Die alte franzöſiſche Ja⸗ 
cobinerei regt fi) zwar noch, aber bald wird fie in fich felbft verfom- 
men. hr werdet für jetzt den Sieg über fie davon tragen, aber 
auch über und, und aud Du wirft zu Deinem tiefen Schmerze erfah- 
ren, daß politifhe Phantafien und Theorien in der wirklichen An⸗ 





223 


wendung auf das Leben fehr ſchwarze Farben annehmen können. 
Jetzt bift Du im Siegesrauſche; Fein Reden kann zu etwas führen; 
darum ſchweigen Deine alten Freunde. Du wirft mir antiworten und 
Freude haben an meinem Yamilienglüd; das andere laß gut fein. 
Du befigeit ja neue Freunde, die jetzt mit Dir dad Himmelreich er- 
warten; an denen belebe Dich. 

Biel weniger noch ald die Aeußerungen einzelner Männer er⸗ 
fannte Perthes die öffentliche Meinung als den vollen Ausdrud und 
die Erſcheinung politifher Wahrheit an. Dem Grafen Bernftorff 
hatte er 1819 nah Karldbad gefchrieben: Die öffentliche Meinung ift 
freiih nur eine Meinung, aber fie ift doch au eine Meinung, 
welche wie jede Meinung ihre Wahrheit hat und Rüdjicht verdient. — 
Ein Recht aber, die Meberzeugung und das Handeln der einzelnen zu 
beftimmen, wollte er derfelben unter feinen Umftänden eingeräumt 
wiſſen. Können wir denn wirklich jagen, fehrieb er im Frühjahr 1820, 
daß in Deutichland eine öffentlihe Meinung if. Das wunderliche 
Ding bat dod nur dann feinen Grund und ift doch nur dann eine 
über den einzelnen ftehenden Macht, wenn ed aud dem unmwillkürli- 
Shen Zuſammenwirken von Ereigniſſen und Berhältniffen erwachfen, 
nicht wenn ed gemacht ift durch Diefe oder jene begabten Menfchen, 
welche den Neigungen und Schwächen, Die der Tag gebiert, zu ſchmei⸗ 
heln verftehen. In einem auf Frömmigkeit ficher ruhenden und in 
einfachen, überjehbaren Berhältniffen lebenden Volke liegt in der 
Hebereinftimmung der Unfichten, des Begehrend und Bermwerfend ge- 
wiß eine höhere Autorität; aber find wir fo? Unſere Schreier ficher- 
lich nicht, und wie häufig haben wir erlebt, daß ein paar gewandt 
gefchriebene Zeitungsartikel Wiederhall in allen anderen Blättern her: 
vorriefen und die Stimmung um» und nochmals umdrehten. — Es 
hören wohl nur wenige, fchrieb er ein anderedmal, Die Stimmen von 
fo verfhiedenartigen Männern aller politischen Richtungen, wie ich, 
und dennoch weiß ich auch nicht für ein einzige® Verhältnis zu fagen, . 
wie die öffentliche Meinung über dasſelbe denkt. Will man fich aber 
aus den Zeitungen Rath? erholen über die Stimmung der Nation, fo 
wird man erfahren, daß grade .die bedeutendften und edelften Män- 
ner dort niemals vernommen werden. Die unterrichteten, die guten, 


224 


die rechtlichen hülfen fich bei und in ihre Tugend und fchweigen, jei 
es aus Bequemlichkeit oder aus fittlicher Vornehmheit oder aus ari- 
ſtokratiſchem Ekel; aber e8 Klagen, lärmen und fchreien alle, die es 
beffer und behaglicher haben wollen und dennod) jede Anftrengung 
ſcheuen, um Einſicht in die wirklichen Verhältniffe zu erlangen. Wie 
oft ftehen eigentlich böfe und fchlechte Kerle an der Spike der ſchreien⸗ 
den Schreiber! Wo ift nun die öffentliche Meinung? — Um zu ir- 
gend einem Verſtändnis der üffentlihen Stimmung zu gelangen, wird _ 
man nie vergeflen dürfen, heißt es in einem Briefe, den Perthes an 
Hormayr fehrieb, daß zu jeder Zeit immer drei Generationen neben- 
einander leben, von denen die eine aus der immer erfahrungslofen, 
oft bimmelftürmenden Jugend, die andere aus dem immer erfahrungs- 
fatten, oft ſchwachen, deiperaten oder banferotten Alter befteht. Der 
zwifchen beiden liegende mannhafte Kern der Nation follte freilich eine 
felbftändige Kraft fein; aber in unferer Zeit ift er ed nicht, fondern 
gehört halb dem findifchen und halb dem alterfchwachen Alter an. 
Das muß freilich ſchlimme Folgen haben, aber Gott wird ſich feine 
Zeit erfehen. Wenn die himmelftürmenden Jungen oder die banle- 
rotten Alten wirklich das Uebergewicht errungen haben werden, dann 
werden die Männer Männer werden müſſen. 


Die Eindrüde der ſüdeuropäiſchen Nevolntionen anf die 
Stimmung in Deutſchland. 
1220 —1822. - 


— — — 


Es war wenig Ausſicht vorhanden, daß die deutſchen Regierun⸗ 
gen den ſeit Karlsbad eingeſchlagenen Weg freiwillig verlaſſen wür⸗ 
den, und die Demagogen kannten ihre eigene Schwäche und Zuſam⸗ 
menhangslofigfeit zu gut, um von Anwendung der Gewalt Erfolg 
zu hoffen. Nicht durch eine deutſche, wohl aber durch eine europäf« 
Ihe Bewegung ließ fich Aenderung der beftehenden Ordnung erwar« 
ten. Wenn im übrigen Europa die Oppofitiondpartei den Sieg da» 





_ 2235 


von getragen hatte, konnten die deutfchen Regierungen dein allgemei⸗ 
nen Zuge der Dinge auf die Dauer nicht widerftehen. Mit gefpann- 
ter Aufmerkſamkeit richteten. ſich daher die Blide in Deutichland ſtets 
dorthin, mo Bewegungen gegen die beftehende Ordnung audbrachen. 
Bald genug entbrannte der Kampf im ganzen füdlichen Europa: wäh- 
rend der Jahre 1820, 1821 und 1822 trug die Revolution in Spa- 
nien und Portugal, in Stalien und in Griechenland: zumächft wenig⸗ 
ſtens den Steg davon, hielt die ohnehin heftig erregten Deutfchen in 
außerordentliher Spannung und gewöhnte fie, den Waffenfampf der 
Unterthanen gegen die Obrigfeit als etwas nicht unmögliches zu be⸗ 
trachten. | 

Die Spanier wurden feit ihrem zähen Widerſtand gegen Napo- 
leon mit beiwundernder Liebe in Dentichland betrachtet. In ihren 
Regimentern hatten manche Männer gefochten, die zu den Beften 
Deutfchlands gehörten; die englifch- deutſche Legion war Jahre hin- 
dureh ihr Waffenbruder geweſen. Weil Spanien fi Napoleon und 
dem von ihm eingefeßten König Jofeph nicht unterwarf, warb der 
allgemeine Zerfall ded Landes überjehen; meil die Berfaffung von 
1812 im Gegenfag zu Napoleon gegeben war, wurde aud von Roya- 
fiften nur wenig beachtet, daß fie für einen wirklichen König feinen 
Raum hatte, mit den durch Nationalität und Gefchichte begründeten 
Zuftänden Spaniend in Widerfprud ftand und jede Regierung un- 
möglich machte. Als nun Ferdinand VII. bei feiner Rüdkehr im 
Jahre 1814 die Berfaffung aufhob und, ftatt eine andere zu geben, 
die Möndhdorden und die Inauifition berftellte, die Joſefinos ver- 
bannte, aber auch manchen, der im Kampfe gegen Napoleon fi) den 
Namen eined Helden erworben hatte, einferkerte, wurde er nicht nur 
als elender Shwähling, fondern auch als ein Ungeheuer angefehen, 
der jedes geiftige Gut, jede freie menfchlihe Bewegung mit rohen Fü- 
hen niederzutreten die Abficht habe. Seine Gewaltſamkeiten und Will- 
fürlichfeiten wurden bis in das Märchenhafte übertrieben und die 
vielen ſchon feit 1814 verfuchten Verfchwörungen erfchienen ala hei. 
denmüthige Regungen des menfchlihen Gefühled gegen einen nichte- 
würdigen. Unterdrüder. 


Perthes hatte durch feinen in Cadir wohnenden Freund Böhl 
Perthes“ Leben 11. 4. Aufl, | 15 


226 


von Faber die damals in Deutfchland fehr feltene Gelegenheit er- 
halten, auch die Kehrfeite der fpanifchen Zuftände kennen zu lernen. 
Hier haben fih Hölle und Teufel verſchworen, fehrieb Böhl ſchon im 
Juni 1815 an Perthed, die jepige ſpaniſche Regierung verhaßt zu 
machen und: das vorige Chaos wieder herjuftellen. Da der Spanier 
feine eigenthümliche Beharrlichkeit leider aud) im Böfen behauptet, 
fo find die hiefigen Aufklärer (liberales) jept Anhänger Bonaparte's 
und Bertheidiger der mulattiihen Republicaner in Amerika gewor- 
den. — Die gänzliche Zerrüttung der Finanzen bringt eine Stodtung 
in dem gefellfchaftlichen Getriebe hervor, heißt ed in einem Briefe 
von 1816, die fich auf alle Zweige des Verkehrs erftredt, und den- 
noch ißt die ganze Schar der königlichen Diener, ohne auch nur einen 
Heller Beſoldung einzunehmen. Wie ſich das Ganze noch zuſammen⸗ 
hält, iſt unerklaͤrlich; denmoch ſcheint ein Umſturz unvermeidlich, nicht 
falſcher Regierungsgrundſätze wegen, ſondern aus Noth, die aber des—⸗ 
halb nicht weniger eine Regierung des Poͤbels nach ſich ziehen wird. 
Die Ausfichten find ſehr trübe. Ihre Furcht, ausführliche Briefe 
von Ihnen an mich könnten in unrechte Hände kommen und mir Un⸗ 
annehmlichfeiten bereiten, hat durchaus feinen Grund. Diefe Furcht 
gehört zu dem Lügengewebe, welches von den Aufklärern verbreitet 
wird, um den Katholicismus und mittelbar das ganze hriftliche Sy» 
ftem verhaßt zu maden. Kein Brief wird jept in Spanien geöffnet, 
ein jeder fagt frei, was er denkt, und neben einem Bertheidiger des 
herrfchenden Syſtems finden fih hundert Anfläger; es gehört zum 
guten Ton, auf den König und die Geiftlihen zu fehimpfen, und ei- 
ner meines Schlages ift rara avis. Alle Häufer wimmeln von ver- 
botenen Büchern, aber noch iſt feined von der Inquiſition weggenom- 
men. Was von tyrannifchen Machtfprüchen, von Einkerferungen und 
Zortur in Madrid verbreitet wird, find Märchen, die nur beweifen, 
wie tief der Haß gegen Monarchie und Religion gewurzelt bat. Daß 
nicht völlig das Alte wiederlehren kann, fehe ich wohl, aber ih möchte 
doch etwas dem Alten Berwandted und in feinem Falle da® Neue 
von 1812. Wenn ich felbft, lediglich weil ich dad Neue kennen lernte, 
wie es wirklich ift, zum Wunfche nach dem Alten geführt worden 
bin, warum follten nicht auch die anderen denfelben Weg gehen, und 


227 


mwenn alles einmal bat zeitgemäß fein fönnen, warum follte nicht 
auch das Ehriftenthum zeitgemäß werden? Laſſen doch die Grenzen 
des Katholicismus einen fehr weiten Spielraum zu. — Bon Boli- 
tit mag ich nichts mehr fehen und hören, fchrieb Böhl einige Monate 
fpäter; ich werde immer unduldfamer, wenn ich ſehen muß, daß aller 
Haß, der in des Menfchen Bruft Plag findet, fi in dem Auftreten 
gegen die Regierung erichöpft und der Abfcheu gegen Unrecht und 
Laſter fchlaffer ift al je. Für unfer entartete® Geſchlecht ift Bonaparte 
wahrfcheinlich zu früh aus der Gefchichte abgetreten. — Meine Kunde 
von der Handlungsweife der Regierung, heißt es in einem Briefe vom 
October 1817, erftrect fich indbefondere über Cadix und Andalufien, 
aber aud über ganz Spanien, und demzufolge verfihere ih Ihnen 
abermal3, daß die Inquifition nur dem Namen nad) eriftiert. Die 
meiften Inquiſitoren find Liberale, die fich ihred Amtes fchämen. 
Alle verbotenen Bücher können von jedermann gelefen und befefien 
werden, alle Reden find in jeglicher Geſellſchaft zuläffig, nur nicht - 
folhe, welche die Mönche, die Inquifition, den Roſenkranz u. f. m. 
vertheidigen. Kurz die Tendenz zur Aufklärung ift fo allgemein und 
entfchieden, daß die wenigen Anhänger de Alten ſchweigen und fidh 
verfteden. Es fteht Ihnen nun natürlich völlig frei, ob Sie mir glau- 
. ben wollen oder dem politifchen Journal und den Schiffscapitänen 
und fpanifchen Beamten, welche unter dem Vorwande, Menfchen und 
Waaren vor der Ingquifition ſchützen zu wollen, ſich mande ſchöne 
Summe erpreffen. — Im October 1818 waren die Beforgniffe  be- 
reitd fehr geftiegen. Ueber die biefigen inneren Berhältniife kann ich 
Ahnen leider nichts tröftliches jagen; es ift ein wahres Wunder, wie 
das Gebäude noch fo zufammenhält und wie bei Dem gänzlichen Man- 
gel an Sold den Truppen der Geduldsfaden nicht reißt. Der König 
wird am Ende nothgedrungen thun müllen, was er vielleicht anfäng- 
lich hätte freiwillig thun follen. Unter einer anderen politifchen Form 
wird man willig Die Opfer bringen, gegen die ſich jet nicht das 
Volk, aber jeder „Aufgellärte” empört. Den Schreiern und Leitern 
iſt nun einmal die Aufflärung tnoculiert und die Krankheit muß ihre 
Stufen durchlaufen. Ob der Kranke fterben oder wieder genefen 
wird, bleibt die Frage. 
15 * 


223 


In den erften Tagen des Jahres 1820 brach die Revolution in 
Andalufien, etwas fpäter in Galicien, in Neucaftilien und an allen 
Drten und Enden aus. erdinand VII. nahm: im März die Conſti⸗ 
tution des Jahres 1812 an, hob die Inquifition auf, ließ die Ein- 
gekerkerten frei, ftellte die Preßfreiheit her und berief bald darauf Die 
Sorte der wieder eingeführten Berfaffung. Sie werden natürlich 
erwarten, fehrieb Böhl von Faber am A. April 1820, daß ih Ihnen 
etwa3 von unferer neueften Staatsumwälzung fage. Wäre ich ge- 
ftimmt wie die Weifen diefer Welt, fo würde ich lauter Unheil: pro« 
phezeien, weil es in Frankreich damit fo übel ablief, weil die Jaco⸗ 
binerbrut auch hier im Finftern fchleicht, weil dad Volk fo gar unreif 
ift, und aus hundert andern Gründen. ch erinnere mich aber, wie 
fich die Weifen befonders in Beziehung auf Spanien ftet3 fo arg ver 
rechnet haben, und nehme alfo grade das Gegentheil von dem allem 
an. Eben weil die Franzofen die Freiheit misbraucht haben, glaube 
ih, daß die Epanier im ganzen die Grenzen der Mäßigung nicht 
überfchreiten werden; eben weil man in Frankreich die Sacobiner an⸗ 
geſtaunt hat, wird man fie hier verachten und haften, fobald fie ji 
in ihrer wahren Geftalt zeigen; eben weil das Bolf in politifcher 
Hinfiht fo gar roh ift, wird es nicht. eine Regierungsſucht fühlen, 
welche alle Regierung vernichtet. Es ift unglaublih, welche Sinn- 
lofigfeit für bürgerliche Freiheit fogar bei den Aufgeklärt⸗ſein⸗-wollen⸗ 
den herrſcht. Unter Conftitution verfteht ein jeder die Befreiung von 
dem, was ihn beläfligte. Mit eigenen Ohren habe ich gehört, wie 
der eine meinte, er. brauche nun nicht mehr zu faften; der andere; 
er fönne jeht ohne Geld Tabak rauchen; der dritte, ed würden nun 
die alten Eilberflotien wieder fommen. Wa die Prefien jebt täglich 
Bogen für Bogen and Licht fördern, ift das elendeite, feichtefte Ge- 
rede, ein Echwall tönender Worte ohne beftimmten Sinn, aber aud 
ohne Ruchlofigfeit und mit der audgezeichnetften Achtung für den 
Charakter und die Perſon des Könige. Die Monarchifchen fügen fi 
jest willig in die Eonftitution, da ihr geliebter, ſchändlich verleum- 
deter König fie angenommen und befhworen hat, und die Liberalen 
lieben den König jetzt herzlich, weil er ihnen ihr Schoßkind wieder- 
gegeben. Die Sacobiner bleiben, will® Gott, die Heine Minderzahl. 


229 


Der König hat ihnen durch Annahme der Conftitution einen Strich 
durch die Rechnung gemadt. In Cadir genießen wir der vollkom⸗ 
menften Sicherheit und Ruhe. | 
Sobald die erfte Kunde von dem Siege der Revolution nad) 
Deutfchland gelangte, wendeten alle Blide ſich dorthin, wo der große 
politiſche Zwiefpalt nicht, wie in Deutfhland, mit Worten, fondern 
mit Waffen, und zwar mit fiegreichen Waffen ausgefochten war. Die 
ſpaniſchen Nachrichten haben gewaltig überrafcht und große Freude 
erregt, vielleicht zu große, fchrieb Falk aus Kiel am 26. März 1820 
an Perthed. Wie es geht, wenn ein Bolf reif zur Conftitution ift 
und fie ihm dennoch vorenthalten wird, fann man freilich an diefem 
Beifpiel lernen; aber bedenkt man, wie fehr die Eonftitution der Cor⸗ 
tes ein Product der ultraliberalen Grundfäge ift, jo läßt ſich mit Si⸗ 
cherheit dad Prognoftiton für Spanien ftellen, daß entweder das Kö- 
nigthum oder die Eonftitution zu Grunde gehen wird. — In Spa- 
nien trägt augenblidlich alled eine fo herrliche, ideale Farbe, fchrieb 
in denfelben Tagen ein Freund aus Franken an Perthed, daß ed 
ſchwer wird, die Hoffnung auf lange Dauer in ſich zu erhalten. Doc 
vielleicht ſoll das edle, heldenmüthige VBolf ein Beifpiel für Europa 
werden! Die Liebe zum König, die große Mäfigung auf allen Sei- 
ten, der Umftand, daß man nicht in das Ungemeffene ftrebt, fondern 
ein bereit8 feftgeftelltes Ziel in der Verfaſſing von 1812 befigt, ma- 
hen mir einigen Muth; für Europa find die Folgen unbereihenbar. — 
In uns beiden ift gewiß, fehrieb Nehberg aus Hannover am 27. Mai 
an PBerthes, ein gleich Tebhaftes Intereſſe durch die unerwartetfte und 
größte Begebenheit erregt, welche den denkenden Beobachter jebt be- 
(häftigt. Die Gährung in Spanien, der Ausgang diefes faft unbe: _ 
greiflichen Ereigniſſes, die fhleunige Entwidelung politifcher Kräfte 
und Leidenfchaften in einem fo fräftigen Bolfe, welches uns biäher 
nur durd) feine militärifche Energie intereffierte,, das alles ift an ſich 
felbft und vieleicht auch in feinen entfernten Folgen fo wichtig, daß 
ich diefe neuen Auftritte, die alles Große, was mir feit dreißig Jah: 
ren geſehen haben, in gewiſſer Rüdficht übertreffen, nicht vorüber- 
gehen laflen fann, ohne mich darüber, fo viel ald möglich ift, zu un- 
terrichten. Ich kann mir wohl von niemand befferen Rath erbitten, 


230 


wie ich diefed zu machen habe, ald von Ihnen. Sie leben im Mit. 
telpunft der Verbindungen Deutfchlande mit Spanien, haben den 
jeßigen Minifter Perez de Caſtro perfönlich gefannt und wiſſen gewiß 
von allem, was die Sache angeht, mehr ala ih. Mich erfüllt die 
Art und Weife des Herganged mit Erftaunen, da fie alled, was man 
von dem Charakter füdlicher Nationen im Kalle revolutionärer Be- 
megungen erivarten mußte, zu Schanden madt. Wie unbegreiflich 
groß iſt Doch die IImwandlung, welche in dem Gefamtcharafter aller 
Nationen während unferer Lebenszeit eingetreten ift! 

Im Juli 1820 famen die neuen Corted in Madrid zufammen 
und blieben bi8 zum November verfammelt. Schon jetzt begann ber 
Kampf, welchen die Anhänger der Berfaflung einerfeitd gegen den 
König und den Klerus, anderfeit® gegen die jacobinifhen Decami- 
fado3 zu führen hatten. Das Volk ift froh, fehrieb ein um dieſe Zeit 
aus Spanien zurüdkehrender Befannter, und liebt die Unruhe nicht; 
der König, ein gewöhnlicher Wüſtling, ift felbft für den Aberglauben 
zu gering; die Elubbiften werden verachtet, die oftenfiblen Häupter der 
Revolution gelten ald unbedeutend, namentlih Quiroga; nur Riego 
foll ein Mann von Kopf fein; die geheimen Häupter, denen man 
viel Talent zufchreibt, wollen die Republif, aber ſchwerlich werden 
fie da8 Bolf hinreipen. — Ye nad der eigenen politifhen Anficht 
wünfchten in Deutfchland die einen Diefer, die anderen jener Partei 
den Sieg. Der Grundirrthbum des mir von Shnen mitgetheilten 
Aufſatzes über Spanien, heißt e8 in einem Briefe an Perthes, liegt 
darin, daß dad, was innere Nothwendigkeit ift, ald Zufall und Mie- 
griff Dargeftellt wird. In Spanien iſt das Uebergewicht wirklich dort, 
wo es ſich jeßt zeigt, nemlich im Bürgerftande. Adel und Kirche ha- 
ben feit Karl V. ihre frühere Stellung zum Staate verloren. Warum 
haben fie in der großen Bewegung feit 1808 keine Hand erhoben und 
feine Stimme geführt? Weil Erzbifchöfe und Ordendgenerale in dem 
.. Borzimmer Manuel Godoy's, des Friedendfürften, um einen gnädi« 
gen Blick, um Beneficien und Einfluß gebuhlt, weil von allen den 
Hunderten der Granden keiner bei Mishandlung der Perfon und des 
Standes Selbftgefühl genug befeffen hatte, um mit eigener Gefahr 
den elenden Günftling vor die Klinge zu fordern, und weil die Beften 


231 


ſchon viel zu thun glaubten, wenn fie ſchweigend fchmollten. Wa⸗ 
rum baben dagegen die Bürger in den Städten nicht verlernt, die 
Laft des Krieged und der politifchen Berathung auf fi zu nehmen? 
Weil fie felbft durch Arbeit frifch und Träftig, durch ihre Gemeinde- 
verfaffung wach und fich fühlend erhalten wurden, und weil ihre 
Borfteher den Muth bewahrt hatten, unerfchroden und einfichtdvoll 
das Recht der Gemeinde zu vertheidigen. „Wollen Sie wiſſen,“ fagte 
Fivre zu Napoleon, „wie gut die Inftitutionen find, die-Sie gefchafe 
fen haben, fo verfuchen Sie diefelben umzuftoßen; die, welche Teinen 
Widerftand leiften, taugen nicht.” In Spanien haben Adel und 
Kirche alles dem Winke ded König? preisgegeben, die Städte aber 
nicht. Auf welcher Seite ift nun „das große Drgan der Lebenskraft 
des Staates?” Was wahres Leben hat, das erhält ſich felbit leben- 
dig; was Gelehrte erft mit Mühe und nad) der Theorie aufpuben 
und reftaurieren müffen, das ift in fich tobt. Gewiß, e8 gab eine 
Zeit, in welcher das Leben der Staaten in dem Adel und in ber 
Kirche lebte; aber au in Ihrem Hamburg haben einftmal® Grafen 
regiert, und dennoch hat der Geift fich jebt auch dort andere Organe 
gebildet: Daß ſich da8 bürgerliche Element Spanien? in einem mis- 
verftandenen Streben nach föderierter Provincialverfaffung ausfpridht, 
leugne ich nicht, finde ed aber fehr erflärlih. Die Beitandtheile, aus 
denen die fpanifche Monarchie fich durch Erbichaft und Eroberung ge- 
bildet hat, find nach Abftammung, Sitte, Gemüthsart, Berfaffung 
ſcharf genug gefhieden, um zu dem Berfuche zu reisen, ſich von der 
caftilifchen Herrſchaft zu befreien, die ihnen nie zu Sinn gemwefen ift 
und jest weniger als je, weil Eaftilien und Madrid ſich bei faft allen 
großen Nationalangelegenheiten der legten vierzehn Jahre nur leidend 
verhalten haben. Wenn Sie ſich nun noch daran erinnern, daß die 
ganze Richtung der Zeit unmiderftehlih und aller Erfahrung zum 
Trotz auf die Republif hingemwendet tft, fo werden Sie ſich nicht wun⸗ 
dern, Daß viele Spanier der Weberzeugung find, eine neue Verfaſſung 
und eine alte Dynaftie würden ſchwerlich zufammen beftehen fönnen. 
Sch weiß mit Gewißheit, daß viele der Heftigften die Conſtitution 
von 1812 nicht anders beurtheilen ald wir; aber jenfeit® der Confti- 
tution meinen fie die Republif zu fehen, ein Licht nach vorübergehen- 


232 


der Finfternie. Völlig unrichtig ift die Behauptung, daß das ganze 
jebige Streben der Spanier nur in den Städten fi) finde. Für den 
Süden mag es fo fein, aber in den nördlichen und öftlihen Provin⸗ 
zen, wo dad Eigenthum. meiftend theilbar. und frei iſt, fpricht fi 
auch auf dem Lande die politifhe Bewegung lebhaft aus, obſchon fie 
auch hier in: den Städten am früheften und ftärfften zum Ausbruch 
kommen mußte, weil in ihnen die Menfchen fich am meiften berüh- 
ren und am leichteften die Mittel und Wege zum Reden, Schreiben 
und Handeln finden. — Eben fo wie Du babe ich den wärmiten 
Antheil an Spanien® Umwandlung genommen, fehrieb Perthes ei- 
nem Freunde. Iſt je eine Revolution ald Rothiwendigfeit eingetreten, 
fo ift e8 diefe. Daß Soldaten fie bewirkten, ftörte mich nicht, weil 
ih die fpanifhen Soldaten für enger mit dem Bolfe verfchmolzen 
hielt ald in irgend einem anderen Lande. Ich traute der Nation, 
die fo herrlich fih bewährt-hatte, und baute auf ihr tiefes religiöfes 
Gefühl. Auch heute noch halte ich die Hoffnung feit, daß fie ſich 
durdharbeiten werde — aber es ficht fehr, fehr fehlimm aus. Was ic 
laͤngſt fehon hörte, aber nicht glauben wollte, ift nur zu-wahr. Die 
- höheren Stände, ein großer Theil der Geiftlichen nicht audgefchloffen, 
fennen feine andere Lehre als die der franzöfifhen Eneyklopädiſten 
und der feineren Sacobiner. Ganze Schiffeladungen der Schriften 
von Rouffeau, Voltaire, d’Alembert, Diderot gehen nach Spanien, 
werden vertheilt und werden verfchlungen. Die unüberlegte Aufbe- 
bung der Klöfter hat die Mönche, die Aufhebung der Kirchenzehnten 
- die Weltgeiftlichen zu Feinden des neuen Zuftande® gemacht, und ein 
Bürgerkrieg fcheint unabiwendbar. Dazu nun die unglüdfelige Con- 
ftitution von 1812! Ohne fefte und Fräftige Regierung iſt politifche 
Freiheit nicht gedenkbar; in Spanien aber follen die Cortes und mehr 
noch ihr permanenter: Ausfchuß mit und über der Regierung regieren. 
Ein Miniſter nad dem andern wird fallen und die Leitung. Spaniens 
Schritt vor Schritt in fchlechtere Hände fommen müflen. Perez de 
Caſtro, der feiner Zeit felbit den -Entrourf der Berfaffung hatte ma- 
chen helfen, äußerte kurz bevor er von hier ald Minifter des Aus- 
wärtigen nach Madrid berufen ward, daß, um Spanien zu reiten, 





233 


die Abänderung einiger Hauptfähe der Conftitution unerläßliche Bor- 
bedingung ſei. 

Während in Spanien der Barteienfampf fih einrichtete, fiegte 
die Revolution in Portugal und erhob fi in Stalien. Der nördliche 
Theil der apenninifchen Halbinfel war nach Vertreibung ber Franzo⸗ 
jen zu. Heineren Bruchtheilen unter Oeſtreich, öftreichifche Erzherzöge 
und den König von Sardinien vertheilt, der Kirchenftant aber und 
Neapel den alten Herrjchern wieder gegeben worden. Im Gegenjag 
zu diefer Zerfplitterung, zu der öftreichifehen Regierung und zu der 
armfeligen päbftlihen und neapolitanifchen Verwaltung hatte der 
ſchon zur franzöfifchen Zeit Beroorgetretene Bund der Garbonari von 
Neapel aud Kraft und. Verbreitung gewonnen. Am 8. Juli 1820 
mußte Serdinand- IV. die fpanifhe Conftitution von 1812 ald Orund- 
lage der Berfaffung für da® Königreich beider Sicilien anerkennen, 
und von nun an wurden in Piemont und in der Lombardei die Pläne 
weiter geführt, ‚welche den Prinzen Karl Albert von Savoyen zum 
König von ganz Italien erheben follten. 

Ich geftehe Dir gerne, mein Italien liegt mir fehr am Herzen, 
fchrieb Graf Moltfe an Perthed, und wäre ich Staliäner, ich märe 
unter den Carbonari. Kann einer Nation verargt werden, wenn fie 
von fremden Einflug und fremder Herrſchaft frei fein will und, em⸗ 
pört über eine Behandlung, wie Jtalien fie nad) der Bertreibung der 
Franzoſen erfuhr, fich gegen ihre Dränger erhebt? Die Frage nach 
der Rechtmäßigkeit der Revolution ſcheint mir ziemlich gleichbedeutend 
zu fein mit der nad) der Rechtmäßigkeit des Sturmes oder des Erd: 
bebend. Das bleibt gewiß, fein Bolt revolutioniert, weil e8 will, 
fondern weil es muß, und dad Muß liegt für Italien erlennbar vor. 
Jahrhunderte hatten die Italiäner wie dad Murmelthier den Winter 
verichlafen und die ihnen übrig gebliebene kränkelnde Kraft in kraft⸗ 
loſen Sonetten verbraudht; man muß fich freuen, wenn fie aufftehen, 
in dem Wunſche, wieder etwas zu fein in der Gefchichte. — Die Ent- 
widelung des Prologd zu einem neuen, großen Trauerfpiel beginnt, 
ſchrieb Perthes um diefelbe Zeit; welche Wendung und Richtung dad 
merfwürdige Greignid nehmen wird, weiß niemand. Betrachte ich 
bie neapolitanifhe Revolution nicht ald einzelnen Act eines größeren 


234 


Drama, fondern ald ein Stüd für fi, fo erfeheint fie mir als halb» 
wahnſinnig. Ein Staat, der nur ein fehr befchränftes Territorium, 
aber eine Hauptftadt von etwa 400,000 Einwohnern hat, von denen 
ein fehr großer Theil müßig auf den Straßen liegt; dann Galabrien, 
voll wilder Bewohner, faft im Urftand Nimrod's; dann Sicilien mit 
feinem nad altem Herkommen feit vertheilten Lande, fo wichtig ald 
das ganze übrige Königreich und doch durch Sitte und See von die 
fem ſcharf getrennt: wie follten da die verfchiedenen Raturen, Ge 
wohnheiten, Berhältniffe und Anfprüche zu einem gemeinfamen Volls⸗ 
und Staatdintereffe vereinigt werden fönnen! Eine gefeßgebende Ber 
fammlung follte das bewirfen? Nimmermehr. Die neue Gewalt, 
Majorität der Stimmen genannt, würde als furchtbarer Tyrann al- 
led Recht, alle Freiheit, alles Heilige vertilgen, und nun dazu bie 
fremde fpanifche Eonftitution von 1812! Aber die neapolitanifche 
. Revolution iſt auch gewiß nicht für Neapel gemacht, fie ift ein erfter 
Schlag an die Sturmglode, welche die Garbonari für ganz Italien 
ziehen wollen, und das verändert die Sache. Nur Gott kann Richter 
fein über die Männer, die vielleicht Großes und Gutes für ihr ge- 
ſamtes DBaterland wenigftend wollten. Wer unter und, der 1813 
bis 1815 lebte und den Geift und das Streben feit 1806 in ſich auf- 
nahm, wollte einen Stein aufheben! Der Staliäner-hat fo gut wie 
der Deutfche fein Nationalreht und hat den Anſpruch, auf eigene 
Hand nad) eigener Art zu leben. Sind aud die öſtreichiſchen Fürften 
fhon jeit Jahrhunderten feine Fremden für Oberitalien, fo fcheint es 
doch, ald ob Deftreich verfäumt habe, nad) italiänifcher Lebensart zu 
regieren. Diefe Verfäumnis ift, nachdem einmal die eiferne Krone 
den.Staliänern wieder ind Gedächtnid gerufen war, um fo unverzeih- 
licher, als die öftreichifche Monarchie nicht durch eine gemeinfame Na- 
tionalität, fondern durch einen gemeinfamen Monarchen zufammenge- 
halten wird, alſo feinen Grund hat, Staliänern, Ungarn und Sla⸗ 
ven ihr nationales Leben zu verfümmern. Sept aber, nachdem Nea⸗ 
pel den erften Schritt für ganz Italien gethan bat, bleibt für Deft- 
reich nichts übrig ald die traurige Nothwendigkeit, mit den Waffen 
entgegen zu treten. Denn fo gutmüthig ift wohl niemand, zu glau- 
ben, daß fi die Carbonari durch irgend eine der Lombardei ge- 


235 


währte Berfaffung in der Verfolgung ihrer Pläne aufhalten Taten 
würden. 

Auch in Italien machte die von Weiten nad Diten Südeuropa 
durchziehende Nevolutionebewegung nicht Halt. Im Frühjahr 1821 
brachte das Zufammentreffen verfchiedenartiger Umftände den ſchon 
feit Jahrzehenden vorbereiteten Aufftand der Griechen gegen das bru- 
tale türfifche Joch zum Ausbruche. Unter Alerander Ypſilanti's Füh⸗ 
rung fam die Moldau und Walachei in Bewegung, und im Pelopon⸗ 
ned, in Attika, auf den Infeln des Archipelagos begann der furcht⸗ 
bare Vernichtungskampf zwifchen Griehen und Türken. Dur ganz 
Europa ging der Ruf von den Kriegsthaten der Griechen und von den 
barbarifhen Qualen, die der Sultan, wo erfonnte, über fie vers 
“ hängte. Die Erhebung der Griechen wurde von allen freudig be- 
grüßt, welche jede Revolution, ſchon weil fie Revolution war, für 
Glück und Gewinn hielten; aber weil in Griechenland zugleich der 
Nachkomme der Hellenen gegen den Osmanen und die wenigften® vor⸗ 
audgejebte Bildung gegen die völlige Barbarei, weil der gequälte 
Menſch gegen feinen Peiniger und der mishandelte Ehrift gegen den 
brutalen Mohammedaner aufftand, vergaßen auch die entſchiedenſten 
Gegner der Revolution, daß die Griechen gegen ihren hergebrachten 
Herriher die Waffen fehrten, und. wünfchten ihnen Glüd und Er- 
folg. Bei dem erften Beginne ded Kampfes war überdies die Mei⸗ 
nung, daß Kaifer Ulerander denfelben hervorgerufen habe, ſehr all⸗ 
gemein verbreitet und führte den Griechen manchen Lobredner zu, der 
ihnen außerdem wohl fern geblieben wäre. Regte doch ſelbſt in den 
ruffifchen Oftfeeprovinzen die Theilnahme ſich mit aufflammender Be- 
geifterung. 

Ich habe es nie für möglich gehalten, einen Krieg mit Inbrunft 
zu wünſchen, fchrieb ein Eurländifcher Edelmann im Mai 1821 an 
Perthes; jept aber ift ed der Kal. Nun darf die heilige Allianz 
wohl rufen: Hic Rhodus, bic salta! Weh über die Engländer, 
welche in Neapel der liberalen Partei fo viel zu Gute hielten und jeßt 
die armen Griechen der Barbarei wilder Horden preisgeben! Wo 
find nun die lauten liberalen Stimmen, warum werden fie jebt nicht 
laut? Sie ſchweigen, weil, mag Griechenland fiegen oder unterges 


236 


ben, für fie fein Gewinn daraus hervorgeht, weil in Hellad nicht der 
Sacobiner kämpft, um die Herrichaft zu gewinnen, Sondern die Menfch- 
heit, um den Drud eines furchtbaren Tyrannen abzufchütteln. Egoid- 
mus treibt die feigen Seelen. der Deutfchen: wie der europäifchen Li⸗ 
beralen überhaupt. Die Zeit ift groß und zugleih wie Mein! Sie 
fliegt und friecht zugleich; fie ift ein Heimchen, das Schwingen hat, 
um binter dem Ofen Lärm zu machen. So Gott will, wird es un- 
fer herrlicher Alerander fein, der zum zmeitenmale den Knoten, wel⸗ 
her die Bande gequälter Völker zufammenhält, mit dem gerechten 
Schwerte zerhaut. Wäre nicht das Alter in jedem meiner Glieder, 
fo ging ich mit in den heiligen Kampf. 

Der Borwurf der Zheilnahmlofigfeit, welcher den Deutſchen in 
diefem Briefe gemacht ward, entbehrte jede Grunded. Obſchon Deft- 
reich bald feine Häfen für alle, die den Griechen zu Hilfe ziehen woll⸗ 
ten, verſchloß, und in Preußen, Baiern, Sachfen jede öffentliche 
Kundgebung polizeilich ſtreng unterfagt ward, fo bildeten ſich dennod 
für ganz Deutfchland Vereine, welche Geld fammeln, Waffen ankau— 
fen und Krieger augrüften und nad Griechenland fenden mollten. 
Perthes hatte, noch bevor er von diefen Bereinen die dringende Auf- 
forderung erhielt, Hand and Werk zu legen, zwar feinen Berein für 
Hamburg und Norddeutfchland zu gründen verfucht, aber nicht unbe- 
deutende Summen zufammengebracdht und manchen ehrenwerthen Of 
feier, unter andern einen Oberften mit feinen drei Söhnen, nad 
Marfeille und Livorno oder wenigftend bi8 München fortgehoffen. 
Die Angelegenheit der Griechen befchäftigt Sie, wie es fcheint, fehr 
lebhaft, fchrieb im Juli 1821 ein den Widerfpruch liebender Freund 
an Perthes; mid gar nicht. Ich kann die gefchichtlih beglaubigte 
Anfiht nicht 108 werden, die einzige, die mir nicht ganz fremd iſt. 
Von dem erften Auftreten an in der alten Geſchichte hat dieſes geift- 
reiche, hochbegabte Volk gezeigt, daß ed, ähnlich wie die Franzoſen 
ber neuen Zeit, alles befigt, was einem ehrlichen Manne zu wün- 
hen wäre, aber nicht? von den, was einen Mann ehrlich macht. 
Den Griechen ift nicht erft in ihrem jegigen Zuſtande der Erniedrigung 
und Berwilderung, fondern ſchon in der Zeit ihres höchſten Glanzes 
und Ruhmes der Sinn für Treue und Recht, für Dankbarkeit und 


237 


Biltigfeit fremd, ja lächerlich getwefen. Für die alte Zeit übernimmt 
Thucydides ftatt meiner die Beweisführung; die Zeit des muthwillig 
berbeigeführten Römereinjluffe®, die Greuel des byzantinischen Kai⸗ 
ſerthums find an fich felbft Beweifed genug, und nun die griechifchen 
Kichenverfammlungen! Kirchenverf ammlungen finden überhaupt kei⸗ 
nen Robredner an mir, aber die des Abendlandes, befonder® die der 
hochherzigen Gothen und Spanier tragen doch da® Gepräge der Ma- 
jeftät. und des Ernfte®, mitunter fogar des Wohlwollend und der 
Billigfeit. Die Männer, die ſich hier verfammelten, eiferten zwar 
auch und irrten mehr als billig, fie eiferten aber aus Unverftand und 
beriethen fich Doch wie Männer, die vor Gott ftehen und nach ihrem 
Gewiften handeln. Wie ganz ander? dagegen waren die griechifchen 
Kirchenverfammlungen! Welch ein Misbrauch der Berwünfchungen 
und Berfluchungen bei den gleichgiltigften Ketzereien, welch Gefchrei, 
welche Ungebuld , welcher fchnelle Wechfel des Berdammend und des 
Billigend, und unter Patriarchen, Erabifhöfen und Bifchöfen welh 
ein wechſelſeitiges Mishandeln, welch ein Trampeln, Treten und 
Balgen, welches an feinen ungezogenen Buben mit ſchimpflicher Züch- 
tigung zu beftrafen, jeder Dorfichulmeifter für Pflicht halten würde! 
Und nun die Zeit der Türkenherrfhaft! Kommen denn etwa die Leis 
den der Moldau und Walachei von den Türken? Nein, fie lommen 
von der nichtswürdigen Erpreffung der griechifchen Fürften, von den 
unerfättlihen Yanarioten, die nun einmal verfaffungsmäßig in dem 
Befige find, dad arme Land audzufaugen. Große Rechte hatte der 
Eroberer Konftantinopeld, Mahommed II., dem griechifhen Patriar- 
hen für fih und feine Kirche bewilligt und die Türken haben Treu 
und Glauben gehalten, aber die ſchmutzigen Griechen, treulos unter 
fih wie gegen andere, haben einer den andern überboten, um zur 
Patriarhenwürde zu gelangen, und die Türken überredet und ge- 
zwungen, fie zum Gegenftande des Wucherd zu machen. Die Grie- 
hen haben viel gelitten, aber gewiß nicht mehr, als fie verdient ha- 
ben; nun werden fie frei werden, etwas früher oder fpäter, aber fie 
werden diefe Freiheit ſchaͤndlich misbrauchen, oder — zweimal zwei ift 
nicht mehr vier. Weder für folche Ehriften noch für ſolche Menſchen 
fann ich mich begeiftern. 


238 


Diefe damals fehr vereinzelt flehende Stimme hattte freilich auch 
ihre Wahrheit, aber fie fonnte Perthes nicht veranlaflen, in feiner 
Thaͤtigkeit nachzulaſſen, welche bald genug ihn auch mit der Schat- 
tenfeite jener damal3 allgemein in Deutjchland herrfchenden Griechen- 
begeifterung befannt machte. Abenteurer hohen und niederen Stan- 
de, Männer, die beinahe ſchon Greiſe, und Jünglinge, die beinahe 
noch Kinder waren, wollten ihr Glück in Griechenland verſuchen und 
drängten fi. in unglaublicher Menge auch an Perthed heran; der 
eine wollte Rod und Stiefel, der andere Geld und Empfehlungen, 
und leider nur zu bald zeigte fih, daß ein ganz anderer Grund als 
Begeifterung für Griechenland die meiften trieb. Die größte Vorſicht 
ward zur Pflicht; Betrüger mußten erfannt und junge leichtfinnige 
Leute vom frühen Untergange gerettet werden. Da Eure Hochgeboren 
fo außerordentlichen Einfluß auf hohe und höchfte Perſonen befiten, 
ſchrieb Perthes einem vomehmen Bagabunden, fo wäre mein Rath, 
daß Sie fih an den Kaifer von Oeftreich oder Kronprinzen von Baiern, 
bei denen fie immer freieften Zutritt haben, oder an ihren vorzügli- 
hen Gönner Grafen Wrbna oder an ihren intimen Freund Minifter 
Wangenheim oder an die anderen Könige, Minifter und Generale, 
die Sie nennen, wenden möchten, und nit an mi, der ich Bür- 
ger und Buchhändler zu Hamburg bin. — Die Griechen begehren, 
fchrieb er einem anderen, feine Soldaten, fondern nur erfahrene 
Dfficiere von der Artillerie oder vom Geniecorps; das fagen alle 
Briefe, die ich von unterrichteten Männern habe. Sie aber, junger 
Freund, find nicht von der Artillerie und auch wohl nicht von Genie; 
bleiben Sie ruhig zu Haufe, rathe ich Ihnen, und fuhen Sie etwas 
Tüchtiges zu lernen. — Als eine für die Griechen begeifterte wackere 
Frau, deren gutmüthiger aber unbedeutender und unbefonnener 
Sohn nad) Griechenland ziehen wollte, fih um Rath an Perthes 
wendete, antwortete Diefer: Sie feheinen die Sache der Griechen 
für eine fo große und heilige zu halten, daß ihr gegenüber jedes 
nähere Verhältnis, jede nähere Verpflichtung alles Necht verliere; 
ih aber muß Ihnen fagen, daß die Pflicht der Mutter, ihren Sohn 
vor dem fittlihen Untergang zu bewahren, und die Pflicht des Soh⸗ 
ned, für feine verwitwete Mutter, und die des Bruders, für feine 





239 


paterlofen Schweitern zu forgen, größer und heiliger ift felbft ala 
die Pflicht gegen das deutfche Vaterland, und nicht von diefem, fon- 
dern von Griechenland ift hier die Rede. So weit find wir doch noch 
nicht in der allgemeinen Verbrüderung gekommen, daß und jeder ent- 
fernte Punkt Europa's als vaterländiih gelten könnte. Verſuchen 
- ie e8 einmal, dem Mutterherzen das wahrfcheinliche Gefchi des 
Sohnes, wenn Cie ihn ziehen laffen, deutlich zu machen. Zu den 
Griechen foll er. Gelangte er wirklich bis dahin, fo würde er ohne 
binlängliche Geldmittel, ohne Kenntnid der Sprache und Landesart, 
ohne militärifche Kenntniſſe in dem fremden Lande eintreffen. Ich 
will aber von den Dfficieren und Kameraden, mit denen er dort zu 
thun hätte, ich will von Schlachten und Gefechten, von Verſtüm⸗ 
melung und Sklaverei nicht reden; denn ich glaube, daß er, au 
wenn Sie ihn geben lafien, fo wenig zum Kampfe mit den Türken 
ala zur Kameradfchaft mit den Griechen fommen wird. Geſetzt, wir 
befördern ihn wirklich nah Marſeille, fo wird er dort im heißen 
Lande vielleicht no Menate lang müßig und ohne Familienhalt in- 
mitten von Berlodungen aller Art auf die Abfahrt eines Schiffs war⸗ 
ten müflen; gebt er zu Schiff, fo wird feine Gefellfchaft aus alten 
und jungen Glüdßrittern beftehen, die ganz Europa nad) Griechenland 
fendet, und er wird geiftig und Törperlich untergegangen fein, bevor 
er einen Griechen oder Türken zu Geficht befommt. Diefem allem die» 
fen jungen Menfchen ausſetzen beißt ihn ind Feuer werfen oder in 
den Schlamm treten, und nimmermehr fann ed, wie Sie fchreiben, 
die heiligfte Pflicht für eine Mutter fein, ihren einzigen Sohn nach 
Griechenland zu fohiden. 

Während unter denen, die für Griechenland redeten und ſchrie⸗ 
ben, fammelten und verfammelten, vielen dad Mittel wichtiger war 
al® der Zweck, die vergrößerte Aufregung in Deutſchland wichtiger 
al® die verftärkte Hilfe für Griechenland, geriethen gegen Ende des 
Sommers 1821 auch die deutfchen Regierungen dem lärmenden Trei« 
ben gegenüber in größere Unruhe. Da demzufolge die Polizei mit 
ängftlicher Strenge die Bewegung zu überwaden begann, ftieg der 
Reiz, diefelbe ihr zum Trotz fortzuſetzen. Sehr viele Griechenfreunde 
geftelen fih darin, als Demagogen zu gelten, und die Bewe—⸗ 


240 


gung für die Griechen ward eine Bewegung gegen die eigene Obrig- 
feit; immer unreinere Elemente miſchten ſich ein, die in feiger Heim- 
fichfeit fich freuten, "die Behörden zu hintergehen und das Volk auf 
zureizen. Bon nun an liefen Briefe bei Perthed ein, in denen bald 
um Unterftügung , aber unter Verſchweigung ded Namens, bald um 
Beförderung von Briefen, aber mit größter Vorſicht gegen die Behör- 
den, bald fogar um Beforgung falfher Päfle, die ja in Hamburg 
nicht ſchwer halten fönne, gebeten wurde. Zumuthungen diefer Art 
ftanden mit Perthed’ Charakter in ſchroffem Widerfpruh und wur⸗ 
den von ihm mit derben Worten zurüdgewiefen. Mir ift, antwor⸗ 
tete er einmal, Die Angelegenheit der Griechen nad wie vor wichtig 
und werth, aber ich weiß auch, was ich dem eigenen Baterlande und 
feiner Ordnung fchuldig bin. Jetzt wird aufgerufen, ‚angefeuert und 
in Bewegung gefebt, was nur irgend aufzurühren ift, ob diefer oder 
jener von guten oder fchlechten Beweggründen geleitet ward, darauf 
wird. wenig oder gar feine Nüdficht genommen. So ftehe ich aber 
nit. Nie werde ich über Bedenflichkeiten gegen Perſonen und Mittel 
binwegfehen; finde ich einen rechtlichen und erfahrenen Officier, der 
nad Griechenland will, und fann id ihm mit Rath und That bebilf- 
lich fein, fo foll e8 mid) freuen, aber an dem allgemeinen Lärm fann 
und will ich feinen Theil nehmen. 


Die Heilige Allianz in ihrem Verhältniſſe zu den füb- 
europäiſchen Revolutionen. 
1820 und 1822. 





Nachdem die Revolution das ſüdliche Europa ergriffen und das 
nördliche zum größten Theil ald Anhänger und Bewunderer gewonnen 
hatte, wurde ein gemeinfames Auftreten der europäifchen Großmächte 
gegen den gemeinfamen Feind von den einen gefürdtet, von den 
anderen gehofft, von allen aber mit Sicherheit erwartet. Alle Ber- 
gleiche unferer Zeit mit den Wendepunften in der Gefchichte einzelner 





241 


Voͤlker und einzelner Jahrhunderte find viel zu Meinlich; ſchrieb da- 
mals Perthes; nur dann wird man die unermeßliche Bedeutung die- 
fer Jahre ahnen können, wenn man erkennt, daß unfer ganzer Welt- 
theil fi in einer Uebergangszeit befindet, im welcher die Gegenfähe 
eine? vergehenden und eines fommenden halben Jahrtauſends zufam- 
menſtoßen. Alle romanifchen Völker in Europa, Portugiejen, Spa⸗ 
niet, Franzoſen, Staliäner, find in wilder Bewegung; alle flavifchen 
Völker dagegen ftehen ald ein einziges. Ganzes regungslos da wie ein 
eherner Koloß. In der Mitte zwiſchen beiden find bie -germani- 
fchen Völker, geiftig wild bewegt wie die Romanen, politifch regung3- 
108 wie die Slaven. Während die drei großen Völferfarnilien fcharf 
gezeichnet. und gefchieden einander gegenüber ftehen, find dennoch alle 
- Grenzen der Nationalitäten durchbrochen wie in feiner früheren Zeit - 
der neueren Gefhichte. Die Staatögrenzen umſchließen verſchiedene 
und zerſchneiden diefelben Nationalitäten; die Eolonien reißen ſich 
108, außerenropäifche Völker treten ein in den Staatenverkehr und 


alle Länder und Nationen der Erde find ſich durch die Beſchleunigungs - 


mittel der Communication, durch den Austauſch merhanifcher Fertig. 
feiten und durch die Gemeinfamleit der wiſſenſchaftlichen und literari- - 
fchen Thätigfeit unglaublih nahe gebracht. Alles Bedenkliche und 
Gefährliche greift durch ganz Europa immig ineinander, überall tau- 
hen die unberechtigten Meinungen und Strebungen in gleicher Weiſe 
‚ auf, überall find die Leidenfehaften gleich wild entflammt. Während 
das Ausdeinanderwollen der ſcharf gefchiedenen Nationalitäten und das 
Zueinanderwollen der gleichen Intereifen und Leidenfchaften aller Na- 
tionen fih wie zwei gewaltige entgegengefebte Strömungen braufend 
und: wirbeind begegnen, während alle politifchen Kräfte der Erde 
durcheinander wühlen und arbeiten wie nie zuvor, fehlt jede gemein- 
fam orönende und leitende Macht in der Geichichte. Die Weltherr- 
{haft des alten Roms, das geiftlihe und meltliche Doppelregiment 
des Mittelalterd, das Syſtem des Gleichgewichts der legten Jahr⸗ 
hunderte, das alles iſt verſchwunden und unſere Zeit ſoll den Erſatz 
für das Verſchwundene finden. Wir aber, mein lieber Freund, wer⸗ 
den die Löſung der Aufgabe nicht mehr ſehen; denn futhle an Dein 


Haupt, es iſt Abend für uns geworden. 
Perthes' Lehen, 11. 4. Aufl. 16 


242 


Nach dem Sturze Napoleon’? war die Nothwendigkeit einer ein» 
beitlihen Macht, welche von Europa als Lenfer und Ordner der 
europäifchen Berhältniffe anerfannt ward, fehr allgemein gefühlt wor⸗ 
den. Geleitet von diefem Gefühle, hatten Rußland, Oeſtreich und 
Preußen im September 1815 die heilige Allianz gefchloffen; jie wollte 
für die Beherrfchung der einzelnen Staaten und für den Verkehr der 
Staaten untereinander feine andere Borfchrift als die der chriftlichen 
Religion angewendet willen; Gerechtigkeit, Liebe und Frieden follte 
auf der Erde fein, Gott al® der einzige Souverän, alle Menfchen 
ald Brüder und die Könige al? die von Gott zur Leitung der großen 
Hriftlihen Familie auderlefenen Bäter gelten. Rußland, Oeſtreich 
und Preußen glaubten das Necht und die Pflicht in ſich zu tragen, 
diefe neue Ordnung der Dinge berbeisuführen, und forderten die 
ührigen europätfchen Staaten zur Theilnahme auf. Fünf Jahre ſpä—⸗ 
ter ſahen freilich nur wenige in der heiligen Allianz die politifche In⸗ 
ftitution, welche das ſchwer bedrohte Europa vor dem Untergang be» 
wahren fönne. Wohl tritt mir die dee der heiligen Allianz vor 
Augen, fehrieb Perthes 1821; aber obſchon aus dem fuchenden Geift 
der Zeit entfprungen, iſt fie dennoch allen wirklichen Verhältniſſen 
weit vorausgeeilt und deshalb ohne Wahrheit und.ohne Kraft. Ein 
Rath der europäifhen Könige, der in freier Verftändigung die gro- 
pen Geſchicke berathet und die auftauchenden Störungen audgleicht 
oder befeitigt, ift ein vor Gott und vor den Menſchen wohlgefälliger 
Gedanke, aber diefer Rath darf nicht ein Nath der Fürften zur Er 
haltung und Vergrößerung der fürftlihen Rechte fein, fondern fept 
Fürften voraus, die nicht fih, fondern ihre Staaten vertreten und in 
feſter, verfaſſungsmäßiger Weife ihren Völkern eine Obrigfeit find. 
Weil wir ſolche Fürften noch nicht haben, fönnen wir auch einen fols 
hen Fürftenrath nicht haben, und es werden noch viele große politi- 
fhe Fragen aufgeworfen werden, welche dur Zufall, Willtür und 
Gewalt ihre Antwort erhalten, bald von den Kürften und bald von 
den Völkern. 

Die religiöfe Färbung der heiligen Allianz war wenige Jahre 
ſchon nach ihrer Gründung in den Hintergrund getreten, aber auf 
dem Aachener Congreß fchloifen am 15. November 1818 die fünf 


243 


Großmaͤchte eine-Union, welche fünftig mit Audſchluß jedes eimjeiti- 
tigen Eingreifen der einzelnen Regierungen alle Angelegenheiten ord» 
nen follte, von denen eine Gefährdung des europäifchen Friedend und 
der europäifchen Ordnung gefürchtet werden fonnte. Es Tragte fi 
nun, ob die heilige Allianz in diefer neuen Geftalt den Beruf und 
die Kraft befibe, die Verwidelungen zu löfen, in die Europa durch 
die Revolutionen des Südens gerathen war. Ein fehr unterrichteter 
mithandelnder Freund ſprach feine Unfichten hierüber in folgender 
Weiſe gegen Perthes aus: Als Rußland, Preußen, England und 
Deftreih durch ihre engere Verbindung die Weltherrſchaft Napoleon's 
beendet hatten, gedachten fie gemeinfhaftlich diefelbe Gewalt über 
Europa zu üben, welche biöher von Napoleon beſeſſen war. Sie be- 
tradhteten fich ala Erben feines Schwertes, und wenn fie in der erften 
religiöfen Dankbarkeit einander gelobten, dasſelbe nicht‘ als Gottes⸗ 
geifel, fondern als Hirtenftab zu gebrauchen, fo blieb das Echwert 
dennoch ein Schwert, deſſen Midbraud das übrige Europa zu fürdh- 
ten hatte. Auch die mehr republicanifche Form des neuen Weltregi- 
ments ließ die Befahren der Oligarchie nicht Überfehen, und wenn 
in allen politifhen Berhältniffen die Zeit auf repräfentative Formen 
hindrängte, fo mußten die Staaten zweiten und dritten Ranges auch 
wohl begehrten, bei der Leitung Europa’3 repräfentiert zu fein. Nur 
fehr wenige Regierungen haben fich zu irgend einer Zeit das neue 
Regiment der vier Mächte ald ein dauernded gedacht und an deſſen 
DBefeftigung mit Neigung und Bertrauen gearbeitet. Zufanmenge- 
halten wurde die Quadrupelallianz wefentlih nur durch die Roth- 
wendigfeit, mit vereinten Kräften jeden neuen Berfuch Frankreichs, 
fi) zum Gebieter Europa's zu machen, fofort vereiteln zu fönnen; 
Frankreich aber wurde nicht nur von Monat zu Monat weniger ge- 
fährlih, fondern trat auch auf dem Aachener Bongreß in die Berbin- 
dung ein, woelche dadurch ein ganz fremdartiged Element in ſich auf- 
nahm, deffen Verſchmelzung um fo fehwieriger war, als die übrigen 
Kräfte bisher feindlich gegen dasſelbe gewirkt hatten und eine feipd⸗ 
lihe Richtung praktiſch auch dann nod längere Zeit fortzudauern 
pflegt, wenn fie theoretifch aufgegeben if. Um die Allianz nach dem 
Zutritte Frankreichs gleich einig und ftarf zu erhalten, hätte es eines 
16 * 


244 


gemeinfamen Zweckes bedurft, welcher an die Stelle des bisherigen 
Ankämpfens gegen das gefürchtete Uebergewicht Frankreichs treten 
konnte. Da nun ein ſolcher neuer gemeinſamer Zweck ſich nicht fand, 
fo mußte die Verbindung aus Mangel an gemeinſamem Nahrungs 
ftoff fi) lockern und jedes Glied derfelben fuchte fein Einzelinterefle 
zu dem Lebendprincipe der Gemeinfchaft zu machen. Die befonderen 
Intereſſen der einzelnen großen Mächte aber gingen weit auseinander. 
Oeſtreich will und muß bei der Lage feines eigenen Innern die große 
Allianz als ein Mittel gebrauchen, um überall die Dinge auf dem- 
felben Punkte zu erhalten, auf welchem fie feit 1815 fich befinden. 
Preußen ſucht in der Allianz dag Mittel, in Europa ald Großmacht 
zu zählen, wird aber, fo lange es den Zwiefpalt in feinem eigenen 
Innern nicht befeitigt, nur als ein Anhang Deftreichd und. Rußlands 
in Betracht kommen. Rußland Hat wohl von allen Theilnehmern 
dag größte Intereffe an der. Kortdauer der Allianz. Dad Eultur- 
bedürfnid feiner ungeheuren Maſſen drängt zur engiten Verbindung 
mit Europa, aber Rußlands Verbindung mit Europa fann nur ala 
Einfluß, nur ald Macht über Europa fi äußern; den Mangel gei- 
fliger Ueberlegenheit und geiftigen Einfluffes will es durch die Größe 
feiner materiellen Macht aufiwiegen. Die unmittelbare und augen 
blickliche Theilnahme an den Reibungen, welche das gebildete Europa 
in feinen Tleineren Beftandtheilen fortwährend veranlaßt, wird aber 
für Rußland durch die geographifche Entfernung erfhwert ; feine An- 
fiht und fein Rath fann in der Regel erft dann vernommen werden, 
wenn die Umftände ſich ſchon wieder verändert haben. Rußland fucht 
daher die ihm unmögliche unmittelbare Theilnahme durch einen mit- 
telbaren Einfluß zu ergänzen und fieht in der großen Allianz vor al 
lem den Weg zu diefem Ziele. Fortwährend hat es geftrebt, auf die 
eine oder die andere der Mächte einen näheren und beftimmteren 
Einfluß zu gewinnen, damit dieje ſich nicht ohne Anfrage entfcheide 
und jeden definitiven Entſchluß einftweilen aufhalte. Welchen Gang 
die Sachen in Europa nehmen, ift für Rupland bei feiner noch im- 
mer abgeſchloſſenen Lage in den meiften Fällen verhältnismäßig gleich 
giltig; ob z.B. in diefem oder jenem Lande eine repräfentative Ber: 
faffung befteht oder nicht, ift für Deftreich von großer, für Rußland 





245 


dagegen von fehr geringer Bedeutung ; aber alled kommt ihm darauf 
an, daß es bei allem mit dabei-fei. Daraus erflärt ſich wohl die oft- 
. malige-fheinbare Inconfequenz der ruffifchen Bevollmächtigten, wenn 
es ſich um Seftftellung von Einzelheiten in den europäifchen Angele- 
genheiten handelt. Ganz anders ift Englands Lage. England hat 
von Anfang an die Allianz nur ala Mittel zu einem fcharf beftimmten 
einzelnen Zmed betrachtet: der Alleinherrfcher über den Gontinent 
follte niedergeworfen und eine Garantie gegeben werden, daß Frank. 
reich nicht wieder einen ähnlichen Berfuch wie 1815 mache, Die euro» 
pätfche Gewalt an fich zu bringen. In demfelben Grabe, in welchem 
das Bedürfnis nach der Kortdauer einer folhen Garantie ſich vermin- 
derte, ift für England die große Allianz, deren e8 zu feinem anderen 
Zwecke bedarf, gleichgiltig gervorden. So lange fie befteht, wird Eng- 
land die Nothwendigkeit erkennen, fi. an ihr zu beteiligen, aber es 
wird fich ihrer Auflöfung nicht miderfegen, ja vielleicht dieſelbe be- 
günftigen, um freiere Hand zu haben, die eigenen, zu allem aus» 
reichenden Kräfte für fein eigenes Intereſſe, welches nicht immer mit 
dem ded Continents zufammenfällt, zu verwenden. Franfreich end- 
fich fah fi) anfang? gendthigt, fehr leife und nachgiebig in der Al- 
lianz aufzutreten, um die hiftorifch gewordene ihm feindliche Richtung 
der anderen Großmächte allmählich untergehen zu laffen. Obfchon 
Frankreichs europäifcher Einfluß nach Beſiegung Rapoleon’3 einige 
Jahre ruhte, ift es Dennoch feiner ganzen “hiftorifhen Stellung nach 
eine Macht, welche, um einen Pla unter den Großmächten zu be 
haupten, nicht wie Preußen zu fortwährender Nachgiebigfeit genöthigt 
if. Frankreich betrachtete die Allianz al® eine Handhabe, die eigene 
Stellung wieder aufjurichten, und wie der Kranke feine. Krüde fort- 
wirft, fobald er auf eigenen Füßen ftehen fann, zeigt fih Frankreich 
geneigt, ſich einer Allianz zu entledigen, die ihred Urfprunge® wegen 
allen Parteien Frankreichs widerwärtig iſt. Faßt man alle dieſe fehr 
bedeutenden Veränderungen ind Auge, welche feit der Befiegung Na- 
poleon’3 in der. Stellung der großen europäifchen Mächte eingetreten 
find, fo wird man nicht glauben’ fönnen, daß die heilige Allianz 
oder deren Aachener Fortfegung berufen und befähigt fei, den Er- 
eigniffen in Südeuropa entgegen zu treten. | 


246 


Deftreih hegte darüber feinen Zweifel, daß die Revolution in 
Neapel mit den Waffen niedergervorfen werden müſſe und könne. Es 
war entichloffen , feine Truppen einrüden zu laſſen, aber es wünſchte 
diefen Schritt mo möglich in Folge eined gemeinfamen Beſchluſſes der 
Grogmädhte thun zu können. Die heilige Allianz diente ihm bierzu 
ald Handhabe. Mit ausdrüdlicher Bezugnahme auf dad Schlußpro- 
tofoll der Aachener Berathungen erließ Fürft Metternich im Spätſom⸗ 
mer 1820 die Einladung zu europäifchen Berathungen an Die großen 
Höfe und verſuchte auf dem Congreſſe zu Zroppau im October und 
November 1820 ganz Europa zum Kampfe gegen die Revolution, wo 
und wie fie fich auch zeige, in ähnlicher Weife wie früher gegen Ra» 
poleon unter die Waffen zu ‚bringen; aber fein Borhaben fcheiterte 
an dem Widerftande Englands, melches jede fremde Einmifchung in 
die inneren Angelegenheiten unabhängiger Staaten für unzuläffig er» 
flärte und dadurch namentlich auch die deutfchen Regierungen zweiten 
Ranges von der Furcht befreite, Durch die Truppen Oeſtreichs und 
Preußen? unter dem Borgeben des Kampfed gegen die Revolution 
bejeßt zu werden. In Troppau fcheint, ſchrieb am 20. November 
1820 ein unterrichteter Mann an Perthes, fchon Waller ind Feuer 
gegoflen zu fein, vorzüglich von Seiten England® und Frankreich. 
Wenigſtens ift man, wie ich ficher weiß, in München, Stuttgart und 
Karlsruhe fo weit beruhigt, daß die beabfichtigte Gegenzufammen- 
funft in Würzburg jest für überflüffig gehalten wird. Vielleicht war 
die Entwerfung dieſes Project? doch nöthig, grade um deifen Ausfüh- 
rung überflüffig zu machen. — Ungeachtet ded Widerftrebend Eng- 
land? unterzeichneten aber die Bevollmächtigten von Deftreich, Preu- 
Sen und Rußland die Erflärung, mit vereinten Kräften die in ihrer 
Entwidelung begriffene revolutionäre Gewalt befämpfen zu wollen. 

Einige Monate fpäter, im Januar 1821, trat in Laibach ein 
neuer Gongreß der fünf Großmächte zufammen. Zu diefem war auch 
der König von Reapel befchieden. Er flellte fih ein und ward mit Eh 
ren überhäuft, aber fein Minifter ded Auswärtigen, Herzog di Gallo, 
ward von den öftreichifchen Behärden in Görz zurüdgehalten und un- 
ter polizeiliche Aufficht geftellt. Weber Neapel und Laibach kann id 
Ihnen, heißt ed in einem Briefe an Perthed vom 17. Januar 1821, 





. 


247 


nur wenig gewiſſes mitiheilen. Es fcheint, als wollte man dieſe 
Sache grade fo wie 1815 die franzöfifche Angelegenheit behandeln. 
Man zieht zwiſchen Bonaparte'd Militärrevolution und der Revolu⸗ 
tion der Minichini und Pepe, zwifchen Ludwig XVII. und Ferdi⸗ 
nand IV., zwiſchen Gent und Laibach eine Parallele und möchte hier- 
aus Wiedereinführung des Könige mit gewafneter Hand, Verban- 
nung, Gefangenfegung und. Hinrichtung der Rädeldführer und militä- 
rifhe Occupation des Landes folgern. Aber die Parallele paßt nicht; 
denn Ludwig XVII. ward zurüdgeführt, um die von ihn befchwo- 
rene Berfaffung gegen die Anhänger Napoleon’? , die fie umgeftoßen 
hatten, aufrecht zu halten, Ferdinand IV. aber foll militärifche Un- 
terftügung erhalten, um die-befchworene Verfaſſung, welche feine Un- 
terthanen feftgehalten haben, brechen zu fünnen. Wir werden nun 
bald fehen, ob der König Ferdinand erklärt, daß er zu dem Eide ge- 
zwungen fei, und fich felbft deshalb von deinfelben entbindet, oder ob 
der Pabft mit dem Schlüſſel Petri aushelfen muß. Dad Schlimmfte 
in der ganzen Angelegenheit fheint mir zu fein, dag der überall in 
Europa vorhandene Gegenfat der politifhen Anfichten bei einem mi- 
Litärifchen Berfahren gegen Neapel eine fchroffere und feindlichere Aus⸗ 
bildung erhalten muß, als es bei einer friedlichen Beilegung der Yall 
geweſen fein würde. Im Jahre 1815 waren die Männer aller Par« 
teien mit der Nüdführung Ludwig's XVIH. einverftanden, weil alle 
die Bernichtung Napoleon’3 wollten; jegt dagegen möchten ungeadhtet 
des Widerwillens gegen die Ipanifche Eonftitution die Meinungen au 
verſtaͤndiger Männer fehr auseinander gehen. — Noch immer nicht? 
fichere® aus Laibach, heißt ed in einem acht Tage fpäter gefchriebe- 
nen Briefe dedfelben Manned; nur das ift gewiß, daß die großen 
Mächte unter ſich nicht einig find; fortwährend fteht Deftreich nebſt 
dem ſich ihm ganz bingebenden Preußen auf der einen, England und 
Frankreich aber auf der anderen Seite, während Rupland ſich wed- 
telnd bald dieſem bald jenem nähert. Daß man den alten König 
von Neapel fagen und erflären lafien fann, was man Luft hat, bes 
zweifeln wenige und man hält die Zurüdweifung des Marquis di 
Gallo, den der König felbft bei fi) zu haben wünfchte, allgemein für 
einen Midgriff, durch welchen die Idee der Krone und ded Nönig- 


248 


thums ſchwer verlegt ift. Ich bin überzeugt, daß die Neapolitaner, 
wenn fie nur. noch ein Jahr fich felbit überlaifen find, unſchädlich für 
Guropa fein werden; ein Kreuzzug gegen fie dürfte aber, wie id 
fürchte, eine große Zahl bejonnener Männer auf ihre Seite führen; 
es hat etwas fehr verlegended, einer Berfaflung den Krieg zu erflären, 
welche der eigene König beſchworen und wiederholt anerkannt hat. 

Der Schreiber diefer Zeilen hatte richtig geſehen; wirflich beftritt 
England unter Frankreichs Beiftimmung in Laibach aufs neue den 
Grundfag, daß eine fremde Macht fi in die inneren Angelegenhei- 
ten eines anderen felbftändigen Staated zu mifchen deshalb das Recht 
habe, weil Europa verpflichtet fei, überall die Revolution zu befäm- 
pfen. Zugleich aber erflärte England, nicht entgegen treten zu wol⸗ 
ien, wenn Deftreich8 eigenes Intereſſe ihm ein bewaffnetes Einſchrei⸗ 
ten in Neapel nöthig mache. Bereits in der Mitte ded Monats Ye 
bruar 1821 befand ſich ein öſtreichiſches Heer nahe der neapolitani- 
ſchen Grenze und ganz Europa erwartete gefpannt den Zufammen- 
ftoß der Waffen. 

Die entfeplihen Ereigniffe, welche wir nun erleben werden, 
ichrieb ein freund an Perthed, mögen die verantworten, welche die 
armen Fürften, die nicht willen, was fie thun, zu diefem graufen- 
haften Abweg verführten. Neapel mit feiner terra di Lavoro wird 
leicht bezwungen fein, aber zugleich mit Neapel fällt dem Sieger die 
ungeheure, immer wirbeinde Volksmaſſe der Hauptftadt zu, die ſich 
nicht fo leicht wie im Norden in die Häufer einfäfigen läßt, und wie 
will man die Abruzzen, wie Galabrien und das zweite Gibraltar, 
Gaeta, bezwingen, defien Feſtungswerke in den fenkrecht auffteigen- 
den Fels eingehauen find und vom Waffer aud immer verproviantiert 
werden fünnen? Deftreich kann fich in diefem Kampfe verbluten, und 
verliert e3 eine einzige Schlacht, fo ftehen im Rüden feines Heeres 
hundert Städte im Aufruhr. Durch feine materielle Uebermacht wird 
Deftreich nicht gegen die Begeifterung eines ganzen Volkes gefichert 
fein. War Deftreich nicht auch übermächtig, ald es Die Schweizer, war 
Spanien nicht übermächtig, ald es Holland befämpfte? hat England 
nicht Nordamerika frei erklären müflen? wird Spanien über Süd- 
amerifa weiter herrſchen? Die Ueberzeugung, daß ein Boll, welches 


249 


von dem Willen, eine Eriftenz in der Gefchichte zu erringen, wirklich 
durchdrungen ift, unbefiegbar dafteht, hat für mich die Gewißheit 
eined mathematifchen Satzes. in folched Volt wagt alled an alles, 
- ut und Blut, Seele und Leib. Das kann und darf feine andere 
Macht der Erde aufbieten,; denn jede andere Macht will nur diefen 
oder jenen Zweck erreichen, aber nicht die Exiſtenz. Die Truppen ber 
- Reapolitaner mögen wenig geübt fein, aber ein fhlagmuthige® Heer 
wird binnen kurzem ein fehlagfertigeö fein und die legten kriegathmen⸗ 
den dreißig Jahre haben doch auch gewiß Neapel berührt; an fran- 
zöfifchen, englifchen, fpanifchen Officieren wird es ihnen nicht feh- 
len. — So wenig wie der Schreiber dieſes Briefed ahnete Anfang 
März 1821 wohl irgend ein Menſch, daß die Deftreicher nicht zu 
Schlachten mit einem wild erregten füdlichen Volke, fondern zu einem 
großen Treibjagen feiger, elender Haufen ausgezogen feien. Binnen 
wenigen Wochen war in Neapel von den revolutionären Gewalten 
nicht mehr die Rede und die Willfür einer Null war zum ſchranken⸗ 
loſen Alleinherrſcher gemacht. 
Dieſe ſchnelle Wendung der Dinge erſchien damals ſehr vielen 
als eine Folge des feſten Zuſammenhaltens der fünf Großmaͤchte und 
fehr viele erwarteten, baß die heilige Allianz, neu- geftärkt und in« 
niger verbunden durch diefen erften Sieg, bald auch in Portugal, in 
Spanien, in Griechenland und überall den Kampf mit der Revolution 
aufnehmen und fiegreidh durchführen werde. Näher unterrichtete Män- 
ner aber mußten wohl, daß. die Congreſſe in Troppau und Laibah 
die heilige Allianz nicht geftärft, fondern der völligen Auflöfung fehr 
nahe geführt hatten. Die äftreichifche Regierung ift an Widerſpruch 
im Innern nicht gewöhnt, fchrieb ein mithandelnder Freund im Soms 
mer 1821 an Perthes; fie hatte es feit Jahren in Deutfchland fehr 
leicht gefunden, für ihre fo bequem fcheinenden Anfichten die an mie - 
nifterielle Verantwortlichkeit praktifch nicht gewöhnten Minifter zu ges 
winnen, und zweifelte daher nicht daran, auch auf den Gongreffen 
Einftimmigfeit zu bewirken und die Evenemens creieren zu koͤnnen, 
nach welchen fi die Welt geftalten ſolle. Statt defien aber hat 
Deftreich die Erfahrung gemacht, daß die. Minifter der Staaten mit 
repräfentativer Verfaffung fih auf ihre Verantwortlichfeit gegen die 


250 


Kammern berufen, um ihren Wideripruch zu begründen, und aud) 
das wirklich Zugefagte oft gar nicht oder nur halb zu erfüllen im 
Stande waren. Doppelt und dreifad) widerwärtig find alle NReprä- 
fentativverfaffungen für Deftreich geworden, und mit dem neu befe- - 
figten flarren Willen, nirgend® diefelben neu entſtehen zu laſſen, 
bat Fürſt Metternich die Congreife verlaffen. Zugleih bat Deftreid 
den engeren Zufammenhang mit England, auf welches ed feiner geo- 
graphifchen Lage nach und bei feiner durch Rußland bedrohten Stel- 
lung angewiefen ift, mit einer Art Protection von Seiten Rußlands 
vertaufcht, indem e3 fih von diefem Kriegähilfe für den Fall eines 
Unglüds in Reapel verfprechen ließ; es hat fich die Berufung Frank⸗ 
reichs auf einen ihm gebührenden Einfluß in Stalien gefallen laſſen 
müfjen und ift zu Preußen in ein gefpannted Berhältnid gekommen, 
weil der Berliner Hof aller Wahrfcheinlichkeit nach abgelehnt hat, die 
begehrte reelle Hilfleiftung eventualiter zu übernehmen. Das ift auch 
wohl der Grund, aus welchem der König nicht in Laibach erfchienen 
ft. Rußland hat fi in manchen Punkten den Wünjchen Deftreichd ge 
fügt, aber doch vor allenı fein eigene® Jnterefje gewahrt. Ohne auf 
Deftreih8 Plan, alles in dem Zuſtande von 1815 zu erhalten, einzus 
gehen, hat ed den Standpunkt der heiligen Allianz feftgehalten und 
deshalb ausgeſprochen, daß Deflreih, wenn bei Annäherung feinee 
Heeres in Neapel eine friedliche Ausgleichung gelärge, feine Zahlung 
ber Kriegäfoften begehren dürfe; ed hat Preußen, indem ed dasfelbe 
in diefer frage auf feine Ceite zog, von Deftreich entfernt und näher 
mit Rußland verbunden, Kaifer Alerander wird, wie ich Grund habe 
zu vermuthen, wenn Deftreich die neapolitanifche Angelegenheit been- 
bet hat, noch anderweitige Forderungen für Reapel machen, die mit 
Oeſtreichs Abficht, alled bei dem Alten zu erhalten, wenig überein- 
fimmen. England und Frankreich haben in Laibad) gewonnen ; in 
dem fie entfchieden gegen die Anforderungen Deftreich3 auftraten, hau⸗ 
beiten fie der europäiſchen Volksſtimmung völlig entſprechend und ha⸗ 
ben ihren geifligen Einflug auf Guropa unberechenbar verflärft; 
Frankreich hat ſich überdied die Bahn zur Wiedererlangung feines 
gänzlich verlorenen Einfluffed auf Italien eröffnet, die ed weiter zu 
verfolgen feine Gelegenheit verfäumen wird. Einjichtdvolle Staate- 





251 


männer batten ſchon während der Perhandlungen über den zweiten 
Parifer Frieden und während ded Congreſſes zu Aachen audgefpro« 
hen, daß jede neue Zufammenkunft der großen Mächte das diejelben 
umfchließende Band lodern werde. Mir ſcheint es unftreitbar, daß 
diefe Vorherfagung in Troppau und Laibach fich erfüllt bat. Der 
Mangel eine? gemeinſamen Intereſſes für die Allianz und die Gegen- 
fäge in den Intereſſen ihrer Mitglieder find fehr feharf hervorgetreten. 
Die Rückſichtsloſigkeit, mit welcher Oeſtreich feine Abſicht, die Als 
lianz im eigenen Sonderinterefje zu benugen, verfolgte, hat die Auf⸗ 
merffamfeit der übrigen Großmächte in folchem Grade erregt, daß die 
ganze Verbindung mit völliger Auflöfung bedroht iſt. Der Verſuch, 
Europa ald eine Einheit unter Leitung der fünf Großmächte darzu- 
ftellen, kann als bereit® gefcheitert angefehen werden; die große Als 
lianz ift dem Wefen nad) nicht mehr vorhanden; jedes ihrer Mitglie- 
ber geht lediglich feinen eigenen Weg und fucht fich wie in früherer 
Zeit fo viel Berbündete wie möglich unter den größeren und fleineren 
Staaten zu gewinnen. Die Form der Allianz befteht zwar vorläufig 
noch, aber auch fie wird, wenn nicht alled trügt, bald genug ver 
ſchwinden. Statt der Uniondtage des durch feine Großmächte repräs 
fentierten Europa werden wir Einzelcongreffe, je nach) den Umftänden 
zwifchen drei oder vier oder jedh8 oder acht Mächten, ſehen und Eu— 
ropa wird jich Glück wünfchen können, wenn die gegenwärtige Span« 
nung nicht ind Ungemeffene fteigt und ftatt der europäifchen Union 
den europäifchen Krieg hervorruft. 


— 


Die religiöſen Gegenſätze der Zeit. 





Die Männer, zu denen Perthes als Jüngling mit kindlicher Ver- 
ehrung hinaufgeſehen, an deren Glauben und Ueberzeugung er ſich 
angelehnt, in deren Ringen und Kämpfen er einen Wegweiſer durch 
das Gewirre des eigenen inneren Lebens gefunden hatte, ſtanden nicht 
mehr auf dem Kampfplatze, auf welchem die großen religiöſen Gegen⸗ 


252 | 

fäße jener Zeit audgefochten werden follten. Wie mancher der Aelteren 
war ſchon heimgegangen oder doch müde von ber Länge des Lebens, 
und auch der Greis, der Friſche und Kraft fih bewahrt, kann und 
foll doch das Webergewicht nicht behaupten, mit welchem er einft die 
Sünglinge beftimmte und führte; denn die Sünglinge felbft find Män- 
ner geworden, die mitten im Leben ftehen und rüftig .wirfen und 
fhaffen. Der Mann, auf deffen Wort fie einft wie auf einen höhe- 
ren Ausspruch bewundernd horchten,, ift ihnen nun ein liebevoll ver» 
ehrter und zart gefehonter Greid. Daß Perthes längft den Wende 
punkt des Lebens überfchritten hatte, von welchem ab die vielen vä- 
terlihen Freunde, die Gott ihm zugeführt, nicht länger einen beftim- 
menden Einfluß auf ihn üben konnten, fpricht fih vielfach in dem 
brieflihen Verkehr mit ihnen aus. 

Meine Schwefter hat durch den beiliegenden Brief das Ihrige 
gethan, um Nachricht von uns zu geben, ſchrieb im December 1818 
der ſechsundſiebenzigjaͤhrige Friedrich Heinrich Jacobi; nun möchte ih 
jehr gerne auch noch das Meinige thun, wenn ich nur noch hätte, 
womit ſich etwas thun läßt. Der alte Herr ift aber gar zu verfchlif- 
fen, ſieht nicht mehr recht, hört nicht mehr recht, behält nicht mehr 
recht und muß fih vor allen Dingen hüten, noch für dad gelten zu 
wollen, was er einftmal war und nicht mehr iſt. Schön iſt ed an 
mir und ih muß ed an mir loben, daß ich mich in Alter und Ge 
brechlichkeit noch fo finde, wie ich wirklich thue, fo daß es Leute gibt, 
die wohl einmal über mich ungeduldiger find, als ich felbft, was 
doch nicht recht ift. Es ift wirklich merkwürdig, wie dem Menfchen 
‚oft im hohen Alter Dinge zu Theil werden, die er früher vergeben? 
erftrebte, mir 3. B. immer zunehmende Heiterfeit. — ch danfe Ih— 
nen herzlich, mein innig geliebter väterliher Freund, für Ihre Zei- 
len, antwortete Perthes. Sie haben gewiß alle Urſache, heiter zu 
ſein; ein hohes Alter erreicht zu haben, iſt kein Unglück, und auch 
den erſten und ausgezeichnetſten Männern blieb ſelten eine größere 
Geiſtesthätigkeit und Geiſtesſchärfe als Ihnen. Muthen Sie ſich nur 
nicht länger Producieren zu; das hiſtoriſche Erzählen iſt des Alten 
Sache. Sehr wünſche ih, Sie liegen den vierten Theil Ihrer Werke 
liegen und begäben ſich ftatt deffen an da8 Sammeln und Ordnen 


253 


der Erfahrungen Ihres feit fünfundfiebzig Jahren durchlebten Lebens; 
dad wird Sie angenehm aufheitern, indem e8 hiftorifch den ganzen 
Ideenkreis und Fdeengang einer großen Zeit Ihnen vorführt und 
wieder lebendig macht. Welche Gnade Gottes ift ed für Sie, daß 
Ihnen auf Ihrem Lebenswege noch vergönnt war, die falfchen Gö— 
gen alle fallen zu fehen und zu erfahren, daß die Krüden .eben nur 
Krüden find! Iſt Ihnen nun auch hienieden nicht das Findliche Feſt⸗ 
halten der göttlichen uns geoffenbarten Wahrheit zu Theil geworden, 
weil Sie zu ſtark vom Baume der Erfenntnis genoffen und zu lange 
gearbeitet haben, allein durch „den intellectuellen Höheſinn“ fih Ruhe 
zu gewinnen, fo ift das freilih ein Berluft für Ihr Seelenwohlbefin- 
den; aber wer fo. wie Sie in Ihrem letzten Briefe fragen kann: wo 
und wie ift Wahrheit?. der hat eine Demuth vor Gott, wie wenige 
‚fie erlangten, die fo forfchten wie Sie, und Demuth vor Gott, ift der 
Kern des Menjchen und ift der Weg, zu Gott. 

Aehnlich wie in dem Verhältniffe zu Jacobi war auch in. dem 
Berhältniffe zu anderen älteren Freunden die Autorität zurüdgetreten, 
welche diefelben früher ſchon vermöge ihres. reiferen Alter® geübt hat⸗ 
ten. Es galt jetzt für Perthes, nicht allein im äußeren, ſondern auch 
im inneren Leben auf eigenen Füßen zu ſtehen und ſich in dem neuen 
Gewirre religiöfer Gegenſätze als ein Kämpfer zu bewegen, für den 
 da8 höhere Alter anderer aufgehört hatte ein reifered Alter zu fein. 

.. Weit und breit im proteftantifhen Deutfchland. übte in der Menge 
und über die Menge noch der aus dem achtzehnten Jahrhundert über- 
lieferte Rationaliamus, wie er durch Röhr, Bretfchneider, Paulus 
und andere vertreten war, die Herrfchaft aus, aber nach zwei ver- 
fhiedenen Eeiten hin fah er fih ſchon in einen Kampf.um fein ferne- 
res Dafein verwidelt. Die tiefere wiffenfchaftliche Theologie war in 
Berbindung mit der neueren Philoſophie hervorgetreten und hatte nor 
allem in Schleiermacher,, der damals auf dem Höhepunfte feines Ein- 
fluſſes fland, einen gewaltigen Borkämpfer gefunden. Sie entzog 
dem Nationalismus die bedeutendften Geifter, fehränkte denfelben auf 
die Kreife der Mittelmäpigen ein und drohte daher, deſſen abgelebtes 
Leben völlig auszulöfchen. In ihrem Beginne konnte fich die wiſſen⸗ 
ſchaftliche Theologie wohl dem Laienauge entziehen, oder au, ob⸗ 


254 


ſchon ihr fpäteres Zerrbild noch nicht hervorgetreten war, den Ber- 
dacht erwecken, daß fie nichts thue, als mit beſſeren Waffen den alten 
Itrweg des Nationalismus vertheidigen, und die Erkenntnis der 
Mahrheit für das erfte, die Heiligung in der Wahrheit aber noch 
lange nicht für da8 zweite halte. Bedenken diefer Art mochte Per- 
the3 in dem Briefe geäußert haben, auf welchen ein theologifcher 
Freund ihm erwiederte: Man darf doch wahrlich nicht vergeifen, daß 
die meiften und bedeutendften Männer unferer Zeit nur durch Wiffen- 
(haft zum Chriſtenthum zurüdgeführt werden können, wie fie durch 
bie Wiſſenſchaft von demfelben abgeführt worden find. Nur fie ver 
mag die Wunden zu heilen, die fie gefehlagen bat. Damit fage ich 
wahrlich nicht® neues; Feiner der Kirchenväter hat ander? gedacht; 
obichon fie gewiß fo freudig wie unfere heutigen Eiferer bereit waren, 
Gut und Blut für ihre Meberzeugung zu opfern, jo haben fie doch 
immer anerkannt, daß das in Chriftus geoffenbarte Wort des Lebens 
feinen Widerfchein auch in der Philofophie des Morgenlanded und 
des Abendlanded hatte glänzen laſſen, um die Heiden durd dieſe 
Bhilofophie wie die Juden durch das Geſetz auf Chriftum vorzube- 
reiten, — Perthes' Zmeifel an den Erfolgen der willenfchaftlichen 
Theologie wurden durch diefe und manche ähnliche Worte nicht bejei- 
tigt; ihm blieb die Furcht, dag die Theologen, erfreut über neu ge- 
fundene oder neu feftgeftellte wiffenfchaftliche Begriffe, der Berfuchung 
nicht widerftehen würden, diefelben nun auch frifehmeg in die Kirche 
einzuführen, welche, da fie weder wiflenfchaftlich fei noch fein könne, 
hierdurch ein neue? Element der Zerfegung erhalten werde. Mit gro- 
ßer Wärme wendete er fi dagegen den Bewegungen zu, die von ei« 
ner anderen Seite Die Herrfchaft ded Nationaliamus bedrohten. 

- Angeregt durch die fehweren Leiden zur Zeit des franzöfiichen 
Drudes und durch die fraftvolle Erhebung zur Zeit der Freiheitäfriege, 
hatte da8 tiefere geiftige Reben begonnen, mit neuer Stärke im Inne 
ten der Nation zu arbeiten und zu drängen. In vielen einzelnen, 
in manchen Gemeinden und hier und da im Pfarramte war, ganz 
abgeſehen von aller. wiffenfchaftlihen Theologie, dad Bedürfnis nach 
Erlöfung von der Sünde und nach einem frommen, chriſtlichen Leben 
erwacht. Da c8 feine Befriedigung in dem herrfchenden Rationalis- 





255 


mus nicht finden fonnte, wandte es fich einem neuen oder viehnehr 
fehr alten Wege zu. In den verfchiedenften Gegenden Deutichlands 
entftanden größere und Eleinere Gemeinfchaften von Menfchen, welche 
Hilfe für ihre Seele fuchten und dieſe Hilfe in dem alten Kirchenglau- 
ben fanden; der frühere, das ganze proteftantifche Deutichland um⸗ 
faffende Zufammenhang de8 Rationaliamus ward zerriffen und deſſen 
Geltung ald allgemein proteftantifcher Kirchenglaube war tief erfchüts 
tert. Aufmerkſam verfolgte Perthed die neuen Bewegungen. Zwar 
verfannte er die mit denfelben verbundenen Gefahren, die mancherlei 
Abirrungen und Wunderlichfeiten nicht, aber dennoch freute er fich 
der ganzen Erſcheinung, fofern fie nur nicht unwahr oder trübfelig, 
fondern ernft und frifch fich geltend machte. Harms ft nun Paſtor in 
Kiel, fchrieb er einem Freunde, und ganz Holftein geht, fährt und 
reitet zu ihm in die Kirche, fogar die Profefloren, und wenn Voß 
diefen Sommer nad) Holftein fommt, fo laufen wir Gefahr, auch ihn 
zu einem plattdeutfchen Chriften werden zu fehen. Ich gebe zwar 
nimmermehr zu, daß das Chriftenthum nur im Lutherthum fich finde, 
aber jehen fann man an Harms, was hinter dem Zaune aufwächft, 
oder vielmehr, daß Gotted Sonne überall jcheint und nicht bloß auf 
den Katheder. Harms hat, wie ich höre, fein Aeußeres und einen 
unvortbeilhaften Bortrag, aber fein Ernft und ein fiherer Glaube 
an die Offenbarung ded Herrn reißt, vielleicht unterftügt durch feine 
provincielle Derbheit, alle hin, Das hat Harmd bereits erreicht, 
fhreibt mir Kalt, dag unfere Prediger in der Verbreitung ihrer ratio 
naliftiichen Weisheit etwas vorfichtiger zu Werke gehen und wenig- 
ften® nicht pofitiv zerflören, was eine frömmere Zeit gebaut hat. — 
Man würde dem braven, ernften und frommen N. — dem Führer 
einer andern religiöfen Bewegung — Unrecht thun, fehrieb Perthes 
um diefelbe Zeit, wenn man ihn an Worten, Sägen, Redensarten 
fefthalten wollte, unter denen man fich Died und das und noch allerlei 
anderes denken und vorftellen fann; aber fehr leid ift mir fein will 
kuͤrlicher Gebrauch von Bibelftellen. Wie er die Bibelftellen gebraucht, 
fo werden fie au von den Männern, die er befämpft, zum Beweiſe 
für entgegengefepte Behauptungen verrenft, und darüber müßte er 
felbft, meine ih, erfchreden. — Aus Berlin hatte ein Freund an 


256 


Perthes gefchrieben: Seit einigen Jahren ſchon hat ſich hier ein Kreis 
vortrefflicher und meift auch durch äußere Stellung hervorragender 
junger Männer zufammengefunden, denen es Ernft mit. ihrer Selig- 
feit ift, aber ein düfterer und bei einigen felbft finfterer Zug durchzieht 
ihr Leben: alles Weltliche und indbefondere alle weltlihe Kunſt er- 
fheint ihnen ald Sünde und mit warmem Eifer fuchen fie Profelyten 
zu gewinnen. Ich habe äußerlich und deshalb auch in meinem eige- 
nen Innern mit ihnen und ihrer Anficht zu ringen gehabt. Gott hat 
mir aus dem Kampfe berauögeholfen und ich ftehe frei für mid. — 
Wenn volle Wahrheit in dem Ernſte der jungen Männer liegt, fo la 
Dich, antwortete Perthes, durch das Düftere nicht abſchrecken. Hei⸗ 
ter und düſter fein, ift Sache des Blutes; derſelbe Emft, derſelbe 
fefte Glaube erfcheint nach Verſchiedenheit der förperlihen Stimmung 
bei dem einen heiter, bei Dem anderen düfter, und- das irdifche Kleid 
darf und den ewigen Kern nicht verleiden. — Eine höchſt eigenthüm- 
‚liche Auffaffung des Chriſtenthums fcheint fich jept, ſchrieb ihm. ein 
theologifher Freund, hier und da innerhalb der Brüdergemeinde zu 
verbreiten. Fries nemlich hat, ich weiß nicht warum, vielleicht aus 
feinem ‚anderen Grunde, als weil er unter ihnen erzogen iſt, Ein- 
gang bei den Herrnhutern gefunden. Mit diefem fpalten nun mande 
unter ihnen den Menſchen in einen Verftändigen, der als folcher nad 
Kantifcher Weife vom Unendlihen und Göttlichen nichts weiß, fon- 
dern alled nur in feiner. endlichen und weltlichen Beziehung verfteht, 
und in einen Ahnenden und Fühlenden, für welchen Gott und Ewig— 
feit überall if. Das verfländige Sch in mir muß nun z. B. die Wun⸗ 
der.und alled Uebernatürliche leugnen, während zugleich das fühlende 
Ich in mir überall Wunder und Webernatürliches fieht. So zerreißen 
fie den Menfchen in zwei Stüde, von denen das eine nothwendig un- 
gläubig, das andere abergläubifh, das Ganze aber frank werden 
muß. — Daß zwei Menfchen, die ſich ohne Unterlap befehden, in 
dem. einen Menſchen fieden, antwortete Perthes, ſcheint mir feine 
große Entdedung zu ſein; ſchon der Apoftel Paulus hat e8 gewußt 
und in feinem NRömerbrief deutlich genug ausgeſprochen. Es mag 
recht gut fein, die alte Wahrheit heutzutage neu einzufchärfen, aber 
die Aufgabe des Chriſtenthums iſt nicht, die beiden Gegner in uns 





257. 


durch theoretifches Ausfpinnen für alle Zeit wie gleich berechtigt zu 
verewigen, fondern fie Durch Lebendigmachung ded Glaubens zu einem 
einzigen neuen Menſchen heranzuziehen. 

Um die Stimmung.jener Jahre in den religidd angeregten Volks⸗ 
kreiſen zu verftehen, wird man.nie vergeflen dürfen, daß fie ald Ges 
genſatz zu der Herrichaft des hergebrachten Nationalismus entitan- 
den war und daher die Bedürfniffe fait ausſchließlich hervorhob, für 
welche der Rationalismus, weil er fie nicht fannte, auch keine. Beftie« 
digung gewährte. Gut und böfe waren für den Rationaliamus nur 
den Grade nad) verfchieden; böfe war ihm gleichbedeutend mit weni- 
ger gut, gut mit weniger böfe. Weil er den größten aller Gegenſätze 
leugnete und nicht erfennen wollte, daß gut und böfe nicht als ver 
fhiedene Stufen demfelben Reiche, fondern als ewig unvereinbarer 
Widerſpruch zweien, unbedingt einander ausſchließenden Reichen: 
dem Neiche des Lebens und des Todes, des Lichtes und der Finfter- 
nid, angehören, wußte er auch nicht? von dem Bedürfniffe de? Men- 
ſchen nad einem Helfer, der ihn hinüberbringe über die tiefe, beide 
Meiche fcheidende Kluft, welche niit eigenen Kräften zu überfchreiten 
niemand vermag. Das entichloffene Hervorheben diefed Bedürfnif- 
fed mußte daher für die damalige Zeit der Ausgangspunkt jeder wah⸗ 
ren religiöfen Bewegung im Bolfdleben fein. 

Wer nicht in fich gefühlt hat, fehrieb Perthes, daß ein ungeheu- 
res Geheimnis obwaltet, weiches un® auf immer von Gott entferte, 
wird auch nicht zu der Demuth gelangen, ohne welche dad Gna- 
denmittel der Berföhnung dur Jeſum Ehriftum unzugänglid) ift. 
Nicht das Fleifh, nicht Die Sinnlichkeit iſt das Grundübel; Hochs 
muth und Stolz, das ift der Teufel. Die Sinnlichkeit ift nur das 
Straf» und Heilmittel, durch ‘welches auch der hochmüthigfte Chrift 
immer wieder an feine Aermlichkeit und Berlaffenheit erinnert wird 
Nur wenig Pofitives ift und geoffenbart, aber dieſes wenige ift alles. 
Die Geftaltung des Geoffenbarten ift der Freiheit des Menfchen an- 
heim gegeben. Nach der Denkform, nad) dem Geifte und der Phan- 
tafie der Zeiten und der einzelnen bricht fich die Wahrheit in Strah⸗ 
len buntefter Art; der Menſch arbeitet ſich ab und foll ſich abarbei- 
ten, um für die Wahrheit eine Form zu gewinnen. Wenn Sie aber 

Perthes“ Leben. II. 4. Xufl. 17 


258 


ſchreiben, daß die chriftliche Offenbarung, fobald fie ald wahr ange 
nommen würde, Gejchichte und Philofophie in ein Halbdunkel Hülle, 
in welchem der Menſch halbträumend umher dufele, fo entgegne ih 
Ihnen, daß für jeden, der dad Erlöfungdmerf ausſtreicht, Die Ge- 
fchichte zu einem unentwirrbaren, ungeheuren Weichſelzopf und jedes 
philofophifhe Syftem zu einen Rechenerempel wird, deſſen Richtig⸗ 
keit, weil alle Möglichfeit der Probe fehlt, nie feftuftellen if. Das 
Forfchen übrigen? über das Weſen der Dreieinigkeit, über die Ratur 
des Herrn, über Erlöfung und Berföhnung it, wenn es ernſt ge⸗ 
(hieht, eine große und herrliche Sache, aber das Bedürfnis, aus 
welchen e& hervorgeht, ift ein wiflenfchaftliches, nicht ein chriftlichee. 
Werden wir doch auch von den Strahlen der Sonne erleuchtet: und er- 
wärmt, mögen wir die Gefehe ded Lichts und der Wärme verftehen 
oder nicht. Ihren Ausdrud: „die [hmeinifche Menge freilich bedarf 
einen Glauben, der über dad Willen hinausgeht”, werde ich mir 
merken; der Ausdrud und die hochmüthige Volksverachtung, aus der 
er hervorgeht, ift fehr bezeichnend für einen fo eingefleifchten Libera⸗ 
len wie Sie. Zum Schluffe bemerfe ich nur noch, dag ein Mann, 
der wie Sie niemals den Reizungen der Sinnenluft unterlag, nie in 
Hochmuth ſich überhoben und daher immer fich felbft genügte und 
feinen andern Helfer bedurfte ala fich felbft, dag ein folder Dann 
nur feine Zeit verlieren würde, ‚wenn er ferner auf mich achtete; er 
möge den Prediger bier in der Nähe, welcher im vorigen Jahre bei 
feinem eigenen Kinde zwei Juden zu Gevatter bat, ſich ald Seelfor- 
ger erwählen und möge fortfahren, fih, bis aud feine Stunde 
ſchlägt, täglich. zu wiederholen, daß alle Menfchen Recht haben und 
auch wieder nicht. | 
Sn fehr ausführlichen Mittheilungen fuchte ein braver und gei« 
ftig bedeutender Mann, welcher durchaus innerhalb des Rationalid» 
mus ftand, feine Stellung zu der hriftlichen Offenbarung zu rechtfer- 
tigen. Meine Worte werden Ihnen nicht gemundet haben, heißt e8 
am Schluffe derfelben, aber ich fann nun einmal nicht anders und 
Sie haben Gleihmuth und Faſſung genug, um von einem alten ver- 
dorrten Stamme nicht zu begehren, daß ihm eine friſche Rinde wach⸗ 
fen folle. I glaube nur wenig — das fan ich nicht leugnen — aber 


239 - 


ich habe die. fefle Meberzeugung, daß jedermann hächft berechtigt ift, 
unendlich viel mehr-zu glauben ala ich, und daß e8 feinem fogenann- 
ten Beifen oder Gelehrten zufommt, ihn dedhalb hinabzufeken. Dian 
braucht kein Heuchler, fein Augendiener, fein Feind der Geiſtesfrei⸗ 
heit zu fein, um die Schreier zu verachten, die ihre Freiheit nur da- 
durch bewähren, daß fie die ganze Welt zwingen wollen, nad) ihren 
Geſetzen zu leben. Das den Heidelbergern, Paulus und Voß, zu ſa⸗ 
gen, würde ich mich nicht feheuen: beide ſtehen auf Felſengrund, den 
ich felbft erprobt habe, aber beide können fich nicht darein finden, 
daß auch der Grund der anderen ein feiter fein fan. Gottlob, meine 
Anficht verträgt ſich mit der unbedingten Achtung wor jedem das 
Sittengejeß wicht übertretenden Religions - und Offenbarungsglauben. 
Ih bin fo billig gegen dad. Ehriftenthbum, wie ein eingewurzelter 
Heide nur zu fein vermag, und die fhlichten EChriften werden nun 
und nimmer meine Gegner fein, fo wenig als ich der ihrige; fie find 
vielmehr meine natürlihen Bundedgenoffen und geben nur weiter 
als ih. An ihren befonderen Geheimniſſen hört freilich, wie gefagt, 
meine Religion auf, ich fann ihnen dorthin nicht folgen und bleibe 
ohne Neid und Vorwurf im Lager der Heiden ruhig zurüd. Site kön⸗ 
nen mid höchſtens bedauern, denn id würde ja glauben, wenn e3 
Gottes Wille geweſen wäre; es war aber fein Wille nicht, und ich 
bin zu ehrlich zum Heuchen. Was könnte ed meiner Seligkeit. nüpen, 
Menſchen zu hintergehen und Gott durch eine Rüge nicht zu belügen, 
aber zu beleidigen; denn Menſchen kann man wohl belügen, Gott 
aber nicht. ch gehe einer ewigen Zukunft entgegen, die nicht ſchlim⸗ 
mer fein fann, als mein fehöpferifcher Vater fie beftimmte. Was ich 
nicht ändern kann, will ich auch nicht ändern. Daß nichts befonderes 
an mir ift, meiß ich befier ald jemand, ‚aber ich verlange auch nicht, 
etwas beſonderes zu werden; meine Anfichten und Anſprüche können 
Gott nicht flören und find feinem Menfchen im Wege. Ein Plas im 
Borhofe Eured Tempels ift alles, worauf id Anſpruch mache, . und 
verweigert Ihr mir auch den, fo ift auch die Wüfte meines Herrn; 
aber ich denke, einen friedlihen Nachbar meiner Art fünnt Ihr in dem 
Borhofe der Heiden, an der Schwelle Eures Tempels ſchon dulden. 
nn J 17 * 


260 


Sie fagen, antwortete Perthed, daß bei dem Gebeimniffe, wel⸗ 
ches dad Chriftenthum-zu haben behaupte, Ihre Religion unabwend⸗ 
bar. aufhören müſſe. ch erwiedere Ihnen darauf, daß der Gott, 
welchen der Rationalismus haben und beweiſen zu fönnen meint, die 
Denkkraft mehr noch ind Stoden bringt als jedes Geheimnis des 
Chriſtenthums. Sie fönnen, wie Sie jagen, nicht bei der Lehre je⸗ 
ner achtungswerthen Schule ſtehen bleiben, nach welcher die Welt die 
Gottheit ſei, aus ihr herfließe, zu ihr zurückfließe und ſich nicht von 
ihr unterſcheide. Mir iſt es ſchon recht, wenn Sie die Gottheit nicht 
anſehen wie das Waſſer, welches bald als Dunſt aufſteigt, bald als 
Regen niederfällt, bald als Wolke über det Erde, bald als Fluß und 
. Eee auf der Erde iſt und eben nichts anders iſt als Dunſt und Re 
gen, Wolfe und See und fish.nicht von dem altem unterfcheidet, als 
durch die jejeitige Geflalt, in der es erfcheint. Wenn Sie aber nun 
behaupten, durch ſcharfes Denken von der Gottheit-ded Pantheismus 
zu dem Gotte ded Rationalismus gelangen zu können, fo.fpricht alle 
Grfahrung wider Sie. Alle wahren und ſcharfen Denker der Bergan- 
genheit und der Gegenwart find, wenn fie von Chriftus nichts wuß⸗ 
ten oder nicht? willen wollten, zum Pantheismus gefommen, und 
nicht zu einem perfönlichen Gott; das brauche ich Ahnen ja nicht zu 
fagen. Ohne dad Chriſtenthum hätte der Rationalismus gar nicht 
bervortreten Tönnen und er kann fi nur deshalb mit fich begnügen, 
weil er fi bequem auf dad Faulbett firedt. Mit den Worten: der 
Ewige, der über Zeit und Raum Erhabene, meint der Rationalift 
ſich und andere zufrieden ftellen zu können, aber was diefe Worte 
heißen, das fagt er nicht und weiß es nicht. Der Menfh kann fih 
den perfönlichen Gott nicht. denfen ohne ein menfchliches Kleid; jede 
Religion ift eine Vermenſchlichung Gotted und infofern ein trübes Vor⸗ 
ahnen der Erjcheinung Gottes im Fleiſche. Daß die Menſchen aus 
ſich nicht bi® zur Menfchwerdung Gottes, fondern nur bi® zu deren 
Garicatur gelangten, ift freilich gewiß, und Sie haben volles Recht, 
zu fagen, daß feine menfchliche Denkkraft Menfchwerdung Gotteß, 
Berföhnung und Erlöfung zu finden im Stande fei; aber was folgt 
daraus für die ald Thatfache in der Geſchichte daftehende Wahrheit? 
Nichts. Kann doch die jchärffte Denkkraft nicht einmal das Dafein des 





261 


romiſchen Reiches finden, und ift ed etwa deshalb nicht vorhanden 
geweſen? Wo Sie ftehen, mein lieber Freund, da ftehen Sie ziwi- 
fchen Thür und Angel und müflen vorwärtd oder rückwärts; denn 
Sie vermögen es nicht wie andere die Augen Ihres Geiſtes gemalt- 
fam zuzumachen. 

Aufgeswängt würde das Chriftenthbum dem Menfchen, meinen 
Sie, ſchrieb Perthed einem anderen Freunde, und find gleichfam un- 
willig über diefe dem freien Manne angethane Gewalt. Nun ich we⸗ 
nigftend habe über Zwang nicht zu lagen. Mir wie allen meinen 
Alterögenofien hat keine Schule und kein Pfarrer, Tein Befehl zum 
Kirchengehen oder Bihbellefen jemald die ewige Wahrheit in Geftalt 
von Lehrfäpen aufgenöthigt oder auch nur nahe gebradht. Als mir 
aber mit jedem Jahre meines Lebens gewiſſer wurde, daß der in- 
nerfte Kern meines Seins göttlichen Gefchlechtes fer, fühlte ih um 
fo tiefer die Erniedrigung der ſchmählichen Knechtſchaft durch Fleiſch 
und Geifl. Jeden Tag meu verfhuldet, jeden Tag bald Gtolz, 
bald Staub. Die Angft um meine Selbftfucht und um meine Unrein- 
beit ließ mich nach einer Verföhnung fuchen mit dem Gotte, vor dem 
ich zitterte, und wurde mir dadurch der Weg, der zum Erkennen 
und Ergreifen der Offenbarung führte. Mir ift nicht das Chriften- 
thum, fondern ich bin dem Chriftentbum aufgezwängt, von innen 
heraus ihm in die Arme gejagt, und ich denke, fo ift ed auch man« 
chem anderen ergangen. — Unſer Sein und Weſen ift das der ge- 
fallenen Geifter, ſchrieb Perthes ein anderesmal; aber die Sehnjudht 
nach der Reinheit des göttlichen Urſprungs ift geblieben und treibt alle 
aufwärts; überall werden wir ein Abmühen gewahr, fidh- aufju- 
ſchwingen oder aufwärts zu fleigen oder aufwärts zu friechen, und bis 
zum Kampfe gegen das Böſe bringt ed mandjer, bis zum Siege über 
das Böfe feiner; die flüchtigfte wie. die fhwerfälligfte Natur bedarf, 
um ſich zu beben, eines Helferd und Bermittlerd, und mer diefed 
Bedürfnis nicht kennt, der flattert ſich zu Tode im vergeblühhen Be- 
mühen, aufmärt3 zu fommen. Für den aber, der in der Roth fei- 
ned Herzens ausruft: Sch bin ein armer Sünder! -und die Arme 
ausſtreckt nach einem Helfer, für den ift Chriftus geftorben. Wie 
‚nahe fällt doc) der Glaube an den Erldfer zufammen mit der Erfennt: 


262 


nis der eigenen Sünde! Wie mancher, der Ehriftud fo wenig wie 
die Jünger von Emmaus kannte, mag ſchon zu Chriſtus gebetet und 
deshalb in der Verworrenheit der Angft ſich einen Göpen zum Mitt- 
fer gemacht haben! Ihn wird Ehriftus feiner Zeit zur Wahrheit, 
die nicht weniger Ruhe ift als Xicht, führen und mancher wird zur 
Rechten Gottes figen, der in diefem Leben nie den Namen Chrifti 
audgefprochen hat. — Lieber, liebfter Moltke, heißt e8 in einem 
Briefe_an den alten Jugendfreund, unfer Dafein bier iſt ein dunkles 
Geheimnis, von welchen wir Anfang und Ende nicht wiſſen. Siehe 
Deine Jugend an, fiehe Dein Alter an — was findeft Du bleibend in 
Dir, worin findet Du Dein Ich? Phantaſie und Berftand, Gefühl 
und Empfindung ift mandelbar, heute jo und morgen andere. 
Schäle fie ab von Deinem Sein, waß bleibt Dir, ald die Sehnſucht 
und als die Ahnung der Liebe? — Die Liebe, beißt e8 in einem 
anderen Briefe, und ihr im gefchaffenen Wefen unzertrennlicher Be- 
gleiter, die Demuth, ift das Weſen der Seele, aber die Seele iſt ein- 
gefleiſcht in Sinnlichkeit und eingegeiftet in Hochmuth. Mir wird, 
je mehr ich in das Räthſel meined Selbſt hineinſchaue, immer deut- 
licher, daß meine Seele d. h. das ch der Demuth und der Liebe zu 
dem Menichen, als welcher ich umhergehe, gemorden ift, indem fie 
nicht mit Einer irdiſchen Form, fondern mit zweien: dem Körper 
und Geifte, zu einem Ganzen verbunden ward. Sie follte Durch bie 
von ihr audgehende Gottesfraft den Körper wie den Geift regieren, 
aber beide lehnten ſich auf und die Seele ift zum Knecht der Sinn⸗ 
lichleit und zum Knecht ded Hochmuths geworden und ift wie ein 
Scheintodter, den von dem wirklich Todten nur die Ahnung des Les 
bend unterfcheidet. Das Menſchenherz fehreit nach Demuth und Liebe, 
wie der Hirfch nach frifchen Wafler, aber e3 findet außerhalb des 
Ehriftentbumd feinen Gegenftand,, vor dem es fich beugen, feinen 
Gegenftand, den. es lieben fann. Der Araber fist finnend in feinem 
Zelte, der Hindu Brütet unheimlich in der einfamen Nacht und beide 
gehen im Grübeln unter, weil fie nicht finden fönnen, was fie fu- 
then; aber der Chrift hat den menſchgewordenen Gott, den er Lieben 
und vor dem feine Seele ſich beugen kann. Auch des Chriften Seele 
bleibt mit den Gründen ihrer Einferferung unbekannt, aber fie fehnt 


263 


fih nicht nur fort aus der Erniedrigung, fondern ift zu unbegreifli- 
hen Ehren, zu dem nädhften, vertrauteften Umgang mit Gott ge- 
langt, mag aud) ihr Beten flet® nur Bitten fein, weil doch auch der 
Dank nichts ift ald die andere Seite der Bitte. 

Wohl Dir, mein lieber, theurer Freund, antwortete Graf Adam 
Moltke an Perthes auf einen Brief religiöfen Inhalts, wohl Dir, 
dag Deinem Wefen, Deinem Dichten und Trachten. eine Sicherheit 
und Gewißheit geworden ift, die nur fehr wenige fich gewinnen umd 
die mancher rebliche, von Eigendünkel wirklich freie Menfch nie ge 
winnen kann; derm Gotted Wege find verfehieden und verfchieben 
auch die Organe, mit Denen fie aufgefaßt. werden. ‘Deine fichere Zu⸗ 
verficht drückt fich in jedem Deiner Worte aus; Gott erhalte fie Dir, 
und wie fie bieher eine tief empfundene und viel bedachte war, fo 
werde fie immermehr eine hell erlannte. — Beten Sie, daß Ihnen 
erhalten bleibe, was Ihnen gegeben ward, fchrieb Friedrich Leopold 
‚Stolberg, und daß die gute. Gabe mehr und mehr audgetheilt werde 
über unfer ganzes Vaterland. Es ift fehr wahr, wenn Sie jagen: 
Das göttliche Licht hat alled Geiſtige, alle Bildung fo fehr in und 
Durchdrungen, dag die Bildung nicht zu retten tft, wenn das göttliche 
Sicht erlifcht. Die Philofophie der Heiden hatte Haltung, meil fie 
aus dem Sehnen nad) dem Licht hervorgegangen war; aber die After 
weisheit unferer Tage entipringt aus Stumpfheit,; Frechheit, Glanz⸗ 
fucht, welches alles kein Sehnen ift nach Lit und nah Wahrheit, 
Das göttliche Licht. wird freilich nie verlöfchen, aber der Leuchter, 
auf dem es flammt, kann aus einem Lande, das feiner unwerth 
wird, in ein anderes verfeßt werden, wovon die Geſchichte uns 
furchtbare Beifpiele gezeigt. 


264 


Die kirchlichen Gegenſätze der Zeit. 
1817 — 1822. 





So ficher Perthes feiner Sache in Beziehung auf den chriftlichen 
Glauben war, fo unficher fühlte er fih in Beziehung auf die chriſt⸗ 
liche Kirche. Die eigene Seligkeit aber bielt er fo wenig wie die Se 
ligkeit anderer durch eine folche Unficherheit gefährdet. Sollte nicht, 
äußerte er einmal, Einigkeit und Sicherheit. ded Glauben? neben Un- 
einigfeit und Unficherheit über die Kirche beftehen können? Wiſſen 
Doch auch fo ziemlich alle, was Recht. ift, ungeachtet fo ziemlich alle 
auseinandergehen in den Anfichten über die angemefjene Einridh- 
tung der Anftalten, welche das Recht ſchützen, erhalten und ausbrei⸗ 
ten jollen. — Obſchon Perthes die Meinungsverfcjiedenheit über die 
Kirche nicht für gleichbedeutend mit Verfchiedenheit ded Glaubens und 
das Stehen auferhalb einer beitimmten Kirche nicht für gleichbe⸗ 
deutend mit dem Unglauben hielt, erfchien ihm dennoch aud die 
äußere Kirche ald Trägerin des chriftlihen Glauben? wie eine uner- 
meßlich hohe Anftalt. Gott hat uns in den heiligen Schriften, fchrieb 
er einem Freunde, Kunde gegeben von dem Wege, auf welchem er die 
Menfchen aus ihrer Selbftfflaverei erretten will. Die Bibel, obſchon 
fie nit da8 Wort ift, enthält Worte vom Wort, aber der Menſch 
ift fo ftarf in der Hartnädigkeit de3 Eigenwillens, daß er zu ſchwach 
ift, um die gegebene Kunde aufzufaffen; er vergißt und verfchleu- 
dert oder verfchiebt und verdreht die Worte nur zu leicht oder ſtarrt 
. ftumpf in fie hinein. Um die dargebotene Hilfe ergreifen zu können, 
bedarf er wiederum eines Helferd. Wer.aber führt ihn in die Tiefe des 
Verſtändniſſes, mer löft ihm den Sinn der Worte, wer bewahrt die 
Worte und breitet fie aus? Das ift die große und ſchwere Frage. 
Die Schrift bedarf eines Schutzes gegen Menſchenwillkür und der 
Menſch eines Auslegers der Schrift. Die Anſtalt, welche dieſes Dop- 
pelbedürfnis befriedigen ſoll, iſt die äußere Kirche, aber wo iſt ſie, 


265 


wer hat fie? Im einfahen Grundlinien hat zwar der Herr: felbfi 
bei feiner  Erfcheinung fie angedeutet; hat er aber nicht der menſch⸗ 
lichen Einfiht gläubiger Männer die nähere Geftaltung überwieſen? 
Wohl hat das Pabſtthum dort, wo göttliche Autorität fehlte, den⸗ 
noch göttliche Autorität ald vorhanden angenommen und durch Men» 
fchenwerf die Kirche verzerrt und verfchnörfelt, wohl hat die Reforma⸗ 
tion den Unrath aufgededt: aber darüber bin ich dennoch im Zweifel, 
ob die Reformation felbft eine Kirche zu gründen oder auch nur die 
Anfiht zu widerlegen vermocht bat, daß in der päbftlihen Kirche, 
obſchon entftellt,, die katholiſche, d. h. die allgemeine hriftfiche Kirche 
verborgen fei. — Wo ift in der proteftantifchen Kirche als folcher 
die Kraft, fchrieb Perthes an Merle D’Aubiguy, welche die in den 
Worten der Echrift gebumdene Wahrheit frei macht und fefthält? Die 
Laien folten ſich, heißt e8, belehren laſſen durch die Geiftlichen. Schon 
gut, aber wer belehrt die Geiftlihen, wer unter den Gläubigen‘ 
glaubt, dag mit der Ordination zugleich die Wahrheit auf den Dr- 
Dinterten ſich ſenke oder daß die im Drange ded Augenblida zur Ab- 
wehr vorübergehender Irrthümer und Angriffe feftgeftellten proteftan» 
tifhen Belenntnisfchriften nicht nur Wahrheit, fondern auch nichts 
als Wahrheit und die ganze Wahrheit enthielten? Belehrt nicht je 
der Geiftliche fich auf eigene Hand aud den Lehren, wie fie wiſſen⸗ 
ſchaftlich auf den Univerfitäten vorgetragen werden, hier fo, dort an- 
ders? Gin jeber fängt immer wieder von vorne an und es kommt 
auf die gute Natur, auf den poetifchen Sinn, auf die philofophifche 
Schärfe oder auf das gläubige Herz des einzelnen an, ob und wad.er 
aus fih macht. Wäre nicht die Scham und die Scheu vor der fatho- 
liſchen Kirche; wie laut, wie verzweiflungsvoll würden wir den Ruf 
oläubiger Proteſtanten nad) der Bit und ber Autorität einer Kirche 
ertönen hören! 





Unter den Proteftanten führte die Frage nach) dem Wefen und 
nah dem Rechte der Kirche leidenfchaftlihe Aufregung herbei, als 
1817 auf Beranlaffung der dreihundertjährigen Feier der Neforma- 
tion in Preußen und in einigen. anderen deutfchen Staaten der Berfuch 


266 


gemacht ward, die Lutheraner und Reformierten in fo weit zu ver. 
ſchmelzen, daß fie al® eine einzige Kirchengemeinfchaft, als ewangeli- 
ſche oder unierte Kiche erfcheinen konnten. Um diefelbe Zeit aber ver- 
öffentlihte Harmd in Kiel eine Reihe Thefed, in welchen er eined- 
theild den Rationalismus angriff, anderentheild aber auch gegen 
die Reformierten und gegen die Union auftrat und der lutheriſchen 
Kirche ein ſelbſtandiges Daſein ſichern wollte. 


Ueber den kirchlichen Streit in Holflein und über Harms' Auf— 
treten in demfelben denke ich nicht wie Sie, fihrieb ein Freund aus 
Berlin an Perthed im Juli 1818, fondern glaube, daß durch den 
Eifer des Streited die Wahrheit mehr verdunfelt, ald an das Licht 
gezogen ift — big jeßt, meine ich, denn für die Folge fan auch daraus 
tiefere Begründung entfliehen. Dem Inhalte des Glauben? nad 
fiehe ich auf Harms' Seite, ‚aber ich fürchte, in .diefer lebten Zeit iſt 
ihm diefer Glaube unter den Händen etwas zum todten Buchftaben 
geworden. In demfelben Maße aber, als er diefed wird, muß er 
feinen Werth verlieren, da Gott ein andered und geringeres Opfer, 
ald unfer innerfled Selbft, nicht annehmen will. Das eben ift die 
große Gefahr bei aller Befeftigung des reinen Glauben? durch Schu 
wehr einer äußeren Kirche, daß und nun durch Ertödtung des geifti- 
gen Lebens derfelbe wejentlihe Schade wie durch die Berführung 
zum Unglauben zugefügt werden kann. Es liegt überdied ein eifer- 
ner Unfegen auf dem meiften Streite und grade bei dieſem Streite 
babe ih von Anfang an ein fchmerzlihes Gefühl gehabt. Daß 
Harms den Streit mit den Uingläubigen und den Streit mit den Re 
formierten und den Unierten fo vermengt, ſcheint mir eben ſo untheo- 
logiſch ala undriftlih. Ich bin gar miht für dad, was zur Bereini- 
gung der beiden Confefjionen gefchehen ift, aber dennoch bleibt die 
Zrennung der Confeffionen die ſchwächſte und die am meiften irdifche 
Seite der Reformatim, und wer fie von diefem Uebel dur Die in- 
nere Kraft ihres. urfprünglichen Lebens gründlich heilen, nicht etwa. 
nur dad Uebel verdedien könnte, der hätte etwas. fehr großes gethan 
Richt abjondernder Partei- und Sertengeift, fondern nur: frifche Le⸗ 


267 


benswarme kann dieſes Ziel anerkennen. — Weit ſchaärfer und ſchnei⸗ 
dender trat ein anderer Freund auf, wenn er an Perthes ſchrieb: 
Harms' Ankämpfen gegen die Union und feine Abſicht, ſich und die 
Seinigen in einer lutherifehen Kirche ftreng einzufchließen und abzu⸗ 
fliegen, rubt auf einer unwahren und deshalb auch unchriſtlichen 
Grundlage. Der fatholifchen Kirche ift ed, wie wir alle willen, nur 
darum zu thun, die Form der Kirche, den Schein der Einheit zu 
retten: fo. lange nur der tiefe innere Zwiefpalt nicht äußerlich erfcheint, 
ift fie zufrieden; fo weit der Unglaube ihrer Mitglieder nicht. die 
Meilen und Proceffionen verfäumt, gelten fie ihr als gute Katholiken. 
Einen ähnlichen Zuftand werden auch für und, freilich fehr mider 
ihren Willen, diejenigen herbeiführen, die vor allen Dingen dad An⸗ 
ſehen der fombolifchen Bücher aufrecht erhalten wollen. Auch wir wer: 
den dann eine Kirche befommen, in welcher Rationalidmus im Herzen 
und Orthodorie auf Zunge und Kanzel Hand in Hand gehen können. 
Schon deshalb, meil fie dieſe Gefahr befämpft, preife ich die Union. 
Laſſen Sie und muthig und entichloffen den Schein der Einheit auf- 
geben, um der Wahrheit und der wirklichen Einheit den Weg nicht 
zu verſperren, wenn ſie uns nahen wollen! 





Neben dieſen und manchen ähnlichen Aeußerungen für die Union 
wurden aber auch in den Briefen an Perthes viele Stimmen laut, 
welche in der äuperlichen Vereinigung der beiden proteftantifchen Kir 
hen Gefahr für den Glauben in jeder derfelben fürchteten. Aeußere 
Bereinigung der Kirchen, heißt es einmal, wenn fie nicht aus voll- 
fommener Ueberzeugung hervorgeht, frommt nichts; darin flimmen 
wir gewiß überein. Aus Gefälligkeit kann ich nicht glauben, und 
wenn auch dad Heil der ganzen Welt von meinem Glauben abhinge. 
Bevor ich nicht fehe, das Gott Bevollmächtigte erweckt, glaube ich 
nicht an große Erneuerung und Bereinigung ; aber zu feiner Zeit wird 
er fie erwecken und dann wird Eine Herde und Ein-Hirte fein. Bis 
dahin wird er jeden, der in Lauterfeit des Herzens ihn fucht, mit 
Bnaden anjehen. — Die an fo manden Orten gelungene Bereini« 
gung der beiden proteftantifchen Parteien, ſchrieb ein anderer, zeigt, 


268 

wie wenig Ernft ed den meiften um den Glauben ift, felbft wenn fie 
meinen, es wohl zu meinen. Harms hat ein guted Feuer angezün- 
det, und wenn auch unredlihe Männer, die fih an der Kirche näh— 
ven, um fie zu untergraben, gegen ihn wirken, fo wird er doch vor 
Gott wie vor Menfchen mit Ehren beftehen. — Wie jemand im 
Ernſte behaupten kann, heißt e8 in einem anderen Briefe an Perthes, 
daß eine nad) Harms' Grundfägen errichtete Kirche fich ihrem Principe 
nach nicht Yon der römifchen Kirche unterfcheiden würde, begreife ic 
‚ in der That nit; denn nicht? würde eine ſolche Kirche im Principe 
‚mit ber römifchen gemeinfam haben. Hundert oder taufend oder 
zehntaufend Menjchen find in ihrer innerften Seele überzeugt, daß 
eine beftimmte Audlegung der heiligen Schrift die wahre fei; fie ver 
fihern fih einer gemeinfhaftlichen Formel ihrer Uebereinftimmung: 
fombolifche® Buch, und ftellen Pfarrer derfelben Weberzeugung zur 
Verkündigung ded Wortes und zur Verwaltung der Sacramente an. 
Eine folde Gemeinſchaft ift eine kirchliche Gemeinſchaft; wer deren. 
ſymboliſches Buch nicht anerfennt, gehört nicht zu ihr, der Pfarrer, 
‚der nicht ihm entfprechend lehrt, kann nicht ihr Pfarrer bleiben : aber 
fie hat deshalb nicht das Prineip der römifchen Kirche, denn fie wird 
nie wie diefe den Anderdglaubenden dadurch zu nichte machen wollen, 
daß fie ihm fagt: Du weichſt von der Kirhenlehre ab, fondern fie 
wird. aud Gründen der heiligen Schrift, wie e8 in der Augsburger 
Confeſſion heißt, mit ihm freiten und wird jeden Zwang, der Kir 
chenlehre beizutreten, für undriftlih halten. 


Die Katholiken fahen auf das Ringen der Proteftanten nach Ge 
winnung fefterer Kirchenformen mit fehr getheilten Empfindungen bin. 
Manche fürdteten dad Emporlommen einer neu verftärtten Macht, 
wenn der Proteſtantismus nicht mehr durch Scheidung in Rutheraner 
und Reformierte auseinander gehalten werde. Andere dagegen fahen 
nicht ohne inneres, an Schadenfreude grenzendes Behagen, wie der 
alte gefährliche Gegner ſich abmühete, um, wie fie meinten, eine Ta 
tholifche Kirche ohne katholiſchen Glauben, römifche Hierarchie ohne 
Rom, Pabſtthum ohne Pabſt zu erringen. Perthes katholiſche Freunde 





269 
meinten e3 zu ernſt mit der Sade, um eine Stimmung diefer Art zu 
theilen; fie fahen mit Freuden das in neuer Stärke hervortretende Be⸗ 
dürfnis der Proteftanten, für den hriftlihen Glauben au eine hrift- 
liche Kirche zu gewinnen, weil fie hofften, daß, wenn, wie voraus⸗ 
zufehen, alle Berfuhe, Kirchen neu zu ſchaffen, gefcheitert fein wür⸗ 
den, die Broteftanten endlich in der katholiſchen Kirche die allgemein 
hriftliche Kirche erkennen müßten. Mit befonderem Ernſte warnten 
fie daher vor der Anficht mancher Proteftanten, fih mit einem nur 
inneren, in feinen Kirchenformen ausgeprägten Chriſtenthum begnü- 
gen zu fönnen. Das ftärkfte und ſchrecklichſte Blendwerk des böfen 
Geifted, fchrieb Klinkowſtröm an Perthes, it der angeblich innere 
Glaube, der jept von einer zahlreichen Partei gepredigt wird. Diefe 
muftifche Reformation, die einzige, welche wir noch zu fürdten ha- 
ben, bietet den gemüthlichen Menſchen fchon hier auf Erden ein Sein 
in Gott, welches gegen alle Ordnung und ohne alle Wahrheit if. 
Wo ift Einigkeit, Frieden, Ordnung, ald in der heiligen. Kirche auf 
dem Felſen? Wir beide find in der Sache gewiß nicht ftreitend, aber 
die Zunge ficht noch, wo dad Herz fehon Frieden ſchloß, fo wie die 
Borpoften noch plänfeln, wenn es im Hauptquartier ſchon Friedens⸗ 
jubel gibt. — In milderer Form wied Friedrich Leopold Stolberg 
auf die Nothwendigkeit der Kirche für den Glauben hin, wenn er an 
Perthes fchrieb: Ich freue mich, dab Sie Neander perfönlih kennen 
gelernt haben. Alles, was ich von dem merkwürdigen Manne höre 
und leje, gibt mir.einen hohen Begriff von feiner Gelehrfamteit, fei- 
nen Gaben und feiner herzlichen Främmigfeit. Möchte er feine Theo- 
logie, wo fie den Chriften im Stiche läßt, fahren laffen! Sein Miss 
verftändnis ift dad Misverſtändnis fehr vieler redlichen Proteftanten, 
die auf Anbetung Gotted im Geifte dringen, aber um pofitive Wahr« 
heit fih zu befümmern nicht nöthig zu haben glauben und es nicht 
einfeben, daß es ja eigentlicher Zweck und Wefen der Kirche ift, die 
ohne fie Zerfireuten und Irrenden in ihren Schoß zu fammeln, und 
das kann fie Doch nur, wenn fie fichtbar ift. Gott hat fi) ohne Zwei⸗ 
jel feine Zeit und Stunde ‚vorbehalten, um auf einmal die aus der 
Erde emporfteigenden Nebel, welche den Bliden vieler noch das Hei⸗ 


270 


ligthum verbergen, zu zerftreuen. Es ſcheint ſich manches, obſchon 
noch von-ferne, vorzubereiten. 


Die Gegenfäße, welche die gepriefene Einheit der römifchen Kirche, 
auch .abgefehen von den heimlichen Feinden und von den vielen Gleich 
giltigen unter ihren Gliedern, zu allen Zeiten in fih getragen bat, 
traten freilich in jenen Jahren allgemeiner und heftiger Bewegung er- 
fennbarer als in dem legtvergangenen Jahrhundert hervor. In man- 
hen Theilen Deutihlande und namentlich in Baiern regten ſich Hen- 
ſchaftsgelüſte der Priejter mit neuer Rührigkeit. Uns Baiern, heißt 
e8 3.2. in einem Briefe an Perthed, machen die Reltgionshändel wie 
der große Unruhe. Seit Monigelas' Nüdtritt und feit der Bollzie 
bung des Concordats fühlt die in Baiern feft eingewurzelte Priefler- 
partei wieder feiten Boden unter den Füßen und fihreitet bald auf 
diefem bald auf jenem Wege vorwärtd. Gegenwärtig find nament- 
lich die gemifchten Ehen ein fehr beliebter Zankapfel. Neu angefeuert 
durch einen Sirtenbrief des Nuntius, wollen die Priefter überall alle 
Kinder aus denfelben katholifch werden laffen. — Zugleich wurde, 
veranlaßt durch das Auftreten des Fürſten Hohenlohe, die Wunder: 
ſucht in vielen katholifchen Kreifen neu angefaht. Bei und thut 
Hohenlohe und jetzt ſchon nit mehr er allein Wunder über Wum 
der, heißt es in dem Briefe eine? entfchiedenen Gegners diefer Rid- 
tung; an allen Orten bringt er Aufregung und Begeifterung hervor, 
obſchon er einen großen Theil des Klerus zu Feinden hat. Phyſio⸗ 
logiſch merkwürdig bleibt fein Auftreten; die Mirafelfucht des alt⸗ 
baierifchen Volkes grenzt wirflih an das Räthſelhafte und. eime, wenn 
auch Eleine, Zahl von dem Prinzen vollbrachter Heilungen ift nicht zu 
bezweifeln. — Die dur den Fürften Hohenlohe in Würzburg und 
Umgegend im Namen de3 Herın Jeſu Chriſti bewirkten Heilungen, 
ſchrieb Kaspar Droſte im Auguft 1821 an Perthes, find gemiß der 
größten Aufmerkſamkeit werth. Der Mann felbft ift fromm und von 
eremplarifchem Lebenswandel; er habe, fihreibt mir ein Freund, ein 
freundliched und einfached Aeußere, ein wohlwollendes, gutmüthiges 
und anziehendes Weſen; feine Demuth und Selbfiverleugnung , fein 


271 


Glaube, die findliche Frömmigkeit und da3 tiefe Gefühl der eigenen 
Unwürbdigfeit müfle ihn wohl folder Gnade von Gott empfänglich 
gemacht haben. Die Frage haben wir indeffen immer ju thun, ob 
er felbft nicht durch Menfchen, die ſich Tranf ftellen, getäufcht wird. 
In manden Fällen fann es geichehen fein, aber bei der Prinzeſſin 
Schwarzenberg, bei.dem.Kronprinzen von Baiern, bei einigen ganz 
Blinden und Lahmen Läßt fich ſolche Täufehung gar nicht denken. Bon 
allen Seiten ftehen freilich Spötter auf und ziehen die Sache ind Lä- 
cherliche. Das aber macht nichts; ift e8 Gottes Werk, fo werden wir 
ed als ſolches erfahren. Eine jörmliche Unterfuhung bat bereitd be- 
gonnen; der. Fürft ſelbſt hat nad) Rom berichtet, fo auch der Kron- 
prinz von Baiern über feine eigene Heilung und über dasjenige, was 
vor feinen. Augen in Brüdenau geſchehen iſt. 


Während die einen unter den gatholiken Wunder ſuchten und 
fanden oder doch wenigſtens wünſchten, wollten andere unter den Ka— 
tholiken, aͤhnlich wie Die Rationaliften der Proteftanten, in der chrifts 
lichen Offenbarung wenig anderes als eine Lehre der Moral erfennen; 
Die frühere Jrreligion ift befchwichtigt, Flagte Friedrich Leopold Stol⸗ 
berg in einem Briefe an Perthes; was aber fo viele auch unter denen, 
die ſich Katholiken nennen, und jegt für Religion geben wollen, ift 
flache Moral. Jeſus Chriſtus wird zwar als trefflicher Sittenlehrer 
gelobt, aber weil der Dioral ihre Wurzel: der chriftliche Glaube, ent⸗ 
zogen. ift, wird auch fie in der Luft fchmebend bald hindorren, Unter 
dem Namen Myſtik, die man mit Schwärmerei verwechfelt, wird der 
Glaube an die göttlichen Geheimnijje verhöhnt, werden die Glau- 
bendlehren Meinungen genannt. — Die Mojtit des Chriftenthums 
griff freilich jener geiftreihe Katholitismus nicht an, welcher feine 
Färbung wejentlich durch übergetretene Proteftanten, namentlich dur 
Friedrich Schlegel erhalten hatte, aber gegen das große Gewicht, wel- 
ches Sailer und feine Schule auf die lebendige Innerlichfeit legte, 
trat doch aud) er, wie Perthes ſchon zu Frankfurt erfahren hatte, in 
die Schranken und vermehrte dadurd dad Gewirre der Gepenfäge in- 
nerhalb des Katholicismus Deutſchlands. Selbſt Kirchenobere ſchei⸗ 


272 


nen vor einer Innerlichkeit beforgt gewarnt. zu haben, von welcher fie 
Sprengung der hergebrachten Kirchenformen fürchten mochten. Ken⸗ 
nen Sie, fhrieb ein Freund 1820 an Perthed, den Hirtenbrief dee 
Generalvicariat?® der Diödcefe Augsburg? Aftermyftifche Umtriebe 
nennt er das innerliche Chriftentbum, und greift ed an und ver 
dammt ed. Wenn diefe Menfchen nur herrfchen können, fo ift es ih 
nen gleichgiltig, ob die Beherrfchten inneres Leben haben oder nidt. 


Dem Berfuche ded Proteſtantismus, mitten hinein in alle diefe 
Bewegungen die heilige Schrift als jichern Halt zu bringen , ftellten 
wiederum bie Katholiken ſich in fehr verfchiedener Weife gegenüber. 
Die Bibelgefellfchaften, mie alle Erleuchtungsanftalter,, welche der 
Proteſtantismus berrichtet, fehrieb ein heftiger Katholit an Pertbes, 
werden am Ende immer zu neuen Brandftiftungen, weil fie nicht im 
Sinne der von dem heiligen Geifte geleiteten Kirche ihren Urfprung 
nehmen. immer und immer geht doch bei allem religidöfen Streben 
des Proteſtantismus das eine Loſungswort hindurch: Alles, nur nigt 
katholiſch, d. h. chriftlih, werden. — In einem anderen Sinne dw 
gegen ſprach ſich Friedrich Leopold Stolberg aus, wenn er an Per 
thes fchrieb: Es thut mir wehe, daß bei vielen Katholifen Mistrauen 
gegen die Bibelgefellichaft ftatifindet. Allerdingd müſſen Die Mitglie⸗ 
der derfelben in fatholifchen Ländern mit Beſcheidenheit verfahren, 
aber durch allgemeine Verbreitung der Schrift gefchieht meiner feiten 
Weberzeugung nach unendlich viel gutes. In Baiern find dur Un 
terftügung der Bibelgefellfchaft zehntaufend Eremplare eines von ei 
nem Katholiken überfepten neuen Teitamentes zur großen Freude Sur 
ler's und anderer frommen Geiftlihen vertheilt worden. Möge Gott 
das heilige Werk der Bibelgefellfehaft fördern, wie er ja ſchon fichtbar 
gethban hat! Bei meinem Bruder lernte ich eines der thätigften Mi 
glieder kennen, den Schotten Henderfon, einen trefflihen Dann. Das 
einzige, was mir bei der Bibelgefellfhaft Beforgnis erregt, ift der 
Umftand, daß fie, weil ihre meiften Mitglieder Diſſenters find, den 
Katholiken ſehr abhold fein werden, wie fih aus dem fonft fo ſchoͤ⸗ 
nen Buche ‚‚Christian Researches in Asia by Buchanan‘‘ aufs neue 


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_ 273 


zeigt. Mit ihm verfluche ich gern bie Inquifition in Goa, aber nad) 
biefem düfteren Winkel darf nicht der ganze Tempel beurtheilt werden. 
Ob von dem Bundestage etwas für die Religion zu erwarten iſt, 
weiß ich nicht. Wahrhaft guted aber fann nur von dem Geifte Got- 
tes, den er auf Fräftige und gefalbte Männer ergießen wolle, gewirkt 
werden. Alle® andere flidt nur am Aeußeren und läßt dad Innere 
todt. Daß unfere Bifchöfe künftig feine Fürſten und die Canonici 
feine müßigen Junker fein werden, ift jedenfall® ein wahrer Gewinn. 

Ungeachtet aller inneren Gegenfäge fand die Fatholifche Kirche 
dennod in ihrer Form als eine einzige Kirche da und alle Glieder 
hegten, mochten fie im übrigen auch noch fo weit auseinander gehen, 
darüber feinen Zweifel, daß die römifch-Fatholifche Kirche nicht eine 
von mehreren chriftlichen Kirchen, fondern die einzige und wahre 
hriftlihe Kirche fei. Wenn daher Perthes’ Tatholifche Freunde den 
Proteftanten die Nothwendigkeit der chrifflichen Kirche für den chriſt⸗ 
lihen Glauben vor die Seele zu bringen fuchten, fo konnten fie nicht 
meinen, daß der Proteſtantismus ſich eine proteftantifche Kirche ges 
winnen follte, fondern mußten ein Aufgeben des Proteſtantismus 
und den Nüdtritt desfelben in die römische Kirche begehrten. : Das 
Bedürfnid einer Kirche, fchrieb Graf Friedrich Leopold Stolberg an 
Perthes, wird von vielen tief empfunden, aber eine Kirche kann nicht 
fein, fo lange jeder den Anfprud behält, fi in Glaubendjachen der 
Autorität der Kirche entziehen zu können. Warum follte nicht ein 
proteftantifher Chrift in der Lehre vom Abendmahl caloinifh fein 
fönnen und lutherifch in der Lehre von der Gnadenwahl? Auther 
und Calvin konnten beide irren und machten feinen Anſpruch auf Uns 
fehlbarfeit. Daher hat ed denn freilich micht fehlen fönnen, dag beide 
Barteien fich in viele Nebenparteien zerfpalteten, bald fo, daß ſich ihre 
Berzmweigungen miteinander verbanden, bald fo, daß fie je mehr und 
mehr ald wilde Ranfen in die fogenannte natürliche Religion über- 
gingen. Wo blieb nun die Idee einer vom Sohn Gottes geftifteten 
Kirche? Diefe aber ift da und wird beitehen bis ‘an dad Ende der 
Tage; ob aber die anderen in fie zurüdjließen oder in den Sand der 


Meinungen fih verlieren werden? — — Gott weiß e3 allein. 
Dertheb’ Leben. 11. 4. Auf. 18 


274 


Perthes fühlte tief da8 Bedürfnis nach einer allgemeinen chriſt⸗ 
lichen Kirche, er glaubte, daß die Proteftanten eine ſolche Kirche neu 
berzuftellen nicht vermödhten, und er wußte gewiß, daß die römifche 
Kirche nicht die allgemeine chriftliche Kirche ſei; aber er hoffte, daß 
Gott aud der römifchen Kirche, indem fie durch die Innerlichkeit und 
Lebendigkeit des Proteftantismus neu geboren würde, eine allgemeine, 
eine in diefem Sinne katholiſche chriftliche Kirche hervorgehen laſſen 
würde. Nach vielen Seiten hin äußerte er ohne Rüdhalt dieſe An- 
fihten und ſprach auch wohl von der Nothwendigkeit der fatholifchen 
Kirche, obſchon er unter diefer Beziehung nicht, wie der gewöhnliche 
Spracgebraud, die römifche Kirche, fondern eine gehoffte allgemeine 
Hriftliche Kirche verftand. Da er überdies niedrige Angriffe auf die 
befonderen Fatholifchen Lehren und Gebräuche ſtets unwillig zurüd. 
wies und die allen Confeffionen gemeinfamen hriftlihen Wahrheiten 
ſcharf und beftimmt hervorhob, obſchon gar manche Proteftanten die 
felben ſchon als fatholifh und papiftifch betrachteten, fo fonnte wohl 
in der durch fo manchen Uebertritt argmöhnifch gewordenen Zeit hier 
und da die Meinung entftehen, daß er zum Katholicismus hinneige. 
Hatte er doch viele Freunde unter eifrigen Katholifen und war dod 
Stolberg's Neligiondgefhichte nicht allein von ihm al® Berleger ver- 
trieben, fondern auch aus perfönlicher Ueberzeugung empfohlen. Wer 
aber damals ded Katholicismus bezichtigt ward, galt auch zugleih 
als ein Anhänger des politifchen Abfolutismus; denn Metternich und 
Gentz verfochten ja das eine wie das andere, und Haller und Adam 
Müller griffen den Liberalismus an und traten zur fatholifchen Kirche 
über. Manche verdriegliche Stunde follte für Perthes durch die hier 
und da über ihn verbreitete Meinung bereitet werden. In der be 
rüchtigten 1819 erfhienenen Streitfehrift: „Wie ward Fri Stolberg 
ein Unfreier?” hatte 3. H. Voß auch Claudius’ Andenken verun- 
glimpft und Perthes hielt fih zu einer Entgegnung verpflichtet. Er 
ließ eine derbe und heftige Zurechtweifung in die öffentlichen Blätter 
feben und in dem fich nun entſpinnenden, theild in Klugfchriften, theils 
vor Gericht geführten Streite rüdte Voß als Großinquifitor des Ra- 
tionaliamu®, wie Perthes ihn nannte, feinem Gegner alle Sünden 


a5 


vor, die derfelbe jemald gegen den von Voß Proieſtantismus getauf⸗ 
ten Rationalismus begangen hatte. Schon lange ſei Perthes, meinte 
unter anderem Voß, in dem Gewimmel dumpfbrütender Molche, Krö⸗ 
ten und Blindſchleichen ein Lohnarbeiter für die ſchlängelnde Brut der 
Finſternis geweſen und habe dem über ganz Deutſchland verbreiteten 
papiſtiſchen Nachtbunde als bereitwilliges Werkzeug gefrohndet. Ih⸗ 
ren Proceß gegen Voß haben Sie, wie ich leſe, verloren, ſchrieb Gör⸗ 
res an Perthes. Das iſt ſchon recht, warum fangen Sie auch ſolche 
Streithändel mit dem alten Krakeeler an! Was kann das Ihnen thun, 
wenn er Sie einen Myſtiker oder wer weiß was ſonſt ſchilt? Was 
haben die Leute mich ſchon alles geſcholten und was werden ſie mich 
noch ſchelten und was mache ich mir daraus! Was frage ich danach, 
ob mich dieſe aus dem Bauche heraus loben, oder jene aus dem Bauche 
heraus ſchimpfen! Ich gehe durch das Gethiere durch und laſſe die 
Schlangen ziſchen und die Wölfe heulen und die Katzen fauchen und 
die Buchmarder ſchreien und die Kröten ſpritzen, und wenn mir die 
Pudel tanzen und apportieren, fo laſſ ich® auch gut fein und werfe 
ihnen etwa ein Endchen Wurft in den Rachen. Wäre ich mit jedem, 
der mich in meinem Leben angeblafen hat, vor die Gerichte gelaufen, 
das hätte Proceile gegeben! Ich gehe lieber ruhig meined Weges, wo 
id bald wieder anderen begegne, die ich erzürnen muß, und über den 
neuen Zorn wird immer der alte vergeſſen; ich aber bleibe in meiner 
Gelafienheit und dann laffen die anderen am erften ab von mir. So 
machen Sie es auch fünftig und laffen ſich nicht wieder irren dur 
alle, was ſchwarz auf weis über Sie gedrudt werden mag. 


Perthes hatte in der That von dem papiftifchen Berfinfterungd- 
bunde, deffen Werkzeug zu fein Voß ihn befchuldigt hatte, keine nähere - 
Kunde ald von den Kröten, Molchen oder der fonftigen durch Voß an 
das Tageslicht gebrachten fchlängelnden Brut, und feine fatholifchen 
Freunde wenigften® ließ er nicht in Zweifel darüber, in wie ferne er 
mit ihnen übereinftimme und in wie ferne nicht. Als er im Früh. 
jahr 1821 von einem derſelben aufgefordert wurde, den Berlag der 
ind Deutfche übertragenen essays sur l’indifference des damald noch 

18 * 


276 


in den ftreng katholiſchen SKreifen bochgefeierten Abbe de Lamennais 
zu übernehmen, antwortete er: Bücher der Liebe, die aus fatholi- 
chem Glauben entjpringen, Tann ich verlegen; fie find meiner Ueber- 
zeugung , welche die Nothwendigfeit einer äußeren allgemeinen Kirche 
auch anerkennt, nicht entgegen, und die Nachreden, die mir dadurd 
entftehen, weiß ich zu tragen. Aber Qamennais Schrift iſt anderer 
Art; reißt ihm doch fein Eifer gegen „die afatholifgen Secten“ fo 
weit fort, daß er die heilige Schrift feinen Anhängern und Vereh 
tern als eine unfichere Quelle darſtellt. Der Mann kann fromm fein, 
aber die Demuth vor Gott hat er vergeifen und folgt dem eigenen - 
Geifte und der eigenen Leidenſchaft. Wie könnte ich fo. ein Buch verle 
gen, ohne mir felbft ald Lügner zu erfcheinen? — Ausführlich ſprach 
er fi über feine Stellung zum Katholicismus in einem Briefe an 
einen fehr ſtrengen und eiftigen Katholiten aus. Der Menſch hatte 
Gott verloren, heißt es in demfelben, und fonnte nur durch Chri- 
ftu8 wieder Gotted werden. Chriftus ift erfehienen, das Erlöfung 
werk ift vollbracht, Die Scheidung zwifchen Gott und den Menſchen 
ift durchbrochen. Das tft der Glaube des Proteftantismus wie des 
Katholicismus, und von denen, . welche diefen Glauben nur ala ka— 
tholiſch, nicht auch als proteftantifch bezeichnen, will ih gerne fatho 
lifch genannt fein. Auch die den Proteftanten fremdartigen Sitten 
und Gebräuche des katholiſchen Gottesdienfted ftören mich nur menig 
und manche derfelben ziehen mid an. Solcher Gebräuche wegen 
fühle ih daher gleichfall® feine Nothwendigkeit, unkatholiſch zu fein. 
Weiter aber jagt der Katholicismus, daß das Erlöſungswerk, obfchen 
vollbracht, dennod für den einzelnen Menfchen nur durch das Prie 
ſterthum und durch die auf das Prieſterthum gebaute Kirche zugänglid 
fei und Wirkſamkeit äußere, ohne Prieftertbum fein Heil, ohne Prie 
ſterthum feine Gnade, kein Hingeben des Menfchen an Chriftus, Feine 
Arbeit Ehrifti an dem Menfchen. Das fagt der Katholicismus, und 
weil er das fagt und,nacd allen Seiten hin für Lehre und Sacrament 
die nothwendigen Folgen daraus zieht, bin ich nicht Kafholif und 
fann ed niemal® werden. An kein Prieftertbum und an kein Priefter- 
wert ift die Gnade des Herrn gebunden, und, um zum Mittler zu 


277 
gelangen, bedarf es keines neuen Mittlerd; frei ift der Zutritt zu 
ihm durch das vollbrachte Erloͤſungswerk für jeden geworden, der, 
ohne auf eigene® Verdienft zu bauen, dem Herrn ein ſtilles Herz dar- 
. bietet, damit er dDarinnen wirfe und den Tempel Gottes baue und reis 
nige. Wohl weiß ih, daß e3 nicht vom Zufalle abhängen Tann, ob 
die Kunde vom vollbrachten Erlöſungswerk den einzelnen überliefert 
und unentftellt überliefert werde oder nicht. ine Anftalt muß ſich 
finden, welche dad Evangelium durch alle Jahrhunderte hindurch 
wach und lebendig in der Menfchheit erhält und allen einzelnen in al⸗ 
len Ländern der Erde unentftellt verfündet. Weil die römifche Kirche 
mit ihren ‘Prieftern eine ſolche Anſtalt geweſen ift, ift fie aud ein 
Edftein und Grundſtein des Chriſtenthums gewefen. Aber wie fie vor 
der Reformation geworden war, konnte fie nicht bleiben, und mas 
fie nach der Reformation geworden ift, hat fie nicht zur allgemeinen 
Kirche machen können; aber dur) die von den Proteftanten verfuchten 
Kirchen ift fie nicht erfeßt und wird durch fie auch nicht erfeßt werden. 
Nur eine allen Chriften gemeinfame Anftalt, nur eine Fatholifche 
Kirche kann das Evangelium bewahren, verfünden und verbreiten. 
Ob und warın fie und zu Theil werden wird, fteht in Gotted Hand; 
er fann fie gewähren, früher, als wir erwarten. Ihr aber merdet 
dadurch das Kommen nicht befehleunigen, daß Ihr einzelne Prote⸗ 
ſtanten in Eure Kirche zu führen Euch bemüht, und Ihr werdet es 
zurüdhalten, wenn Ihr gegen und mit unedlen und unchriſtlichen 
Waffen kämpft. Welche tief verfchuldete innere PVerblendung liegt 
zum Grunde, wenn unfer Freund N. mir fchreibt, daß in den prote- 
ftantifchen Gemeinden die Unzucht nicht für ſündlich gehalten werde, 
und daß die vor kurzem unter Schwärmern im katholiſchen Deftreich 
vorgefommenen Kreuzigungen durch die heimliche Verbreitung und 
durch das Lefen der. heiligen Schrift hervorgerufen feien! Chriſtus 
und die Wahrheit ift Eind und man -fpottet der Wahrheit nicht, ohne 
zugleich Chriftus zu fpotten. — ine {Harfe Antwort auf diefen 
Brief konnte faum audbleiben. Sie ftehen mit allem, was Sie fa- 
gen, heißt es in derfelben, nicht als ein Chrift, fondern al8 ein from- 
mer Mann des alten Bundes da. Sie fennen nur fehnende Erwar⸗ 


278 


tung, feine Erfüllung; Sie kennen nur, wie dad Judenthum, eine 
gefallene Menfchheit, keine geheiligte, wie fie die fatholifche Kirche 
umſchließt; Sie laſſen den Herrn nicht durch das Prieſterthum in der 
Menfchheit, fondern durch die Buchitaben in der Schrift wohnen, 
glauben alfo echtjüdifch nicht. an ein Menſchwerden, fondern an ein 
Schriftwerden Gotted. Aber weil Sie den Judenglauben heute noch 
feithalten, find Sie ſchlimmer daran al? die alten Juden; denn diefe 
erwarteten ein wirklich Verheißenes, während Sie das längſt Gekom⸗ 
mene nicht fehen und auf ein Nichtverheißenes Ihre Seligfeit bauen 
und zu dem jüdifchen Sacrament der Schrift fih nun auch das heid- 
nifche Sacrament der Vernunft ala Gegenftand Ihrer Verehrung ge 
wonnen haben. Zu diefem ganzen unglülliden Standpunkt fcheinen 
Sie mir befonderd deshalb gefommen zu fein, weil Sie unverwandten 
Auges immer nur auf das Prieftertbum der katholifchen Kirche hin- 
ftarren und mit unbegreiflicher Selbittäufchung ein zweites überfehen; 
Sie fennen nur jih, den einzelnen und andere einzelne, deren jeder 
für fih Hilfe fucht und Hilfe erwartet, und wollen nicht wiſſen, dap 
nach der Kirchenlehre und nad jedem Blatt der Schrift die Menſch⸗ 
heit folidarifch verfchuldet und folidarifch gerettet if. Wenn aber 
Sünde und Gnade ein Erbe ded Menfchengefchlecht3 ift, fo können 
auch die Mittel der Gnade micht auf jeden einzelnen al® unmittelbare 
Offenbarung herabfommen, fondern müffen dur eine das ganze 
Menſchengeſchlecht umfchliegende Anftalt dem DMenfchengefchlechte in 
feiner Einheit dargeboten werden. Die edelften Proteftanten aber 
und namentlich die innerlichften unter denfelben, wie Arndt, Spentr, 
Zingendorf, weifen die Erbfchaft ab und ziehen ed vor, auf den doch 
ſchon gefommenen Meffiad zu warten. Wie die frommen Juden bei 
herannahendem Gewitter dad Fenſter öffnen, damit Er leichteren 
Eingang finde, wenn er kommen follte im Blitz, fo öffnen jene ihr 
Herz in den Augenbliden ernfter Erbauung. Die fatholifche Kirche 
aber erwartet nicht den Herm, fondern hat den Herm. Sagt man 
von ihr, daß fie ein Editein und Grundftein des Glauben? geweſen 
fei, und hofft dennoch auf einen neuen Bau, fo behauptet man mit 
großer Gelaſſenheit doch eigentlich nur, daß man für jetzt und für feine 


279 


PBrivatperfon keines Edfteind und Grundfteind bedürfe. Heißt dad 
nicht die Demuth bis zur empörendften Hoffart treiben? Bergeben 
Sie, mein innig verehrter Freund, die Härte des Ausdrucks; Sie 
drängen aber fo flarf gegen den Eingang der Kirche, daß Sie fich die 
Thüre wie ein Ventil felbft zubrüden und den harten Gegendrud de 
ver, die von innen Ihnen öffnen möchten, felbft hervorrufen. Könnte 
ih mich felbft, mein Herz, mein Ihnen ganz und redhtichaffen erge- 
benes Gemüth auf dieſes Papier hinlegen, jo würden Sie den Brief 
ganz fo aufnehmen, wie er gemeint ifl. 


Den religiöfen Unterfcheidungslehren der Katholiken ftand Per- 
the3 freilich damald wie. zu jeder Zeit feines Lebens durchaus fern; 
aber in jenen Jahren wenigftend hielt er an der Anficht feft, daß 
die in der Gefchichte eined Jahrtauſends mwurzelnde römifche Kirche 
durh Fortbildung und Umbildung zur allgemeinen hriftlichen Kirche 
fih geftalten fönne, während er in allen Berfuchen der Proteftanten, 
Kirhen mit Abfiht und Wahl zu bilden, nur Nothbehelfe für eine 
fürzere oder längere Zeit zu fehen glaubte. Bon verfchiedenen Stand» 
punften aus traten viele feiner proteftantifchen Freunde auf das ent- 
fchiedenfte diefer Anficht entgegen. Manche hielten die römifche Kir- 
he, wie jie wirklich beitand, für gänzlich verfallen und gefunfen und 
beftritten deshalb, daß fie den Keim eines nenen Eirchlichen Lebens der 
Chriſtenheit in fh tragen könne. Es ift eine Zäufhung, wenn Sie 
glauben, die fatholifche Kirche zu rühmen, heißt ed in einem Briefe 
an Perthed,; Sie rühmen nur einzelne Ihrer Tatholifchen Freunde, 
und ed wäre wohl möglich, daß Sie fi), ohne es zu wiffen, nicht 
durch dad Katholifche, fondern durch das Proteftantifche, was in die- 
fen Männern lebt, angezogen fühlten; der proteftantifche Geift reicht 
viel weiter als der proteitantifche Name und macht einen doppelten 
Eindrud, wenn er und im fatholifchen Kleide begegnet. Die Refor- 
mation befreit in der That noch jeden Tag viele innerlihe Menfchen 
unter den Katholiken von dem Joche der Hierarchie und des Aberglau- 
bens und läßt fie die Segnungen ber von ihnen heftig angefeindeten 
Reformation geniefen. Das, worauf ſich die innerlichen Katholiken 


280 


in Kampfe gegen und berufen, ift nicht das Roͤmiſch⸗Katholiſche, fon- 


dern das Chriftlich- Katholifche und grade dieſes haben unfere Refor- 
matoren dem Papismus gegenüber wieder ficher ftellen wollen und 
e3 auch wirklich nicht allein für und, fondern aud für die Katholiken 
wieder gewonnen. Wo wäre jetzt der römiſche Katholicismus ohne 
Reformation und wohin würde er künftig gelangen, wenn er von 
heute an der Einwirkung des proteftantifchen Geiſtes entzogen würde? 
Eine Kirche aber, die das Leben, das fie überhaupt noch bejigt, nur 
durch ihren heftigen Gegner erhält, kann doch nimmermehr die Kirche 
fein, welche eben diefer Gegner bedarf. — Sie braufen auf über die 
Plattheit und Gemeinheit, heißt ed in einem anderen Briefe, mit 
welcher jo oft der Katholicismus von Proteftanten angegriffen wir. 
Sie thun recht daran; aber Sie gelangen, wie mir ſcheint, beinahe 
dahin, manche katholiſche Einrichtungen ſchon deshalb nicht für ver- 
werflich zu halten, weil diefelben in niedriger Weife angefeindet wer⸗ 
den. Wenn Sie nur ein einziged Jahr in einem fatholifchen Lande 
gelebt hätten, jo würden Sie fich entjeben über die Lüge und Gemein- 
heit, mit welcher die Maſſe des Klerus den Proteſtantismus behan- 
beit und bei feinen Pfarr- und Beichtlindern anfhwärzt. Vom Pro 
teſtantismus kennen Sie auch die ordinärfte Seite, den Katholicismus 
jehen Sie nur in ben beften und frommſten Katholiten. Das ift es, 
was Ihr Urtheil ungereht madht. — Wad- meinen Sie eigentlid), 
fchrieb ein franzöfifcher Freund an Perthes, wenn Sie die katholiſche 
Kirche nennen? Die katholiſche Kirche, wie fie ſich in diefem oder 
jenem frommen Katholiten geftaltet, kann man fich allenfalls gefallen 
laſſen, aber die fatholifche Kirche, wie fie wirklich befteht, .c’est vrai- 
ment la bete de l’Apocalypse. Es ift jedem, der von der Fatholifchen 
Kirche rebet, fehr zu rathen, daß er, um ſich und andere nicht irre 
zu führen, fi) immer frage, ob er die eingebildete oder die wirkliche 
ſiirche vor Augen hat. 


Andere von Perthes' Freunden beſtritten deshalb jede Möglich⸗ 
keit einer künftigen Geſtaltung der römiſchen Kirche zur allgemein 
chriſtlichen Kirche, weil ſie das Princip derſelben als unbedingt unver⸗ 


281. 

einbar mit dem chriftlichen Glauben der Proteftanten betrachten müß- 
ten. Sie halten: felfenfeft, heißt e8 in einem Briefe an Perthes, an 
der Lehre Auguftin’3 und der Reformation, dag der Menſch in feinem 
natürlichen Zuflande feine Kraft habe, Gott zu erkennen, zu lieben, 
ihm zu gefallen, fondern fich der göttlichen Einwirkung hingeben und. . 
‚ durch Glauben felig werden müſſe. Sie wollen nichts willen von der 
Pelagianiſchen, vor hundert Jahren aufs neue feſtgeſtellten Grund⸗ 
lehre der römiſch⸗-katholiſchen Kirche, daß der Menſch aus eigenen 
Kräften vermöge durch feine Werke ſelig zu werden. Sie find alſo in 
der Lehre durch und durch Proteftant, aber Sie find ber Meinung, 
daß auch die proteftantifche Lehre fih in die Formen der römifchen 
Kirche faſſen laffe, und dag daher aus der römifchen Kirche die allge- 
meine oder katholiſche Kirche für alle Chriften früher oder fpäter her— 
vorgehen werde. Dad nun ift ed, was ich ſchlechterdings nicht zuge⸗ 
ben fann. Jede auf die evangelifche Lehre gebaute Kirche muß, wenn 
fie nicht ihren eigenen Urfprung verleugnen will, immer davon aus⸗ 
gehen, daß die Kirche, außer der es Fein Heil gibt, die nicht irren, 
nicht fehlen kann, eine unfihtbare ift, deren Prädicate fich nicht über- 
tragen lafjen auf die fichtbare Kirche, d. h. auf die an Ort und Zeit 
gebundene Bereinigung zur Verfündigung ded Evangeliums und zur 
- Berwaltung ded Sacramented. Mander kann zur unfichtbaren Kirche . 
gehören, der nicht zur fichtbaren gehört, und umgekehrt. Daher kann 
feine proteftantifche Kirche dem die Seligkeit abfprechen, der nicht zu 
ihr gehört, noch dem fie zufprechen, der zu ihr gehört; daher kann 
feine proteftantifche Kirche das Schwert zu Hilfe nehmen und fann 
niemand durch ihre Autorität binden wollen. Jede auf die römifche 
Lehre gebaute Kirche muß dagegen die unfichtbare Kirche und die ficht- 
bare Kirche identificieren und die Prädicate der erfteren auf ſich und 
zwar auf ihren Klerus, ihre Bifchöfe und ihren Pabft übertragen ; 
ihr Ausspruch ift allein deshalb, weil ed ihr Ausſpruch unbedingt 
war und ift, Gefeß für einen jeden, und es ift eine bloße Gefällig- 
keit von ihr, wenn fie. fih mit irgend jemand auf einen Streit aud 
Gründen der heiligen Schrift einläßt. So groß ift ber Unterſchied 

zwifchen der proteftantifchen und fatholifchen Xehre, daß, wenn für 


282 
irgend eine Zukunft Proteftanten und Katholiten von derfelben allge- 
meinen Kirche umfchloffen fein follen, entweder Die Proteftanten oder 
die Katholiken die Lehre aufgeben müffen, durch welche fie zu Protes 
fanten oder Katholiten geworden find. Ich alfo muß jede Möglich 
feit in Abrede ftellen, daß fi) aus der römifchen Kirche eine allge- 
meine hriftliche Kirche jemald entmwideln könne. 


Fünftes Bud. 


— — —— 


Perthes' Familienleben Bis zur Berlegung feines 
Wohnſitzes von Hamburg nad) Gotha 


im Jahre 1822. 


Die Berheirathung der älteften Tochter. - 





Die politiſche Unruhe, welche die Zeit erfüllte, das Hin und Her der 
mannigfachen religiöfen und firchlichen Gegenfäge Tießen auch Caro⸗ 
fine nicht unberührt; fie fonnte und wollte fih der lebendigen geifti- 
gen Theilnahme nicht entfchlagen: aber die Grundflimmung ihrer 
Geele ward doch nie wieder, wie im Frühjahr 1813, durch die Ers 
eigniffe Deutichlands, fondern durch die des eigenen Haufes beftimmt, 
und in diefen fand fie immer neue Urfache zur Freude und zum Dank. 
Seit dem Sommer 1817 war ihre ältefte Tochter Agnes mit Wilhelm 
Perthes verlobt. Derjelbe hatte früher in der Hamburger Handlung 
gearbeitet, dann ala Freiwilliger den Feldzug mitgemacht und vers 
waltete nun die vom Vater ererbte Buchhandlung in Gotha, welche 
er bald auf deren glänzende Höhe brachte. Gott hat und von neuem 
wieder mit Freude und Glüd überfchüttet, ſchrieb Caroline um diefe 
Zeit, wie joll ih e8 ihm genug danken, daß er fo fichtbar feine Hand 
über und und unſere Kinder hält. Es ift gewiß ein großed Gefchenf, 
ein fo reined und unfchuldiged Kind dem Mann, den wir lange fchon 
lieb gehabt haben, in dem feften Vertrauen übergeben zu können, daß 
er ed von ganzem Herzen fefthalten und hegen und pflegen wird, fo 
* fange er lebt. | | 

Am 12. Mai 1818, dem dritten Pfingftfeiertage, war die Hoch⸗ 
zeit und am 16. Mai reifte das junge Ehepaar in die neue Heimat 
ab. Meine liebte Agnes, rief Caroline ihnen nah, Du bift faum 
drei Stunden von mir und ich fange ſchon an zu fihreiben, weil ich 
es nicht laſſen kann. Gottlob, ich fühle lebendig, daß Gott mir 
heute nahe ift, wie in allen Augenbliden meine? Lebens, in denen 


286 


ich mir felbft nicht helfen konnte. Er wird aud ferner mit un? fein 
-in Noth und Tod, bis wir ihn fehen werden von Angeficht zu Ange- 
fiht. Als Ihr fortfuhret, habe ich Euch noch nachgeſehen, bis Ihr 
über die Brüde waret, und habe Dich noch einmal Gott übergeben 
und Did) losgelaſſen in der feften und gewiſſen Zuverficht und Ge 
wißheit, daß Du in Gotted Arm bift und bleibt in Ewigkeit. Du 
liebe Agnes, ich fage Dir nicht, wie mir zu Muthe ift,; Du weißt, 
daß ih Dich lieb,habe, und dann folgt das andere von ſelbſt. Wie 
gegenwärtig ift mir noch der Augenblid, in dem fie Did) mir zum er- 
ftenmal auf Bett gaben, ih Dich zum erftenmal anfah und Dir den 
erften Kuß gab! Seitdem habe ich alle Tage, wenn ich nicht jagen 
foll alle Stunden, Freude an Dir gehabt die zwanzig Jahre hindurch. 
Wie follte ih Gott nicht danken und, wenn er es befchloffen hat, 
Dich von mir laffen? Daß ich ed nur mit Thränen thun kann, wird 
er mir vergeben, fie find nicht zurüdguhalten. Auch Du, meine liebe 
Agned, mußt und darfit weinen und Dein licher, treuer Wilhelm 
wird. Dich verftehen und Dir zu Gute halten, wo Du zu viel thuft. 
Berhehle ihm nie etwas, wo es Dich felbft angeht, auch wenn Du 
glaubit, day er nicht mit Dir zufrieden fein wird: Ihr werdet bald 
merken, daß Ihr auch mit dem beften Willen einander zu Gute hal, 
ten müßt. Liebe Agnes, ich kann mit Wahrheit jagen, daß ich Deis 
netwegen jehr ruhig und ficher bin. Ich bin zu gewiß in mir, daß 
Ihr alle beide von Gott annehmen und tragen werdet gutwillig, was 
er auch jenden wird, und Euch einander feine Roth macht. Nicht 
wahr, Du lieber. Wilhelm, Du hegeft und pflegeft und hältſt meine 
- Agnes feit in treuer Liebe und treuem Arm, fo lange Gott will? Ich 
freue mich in Eurem Ramen auf die Zukunft; aud wir bier wollen 
davon zehren. Nehmt ed Euch nur recht ernftlich vor, nicht matt zu 
werden im Mittheilen der Freude und des Leides, das Euch begeg- 
net, damit unfer Dliteinanderfein lebendig bleibt. ch bin wohl ge 
blieben und nervös nicht gereizt; ich fuche den Gedanken in mir recht 
feit zu halten, daß Gott Dich mir gegeben hat, um Did) groß zu her- 
zen und zu pflegen an Seel’ und Leib für Dich felbft und Deinen Wil 
beim. Das habe ich gethan, fo viel ich gekonnt, umd nun, liebe Agnes, 
fange Du. Dein neues Leben an und werde friſch und fröhlich und 


287 


gedenfe meiner in treuer Liebe und habe einen freudigen und fröb- 
lichen Muth zu Deiner neuen Laufbahn. Ich habe ein feljenfeftes 
Zutrauen zu Eurem Glüde und babe Dir, lieber Wilhelm, meine 
Agnes mit großer Ruhe übergeben. | 

Diefer erfte Brief Carolinend war ber Anfang eines innigen 
ſchtifilichen Verkehrs zwiſchen Mutter und Tochter, welcher, weil er 
in ununterbrochener Regelmäßigfeit Große? und Kleined, Inneres 
und Aeußeres umfaßte und vorübergehended Leid und Freud nicht 
minder al3 die bleibenden Stummungen einfach und offen mitteilte, 
ein Zufammenleben zwifchen den Entfernten möglich machte, wie ed 
im perfönlihen Umgange faum näher hätte fein können. Danf und 
Freude über dad Glüd der Tochter und über das eigene zog fich durch 
alle Briefe Carolinen® als deren eigentlicher Kern hindurch und fand 
immer neuen Anlaß und neue Wendungen, um fi) audzudrüden. 
Eben bringt mir Perthed Deinen Brief, antwortete fie auf die erften 
Nachrichten aus Gotha. Ich habe ihn gelefen und wieder gelejen, freue 
mich und danfe Gott, aber auch Deinem lieben Wilhelm, der Dich 
fo glüdlih mat. Du bift zu Muthe, wie ich es mir mit Gewißheit 
im voraus gedacht habe, und ed kann nicht anders fein, wenn Gott 
fo gefegnet hat. Diefer glüdlihe und glüdjelige Zuftand dauert fort 
tief im Herzen, wenn er auch im äußeren Leben durch ſchwere Stun- 
den und harte Prüfungen unterbrochen wird, und er wurzelt durch 
diefe noch fefter und ficherer in der Ewigkeit, wie ich Gottlob aus 
meiner Erfahrung weiß. Ich bin mit Euch, durch Euch und über 
Eud froh, Ihr lieben Kinder, und übe mich im Entbehren mit fröh- 
lihem Muthe. Perthe? geht es eben fo und ich kann mich ordentlich 
auf fein Geficht freuen, wenn er mit Deinem Briefe in die Thüre 
fommt. — Bir fönnen alle heut an nicht3 andered denfen, heißt e8 
etwas fpäter, ald an Deine? Wilhelm Geburtstag. Mörhte es doch 
Gott gefallen haben, und an einem Orte leben zu lafien! Ach, daß 
die Welt fo groß ift! Wie ſchön wäre ed, wenn wir mit allen Men- 
fhen, die wir lied haben, an einem Orte wohnen und wir heute mit 
Eud Euren Fefttag feiern könnten! Doch ich will auch hier nicht 
flagen, fondern mich freuen und fröhlich fein in der Entfernung. Gott 
erhalte Euch und und Euer Glück und Euch ein dankbares und Was 


288 


ches Herz. Wie fehr Du immer um und bei mir bift, fann ich nicht 
genug fagen, und wie gerne ich Antwort von Dir hätte, wenn id 
in Gedanken mit Dir rede, weiß ih am beiten. Dabei gönne ih 
aber doch dem lieben Wilhelm recht. von Herzen, daß er Dich hat, 
und wünfhe Tag und Naht, dag Ihr Euch einander immer mehr 
und lieber werden möget. Daß Ihr auf dem rechten Wege dazu feid, 
glaube ich gewiß. Wie wunderbar glüdlich bit Du, meine liebe 
Agnes, und wir mit Dir! Werde jeden Tag demüthiger vor Gott 
und auch vor Menfchen und habe jeden Tag reiner und inniger lieb, 
fo trägft Du Deinen Himmel in Dir. Habe ih es Dir. nicht öfter 
gefagt, daß Du Dich nicht genug freuen fönnteft, und wer weiß, 
was der liebe Gott noch alles für Dich aufbewahrt hat! Mein lie 
ber Perthes ift gefund und heiter. Möchte er doch dann und wann 
eine ruhige Stunde für mich erübrigen können; aber da gebricht es 
und das betrübt mich öfter tiefer und mehr, als es follte. Gott er- 
halte mir nur die inmwendige und lebendige Sehnfuht danach, fo 
bin ich fehr glüdlich. 

Im Juli 1818 ging Caroline auf einige Tage mit Perthes nad 
Lübed zu ihren dortigen Gefchwiftern und fehrte über Rheinfeld, ib 
red Vaters Geburtdort, nah Hamburg zurüd. Wir find wirklich in 
Lübed gewefen, und zmar über die Maßen vergnügt, ſchrieb fie an 
Agnes; Perthes war ordentlich jung und leicht Fröhlich, und ich auch. 
Wir blieben zwei Tage bei meinem Bruder und waren mit- und 
durcheinander feelenvergnügt. Sch bin wirklich gefund und weiß nit, 
welche? Glück größer ift, gefund zu machen oder geſund zu fehlafen; 
aber ich glaube das letztere. Ach Agnes, wünfche mit.mir, daß ih 
fo bleibe! Die Marienfirche ift groß und ich glaube, daß viele ernite 
Gebete und Seufzer von hier aus zu Gott gefchicdt find. Die lange 
Reihe Begräbniffe mit den falten großen fteinernen Särgen und das 
Halbdunkel darin haben bei mir einen tiefen Eindrud gemadt. Das 
Aufbören der Eriftenz Diefer fteinernen Särge fann man fi) gar nicht 
denfen, und das ift mir unangenehm, da das, deſſentwegen fie da 
find, fo leicht zerftäubt. Der Domkirchhof ift wunderſchön und ich 
möchte wohl öfter eine ftille Stunde dort halten. Am Dienstag ge. 
gen Abend fuhren wir nad Rheinfeld. Die Stille diefed Ortes über: 


289 


trifft alle Befchreibung; er liegt an einem großen See und die eine 
Seite ift von einem Kranze herrlichen Gehölzes umgeben. Es war 
ein ruhiger, ftiller Abend, wir waren los von der ganzen Welt, wa⸗ 
ren allein und unbefchreiblih vergnügt. Möchte es Gott gefallen, 
und noch mehr folche Stunden zu geben! Als mir unfer Treiben und 
. Drängen in Hamburg einfiel, wurde mir gar nicht wohl zu Muthe; 
ic) habe aber doch die fefte Ucberzeugung, daß mir für gewöhnlich 
meine Arbeit beffer ift, als diefer glüdfelige Genuß, und daß ich die 
lieben Augenblide, die man wohl haben kann, wenn man fich befinnt 
und ungeftört ift, zu Stunden und Tagen verlängert nicht würde ver- 
tragen fönnen, und daß ich mich mit dem Wünſchen und Sehnen da- 
nach bebelfen foll und muß. Ueberhaupt hat mich Gott einen ganz 
anderen Weg geführt, als ich mir gedacht habe, aber zu meinem Bes 
ften; das brauche ich nicht zu glauben, fondern weiß ed; er gibt mir 
in Arbeit und Rumor, was ich gerne in der ftillen Einſamkeit fuchte 
und fände. Wir waren auch in der Kirche des feligen Großvaterd 
und an feinem Grabe und aud im Beichtſtuhl; dort ftand ein alter 
Lehnſtuhl, auf dem er wohl noch gefellen, und einige Bücher, in de= 
nen er gelefen. Die nächte Generation, ich meine Eu, wird ihn 
wohl nicht mehr befuchen und läßt los. Morgen? gingen wir nod) 
‚wieder |pazieren und ruhten an ſchöner Stelle aus. Wie habe ic) 
mich gefreut über Perthes, der fo von Herzen fröhlich und vergnügt 
über fi) und über mich war! Nun aber wieder zu Dir und Deis 
nem Brief, Du altes Kind. Was Du von N.'s Kindern fehreibft, 
ift wahr und betrübt mich fehr; denn nad) meiner innerften Ueber» 
jeugung ift die lebendige Liebe, die fih in allem merken und, ic) 
möchte fagen, mit Händen greifen läßt, der Ihau und Regen, der 
den Kinderpflanzen Wachsſthum und Gedeihen gibt. Ich glaube, je 
mehr liebhaben und je fühlbarer und fihtbarer man died thun kann, 
deito beffer; nur muß nothwendig Ernft und Strenge zur rechten Zeit 
dabei fein. ch kenne aber viele Leute, die mit großer Anftrengung 
und. Bedaht die Liebe vor den Kindern glauben verbergen zu müffen. 
Sie follten nur das dreizehnte Eapitel im erften Korintherbrief ftu- 
- dieren, fo würden fie inne werden, daß fie nicht® zu fürchten brau- 


hen. Viele Worte find, wie Du weißt, weder im Berhältniffe zu 
Perthes Leben. II. 4. Aufl. . 19 


290 


den Kindern noch in irgend einem anderen Verhältniife meine Sache; 
aber denen, die man lieb hat, gegenüber zumeilen einzelnen Funken 
aus der Tiefe des Herzen? Worte zu geben, halte ich nicht allein nicht 
für Unrecht, fonderın auch für Recht, und oftniald zünden fie aud 
ohne unfer Willen weiter, und überhaupt, wes dad Herz voll if, 
geht der Mund über, und worin fann er anderd übergehen als in 
Worte. 

Gern mochte Caroline über alle Fleinen häuslichen Verhältniſſe 
ihrer Tochter unterrichtet fein und oftmals begehrte fie einen großen 
Brief voll Kleinigkeiten. Dagegen theilte auch fie manchen erprobten 
Kunftgriff in der Haushaltung oder ein bewährte® Recept für die 
Küche mit und erftattete genauen Bericht über die äußere und innere 
Lage der Freumdinnen ihrer Tochter. Die N. ift nun verheirathet, 
fehrieb fie einmal. Ich habe fie nur einen Augenblick gefehen, fie fol 
aber natürlich und gut fein und fich ſehr glücklich fühlen, nicht allein, 
daß fie bei ihrem Mann, fondern auch, daß fie aus der Ducaten- 
wirthſchaft heraus if. Gott gebe ihr aber nun auch das Berlangen, 
ftatt deren etwas beffered haben zu wollen; denn wenn ed ihr möglich 
wäre, in einem luftleeren Raum zu leben, jo wäre e8 zu gräßlid. 
Auch die ©. hat und ihren Mann gebradt; fie hat mir wieder fehr 
gefallen, ihr Eheherr aber nicht. Ueberhaupt von Männern gefällt 
mir do niemald einer fo wie mein alter, lieber Perthed, und id 
danke Gott immer von neuem, mit ihm unter einem Dache zu fein. 
Der J. ihre Hochzeit ift geftern gewefen, Gott gebe, daß jie fo glüd- 
lich wird wie Du, aber theurer fommt ihr dad Glück in jedem Falle 
als Dir. Der Mann foll enorm reich fein, aber wie man fo mit dem 
Gelde rumoren mag, begreife ich nit. Du fragft mich nach der 3.; 
fie war vor einigen Tagen bei mir und war fo natürlih und zu 
traulich, daß fie fi) zu meinem Grauen nicht fihente auszufpredhen, 
„fie müſſe von fih und von jedem Mädchen, welche? nicht Frau würde, 
glauben, daß es feine Beſtimmung verfehlt und ein trauriges und 
verfümmertes Leben zu führen habe.” Gott wolle doch jedes Mäd- 
hen vor diefem traurigen Wahn fhüsen! Nein, unfer Gott hat 
für und alle, wes Standes und Gefchlehts wir jmd, Liebe und 
Glüd, wenn wir ed nur annehmen wollen. Es braucht feine Seele 


291 


zu verirodnen. Liebe Agnes, Du fannft wohl nicht daran zweifeln, 
daß ich ed wie Du für eine große und liebe Gabe Gottes halte, 
einen guten Mann zu haben. Aber der liebe Gott fann und au 
feinen Segen unmittelbar ind Herz geben oder ihn an etmad andere 
als an einen Mann binden, und wir können aud) ohne Mann glüd- 
lich fein. Denn, liebe Agned, Eure Liebe zueinander kann doch nur 
Durch die Liebe zu Gott jo fein und werden, daß fie Euch glüdlich zu 
machen und zu befeligen vermag. Kannft Du Dir nun nicht denken, 
daß der Glüdliche, der fih mit feinem ganzen. Herzen ohne weitered 
und ohne menfchliche Mitteldperfon zu Gott wenden und ihn lieb 
haben fönnte, noch viel, viel beiler daran fein müßte? Und felbft 
auch noch mittelbar kann ich mir ein eben fo großes Glüd, wie das 
mit einem Manne, möglich denken und muß ed mir denken; fonft 
müßten ja die armen Mädchen verzagen und wir mit ihnen und für 
fie. Wenn wir einen ernften Zwed recht aud ganzem Herzen verfol- 
gen und dafür und daran arbeiten im Aufmerken auf Gott, fo kann 
e8 nicht fehlen an Gotted Segen und an Glüdlichfein.. Dad ift wirk- 
lih meine Meinung und ich glaube, daß jedes Mädchen am beiten 
thut, fih mit ihrem Liebhaben an Gott zu wenden, und nicht fehn- 
füchtig und ängjtlich hoffend herumſucht; denn das ift ein trauriger 
und jämmerlicher Zuftand, der die Seele ausdörrt und troden macht 
und alle Gute tödtet. Sch kenne nichts fo Betrübted, ald ein armes 
Mädchen in diefem Zuftande, wenn fie rein und gut ift. Begegnet 
einem aber ein fo lieber Perthes, wie wir beide ihn gefunden haben, 
oder lieber, wie Gott ihn und gegeben bat, fo greift man raſch zu 
und dankt Gott. 

Sorglicher indeilen, als in den mehr äußeren Verhältniſſen, 
ftand Caroline der Tochter bei der Geftaltung des geiftigen Haushalts 
in der neuen Heimat zur Seite. Dank Dir für Deinen Brief, ſchrieb 
fie einmal, aber nicht dafür, daß Du noch immer nicht anfängft, eine 
wirkliche und ernftbafte Freundin zu befommen, die ih Dir fo fehr 
wünſche, damit Du etwas in Referve haft, wenn Du Demed Wil- 
helm nicht habhaft werden kannſt. Stellt Du Dir unter einer wah— 
ten Freundin etwas Bollfommened vor, fo fann ich mir freilich er— 
klären, daß Du fie noch nicht gefunden haft; aber Du mußt vorlieb 

19 * 


292 


nehmen und mit guten Glauben und Zutrauen entgegen fommen und 
Dich durch eine andere Art und Weife, als Du fie gewohnt bift, 
nicht ftören laffen. Es wird dem Menfchen oft viel leichter, Zchwä- 
hen und Fehler, ald fremdartige Manieren und Redendarten an an- 
dern zu ertragen. Mache Dir nur recht lebendig, daß die Leute in 
Gotha fein andered Herz in fih haben, al® die Leute in Hamburg; 
dort wie hier viele Mängel und viel Guted und noch mancherlei Zu⸗ 
thaten eben im Kauf. Ich finde es ſehr natürlich, daß Dir jetzt das 
Gute der Freundinnen, die Du hier hatteſt, am lebendigſten und ihre 
Schwachen und mitunter auch Fehler nur obenhin in Erinnerung find; 
aber wie vielen bift Du denn fo nahe gemwefen, daß Du grade von 
dem Höchften und Inwendigſten mit ihnen reden und ihnen Dein 
Herz ausſchütten fonnteft, und doch haft Du viele lieb gehabt umd 
bift freudig und fröhlich mit ihnen gewefen? Made Du nur den 
Berfuch und laffe Dein Herz dort recht offen und herzlich voll gutem 
Glauben und Vertrauen fprechen, fage, was Du fucheft und was 
Dir fehlt in Kleinigkeiten und im täglichen Leben, und Du: wirft 
fehen, was von Herzen fommt, geht wieder zu Herzen; fie werden 
Dir gerne entgegenfommen, denn da® Bedürfnid und die Luft, Tieb 
zu haben und geliebt zu werden aus Herzendgrund, haben wir alle, 
und die Mädchen dort haben noch feinen Wilhelm, wie Du. Ber 
fuche es nur; einer muß die Oberfläche zuerft durchbrechen, und wenn 
Ihr erft von Herzen zu Herzen fprecht, geht alled gut. — In glei— 
her Weife warnte auch der Pater vor dem Abfchliegen gegen andere. 
Genießt Euer Glüd, ſchrieb er, aber bedenkt, dag Ihr nicht allein 
in der Welt feid; haltet Euer Haus nicht für ein Gefpinnft, worin 
jede andere Greatur eine fremde ift. Es liegt darin eine Gefahr, die 
zum Familienegoismus führt und traurige Folgen ftrafend nad) fi 
zieht. Der jungen Männer, die mit Dir find und leben, lieber Wil- 
beim, freue ih mich fehr. Erhaltet Euch einen ſolchen männlich =ju 
gendlihen Umgang im Haufe, auch wenn Ihr älter werdet; er fchüpt 
vor Geſellſchaftsklatſcherei und Geſellſchaftslangeweile. Geht frei her- 
aus zu anderen Menfchen und theilt ihnen ein fröhliches, heiteres 
Gemüth offen und herzlich mit und zeigt, daß ein häusliches Glüd 
den Menfchen anderen Menfchen nicht entfremdet. Der Menſchen 


293 


Sein ift Gotted Haus und wir find nicht berufen, nur und zu leben 
und zu fein. Ich weiß, liebe Agnes, daß Du niemand, der Deiner 
bedarf, ohne Rath und Tiebreiche Hilfe von Dir gehen laſſen wirft, 
aber der Nachbar und Bekannte will auch feine Angelegenheiten, feine 
Freuden und Leiden mittheilen und Theil nehmen an der anderen 
Freud und Leid. Nichts thut dem Nebenbruder weher, ald wenn der 
andere verfchloffen gegen ihn einhergeht und, vornehm in ſeiner Na⸗ 
tur erſcheinend, für ſich allein leiden und allein ſich freuen und ge— 
nießen will. — Daß Du armer Schelm in der Predigt nicht fin⸗ 
deft, was Dir noth thut und Du gerne haben mödhteft, ſchrieb Ca- 
roline ein anderedmal, ift mir von Herzen leid, wundert mich aber 
nicht, da die Herren Prediger in der Regel nur Moral predigen, und 
das ift magere Koft. Doch verzage deöwegen nicht, liebe Agnes, gehe 
in Deine eigene innere Kirche; Gott kann beffer auftifchen als alle 
Prediger, und wird Dir gewiß geben, wenn Du nur recht hungrig 
bift. Die alten Gefänge und Choräle find immer meine beften Leben» 
diginacher gewefen und find ed noch, wenn ich alt und todt inwendig 
werden will; fonderlich die wunderfchönen Sieber von der Sehnfucht 
nad Gott in Freylinghaufen’d Gefangbuch haben mich oft erquidt, 
und ich hoffe, fie follen mich ferner in Noth und Tod erquiden. Wenn 
auch die Predigt nicht genügt, fo verfäume doch die Kirche nicht. Es 
kommen Augenblide, in denen man in der Kirche leichter wach und 
lebendig wird als im Haufe, wo wenigſtens ich felten eine Stunde 
ungeftört habe. — Daß Du fo ohne Mufit leben mußt, fhrieb Ca⸗ 
roline etwas fpäter, thut mir fehr leid, aber mein Rath ift doc: 
begib Dich allein der Mufif wegen in feine neuen Verbindungen. Du 
fönnteft fie doch zu theuer erfaufen und fpäter vielleicht nicht im 
Stande fein, Dich wieder frei zu machen. Auch für mid) ift der Flü— 
gel todt und fill; es ift mir nicht möglich, eine von unferen Liedern 
daran zu fingen. Co wie ich den Ton höre, fehlt Du mir und ich 
komme gleich ind Weinen und fann nicht weiter. Ya, liebe Agnes, 
ih fühle, daß es eine große Aufgabe ift, loszulaffen, was und Got- 
tes Geſchenk fo feſt and Herz hat wachen laſſen. 

Wie in diefem Briefe kämpfte in manchen anderen Die Freude 
über dad Glüd des Kindes mit dem Schmerze über die Trennung von 





294 


bemfelben.- Daß Du glücklich bift, weiß ih, heißt ed einmal, und 
das ift die große Hauptfache; aber, meine liebe Agnes, das Mutter- 
herz läßt ſich nicht zu allen Zeiten mit der Vernunft beſchwichtigen und 
bat auch feine Rechte, denke ih. Es muß nur nit unbändig wer- 
ben und immer wieder von neuem anfangen, fich willig und mit 
Freuden in Gotted Willen und Einrichtung fügen zu wollen, und dad 
ift jego wirklich in ruhigen Stunden meine tägliche Arbeit. Ihr habt 
mid), fo lange ih Euch habe, ganz und gar gehabt, mit Seel’ und 
Leib, mit Sorgen und Wünſchen, mit Herzen und Pflegen, mit 
Händen und Füßen. Wenn Du, mein liebes Kind, nun auch jest 
meine Hände und Füße nicht mehr nöthig haft, fo kannſt Du dod 
meine Liebe noch brauchen, denn das ift ja Die Größe und die Herr 
lichkeit der Liebe, daß, wenn wir nur rein genug find, fie un? nie 
{hädlich werden fann und daß des Empfangen? und Gebens fein Ende 
ift und in Ewigkeit fortdauer. — Daß Du no mit Ichendiger 
Liebe und Anhänglichfeit an uns denkſt und gerne einmal mit mir 
wäreft, ſchrieb Caroline in einem anderen Briefe, finde ich natürlid. 
Du könnteft Wilhelm nicht fo lieb haben, wenn Du und vergejien 
fönntefl. Auch bin ich in mir überzeugt, daß ich es eben fo treu und 
lieb mit Dir meine ald Wilhelm, und fchon zwanzig Jahre fo ge 
meint habe. Alſo ſollſt auh Du mid fein lieb behalten und im 
Herzen tragen, wenigften? gleichfalls. zwanzig Jahre noch, Du meine 
alte herzliebe Agnes, und noch lieber wäre ed mir, in Ewigkeit 
She Du nur Dein Liebhaben zu und recht lebendig zu erhalten, es 
fann unbefchadet Deined lieben Wilhelm und Deines Glückes durd 
ihn und mit ihm gefchehen. Unſere Seele ift ja ohnedem fo geartet 
bier in diefer Welt, daß Wünfchen und Sehnen nicht allein mit un 
ferem Glücke beftehen kann, fondern unfer eigentliche und größtes 
Glück felbft.ift, wenn unfer Wunſch und unfere Sehnſucht ſich nad 
dem Beften und Größten ausſtreckt. — Morgen ift unfer Hochzeittag, 
heißt e8 in einem Briefe Carolinen? vom 1. Auguft. Er ift der erfte, 
an welchem ed wieder rückwärts geht und an welchem ih habe anfan- 
gen muͤſſen, wieder herzugeben und Igözulaffen, und zwar Dich, mein 
liebe? Kind. Gott wolle mir helfen, daß ich ed thun möge, wie er 
e8 haben will! Genieße Du das Vorwärts; ed hat auch feine Sor⸗ 


295 


gen und Mühen, aber, wie mir e8 nad der Probe vorfommt, ift 
der Rüdzug fehwerer und faurer. Die Jugend hat ihre Gefahren, 
aber die des Alter? find, fürchte ih, noch größer und ſchwerer; doch 
merke ih das bis jeht Gottlob mehr an anderen als an mir, und 
auch ich gehe ja in Gottes Namen wieder vorwärts, um nie wieder 
ruückwärts zu gehen. Liebe Agnes, behalte mich lieb und bleibe mir 
nahe, fo viel Du kannſt. Mein lieber Bräutigam ift recht wohl und 
heiter und mir lieb und werth heute wie geftern und wie vor zwan⸗ 
sig Jahren. Ich habe es mir nie ald möglich gedacht, daß das Tieb- 
haben fo ohne Unterbrechung einundzwanzig Jahre fortgehen könnte, 
und wie lange es noch fo fortgehen wird, kann ih, wills Gott, 
nicht zählen. — Unferen Yrühftüdstiih hatten und die Kinder, 
fügte Caroline am folgenden Tage hinzu, mit Blumen belegt und 
hochzeitlich gemacht; wir faßen im Grünen begraben und befahen die 
Kleinigfeiten, welche die Mädchen und gearbeitet hatten; die Jun⸗ 
gen? find über oder eigentlich unter diefer Sache, und das ift mir 
nicht lieb, denn mit Scheffeln anderen Luft und Freude zu machen, 
wird nur wenigen geboten, und Scheffel find auch nicht nöthig zur 
Auft und Freude. Daß Du in diefen Tagen fo in der Welt umher⸗ 
fteeifft ohne mich und daß ich gar nuht einmal weiß, ob Du heute 
in Schwarzburg oder in Rudolſtadt oder wo fonft bift, ift mir ganz 
mwunderlih. Ich hoffe, dag Du recht einfammelft, um diefen Win- 
ter an den langen Abenden daran zehren zu können. Wenn ich an 
die Ausſicht auf dem Plape im Schwarzburger Schloßgarten oder 
aus dem Heinen Zimmer der Fürftin denke, fo wird meine Seele voll 
Freude und Leben über die Schönheit und Größe der Natur, und 
eine Ahnung wird in mir lebendig von etwa? Größerem und etwas 
Schönerem. Ih danke Gott, daß ih in Schwarzburg gewefen bin, 
und bitte ihn, mich noch in meinem Leben fo viel [hauen zu laſſen, 
als möglih if. In diefem Augenblide bedaure ih alle Menſchen, 
die ſolchen Vorſchmack in diefem Lebe nicht erhalten, und hoffe, daß 
Gott fie im eigenen Innern dasſelbe finden laffen wird; aber ſchön 
und berzerhebend bleibt doch das Außenfchauen, und glüdlich der, 
dem Gott ed zu Theil werden läßt. | 

Wie die Freudentage durchlebte Caroline auch die Tage ſchmerz⸗ 


296 


licher Erinnerung, wenn es irgend möglich war, in brieflichen Ber 
fehre mit der entfernten Tochter. Heute vor ſechs Jahren murde 
mein Engelöbernhard geboren, fchrieb fie am 27. September, und 
nun ift fein Körper fehon fo todt und verwifcht, daß ich nur noch fein 
liebes, belle, reine? Kinderauge fehe, das in der Noth, wenn id 
nicht weiter und [änger mir helfen und mich halten fonnte, meine Erhe⸗ 
bung und Stärkung war und mich wieder zutrauensvoll und freudig in 
- Gott madhte. Weißt Du wohl noch, wie er unfer aller Freude und 
Troft in Aſchau war und wie freundlih, fröhlid und liebhabig er 
uns anfah? Gott gebe, daß er auch jetzt mich anfieht und mich, aud 
von mir ungefehen, zu Gott erheben fann. Das Engelöfind muß 
doch nun noch mehr für und thun können ald damald und wird es 
gewiß aud wollen. Wie gerne wüßte ih mehr von der Art und 
von dem Wefen des Glücks meiner lieben feligen Kinder! Gott läpt 
und freilich tief im Herzensgrunde ahnen und fühlen, daß er über alle . 
Gedanken groß und herrlich ift. Nehme ich aber das Ahnen des Her- 
zen? in den Kopf hinein, fo vergeht.e® mir und wird zu nicht, und 
doch kann ich ed nicht laffen, daran und darüber zu denken, obfchon 
ih weiß, daß es vergebene Arbeit ift und daß bei diefer wie bei jeder 
großen, ernften Frage wir in diefer Welt nicht? weiter können und 
follen, al® da3 Ahnen und dad Sehnen nad) Wahrheit lebendig in 
und erhalten und nicht durch uns oder durch andere, nicht durch in- 
nere oder äußere Einflüffe ftören und tödten laffen. 

Eine neue Quelle der Freude eröffnete fi für Caroline, als bie 
Ausſicht, Großmutter zu werden, fih ihr zeigte. Liebe Kinder, 
antwortete fie nach Empfang der erften Nachricht, eben habe ich Eu- 
ven Brief gelefen und bin wunderbar freudig, danfbar und bewegt 
zu Muthe. Ihr könnt das Glück nicht ahnen, das Euch, willd Gott, 
bevorfteht, und ich kann e8 Euch auch nicht fagen, obgleich) meine 
Seele ſchon zwanzig Jahre davon erfüllt gemwefen if. Freuet Euch, 
und abermals fage ih Euch: freuet Euch und bittet Gott um fei- 
nen Segen. Kinder, könnte ich Euch doch jagen, was Eurer war: 
tet; aber es ift unbegreiflih und unausſprechlich und wird nur von 
Gott in das Menfchenherz gegeben. Der gebe ed Euch denn im tiefften 
Grunde! — Die nun folgenden Briefe find fämtlich von zartefter 


297 





und liebevolifter Mutterforge erfüllt, mit welcher Caroline das Hoffen 
und Zagen der Tochter begleitete, aber immer auf neue drängte durch 
alles Sorgen der Aufruf zur Freude und zum Dante ji hindurch. 
Ein jeder hat, fehrieb fie am Jahresfchluffe 1818, gewiß zu hoffen und 
zu fürchten im neuen Jahr, aber Gott hilft und allen fröhlich durch. 
gebe wohl, Tiebe Agned, und vergiß nicht, Di, wie Dein Groß» 
vater am Neujahrdabend begehrt, auf einen Stein zu fegen und zu 
bitten und zu beten. Du haft viel zu bedenken und zu denken und 
zu hoffen, und aud an uns denfe einmal aus Herzendgrund. — 
Fröhliche, fröhliche Weihnachten, Ihr lieben Kinder, gebe Euch Gott, 
fauteten die Zeilen, mit denen Caroline kurz zuvor eine kleine Weih- 
nachtäfifte begleitet hatte. Wenn Ahr nur den zehnten Theil Luft 
und Freude habt bei dem Audpaden, den die Kinder, groß und Hein, 
bei dem Einpaden gehabt haben, fo bin ich zufrieden. Eonderlich 
‚find die drei Kleinen übermäßig thätig dabei gewefen und die Luft zu 
geben und zu ſchenken hat oft mit Thränen geendigt, wenn fie nichts 
mehr hatten. Die erfte Bedingung freilich bleibt, daß Eure Genüg- 
famteit fo groß ift, als ihre Gebeluft; fonft gehts nicht. Diefe Kifte 
werdet Ihr um ſechs Uhr befommen, und dann gewiß recht leben- 
dig. an ung denken. Auch Du follft in mir und um mid) fein, meine 
liebe Agnes, und wenn ich auch tüchtig weine, fo weiß ich felbft nicht 
recht, ob es Freuden⸗ oder Betrübniöthränen find, und das ift das 
Höcfte, was wir wünfchen fönnen, und mein Gebet, welches ich 
vorige® Jahr, als ich Deinen Weihnachten Dir zurecht legte, recht 
aus dem Herzen zu dem lieben Gott ſchickte, ift über mein Wiſſen 
und Berftehen erfüllt. Lieber Wilhelm, liebe Agnes, laßt und in 
diefem Augenblide einmal aus Herzendgrund Gott danken und und 
und die und nahe find, vertrauendvoll und glaubensvoll in feine 
Arme legen und fröhlich fein. Auch wir hier nehmen Eure Hilfe, uns 
danken zu helfen, gerne an. Lies den Gefang in unfer aller Namen: 
D wenn ih taufend Zungen hätte. Er fommt einem recht zu Hilfe, 
der liebe Geſang, wenn man fich nicht zu helfen weiß, und gewißlich 
dies begegnet mir oft, wenn ich unfere einundzwanzig Jahre durch⸗ 
denfe. — Perthes ift ein Weihnachtskind, ſchrieb Caroline einige 
Tage fpäter in ihrem Berichte über den heiligen Abend; er bewegt 


298 


mein Herz jedegmal von neuem dadurch. Geftern vor dreiundzwanzig 
Jahren hat er es zum erftenmal gethan, und meine erfte nnd innigfte 
Ueberzeugung und mein Glaube ift nit zu Schanden worden, daß 
ein Gemüth, das fich fo inwendig findlih am Weihnachtsbaum er- 
freuen fönnte, rein und unbefledt fein müßte. Das war der Ein- 
drud, der meine Seele an jenem Abend erfüllte, an welchem ich ihn 
eigentlich zum erftenmal fah und der mein wahrer Berlobungstag if. 
Und wenn er mid) auch nicht genommen hätte, fo hätte ich ihn doc 
gehabt, aber fo ift es befier und ich weiß am beften, daß ich Gott 
nie genug dafür danken fann. Als wir geſtern Mittag um 6 Uhr zu 
Zifche gingen, war Perthes jo müde und fo abgearbeitet, Daß es und 
jammern mußte, und als die Lichter und der Baum angezündet war, 
war er fo lebendig und fröhlich wie das Fleinfte Kind. — Ein fröh 
liche? Feft gebe Euch Gott, ſchrieb Karoline am erften Ofterfeiertage, 
und warum follte er es Euch nicht geben, hat er doch eigentlich jeden 
Tag Euch zum Feſttag gemacht durch die ewige und innige Liebe, Die 
er Euch ind Herz gegeben hat? Beſſeres fann er und auch in der 
Ewigkeit nicht geben, das ift gewißlich wahr; aber wie groß die Selig- 
feit fein wird, Tönnen wir nicht verftehen, weil wir die reine Liebe zu 
Gott noch nicht kennen, aber ahnen fünnen wir ed doch, da uns, 
wenn wir und im Andenken an Gott lieb haben, die Liebe zur am 
feligen Creatur und zu unfere® Gleichen ſchon fo glüdli und gläd- 
felig macht. Die Kinder find alle ausgegangen und ich wolite eine 
Predigt von Zauleruß Iefen, aber Du und Wilhelm, Euer Glüd und 
Eure Hoffnung mwogten fo gewaltig in mir, daß ich ed nicht konnte. 
Lieber Wilhelm, ich fühle recht Glüd und Freude darin, daß id 
Agnes für Dich fo gehegt, gepflegt und großgezogen habe. Gott gebt 
Euch an Euren Kindern die Freude, die er und an unferen, an groß 
und Bein, bis jet gegeben bat! Mehr kann ih Euch nicht wün⸗ 
ſchen, weil ich nicht mehr weiß. Ich habe zu meiner Gemüthaer 
gösung die Balkonthür zum erftenmal in diefem Jahre aufgemacht 
und bin ganz fröhlich über deu lieben Frühling, der mir in Athem, 
Auge und Ohr fühlbar wird. Die Heinen Vögel wiſſen fidh vor 
Singen und Jubel nicht zu laffen und id) möchte mit fingen und 
jubeln. 





299 


Schon feit dem Herbfte 1818 hatte Caroline die Hoffnung ge- 
begt, im fommenden Frühjahr ihre Tochter in Gotha befuchen zu kön⸗ 
nen, und in diefer frohen Ausficht durchlebte fie den Winter. So 
oft ih an das Frühjahr denke, fchrieb fie einmal, fällt mir immer 
die Strophe aus den Fägerlied ein: „Das wird eine Freude fein.” 
Sa, dad wird eine Freude fein, liebe Agned, und dann will ic Dir 
auch alle Briefe herfagen,, die zu fchreiben ich jebt feine Zeit habe. — 
Am 23. April reiften Perthed und Caroline mit vier Kindern aus 
Hamburg ab, nachdem fie den zweiten Sohn der Obhut der Groß⸗ 
mutter in Wandsbeck übergeben und den älteften Sohn ala Wächter 
des Haufes in Hamburg eingefeßt hatten. Glüdlih, gefund und ver- 
gnügt find wir hier angelommen, berichtete Caroline au8 Gotha. Die 
Reife war bitterfalt, aber die Freude wärmte von innen heraus und 
die äußere Kälte hat und nicht8 anhaben können. Die Poſtillons wa, 
ren durchaus tüchtig und fir bid auf einen, der etwas in der Krone 
hatte; gerade aber, als mir bange werden wollte, fam und eine an» 
dere Ertrapoft entgegen, mit welcher wir die Pferde wechfelten. Die 
beiden Fleinen Kinder haben fih in alfer Art gut aufgeführt und find 
und durch ihre Fröhlichkeit, durch ihr aufmerffames Bemerken aller 
Sachen, die fie fahen und hörten, und dur ihre Verwunderung 
über Berge, Bäume und Felfen recht zur Luſt und Freude gewefen, 
obwohl ſolch Peine Kinderwirtbichaft doch auch viel unbequemed hat; 
die ganze Nacht hindurch mußte ich eine in jedem Arme halten, um 
fie gegen Wind und Stogen zu fchüsen. Al® wir Gotha näher ka— 
men, wurde ed mir ſchwer, Herr über mein Herz zu werden, amd 
am Diendtag den 28. April Morgen? famen wir gefund und glücklich 
an. — Wir führen hier, heißt ed in einem anderen Briefe, ein ruhi⸗ 
ges, filled und fröhliches Leben und fühlen und in den Wohlthaten 
Gottes begraben. 

Als Caroline mit Perthed und den Kindern Anfang Juni 1819 
aus Gotha nah Hamburg zurüdgefehrt war, blieben ihr die mit ber 
Tochter verlebten Wochen noch lange eine Quelle dankbarer Erinne- 
rung. Seit ih Did in Deinem eigenen Haufe gefehen, fchrieb fie 
einmal, habe ich nicht mehr das Gefühl der gänzlichen Trennung, ſon⸗ 
dern kann ganz und gar mit und bei Dir fein. Ich dachte, Du müßteft 


300 


zu Zeiten meine Nähe merken. Sehne Did nur einmal recht mit Deis 
ner ganzen Seele nad) mir, fo wirft Du mich oftmals finden. Nod 
immer haben die fieben Freudentage, die ih mit Dir zugebradht, fo 
fehr die Oberhand in mir, daß die Trennung nicht wehe thut. — 
Ein ſchweres, mit Unruhe aller Art erfüllte Jahr wartete Caroli- 
nen? nach ihrer Nüdkehr aus Gotha. Sie hatte ihren zweiten Sohn, 
Clemens, ſchwer erkrankt in Hamburg vorgefunden und Donate ver 
gingen, bevor aud nur ein Tag oder eine Nacht ohne Sorge und 
Mühe um ihn gewefen wäre. Sieh Dich, fchrieb fie in diefer Zeit an 
ihren älteften Sohn Matthias, der während der Schulferien nad Go- 
tha gegangen war, fieh Dich nicht fatt, jondern hungrig an der wun⸗ 
derlieben Natur. In Schwarzburg grüße die Felfen und gehe Bormit- 
tags auf den Trippftein, fo daß Dir die liebe Sonne Die Tannen 
von der Seite beleuchtet, und denke, dag Dein Bater und ich auf 
Dort gegangen» find und und gefreut und Gott gedankt haben aus 
Herzendgrund. In allem meinem jebigen Sammer fann die Erinne 
rung für Augenblide meine Seele mit Freude und Luft erfüllen. Dort 
fann der Menfch weiter fommen als in der Stube, oder vielmehr 
weniger ſchwer weiter fommen ald in der Stube, denn wer weiß und 
wer fann berechnen, wie jehr die heißen und ſchweren Stunden, die 
wir jest bier zu tragen haben, und gut thun? Umfonft find fie 
nicht da. 

. Mitten hinein in die Noth und in die Angjt um das kranke 
Kind fielen alle die Freuden und Unruhen, welche fih an die Aus 
fiht, zum erftenmal Großmutter zu werden, Tnüpften. Als am 
14. Auguft die Nachricht von der Geburt des erften Kindeskinds an- 
gelangt war, ſchrieb Caroline: D daß ich taufend Zungen hätte und 
einen taufendfahen Mund und ſtimmte damit um die Wette aus al- 
lertiefſtem Herzendgrund ein Loblied um dad andere an von dem, 
was Gott an Euch gethan! Fa, Gott helfe mir danken und prei- 
fen dafür, dag mein Wunfch und Gebet erhört ift; ich. habe aber von 
jeher das Gefühl in mir, daß man lange nicht fo inbrünftig danken 
wie bitten Tann, oder ald wenn der Danf immer zu furz im Bergleid 
mit der Bitte fei. Könnte meine Seele fich frei machen von der Noth 
und dem Jammer, der mich hier umgibt, fo würde ich noch näher 


301 


und lebendiger bei Euch fein; aber meine Seele ift getheilt zwifchen 
Schmerz und Freude, und das Getheilte macht Arbeit und Unruhe. 
Mebergieb Du Dein Kind, Dich felbft und alled, was Dein ift, an 
Gottes Willen und bitte um Kraft, Wort zu halten, auch) wenn Du 
e8 einmal lieber nicht wollen möchteft! Genieße in jedem Augenblide 
die Freude und Seligfeit, den Engel im Arme zu haben, recht aus, 
und abermals fage ih: Dankt Gott, Jhr lieben Kinder, freut Euch 

und genießt die feligen Stunden. Ihr follt Euch verwundern, in 
wie vielen Freudengeftalten Euch das Kind noch erjcheinen wird, fo 
Gott feinen Segen gibt, und den verfagt er gewiß niemand, der don 
Herzen darnach verlangt. Bitte Du Gott aud Herzendgrund, daß er 
ihm feinen Engel fende, der es durch das Leben geleite in Freud und 
Leid und recht nahe fei in Noth und Tod. — Die große Freude und 
Die große Sorge zugleich in fich zu tragen, war zu viel für Caroline; 
fie fiel noch im Auguft in eine fehwere Kranfheit, und auch als bie 
Genefung eintrat, blieb die Unruhe um den Franken Knaben. Ja es 
ift ſchwer, ſchrieb fie, bei Diefer immermwährenden Furcht und Sorge 
wieder recht lebendig, freudig und fröhlich zu werden, fo viel Urfache 
zur Freude und Fröhlichkeit und Gott auch gibt. 


Die Berheirathung der zweiten Tochter. 





Kaum in etwas über den Franken Knaben beruhigt, ward Garo- 
line auf® neue in große Bewegung gefeßt, als im October desfelben 
Jahres ein junger Mann, Agricola, in Gotha um die Hand ihrer 
zweiten Tochter, Luiſe, anhielt, welche bei der älteren Schweſter, um 
fie zu pflegen, geblieben war. Nur einigemale hatten die Eltern den 
Bewerber gefehen und der Entſchluß für fie war nicht leicht. Wir 
jollen fo viel ihm anvertrauen, fehrieb Caroline, und wir fennen ihn 
nicht, es ift immer eine ſchwere Arbeit, bevor man ein geliebtes 
Kind mit fröhlichem Muthe einem andern zu übergeben vermag, und 
nun ift Diefer andere ein und fremder Mann. Ich weiß mir nicht zu 


302 


rathen und zu helfen, es find, glaube ich, die ſchwerſten Stunden 
meined Lebend. — Die inner? Sicherheit und freudige Zuverſicht der 
Zochter ließ es indeſſen bald den Eltern ald das Richtige erfcheinen, 
derſelben allein die Entfcheidung zu geben. Tief im Herzen fühle ich, 
ſchrieb Caroline, dag Gott mit und ift und uns lich hat über alle 
Mapen, obgleih mein Verſtand nicht begreifet, warum; er fann 
mein liebes Kind nicht vergeflen und ihm feinen Segen nicht verfagen 
und er fann ein fo reined, von tiefer Liebe durchdrungened Kinder 
herz, welches auf feinen Cegen und Beiftand hofft, nicht fich irren 
laffen. — Bald fchwanden den Eltern, als ihnen der früher Unbe⸗ 
fannte durch feine Briefe befannter ward, die Sorgen, und fchon im 
Rovember ſchrieb Caroline: Ich habe eine Ahnung in mir, daß Agri 
cola meinem Herzen werden wird wie ein geliebtes Kind. — Mitte 
November 1819 kehrte die Tochter nah Hamburg zurüd, um ver 
ihrer Verheirathung den Winter mit den- Eltern zuzubringen. Uns 
fteht, hatte Caroline ſchon vor deren Ankunft gefchrieben,, will 
Gott, ein recht vergnügter Winter bevor, wenn wir unfere glüdie 
- Lige liebe Braut ind Haus befommen. — Diefe Hoffnung ging in 
Erfüllung und aud der Knabe fchritt fo weit in der Genefung vor, 
dag er, um Kraft und Friſche wieder zu gewinnen, auf ınehrere Mo 
nate nah Wandsbeck gebracht werden fonnte. Carolinens Briefe aud 
diefer Zeit fprechen immer auf? neue Yreude und Dankbarkeit aus. 
Laß es mich wieder einmal mit Worten fagen, beißt e8 unter ande 
ven, daß wir fehr glüdlich find und viele und große Urfache haben, 
es zu fein. Ihr aus der Ferne gebt und freude und die Rinder, die 
rund um ung find, desgleichen. Ja gewiß, wir find glüdliche Eltern 
mit und durch unfere Kinder in Hoffnung und Wirklichkeit ; davon 
fann feine Menfchen Herz mehr durchdrungen fein und es in Dank 
gegen Gott erfennen und befennen ald ih. — Perthes Tann , fchrieb 
fie ein anderedmal, mit feinen Kindern wie mit Freunden fprechen und 
umgehen und mit Luiſe ift er fo freundlich. ald wenn er der Braw 
figam wäre. ch danke Gott, daß er fo viel Freude in feinen Kin 
dern hat; er verdient ed, fo zu fagen, gewißlich durch feinen großen 
und guten Willen für Eud). 

Die Ausſicht freilih auf die nahe Trennung nit nur von der 


303 


Tochter, fondern auch von dem älteften Sohne, der mit dem kom⸗ 
menden Oftern die Univerfität beziehen follte, trübte nicht felten die 
| Gegenwart. Mir ift ed doch oft recht beflommen, ſchrieb Caroline 
einmal, daß Luife, fo jung noch, als felbfändige Frau auf eigenen 
Füßen ftehen und ohne mid) weiter gehen foll, aber ich habe doch ein . 
recht feſtes Vertrauen zu ihrem Glüd. Wer fo von Herzen lieb haben 
und die Liebe fo natürlich kindlich ausſprechen kann, wie die beiden, 
bei dem ift e8 im Herzen gewiß gut beftellt. Liebhaben bringt im- 
mer Gedeihen, feidend und thuend, wenn ed aus SHerzendgrund 
fommt, und ift das Wunder aller Wunder und das einzige, was ich 
mir ald ewig denken fann, während alled andere mir, wenn ich es 
ewig denfe, &rauen und Angjt erwedt. Daß ich aber meinen Mat⸗ 
thia® fo allein in die weite Welt ſchicken foll, mo ihm fein Agricola 
zur Eeite fteht, das fcheint mir ein Berg, über den ich nur mit Got⸗ 
tes unmittelbarer Hilfe kommen kann. Ja, liebe Agnes, je älter 
man wird, defto ernfter werden die Begebenheiten für eine Mutter 
und ſchwere Stunden bleiben nicht aud. — Das Tiebe Neujahr, 
ſchrieb fie in den legten Tagen ded December? 1819, liegt mir ſchwer 
auf dem Herzen, weil id in ihm zwei von meinen geliebten Kindern 
hergeben foll. Ich fühle, daß ich Unrecht habe, aber ih bin recht 
betrübt und bebrüdt. Gott wolle fie und uns alle in feinen Arm 
nehmen und vor allem Böfen bewahren und mir ihre lebendige Liebe 
erhalten. Freue Du Dich an Deinem kleinen Kinde. Die Freude wird 
wohl jpäter größerer Art, wenn die Tändelei ein Ende hat; aber 
wünſche Dich dennoch feinen Tag weiter, fondern genieße die mutter- 
felige Zeit, in der Du Dein Kind im Arm haft und e8 Deiner nicht 
entbehren kann, feine Arme nad) Dir ausſtreckt und Dich in Liebe um- 
faßt und nicht von Dir zu gehen braudt. Es ift fchwer, loszulaſſen 
oder eigentlich wegzulaſſen, denn behalten thue ich Euch und lieb habe 
ih Euch und ed gibt auch neue und ernfte Freuden, die man früher 
nicht ahnet; aber die Fleinen niedlichen Arme und daß liebe fich ausſtre⸗ 
ende und fehnende Geficht fehlen mir dennoch und vielleicht mehr, ala 
es fein follte. — Se näher die Zeit heranrüdte, in welcher Tochter 
und Sohn daß elterliche Haus nerlaffen follten, um fo mehr traten die 
äuperen und inneren Sorgen für Caroline hervor. Heute ift, fchrieb 


304 


fie, des Hin und Her in unferem Haufe fo viel, daß ich bei dem 
Schreiben an Dich meine Gedanken nicht recht zufammenhalten Tann; 
aber fo groß und hoch ift ja die Liebe, daß fie durch feinen Wirt 
wart fi flören läßt und tief im Grunde der Eeele ftille für fih 
fortlebt, mag außen_ vorgehen, was da will. — Heute ift Luiſens 
Ausfteuer eingepadt, fchrieb jie etwas fpäter. Wenn Gott einen fröß- 
lichen Geber lieb hat, fo hat er Perthed gewiß lieb; er gibt gar zu 
freundlich) und zu freudig, was ihm bitter fauer wird zufammenzu- 
bringen. Mir ift recht ernft zu Sinn: Vergangenheit und Zukunft 
bewegen meine Seele, aber Anfang, Mitte und Ende meines Zu⸗ 
ftandes iſt zu meinem Troft das lebendige und feite Gefühl, daß Gott 
un? leitet und führt, wie es für und am beiten ift; nur follen wir 
ihm nicht ind Amt fallen und auf eigene Hand walten. Dies habe ih 
aber mit Wiffen und Willen nie gethan oder wenigften® nicht thun 
wollen. | 
In der erften Hälfte des Aprild 1820 fahen die Eltern beide 
Kinder and dem elterlihen Haufe fcheiden. Am 7. April ging der 
Sohn zur Univerfität ab und acht Tage fpäter verließ auch das junge 
Ehepaar, welches am 12. April die Hochzeit gefeiert "hatte, Hamburg. 
Perthes begleitete mit feinem zweiten Sohne die Tochter nach Gotha. 
Geſtern konnte ich nicht fchreiben, heißt e8 in einem Briefe Garolinend 
kurz nach der Abreiſe; das Wellenfchlagen in meiner Seele war fo 
groß, daß ich nicht zur Ruhe kommen konnte. Liebe Agnes, wie if 
das Mutterherz fo gewaltig; ja, ich glaube gewiß, daß Elternliebe 
ftärfer und größer ift ald Kindedliebe. Wie wünfche ih, wie hoffe id 
und wie bange und beflommen bin ich doch dabei! Bei dem Ab 
fhiede hatte ich ein fichered und feſtes Gefühl von Gottes Nähe, und 
das machte mir die ſchwere Stunde leichter. Ich bin bis tief im Her- 
zen betrübt, aber ich weiß und fühle es, daß alles in der Ordnung 
iſt und wir Urfache haben, Gott zu-danken; was hülfe mir aud 
die äußere Nähe meiner Kinder, wenn die innere Nähe fehlte? Aeu—⸗ 
ßerlich follen wir loslaffen und hergeben, oder beſſer, hingeben lernen 
und zu unferer rechten Heimat fommen. -— - Perthed war einige 
Wochen in Leipzig geblieben und fehrte dann nad) Hamburg zurüd. 
Er hatte völlig unerwartet für Caroline feine ältefte Tochter und die 


305 _ 


- Heine Entelin aus Gotha der Großmutter mitgebraht. Als ich das 
Bofthorn hörte, fehrieb Caroline, war ich zuerft an der Hausthür; ſo 
wie fie aufgemacht wurde, reichte mir Perthes das Heine freundliche, 
gefunde Kind zur Thüre hinein und ich hatte es in meinen Armen; 
meine Agnes war auch gleich da und ed war eine rechte Freuden⸗ 
ftunde. Ich konnte mic) lange nicht befinnen und vergaß wirklich et 
- was, daß Perthes auch mit zurüdgefommen war, worüber ich mid) 
hernach recht geärgert habe. — Du kannſt Dir denken, heißt e8 
einige Tage fpäter, in welcher Freude ich lebe und webe mit Kind 
und Kindesfind. Ich bin noch nicht im rechten ruhigen Genuß und 
die Freude wogt in mir mädtiglich. Gott fei gelobet, der mir dieſes 
Glüd werden ließ! — Nach einem fünfwöchentlichen Aufenthalt im 
elterlichen Haufe wurde die Tochter von ihrem Manne wieder nad 
Gotha zurüdgeholt. Wir fönnen Gott nicht:genug danken, heißt e® 
in einem Briefe Carolinens, daß wir Agnes mit foldher Ruhe und 
Freudigfeit wieder ziehen laſſen können, nachdem wir fie nun fünf 
Wochen von nahem inwendig und auswendig betrachtet haben. 
Drei Kinder hatte Caroline jegt in der Ferne und jede erwar⸗ 
tete regelmäßig Briefe von der Mutter. Sehr felten nur jahen fie 
an den beftimmten Tagen vergebend nach denselben aus. Mit der - 
zweiten Tochter durchlebte Caroline in geiftiger Nähe die erften Wo- 
chen der Ehe und den Uebergang aus ihnen zu der wachlenden Ruhe 
und Sicherheit des Zufammenlebend. : Daß Du, fehrieb fie im Mai 
1820, fo freudig und vergnügt mit Deinem Agricola bift, habe ich 
erwartet und gewußt und hoffe noch mehr und befferes für Dich; 
denn die? find doch nur noch liebe und werthe Flitterwochen, die mit- 
zunehmen find und die ih Euch gönne aus Herzendgrund. Aber Zeit 
und manche ernſte Stunde und mander ernftliche Wunfd mit und 
für einander gehört dazu, bevor wahres Glück und wahrer Ernft in- 
und durcheinander in Euch zu Stande tommt. Das rechte Liebhaben 
ift der Weg jum Ziele und das Wahrfein und Offenfein gegeneinan- 
der zu aller Zeit und bi auf Grund und Boden der Scele fördert 
mädtiglih. In allen Euren Wünſchen und Beftrebungen müßt Ihr 
gemeinfchaftliche-Sacdhe zu machen und Euch einander fortzuhelfen fu- 


hen, wo ed dem einen oder dem andern gebricht, und wie nad Eu- 
Dertheö' Lchen. II. 4. Aufl. 20 


306 


rem böchften Ziele müßt Ihr daran arbeiten, Gott näher zu kommen, 
und Euch einander fördern wollen, ihm ähnlicher zu werden. Laß ed 
Dich nicht ftören, wenn Ihr zuweilen verfehtedener Meinung und An- 
fiht in den höchften Dingen feid. Bleibt Ihr nur immer wahr ge 
geneinander und wollt und meint Ihr nur immer wirfli die Wahr: 
beit, fo trefft Shr, wenn auch auf verfchiedenen Umwegen, doch wie 
der zufammen. ch weiß, daß ich es hiermit ernftlih gemeint und 
daß ed mir öfter recht fauer geworden iſt; aber ich weiß auch, daf 
ih endlich zu einem freudigen Ziel mit meinem lieben Perthes ge 
fommen bin. Das Wenn und Wie geht niemand außer Euch etwas 
an und hat auch niemand danach zu fragen. — Du kannſt wohl 
denten, fchrieb Caroline bald darauf, daß mir nichts lieber fein Tann, 
ala wenn Du mir recht aud dem Herzen von Deinem glücklichen Lieb- 
haben erzäblit, aber des Menjchen Herz ift ein wunderlich Ding. Als 
Du mir fürzlich einmal fchriebft, Du könnteſt nicht begreifen, wie Du 
jemals ohne Agricola hätteft glücklich fein können, kam es mir vor, 
als gefchehe mir Leided. Sch fühle es ja in jedem Augenblide mit 
ganzer Gewißheit in mir, daß meine Eeele Euch aus allen Kräften 
fieb hat, für Euch hofft und wünfcht und Euch alles Gute gäbe, wenn 
fie fönnte, und mehr kann ich doch nicht und mehr kann der bewußte 
Herr aud nit. Warum bätteft Du denn nun nicht auch bei mir 
glüdlich fein können? Kannft Du mir darauf antworten? Agricola 
hat Dich doch erft ein Jahr lieb gehabt und ich fhon achtzehn Jahre, 
und wahrlich aud Herzendgrund. ft dad nun nicht ganz verkehrt 
von Dir und kannt Du fagen, daß es nicht verkehrt ift? Ich weih 
auch nichts darauf. zu erwidern, ald daß ich ed eben fo gemacht habe, 
als mid Perthes nahm, und daß ich Gott dafür danke, daß Du mir 
nun dadfelbe Leid anthuft, das ich meinen Eltern angethan habe. — 
Es ift, bemerkte fie um diefelbe Zeit, ein fehr wunderbares aber lie 
bes Gefühl, dab mein Kind Agricola glücklich macht. Sch weiß wohl, 
daß es Gotted Gabe und Segen ift, aber meine Arme haben Did 
doch groß gewartet, und nun freue ich mich feined Glüdes in meinen 
alten Tagen, die ich übrigend noch gar nicht ald angefangen anjehe. 

Die Stunden fehnfüchtigen Heimwehs blieben natürlich für die 
Tochter nicht aus. Du kannſt, fehrieb ihr Caroline, Dich nicht fo zu 





307 
mir, wie ih mich zu Dir, wünfchen. Könnte ich doch bei Dir jein, 
ohne von bier fort zu müflen! Aber eines bedenke: follte ih Dir 
nicht oftmals im Wege fein, wern Agricola nah Haufe fommt? Iſt 
das nicht fo und haft Du den Muth zu leugnen? Ich ſehe Dich ordent- 
fich roth werden, weil Du e3 nicht fannft. Nun, meine liebe Luife, 
darüber fhäme und gräme Dich nit; ich nehme damit vorlieb und 
danfe Gott noch dafür, daß ich jebt für Dich nur die zweite Perfon 
bin, und habe Dich lieb, ald wäre ich die erfte. — Daß Dir, heißt . 
ed in einem etwas fpäteren Briefe, das Alleinfein und die Entfer- 
nung von und ſchwer wird, fonderlih wenn Agricola nicht bei Dir 
ift, kann ich mir recht gut vorftellen; bin ich Doch noch jetzt, wenn die 
Kinder einmal auf einen Nachmittag fortgegangen find, fo fatal und 
verlegen zu Muthe wie ein Huhn bei Licht. Indeſſen über folchen 
Zuftand muß man Herr werden und ed geht allen jungen Frauen 
mehr oder weniger fo. Das beſte Erleichterungsmittel bleibt doch im⸗ 
mer da3 Arbeiten, wenn man ed mit Lebendigfeit und Fleiß treibt. 
Du mußt überhaupt anhaltend und emjig arbeiten, was es auch fei; 
denn Müßiggang ift des Teufeld Ruhebank für Bornehme und Ge- 
ringe, fagt Dein Großvater, und das ift gewiplih wahr. — Wenn 
Agricola nicht bei Dir ift und Dir bei dem Gedanken an die Ent- 
fernung von und auch einmal bänglih und fehnfüchtig zu Muthe 
wird, fo ift dad, mein altes liebes Kind, nicht? unrechted; nur mußt 
Du ruhig und befonnen bleiben. Doch follteft Du Dich auch einmal 
über die Gebühr wie ein Kind nah Deinen Eltern fehnen, fo wird 
Dir darüber Dein Agricola nicht gram werden. Auch bift Du da- 
mit auf dem rechten Wege, daß Du ihm immer und unter allen Um⸗ 
fländen alles fagft, was in Dir vorgeht und wie Dir zu Muthe ift; 
wo Wahrheit und gründliches Liebhaben ift, da geht es ohne Glück 
und Freude nicht ab. — Richt wahr, es ift ein lebendigered Leben 
ala Hausfrau, denn ald Haugjungfer, heißt ed ein andereömal. Daß 
Du Dir gefällt in Deinem Fleinen Hausweſen und daß Du Deine 
Luft an Deinem fauberen und niedlihen Haufe haft, ift recht nad 
meinem Sinne und ih fann mir recht lebendig vorftellen, wie ‘Du 
Nahmittagd ausſiehſt und aufhorchſt, ob Dein Mann noch nicht vom 
Gerichte fommt. Wie gerne ftände ich einmal hinter der Thür, wenn 
20 * 


| 308 

er hereintritt! Denfe nur, daß id Sonnabend. öfter Revue halte in 
Deinen Stuben, Schränken und Schubladen und mich freue, wenn al» 
fe3 huͤbſch und ordentlich if. — Recht fo, Du liebe Hausfrau, fchrieb 
fie bald darauf, hab immer an Kleinigkeiten in Deinen Umgebungen 
Luft und Freude. Große Begebenheiten werden und nicht immer.auf- 
getiiht, aber wenn man aufzumerken und wahrzunehmen verfteht, 
fo ift unfer beſcheiden Theil und mehr als das alle Tage da, und 
wir müßten eigentlich viel weniger um Urfache zur Freude ald um 
Empfänglicheit für die Kreude beten. — Daß Du dann und wann 
zu anderen Leuten gehſt, meine liebe Luife, daran thuft Du redt; 
daß Du aber gern und am liebften zu Haufe bift, daran thuft Du 
doppelt recht. Gott gebe,. daß Eure: Stube Euch immer fo lieh 
bleibt! . Be | 

Um ber Tochter recht: lebendig nahe bleiben zu können, begehrte 
- Caroline auch von den Heinen Einzelheiten des täglichen Leben? der. 
ſelben nähere Kunde zu erhalten, als die Tochter zu: geben pflegte. 
Mit Deinen Briefen, fehrieb fie einmal, bift Du noch nicht auf red 
tem Wege. Du fprichft immer nur im großen und allgemeinen, id 
aber will von Dir, mein liebes Kind, auch das Kleinfte wiffen. Du 
ſchreibſt mir immer nur, daß Du Agricola lieb haſt, ich möchte aber 
auch wiſſen, warum Du ihn lieb haſt. Wie es um einen Menſchen 
ſteht, erfährt man am allerbeſten aus vielen kleinen Umſtänden und 
Begebenheiten, aus denen man dann ſich ſelbſt die Summe zieht. 
Wolle ja nicht immer etwas bedeutendes fehreiben! Du fchreibft ja 
für mein Mutterherz, und dem ift alle® bedeutend, was mir Euch 
‚näher und lebendiger vor die Seele bringt. Sage und fchreibe alfo 
ohne viel Bedenken Kleines und Großes, wie ed Dir einfällt; das 
Große erhält das Leben, aber die Kleinigkeiten die Lebendigkeit im 
Zufammenleben, wenn man getrennt if. Du weißt, daß Agnes 
Kraut und Rüben durcheinander auf dad Papier hinfehüttet und mi 
dadurch unfägliche Freude macht. Der Menfch befteht nun einmal 
aus zwei Stüden hier in diefer Welt, und alfo gehören die Kleinig- 
feiten, nur nicht Kleinlichfeiten, auch mit zu und. — Daß Du Deie 
nen Brief, heißt ed etwas fpäter, wieder zerrifen haft, weil er nicht 
in rechter Stimmung geſchrieben war, thut mir leid; ein andereömal 





0 


309 


ſchicke mir alles, wie es iſt. Ich weiß fo gut wie Du, daß des Men⸗ 
ſchen Seele ſich nicht immer glei if. Unter allen Umftänden Herr 
zu bleiben und ruhig; das ift das Biel, nach dem wir ftreben follen; 
aber es müſſen viele VBerfuche gemacht werden, ehe wir dahin gelan- 
gen. Auch weiß ih, was ih von unrechten Stimmungen und Augen- 
blicken gu halten habe,. und fehe fie nicht für mehr an, als fie find. 
Als die Tochter nach Verlauf einiger Zeit die von jeder jungen 
Frau aufs neue zu machende Entdedung machte, daß auch in dem 
neuen Berhältniffe der Ernft des Lebens nicht auöbleibe und die Ar 
beit an fich ſelbſt nicht unnöthig geworden fei, ſchrieb ihr die Mutter: 
Sa wohl, Du liebed Kind, die Gottedgabe ded wahren Liebhabens 
wird unter allen Umftänden größer und beffer, und obſchon wir den 
Schweiß des Angefichtö lieber nicht haben möchten, fo merken wir 
doch bald, dag wir ihn nöthig haben und er zu und gehört für diefe 
Welt. Bohl alle Menfchen bis auf den heutigen Tag haben die Er- 
fahrung gemacht, daß, wenn dad Leben und größere Freude bringt, 
auch fein Ernft größer wird. Danke Du Deinem Agricola von gan- 
zem Herzen, daß er Dir auch feine Sorgen mittheilt und nicht aus 
übergroßer Schonung verſchweigt. Wenn die Frau aud nicht heffen 
fann, fo kann fie doch oftmals erleichtern, und. füß und fauer foll 
getheilt und vereint getragen werden von Mann und Frau. Ich 
möchte Euch) wohl gerne. nur Luſt und Freude gönnen, aber verzagt 
bin ich Euretwegen nicht. Die Menfohennaturen jind verſchieden und 
ebenfo Gotted Mittel: zur Förderung ihres Glücks. Auch Perthes 
und ih haben manche Kämpfe gehabt, die und fchwer wurden und 
öfter® recht ſchwer; aber wenn ich zurückdenke, fo fage ich mir doch, 
daß das alled und gewiß näher und inniger vereint hat, und das ift 
eine Sache, die nie zu theuer erfauft wird. — Du haft fehr ‚recht, 
liebe Luiſe, ſchrieb Caroline in einem anderen Briefe, da wir fehr 
auf der Hut jein müffen, wenn ſich in unjer Wefen und Sein etwas 
empfindliche oder leicht zur Heftigfeit fich neigendes einſchleichen will. 
Es iſt eine große, herrliche Sache um eine reine findliche Seele, die 
auch nicht durch Kleinigkeiten im täglichen Reben das Liebhaben er- 
ſchwert oder unterbricht. in fefter und tüchtiger Wille, das nicht 
zu wollen, foll unter allen.Umftänden und zu allen Zeiten in tiefem 


310 


Herzendgrumd fein und bleiben; aber ich habe von dem alten ran- 
ciscus von Sales gelernt und habe bewährt gefunden, daß viele ©a- 
hen zwar nicht leicht angeſehen, aber leicht behandelt werden müſſen, 
wenn man zum Ziele kommen will. Gegen die Neigung, heftig zu 
werden, muß man nicht mit großer Gewalt und Anſtrengung zu Felde 
ziehen; ſonſt wechſelt man oftmals nur die Art der Heftigkeit, aber 
die Heftigkeit bleibt. Beſſer iſt es, wie der Alte ſagt, in den Augen- 
blicken, in denen ed Noth thut, leicht fallen laſſen und ſchnell vergef- 
ſen. Mit großer Heftigkeit die eigene Heftigkeit bekämpfen, ſtört die 
andern und kann uns ſelbſt erbittert machen. Für Dich übrigens bin 
ich nicht bange, Du haſt nie Anlage zur Aergerlichkeit gehabt, und 
wenn das Herz voll Liebe iſt, kann keine Aergerlichkeit hinein. Du 
konnteſt Dich aber an niemand wenden, der Dich beſſer verſteht alö 
ih; denn ich habe die Sache erfahren auf diefelbe Weife. 
| Im November 1820 brach) eine ſchwere Prüfung über die Tod 
ter herein, al® deren Dann am Nervenfieber erkrankte, Wochen hin 
durch in augenblidlicher Lebensgefahr ſchwebte und Monate hindurd 
die Gefundheit nicht wieder erlangen konnte. Du und Dein Leben 
ohne Agricola, fchrieb Caroline, als die erfte Gefahr befeitigt war, 
find mir Tag und Nacht nicht aus dem Herzen gefommen und Der 
nem Vater nicht minder; wir haben gar zu ftarf gefühlt, wie ſchwer 
ed fein muß, ein Kind um und bei fid) zu haben und die verfiegte 
Quelle feined Glüdes nicht wieder füllen und rinnen laffen zu können. 
Sehr ernfte Tage waren ed für und. Der Gedanfe war mir ganz 
neu, daß ich mein eigene? geliebte Kind in meinem Arm und Haufe 
“ haben und doc) nicht tröften und vergnügt machen fönnte mit allem 
meinem Liebhaben und Wunfch und Willen. — Zuerſt wollen wir 
Gott danken, fchrieb fie etwas fpäter, daß er Dir Agricola erhalten 
und Glauben und Zuverficht in der Noth verliehen hat, und dann 
wollen wir um weitere Genefung bitten. Daß wir immer wieder 
bitten, darüber brauchen wir und nicht zu [hämen und zu grämen. 
Gott weiß es beffer ald wir, daß wir ohne ihn nicht fertig werden 
fönnen. — Wir fühlen nicht mehr den Stein, heißt ed, ala die 
Kräfte des Kranken wieder zu kommen begannen, fondern nur noch 
den Ort, wo der Stein gelegen hat, und freuen und mit Euch bed 





311 


tommenden Frühlingd und der warmen Sonnenftrahlen, obgleich der 
Tugendfrühling an und ſchon vorübergegangen ift, aber nicht der 
ewige Frühling in und, der immer grüner, will® Gott, in und auf 
gehen wird, je älter wir werden; klingt an mit der herzerhebenden 
Frühlingdzeit in der Natur, die und jung macht und friſch und fröh- 
lich, wie die Fleinen bunten Meifen in dem erften Sonnenftrahl auf 
dem Eichbaum hinter meinem Fenſter. Wenn au der alte Körper 
matt ift, er muß mit fort. für den Augenblid, er mag wollen oder 
nicht. Freue Dich des Frühling® und des Leben, lieber Agricola, 
und habe Dank, dag Du noch bei meiner Luiſe und bei und allen 
haft bleiben wollen. Wir werden unfererfeit3 thun, was wir fön- 
nen, daß Dichs nicht reuen fol. — Ah, liebe Kinder, fchrieb fie 
in einem anderen Briefe, könnte ich Doch heute bei Euch fein und mit 
Eud fröhlich fein und mit eigenen Augen einen Blid in Euer neues 
Glück thun! Da aber dad nicht fein kann, begnüge ich mich mit ber 
lebendigen Luft, die ich dazu babe; denn.ohne diefe hülfe auch der 
Blick mit eigenen Augen mir nichtd. Liebhaben ift Anfang, Mittel 
und Ende unfered Glückes; ohne diefed fann Gott mit aller feiner 
Allmaht keines geben. Je reiner und inniger die Liebe ift, deſto 
befler find wir daran. Alfo ift ed und wir können zufrieden fein, 
denn die Liebe haben wir feſt und feine Meilen, nicht Berg noch Thal, 
weder Heide noch Sumpf fann ſich zwiſchen uns ftellen und und ſtö— 
ren. Nicht wahr, das weißt Du auch? Und dabei foll es bleiben. 


Der Fortgang des älteiten Sohnes zur Univerfität. 





Während mit den verheiratheten Töchtern vorwiegend die Mut- 
ter den brieflichen Verkehr führte und Perthed nur einzelne freund- 
lihe Worte und nur bei befonderen Beranlajfungen ausführlich fchrieb, 
erhielten beide Eltern gemeinfam das Fortleben mit dem älteften 
Sohne Matthias, der feit Oftern 1820 in Tübingen Theologie ftu- 
dierte. Die Zweifel und Nöthen, in welche oftmals die theolegifche 


312 
Wiſſenſchaft ihn brachte, Tegte der Sohn dem Bater vor, Rath und 
Richtung von ihm begehrend. Häufig ftand Perthed an, auf alle in 
diefer oder jener Woche dem Süngling begegnenden und beunrubigen- 
den Bedenken einzugehen. Ich habe in diefen Tagen mehrere Deiner 
legten Briefe wieder gelefen, fchrieb er ihm einmal, und aufs neue 
gefehen, daß es nicht gut und heilfam fein möchte, auf jede Deiner 
aus Geift und Herz fommenden Mittheilungen immer im einzelnen 
zu antworten und alsbald in Deine Anſichten, in.Dein Treiben und 
Thun hinein zu reden. Bei einem regen und ftrebenden Jüngling 
wiegen Wochen und Monate dem Inhalte nach Jahre des älteren 
Mannes auf, es wogt in ihm auf- und niederwärtd, und eben das 
ift recht. Eines berichtigt da8 andere, und zwar durch eigene Arbeit 
und durch den eigenen guten Willen, den, wenn er ernft ift, Gott 
mit Kraft fegnet. Das ift beffer und richtiger, ald wenn ein älterer 
Mann mit feinen Erfahrungen dazwifchen redet, Die Doch immu 
fremde find, auch wenn es der Vater ift, der fie gemacht hat. — Ich 
kann und ich Darf mich nicht, heißt e8 ein arideredmal, auf die Ange 
legenheiten einlaffen, die Du verhandelſt. Der durch das Leben ge 
reifte Mann, dem feine Meberzeugung nicht auf dem Wege der Bif- 
fenfhaft wurde, darf dem jungen Theologen, der im Anfange feiner 
Studien fteht, nicht Grenzpfähle fteden wollen, ohne Gefahr zu lau 
‚fen, ſich zu vergreifen; wirft Du älter und ich lebe noch, fo werden 
wir und ſchon finden. „Meinem Bedürfnis,“ fehreibft Du, „genügt 
der Gott nicht, den jene verehrten, der meinige muß ein folcher fein, 
zu dem ich vertrauendvoll beten. kann, den ich bitten kann, in ber 
Hoffnung, er werde fih durch meine Demuth bewegen laffen, mir 
Kraft und Hilfe zu verleihen.” Das find Deine eigenen Worte, an 
diefe ‚halte Dich, mein lieber Sohn. — Ausführlich legte Perthes 
in. einem anderen Briefe feine Anficht über den Gegenfaß zwifchen der 
Jugend und dem Alter dem Sohne dar, Zwiſchen feiner Jugend und 
feinem Alter, fchrieb er, ift in jedem Menfchen eine Scheidewand ge 
zogen, die er nicht früher bemerkt, bis er fie überfehritten hat. In 
den mittleren männlichen Jahren gehen die Uebergänge gewöhnlich 
in den nothwendigen und heilfamen Mühen, Sorgen und Beitrebun- 
gen des Berufs und in ‚äußerer Thätigkeit unbemerkt vorüber. Auf 


313 


einmal findet man fi auf. einer Höhe und fieht viel Buntes und 
Lebendiges unter und hinter fih. Das ift ein entfcheidender Augen⸗ 
blick für die Ceele ded Mannes; denn nun entfteht für ihn die Frage, 
ob er fich ganz zu Gott wenden und auf dad Spiel der Welt hinter 
fih nicht mit Geringſchätzung — denn ed war feine Schule —, aber 
mit Ruhe hinabfehen, oder ob er fi) wieder vermengen will mit dem 
Mannigfaltigen,. was ihm nun ein Wuft werden und ihn zum Sün- 
der oder wenigften® zum Geden machen muß. Wenn ein Mann feine 
Lehr» und Wanderjahre ordentlich vollendet hat und noch in voller 
Kraft dafteht und fich fragt: Wie, wozu das alles? fo kann er nicht 
anders als antworten: Es ift alles eitel und vergänglich hienieden; 
wahrer Frieden und wahre Freude ift nur im-Leben mit Gott. Was 
ich wollte, was id that, war vielerlei, vielleicht auch viel; aber 
welche Früchte in mir und außer mir erwuchfen aus den Blüten, die 
jo herrlich in dem Haupte und in dem Herzen des Jünglings prang- 
ten? „Die Ideale find entſchwunden,“ aber nicht die Kraft; darum 
Demuth angezogen und „vorwärts mit der. Armuth des Geifted im 
Leiden und im Thun. Das ift:die wahre Meifterfchaft. Falſch aber 
ift es, ohne Lehr» und Wanderjahre ein Meifter fein zu wollen, und 
darin fehlen viele Jünglinge unferer Zeit, auch gar manche, die gu- 
ten Willen haben. Es gibt jurige Leute, die fi) eine Einfachheit, eine 
Gradheit, eine derbe Tüchtigfeit anziehen, welche faft ausfieht wie - 
Ruhe und Würde des Alters; fie härten den Körper ab, find ftreng 
in Sitten, find Stoifer neuer Manier. Es iſt diefer Zuftand eine 
Unnatur der Jugend. Wenige diefer Art werden ihr Inneres retten; 
ihre Verachtung ‘der Welt und des Reichthums menfchlichen Lebens 
. wird fehroffer Egoismus. oder. in ‚hohe Phrafen eingewickelte Leerheit 
oder au, je nad) der Stärke des Charafterd und der Stärke des 
Willend, unmenfchliche.Tyrannei und Verbrechen. Es gibt aber auch 
unter den frühalten Jünglingen andere, die aus Misverſtändnis reli- 
giöfen Gefühld einen Sprung zur. Meifterfchaft machen wollen, in 

‚dem fie ohne weiteres und ohne Kampf mit der inneren und äußeren 
Welt dad Gewehr ftreden; ſchon in. der Jugend meinen fie die Blu- 
men und Blüten abftreifen zu können, indem fie vor der Zeit aud- 
rufen: Es ift alleö eitel, wir wollen und in Demuth dem Herrn erges. 


314 


ben. Unter ihnen find wenige der Augerwählten, die Gott ohne den 
natürlihen Gang, der und hier verordnet ift, unmittelbar zu Berfün- 
digern feiner Ehre beftimmt hat. Sehr viele dagegen haben erft in 
fpäteren Sahren und dann viel fchwerer und gefährlicher den Kampf 
mit ſich und der Welt zu beftehen; andere verdummen in leerem For—⸗ 
melwefen, und manche werden zur fchändlichiten Heuchelei geführt. 
Beide von mir bezeichneten Arten der frühalten Sünglinge gehören 
befonderd der neueften Zeit an; beide haben oft von der chrijtlichen 
Religion gewiſſe Redensarten geborgt, in denen fie fich gefallen. Ich 
wünfche nicht, lieber Matthias, dag Du dieje meine Worte auf be 
ftimmte einzelne Berfonen anwenden mögeft; dad Gefagte gilt nur der 
Gattung; in jedem einzelnen follen wir annehmen, es ftehe gut mit 
ihm und nur die Influenz der Zeit habe ihm die Farbe gegeben. 4 
berrfcht jegt eine wunderliche Vermifhung von Jugend und Alter. 
Zum Schaden beider pfufcht das eine in das andere hinein, und hu 
die in Wahrheit dennoch vorhandene Scheidung ſcharf in® Auge zu 
faffen, feheint mir für den Geiftlichen und Lehrer fehr wichtig; dem 
die Kraft ded Geifted und der Liebe Jeſu Chrifti will für jedes befon- 
dere Berhältnid eine befondere Anwendung haben. Das grade ift es, 
was in der Apoftelgeihichte Dich ergreift, daß Paulus für jeden 
Mann und an jeder Stelle das eben richtigfte Rechte trifft. Welche 
Misverftändniffe und welche traurige Irrwege mögen doch Prediger 
oftmals unfchuldiger Weife veranlaßt haben, wenn fie von der Kar 
zel alles für alle aus der Bibel fo im allgemeinen hinpredigen ! 
Obſchon Perthes faft immer die Befprehung und Berathung der 
theologischen Bedenken und religiöfen Zweifel vermied, welche den 
Süngling in diefem oder jenem Monate beunruhigten, fo trug er doch 
kein Bedenken, oft und entfchieden auf die Stellung und Haltung hin- 
zuweiſen, welche ein junger Theologe, der es ernft mit ſich und der 
Wahrheit meine, einzunehmen habe. Du fragft, fehrieb er einmal, 
ob ich gegen Deinen Eintritt in die Burfchenfchaft fe. Da die Uni. 
verjitätöbehörden nicht gegen diefelbe find und ich die befonderen Tü- 
binger Verhältniſſe, auf die alled anlommt, nicht kenne, fo könnte 
ich den Entſchluß allenfalld Deiner Einfiht überlajlen; aber bedente 
den Aufwand an Zeit, die nicht Dir allein, fondern auch Deinem 





315 


Berufe gehört, und verfprih Dir nicht zu viel von dem Einfluffe auf 
andere, den Ihr Befferen in jugendlihem Enthufiagmus hoffe. Auf 
Menfchen wirft man nur, wenn man begeiftert oder recht innig bes 
fangen if. So ein Menfch wie Plehwe, dem Gott helfen wolle, der 
wirkt, aber Gott bewahre Dich vor einen foldhen Sein. Du bift 
viel zu nachdenflih, unterfuhend und betrachtend, um auf junge 
Leute, die der Regel nad finnlichen Temperamentes find, jiegende 
Wirkung haben zu können; wer fie beftunmen will, muß mit Stiefel 
und Sporn in fie hinein reiten, muß ohne Bedenken in Waffer und 
Sumpf zu ihnen fpringen und dann der Dann fein, nicht nur fich 
jelbft zu retten, fondern auch die andern mit herauszuziehen. Das 
aber laſſen ſich fi von niemand gefallen, der fich ihnen nicht vorher 
auf ihrem eigenen Felde überlegen gezeigt hat. Zudem bift Du in 
der Durchführung deſſen, was Du ald wahr und recht erfannt haft, 
leicht etwa ſchroff und hart und haft ein higiged Temperament und 
wirft dadurch die Gefahren für Dich vermehren. - Doch ich bin, wie 
- Du weißt, nicht von der Art, irgend jemand, und fei ed auch mein 
eigned Kind, deshalb von einem Wege, wenn er nur fonft zum Gu⸗ 
ten führt, abzuhalten, weil auf demfelben Gefahren zu treffen find. 
Aber enticheidend ift mir ein andered: in Deinem eigenen Innern 
wirſt Du, ſobald Du Dich in Studentenverbindungen hinein begibſt, 
einen nicht zu löſenden Zwieſpalt hervorrufen; denn die Pflicht vor 
Gott iſt nicht durch eine ſcharfe grade Linie von den Forderungen der 
conventionellen Ehre geſchieden; die letztere hat auch ihr Recht. Wer 
auf das Eis tanzen geht, muß auf das Fallen rechnen. Ich kann 
daher nicht anders als gegen Deinen Eintritt ſein. 

Häufiger indeſſen, als die verhältnismäßig äußeren Angelegen⸗ 
heiten dieſer Art, brachte Perthes die Geſamtſtellung des Sohnes zu 
dem Berufe, auf den er ſich vorbereitete, zur Sprache. Der Unter⸗ 
ſchied, ſchrieb er einmal, den Du zwiſchen dem eigentlichen Gelehrten 
machſt und dem, der Gelehrſamkeit nur als Mittel zum Zweck erwirbt, 
ſcheint mir zu ſcharf. In der gegenwärtigen Zeit gibt es wohl nur 
wenige Männer, welche Gelehrfamkeit als Zweck betrachten und ſich 
in der Wiſſenſchaft als Wiſſenſchaft verlieren ; auch der Lehrer behan⸗ 
beit die Wiffenfchaft zugleich ala ein Mittel, um andere zu bilden und 


316 
auf andere zu wirken. Eben fo gewiß aber ift ed, daß der, welder 
einen praftifchen Beruf fich gewählt hat, in unferer Zeit nie zu viel 
an Gelehrfamteit und Wiffenfhaft fi erworben haben fann. Dir 
vor alleın fann, wenn Du den Weg,.auf den Di Deine Richtung 
und Dein Geift treibt,. fortgehft, nur die gründlichfte Gelehrſamkeit 
helfen und Did, vor Abwegen bewahren. Verſtehe mich aber vet. 
Der Kreis der Wiffenfhaften, in denen der Mann zur gründlichen 
Gelehrjamteit gelangen fann, muß fehr ausgewählt und befchränft 
fein. Der gegenwärtige Stand der Wiſſenſchaft ift jo ausgedehnt, 
dag, wer nicht fi) Schranken zu ſetzen weiß, in allem ungründlid 
wird. Für einen Theologen fcheint mir die erſte Vorbedingung, daf 
er des Griechifchen und Hebräifchen fehr mädtig ift, das Lateinijde 
verfteht fih von felbft. Iſt ein junger Mann in den Sprachen de 
Grundtertes feft geworden, fo hat er für Forſchung und Unterfucun 
während feine® ganzen fpäteren Leben? den Ausgangspunkt gemwor- 
nen. Beftehe Dein Tagemwerf, mein lieber Sohn, fudiere planmi 
Big und getreu- und fammle gründliched Material, dann wirft Du 
künftig ſchon unterfcheiden lernen, was ſich erforfchen läßt und wai 
nicht. — Du bift, heißt es in einem anderen Briefe, mit der lieber 
zeugung von der Trüglichkeit menſchlichen Forſchens und Denen? 
nicht befriedigt und willft auch nicht den Nothfprung vom Denken 
zum Glauben an die Offenbarung machen, fondern willft auf wife 


ſchaftlichem Wege finden, da die Offenbarung eine wirkliche und 


wahre fei. Ganz recht. Nun aber haben vor Dir feit hunderten von 
Fahren Schriftforfcher und Theologen denfelben Weg der Wiſſenſchaft 
betreten und vollendet. Was Menfhen aus der Geſchichte Chriſt 
und aus der Schrift haben erforfchen und mittheilen können, iſt ge 
wiß in den Kirchenvätern niedergelegt. Haben fie und haben alk, 
die auf. fie folgten, feine Sicherheit gefunden , Fein wiſſenſchaftlich zu 
ſammenhängendes Syſtem aufftellen fönnen, welches Ihr jüngeren 
Männer fo lange ala Autorität hinnehmen könnt, bis Ihr felbft in 
| der Wiffenfchaft fo weit ſeid, um.dasfelde aus eigener Erkenntnis zu 
finden? Könnt Ihr feine Autorität finden an Euren Lehrern, die 
Euch fagen: Das wird in der Schrift gefunden, das fanden unſere 
Borgänger und das werdet ihr auch finden, wenn Eure Studien in 





317 


Sprache und Geſchichte weit genug vorgefchritten find? Es wäre doch 
wirklich ſchlimm, wenn die ſeit der Reformation fo hoch geftiegene 
Wiſſenſchaft nicht einmal biefes Gewicht für den Anfänger in der 
Wiſſenſchaft haben könnte. 

Als im weiteren Verlauf ſeines Studiums der Sohn ſich mehr. 
und mehr. von der Philofophie angezogen fühlte, fchrieb ihm Perthes: 
Da Du nun doch, wie ich fehe, in Deinem wiſſenſchaftlichen Gange 
auf philofophifche Wege angewieſen bift, fo möchte ich wohl, dag Du 
einen tüchtigen Denker, der fromm ift und Theologe, möge fein Bes 
kenntnis immerhin ein anderes fein ald das meinige, befragteft, wie 
Du Dih am ficheriten einzurichten habeſt. Sollte nicht Profeſſor 
Steudel Dir einmal eine Stunde ſchenken? Meiner Anfiht nach mußt 
Du jept die Theologie nur dogmatiſch und hiſtoriſch betreiben, ihre 
pbilofophifche Begründung vor der Hand auf ſich beruhen lafjen. 
Zugleih aber würde ih ganz ohne Beziehung: auf hriftlihe Wahr- 
heit irgend ein philofophifches Syftem mit größtem Ernft und größ- 
ter Strenge. durchfludieren und mir eine Ueberſicht über die Gefchichte 
der philojophifchen Syſteme verfchaffen. Iſt das gefchehen, dann 
greife felbft an, wirf das durchſtudierte Syftem meinetwegen ‚um, 
faſſe nach einem andern und fahre damit fort, bis Du etwas halt- 
bares findet. Hüteft Du Did nur, in irgend einem Syſtem Annah⸗ 
men und Gedanken gelten zu laſſen, die nicht aus ihm ſelbſt entfprin- 
gen; verachteft Du nur die Tafchenfpielerei, die dad, was wir allein 
dur die Offenbarung wiſſen, dem philofophifchen Syſtem al® deren 
eigened Erzeugnis unterfchiebt: fo wirft Du, davon bin ich überzeugt, 
bald genug bei dem Syftem angelangt fein, fein philofophifches Syſtem 
gelten zu laffen, und die Offenbarung wird Deine Zuflucht werden, 
wenn Dein eigenes innere? religiöfed Bedürfnis nach Hilfe verlangt. 
Ald Hamann den dritten Theil von: Jacobi's Werken erhalten hatte, 
fhrieb er an feinen alten Freund: In Deinem neuen Buche habe ih 


vieled gelefen und wieder gelefen mit innigem Bergnügen und Erhe-— 


bung, doch auch vieled hat mich niedergedrüdt und tief gebeugt. Was 
ift e8 doch für ein elend jämmerliche® Ding mit unferem jebigen Zu- 
ftande, auch da, wo er am Löftlichften iſt, wenn Männer mit dem rein- 
ften, wahrhafteften Sinne, mit dem größten Echarfjinne begabt, nad) 


318 


Sahre langen Forfchen doch über die wichtigften Dinge nicht? heraus- 
bringen fönnen, was fie wirklih und bleibend beruhigt, was fie, 
wenn es ihnen auch gelingt, die eigenen Zweifel etwas zu befchmwidti- 
gen, auch andern, gleichfall® redlichen Forſchern fo mitzutheilen ver- 
moͤchten, daß diefe gleiche Weberzeugung und gleihe Beruhigung er- 
hielten! Daher diefer ewige Misverftand unter den Denfern. Ih 
geftehe, diefer Gedanke hat mich bei Deinem Werke einigemal ergrif- 
fen und mit Trauer erfüllt. — Jacobi erwiederte: In Deine Klagen, 
lieber alter Freund, über die Unzulänglichfeit alles unferen Philoie 
phierens ftimme ich leider von Herzen mit Dir ein, weiß aber doch 
feinen andern Rath, als nur immer eifriger fort zu philofophieren ode 
katholiſch zu werden. Es gibt fein Drittes, jo wie ed fein Drittes gibt 
zwifchen Chriftentpum und Heidenthum, das ift zwifchen Naturver 
götterung und Sofratifch- Platonifhem Anthropomorphismus. — Ah 
Jacobi mir diefe Briefftellen, um fie dann an Reinhold zu fchide, 
mitteilte, fügte er für letzteren hinzu: Du fiehft, daß ich immer nad 
derjelbe bin. Durchaus ein Heide mit dem Verftande, mit dem gar 
zen Gemüthe ein Chrift, fchwimme ich zmifchen zwei Waſſern, die 
fi mir nicht vereinigen wollen, fo daß fie mich gemeinfchaftlich tris 
gen, fondern wie das eine mich unaufhörlich hebt, fo verfentt mid 
unaufhörlich das andere. — Hier haft Du, lieber Matthias, Ge 
währdmänner für dad, was ih Dir in Hinfiht der Philofophie an- 
deutete. Die Steptif allein thut es freilich nit. Der ausgebildetke 
Skeptiker war wohl unfer alter Echönborn; er war aus Einem St 
de, ihm rauſchten nicht zwei Waſſer; auch geftattete er nicht einem 
jeden feine Wahrheit, denn fie hätte ihm doch eine Wahrheit fein 
müffen; ihm als Denker war feine Wahrheit. Und dad — wie wa— 
ren die legten Tage des redlichen, hohen, liebenden Mannes traurig, | 
fhredlih! Mein lieber Sohn, lied oft die Briefe Deiner Mutter. | 
fammle Did an ihrer Frömmiigfeit, - bewahre Dein Herz nur rein, 
damit Dir da8 Gebet nicht fremd werde — dann magft Du frei for- 
ſchen; Gebet und ein gründliches Studium wird Dir den Kampf dei | 
Zweifeld überftehen helfen. | 

Caroline hatte den Entfhluß des Sohnes, fih dem Studium | 
der Theologie zuzumwenden, immer als einen fehr großen und ernſten 





319 


betrachtet. Es ift, fchrieb fie einmal, ein heißes Eijen, welche? Mat- 
thias anfaßt; aber thut er ed auf die rechte Weile, fo handhabt er 
auch eine große Sache und Gott ift mit ihm. — Als der Sohn im 
April Hamburg verlaffen und nach dem damals fehr fernen Tübingen 
gegangen war, trat freilich für die Mutter zunächft der Gedanke an 
den Ernſt des Berufes hinter das Gefühl der Trennung von dem 
Sohne zurüd. Wie fehwer ift e8 mir geworden, fchrieb fie unmittel« 
bar nach feiner Abreife, Matthias loszulaſſen und in die Welt zu 
ſchicken, ohne ein menfchliches Herz und Auge zu willen, welches fi 
feiner annimmt! Biel Arbeit habe ih in mir und mit mir gehabt, 
aber nun habe ic) das Gewehr geftredt und bin zur Ruhe gekom⸗ 
men. — Ich habe, wenn ich an Dich denke, fehrieb fie um dieſelbe 
Zeit dem Sohne, immer ein betrübendes Gefühl von Deinem Allein- 
fein und Entferntfein. Ih weiß wohl und bin defjen gewiß, daß 
Du Di in großen und ernfthaften Sachen an Gott hältft und ung 
entbehren fannft; aber es gibt Doch der Stunden viele, in denen El— 
ternliebe, Nähe und Mittheilung ein großes Glück und Troft ifl. Das 
fühle ich an meinem eigenen Herzen. — So eben fommt, heißt ed 
einige Tage fpäter, Dein Brief. Ich bin ganz durchdrungen von Freude 
und Dank gegen Gott, der unjern Wunſch und Willen, Dich in gu- 
ten Umgebungen zu haben, fo wunderbar zu fegnen und zu erhören 
fheint. Du weißt aber auch nicht, Tieber Matthiad, wie ganz und 
gar ih Dich unferem Gott übergeben habe, damit er Dich führen, 
leiten und für Dich forgen möchte in kleinen und großen Dingen. 
Gewiß, ich fühle e8 in feftem, lebendigem Glauben, daß Du in fei- 
nen Händen bift, und bin feit Deiner Abreife ruhiger und getrofter, 
als ich mir habe vorftellen fünnen, wenn aud auf Augenblide die 
Sehnfuht und das Mutterherz die Oberhand erhält. Auch aus Go— 
tha kommen Briefe, welche die beiten Nachrichten won den lieben Reis 
fenden bringen. ch weiß mir nicht zu helfen in dem Glüd, das 
Gott und von allen Seiten befchert hat, und muß meine Zuflucht zu 
Freylingshauſen's Gefangbuch nehmen und aus Herzendgrunde fagen: 
D daß ich taufend Zungen hätte — — —. Wenn id) ded Morgens, 
heißt ed ein anderedmal, allein in der runden Etube auf dem Sopha 
fipe, ehe die Kinder herunter gefommen find, und Dein Bater ſchon 


320 





an die Arbeit gegangen ift, danke, wünfche und hoffe ich für Did 
bon ganzem Herzen und ſehe Dein Bild an, dad Du mir Weihnad- 
ten gefchentt haft. Es bringt Dich mir oft recht lebendig vor die Seele 
und manchmal fommt e8 mir vor, ald merkteft Du, was in mit ar- 
beitet, und als fäheft Du mich wieder an und fagteft j ja zu dem, was 
ich wünfche. Fang Du. alle Morgen und alle Abend von neuem an 
im Wollen und im VBollbringen, damit wir Dich eben fo gerne wie 
derfehren fehen, wie wir Dich ungerne haben ziehen fehen! Laß uns 
nahe bei Dir bleiben und fcheuche und nicht zurüd durch Gedanken, 
Worte und Werke! — Deine Großmutter in Wandsbeck wird Freude 
haben, fchrieb Caroline bald darauf, wenn fie aus Deinem Briefe 
fieht, daß die Leute Deinen Großvater und Did in-ihm lieb haben 
Meberhaupt, lieber Matthias, wie vieled haft Du doch und wie vie 
guted wird Dir zu Theil, was fo manche andere entbehren! Bi 
viel größere Forderungen wird aber auch Gott und wirft Du fett 
an Did und an die Erfüllung Deined Berufes machen müjfen. 

Die in diefen Worten ſich ausſprechende ernfte Auffaſſung der 
Pflichten, welche der Sohn durch die Wahl feines Berufed übernommen 
hatte, fehrte in vielen Briefen Carolinens wieder. Mir ift es gam 
deutlich und gewiß, fehrieb fie einmal, daß ed derer, die nicht befrie 
digt find, die fuchen und nad) Rath und Troft fich fehnen, jept mehr 
gibt auf der Welt, ald vor zehn und fünfzehn Jahren, und es iftein 
großer und [höner. Beruf, auf die rechte Weife tröften und rathen 
und ein Wegweiſer für ſo viele ſein zu wollen, die den Weg nicht 
finden können oder wollen; aber leicht iſt er nicht. Für ſich ſelbſt und 
in feinem eigenen Herzen fommt man, weil man der Worte nidt 
braucht, über manches fort, was, wenn es für andere. auögefpro 
hen werben foll, recht jpwer werden muß, und Stunden bleiben 
nicht aus, in denen guter Rath theuer zu fein ſcheint und ‚nichts hel⸗ 
fen kann, als an die rechte Thüre zu Mopfen, um Hilfe zu erhal⸗ 
ten. — Schon wie Du noch bei uns warſt, ſchrieb Caroline in einem 
anderen Briefe, wußte ih wohl, daß Du manche Dinge in und au— 
Ber Dir fünftig nicht ganz fo anfehen würdeft wie wir, aber ich wollte 
damals nod nicht mit Dir davon reden, weil ich hoffte und glaubte, 
daß ed Dir ernftlih um die Wahrheit zu thun fei, und weil ich Gott 





_ 321 


vertraute, daß er zur rechten Zeit auch würde die rechte Cinficht und 
Anfiht fehenfen. Es kann au hierin fein Menſch dem andern viel 
geben; jeder muß von neuem mit Gott fuchen und finden. Ich kann 
ed mit Wahrheit fagen, daß ich viele Jahre mit mir in Noth und 
Merlegenheit geweſen und auch jet noch nicht aus Noth und Verle- 
genheit heraus bin. Ach habe gefunden, daß es beifer ift, nicht zu 
viel über und an ſich, fondern lieber an Gott zu denken und fi nad 
ihm mit dem Herzen zu fehnen Tag und Nacht, und wenn wir gefal- 
len find, fchnell aufzuftehen und im Vertrauen auf Gott immer von 
neuem anzufangen. So fommt man allmählich weiter und, will Gott, 
zu einem ruhigen und feligen Ende. Die Fürſtin Sallisin fagte mir 
einmal recht aus dem Innerften der Eeele und im tiefen Gefühle 
ihrer Ohnmacht: Aber ich will doch wollen. Dieſes Wort fällt mir 
oftmals ein und richtet mich auf in verzagten Augenbliden. Man 
wird freier und fröhlicher, wenn man mehr in Eumma als im ein- 
zelnen mit fih umgeht. Erhält man fich jeden guten Gedanken ge- 
genwärtig, den man einmal gehabt bat, fo fann man leicht mehr, 
al® wahr ift, von fich halten, und fo auch wirklich umgefehrt. — Taf 
Du ein Gefühl in Dir haft, fehrieb Karoline ein anderedmal, al® 
fönnteft Du noch nicht mit fo gläubigem Herzen und Gemüth ein 
Gebet zu Gott beten, mie Du gerne wollteft, beunruhigt mich nicht, 
- da ih aus Erfahrung weiß, mie der Menſch ein mankendes Rohr 
ift, dad vom Winde hin und her getrieben wid. Wenn man ſich 
nur von Grund des Herzend nad) dem lebendigen Glauben jehnt, fo 
hilft Gott und immer weiter, und endlich wird einmal alle Fehd' ein 
Ende haben; daß Dir aber ſchon das glüdfelige Ende fo nahe fein 
ſollte, ift etwas viel verlangt. Sokrates hat gemeint, vor dem vier- 
zigften Jahre könnte der Menfch nicht zur Ruhe im Innern kommen, 
und Confucius hat das Ziel noch viel weiter hinausgeſetzt. Doc ich 
habe Unrecht, Dir Sokrates und Confucius zu nennen, da wir Chri— 
ſten find; fiehe es alfo als ungefagt an. Mein Troft ift immer der 
Mann im Evangelium, zu dem unfer Herr Chriſtus fagte, daß er 
glauben müſſe, um Hilfe zu erhalten, und der darauf antwortete: 
Sch glaube, lieber Herr; hilf meinem Unglauben. Mehr können wir 


nicht, und wo wir nicht fönnen, hilft Gott. Auch kann es im Ber- 
Perthes“ Lchen, 11. 4. Aufl. 21 


322 





fand und Kopf viel Unruhe und Unglauben geben und das Herz be- 
hält doch dabei feinen feften Punkt. Gott ift die .Liebe, und wer in 
der Liebe bleibt, der bleibt in Gott. Nicht? weiß ich gewiſſer, fo 
unvolltommen wir au hier nur noch lieb haben fönnen. — So 
großes Gewicht Caroline auch auf den feſten Punft im Herzen legte, 
fo war fie doch weit davon entfernt, ein Ruhebett für den Sohn 
daraus zu machen und Mühen und Arbeiten ihm dadurch erfparen zu 
wollen. Sieber Matthias, fchrieb fie einmal, gemöhne Dich zur am 
geftrengten Arbeit und verfäume nicht ohne Noth. Nicht allein dei 
nicht gelernt haben, fondern auch die Gewöhnung, nicht zu lemen, 
hat große und bittere Folgen. Schreibe mir doh, ob Du tüdhty 
fleißig bift, ich münfche und hoffe es. Auch möchte ich recht m 
einzelnen willen, wie Du Deine Etudien eingerihtet haft. Jo 
glaube, daß es einem jungen Manne mit dem ernfteften und befim 
Willen unmöglich ift, dad Was und Wie in feinen Studien nt 
beurtheilen und einfehen zu fönnen. : Mir würdeft Du eine je 
große Sorge nehmen, wenn Du Dich hierin einem verftändigen gr 
lehrten und älteren Manne anvertrauteft, der Dir Baterftelle verträt 
und Deinen wiflenfchaftlihen Bang leitete. Ohne weiter etwas de 
von zu verftehen, weiß ich doch, daß Erfahrung den Meiſter madt. 
Du wirft, lieber Matthias, wahrfcheinlid über diefen Rath Taden; 
das magft Du auch gerne thun, aber nimm ihn an und fehreib mir 
Deine Meinung. Ich wollte Dich gar zu gerne auf dem graden und 
nächſten Wege auch zum Willen haben. — Du fannit denken, fehrieb 
fie ihm bei Weberfendung einiger theologifcher Streitfchriften, was 
das für pro und conira verurfacht bat. Es ift fehr betrübt und wi⸗ 
derlih, daß die heiligften und wichtigften Religiondwahrheiten ale 
Geſpräch und Zeitvertreib verhandelt werden; doch ift es auch wieder 
gut, weil die Menfchen fih fragen müffen, auf welcher Seite fie fir 
ben. Ich glaube wie Du, daß Du, um es ehrlich mit Deiner Wiſ⸗ 
fenfchaft zu meinen, und um Deiner künftigen Gemeinde und Deine 
eigenen Kopfes und Berftandes willen aus allen Kräften forfchen, 
denken und lernen mußt, damit Du auf diefem Wege zu der feften Er- 
kenntnis und zu dem hellen Bewußtſein fommft, daß in Chriſto verbor- 
gen find alle Schätze der Weisheit; aber ich hoffe es auch zu Golt, 


323 


daß, wenn es Dir mit Deinem Ringen, Forſchen und Streben rei- 
ner und wahrer Ernft ift, Gott Dir in der Tiefe Deines Herzen ein 
Sehnen, das jened alled nicht bedarf, und einen gläubigen feften 
Punkt erhalten wird, an dein Gott fein Gnadenwerf an und in Dir 
fortfeßt, während Dein Verftand in Arbeit und Unruhen, im Fallen 
und Aufftehen begriffen if. — Große Freude haft Du mir mit 
Deinem lebten Briefe gemacht, antwortete Caroline, als ihr Sohn 
ihr von dem ernften und bedeutenden Freundesfreife gefchrieben hatte, 
in welchem er fi befand. Wenn auch manches in Eurem Leben nur 
noch Sugendwärme und Jugendinnigfeit ift und Eure beften Augen⸗ 
blicke aud) von anderen weniger guten unterbrochen werden, fo ift 
doch die Summa Eurer Richtung, Eurer Hoffnungen und Eures 
Zreibend wahr und gut und gibt und Urfache zum Dank dafür, dab 
Du in diefen Kreid gekommen bift. Befonderd möchte ich Dir gön- 
nen, daß Du noch ein Stüd Weges mit Deinem Freunde Hofader gehen 
fönnteft, der der Mann zu fein fcheint, welcher mit der Zeit auf die 
rechte Weife zu rathen und zu tröften lernen wird. — Schreibe mir 
aber doch auch, heißt es in einem anderen Briefe, wie Du gemöhn- 
lich die Sonntage zubringft und ob Du einen Prediger gefunden haft, 
der die Wahrheit jagt ohne viel menfchlihe Zuthat und mit dem in- 
neren Gefühl, daß er an dem, was er fagt, eben fo nahe intereffiert 
ift, als feine Zuhörer. Auch laß e8 Dir recht Ernft fein mit dem Stu⸗ 
dium der Logik; der Mangel hierin fchadet gar zu viel. Vorigen 
Sonntag habe ich eine Predigt gehört, in der viel tüchtiger Wille und 
viel Gutes im einzelnen war, aber alles fo Durcheinander, daß man 
mit feinen Gedanken und Empfindungen hin und. her gezerrt ward. 
Ueberhaupt gelernt und gedacht muß werden, ehe man lehren und 
fprehen fann. Ich danfe Gott, daß Du Lehrer haft, die Wilten 
und Refpect vor dem Glauben in fich vereinigen. 

Wie an dem inneren und äußeren Arbeiten ihre® Sohnes nabın 
Caroline auch an den Freuden, die ihm das Univerfitätdleben darbot, 
lebendigen Antheil. Dein Aufere® Leben ift etwas fehr einförmig, 
fchrieb fie einmal, wenn Du nicht die Ausnahmen für Dich behälft; 
aber auch) diefe gönne ich Dir, wenn fie in der Ordnung find und mit 
der Ordnung beftehen fönnen. — Durd die Erzählung Deiner Reife 

* 


324 


haft Du uns, fehrieb fie ein anderedmal, eine große Freude gemacht. 
Thue die Augen weit auf, fieh und laß die Eindrüde bleibend in Dir 
fein, damit Du zu zehren haft, wenn auch Du ind Jod) must. Doch 
wenn Du Dein Ziel recht lebendig ind Auge und Herz fafleft, ſo 
Tann und wird Dir Dein Joch fanfter und leichter werden als Dei 
nem Bater das feinige, und auch ihn läßt der liebe Gott nicht leer 
auögehen; auch er hat feinen Wirkungskreis, in welchem Gott fei- 
nen Willen und fein Beftreben fegnet. Davon bin ich gewiß. — Du 
tommt eben Dein Brief aud Zürich, fihrieb fie bei einem andere 
Ausfluge des Sohnes, und fagt und, daß Du gefund und im lieben | 
Schweizerlande bift, wohin mein Herz fich ſchon fo lange fehnt. I 
babe mir Karten geben laſſen und alled fo genau mir audgerednd 
und befehen, wie mir möglich) war, und begleite Dich von Orty 
Ort. Kein Menſch kann Dir den Genuß mehr gönnen, ala ich, Ger 
tes Werke ohne menſchliche Zuthat zu fehauen und Dich dabei u 
Deines eigenen Herzen? Tiefen zu verſenken und anzubeten. Liebe 
Matthias, ih muß Dich doch einmal wieder daran erinnern, mi 
viel Guted Gott Dir gibt und wie viel Gelegenheit, Seiner wahre 
nehmen. Ich wünfche von Herzen, daß er ed Dir mag gedeihen laſſe 
zu einer bleibenden Freudenquelle, aus der Du fhöpfen fannft, wen 
es Noth thut im Leben. | 

Bid hinein in die kleinſten Sorgen der Studentenwirthſchaf 
blidte forgfam dad Mutterauge, überwachte den Beitand von B% 
he und Kleidern und warnte bedenflih vor Angewöhnungen, die 
fern vom elterlihen Haufe leicht fih Raum verfchaffen konnten 
Du haft mir lange nichts von Dir felbft, heißt e8 einmal, gefhnie 
ben und von Deinem Thun und Treiben, innerlich und äußerlid, | 
damit ih Dich mir recht lebendig vorftellen fann. Sollte ein folder 
Brief von Dir nit fhon auf dem Wege fein, fo ſage mir bald rebt 
umftändlich, wie Du zu Muthe bift, was und wie Du arbeiteft, ob 
Du ſchon -Kortfehritte merkſt; au von Deinen Freunden, Deine 
- Gemüthdergößungen, von Deinem Stuhl und Tiſch, Kleidern und 
Schuhen, kurz von allem, was zur Nahrung und Nothdurft ded %i- | 
bed und Leben? gehört. Mich verlangt gar ſehnlich danach. — Laj 
ed Dir, fchrieb fie bald darauf, doch rechter Ernft fein, Deine Stuk | 





325 


rein und fauber zu halten und die Fenſter alle Tage zu öffnen, und 
dann, lieber Matthiad, thue mir zu Liebe, daß Du ded Morgen? 
nicht einige Stunden halb angezogen mit niedergetretenen Schuhen 
berumfchlingelft; es ift mir gar zu widerlich; zieh Dich doch gleich 
friſch und fröhlih und fertig an. 

Während Caroline fih in dad ganze Sein und Treiben des ent- 
fernten Sohnes hinein zu ſetzen wußte, um im großen und Meinen 
mit ihm fortzuleben, gab fie ihm zugleich durch ihre Briefe die Mög- 
lichkeit, auch in der Ferne dem elterlichen Haufe nahe zu bleiben, in» 
dem fie ihn in voller Kenntnis von den Meinen Begebenheiten erhielt, 
die ein Yamilienleben erfüllen; namentlich die Fefttage irgend einer 
Art gaben Gelegenheit zu ſolchen Mittheilungen. Wir. fisen wirklich, 
wie Du vorhergefehen haft, faft in Kränzen begraben bei dein Früh- 
ftüd, fchrieb Caroline am Morgen ihred Hochzeittage®, den 2. Aus 
guft 1820; die Kinder rund um und her, alle mit Luft und Freude 
in Herz und Augen. In diefem Augenblide haben wir Dein lieb Lied- 
lein und Deinen Brief erhalten, gelefen und und erfreut und Gott 
| gedankt aus Herzendgrund. Mein Herz ift befonderd durch Deinen 
Hochzeitskranz bewegt; denn wenn Du nicht mein Tindliches Kind 
wäreft, fo bätteft Du ihn uns nicht gefchidt. Necht fatt gemeint 
habe ich mich wohl, ich glaube aber gewiß mehr aus Freuden, . daß 
ich Dich habe, als aus Leid, dag ich Dich nicht Habe. Mein ganzes 
Herz dankt Dir für Dein Liebhaben und ich bitte Gott, daß er Dir 
Dein Wollen ftärken und erhalten und das Bollbringen immer mehr 
. geben möge. Wir müſſen in jeder Minute wollen und wieder wol⸗ 
fen, dann vollbringen wir ſchon etwas, oftmald un? felbft unbemußt, 
und diefed Unbewußte ift oft das Befte. Ich wenigſtens fürchte nicht? 
fo fehr, als daß ich mir einmal gefallen fönnte; denn ich weiß ge- 
wiß, daß ich dad nicht zu ertragen vermöchte. Das Gefühl unfe- 
rer Noth und unfered Unvermoͤgens und das Ausftreden nad Gottes 
Barmherzigkeit find hier auf diefer Welt unfere beften Gefährten, 
weil es unfer wahrer und natürlicher Zuftand ift. Gott helfe Dir 
und und allen, mein lieber Matthiad! — dieſer Wunſch ift immer in 
mir. — Der achtzehnte October wird, fchrieb Caroline am Jahres⸗ 
tage der Schlacht bei Leipzig, recht feierlich begangen. Heute Mor- 


326 


gen früh wurde mit allen Gloden geläutet, alle Kirchen waren fo 
voll, dag niemand mehr hinein fonnte, Mittags rüdte Die ganze 
Bürgergarde aus; auf den Stragen ift ein außerordentlich feſtliches 
Leben, ed geht, führt und reitet, daß ich mein eigened Wort nicht 
hören kann; heut Abend find Feuer und eier an allen Orten und 
Enden. Ich fite zu Haufe und denfe mein Theil; die große Zeit ift 
mir im innerfien Mark geblieben, ich bin die gewaltigen Monate 
wieder durchgegangen mit .ihrer Freude, ihrer Angit und ihrem 
Schmerz; Du fannft denken, daß mir Herz und Augen übergingen 
und ich dem lieben Gotte gedankt habe, fo gut ich fonnte, leider aber 
nicht fo lebendig, als ich wohl wollte und müßte. Könnte ich diefen 
Tag einmal in den Aſchauer Keller feiern, dann würde der Danf 
wohl von felbft alle übrigen Gedanken todt fchlagen. Diefer Keller 
wird mir, fo lange ich lebe, unvergeßlich fein. Wie auseinander 
bin ich oftmals dort gewefen, wenn ich hineinging, um eine Viertel 
ftunde allein zu fein und meinen Ihränen freien Lauf zu laffen! Ich 
bin recht böfe auf alle, die heute daran denken können, Daß ed au 
jetzt noch nicht fo ift, wie es fein follte. An anderen Tagen mag man 
zürnen und begehren für Stadt und Staat; aber heute haben alk 
über und über Urfache fich zu freuen und fröhlich zu fein an dem, med 
Bott und gegeben und von und genommen hat. Und wenn ich nun 
an und befonders denke, wie gerüttelt voll ift unfer Maß, wie vid 
haben wir nicht wieder! Nur meines lieben feligen Bernhards Stelle 
ift leer und er.fehlt und und wird uns fehlen, bis wir zu ihm fom- 
men, — Wille meine Feſttage find mir nun, heißt e8 in einem ande 
ren Briefe, da ich Euch nicht mehr beifanımen habe, zerftüdelt und 
baben an Fröhlichkeit verloren, denn ehe ih Euch alle beifammen 
babe, find viel Gedanken nöthig. Doch wenn nur zwilchen Euch und 
meiner Sehnfuht nah) Euch auch fernerhin nichts ftörendes tritt, 
fo will ich doch im Herzen freudig fein. — Die freien Stellen am 
Weihnachtstifch können wohl, heißt e8 in dem Weihnachtöbriefe, meine 
Freude und Fröhlichkeit, aber nicht meinen Danf gegen Gott dafür 
 flören, daß ih Euch, ihr lieben entfernten Kinder, habe und auf 

rechtem und gutem Wege habe. Wenn meine Augen Eudy auch nit 
ſehen können, jo kann mein Herz lich doch freuen und Euch lieb haben, 


327 


und daran habe ich es nicht fehlen laffen am lieben Weihnachtsabend. 
Uebrigens aber war doch eine Stille am Feſte und nicht fo fröhlich 
wie ſonſt, weil alle bedrüdten Herzens wegen Agricola's Krankheit 
find. — Am 16. Januar mar Matthias! Geburtstag. Wie gerne 
fähe ih Di, fehrieb ihm die Mutter, heute einmal von Angeficht 
zu Angefiht und nähme Dich in meine Arme, fo lang Du auch fein 
magft! Dad Mutterherz läßt fich durch keine Länge ftören und das 
Kind bleibt Kind, wenn es auch ein Mann wird. Du alter lieber 
Matthias, ich wollte Dich gar zu gerne noch wieder fehen und wieder 
haben hier in diefem Xeben. Bleibe gefund und gehe friſch und fröh- 
lich in Dein einundzwanzigfted Jahr hinein! Der liebe Gott geht mit 
Dir und bewahrt Dich und wird meinen Wunſch an Dir erfüllen und 
Dich jegnen nun und immerdar; das glaube ich gewiß. Ich will 
Dir meinen Geburtstagswunſch und Gebet, mit dem ich diefen Mor» 
gen aufgewacht bin und der mir den ganzen Tag gegenwärtig geweſen 
ift, herfegen, damit auch Du ihn mit mir beten und wünfchen kannſt. 
Es iſt mein fehnlichiter Wunfch für Di und wird auch der Deine 
fein. „Du heilige® Licht, edler Hort, laß ihm leuchten dad Leben? 
wort und lehr' ihn Gott recht erkennen, von ganzem Herzen Bater 
nennen; lehr' ihn, daß Chriftus unfer Herr und Meiſter ift und feiner 
mehr, dag er nach feinem Fremden ſchau' und Dir aud ganzer Macht 
vertrau””. Mein geliebted Kind, möge Gott ihn an Dir erfüllen! 


— 


Carolinens letzte Lebenszeit. 





Die körperlichen Leiden, an denen Caroline ſeit den ſchweren 
Erfahrungen des Jahres 1813 litt, hatten durch die Mühen und 
Sorgen ded Eommerd 1819 einen Gefahr drohenden Grad erreicht; 
aber inmitten der Unruhen und Aengſte, welche die Krankheit des 
Herzen? und die Reizbarkeit der Nerven dem Körper brachten, blieb 
das Geiftedleben hell und wach und gewann an Ruhe und Sicherheit. 
Ich habe dieſe Zeit, fchrieb fie im Frühjahr 1820, über des Men⸗ 


328. 


fhen Gang durch das Leben und über die Arbeit, die ihm darin an- 
gewiefen ift, mir früher ganz unbefannte Empfindungen, Gedanten 
und Anfichten gehabt, verbunden ınit großer Sicherheit. — Wie 
ganz anders fehe ich mich geftellt, fchrieb fie um diefelbe Zeit, feitdem 
e3 fo fühlbar bergab mit mir geht und der Austritt aus diefer Welt 
mir näher ift ald der Eintritt! Wenn ich mich nicht täufche und es, 
wie ich zu Gott hoffe, auch in der Noth Probe hält, fo merke ih 
Ruhe und Sicherheit in mir und id) habe Stunden, in denen ich recht 
gut zu Muthe bin. Gott gebe, daß die Ruhe und Sicherheit blei- 
bend im Herzen und Gemüthe ift und nicht ein Phantafiejpiel wird! - 
Gott wird mir helfen. ch fehne mich von Herzen nah Ruhe und 
Ergebung in Gott, kann aber die Lebendluft noch immer nicht über 
winden; ich habe auch viel Freude und Gute im Leben und habe 
meinen Perthes. — Recht erquidlich ift ed mir, liebe Agnes, fchrieb 
fie ein anderedmal, daß e8 Dir geht wie mir und Du den lieben Gott 
ſuchſt und findeft in hundert Klein feheinenden Begebenheiten, die und 
dad Herz bewegen und erfreuen ganz ftill und ruhig vom Morgen 
bi zum Abend. Darüben reden läßt ſich nicht viel, aber Gott dan 
fen und mich noch mehr fehnen, das fann ih. Laß und nur mit 
Treue und Ernſt im kleinen thun, was wir fönnen; vielleicht vermö- 
gen wir dann im Himmel großes. — Wengjtlichfeit im chrijtlichen 
Leben war ihr ſelbſt ganz fremd und auch an anderen nicht Tieb. 
N. iſt nun, fehrieb fie einmal, feit einigen Wochen abgereift; er hat 
viel gutes bier nicht begriffen und fieht viel nichtgutes, wie id 
glaube, in dem Kreife feiner neuen Freunde nicht, weil ihm bier wie 
dort dad innere durch dad Aeußere verdedt wird. Er ift gewiß ein 
guter und ein frommer-Menfch, aber fein Unglüd ift, daß er doch 
eigentlich nur weiß, wa? er nicht will und mag am Aufßeren Leben der 
Ghriften. —, Wir fuchen, heißt es in einem anderen Briefe, mit red 


- ter Sorge nad) einem Manne, der Mathilden mit Wahrheit und Leben 


sur Gonfirmation vorbereiten und Ernf und Innigfeit in dem reinen 
Kindergemüthe groß ziehen kann, und haben noch nicht gefunden, 
was wir ſuchen. Pl.s Schwefter ift aus Riga auf anderthalb Jahre 
nad) Kiel gezogen, um dort ihre Tochter von Harms unterrichten zu 
laſſen. So gerne id auch Mathilden Harms'. Unterricht gönnte, fo 


329 


würde ich mich doch zu einem folchen Schritte nie entichloffen haben, 
weil er mir Gottes Macht und Einfluß doch gar zu wenig zuzutrauen 
fheint, und wie follte man den Kindern unter die Augen treten kön⸗ 
nen, deren Eltern nicht. jo ungewöhnliches für fie zu thun ver- 
mögen! 
Daß auch dem Menfchen, der ein Leben mit Gott in Wahrheit 
fennt, die Seele auf längere oder fürzere Zeit in düftere Trauer ver- 
fentt danieder liegen fann, wußte Caroline wohl; denn fie hatte 
jelbft dieſe Zuftände oft im Wechfel des Leben? erfahren. Komm in 
meinen Arm, fchrieb fie im Frühjahr 1821 einer tief gedrüdten Frau, 
-und fohütte Dein Herz und alles, was Du darinnen an Hoffnung 
und Furcht, an Angft und Zrübjinn haft, in mein Herz aus. Ich 
verftehe Dich und habe nicht vergeffen, wo uns arme Menfchenkinder 
der Schuh drüdt, glaube auch gewiß, daß ber liebe Gott es und zu 
Gute halten wird, wenn einmal ein ſchwerer Seufjer aus unferer 
Bruft dringt. Nur müflen wir zu allen Augenbliden willig fein, uns 
fere Laſt auf und zu nehmen, und müffen tragen wollen, was Gott 
und gibt, und er gibt. und oft recht beichwerte Stunden; das fann 
niemand leugnen. Gemurrt habe ich nie, aber oft den lieben Gott 
unter vielen Thränen gefragt, warum er ed und fo ſchwer gemacht 
bat, und dann wieder mich daran geftärkt, daß es feine Einrichtung 
ift, die nicht ohne gute Urfache für ung fein kann, und daß er ed weiß, 
wie uns fo angft zu Muthe ift, und es und nicht übel nimmt. 
Obſchon fehr wohl bekannt mit den trüben und dunflen Stun» 
den deö inneren Lebens, bewahrte Karoline dennoch da® Gefühl der 
Freude und ded Dankes ald herrfchende Stimmung.der Seele auch in 
der Zeit ihrer ſchweren körperlichen Leiden. Den tiefen Grund Dies 
ſer Freude deutet fie felbft in einem Briefe an die Altefte Tochter an. 
Daß Du, beißt es in demfelben, eine glüdliche rau bift, bezeuge 
ih Dir gerne und wünfche Dir von Herzen, daß Du ed immer blei- 
ben mögeft, zweifele auch nicht daran. Eine betrübte Frau kannt Du 
werden, aber feine unglüdliche;, denn wer von Herzen danach firebt, 
ih unter allen Umftänden in Gotted Willen zu ergeben, kann nie un» 
glücklich fein. — Den inneren Sinn, die Quellen der Freude zu be- 
merfen und nicht. ungenojfen fließen zu laſſen, hatte Caroline in fel- 


330 


tenem Grade ausgebildet. Als ihr zum lehtenmal für Diefed Xeben 
der erfte Mai, der Jahrestag ihrer Verlobung mit Perthes, nahe, 
Ichrieb fie: Morgen ift mein lieber erfter Mai und gerne ging id 
recht tief in Berg und Wald mit meinem lieben Bräutigam, dorthin, 
wo ich feinen anderen Menfchen fähe und hörte, und dankte Gott, 
daß ich diefen Tag noch nach vierundzwanzig Jahren fo durch umd 
durch freudig und fröhlic) feiern Tann. Einige Seufzer würden fid 
wohl meines kurzen Athems wegen eindrängen, aber fie würden nidt 
lange dauern, und ich würde immer von neuem anfangen, mich zu 
freuen. Ja gewiß, im Wald, im grünen Wald, da wär’ mein Auf: 
enthalt, aber auch meine Ausſicht hier durch die jungen Blätter auf 
died blaue Waffer und den mwunderlieben klein gemölften Simmel ik 
fo föftlih, daß man, wenn man ſich bejinnt, nur mit Scham und 
Sram mehr wünſchen kann. Ein foldhed Uebermaß von Pracht und 
Schönheit des Frühling ift und, glaube ich, noch nie geworden; t 
ift gar nicht auszufprechen, wie wunderfchön Büfche und Blätter, 
Gras "und Blumen find. Und diefe große Veränderung vom Tod 
zum Leben ift in wenigen Tagen, ja man möchte jagen, in wenigen 
Stunden gekommen. Wenn man fo im lieben Frühling fteht und 
die hoben, hellgrünen Bäume gegen den reinen, lichten Himmel ar 
fieht, fo fcheint ed unglaublich, daß dabei doch fo viel Sammer und 
Noth in und um und fein fann. Ja, eine Freudenzeit ift der Früh 
ling, und wenn ich fein Kind frank habe, fo nimmt die Freude mid 
mit dorthin, wo wir und feinen Jammer und feine Noth mehr denen 
und voritellen können. 

Wenn auch die Natur einmal todt und finfter war, fo hatte Ca 
roline doh an allen Orten und Enden noch viele andere Gründe der 
Freude. Glückliche Menfchen find, ſchrieb fie einmal, eine wahre Her- 
zensſtärkung, ich freue mich gar zu gerne mit, wenn es nur irgend 
der Mühe werth if. — Bor allem war ihr die Liebe zu Mann und 
Kindern eine nie zu erfchöpfende Quelle der Freude und des Dankes. 
Noch melde ih Dir, mein lieber Matthias, fchrieb fie im April 1821, 
daß ich troß alles ſchweren Athems feinedwegd verzagt bin, aud 
feine Urfache habe, es zu fein; wir alle vielmehr famt und ſonders 
haben ein fröhliches und glüdliches Xeben zufammen. Der liebe Gott 





331 


überfchüttet und mit Segen und Freuden, indem er unfere Kinder 
gedeihen und un? Eltern glüdlid werden läßt. Aus Gotha hören 
wir nur Gutes; von Dir hoffen wir, daß Du auf guten Wegen bift 
und Gott mit Dir if. Mathilde ift ein ernfted und fröhliches Kind 
und hat ſich weit über ihr Alter tühtig und gut in der ſchweren 
Krankheitszeit gezeigt; mit mir gebt fie gar allerliebft um und forgt 
für mih, wo und wie fie kann; Perthed hat recht feine Luft und 
Freude an dem Zöchterchen. Eleonore ift Sungfer Niedlih und be⸗ 
kommt ein Herz voll Liebe und Freundlichkeit, und mein Andreas er- 
freut mir das Herz von Morgen bid Abend, wenn er nicht eben ein- 
mal unartig und heftig iſt. Mein liebiter Perthed wird für fich im- 
mer ernfter und beffer, für mich. konnte er e8 fehon lange nicht mehr 
werden. Konnte ih nun wohl ander ald Gott danken und nid 
freuen? — Ich muß Dir einmal wieder, heipt es in einem Briefe an 
die ältefte Tochter, von Deinem Vater erzählen, wie der immer weiter 
in fih fommt und eine große Ruhe, Stille und Sicherheit bei allem 
Rumor und Wirrwarr hat und behält. Ich möchte, Du könnteft es 
alles willen, wie ich es weiß; es ift gar zu tröftend und erfreulich, 
wenn man gewiß und deutlich fieht, daß Gottes Segen in und mit 
ihm iſt. Stückweiſe könnte ein anderer ihn wohl zuweilen nicht recht 
verftehen; wer ihn aber jo ganz und gar kennt wie ieh, der weiß, 
daß er auf dem Wege zu Gott von Jahr zu Jahr weiter fommt und 
mit großem Ernfte in und an fi arbeitet. Danft Gott mit mir, 
Ihr alle, dap Ihr einen folhen Vater habt; er ift gar zu lieb und 
gut. Wenn ich ihn nur etwas mehr hätte oder eigentlich etwas mehr 
Iprechen könnte, denn haben thue ich ihn ganz und gar; dad weiß 
und fühle ich mit großer Gewißheit. Nicht? kann im Himmel und auf 
Erden über rechted Liebhaben gehen, und dad wird auch gewiß un⸗ 
jere Seligfeit im Himmel fein, nur viel größer, reiner und ungeftör- 
ter, ala hier. Nach meinem jegigen Gefühle möchte ich aber doch gar 
zu gerne dort meinen Perthes auch behalten und lieb haben. — Was 
babe ich, fchrieb fie im Herbfte 1820, für ein immerwährendes tiefes 
Gefühl von Gotted Barmherzigkeit gegen und, mit welcher er un? fo 
viel Glück und Gutes in Hoffnung und ſchon in der Wirklichkeit in 
und an Euch allen gibt! Du fannft nicht wiſſen, welche bewegte und 





332 


glüdfelige Stunden Perthes und ich haben, wenn wir das recht in 
und mit Ruhe zufammen bedenken. Es iſt eine Föftliche Gabe Gottes, 
feine Kinder auf dem Wege zum Himmel zu fehen, wenn man aud 
noch allerlei Sorgen und Furcht dabei hat. Der liebe Gott, der dad 
gute-Werf angefangen-hat, der wird es aud) vollenden in und allen 
und das vielfältige Glück, welches wir haben, an und zum Segen 
gedeihen laſſen. — Man follte nicht glauben, beißt e3 in einem 
Briefe vom legten December 1820, daß man während dreihundert⸗ 
fünfundfechzig Tagen durch das Beer von Leiden und Jammer, das 
und auf diefer Welt treffen fann, mit fo heiler Haut wie wir durd- 
fommen fönnte. Wiederum erfahre ich, daß ich nicht fo viel dan 
fen fann, wie ich gerne möchte, und wie viel Wunfh und Bitte it 
nun nicht wieder in unferem Herzen parat für dad neue Sahr! 
Seit den erften Jahren der Ehe hatte Caroline fich nach einer 
größeren Ruhe des äußeren Lebens und nach einem ungeftörteren und 
ftilleren Zufanmenfein mit Perthes gefehnt, aber immer bejtimmter 
wurde fie fih im Berlaufe der Zeit bewußt, daß grade für ihre Ra 
tur die Nöthigung, fih im Schaffen und Ordnen, im Negieren und 
Dermitteln zu bewähren, eine faum zu entbehrende Schule geweſen 
ſei. Sch freue mich in Eurem Namen, fchrieb fie einft ihrer Tochter, 
dag Ihr wieder in Eure gewohnte Stille und Ruhe zurüdfehrt und 
daß ich mich recht inwendig nad) Stille und Ruhe ſehne; diefes Seh— 
nen ift mir ein Zeichen, daß mir alle Unruhe noch nicht geſchadet, und 
wer weiß, ob nicht vielleicht mich gefördert hat. Mein Element ifl 
der Wirrwarr gewißlich nicht, aber Gott läßt und alled zum Beiten 
dienen. — Sa, vieles ift hier im Wege, heißt es ein anderesmal, 
um ein einfadhed und filled Leben zu haben, doch führt auch das 
unfrige und zum Ziel; das fühle ich gewißlich. — Die Sorge frei- 
ih, daß Perthes im Gewühle des Geſchäftes förperlich fich aufreiben 
könne, ließ ſich nicht beſchwichtigen. Perthes arbeitet mehr ſchrieb 
fie einmal, als ihm nüg und gut ift. Ach, hätte ich ihn doch nur aus 
dieſem Tumulte gefund heraus! Sch kann wirklih nur im Denten an 
ihn mit ihm leben, denn dad Gewirre der Arbeit läßt mich feinen 
ruhigen Augenblid mit ihm genießen; aber Hagen darf und will’ id 
nit, denn er iſt guten Muthed und wäre gern mehr mit mir. — 





333 


Seitdem Carolinend ältefte Töchter in Gotha verheirathet waren, 
hatte fie die Hoffnung gebegt, daß Perthes es in nicht allzu ferner Zeit 
möglich machen könne, das große Geſchäft und deifen Unruhe und 
xaftlofed Getriebe anderen zu überlaffen und, fern von dem Gewühl 
der großen Stadt, in Gotha mehr fich felbft und weniger den Ge- 
fhäften zu leben. In vielen Briefen ſprach fie die wachfende Ausſicht 
mit immer neuer Freude aud. — So Gott will und und das Leben 
läßt, heißt es einmal, fommen wir Euch noch näher und freuen und 
untereinander unſeres Glüdes ; ja, tief im Grunde ded Herzen? ahne 
ih die Möglichkeit, daß Ihr lieben Kinder mir meine alten Tage er- 
freuen werdet, wie Ihr meine jungen erfreut habt. — Ich merfe 
immer deutlicher an Perthes, fchrieb fie etwas fpäter, daß er ernft- 
haft darauf hinarbeitet, und alle auf immer zu Euch zu bringen; 
wenn ich aber meine Herzendfreude in Worte ausbrechen laſſen will, 
fo wird Perthes böfe. Ich foll mich noch nicht einmal innerlich freuen, 
weil alles noch fo gar ungewißlich if. — Perthes ſelbſt befchäftigte 
fich indeffen nicht weniger lebhaft mit dem Gedanken, ſich dem auf- 
treibenden Treiben des unruhigen Geſchäfts zu entziehen. Ihr feid 
wirklich ſehr glücklich, fchrieb er im Frühjahr 1821 an feine ältefte 
Zochter und deren Mann, dag Euch die Jugendjahre fo unbefümmert 
gegönnt find; ich habe ein rauhes Leben durchlebt, und nur’ felten 
find freie, forgenlofe Stunden mir zu Theil geworden, in Demuth 
habe ich Gottes Führung für fo weit zu. loben und in feine Hände 
ftelle ih die Zukunft, mein Wille ift auf Stille und Ruhe gerichtet. 
. Nicht arbeitlod will ich fein, aber der Richtung, die im Inneren mei- 
ner Eeele ift, möchte ich folgen können und die Weltunruhen möchte 
ih nah und nach aus Geift und Herz tilgen, um bereit zu fein, 
wenn alle Rechnungen hienieden getilgt werden müffen. | 
Carolinens Hoffnung, die fpäteren Jahre ihres Lebens in ruhi« 
gem Zufammenfein mit Perthes und an demfelben Orte mit ihren 
verheiratheten Töchtern zuzubringen,, ging nicht in Erfüllung. Im 
Frühling 1821 hatte die Krankheit des Herzen® und der Nerven fich 
bis zu einem ſchwer zu tragenden Grade gefteigert. Dein Blut ift 
unruhig, fchrieb fie im April, und meine Nerven müde und krank 
dad Athmen wird mir fehr fehwer; das ift fein guter Zuftand; Dr. 





334 


Schröder verſucht hier und da zu helfen, aber noch hat er die rechte 
Dofe nicht gefunden. — Ich trinke nun Geilnauer Waſſer, fchrieb 
fie einige Wochen fpäter, und bin alle Morgen von 6 bis 8 Uhr im 
Garten; wer mich dort befuhen will, ſoll willflommen fein. Id 
made, wenn ic) allein umherwandele, allerlei Reifen in Gedanken 
und fpreche oftmals bei Euch vor, Ihr lieben Kinder. — In den 
eriten Wochen des Suni, am Tage nad dem Pfingftfefte, wurde fie 
durch heftige innere Krampfanfälle, denen ein nervöſes Fieber folgte, 
dem Tode nahe gebracht und war ſich der Gefahr ihrer Lage deutlich 
bewußt. Sch bin müde und matt, fchrieb fie, als die augenblidliche 
Gefahr der Krankheit noch einmal gebrochen war; wenn Du mid 
nur einmal anfehen fönnteft, fo würdeit Du willen, was die Glode 
gefchlagen hat. Nun laffe ich mich hegen und pflegen, was Mathilde 
mit findlicher Liebe, mit Verftand und Beionnenheit thut in Eurer 
aller Namen. Ich habe Dich, mein lieber Matthiad, fehr viel um 
und bei mir gehabt und Dir oftmald einen guten Morgen und Abend 
gefagt. Gott fei Dank, daß ich- mit fröhlicher Hoffnung an Dich den- 
ten fann! Einmal im Fieber glaubte ich, Du mwäreft fatholifch gewor 
den; mir war doch wunderlich dabei zu Muthe und ift mir aub 
noch lieber, daß es nicht wahr ift. 

Mit den legten Stunden ded Menfhen hatte Caroline fich ihr 
ganzes Leben hindurch oft und ernft beichäftigt. Der Tod war ihr 
immer eine fehr große und fehr betrübte Sache gewelen, aber viel- 
leicht nie hatte fie vor dem Sterben das tiefe innere Graufen empfun- 
den, welches oft auch fromme Dienfchen erfüllt und von welchem die 
Menge nur dedhalb nicht? fühlt, weil fie in einem Leichtfinn dahin 
lebt, deifen Größe niemand begreifen fönnte, wenn ihn nicht jeder 
mit mehr oder weniger Unterbrechungen in feiner eigenen Bruft trüge. 
In den vielen Briefen, in denen Caroline fi} über den Tod ihr na 
heſtehender Menfchen äußerte, fpricht fich zwar immer tiefe Betrübnig, 
aber nie Entfegen, fondern Ruhe und Ergebung aud. Heute habe 
ich wieder, fehrieb fie einmal, einen Sterbetag im Andenken: vor zehn 
Jahren ging mein lieber Johanne® von und. Die lange Zeit hin- 
durch fonnte ih ihn Gottlob lieb haben, aber leider nichtd von ihm 
hören und jehen, und mer weiß, ob er mich nod) lieb haben Tann. 


335 


Kindes» und Mutterverhältnis hört doch im Himmel auf, glaube ich, 
aber Gott wird e8 wohl machen, wie e8 und gut und aud) lieb ift. — 
Schwer ift ed für den Zurücdgebliebenen, heißt ed ein andereömal, der 
mit einem Herzen voll Liebe und Sehnfucht über Himmel und Erde 
hinaus lieb hat, nun nichts zu hören und zu fehen von den lieben 
‚Borangegangenen. Wie tief und lebendig fühle ih das, wenn id) 
mit meinem Mutterherzen an meine lieben Kinder im Himmel denfe! 
Ich kann mir auch nicht verwehren zu fragen, warum unfer himm- 
lifcher Bater fo hart e8 eingerichtet hat, aber gewißlich recht feit und 
getroft halte ich mich auch ohne Antwort daran, daß es alfo fein Wille 
ift und daß er nur gutes für und wollen fann, wenn ed und auch 
nicht ſchmeckt. — -Die alte Frau N. ift geftern, heißt e8 in einem 
anderen Briefe, fanft eingefchlafen. Ich freue mich von Herzen, daß 
fie fertig ift; fie fonnte von außen hier nicht® mehr haben und wurde 
durch ihre große Schwäche und Dämmrigfeit menfchlihen Anſehen 
nach auch gehindert, rechte Freudigkeit und Troft in Gott zu finden. 
Nun ift, willd Gott, die Liebe, die hier in ihr fchlief, aufgewacht 
und ift nicht mehr durch taufend Kleinigkeiten gehemmt und gebun- 
den. — Ich habe fehr ernfte Stunden an S.'s Sterbebett gehabt, 
ſchrieb fie nach einem anderen Todesfalle; er ift ungewöhnlich ruhig, 
gottergeben und mit vollem Bewußtfein geftorben. Ich habe mid 
gefreut, ihn ruhig und ftill als Leiche liegen zu fehen, ohne hujten 
zu müffen und ohne fih um Luft zu quälen. Es ift wunderbar, daf, 
wie ich fchon oft bemerkt habe, der Tod die Stirne fo hoch, hell und 
rein macht. Auch S.'s Stirne war nah dem Tode ungewöhnlich - 
ſchön, obfchon fie ed im Leben doch gewißlich nicht gemefen iſt. — 
Als im December 1819 die Nachricht von dem Tode ded Grafen 
Friedrich Leopold Stolberg eingetroffen war, fchrieb Caroline an ihre 
ältefte Tochter: Das liebe, engelreine Gemüth wird nun Gott ſchauen, 
das glaube ih gewißlih, aber wir haben hier einen fehr lieben 
Freund weniger. Noch in dem lebten Monat hat Etolberg ein Büch⸗ 
lein gefchrieben von der Liebe; das war eine fehöne Vorbereitung, um 
der ewigen Liebe näher zu fommen. Gott helfe ung allen, daß die 
Liebe zu Gott reiner und tröftender in und werden möge; dann mag 
fommen, was da will. Wie gerne wäre ih an Etolberg’8 Kranfen- 





336 





—— 


bett und Sterbebett geweſen; einen größeren Troſt und eine größere 
Freude gibt es hier auf dieſer Welt nicht, als einen Menſchen mit vol⸗ 
lem Bewußtſein ruhig und freudig im Glauben an Gottes Barın- 
herzigkeit fterben zu fehen. Liebe Agnes, wir haben e3 ja einmal 
recht fichtbar erlebt an meinem lieben feligen Bater. Weißt Du noch, 
wie wunderfchön feine Augen waren in den legten Stunden bis zur 
legten Minute? 

Weil aber Caroline vor dem Sterben fein Grauen hatte, war 
ihr das Leben nicht weniger eine Freude. Wenn man einen Berg 
im Leben hinter fih hat, fehrieb fie im Frühjahr 1821 an ihre Tod 
ter Luife, fo glaubt man anfangs, man fei nun über alle Berge und 
fei im fiheren Hafen zu ewigen Tagen; wenigſtens ift e8 mir oft jo 
gegangen, und ed famen doch noch immer kleine Hügel und grofe 
Berge, über die man muß, bis man den legten erftiegen hat und aller 
Fehd ein Ende ift. Aber trog aller Berge ift mir dad Leben lieb und 
werth, und wenn es Gottes Wille ift, möchte ich fehr gerne nob 
mit meinem lieben PBerthed und Euch allen zufammenleben, befonder 
wenn eine Zeit käme, in welcher Perthes etwas mehr Ruhe hätte 
und mehr mit mir fein könnte. Dann wünſchte ih mir aber aus 
einen etwas längeren Athem, damit ich mit Euch gehen und mid 
mit Eudy unfere® Leben? freuen fünnte. — Ich weiß, mad Gott 
mir gegeben hat und was ich habe, heißt es in einem anderen Briefe; 
möchte es Gott gefallen, und noch eine Weile zufammen zu lajlen; 
ich kann nicht helfen, ich habe große Luft. Es foll wohl nicht fein, 
ſchrieb fie bald darauf, aber oftmald kommt ed und doch in den 
Sinn, die Jahre feithalten zu mögen. Gott kann und im Himmel 
gewiß nitht weniger gutes geben, al® er und bier gibt, aber dad 
Gute auf diefer Welt fehen mir mit unferen Augen und tragen es 
auch lebendiger im Herzen ald die Ahnung des noch Beileren, mad 
unferer im Himmel wartet. Doch fönnen wir auch hier große und un- 
begreiflich fichere und felige Augenblide haben, wenn wir fie nur feſt⸗ 
zubalten vermöchten, aber daß ich nicht Herr meine? eigenen Herzen? 
zu allen Zeiten fein kann, das ift der eigentliche Jammer, umd der 
größte Troft ift, daß Gott mich ganz und gar fennt und fieht. Ich 
will doch gewiß auch gerne viel mehr, als ich Tann. 





337 


Mitte Juli ward Caroline nah Wandsbek gebracht, um der 
Unruhe des Haufes überhoben zu fein und fich in der Luft beivegen 
zu fünnen, ohne die Beſchwerde der Treppen zu haben. Es waren 
ſchwere Wochen, die fie jetzt erlebte, beängftet durch die Beſchwerde 
des Athmens und des Krampfes in der Bruft. Wenn ich ganz ftille 
fiße, fo bin ich gut zu Muthe und frifh und fröhlich bei dem herrli— 
lichen Wetter, vergeife auch wirklich mein Leid, aber wenn ich bie ge- 
tingfte Bewegung mache, werde ich fehr empfindlich daran erinnert. — 
Nun ift ed, heißt es ein anderedmal, faft ein Vierteljahr, daß ich für 
Haus, Kühe und Keller nicht? habe thun können, und da? ift wirl- 
lich ſehr betrübt ; ich fehne mich unbejchreiblich, mein Amt wieder mit 
friſchem und fröhlichen Muthe übernehmen und verwalten zu können, 
auch meinem lieben Perthed fein Leid durch mein Krankfein. länger 
anzuthbun. Noch mag ich gar nicht? arbeiten, nicht einmal ftriden, 
auch leſen kann ich nicht und muß mic) ſo von einer Stunde zur an⸗ 
deren hinfchleppen; doch habe ich feine lange. Weile und bin vergnüg- 
ih zu Muthe. Ich darf Dir nicht mehr fehreiben, mein liebes Kind; 
nicht meinem Herzen, aber meinem Kopfe ift es läftig. — _ Nur iwe- 
nige Zeilen noch vermochte fie den entfernten Kindern zu ſchicken, aber 
auch dieſe zeigen, daß die Liebe in ihrem Herzen durch Feine Noth des 
Körpers verdunfelt werden konnte. Mit der ganzen früheren Wärme 
gab fie fich der Freude und dem Danfe hin, als ihr im Juli der 
zweite Enkel, Bernhard, geboren ward. Gott helfe den armen Men- 
hen, fchrieb fie einmal, die nicht Tieb haben fönnen. hr glüdlichen 
lieben Kinder, hatte fie kurz vorher gefchrieben, wie gern bin ich Eure 
Mutter und wie freue ich mich Eure? Leben?! 

Unfern Hochzeittag haben wir am 2. Auguft, fehrieb fie in dem 
legten Brief an ihren Sohn nad Tübingen, in Wandsbeck auf eigene 
Hand fehr vergnügt und glüdlich verlebt; ih bin mit Hilfe vieler Zeit 
und eine? Stuhls zum Ausruhen mit meinem lieben Bräutigam rund 
um die fhöne große Wiefe gegangen und kann nicht aufhören, Gott 
zu danken für diefen glüdfeligen Gang. Wir waren allein; feit Jah⸗ 
ven hatte ich mit Perthes einen folchen Gang nicht gemacht; unfer 
Gefpräh war weit umfaſſend und fühn, da nicht nur die Vergangen- 


heit, fondern auch die Zukunft unfer war. Euer aller wurde gedacht. — 
Perthes' Leben. TI. 4, Aufl. 29 


338 


An dem köorperlichen Zuſtande beſſerte der Aufenthalt in Wandsbed 
nichts. Wie gerne möchte ih Dir ſagen konnen, ſchrieb Caroline am 
8. Auguft an Perthes, daß ich ganz frifeh und fröhlich wäre, aber 
ih Tann es nicht. Friſch fühle ich mich nicht, vergnügt bin ich wohl, 
aber doch nicht fröhlich. Doch vielfeicht wäre ich ed, wenn ich draußen 
im Freien auf meiner Bank figen könnte; denn dort könnte ich der 
Freude nicht widerftehen und müßte mit fort: aber zwifchen Wänden 
und Mauern komme ich .nicht fo leicht aud mir und meinem kurzen 
Athem heraus. Doch vielleicht gibt Gott morgen dem Doctor den red. 
ten Gedanken; alle Hauptfachen an meinem Körper find noch feft und 
aefund, und das eine Uebel wird doc zu finden fein, ich habe ein 
immerwäbhrendes Gefühl, daß ich ganz und gar wieder frifch werden 
kann, obſchon der Verftand mitunter etwas anderes fagt. — Wenige 
Tage fpäter mußte Caroline, um dem Arzte näher zu fein, vwoieder 
nach Hamburg gebracht werden, und die Hoffnung auf Genefung fra 
mit jedem Tage mehr zurüd. Die nächfte Nähe ded Todes fühlte Ca 
roline wohl nicht, wenigftend nicht dauernd, aber diefe Iegten Tage 
waren ein erhöhtes Leben mit Gott. Bor allem dad alte Kirchen 
lied: „Herr, auf dein Wort folld fein gewagt‘, füllte ihr Herz und 
Sinn aud; wenn ed dem durch Förperliche Leiden und Fieberunruk 
geängfteten Geiſte ſchwer ward, den troftvollen und entichloffenen Ir 
halt des Liedes feftzuhalten, nahm fie wohl die Feder zur Hilfe, ſchrich 
einzelne Verſe auf, um durch die fchreibende Hand dem Geiſte in der 
Feftbaltung der betenden Worte zu Hilfe zu kommen. 

Perthed hatte den ganzen Ernft der Rage erfannt. Lange habe 
ich gelitten um ihretwillen, jchrieb er etwas fpäter, feit vielen Mo 
naten fehon den tiefften Schmerz durchfühlt; meine .einfamen Spazier⸗ 
gänge waren ohne Ausnahme erfüllt mit der ſchweren Arbeit, mid 
befannt zu machen mit dem, was mir bevorfland, und mit der An- 
firengung , mich durch Gottes Hilfe vorzubereiten. Smmer und im 
mer wieder fam die Hoffnung, und immer wieder mußte ich fie auf 
geben. Wer wie ich wußte, welche ſchwere Feſſeln ihrem innigen, 
rafchen Leben durch einen mühfeligen Körper angelegt waren, Tonnte 
nieht glauben, daß eine folche Einkerferung von langer Dauer fein 
werde. Sie hat viel gelitten feit langer Zeit, und ed war ein harter 





339 


Kampf für eine fo über alled rege Phantafie, für einen fo nach freier 
Bewegung dürftenden Geift, für ein fo kraftvoll thätige® Gemüth, 
fi immer gehalten, gelähmt und gefeifelt zu fühlen. Nur ihr echtes 
und lebendiged Chriftentbum und das Aufrichten der eigenen Kraft 
an dem Leiden unferes Herrn hielt fie, machte fie geduldig, ja heiter, 
und ließ fie ihre Liebe und Freundlichfeit nach wie vor rund um fi 
mittheilen. Eigentlich nur ich wußte, wie frank fie war und wie viel 
fie litt; Freunde und Belannte fühlten nur Ihre Freundlichteit und 
die Kraft ihres Geiſtes. 

Am Freitag den 24. Auguft liegen heftige Anfälle inneren Kram⸗ 
pfes ein augenblidliches Ende fürchten ; heftige Fieberphantafien und 
äußerfte Kraftlofigfeit, Angft um Luft und tiefer Schlaf wechfelten feit 
diefem Tage mit einander ab: aber mitten in aller Noth erfchienen 
einzelne Stunden Törperlicher Leidlofigkeit und. hellen Bewußtſeins, 
und dann war fiegend über Noth und Tod die Ruhe des Glaubens, 
die Sicherheit der Hoffnung und die Freundlichkeit der Liebe -über dem 
Sterbebette audgebreitet. Perthes befand fich während diejer legten 
Tage in einem Zuftande gewaltfamer Ergebung und aufgeregtefter 
Ruhe. Eure Mutter ift fehr Frank, fehrieb er am Morgen des 28. Au⸗ 
guft an feine beiden Schwiegerfühne nach Gotha; wir ftehen in Got- 
te8 Hand; wir dürfen hoffen, aber wir haben mehr Urfache zu fürch⸗ 
ten. Mein Troft, meine Haltung befteht in Ergebung — Herr, dein 
Wille gefchehe! Hält Gott den Tod der frommen Mutter an der Zeit — 
jein Wille gefchehe, wohl maße ich mir nicht zu viel Stärfe an. Dad 
Zerreißen der Liebe wird ſchrecklich fein, noch ſchrecklicher das Entbeh- 
ren deren, die allein mich ganz fennt. Eine öde, traurige Einfam- 
feit, kurz oder lang, bleibt nah; fein Troft der Mitthätigkeit, fein 
Beiftand in Freud’ und Leid. Hoffen fann und darf ich nicht; nur 
wenn ich mich in dad Schredlichfte ganz und gar ergebe, finde ih Hal⸗ 
tung und Troft. — Am Abend desfelben Tages, an welchem diejer 
Brief gefchrieben war, am 28. Auguft 1821, kurz nach 9 Uhr, machte 
ein Nervenfchlag dem frommen Leben fo plöglich ein Ende, daß kein 
Drud der Hand, fein Wort, kein Blid der Liebe den Umſtehenden 
ala Abjchiedsgruß zu Theil ward. Ohne erzwungene Refignation und 
ohne irgend eine Anftrengung, fich ftärfer zu machen, als e8 dem 

22° 





340 


Menfchen geftattet ift, gab Perthed fih dem warmen Schyerze hin, 
der bei einem großen Berlufte fo natürlich jcheint und dennoch außer 
dem Chriftenleben nicht gefunden werden fann, weil er Ergebung und 
Hoffnung zu feiner Boraudfeßung hat. Nun ftehe ih da mit meinen 
armen Kindern, fchrieb Perthed am folgenden Morgen an feinen 
Schwiegerſohn, und öde und leer ift ed, und wir ſuchen die Fülle der 
Liebe, welche fo überſchwenglich und zu Theil geworden ift, und dod, 
fönnen wir, nur damit ich meine Caroline und Ahr Eure Mutter wie 
der habt, wünfchen, daß diefer freie fromme Geift in den Kerker die 
ſes Körpers zurüdtehre? Meine armen Kinder, meine armen Meinen 
Kinder! Ihr älteren habt den Geift der Mutter erfahren, aber dieſe 
Liebe, diefer Geift wird den jüngeren nun niemald nahe treten. Gott 
wolle ihnen helfen und mir; es zerreißt das Herz, Die Stleinen zu 
ſehen, wie fie nach der Mutter fuchen bier und dort, und zu höre, 
wie fie jammern, wenn fie fie nicht finden. Unausſprechlich fchön iſ die 
Leiche durch die Hoheit der Stine und durch das freundlich Tiebevolke 
Lächeln um den Mund. — Ihre Kiebe, fchrieb Perthed an demfelben 
Tage feinem Sohn nad) Tübingen, fann nur von oben und noch wohl 
thun; fie ift felig bei Gott, wir aber trauern. Weine Dich aus, weine, 
fammle Dich, falle Dih, und fobald Du da3 gethban haft, komme 
zu und. — Mein Echmerz macht mich nicht unmuthig, fchrieb Per 
the® einige Tage fpäter an feine Töchter, ich möchte vielmehr Liebe 
geben und möchte helfen rund um mid). her, fo weit ic) irgend reichen 
kann. Auch habe ich viele Urfahe zum Dank; vierundzwanzig Jahre 
ſchenkte mir Gott, um fie mit diefem Reichthum an Liebe, Kraft und 
Geiſt zu durchleben. Gott fei gelobt dafür! Nun weiß fie, wo und 
wie ich fünbigte, was fie hier jo nicht willen konnte, aber nun fennt 
fie auch ganz dad Map meiner Liebe. Wie viele Schranken, Hem- 
mungen und Zufälligfeiten, groß und Mein, ftehen auf Erden im 
Wege und hindern den Menfchen zu erfennen, was an Geiftesfiebe in 
anderen Menichen lebt. Daß fie nun mich kennt ganz und gar und 
mir hilft, mi) an Gott zu halten zu aller Zeit und in feiner Gegen 
wart zu wandeln, das glaube ich, weil ich nicht anders kann, ob 
ſchon ich weiß, daß die Offenbarung diefen Glauben durch keine be 
ſtimmte Ausfagen ftügt. — AU mein Thun und Treiben, ſchrieb Per⸗ 





341 


thed bald darauf an feine entfernten Kinder, hatte, fo weit ed nicht 
Berufsfache war, feit vierundzwanzig Jahren allein Bezug auf Eure 
Mutter. Sie hat e3 nicht gewußt, wie fehr ih von ihr abhängig 
war, fie hat es nicht im einzelnen erfannit, fondern nur allgemein 
an der Innigfeit ihrer Liebe zu mir gefühlt, welche Opfer ich meiner 
Natur und meinem Temperament nach diefer Abhängigkeit in Liebe 
gebracht habe. Jetzt ift das alles fort, fein Band bindet mich; ich 
fann thun, was ich will. Nächft der Sehnfucht in dem Alleinfein drüdt 
mich dieſes widrige Gefühl der Freiheit am meiften. Ich Tenne aus 
langer Erfahrung die Grundlofigkeit des Menfchen, der allein fich 
ſelbſt überlaffen ift, und wenn Demuth die Hilfe des Helferd erzwin⸗ 
gen Tann, fo darf ich hoffen, daß fie mir werde. Wäret Ihr Kinder 
nit, fo ginge mein Wunſch nad) Jenſeits, aber mein Weg ift noch 
nicht vollendet und ich muß in Kampf und That weiter vorwärtd. — 
Es ift, heißt es in einem Briefe an den Sohn in Tübingen, fehr öde 
und tief traurig in meinem Herzen und oft gebricht e8 meiner Seele 
an.Kraft, das Herz, das fich fehnt nah Mittheilung an ein liebendes 
Gemüth, zu beruhigen und es zu ftillen, fo daß es fich begnügt, dem 
Unfichtbaren fich mitzutheilen. Dazu wird oft die Angft im Innern 
faut, daß mit der Linderung des brennenden Schmerzes durch die 
Zeit auch an dem inneren Leben der Liebe zu Eurer Mutter vielce 
dumpf und ftumpf werden könnte. — Jetzt bin ich, heißt ed dagegen 
einige Wochen fpäter, ruhiger über den Uebergang von der Sehn- 
ſucht, die aus dem zeitlichen Entbehren flammt und nicht bleiben 
kann und nicht bleiben foll, zu dem Kortleben mit der Geliebten, die 
ih in nächſter Nähe Gottes und unſeres Herm weiß und glaube: 
Den Frieden Gottes, der die einzige Ruhe unferer Seele iſt, hoffe ich 
gefunden zu haben. 

In einem Briefe an die Schweſter Friedrich Heinrich Jacobi's, 
Helene, welche eine mütterliche Freundin Carolinens von deren Mäd- 
henjahren an geweſen war, brachte fich Perthes die Größe des Se⸗ 
gens, den er in Caroline befefien hatte, lebendig vor die Seele. Sie, 
haben, meine mütterliche Freundin, fehrieb er, den Werth meiner 
Caroline früh ſchon erfannt, aber Sie haben aus der Ferne micht die 
hohe Ausbildung ihres Innern in den fpäteren Jahren erfahren kön⸗ 


342 


nen. Garolinens frommer, demüthiger Sinn, ihr einfaches und ein- 
fältige8 Sein blieb unberührt durch die Jahre, die Innigkeit ihrer 
Liebe behielt die ganze frühere Stärke und Tiefe, breitete fich aber in 
immer größere Kreife aud und wurde fegendvoll und wohlthuend für 
alled, was in ihren Bereich fam. Troſt, Rath und That wurde allen, 
die fih ihr naheten, und dafür wurde ihr Gegenliebe zu Theil und 
eine Achtung, die an Ehrfurdt grenzte, von Männern und Frauen 
der verfchiedenften Art und der verfchiedenften Stände. Carolinend 
Phantafie war von einer mir in der Stärke nie vorgefommenen eb: 
haftigkeit und rief eine feelenvolle Theilnahme an allem, was die 
Welt und deren Getriebe bot, hervor. Der Reichthum ihres Geiftes 
batte große Erfahrungen gemacht und tiefe Blide in den Menſchen 
und in die menjchlichen Berhältniffe gethan, aber in ihrem Urtbeile 
war überall Liebe und Milde, die Sicherheit des Glaubens hatte jie 
von aller Aengftlichkeit gegen den Buchftaben lo8 gemacht und ihr 
menſchlichen Meinungen und Anfichten gegenüber die vollfte Freiheit 
und Unabhängigkeit gegeben; fo fehr fie mich liebte, fo frei und uw 
abhängig ftand fie doch meinem Geifte gegenüber. Vierundzwanzig 
Fahre, erfüllt mit Unruhen und Sorgen, zum Theil mit Kummer 
und Angft, hat fie mit mir durdhlebt, aber glücklich war fie ftetd ın 
diefem langen Zeitraum, denn jeder Augenblid war mit Liebe und 
lebendiger Theilnahme erfüllt; da8 Unabwendbare trug fie mit Hin 
gebung; in den großen Momenten der Zeit hat fie Heldenmuth be 
währt. Bei der tiefen Innigkeit ihred Gemüthed und bei der Kraft 
und dem Reichthum ihres Geiftes war ihr die Armuth des Herzend, 
wie Taulerus und Thomas a Kempis fie preifen, zu eigen; fie hat ſich 
diefelbe im Kampfe mit einer fraftvollen Natur, die Leidenfchaft, Hef 
tigkeit und Ehrgeiz wohl gefannt hatte, errungen durch die Wahrheit 
und Treue ihres Glaubens; von frühefter Jugend an hatte fie im 
fteten Umgang mit Gott gelebt und wahrhaft war fie, wie es felten 
Menfchen find. Diefes feltene große Gut ift nun für mich ins Grab 
geſunken, verlaffen fehne ich mich und ftrede die Arme aus; menſch 
lich geredet, bin ich allein und doch ahne ich einen früher ungekann⸗ 
ten Reichthum, feitdem diefe Seele meiner Seele mir feifellos nahe 





343 


ift überall. Doch davon läßt fich nicht reden, weil es, audgefprochen, 
unwahr wird. 

Doppelt ſchwer fühlte Perthes feit Carolinen® Tode das nie rus 
hende Getriebe des Geſchäftslebens, und für die Kinder ohne Mutter 
war ein einfacherer Haushalt und ein ftillered Leben faft nothwendig. 
Seit Jahren ſchon hatte er die Mebertragung der Hamburger Hand- 
lung auf Beffer und die Verlegung feines eigenen Wohnfiged nad 
Gotha vorbereitet. Dort in der Mitte Deutfchlande wollte er ein 
Verlagsgeſchäft gründen und fünftig ausſchließlich diefem weniger 
unruhigen und weniger aufreibenden Berufe leben. Nach Carolinens 
Zode faßte er den Entſchluß, das lange gehegte Borhaben zu befchleu- 
nigen. Nächfte Oftern werden wir zu Euch kommen, fehrieb er be- 
reit3 in den erften Tagen ded September? nach Gotha, und, fo Gott 
will, bei uch bleiben. Es ift nicht ein Entfchluß, den mir die Auf- 
regung des Gefühl entriffen hat, fondern er ift ruhig überlegt, ift 
verftändig und nothwendig. — Der ordentlihe Haushalt Fönnte 
zwar, jchrieb er etwas fpäter, ordentlich fortgeführt werden; Mas 
thilde ift tüchtig und verftändig genug. Sie hat weit über ihre Jahre 
mit Kraft, Befonnenheit und Tüchtigfeit während der Krankheit der 
Mutter geleiftet, wa? Liebe ihr eingab, und die Mutter war laut 
dankbar bis in die leßten Stunden. Auch jebt führt fie ihre ſchwere 
Aufgabe den Fleineren Kindern und dem großen Haushalt gegenüber 
mit Befonnenheit, Entfchloffenheit und Feftigfeit dur), aber abge- 
fehen von allem anderem würde ih), wenn ich bliebe, ein Unrecht ges 
gen Mathilde begehen, ich würde ihre Jugend brechen und das fie- 
benzehnjährige Mädchen hart und barfch durch das frühe Regiment- 
führen machen. 

Die Wintermonate von 1821 auf 1822 waren mit den Arbei- 
ten erfüllt, die für Perthes nöthig waren, um fi) aus dem Gefchäfte 
zu löfen und die Ueberfiedelung nach dem neuen Wohnort möglich zu 
machen. Maufe, melcher fchon lange die Laft und die Sorge des 
großen Geſchäfts mitgetragen hatte, wurde als Theilnehmer in die 
Handlung aufgenommen und alle Berhältniffe in einen vorläufigen 
Stand gefeßt, aus welchem, wenn da8 Borhaben in Gotha nicht 
midlang, leicht zu einem feiten und dauernden Abſchluß zu gelangen 


344 


war. Es iſt freilih ein Berg, der fich aufthürmt, fchrieb Perthes 
im Februar 1822 an feine Tochter Agned, wenn eine dreißigjährige 
Einlebung aufhören joll, aber nimmt man nur richtig jedes einzelne, 
dad eine nach dem andern, vor, fo geht alled. Und wie ift es, 
wenn man ftirbt? Scheint nicht alled unauflößbar? meint man nidt, 
es müßte alles darunter und-darüber gehen? und dennoch lebt alles 
fort, wie wenn dad Rad, welches abgerollt ift, nie dageweſen wäre. 
Man hält ſich ſelbſt immer für zu wichtig in feinem Kreife, groß oder 
fein; nur abgefchnitten den Faden; man ift jo unentbehrlich nicht. — 
Tiefer ald das allmähliche Auöfcheiden aus den Gefchäften traf die 
Ablöſung von allen den Berhältniffen das Her}, in denen Verthei 
vom Sünglinge zum Manne erwachfen und ald Mann den vollen 
Schmerz und die volle Luſt des Lebens erfahren, in denen er gelit- 
ten und gefchaffen, gerungen und genofjen hatte. Wie Weihnachten 
und Neujahr von mir durchlebt, fehrieb er im Januar, erlaffe mirzı 
fagen; es waren harte, ſehr harte Tage und fehr harte Tage fichen 
mir noch bevor. Jeder Tritt, jede Bewegung, jeder Yederzug, den id 
thue, ruft mir in da® Herz: zuleßt.. Dreißig Jahre meines Lebens 
- und Wirkend verlebte ih in diefen Umgebungen; bier wurde mir 
alles, was mir theuer war; bier wurde mir Beruf, Wirkfamteit 
und Achtung; bier hatte ih Caroline, bier fand ih Gott. Das 
Scheiden von Haus und Stadt, von Menfchen und Verhältmiſſen, 
mit denen mein eigene? Leben zu einem einzigen Ganzen verwachſen 
war während fo langer Zeit, ift fein Leichtes und hat mich tief ergrif 
fen, und es ift fehr nöthig, daß ich mich feft und gefchloffen halte; 
denn ih foll nicht nur mich felbit in diefem Schiffbruche halten, fon- 
dern auch anderen ein feſtes Herz zeigen, das aber auch wieder fein 
hartes und falted werden darf. Nah außen zügele ich mich fireng, 
Gott wolle mir im Innern helfen. — Bor einer Stunde hat Eure 
Großmutter aus Wandsbeck, jchrieb cr Ende Februar, zum legten 
mal unfer Haus verlaffen, mo fie fo viele Tage der Freude, dei 
Kummers, ber Sorge, der Angft und ded Schmerzed durchlebt hat. 
Hier ftarben zwei ihrer Enkel, von hier fah fie und vertrieben in die 
weite Welt ziehen, in diefen Zimmern ftarb ihr Mann, ftarb ihre 
Tochter und in wenigen Wochen ift unfere Stätte nicht mehr zu fin- 








345 


den. Wenn ein fo tiefed® Gefühl, das in gewöhnlichen Tagen fich 
feſt verfchließt, wenn ein ſolches Herz, das jugendliche Kraft im bo- 
hen Alter hat, fich dem tiefften Schmerze laut und rückſichtslos er- 
gibt, fo iſt es ſchwer, nicht alle Haltung zu verlieren. Es war eine 
der bärteften, fchmerzenreichften Stunden meine? Lebende. — We- 
nige Tage vor dem Scheiden von Hamburg fchrieb Perthed an die 
Gräfin Luife Stolberg als Abſchiedswort: Die Tage find da, in de- 
nen ich auf immer Haus und Ort verlaffen foll, wo mir, fo weit e8 
hienieden möglich ift, der Segen eine® inneren Leben? durch Liebe und 
Geift zu Theil geworden ift. Mein Herz ift in Sammer verfunfen und 
ih vertraue in Demuth, daß Kraft mir gegeben werde. Ahnen, 
meine geliebte, theure mütterliche Freundin, reiche ich noch einmal 
aus alten Verhältniffen und Umgebungen die Hand. Wie oft hat 
meine felige Caroline die Feder angefept, um Ihnen ein Lebewohl 
zu jagen, aber fie vermochte es nicht, tief hatte fie Ihre Liebe erkannt 
und mit Liebe gelohnt; das wiſſen Sie auch von mir. Laffen Sie und 
 fefthalten am Glauben, bis auch wir verfammelt find in den Woh- 
nungen des Frieden! und ded Schauen?! 

Am Mittwoch den 20. März 1822 verließ Perthed mit feinen 
vier Kindern Hamburg und langte am Diontag den 25. März in Go⸗ 
tha an, wo, wie er hoffte, ein nicht unthätiges aber ruhige? und 
ftille® Leben feiner wartete. 


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Druck von Ir. Krommann in Jena. 








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