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Full text of "Friedrich Schleiermacher's sämmtliche werke"

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Theological Seminary, 


IA BEZETE 


OF THE 





PRINCETON, N.J. 
BR 830. 
Schleiermacher, Friedrich, 


1768-1834. 
Friedrich Schleiermacher's 




















Friedrich Schleiermacher's 


ſaͤmmtliche Werke. 


Erſte Abtheilung. 


Sur Theologie 


Achter Band. 


nn nal ins eg 
Berlin, 
bei © Reimer. 
1845, 


Friedrich Schleiermakhers 


literariſcher Nachlaß. 


Zur Theologie. 


Dritter Band. 


—————————— 
Berlin, 
bei © Reimer. 
1845. 





Einleitung 


ing 


neue Teſtament. 





Aus Schleiermacher's handſchriftlichem Nachlaſſe 
und nachgeſchriebenen Vorleſungen, 
mit einer Vorrede 


von 
Dr. Friedrich Lücke, 


herausgegeben 


von 


G. Wolde, 


Repetenten an der theol. Facultät in Göttingen, 


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Berlin, 
bei © Reimer 
1845, 


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——464 


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Vorrede. 


Zu den mir zugefallenen Theilen des litterariſchen Nach— 
laſſes von Schleiermacher gehörten von Anfang an ſeine Vor— 
leſungen über die Einleitung in das Neue Teſtament. 

Wenn Viele ver Geſammtausgabe der Schleiermacher— 
ſchen Schriften ſchnelleren Fortgang und baldige Vollendung 
wünſchen, ſo theile ich eben ſo ſehr dieſen Wunſch, als ich 
meinen Schuldantheil an der Verzögerung offen bekenne. 
Aber gewiß befinden ſich viele meiner Mitarbeiter mit mir im 
gleichen Falle, daß je mehr die eigene Lebensaufgabe unab- 
weisbare eigene Titterarifche Arbeiten und Studien herbeyführt, 
defto mehr Zeit und Kraft für fremde Arbeiten fehlen. In 
diefer Lage mußte mir die Bereitwilligfeit meines lieben Freundes, 
des Herrn Repetenten Wolde hiefelbft, auf meine Bitte vie 
Herausgabe der vorliegenden Vorleſungen mit meinem Bey 
rath übernehmen zu wollen, befonders willfommen feyn, um 
fo mehr, da ich wußte, daß die Arbeit von ihm nicht nur früher, 
fondern bey größerer Muße und Luft auch um vieles beffer 
gethan werden wiirde, als mir möglich gervefen wäre. Ich 
trete der Beſcheidenheit meines jungen Freundes nicht zu nahe, 
wenn ich ven Lefern verfichere, daß fie aus feiner Hand eine 
wohlüberlegte, geſchickt und gemiffenhaft ausgeführte Arbeit 
befommen. Bon feinem Verfahren hat er felbft in dem 


viit | | . VBorrede 


nachftehenden Vorwort Nechenfchaft gegeben. Mir Tiegt ob, 
zur näheren Orientivung ver Lefer über das Werk felbft ei— 
niges hinzuzufügen. 


Niemand wird in diefen Vorleſungen ein Werf der Ge- 
genwart im engeren Sinne erwarten. Wenn der Strom 
der theologiſchen Litteratur auch: langſamer ginge, als er geht, 
ſo könnte doch ein Werk, welches vor länger als zehn Jah⸗ 
ven gefchaffen tft, jett nicht mehr als ein gegenwärtiges gel- 
ten, jo Daß es den gegenwärtigen, Berhältniffen und Bedürf⸗ 
niſſen durchaus entſpräche. Wer weiß aber nicht, wie gerade 
auf dem beſonderen theologiſchen Gebiete, welchem dieſes 
Werk angehört, der Fluß der Litteratur trotz aller Stauun— 
gen faſt jaͤhlings ſtrömt, jedes Jahr, ja faſt jeder Tag Neues 
bringt, ſo daß, was vor zehn Jahren noch lebendig war und 
galt, jetzt ſchon wie veraltet und vergangen erſcheint? Es— 
ift ganz in der Ordnung, wenn weder von den modernen | 
progreffiftifhen noch moderantiftifhen und fchlechthin reactionä— 
ren Bewegungen oder — Gtillftänden etwas in dieſen Vor— 
lefungen verlautet. Don vielem, was wir in der Kritif des 
Neuen Teftamentes in dem letzten Jahrzehend erlebt haben, fo 
rechts, wie links, hat Schletermacher, fo viel Prophetifches 
er fonft in fich hatte, wohl kaum eine Ahnung gehabt. Wer alfo 
nur das als gegenwärtig lebendig fchätt, was aus den neue 
ſten Bewegungen felbft hervorgegangen ift, für den haben 
dieſe Borlefungen allerdings nichts gegenwärtiges. Auch kön— 
nen fie, obwohl zunächft für den Zugendunterricht beftimmt 
und eingerichtet, doch auf Feine Weife ven Nusen eines fogenann- 
ten Lehrbuches gewähren. Die Kunft, ein folches zu fehrei- 
ben oder in DBorlefungen zu fprechen, ift eine fehr noth- 


Borrede IX 


wendige Kunſt. Aber Schleiermacher war darauf von Natur 
eben nicht eingerichtet und hat fie auch nie geübt, 

Wenn wir nun gleihwohl dieſen VBorlefungen mehr Ge- 
genmwart, als Vergangenheit zufchreiben, und fie heilfam und 
nüßlich für die Gegenwart nennen, fo möchten wir vorerft 
daran erinnern, Daß, wenn die theologifche Litteratur Der 
Zeit einem ſtrömenden Fluffe gleicht, doch in jedem Augen: 
bi darin die Quellen gegenwärtig. find, woraus ver Fluß 
zuſammenfließt. Wir fagen nicht zu viel, wenn wir Schlei- 
ermacher in ver Theologie überhaupt, insbefondere aber auf 
dem Gebiete der neuteftamentlichen Kritif zu den Duellengei- 
ftern der Gegenwart rechnen. Seine Fritifchen Schriften über 
den erften Brief an ven Timotheus und die Schriften des Lufas, 
io wie feine Fritifchen Arbeiten auf dem Gebiete der claffe. 
ſchen Litteratur, beweifen, daß die litterariſche Kritik überhaupt 
zu feinen eigenthümlichen Gaben gehörte, under, wie in Allen, 
wozu er Gabe und Beruf empfangen hatte, fo auch auf 
dieſem Gebiete ſchöpferiſch, neubildend, quellenartig war. 
Solche epochemachende Geifter behalten, auch wenn ihre 
nächſte Periode abgelaufen ift, immerfort ihre Wirkfamkeit 
und Geltung. Die Borlefungen haben in viefer Beziehung 
den befondern Werth, daß fie die ganze Energie, Nichtung 
und Methode Schleiermachers in der Kritif des N. T., feine 
fritifhe Geſammtanſchauung von dem neutefl. Kanon exft 
recht an das Licht treten laſſen. Wem alfo daran liegt, aus 
den vollftändigen Arten fih über den Fritifchen Proceß Der 
heil. Schrift in der Gegenwart zu unterrichten, und Die ei> 
gentlich treibenden Geifter darin zu erfennen, zu unterfeheiden 
und zu prüfen, und wer außerdem das Intereffe hat, ſich 
von Schleiermachers ganzer geiftiger Perfönlichkeit, fo mie 


' s 
x Vorrede. 

von ſeiner Bedeutung für die geſammte gegenwärtige theo— 
logiſche Litteratur ein deutliches, richtiges Bild zu machen, 
dem dürfen dieſe Vorleſungen nicht entſtehen. Es war unſrem 
geliebten Freunde und Meiſter nicht vergönnt, die Kritik 
des neuteſt. Kanons nach ſeiner Art vollſtändig auszuar— 
beiten und ſo der Nachwelt ein vollendetes Werk zu hinter⸗ 
laſſen. Wie ſeine Vorleſungen überhaupt, ſo ſind auch dieſe 
eben nur ſeine lautgewordenen Studien, ſuchende Verſuche in 
freyeſter Art, ohne Abgeſchloſſenheit des Inhalts, ohne Voll- 
endung der Form, Aber bey dem alfen führen feine ſämmt—⸗ 
lichen Vorlefungen, felbft da, wo er weniger zu Haufe war, 
wie 3. B. in der Kirchengeſchichte, Goloförner in Menge 
mit fih, welche leicht zu erfennen find. In den hier mitge- 
theilten, welche eine Wiflenfchaft betreffen, in ver er fi 
fihon früh einheimifch gemacht hatte, wird man mehr, als 
einzelne Körner, man wird ganze, reiche Goldadern finden. 
Abgefehen von der Teichten, immer frifchen, heiteren Art der 
Behandlung eines an fih mehr trodnen Stoffes, fo wie von 
den gelegentlichen Winfen und Urtheilen 3.9. über den Werth 
und die Bedeutung der Akademiſchen Vorträge, u. a. m., 
vechnen wir zu dem Goldgeäder, welches fi) ganz durchzieht, 
die Energie, mit welder er die einzelnen Momente der Friti-. 
ſchen Unterfuhungen zufammenzufaffen und auf ihren Duell 
punet zu concentriren weiß, ferner den feinen, ſcharfen Blid 
in die Gigenthümlichfeiten der neuteftamentlichen Litteratur, fo- 
dann aber ganz vorzüglich den unverzagten Muth, womit er 
die Eritifchen Probleme ergreift und feinen verftändigen Zwei— 
fel ſcheuet, ſowie die Befonnenheit und Befcheivenheit, welche 
nirgends täppifch zugreift, nirgends den Knoten, weder aus 
Ungfauben noch aus Überglauben, durchhauet, welche eben 


r 


Vorrede. xi 


ſo gut weiß, was man nicht wiſſen, als was man wiſſen 
kann, den hiſtoriſchen Grund und Boden feſthält, und ſich 
ſelbſt da, wo Zweifeln, Bedenken und Vermuthen am 
rechten Orte iſt, von aller bodenloſen Zweifel - und Hypo- 
thefenfucht frey halt. Fe mehr unfere Zeit gerade auf dies 
fem theologifhen Gebiete an ven Eranfhaften Extremen des 
Sortfchritts und der Hemmung leidet, an Zaghaftigfeit und 
Tollfühnheit links und rechts, — deſto mehr glauben wir 
ein gutes Recht zu haben, das gegenwärtige Werf auch als 
ein der Gegenwart vielfach Heilfames und erquicliches” zu 
empfehlen. 

zum Schluß noch ein Wort über das Verhältnig dieſer 
Borlefungen zu der in der letzten Zeit vielfach angeregten 
Frage über die wiffenfchaftliche Form der fogen. Einleitung. 
Schleiermacher, indem er die Einleitung ganz in ihrer gegen- 
wärtigen praftifchen Geftalt nimmt, fagt von ihr, fie eigene 
fich nicht, als Wiffenfchaft angefehen zu werden. In ver That 
fann fie das auch nicht, fo lange fie in dem Kreife der exe- 
getifchen Theorie und Praxis eben nur als das Füllſtück der 
Hermeneutif und Kritik betrachtet wird, welches aufnehmen ſoll, 
was dieſe übrig laſſen. Hiermit aber werden gewiß Viele nicht 
zufrieden feyn, am wenigften mein verehrter Freund, Herr 
Profeffor Hupfeld in Halle, welcher jüngft in feiner fehr 
Iehrreichen Schrift über Begriff und Methode ver fogen. 
biblifchen Einfeitung I) mit großem Recht den Verſuch ge- 
macht hat, ver Ginleitung eine wiffenfehaftlihe, und zwar 
theologiſch wilfenfhaftliche Form zu geben. In Wahrheit ift 
auch nicht einzufehen, warum ein fo vielbelaubter und wich- 


1) Marburg 1844. 8, 


XII Porrede, 


tiger Zweig des theologifchen Wiffens, wie dieſer, nicht eben 
jo gut, wie die Hermeneutif, eine beftimmte wifjenfchaftliche 
Form haben follte. Nachdem ſich die hermeneutifchen Theile 
der Einleitung emaneipirt und eine vwiffenfchaftliche Form ge— 
wonnen haben, muß auch, was zurüdbleibt, eine ſolche an- 
nehmen fönnen, oder es ift eben Fein wiſſenſchaftlicher Stoff, 
was es doch iſt. — Herr Prof. Hupfeld nun giebt ver 
Einleitung nach Abzug der Hermeneutif und Kritik, die auch 
Schleiermacher beyde ablöft, den Namen und vie Geftalt 
einer Gefchichte der heiligen Schriften Alten und 
Neuen TZeftaments, oder der biblifchen Litteratur. 
Indem ſie dadurch, fo zu fagen, auf ihren Zaufnamen, ven 
ihr Rihard Simon, ihr Vater, einft bey ihrer Geburt 
gegeben bat, zurücfgeführt wird, ſcheint fie damit auch ihre 
urfprüngliche wiſſenſchaftliche Würde und Geftalt wieder zu - 
gewinnen. Aber geht man einmahl auf Richard Simon zus 
rück, fo folte man auch ven vollen Namen und Begriff, den 
er dem Inhalt der fogen. Einleitung gegeben, wieder geltend 
machen. Er nennt fie nicht bloß Histoire, fondern Histoire 
critique du V. etN. T., gewiß nit, um den Fritifchen 
Character feiner hiftorifchen Forſchung und Darftellung, ver 
fih von felbft verfieht, auszudrüden, fondern, wie aus Hist. 
critique d. V. T. liv. 1. ch. 1. hervorgeht, in Beziehung 
auf den Eritifchen Zweck derſelben. Iſt aber die Kritik ver 
heifigen Bücher der eigentliche, weſentlich wiſſenſchaftliche 
Zweck ihrer Gefihichte, fo Tiegt auch die wiffenfchaftliche Form 
nicht in. dem Begriff der Geſchichte, fondern der Kritik, 
Der Zweck der Kritif giebt der Einleitung ihre allgemeine 
wiffenfhaftliche Form und wmefentlihe Beziehung auf Die 
Exegeſe, als philologifche Kunft. Der befonvere theologifche 


Vorrede. XI 


Charakter derfelben liegt in der Idee des heil. Schriftfanuns, 
Als folher, nicht als irgend eine Fitterarifche oder fprachliche 
Erſcheinung haben die Schriften des A. und N. T. ihre ei 
genthümliche theologifche Bedeutung. Wie aus der fchon durch 
die Apologetif gegebenen Idee des Kanons die Kritif deffel- 
ben, als Bedingung einer wahren theologischen Auslegung, 
nothwendig folgt, fo ergiebt fih aus der Aufgabe der 
Kritit des Kanons die Inhalt und Formbeftimmung der 
Wiffenfhaft. Die Kritif des Kanons aber, als eines hiftoris 
hen Fartums, hat die wahre Gefhichte des Kanons zu 
ihrer Borausfegung oder vielmehr zu ihrem ftofflichen Inhalte. 
So kann man die Wiffenfchaft fchlechthin Die Kritif des Ka- 
nons (critica sacra) nennen, welde zufammengeoronet und 
gleicher Würde mit der Hermeneutif unmittelbar die exegeti- 
Ihe Kunft begründet 1). Hat nun Schleiermadher zwar auch 
die Kritik befonders geſetzt und mit der Hermeneutif zufam- 
mengeoronet, aber jene nur in dem engeren Sinne ber Theo- 
vie der bloßen Texteskritik, Die Kritif des Kanons aber als 
jolchen der fogenannten Einleitung überlaffen, fo hat er durch 
diefe Zerftüdelung der critica sacra, und durch Die bloß 
praftiiche Beziehung der Einleitung auf die Exegeſe Die wifs 
fenfchaftlihe Drganifation verfelben allerdings nicht gefür- 
dert. Aber indem er fi) doch in der Einleitung in der That 
vorzugsweiſe mit der Kritik des Kanons, nicht bloß als einer 
Iitterarifihen Sammlung, fondern zugleich als einer theologi- 


1) Vgl. meine ausführlichere Erörterung hierüber in der Recen— 
fion von Schott Isagoge historico-eritica in libr. N. T. 
und De Wettes Lehrbuch der hift, krit. Einleitung, Gött. 
Gel. Anz. 1832. ©. 1787—1799. 


xIV Borrede. 


ſchen gefchichtlichen Grundlage befhäftigt, und die betreffen- 
den Unterfuchungen hiernach fehr methodiſch behandelt, giebt 
er Anregungen und Winfe genug zu einer über ihn hinaus- 
gehenden ftrengeren wiſſenſchaftlichen Geftaltung ver Einlei- 
tung, und feine Vorleſungen werden in viefer Beziehung 
nicht ohne fürdernden Einfluß ſeyn auf die immer vichtigere 
Löfung des von Herrn Profeffor Hupfeld fo Eräftig ange 
vegten Problems. 

Göttingen, den 17, November 1844, 


Dr. Lüde, 


Vorwort des Herausgebers. 


N Die Beſchäftigung mit diefem Theile von Schleiermacher's 
fitterarifhen Nachlaffe war dem Herausgeber eben fo lehr— 
reich, wie erfreulich, und das dadurch veranlaßte forgfältigere 
Eingehn in den Geift diefer Unterfuchungen mußte die Arbeit 
ver Herausgabe zu einer fehr belohnenden machen. Sie war 
auch, wenngleich immerhin mit nicht geringen Schwierigkeiten 
verknüpft, Doch wegen der Befchaffenheit des vorliegenden 
Materials bei weitem einfacher, als fie bei ver Behandlung 
ver frühern Bände gewefen fein muß. Die Mannigfaltigfeit 
des zu ombinirenden war nemlih nicht fo groß, weil 
Schleiermacher die Vorleſung über Einleitung ing neue Te— 
ftament nur zweimal gehalten hat, im Sommer 1829 und 
im Winter 1831/32, wöchentlih 5 Stunden, Es lagen nun 
von Schleiermacher's eigner Hand etwa 10 Bogen Manu— 
feript vor, melde theils zerftveute Colleetaneen enthalten, 
theils aber den Entwurf zu ver 1829 gehaltenen Vorle— 
fung. Diefen Entwurf aber bei ver Herausgabe zum Grunde 
zu legen, erfehien nicht thunlich, weil er fehr ungleihmäßig 
gefaßt war, oft ausführlicher, oft aber nur die Furze Angabe 
deffen enthaltend, was in der betreffenden Stunde berührt 
werden follte. Es war allerdings auch ein nach viefer erften 
Borlefung nachgefchriebenes Heft da, aber nur unvollfländig 


xvi Vorwort des Herausgebers. 


verfaßt. Die zweite Vorleſung aber war in Anordnung und 
Ausführung ſchon ſo unabhängig von jenem erſten Entwurf 
gehalten, daß ſie nicht unmittelbar zur Ergänzung deſſelben 
dienen konnte. Es erſchien daher am zweckmäßigſten, dieſe 
letzte Vorleſung von 1831/32 aus drei nachgeſchriebenen 
Heften, von denen zwei ſehr ſorgfältig und vollſtändig 
geſchrieben ſind, zu reproduciren, da ohnehin die Fülle 
und Lebendigkeit der Schleiermacher'ſchen Methode ſich im 
mündlichen Vortrage beſonders entfaltete. Es waren aller- 
dings, da Schleiermacher ſo ſehr raſch geſprochen hat, auch 
in dieſen Heften oft ſehr auffallende Differenzen und Unrich⸗ 
tigkeiten; deſſenungeachtet glaube ich durch Combination des 
Verſchiedenen und durch Vergleichung mit dem Entwurf von 
Schleiermacher's eigner Hand und durch Zuratheziehn des an- 
dermweitig von ihm über die betreffenden Gegenftände Ge- 
fhriebenen mit einiger Sicherheit den wirffichen Text ver zu- 
legt gehaltenen Borlefung gegeben zu haben, mit den Abfür- 
zungen etwa, welche durch den Unterſchied des Anhörens und 
des Leſens einer Borlefung unumgänglich fihienen. 

Das eben Bezeichnete bildet alfo ven Text des vorlie⸗ 
genden Buches. Als Anmerkungen erfcheinen unter demfelben 
diejenigen Stellen des eignen Entwurfs Schleiermachers, welche 
entweder beftimmter und vollftändiger find, als das 21%, Jahr 
ſpäter DVorgetragene, oder eine yon der fpätern verſchiedene 
Anſicht enthalten. Dies iſt überall durch „Erfter Ent 
wurf’ bezeichnet, Unter der Rubrik „Erſte Vorleſung“ 
findet fi) an einzelnen Orten das, was aus dem 1829 nadj- 
gefehriebenen Hefte genommen ift. Außerdem aber hat ver 
Herausgeber zur Bequemlichkeit ver Lefer Noten. mit Citaten 
über das im Texte Berührte hinzugefügt, theils zur Verglei— 


Vorwort des Herausgebers. xva 


hung des hier Gegebenen mit dem von Schleiermacher an— 
verwärts über dieſelben Gegenſtände Gefagten, theils aus ver 
heiligen Schrift und den Kirchenvätern, An einigen Stellen, 
namentlich im erften Theil, wo Schleiermacher eine eigen- 
thümliche Exegefe betreffender Stellen der Kirchenväter giebt, 
find viefelben zur Erleichterung der augenblicklichen Verglei— 
Hung in den Noten abgedruckt. Es ergiebt fih, daß Die 
beigebrachten Citate nicht immer bloß zur Befkätigung Des im 
Text Gefagten dienen, fondern an einzelnen Stellen auch ei- 
nen möglichen Einwurf gegen daſſelbe zu enthalten feheinen 
mögen, Bon eigner Anficht jedoch hat, wie es ſich von felbft 
yerfteht, Der Herausgeber Nichts eingemiſcht. ben fo wenig 
fonnte es feine Aufgabe fein, auf die betreffende Litteratur, 
namentlich auf das fpäter als 1831 Erſchienene hinzumeifen; 
wie denn auch Schleiermacher felbft in vieler Beziehung im— 
mer auf De Wette!s Handbuch fih beruft. 

Die Haupteintheilung des Ganzen war von Schleterma- 
cher felbft angedeutet, Dagegen wurde die fperiellere in Pa— 
ragraphen vom Herausgeber gemacht, und weil fie Feine 
firenge Sonderung der Materien bezeichnet, fondern nur Ein— 
ſchnitte im Fortgang der Rede, fo find auch Feine Ueberſchrif— 
ten darüber gefeßt, fondern nur Colummentitel zur ungefäh— 
ren Angabe des auf jever Seite Behandelten. Hierauf bezieht 
fih auch das vpraufgeftellte Inhaltsverzeichniß. 

Das aus Schleiermacher's erftem Entwurfe Mitger 
theilte iſt buchftäblich gegeben; dagegen hat fih im Texte 
felbft der Herausgeber feiner eignen Orthographie bedient, 
Um den daraus allerdings entfpringenden Nachtheil, Daß zweier 
lei Drthographie im Buche vorkommt, zu vermeiden, hätte 
Herausgeber wohl die Schleiermacher'ſche Schreibweiſe überall 


xvim Vorwort des Herausgebers. 


nachbilden mögen; allein dieſe ganze Sache erfihien ihm Doch 
zu unweſentlich, um fih hierin einen, wenn auch nur gerin- 
gen, Zwang anzulegen. 

Zum Testen Paragraphen (über ven litterariſchen Zu— 
fammenbang des neuen ZTeftaments) ift noch zu bemerken, 
daß nur ein Heft bis hierher reichte, Daß alfo Das Darin 
Gegebene nicht mit gleicher Sicherheit im Einzelnen verfaßt ift, 

Möchte es mir gelungen fein, meine Abficht, dieſe in- 
tereffante Vorleſung Schleiermacher's treu wiederzugeben und 
zugleich die Leetüre möglichſt Teicht und bequem zu machen, 
wenn auch nur einigermaßen erreicht zu haben. 

Göttingen, d. 10, Nov. 1844. 
G. Wolde, 


Inhaltsverzeichniß. 


Vorbemerkungen. Begriff, Inhalt, Methode 


— 
6 2, 


5.5, 


§. 6, 


der Einleitung ins neue Teftament, 


Seite 
Begranzung der Aufgabe . 2 202» Bine ” 
Andere theologiſche Difeiplinen, zwifchen ‚denen bie — 
Eee ae en RE Bananen Bi 
Was für die Einleitung zu thun übrig bleibt. . . » "ii 
Aufgabe der Einf., ung in die Stelle der urfprünglichen Leſer 
der neuteft. Schriften zu verſetzen. a der Prolegomena 
zu einem Shhriftfieller . . . . ——— 
Weſentliche Theile der Einleitung ins .T. » - Ale al 
Standpunck der Unterfuhung. Extreme des Re Poſitivis⸗ 
mus und Sfeptieismus . » 2 2.» —— RE BAR 5 
Gränzen der Möglichfeit einer ——— der — Nähere 
Beſtimmung deſſen, was in den A und wag in ben 
fpeeiellen Theil gehört . . .. — I 
Ueber den ganzen Umfang der Sache und die — 
weiſe. Allgemein theologiſches Bedürfniß und das der Fach— 
gelehrten. Mündlicher Vortrag und ſchriftliche Behandlung. 
Aufgabe der academiſchen Vorträge in jetziger Zeit. enee 
der vorhandenen Litteratur . . . —— 18, 
Zrennung der Einl, ins N. T. von der. ins U. T —— 
De8 um N. T. Überhaupt : = 1. ee, seen 29, 8 
Reihenfolge der Interfuchungen. Stellung der mocxiellen 
Brite Dr -Einfeiuinrg 1. AP : 29. 


xx | Inhaltsverzeichniß. 


Erſter Theil. Allgemeine Einleitung ins. 
neue Zeftament, 


Erſtes Eapitel. Geſchichte des Canons. 
| Seite 
$. 141. Methode der Unterfuhung. Sebige MHebereinftimmung der 
ganzen Kirche über den neuteftamentlihen Canon . . » 32. 
$. 12. Zeugniffe des Cyrill von Jerufalem und des Augufin. 33. 
$. 13. Folgerungen daraus, — Berordnung der a Synode 
oe ° er ae a, A 
$. 14. Zeugniß des Eufebiugs von Säfaren. — u. 
constit. apost. Rufin. Athanafius. Hieronymus. Gregor dv. 
REDE N EA A en ii ER. 
ß .. were. 0. 
$. 16. Doppelte Sammlung: zvayy&iuov und aroorodızov, und Samm— 
ung des ganzen N. Ts. (Gregorius Thaumat. Origenes, 
Clemens Aler., epist. ad Diogn., Zertullin) » «2... 
$. 17. Alte Meberfegungen: Itala und Pelhito . . 2... 62. 
S 18. Bann des Marcion » sn 0% 22: 3. - 0646 
$. 19. Folgerungen auf die Principien bei der Sanminge Theolo⸗ 
giſches und aſcetiſches Intereſſe und Transaction zwiſchen 
F— —— 66. 
$. 20, Tatian und Sufin. (Satians und Marcion’s — 
der Schrift. Katholiſche, ſpeculative uud proteſtantiſche 
Maxime). Unkunde über die erſte Genefis einer Sammlung 
na 2. RN ARTE =* 
$. 21. Vermuthungen über Die Art des Befanntiverbeng F- ber Zus 
fammenftellung der neut. Schriften. Der Canon als Werk der 
Kirche und der göttlihen Providens . » 2 m nu. 


Zweites Capitel. Bon dem Berhältniffe un 
fers neuteffamentlihen Textes zu dem ur— 
fprüngliden. 


$. 22. Urſprüngliche Sprache und Schreibart des neuen Teſtaments. 75. 
F. 23. Schriftzeichen. Uncialſchrift. Stichometrie. Interpunction. 
Abſetzen der einzelnen Wörter nn 
$. 24. Kepulam, virdo, ne Capitel und Verſe; Schäd— | 
Yichkeit verfelden . . - — NIE 
$. 25. Unterfihriften, Außere und innere Ueberſchriften. Die Pſeu⸗ 





Inhaltsverzeichniß. | xxI 


eite 
donymität ber Verfaſſer. Bedeutung von zvayyiisov und zard ” 
in den Heberfihriften . . We 
$. 26. Differenzen int Tert felbft. Clemens er. , Drigenes, Mar 
cion. Lucian und HSefyhiu . » -» 92. 
F. 27. Gegenwärtiger Beftand unferg ———— Temles Di: 
wichtigften Eodices . . » en irn . x. JR 
$. 28. Natürliche Gefchichte des Torte». . . -» „Bl. 100, 


$. 29, Hypothefen über das Verhältniß der Handſchrifien zu — 


Hug, Griesbach. Ueber den Gebrauch alter Ueberſetzun— 
gen und der Citationen von Kirchenvätern in der Textescritik. 
Matthäi und Scholz. ... 324602 
Reſultat der Geſchichte des haudſchriftlichen Teries 6 
Gedruckter Text. Complutenſiſche und Erasmiſche Aus— 
gaben. Beza. Recepta. Walton, Fell, Gregorius, Mill, Kü⸗ 
ſter. Bengel, Wetſtein, Bowyer. Ueber critiſche Conjecturen. 
Griesbach, Schulz, Matthäi, Scholz. Handausgaben, Knapp, 
Lachmann Capitel und Bereit na Kal. ar AL 


Zweiter Theil. Sperielle Einleitungin Die 
einzelnen Theile des neuen Teftaments, 


$. 32, 


$. 37. 


BENIEUDGE at an u ln 4 
Erfies Capitel. Die pauliniſchen Briefe - 


Bewährung der paulinifchen Briefe Durch Die Apoftelgefihichte. 
(Meder Reden hiſtoriſcher Perfonen und — von 
Brieſfenn — 
Notizen über Perſon an Berpättniffe * — Seine 
Herkunft und Bildung, Bekehrung, Namen. .» . . 122, 
Abfolute und comparative Chronologie des Lebens pauli. 
J. Data zur abſoluten Chronologie: Aretas, Gallio, Felix, 
Feſtus, Aquila. IL. Comparative Chronologie, Gal. 2, 1. 
zweite Gefangenſchaft Pauli.... 125. 
Zeitfolge der Briefe ſelbſt: Eintheilung * Wirtſamkei Poult 
in 3 Perioden. Galat., Tit. 1. Theſſ., 1. u. 2. Cor., Röm., 
Epheſ., Phil., Col., Philem., 2. Tim., 1. Tim., 2. Theſſ. 
Fehlen der Paſtoralbriefe bei Marcion . .. 464209 
Claſſification der Briefe nach ihrem Inhalte. Beſtimm⸗ 


XXII 


$. 38. 
$. 39. 
$. 40, 


$. 42, 


. 43. 
. 44, 
45. 
46, 
AT. 
48, 
49, 
50. 
51. 


wenn 


en 
+ 


mn 0% 
= + + . « 


$. 52, 


Inhaltsverzeichniß. 


ter Impuls und günſtige Gelegenheit zum Schreiben. Cir— 
cularſchreiben. Didactiſcher und gnomiſcher Theil . . 
Ueber verlorene Briefe des Paulus. Col.4, 16. 1. Cor. 5, 9. 
Aeußere Zeugniſſe für die Aechtheit der einzelnen paul. Briefe. 
Innere Merkmale der Authentie. Principien darüber. 
Anknüpfung an die Apoſtelgeſchichte. 

Der SÖalaterbrief . . »- ER, 
Character des Paulus als Merkmal A Aechtheit — Briefe 
Kern von Achten paul. Briefen, N aus Röm., Gal., 
Tr SBefk 1.8.2. Bon. — 
Die beiden Sheffaloniherbriefe N er 
Die beiden Eorintherbriefe. . ..» 

Der Noömerbrief. 
Pauli Gefangenſchaft. Der Philipperbrief. 
Der Coloſſerbrief und der an Philemon . . 2... 
Ze yheierbiiek „ini lc“ 

Derzmweite Brief an Timotheus a 
Der Brief an Titus und der erfie an ee RR 
Veberficht der verſchiedenen Bewährtheit der paul. Briefe in 
oefhichtlicher Beziehung. Die drei Paftoralbriefe, End- 
refultat darüber -» . . £ 
Bergleichung des Inhalts Kir Briefe nit Me Serföntichteit 
Pauli. Verhältniß zu feiner Bildung vor feiner Befehrung, 
Zufammenfaflende Betrachtung der paulinifhen Lehre: 
feine Anfiht vom Berhältniffe des Gefebes zum Chriſtenthum. 
Eigenthümliche Lehren des Paulus; Symbolifirung der Auf- 
erfiehung Chrifti, 1. Cor. 15, 4—8., Wiederfunft Chrifti 
und allgemeine Auferſtehung, 1. Cor. 15, 24—28., Stufen 
höherer Geifter, Genugthuungsiehre. Nöthige Borficht bei 
Auslegung paulinifher Stellen. Verſchiedene Schätzung des 
Paulus in der Kirche 

Sprache der pauliniſchen Briefe; abweichender Cora Is 


181. 


Epheferbrief8 und der a Abftufungen ver Un 


achtheit . 
Vebergang zum Sofgenben“: 


Zweites Capitel. Die vier Evangelien. 
Ausſcheidung der vier canoniſchen aus den vielen häretiſchen 
ein HZelien 


$. 69. 


Inhaltsverzeichniß. 


Nachrichten über uncanoniſche Evangelien. Urſachen, 


warum ſie für häretiſch gehalten wurden. Verwandtſchaft 


vieler derſelben mit Matthäus 

Alter der Anerkennung der vier Evangelien. —— 
über Citationen, über das Amt der Evangeliften, Gegenſtände 
der evangeliftifchen Erzählung, Vermiſchung von Aechtem und 
Salfıhem, abweichender Charaster des Johannesevangeliums. 
Zeugniffe von früherer Anerfennung der vier canon. Evan- 
gelien: Clemens Aler., Celſus, Irenäus, Tatian, Juſtin, 
Marion . . . — J 
Ueber die Bern ber Ehangelien NERLTSRDE NIT 


. MVebergang vom mündlichen Bortrage der Evangeliften zur 


fhriftliden Abfaffung: Unterſchied zwiſchen Biogra— 
phie und einzelnen Erzählungen, zwiſchen Johannes und den 
Synoptikern; verſchiedenes Alter beider Arten; Beſchreibung 
der mündlichen Erzählungsweiſe und Uebergang derſelben zur 


Achriſftlihen 


Hypotheſe von einem Urevangelium. 
Möglicher Einfluß der Apoſtel auf die evangeliſtiſche ER 
lung und auf die Evangelienfihreibung. Verſchiedene Be— 
glaubigung des Material . . . . en 
Vieber Zeit und Gegend der Abfaſſung * rain, 
Borhandenfein einzelner Tehriftlicher Aufläte - 

Die Siefeler’fhe Sypotbefe . . » 

Zufammenfaffung der bisherigen Betratungen ui Reſultat 
daraus. Galiläiſcher und jeruſalemiſcher Cyclus 
von Erzählungen aus dem Leben Jeſu. Ueber Joh. 3, 24. 
Aelteſte Spuren von der Entſtehung unſrer Evangelien: Pro— 
log des Lucas, Zeugniß des Papias 

Verhältniß unſrer Evangelien »ur« Mardurov und zur« 
Meoxov zu den von Papias angeführten Schriften des Mat- 
thaus und Marcus. Unſer Ev. Matth. kann nicht von einem 
Apoftel, unfer Ev. Mare, nicht unter unmittelbarer Mitwir— 
fung des Petrus verfaßt fein . —— 
Verhältniß unfrer drei ſynopt. Evangelien zu "hie. Be- 
fohränfung der Aufnahme von Erzählungen durch ein gewiffes 
nothiwendiges Maaß des Umfangs des Buchs. Erklärung der 
Berwandtfchaft unfrer Evangelien daraus, daß gewiffe Erzäh- 


XXIII 


Seite 


197. 


204. 


209. 
216. 


21% 
224. 


223, 


230, 
233. 


239. 


238. 


244, 


AXIV 


5.71. 


$. 72, 


Inhaltsverzeichniß. 


+ 


lungen ihrer Natur nach von jedem Verfaſſer aufgenommen 


werden mußten \ 
Betrachtung der drei — —— Evangelien * ven ein= 


- zelnen Erzählungen. 1. Die galiläiſchen Elemente, 


Berbindung derfelben zwei Erzählungen in allen drei Evan- 
gelien: Taufe Chrifti und Verſuchung, Heilung eines Gifts 
brüdigen und Berufung des Matthäus, Aehrenausraufen 
und verborrete Hand, Sturm auf dem Meer und Dämoni— 
fiher bei ven Gadarenern, Tochter des Jairus und blutflüf- 


fige Frau, Nachfrage des Herodes und Speifung, Zeugniß. 


ver Zünger und Berffärung nebft Heilung des Mondfüchtigen. 
Reden im galiläifchen Abſchnitte . — re 
Geburts - und Kindheitsgeſchichte Chriſti. Einzelne Erzählun— 
gen, welche die 3 Evangelien gemeinfchaftlich, aber in ver- 
fhiedener Ordnung haben: über Johannes d. Täufer, Berus 
fung der beiden Brüderpaare, Heilung der Schwiegermutter 
Petri und des Knechts eines Hauptmanns. Nicht gemein- 
ſchaftliche galiläiſche Erzählungen : die Enthaupfung des Jo— 
Kannes, d. cananäiſche Weib und die Speifung der 4000 
bei Matthäus und Marcus; die Gefhichte vom Stater nur 
bei Matthäus; der Befeffene in der Schule bei Luc. und 
Marc., der Süngling zu Nain und die falbende Sünderinn 
nur bei Lucas; der Taubftumme und der Blinde bei Beth- 
faida nur bei Marcus. Erzählungen, die Matthäus aus ei- 
ner fpätern Neifezeit in die galiläiſche zieht. Nefultat . 

11. Der Reiſeabſchnitt. Ungleihmäßigfeit der 3 Evans 
gelien hierin; eigenthümliche Erzählungen des Lucas in Dies 
ſem Abſchnitte; früheres U Dr Vorhandenſein von 
0.02 2 — 


Züge aus den zwei erſten ae die Johannes hat, und 


die bei den Synoptikern fehlen: erfie Befannifchaft einiger 


Apoftel mit Chrifto, Hochzeit zu Cana, erfle Tempelreini— 


gung, Heilung am Teich Bethesda, Heilung des Blindgebo- 
renen, Samariterinn, Zeugniß des Täufers von Chrifto, 
Erweckung des Lazarus 

111. Vom Einzuge Chriſti in Jeruſalem bis zu 
feinem Tode. 1. Freie Wirkſamkeit Chrifti in 
Jeruſalem. Größere Nebereinftimmung der Evangelifien 


Seite 


251. 


254. 


263. 


273. 


au. 


$. 75. 


$. 80. 


$. 81. 


Inhaltsverzeichniß. 


in dieſem Abſchnitt. Einzug Chriſti und Frage des Syne— 
driums nach feiner Vollmacht. Feigenbaum bei Matth. und 
Marcus. Weinen Chriſti bei Lucas. Verfängliche Fragen. 
Reden gegen die Phariſ. bei Matthäus. Opfer der Wittwe 
bei Luc. u. Marcus. Reden beim letzten Hinausgehn aus 
dem Tempel. Längere Reden bei Matthäus. Bethaniſches 
Mahl bei Matth. u. Marcus. Verrath des Judas, Paſſah, 
Abendmahl, Garten am Ochberg . . lin, 
2. Die Leidensgeſchichte. Natürliche Gründe der Wi⸗ 
deriprüche in derſelben. Berläugnung Petri, über die Zeit 
der Berurtheilung Ehrifti vor dem Synedrium, Pilatus (Neue 
des Judas bei Matth., Abführung Chrifti zu Herodes bei 
Lucas). Kreuzigung. Erdbeben und Erſcheinung Verftorbe- 
ner bei Matth. Begräbniß. Berfiegelung des Grabes bei 
BR nn are al N a le SE a ga ae a a 
IV. Der Auferfiehungsabfehnitt. -Gründe der Ber- 
frhiedenheit. Glaubwürdigkeit. Mäanifeftationen Chrifti in 
Judäa und in Galiläa, erfire bei Lucas und Mare., letztere 
bei Matth., beide bei Johannes. Vorzug des Johannes vor 
Matthäus, Ergänzung, die Lucas in der Apoftelgefchichte 
GIEDE 2, + PATER ER SE — — 
Ueber das Divactifche in den ſynopt. —— Geftärung 
der Uebereinſtimmung im Ginzelnen, 3. 8. in altteftan. 
CHaten =... .; BE RT RL RE dh 
Reſultat in Beriefung auf Matthäus und Lucas . . 


. Ueber Marcus; ob er die beiden andern vor ſich gehabt 


habe? Gründe dafür und dagegen. Berhältniß zum Zeugniß 
des Papias. Eigenthümlicher Character des Marcusepange- 
liums. Anficht, daß es tie Grundlage der beiden andern fei. 
BA ee NT AL AN 


Das FEED Ih des Sohannes. 


Zweifel gegen die Aechtheit; falfche Borausfeßungen, worauf 
fie beruhn. Ob Johannes die andern 3 Evangelien habe er- 
gänzen wollen? Sein Evangelium als dag zvevuarınov 

Zotaleinprud des joh. Evangeliums. Pragmati- 
ſcher Character deffelben, 1. im Zeitraum vor dem Yeßten 
Aufenthalt Chriſti in Jeruſalem: Joh. d. Täufer, erfie Jün— 
ger Chriſti, Cana, Eiferſucht der Jünger des Johannes, 


+ * + * 


XXV 


Seite 


284. 


291. 


302. 
305. 


306. 


XXVI 


$. 83. 


$. 84. 


$. 85. 


Inhaltsverzeichniß. 


Chriſtus verläßt Judäa, Samariterinn, Ausbruch des Un— 
willens in Jeruſalem, falſche Erwartungen des Volks, Laub— 
hüttenfeſt, Verſuche der Phariſäer gegen Chriſtus, ſein Wei— 
chen nach Peräa; Erweckung des Lazarus; Einzug in Jeru— 
ſalem. — Das apologetiſche Element hauptſächlich in den 
Reden, Unterſchied von den Reden bei den Synoptikern. — 
Prüfung deſſen, was als Ergänzung oder Berichtigung der 
andern Ep. eriheint 2 2... En 
2. Letter Aufenthalt Chriſti in era ; Reden Chriſti 
in dieſem Zeitraum bei Johannes und bei Matthäus; Nicht— 
erwähnung des Oſterlamms und Abendmahls bei Joh.; kein 
Kampf in Gethſemane; Verhör bei Hannas; Auferſtehungs— 


ı geichichtes er . N REG 


Werth und Zweck des Evang. Joh. — Widerlegung einzel⸗ 
ner Zweifelsgründe gegen die Aechtheit deſſelben: Der Pro— 
log, geographiſche und hiſtoriſche Schwierigkeiten, Sychar, 
Bethesda, oo Tovdaero, als Name der Gegner Chriſti, &oor7, 
Joh. 18, 13. Pofitive Beweife für die Abfaffung durch einen 
Anoftel: Taufe der Jünger bei Chrifti Lebzeiten und Aufent- 
DRIEDORETDEN Ve 
Ueber Ort und Zeit der Abfaffung des joh. Evangeliums: 
Zeugniffe der Kirche über dies Ev., über zur« in deſſen 
Veberfchrift, Folgerungen aus dem fpätern Hinzufügen von 
BR 2 


Drittes Sapitel. Die Apoſtelgeſchichte. 


Trennung der Apoftelgefhichte vom Evangelium des Lucas, 
gemeinfshaftlicher Character beider. Ueber den Namen des 
Berfaffers. Gebrauch der erften Perſon des Plurals. Wie: 
derholung derfelben Erzählungen 2 2...» 

Anzeichen, daß die Appftelgefhichte aus einzelnen Erzahlungen 
zuſammengeſetzt iſt: Differenzen in den verſchiedenen Erzäh— 
lungen derſelben Begebenheit; Stellen, wo eine neue Erzäh— 
lung zu beginnen ſcheint, ohne von der vorhergehenden zu 
wiſſen. Scheinbare Spuren einer zuſammenhängenden Ge— 
ſchichtsſchreibung. Zwei Hauptmaſſen, eine aus Jeruſalem, 
die andere von den Reiſen der Apoſtel. Spuren, daß nicht 
immer ein Augenzeuge erzählt x 2 2 2 nn ne 


Seite 


318. 


332. 


340, 


344, 


351. 


$. 87, 


$. 88. 


$. 89, 


$. 91. 


$. 92. 


Inhaltsverzeichniß. 


Entſtehung der einzelnen Nachrichten in der Apoſtelgeſchichte, 
Verſchiedenheit von den Evangelien. Gemeindeurkunden. 
Reiſejournale. Wahrſcheinliche Zuſammenſtellung nach dem 
jüdiſchen Kriege. Mangel eines Schluſſes. Zweck der Apo— 
ſtelgeſchichte. Nefultat . . £ ai, 
Berhältniß ver Acta zu ven paufinifchen Briefen. Wiberfprüche 
zwifchen denſelben. Widerfprüche mit Sofepfuss . .. . 
Neber die Reden in ber Apoſtelgeſchichte; ob Lucas fie ſelbſt 
gemacht; Act. 1, 19. 4, 245 Rede des Petrus bei Eorneliug, 
des Stephanus, des Paulus in Antiochien, in Athen, in Je— 
ruſalem, vor Agrippa. Angebliche Gleichheit der Sprache 
in den. Reden 2 2. s EDARTESIT HERE 4 
Spuren von —— der einzelnen Quellen durch 
den Verfaſſer des Ganzen. Citate nach den LXX. in den 
Revenn EI RAND RE 2 


Biertes Capitel. Die Fatholifhen Briefe. 


Urfprung und Bedeutung der Benennung. Ungleichartigkeit 
der einzelnen otiſcheeeee 

Die drei johan neiigen Briefe. Ungleiche Ganonicität 
derfelben . a 3 
Der erfie Brief ve —— Gleichheit der Sprache 
deſſelben mit der des Evang. Joh. Zweifel gegen Die Aecht— 
heit des Briefs. Briefliche Form. Leſer und Abfaſſungszeit. 
Verhältniß zum Evangelium . a 
Inhalt und Gedanfengang von 1. 30h. Es foheint ein Ab- 
fchiedsfchreiben zu fein, und mehr für helfenifche als jüdifche 
Ehriften. Anfpielungen auf Keime von Gnoftirismus. Nicht 
erwähnung des Briefs bei Polycarp; Zeugniß des Papias . 
Der zweite und dritte Brief des Johannes. Zweifel gr 
gen ihre Achthet . . . . DER IM 
Der erſte Brief Petri. Schwierigkeit gie Adreſe 
Zweifel gegen die Abfaſſung durch Petrus. Pauliniſcher 
Character der Sprache. Gründe für die Aechtheit des Briefs. 
Der zweite Brief Petri. Alte Zweifel gegen ſeine Aecht— 
heit. Uebereinſtimmung mit dem Briefe des Judas; letzterer 
erſcheint als der urſprüngliche. Hypotheſen zur Erklärung des 
Verhältniſſes zwiſchen beiden Briefen. Andere Zeichen der 
Unächtheit von 2. Petr, BL de 


XXVII 


Seite 


360. 


367. 


371. 


376. 


319, 


384. 


391. 


397, 


400. 


408, 


XXVINI 


$. 100. 


$. 101, 


$. 102, 


$. 103. 


$. 104. 


g. 105. 


$. 106, 


$. 107. 
$. 108. 


$. 109. 


$. 110. 


Inhaltsverzeichniß. 


Der Brief des Judas. Ueber den Verfaſſer; über Zeit 
und Ort der Abfaſſung er Ar ARE . 
Der Brief des Jacobus. Alte Zeugniffe über venfelben. 
Ueber den Berfaffer, die Lefer, die Zeit, den Inhalt des 
Briefe. Hypotheſe, daß ein Späterer ihn im Namen des 
Sacobus gefchrieben habe . 

Ueberſicht der canoniſchen Dignität un r * fatpolifgen 
Driefe. Eigenthümliche Lehren — Begriff des Ca— 
nons überbaumksi? 1-0 DR 


Fuͤnftes Capitel. Der Hebräerbrief. 


Berhältniß des Hebräerbriefs zum Canon; kirchliche Zeug- 
niſſe über denſelblee.. 
Adreſſe, Form, Inhalt, Stil und ganze Anlage des Briefe, 
Gründe gegen Paulus ſowohl, als auch gegen Barnabas 
Glas Berfafleri. a re 
Vermuthungen über den Berfafler des Schräcrbriefs, Ob er 
nach Serufalem gerichtet fein könne. Hyyotheſen über bie 
Leſer. Ueber Apollos als Darfafir . » » - 3 

Werth des Briefs, fein Verhältniß zum Ehionitismus. Seine 
Lehre, So bei, Lagsis: rt. ale a > te le 


Schftes Eapitel. Die Apocalypie. 


Ueber die Ginheit der Arosa Alte Nachrichten über 
das Buch 

Veber eregetifche Refultate aug — N Ein- 
gang, Eonftruction, Cap. 4—11., Stellen, aus denen man 
auf die Abfaffungszeit ſchließt, einzelne unabhängige Stüde 
im letzten Theil, Wiederkunft Chriſti, Beziehung auf römi- 
ſche Geſchichte, das Buch, die Thiergeftalten, die Zahlen, 
Anfang und Schluß, Zufammenfesung, Form der Bifionen. 
Ueber den religiöfen Gehalt der Apocalypfe » © - = = 
Ueber den apoftolifchen Urſprung derfelben. Zeugniffe der 
Kirche, Gegner des Buch* 
Berhältniß der Apocalypfe zum Canon. Ueber Johannes 
Presbyter als Derfafler » » - » ..» Seien 
Zufammenftellung alfer neuteftamentlichen Bücher in Bezie⸗ 


hung auf den Begriff des Canon . vv nn. 


Geite 


414. 


417. 


429, 


451. 


449, 


Inhaltsverzeichniß. xxix 


Seite 
Dritter Theil. Von dem litterariſchen Zu— 
ſammenhange und den Quellen des neuen 
Teſtaments. 


$. 111. Allgemeine Geſichtspuncte hierüber: Das N. T. als Theil 
der jüdifchen Litteratur. Einfluß der Nationallitteratur auf 
das N. T. nah Form und Materie. Paläftinifhe und - 
alerandrinifche Litteratur. Borftellungen, die das N. 2. 
als befannt vorausſetzt. Eigenthümlich chriſtliche Vorftellun- 
gen: Chriftus, Verſöhnung, Reich Gottes, Unabhängigkeit 
des Chriftenthums von früher vorhandenen Borftellungen. 474, 


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Borbemerfungen. 


Begriff, Inhalt, Methode ver Einleitung. ing 
neue ZTeftament, 


' 


S. 1. \ 

Bei der Frage, was denn die Einleitung in das Studium 
de3 neuen Zeftaments fei, findet fih, daß man ihre Gränzen 
enger und weiter fteden fann. Man hat alfo feinen fichern Bo— 
den, ehe man nicht eine Negel aufgeftellt hat, die fich bei der 
Behandlung derfelben durchführen läßt. Es ift der Sache unan— 
gemeffen, wenn man dem in ihr zufammengetragenen Materiale 
den Namen einer Einleitungswiffenfhaft gegeben hat; als 
MWiffenfhaft angefehn zu werden, eignet fie fich nicht ?). 

Suchen wir die Analogie in andern Fällen. Nimmt man 
einen Schriftfteller zur Hand, fo kommt es darauf an, in welcher 
Nähe oder Ferne von ihm der Lefer fteht; und je nachdem fich 
dies verhält, wird er zur Sache fchreiten fünnen oder nicht. Sit 
die Schrift in andrer Sprache gefchrieben, jo muß der Lefer fie 
erft inne haben. Bei dem Studium einer fremden Sprade 
halt man fich an die Bücherfprache. Aber nicht alle Schriftfteller 
halten fich daran; manche find voll Spiotismen und Archaismen. 


1) Bergl. Schleiermacher's kurze Darſtell. d. theol. Stud. 

21te Ausg. $. 123: „jenes Mancherlei, welches man Einleitung ing 

N. Teſt. zu nennen pflegt.” $. 144 „in der lezteren, die überhaupt 
wol einer Umgeſtaltung bedürfte, wird noch manches vermißt, was Doch 

hieher gehört, weil man es zur Lefung des neuen Teftamentes mitbrin- 
gen muß.’ | 

Einl. ins N. T. 1 


2 Degränzung der Aufgabe einer Einleitung ins N. T. 


Liegen diefe erforderlichen Sprachfenntniffe alfo nicht in dem Ge: 
biete des gewöhnlichen Studiums, fo muß man andre Hülfsmittel 
nehmen, Mörterbiücher, Gloffarien zu einzelnen Schriften. Das find 
Notizen, von denen Feder erwarten Fann, daß fie leicht zu haben find, 
die aber Feine befondere Miffenfchaft bilden: — St der Schriftfteller 
ein gleichzeitiger mit dem Leſer, fo mag leßterer eine Bekanntfchaft 
mit dem Kreife,. in welchem erſterer verſirt, wohl haben, und 
kann gleich zur Lefung fehreiten. Gehört dagegen der Schriftfteller 
einer frühern Zeit an, fo muß der Lefer eine Kenntnif der Geſchichte 
diefer Zeit haben. Niemand wird aber fagen, daß diefe Kennt: 
niß etwas fei, was als Einleitung zur Lectuͤre muß erworben 
werden; denn wer ein Sntercje an dem Schriftfteller nimmt, wird 
auch ein Intereſſe an der Zeit deffelben haben. 

Hieraus Fünnen wir die vorläufige Begränzung unferer Auf: 
gabe ftelen: daß in Beziehung auf das neue Teſtament alles, 
was einer befondern theologifchen oder andern Wifjenfchaft ange: 
hört, nicht in das Gebiet diefer Einleitung zu ziehen ift, fondern 
vorausgefeßt wird, daß e3 an feinem Drt als Wiffenfchaft erwor: 
ben werde oder worden fei, f 


u 

Diefe Begränzung: ift noch. keine beftimmte, ‚denn es fragt 
ſich, was als theologifche Difeiplin zu jeder Zeit und in jedem 
Studienfreife ausgebildet if. Wenden wir uns hierbei gleich 
an das neue Teſtament ſelbſt. Was kann das neue Teſtaͤment 
fordern, ehe das Studium deſſelben beginnt, und was iſt davon 
unter uns ſchon als theol. Diſciplin ausgebildet? 

Das neue Teſtament, wie es vor uns liegt, iſt zriechiſch 
Da die hypothetiſchen Urſchriften nicht mehr exiſtiren, fo iſt auf 
Feine andere mögliche Grundfprache Nücdficht zu nehmen, ſondern 
in Bezug auf unfer Studium ift das Griechifche Die Urſprache. 
Aber das Griechiſche des neuen Teſtaments iſt nicht durchaus das 
der Buͤcherſprache aus dem Kreiſe unſers claſſiſchen Studiums, 
ſondern hat ſeine Eigenthuͤmlichkeiten. Dieſe ſind, was das rein 


® 


Andere Difeiplinen, zwiſchen denen die Ginleitung steht. . 3 


Materiale, Lexicaliſche betrifft, in den befondern neuteſtament⸗ 
lichen Woͤrterbuͤchern verarbeitet; die Kenntniß deſſelben iſt alſo 
nicht in unſre Einleitung aufzunehmen. Ebenſo iſt es mit dem 
Formellen, dem Grammatiſchen. 

Soll das Studium des neuen Teſtaments auf — 
liche Art getrieben werden, ſo muß auch das Verſtaͤndniß auf 
kunſtmaͤßige Weiſe herbeigefuͤhrt werden. Jeder wiſſenſchaftliche 
Leſer deſſelben muß alſo mit beftimmten allgemeinen Regeln der 
Auslegungskunſt bekannt ſein. Dies waͤre eine allgemein phi— 
lologiſche Difeiplin, die Hermeneutik; die alſo ebenfalls vor— 


ausgeſetzt wird und nicht in unſre Einleitung gehoͤrt. 


Aber wir muͤſſen zugeſtehn, daß es außer den allgemei- 
nen Regeln der Hermeneutif noch befondre giebt, die verfchie- 
den find für verfchiedene Gattungen von Schriften z' man darf 
3. B. bei dichterifcher und bei ungebundener Rede nicht dieſelben 
Regeln der Auslegung anwenden. Daffelbe gilt bei den verſchie— 
denen Gattungen in Hinficht auf den Gegenftand: ein philoſophi— 
fcher Schriftfteller muß nad) dem Maag einer viel groͤßern Ge— 
nauigfeit im ‚Gebrauch der Ausdrüde beurtheilt werden, als wer 
in der, Weiſe freier Gedanfengeftaltung ſchreibt. So wird es für 
einzelne Formen der Darftellung ebenfo andre Anwendungen der 
allgemeinen ‚Regeln geben. Es ift nun offenbar, daß die erften 
Berfuche, eine &heorie der Auslegungsfunft aufzuftellen, einerſeits 
aus dem Intereſſe fuͤr die Bibelkunde, andrerſeits aus dem In— 
tereſſe für die roͤmiſche Geſetzgebung ausgegangen find; denn 
ſolche Studien entſtehn nie durch das Intereſſe der allgemeinen 
Wiſſenſchaftlichkeit, ſondern ſie kommen in Beziehung auf beſon— 
dere Beduͤrfniſſe zum Vorſchein. Da war natuͤrlich, daß anfaͤng— 
lich allgemeine Geſetze der Auslegung und fpeeielle: auf Beobach— 
fung ‚gegründete Negeln, mit einander  verwechfelt warden. Nach 
und nad) ging eine, genauere Sonderung vor. Es giebt ſchon 
Lehrbücher, die bei den allgemeinen Principien ſtehn bleiben ; die 


Hermeneutik hat alſo ſchon angefangen, nicht ohne Erfolgs als 


allgemein philologifche ART behandelt zu werden. Die 


1% 


4 Andere Diſciplinen, zwiſchen denen die Einleitung: fteht. 


Specialedermeneutif des neuen Teftaments ift häu- 
fig als’ befondere Anwendung jener allgemeinen Negeln bearbeitet 
worden. Diefe fällt alfo auch aus unfrer Einleitung heraus, und 
wird bei der Leſung vorausgefeßt. 

Wenn von einem alten Schriftfteller die Rede ift, fo fann 
das Studium deffelden nicht auf gründliche Weiſe betrieben wer— 
den, wenn man nicht die. Frage zu beantworten weiß, ob und in 
welchen Maaße das, was man als fein Werk vor fich hat, noch 
daſſelbe ift, al3 was er es niedergefchrieben hat. Denn zu jenen 
Zeiten, wo die Werke nur durch Abfchreiben vervielfältigt werden 
Eonnten, waren fie einer Menge Veränderungen unterworfen. 
Da ift die Aufgabe, wo folche Mannigfaltigkeiten vor und liegen, 
auszumitteln, was die urfprüngliche Hand des Schriftftellers fein 
möge. Dies Geſchaͤft kann nicht inſtinctmaͤßig, ſondern muß 
kunſtmaͤßig betrieben werden. So iſt man bedacht geweſen, das, 
was urſpruͤnglich nur die gluͤckliche Entdeckungsgabe geuͤbter und 
gewandter Philologen geleiſtet hat, in eine Theorie zu bringen. 
Dies iſt die wiſſenſchaftliche Diſciplin, die wir Critik nennen 
im engern Sinn, wie ſie ſich auf die Richtigkeit des Textes be— 
zieht. Wer das neue Teſtament wiſſenſchaftlich ſtudirt, muß jene 
ebenfalls irine haben. Aber auch bier giebt es eine Special: 
Critik des neuen Eeftaments, die alsı Wiffenfchaft fchon 
behandelt iſt und deßhalb — ———— wird; ihre Regeln 2 
* — in pe ee 


IE BD DEE 

Wem * auch die biöher TEN Kenntüiffe zu Gebote 
fehn, dem bleibt doch ‚uche er zum Studium des neuen Tefta- 
ments ſchreiten kann, noch viel übrig, was fich nicht auf eine 
audgearbeifete Difeiplin zurückführen läßt, und was doch einem 
unabhängigen und. freien" Studium des neuen Teftaments voraus: 
gehn: muß. ' Wollte man fich auf die Commentatoren verlaffen, fo 
waͤre unſte Einleitung überflüffig, Aber es ift eines proteftan- 
tifhen Theologen nicht würdig, abhangig zu fein; er muß 


Was fir die erg zu thun übrig bleibt. 5 


fih in * Stand — ſein —* uͤberall ſelbſt zu recht— 
fertigen ?). 

Zunaͤchſt — wir, daß das neue Teſtament kein einzel— 
nes Buch iſt, ſondern eine Sammlung von Buͤchern. Dies 
veraͤndert ſchon die Aufgabe auf bedeutende Weiſe und zieht ganz 
neue Gegenſtaͤnde mit hinein. Aber auch, wenn wir vorlaͤufig 
davon abſtrahiren und uns gegenüber jedes einzelne neuteſtament— 
lihe Buch für ſich denken, fo finden wir, daß ed noch Gegen- 
fände giebt, die in die Difciplinen, auf welche wie bisher gekom— 
men, fich nicht verweilen laſſen. Wir fnüpfen hierbei einer- 
ſeits an die Geſchichte an, in deren Gebiete die neuteftamentli- 
cben Bücher liegen, andrerfeitS an das, was den neuteftamentli- 
hen Bert betrifft. 

1. Die neuteftamentlihen Schriftfteller verfiren in folchen 
Ginzelnheiten, die in dem Gebiete der Gefchichtsfunde nicht mehr 
eigentlich liegen, die zu fpeciell find, als dag fie in der Gefhichte 
koͤnnen vollftändig in Ordnung "gebracht fein. Denken wir an 
das Land, in welchem Chriſtus und feine urfprünglichen Sünger 
gelebt haben, fo müffen wir die Data zunächft aus der juͤdiſchen 
Geſchichte nehmen. Aber wenn alle Einzelnheiten ausgemittelt 
werden ſollen von damaligen buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen, von geo— 
graphiſcher Lage, von dem genauen Wechſel politiſcher Poſitio— 
nen: ſo kann man nicht verlangen, daß in irgend einem geſchicht— 
lichen Studium, welches eine wiſſenſchaftliche Tendenz hat, alle 
dieſe ſollen gegeben ſein. 

Nun bat es ein großer Theil der neuteſtamentlichen Schrif— 
ten feinem Inhalte nach mit Gedanken zu thun. Diefe find re: 
ligiöfe und fittlihe. Wollen wir da.die Negeln der Auslegungs- 
Funft richtig anwenden, fo müffen wir vorher wiffen, welcher der 


1) Erfte Borlefung: Wir fommen bei diefen Betrachtungen auf einen 
fohweren Gegenfaß; duf der einen Seite ift die Gefahr, fein eignes 
Urteil zu verlieren, auf der andern wieder bie, nur auf feine eignen 
zwei Augen reducirt zu fein. 


6 Was für die Einleitung zu thun übrig bleibt. 


Complerus der Gedanken war, worin die Schriftfteller verfirten, 
was davon national war, was einem befondern' Kreife angehörig, 
und was aus dem Verhältniffe, woraus das Chriſtenthum entftand, 
aus dem Berhältniffe der Juͤnger zu Chrifto, zu erklären ift. 
Alles dies Fönnte wohl in einer befondern Difeiplin behan: 
delt fein, wenn der Gegenftand außer feiner Beziehung auf das 
neue Zeftament ein hinreichendes wifjenfchaftliches Intereffe hätte. 
In einer jüdifchen Gefchichte, die es im innern Sinn fein follte 
Güdifhe Sitten= und Eulturgefchichte), müßte das alles vorkom— 
men; wenn nur Quellen genug vorhanden wären, um es als eine 
wirklich hiftorifche Difeiplin zufammenzuftellen. Gewiffermaßen ift 
dies in den juͤdiſchen Alterthümern gefchehn. So müffen 
wir fagen: wenn das auf hinreichende Weife gefchehn ift, fo Fann 
auch das aus dem Gebiet unfrer Einleitung fallen. Allein hierin 
findet fich noch ein Schwanfen; jüpdifche Alterthümer auf, folche 
für das Studium des neuen Teftaments ausreichende Weife be= 
handelt haben wir noch nicht: Darum find die Einleitungen 
hierin nicht gleich; die Einen rechnen dieſe Gegenſtaͤnde Bo die 
Andern nicht. 
| 2. Was nıın den Zert des neuen Teftaments betrife, fo rei⸗ 
chen wir mit dem nicht aus, was als wiſſenſchaftliche Difeiplin 
unter dem Namen Eritif behandelt ift. Die Regeln find aufge: 
fielt; aber um fie anzuwenden, müffen wir den status causae 
erft Fennen, der durch die Regeln nicht gegeben ift. Daher mus 
eine Gefchichte des Tertes des neuen Teſtaments voraufge: 
jeßt werden, wenn die Negeln der Critik auf — * Weiſe an⸗ 
gewendet werden ſollen. 


§. 4. 

Um einen Geſichtspunct zu finden, aus welchem ſich vielleicht zu— 
ſaͤmmenſtellen laͤßt, was zu unſrer Aufgabe gehoͤren muß, koͤnnen 
wir uns einer Fiction bedienen. Wir denken uns die urſpruͤngli— 
chen Leſer irgend einer der Zeit nach bedeutend entfernten Schrift. 
Wenn wir diejenigen unterſcheiden, auf welche der Verfaſſer be⸗ 


v 


Aufgabe, uns indie Stelle der urſprünglichen Leſer zu verſetzen. 7 


ſonders Rüdfiht genommen, ſo müffen wir fagen: jede Schrift 
muß fo eingerichtet fein, daß fie von denen vollfommen verſtan— 
den’ werden kann, für welche fie urfprünglich beftimmt iſt; auf | 
Andre braucht der Schriftfteller in feiner Compoſition nicht Rüd: 
ficht zu nehmen. Spätere Lefer müffen ſich denen gleichftellen, 
die der Berfafler im Auge gehabt; und in dem Maaße, als fie 
dies koͤnnen, wird die Sache für fie zugänglich ‘und verftändlich 
fein. Hieraus entfteht die Aufgabe, uns moͤglichſt in die 
Stelle der urſpruͤnglichen Leſer zu feßen, für melde 
die neuteftamentlichen Verfaffer geſchrieben haben. 

Es ift offenbar, daß die beiden Difciplinen, deren wir er: 
wähnt haben, Auslegungsfunft und Critik, bei den urfprüng- 
lichen Lefern auch muͤſſen ‚vorausgefegt werden; obgleich dies 
beim erften Anblick nicht fo fcheint. Wir find gewohnt, zu denken, 
daß die Auslegungskunſt als folhe nur bei Schriften in fremder 
Sprache oder aus fehr früher Zeit in Anwendung komme. Aber 
dag wir doc auch unter gleichzeitigen und vaterlandifchen Schrift: 
ftellern leichte und ſchwere unterfcheiden, führt uns auf die Noth- 
wendigfeit eines Funftmäßigen Verfahrens, das von einer feften 
Bafis ausgeht. Diefe Fann in nichts Anderem beftehn, als in 
den Principien, welche in der Auslegung zum Grunde gelegt wer: 
den. Gelbft bei dem herumtappenden Berfahren aufs Gerathe- 
wohl unterfcheiden wir doch ein mehr oder weniger glüdliches; 
und bei dem erjtern liegt ein. Bewußtſein der Principien zum 
Grunde, wenn es diefe fich auch nicht zur Klarheit gebracht hat. 
Die. Auslegungsfunft ift alfo von ganz allgemeiner Anwendung; 
fie ift fogar bei der mündlichen Rede nothwendig, — Mit der 
Critik hat e8 eine Ähnliche Bewandtniß. Bei einem gleichzeitigen 
Werke aus unfrer Sprache fönnen wir einen größern oder gerins 
gern Fleiß in der richtigen mechanischen Darftellung unterfcheiden. 
Wenn das abfolute Marimum nicht vorhanden ift, fo werden 
Schler gegen den Willen des Schriftftellers fich eingefchlichen ha— 
ben, die durch die mechanifche Operation entfteben. Dies erfor: 
dert die Anwendung der-Critif, die faft immer bewußtlos ge— 


3 Analogie der Prolegomena zu einem Schriftfteller. 


ſchieht; aber wir werden immer auf Regeln zurüdgehn koͤnnen, 
wenn wir uns auch ihrer nicht in der Anwendung bewußt werden. 

Ein Anderes ift es nun mit dem, was für den fpätern 
Lefer nut. aus der Kenntniß der Gefchichte hervorgeht; das 
ift für den Gleichzeitigen das, was er erlebt. Aber auch in 
diefer Beziehung ftoßen: biöweilen dem gleichzeitigen Lefer Schwie- 
rigfeiten auf, weil dad Bewußtſein der Gegenwart nicht Leicht 
bei einem Lefer vollftändig däffelbe ift, wie bei dem Schriftftel: 
ler. So ift es z. B. mit den Anfpielungen. Es giebt hier 
alfo auch Ergänzungen, die ſich der Einzelne verfchaffen muß, 
wenn er zur vollen Kenntniß der Gegenwart des Schriftftellers 
gelangen will. 

Dies führt auf eine Analogie. ES ift fehr gewöhnlich, wenn 
ein alter Schriftftellee aufs neue herausgegeben wird, daß man 
ihm Prolegomena vorfeßt. Die Abficht davon ift Feine andre, 
als den gegenwärtigen Lefer in die Stellung des urfprünglichen 
zu bringen; alfo die gefchichtlichen Einzelnheiten zufammenzuftellen, 
welche man zum Berftändnig haben muß. Man wird bekannt 
gemacht mit den Lebensverhältniffen des Verfaſſers, welche der 
Abfafjung der Schrift vorausgingen, und mit lauter Puncten, die 
zu jenem Bewußtſein gehören, von welchem aus der Schriftfteller 
gefchrieben-hat, und welches für den urfprünglichen Leſer daffelbe 
Fann gewefen fein. Daffelbe ift der Fall, wenn Schriften, die 
für einen beftimmten Eleinern Kreis gefchrieben find, für einen 
größern zugänglich gemacht werden follen, z. 8. durch Ueber⸗ 
ſetzungen. 

Hierauf koͤnnen wir nun unſre ganze Aufgabe ae 
ren: Die Einleitung ins neue Teſtament foll Nichts 
enthalten, als was in obigen Fallen in die Prolego— 
mena irgend eines Werkes gehört. Das Critifche 
wird Dabei feinen natürliben Platz finden; denn ein criti= 
ſcher Herausgeber eines Werkes wird feine Anfichten von dem 
thatfächlichen VBerhältniffe. des Textes mittheilen müffen, um die 
Art zu rechtfertigen, wie er die Negeln der Critik angewandt 


Wefentliche Theile der Einleitung ins N. T. 9 


hat. — Hiervon koͤnnen wir alfo ald von einem beftimmten 
Puncte ausgehn )). 


S. 5. | 

Fragen wir: aus was für wefentlichen Theilen muß nun 
die Einleitung ins neue Teſtament beftehn? fo kommen wir auf 
den Punct zurüd, daß e5 eine Sammlung mehrerer Schriften 
verfchiedener Berfaffer if. Dadurch wird die Aufgabe 
fhwieriger und zuſammengeſetzter. 

Es ift zunächft zu unterfuchen, was zu dem Inhalt von 
Prolegomenen hinzufommt, wenn nicht von einem einzelnen 
Werke, fondern von einer Sammlung von Werken deffelben 
| Schriftſtellers die Rede iſt. Dabei muß man, wegen vorhande— 
ner nicht ſeltener Thatſachen dieſer Art, unterſcheiden, ob die 
Sammlung zu Lebzeiten des Schriftſtellers gemacht iſt, oder nach— 
ber. Iſt Erfteres nicht nachzumeifen, fo ift die Möglichkeit vor— 
handen, daß Fremdes hineingefommen ift; was ſchon bei den 
Glaffifern in Betracht fommt.— Sehn wir nun als ausgemacht 
an, daß die Sammlung rein fei, fo kommt. hinzu, daß die 
Schriften ihre Prolegomena erhalten. Da kann man nun entwe— 
der jeder einzelnen Schrift ihr Prolegomenon geben, oder man 
kann alles, was jede Schrift betrifft, in allgemeine Prolegomena 
zuſammenfaſſen, oder aber man kann theilen und das Gemein— 
ſchaftliche in eine allgemeine Einleitung bringen und das Eigen— 
thuͤmliche in eine beſondre. — Dazu kommt aber auch ein Neues: 
es muß Rechenſchaft gegeben werden über das Verhaͤltniß dieſer 
einzelnen Schriften gegen einander, Man würde nemlich offenbar 
zu vielerlei Mißverftändniffen verleitet werden, wenn man bei 


1) Erfter Entwurf: Notizen welche zwifchen Hermeneutif und ausüben- 
der Eregefe müſſen erworben werden als Bedingung um die Negel 
per erften anzuwenden. — Sämmtlich abzuleiten aus der Aufgabe bei 
allen alten Schriften ſich möglichft in die Stelle der urfprünglichen Le— 
fer zu feßen. 


10 Weſentliche Theile der Einleitung ins N. T. 


Schriften deſſelben Verfaſſers mit den fpäteften anfangen wollte, 
da dann eine Menge von Angaben zum Berftändniffe fehlen koͤn— 
nen, welche in den frühern enthalten find. Da die urfprüngli- 
chen Leſer, in deren Zuftand wir uns ftellen wollen, die früheften 
Schriften zuerft gehabt haben, fo müffen wir auch die frühern 
als folche erkennen, um daraus die fpatern zu. verſtehn. 

Das neue Teftament ift aber eine Sammlung von Schriften 
verfhiedener Berfaffer. Hier entfteht für die erfte Idee un: 
ferer Prolegomena eine bedeutende Schwierigkeit; es fragt fich 
nemlich, ob wir uns den urfprünglichen Leſern der Sammlung 
oder denen der einzelnen Schriften gleichzuftellen fuchen follen. 
Man fieht leicht, daß das Erſtere nicht hinreicht, um fo. weniger, 
je weiter die Zeit der Sammlıing von der Zeit des Erfcheinens 
der einzelnen Schriften felbft entfernt iftz; denn die Lefer Der 
Sammlung waren nicht mehr die, welche fich die Verfaſſer ur- 
forünglich dachten; fie hatten felbft fhon die Aufgabe, fich den. 
urfprünglichen Lefern der einzelnen Schriften gleichzuftellen. Auf 
das Letztere müffen wir auch ausgehn. | 

Nun ift offenbar, daß wir uns in diefer Beziehung nicht in- 
gleichem Berhältniffe zu den einzelnen Theilen einer folchen Samm— 
lung befinden, fondern daß verfchiedene und eigenthuͤmliche Schwie- 
rigfeiten in einzelnen Fallen fein koͤnnen. Eine, noch größere Dif— 
ferenz entfteht, wenn von den einzelnen Auctoren einige befannt 
find, andere nicht; noch mehr, wenn die Leſer von einigen Schrife 
ten befannt find, von andern aber unbekannt. So entfteht für 
das neue Teſtament die Nothwendigfeit von Prolegomenen zu den 
einzelnen Büchern; womit aber nicht die von allgemeinen Prole- 
gomenen aufgehoben wird. 

Für die Befchaffenheit und Geſchichte des Textes entſteht 
hier dieſelbe Differenz. Es fragt ſich, ob wir genug haben, wenn 
wir die Geſchichte des Textes der Sammlung, ſeitdem fie als 
ſolche beſtand, erforſchen, oder ob wir weiter zuruͤckgehn und fra— 
gen muͤſſen, wie ſich die Texte der einzelnen Schriften, als die 
Sammlung entſtand, zu den Autographis der Verfaſſer verhalten 


Weſentliche Theile der Einleitung ins N. X. 11 


haben. Wir haben nicht alles, was wir zum vollen Berftänd: 
niffe gebrauchen, ‘wenn wir nur den urfprünglichen ‘Wert der 
Sammlung haben; aber wir müffen zugleich fagen, daß das 
Eine ein Biel ift, von dem man eher fehn kann, daß es bis auf 
einen gewiffen Grad Fann erreicht werden, das Andre aber ein 
ſolches, deffen wir uns gänzlich entfchlagen müffen; wir koͤnnen 
uns in Beziehung auf das ganze Leben, die Beitgegenwart, eher 
in ven Zuftand der urfprünglichen Leſer verfeßen, ald den ur: 
fprünglichen Text uns herftellen, den jene gehabt 2). 


Shi 


In der hriftlichen Kirhe und Theologie hat es nie an Sol— 
chen gefehlt, die da meinten, man mache fi unnüge ‚Sorgen 
um dad neue Zeflament, da ed ein befondres Werk des goͤttli— 
chen Geiſtes und ein beſondrer Gegenſtand der goͤttlichen Vorſe— 
bung ſei; und wer das Chriſtenthum als feinen Glauben aufſtelle, 
dürfe nur von diefer Vorausſetzung ausgehn und aller Forſchung 
fich entfchlagen ; er müffe alfo- annehmen, daß wir gewiß den ur— 
fprünglichen Zert des neuen Teſtaments haben, denn fonft fünne 
es nicht die ſichre Grundlage unfers$ Glaubens fein. — Dies 


1) Erf. Entw.: Entwidlung der hieher gehörigen Aufgaben aus der 
Hauptpofition 1. Unterfuhungen über die Entftehung des 
Kanong’um fo gut oder beffer als die urfprünglichen Lefer zu wiffen, 
woher die Samlung gefommen und zu welchem Ende fie gemacht if. 
2. Geſchichte des Tertes um zu wiffen wie weit wir bei den no» 
torifchen Verſchiedenheiten uns die Samlung fo wieder herftellen fünnen 
wie die urfprünglichen Lefer fie, gehabt. Dazu gehört a. die Kenntniß 
von der Befchaffenheit ver Handſchriften. b. die Kenntniß von den 
alten Ueberſezungen. 3. Ob der Tert der Samlung auch der Tert der 
urfprünglichen einzelnen Schriften if. Dazu a. die Frage nach der an— 
tecanonifchen Kritik. b. Nach der Grundſprache der einzelnen Bü- 
her, alfo in ven befondern Theil gehörig. 4, Authentie der ein- 
zelnen Büder Ob fie die unbeftimten Namen beftimt hatten. 
Ob die angezweifelten von Petrus und Johannes herrühren. 


# 


12 Standpunct der Unterfuchung. 


war gut zu einer Zeit, da man von den Mannigfaltigkeiten, un— 
fer denen fich der neuteftamentliche Text darfiellt, wenig oder 
Nichts wußte. Hernach nahm diefe Anficht eine andre Wendung, 
nachdem die bedeutenden Differenzen in den Handfchriften nachge- 
wiefen waren; man fagfe dann, die güftliche Borfehung habe fich 
darauf befchränft, daß alle ſolche Verſchiedenheiten geringfügige 
Dinge betreffen, um die man ſich wenig zu fümmern habe; die 
Borfehung habe darüber gewacht, daß alles, was in genauer Be: 
ziehung zu unferm chriftlihen Glauben fteht, unverfehrt erhalten 
fei. Diefe Behauptung ift immer noch eine folche, die man eben 
degwegen jchwerlich in eine wiljenfchaftlihe Betrachtung aufneh- 
men kann, weil fie den Gegenftand für eine folche zerftört; denn 
geht die Einheit der wifjenfchaftlihen Forſchung verloren, fo ift 
die ganze Wiffenfchaft ein leeres Fachwerk. So müffen auch in 
der neuteftamentlichen Critik Stellen, welche wenig, und Stellen, 
welche genau mit dem eigentlichen Gehalte zufammenhängen, glei— 
chen Werth haben und unter denfelben Regeln der Gritit ftehn. 
Wenn man nicht von dem Einen die Anwendung auf das Andre 
machen kann, fo eriftirt die neuteftamentliche Critik gar nicht. — 
Nicht anders ift die Sache, wenn wir auf andere hierher gehörige 
Gegenftände fehn. Wenn Zweifel erregt find, ob der zweite 
Brief Petri von Petrus, ob die Apocalypfe von Sohannes ver- 
faßt fei, fo haben manche Theologen von jenen Principien aus 
gefagt, folhe Fragen dürfen nicht erhoben werden, weil dieſe 
Schriften unter diefen Ziteln im neuen Zeflamente ſtehn. Aber 
wenn fich nachweifen läßt, daß von Anfang an Zweifel flattge- 
funden hat, fo hätte die göttliche Vorfehung, wenn fie auf eine 
wunderbare Art mitwirken wollte, ihren Zweck doch nicht erreicht; 
alfo muß man auch die Möglichkeit annehmen, daß bei der Ent- 
fcheidung folcher Zweifel Alles feinen natürlichen Gang gegangen 
ift; da muß alfo wieder eine Einfchränfung jenes Princips ges 
macht werden. — Glaubt man aber, durch jene Theorien die Sache 
ohne Weiteres abmachen zu können, fo müffen. wir, wie, Die ka⸗ 
tholiſche Kirche, darauf zuruͤckkommen, daß ein Text als gegeben 


Extreme des faljchen Pofitivismus und Skepticismus. 13 


da fei, und man alles Andre wenig zu beachten habe, Da wäre 
denn einerlei, ob dies der Zert der Vulgata oder der unfrer Re- 
cepta wäre, So wie man aber für die Conftituirung des Tex— 
tes keijn abfolutes Wunder annehmen will, jo wird man doc 
nur auf eine willfürliche Beftimmung zurüdtonmen: die Kirche 
bat es fo gemacht, und darum ift”es richtig. Da wir aber eine 
folche Auctorität der Kirche nicht anerkennen, fo muß ‚die Ge: 
fhichte des Canons und Textes, da es einmal eine folche giebt, 
in eine wifjenfchaftliche Unterſuchung hineingefuͤhrt werden I). 
Wenn wir den Gang der hierher gehörenden. Unterfuchung 
und ihren gegenwärtigen Zuftand in unfrer proteftantifchen und 
befonders der deutfchen Kirche betrachten, fo finden wir zwei ent- 
gegengefete Tendenzen. Die eine ift, möglihft in den Zuftand 
zurüdzufehren, welcher ftattfand, ehe diefe Gegenftände in wif- 
fenfchaftliche Unterfuchung gezogen wurden. Dies ift durchaus 
ein unwiffenfchaftliches Verfahren; denn fo wie einmal Etwas 
gefchichtlich zweifelhaft gemacht ift, ſo bleibt Nichts übrig, als 
zu unterfuchen, ob und wie der Streit zu Ende gebracht werden 
kann; ergiebt fich das Gegentheil, fo muß es ein ftreitiger Ge- 
genftand bleiben, beiderlei Gründe müffen erwogen und Seden 
fein freies Urtheil geftattet werden. Die entgegengefeßte Tendenz 
hat das Anfehn eines ffeptifchen Verfahrens; aber wir müffen 
vorfichtig fein und nicht fogleich unfern Zadel über diefe ffepti- 
fche Weife, bloß etwa, weil fie ffeptifch ift, ausfprechen. Wenn 
Semand fagt: da es hier Gegenftände giebt, die früher nicht auf 
diefelbe Art unterfucht find, wie jeßt, der gegenwärtige Zuftand 
der Dinge‘ aber aus einer Zeit herrührt, wo die Unterfuchung 
nicht angefangen hatte, fo ift der gegenwärtige Zuftand felbft 
zweifelhaft: fo ift dies im gewiffen Sinne vom neuteftamentlichen 
Tert und Canon wahr. In der fo ausgefprochenen Marime liegt 
Nichts, als die vernachläfiigte Unterfuchung wieder aufzunehmen; 


1) Bergl. Schleierm. üb. Schriften des Lucas ©. XII ff. und 
Sendfohr. üb. 1 Tim. S. 6 ff. 


14 Gränzen der Möglichkeit einer Löfung der Aufgabe. 


keineswegs liegt dem ein unwiſſenſchaftliches zerſtoͤrendes Streben 
zum Grunde, ſondern es iſt das Anerkennen, daß das, was 
lange Zeit gegolten, — als unbegruͤndet betrachtet — unterſucht 
und begruͤndet werden muͤſſe. Allerdings hat ſich aber dieſe Ma— 
xime oft ſo geſtaltet, daß ſie einerſeits zu einer unbeſchraͤnkten 
Hypotheſenſucht geworden ift, die aber das nicht leiſtet, was von fol: 
chem Bewußtfein des gegenwärtigen Zuftands nöthig wäre, an- 
drerſeits aber die Nichtung nimmt, daß alles, was lange unbe— 
gründet gegolten hat, nun nicht nur für unbegründet, fon- 
dern für falfch erklärt wird. Dieſer pofitive Sfepticismus ift 
eben fo -unwiffenfchaftlih, als jenes oben erwähnte Berfahren. 
Dies find. die beiden Extreme, zwifchen denen fich die Unterfus 
chung ai muß »). 


SR 

Da dad neue Leflament eine Sammlung von einzelnen 
Schriften verfchiedener Verfaſſer ift, und da in verfchiedenen Fäl- 
len nicht möglich ift, und in die Stelle der urfprünglichen Leſer 
der einzelnen Schriften zu feßen, in mancher Beziehung, aber dies 
eine nothwendige Aufgabe ift: fo ift ein zweifaches Verfahren noth— 
wendig, eins, was fich auf das ‚bezieht, worin wir. bei der 
Sammlung fiehn bleiben müffen, das andre, was fich’ auf bie 
einzelnen, Bücher unmittelbar bezieht. Da aber: die, Unmoͤg— 
lichfeit, über die Gränzen der Sammlung zu dringen, ‚nicht ab- 
ſolut, fondern’ relativ ift, d. h. da fih MWahrfcheinlichkeiten 
auffinden laffen, fo wird in diefer Beziehung: gefihehn müffen, 
daß wir die einzelnen Fragen genau ftellen, damit wir zum Bes 


1) Erf. Entw.: Seitdem diefe Gegenftände (nad) der Zeit der Barbas 
rei) wieder behandelt werden, findet man zwei entgegengefezte Richtun— 
gen 1. ein Zurüdfehren wollen zur Unmwiffenheit, welches aber confe- 
quent darauf führt Kanon und Auslegung fih von der Kirche der bar- 
barifchen Zeit geben zu laſſen, 2. eine ffeptifivende Hypotheſenſucht. 
Hauptzweck zwifchen diefen beiden durchzuführen. | Ä 


4 


Algen Eink: ins NZ. u. bei, Einl. in d, einzeln. Schriften. 15 


wußtſein kommen, in» wiefern. und ayf welche Weife fie. fich be— 
antworten laſſen/ oder nicht. | 

- Fragen wir, ob wir bei den urfprünglichen Befern dem gan⸗ 
zen 1 geifligen, Lebensgehalt, von welchem fie ausgingen , als einen 
gemeinfchaftlichen anfehn follen, welcher für die ganze Sammlung 
derfelbe ift, oder ob ser: zu. dem gerechnet werdem ſoll, was für 
jede einzelne Schrift befonders betrachtet werden muß. fo kommt 
es darauf an, in wiefern es eine-und dieſelbe Gegenwart gewe— 
fen, von welcher die Schriftfteller ausgingen,, Werden die Diffe: 
renzen bedeutend, fo iſt es beſſer, diefen Gegenſtand ins Einzelne 
zu verweifen. Dies: ift nicht leicht zu entfcheiden, und deßhalb 
verfchiedenes Verfahren möglih. Es giebt mehrere neuteflament- 
liche Schriften, von deren VBerfaffern man die Individualität nicht 
kennt; müßte man annehmen, daß fie unter ganz andern Ver— 
hältnifjen gelebt und gefchrieben hätten, als die Übrigen, fo müßten 
wir fie von den andern trennen, doch müßte. fi dies in ven 
- Schriften felbft kund geben, wenn es von Bedeufung wäre. 

Alle nun haben doch im Intereffe des Chriſtenthums gefchrie- 
ben, und ihre Schriften tragen alle den Character, aus den er— 
ften Zeiten des Chriſtenthums zu fein. Wie dies feine, gefchicht- 
liche ‚Stellung da einnehmen mußte, wo vorher Judenthum und 
Heidenthum geherrfcht hatte, ſo iſt der gemeinfchaftlihe Boden 
überall die Beziehung des ‚ChriftenthHums auf den gegebenen das 
maligen Neligionszuftand; in. fofern kann alles, was in Diefes 
Gebiet hineinſchlaͤgt, als ein Gemeinfames behandelt werden. 
Zugleich, aber. haben in. einzelnen Fällen: befondre VBerhaltniffe zwi— 
ſchen den Schriftftellern und ihren Lefern flattgehabt, und die 
Schriften verſiren in diefen. Beziehungen. Wenn nun einzelne 
Schriften an die Ehriftenheit überhaupt. gerichtet find, andre hin— 
- gegen nur an beſtimmte Kreife oder gar Perfonen: fo findet in 
diefer: Beziehung eine bedeutende Differenz Statt, und es gehört 
dies in Die Aufgabe, welche a die einzelnen. Schriften —J 
behandelt wird. 

Auf diefe Weife kommen wir dahin, J wir die ——— 


16 Was im den allgemeinen und was in dem fpecielen Theil gehört. 


puncte unfrer Unterfuchung überfehn und eine beftimmte Einthei: 
lung machen Fünnen. Leßtre machen wir im Allgemeinen fo, daf 
wir als. die größte Somderung anfehn, was fich auf das neue 
Teſtament ald Einheit, und was ſich ‚auf die einzelnen Bücher 
insbefondere bezieht. - Wir unterfcheiden alfo die allg emeine 
Einleitung ins neue Teſtament und die befondre BAR 
tung in die einzelnen Bücher. 

1. In die allgemeine Einleitung gehören dem Obigen nach 
folgende Haupttheile: 

a. Die Unterfuchung über die Sammlung als folche, d. h. die 
Geſchichte des neuteftamentliben Canons. Hier ift 
die Hauptaufgabe, daß wir, fo viel möglich, uns in die Stelle 
derer feßen, welche die urfprünglichen Zeugen von der Entftehung 
der Sammlung waren und fie mit der Kenntniß der Art, wie 
fie entftand, vor fich haften. Wir haben e5 daher hier nicht mit 
der Gefammtheit der damaligen Leſer des neuen Zeflaments zu 
thun, fondern nur mit denen, die ihrem Studium deffelben einen 
wiffenfchaftlichen Character geben wollten. Doch ift die Aufgabe 
noch nicht ganz gefaßt, wenn wir und jenen gleichftellen wollen; 
denn da wir richtigere Principien der Critik und gefchichklichen Un— 
terfuchung haben, fo müffen wir in der richtigen Beftimmung dies 
ſes Verhaͤltniſſes weiter zu kommen fuchen, als die Beſten aus 
den Zeiten, wo der Canon fo war, wie er jeßt ift. 

b. Die Geſchichte des Textes in der Sammlung als 
folher. Das Wichtigfte hierbei ift die Frage: ob wir Urfache ha= 
ben, zu denken, daß zu der Zeit, als die Sammlung  entfland, 
eine allgemeine Uebereinflimmung des Zertes vorhanden war, oder 
nicht. Nehmen wir die Uebereinftimmung an, fo muß die Critik 
fuchen, ihn fo wieder herzuftelleu, wie er damals war. Müffen 
wir aber gleich Tagen, daß der Text damals ſchon nicht mehr der— 
felbe war, fo ift die Aufgabe, die urfprüngliche Differenz, fo 
weit es geht, wieder herzuftellen. ID. 

Außer diefen beiden Hauptpuncten der allgemeinen Einleitung 
ift noch der materielle Punct übrig: die Ausmittlung des 


Was in den allgemeinen und was in dem fpeciellen Theil gehört. 17 


gemeinfamen Bewußtfeins zwifhen Berfaffern und 
Lefern, ihrer Borftellungen und des gemeinfchaftlichen Lebens= 
gehaltes, von dem fie ausgingen. Hier fommen wir auf einen - 
Punct, der es fchwierig macht, das Verfahren richtig zu ftellen, 
und der fih in einer andern Beziehung bei dem befondern Theil 
wiederholt, nemlich, daß wir wenig andre Mittel haben, jenes zu 
beftimmen, als gerade das neue Teſtament felbfl. Aber das, 
was nur durch das neue Veftament erfahren werden Fann, gehört 
nicht in die Einleitung; das ift Refultat des Studiums felbft, 
ich würde alfo den Andern das Nefultat meines Studiums auf- 
drängen, wenn ich es in die Einleitung aufnahme. Dies ift ein 
Punct, worüber man nicht allgemein die richtige Marime fefthält, 
denn wir finden immer manches, was wir nur aus der Gefammtheit 
der neuteftamentlichen Schriften oder aus der einzelnen Schrift 
felbft wiffen, von der die Rede iſt, in die Einleitung aufgenom— 
men. Dadurch bindet ſich der, welcher ſich daran haͤlt, in vor— 
aus an etwas, was fuͤr ihn noch unbegruͤndet iſt. Es kann 
allerdings Erleichterung geben, wenn man das in voraus zuſam— 
menfaßt, was aus dem neuen Teſtament ſelbſt hervorgeht; doch 
muß es von allem geſchieden werden, was anderswoher ſeine Be— 
gruͤndung hat, damit ſo jener Nachtheil aufgehoben wird. Ei— 
gentlich alſo gehört nur das hierher, was wir durch andre Schrif- 
ten von dem Gefammtzuftand der damaligen Zeit wiffen. 

2. Bei der Einleitung in die einzelnen Bücher wollen wir 
zuerft fragen, was in Beziehung auf die Puncte zu thun ift, bei denen 
wir gefagt haben, es fei nicht zu erwarten, daß wir über die Zeit 
der Sammlung hinaus zu der Zeit der urfprünglichen Abfaffung 
zu dringen vermögen. Es fragt fich, in wiefern wir Urfache ha— 
ben, anzunehmen, daß das Buch, wie es in der Sammlung ift, 
daffelbe fei, wie es urfprünglich als ein einzelnes aus der Hand 
des Verfaſſers gekommen if. ES fiheint zwar, als ob fich dar- 
über Nichts fagen läßt; aber kommen wir zur Sache felbft, fo 
werden wir fehn, daß viele Fragen entjtehen, die nur, wenn man fie 
aus diefem Gefichtspuncte faßt, ihre eigentliche Bedeutung befommen. 

Einl. ins N. T. 2 


13 Was in den allgemeinen und was in dem fpeciellen Theil gehört. 


Zweitens gehört hierher alles, was das befondere Verhält: 
niß des Verfaſſers zu feinem Publicum betrifft, infofern dies an 
dre Elemente in fich fehließt, als die, welche in der allgemeinen 
Einleitung zur Sprache fommen mußten ?). 


8. 8. 


Es ift offenbar, daß man einen großen Unterfchied machen 
muß zwifchen den, was einem jeden Theologer in’ feinem Be— 
rufe in der Kirche für das richtige Schriftverftäandnig nothwen— 
dig ift, und dem, was nur für die ift, welche fich der wiſ— 
fenfchaftliben Theologie im Allgemeinen oder in befondern einzel- 
nen Fächern widmen wollen. Diefer Unterfchied "geht bei jeder 
pofitiven Wiffenfhaft durch alle Difciplinen hindurch. Denn wo 
eine practifche Aufgabe iſt, da unterfcheidet fi immer dies beides: 
eine einfeitige Richtung auf einen Theil der Aufgabe, die in Be— 


1) Erſt. Entw.: Wir müſſen aber auch wiſſen, von welcher Vorſtellung 
ihrer Leſer die Schriftſteller ausgegangen ſind. Dies iſt verſchieden bei 
denen an einen beſtimmten Kreis gerichteten Schriften. Hier iſt dies 
das Poſtulat der Localkenntniſſe und gehört zum beſondern Theil. 
Aber wieder wenig was man nicht erft aus diefen Schriften felbft neh— 
men müßte; und das fchließe ich natürlich von der Einleitung aus. 
Dei ven an das Publicum überhaupt gerichteten fommt es alfo an auf 

den damaligen Gefammtzuftand. Diefe SKenntniffe haben fi) aber zu 
einer befondern Difeiplin als Hriftlihe Archäologie geftaltet und 
gehören alfo nicht hieher. Nun ift alfo noch übrig die innre Seite, 
nämlich das Gebiet ver religiöfen Borfiellungg- und Lebens- 
weife der damaligen Zeit. Auf den erftien Anfang der Verkündigung 
führen ung nur die hiftorifihen Schriften zurüd, und diefe ſezen alfo 
Anfnüpfungspunfte voraus in jüdiſchen und heidnifchen BVorftellungen. 
Dazu finden.wir Elemente im der jüdifchen und Neuplatonifchen wenn- 
gleich etwas fpätern Theologie. Die divaktifchen fezen ſchon das chrift- 
liche in der Entwicklung begriffen, aber diefer fowol als der Reinigung 
bevürftig. Hier wieder wenig außerhalb des neuen Teftaments felbft. 
Nur Ein Buch kommt dem andern zu Hülfe. In fo fern zur Eihlei- 
fung gehörig. 


* 


Umfang u. Behandlungsweiſe der Einl. ins N. T. 19 


ziehung auf dieſen eine Virtuoſitaͤt anſtrebt, und eine Theilnahme 
an dem Ganzen, die alſo in keinem einzelnen Theile eine Mei— 
ſterſchaft anſtreben kann. Dieſer Unterſchied muß in allen theo— 
logiſchen Diſciplinen gemacht werden, und gilt auch von unſrer 
Einleitung. | | 

So wird z. D. die Gefchichte des Zerte eine ganz andre 
Unterfuchung für den critifchen Herausgeber des neuen Veftaments 
fein, ald für den, welcher in einem einzelnen Falle fich ein Ur: 
theil über die Befchaffenheit des Textes an einer beflimmten Stelle 
verfchaffen will. Letzterer wird in der Unterfuchung irgendwo ftehn 
bleiben müffen und, wa3 allgemein anerkannt ift, gelten laffen; 
aber Erſterer muß auf bie Gründe davon zuruͤckgehn. — Ebenſo 
iſt es mit den andern Puncten, wo es zunaͤchſt fuͤr die unmittel— 
bare Ausübung darauf ankommt, ob alle Beftandtheile des neuen 
Teſtaments für den normalem Gebrauch als vollflommen gleich 
angefehn werden Fünnen, oder ob man beffer thut, an einige Yor- 
zugsweiſe fich zu halten; es kommt darauf an, ſich ein allgemei- 
nes Urtheil felbft zu bilden, ob und was für eine Auctorität der 
gegenwärtige Beftand des neuen Teſtaments für fich habe. Aber 
die Unterfuchung felbft in allen ihren einzelnen Elementen zu ver: 
folgen und weiter zu führen, auszumitteln, wie der Canon in 
gewiffer Zeit in gewiffen Gegenden befchaffen gewefen: das find 
Aufgaben, die nur dem gebühren, der fich diefem Theil der hifto- 
rifchen Critik befonders widmen will. Von faft allen Handbüchern 
der Einleitung kann man fagen, daß fie ihre Aufgabe in diefer 
Beziehung nicht feft genug geftellt haben. Man findet in diefen 
Puncten eine Ausführlichkeit, die über die allgemeinen Bevürf: 
nifje hinausgeht, doch aber dem nicht genügen kann, der die ge= 
Thichtliche Eritif zu feinem Hauptgefchäft machen will. Dies fin- 
det feine Entfchuldigung in der Art, wie diefe Handbücher entftan- 
den find; fie find größtentheils das Nefultat von Borlefungen, 
und dabei kommt es fehr auf den gerade fiattfindenden theologi- 
hen Zufland an. Setzt man voraus, daß die Theologen bei dem 
Zuſtand ihrer Univerfitätszeit ftehen bleiben, fo müffen diefe Puncte, 

> 2 * 


20 Mimdlicher Vortrag und fchriftlidhe Behandlung. 


fo weit e$ die Zeit erlaubt, ausführlich behandelt werden; die 
Unverhältnigmäßigkeit erklärt fich daraus, ob man fich in einzel- 
nen Zheilen auf andre Vorträge, die ausführlicher gehalten wer- 
den, berufen konnte oder nicht. Diefelbe Unverhältnigmäßigfeit 
kommt wieder bei Ausgaben von einzelnen Zheilen des neuen Te— 
ſtaments, die ebenfalld das Nefultat von Vorträgen find, wobei 
Prolegomena gegeben werden. — So find wir in diefer Bezie— 
bung in einem Schwanfen zwifchen dem, was die eigne Belchäf- 
tigung der Studirenden mit der theologifchen Litteratur leiften foll, 
worauf wir uns verlaffen müffen, und dem, was wir uns als 
Gefichtsfreis für die einzelnen Borträge fteden follen. Das hängt 
damit zufammen, daß, feitdem die theologifchen Sacultäten als 
Theile der allgemeinen Wiffenfchaft beftehen, das Verhältniß fich 
bedeutend geändert hat zwifchen dem, was durch mündliche Vor— 
fröge, und dem, was auf anderm Wege geleiftet werden foll. 
Dies betrifft befonders unfern Gegenftand, der in einer großen 
Zahl von Büchern fehr ausführlicd behandelt ift, deren jedes ſei— 
nen eigenthümlichen Character hat, fo daß fie theils in Bes 
ziehung auf jene Ungleichmäßigfeit der einzelnen Theile der Unter: 
fuchung, theils in Richtung und theologifchen Prineipien einander 
ergänzen und ihre Einfeitigkeiten aufheben. Daher kann man ſa— 
gen, daß fich Jeder diefe Kenntniffe ohne mündliche Anleitung 
verfchaffen Fann; fo daß man die Vorträge für überflüffig halten 
follte. 
Wenn wir überlegen, wie diefe Vorträge fich befonder& auf 
das Studium des neuen Teſtaments felbft beziehen, was auf Uni: 
verfitäten durch eregetifche Vorträge angeregt wird: fo verhält es 
fich mit den leßtern fo, wie mit den erftern. Es giebt fo viele 
Gommentare über das neue Teſtament, von den verfchiedenften 
Geſichtspuncten und von verfchiedener Ausführlichfeit, fo daß man 
fagen koͤnnte, dag mündliche Vorträge vollkommen uͤberfluͤſſig feien. 
Es liegt nun bier der Unterfchied zwifchen dem, was mündliche 
Borträge leiſten follen und dem, was durch das Studium der 
Sommentare gewonnen werden Fann, fo klar vor Augen, daß 


Mindlicher Vortrag und fchriftlige Behandlung. 2] 


wir dadurch eine Anficht für unfern Gegenftand gewinnen 
koͤnnen. | 

Sn der Natur eined Commentars liegt, daß zunächft das 
Reſultat der Unterfuchung gegeben wird; bei größrer Ausführlich- 
keit Eommt eine Begründung hinzu, die ſich auf die Erklärungen 
vechtfertigend bezieht, und wobei außerdem die Meinungen Andrer 
erwähnt und gegen die Anficht des Verfaſſers gehörig abgewogen 
werden. Dies kann vollfommen hinreichend fein fowohl für den, 
der nur in einzelnen Fällen ein ihn befriedigendes Nefultat haben 
will, als auch für den, der fich felbft ſchon eine beſtimmte Me— 
thode gebildet hat, unabhängig fich felbft eine Meinung zu geftal- 
ten. ber fragen wir: wie fommt Jemand dazu, fich eine eigne 
Methode der Auslegung zu bilden? fo werden wir auf die Ausle— 
gungskunft als folche zurüdigewiefen. Aber es ift ein bedeutender 
Unterfchied zwifchen dem Befis diefer allgemeinen Principien und 
einer Sicherheit und Gleichförmigkeit in der Anwendung derfel- 
ben auf gegebenes Einzelnes. Die mündlichen Vorträge find alfo 
Nichts, wenn fie denfelben Weg gehn, wie die gedrudten Com— 
mentare; aber fie Fünnen viel fein, wenn fie die Richtung neh— 
men, daß fie nicht die Nefultate vortragen, fondern daß fie Die 
Methode in ihrer lebendigen Bewegung durch ein gegebenes Gan- 
zes ausführen, alſo damit das Princip der Auslegungskunſt. Sie 
verlieren aber gerade dann ihren Zwed, wenn fie gedrudt er- 
fiheinen. 

Mit den einleitenden Vorträgen hat es diefelbe Bewandtniß. 
Wenn e3 bloß auf Refultate anfommt, fo haben wir Hülfsmittel 
genug; und wenn die mündlichen Vorträge daffelbe wären, d. b. 
ein ungedrudtes Handbuch, wie oben gefagt, fo find fie von Fei- 
nem eigenthümlichen Werthe. Aber fieht man vielmehr auf die 
Art, wie man zu den NRefultaten gelangt, und fiellt alfo in den 
mündlichen Vorträgen dar, wie fich für den allgemeinen Zwed 
der richtigen Behandlung des neuen Teſtaments die einzelnen 
Aufgaben ftellen, und wie man zu den Hülfsmitteln für ihre Loͤ— 
fung kommt: dann hat der mündliche Vortrag etwas Eigenes und 


22 Aufgabe der academiſchen Vorträge in jetziger Zeit. 


liefert etwas, was nicht als ein ſolches Handbuch, wie die ſchon 
vorhandenen, gebraucht werden koͤnnte. — Nicht zu laͤugnen iſt, 
daß, ſeitdem die oͤffentlichen Univerſitaͤten beſtehn, durch die Ver— 
breitung der Wiffenfchaft in Werfen das Berhältniß der mündli- 
chen Vorträge zu dem Ziel des Studiums ein andres geworden 
-ift, als es war, da noch der Beſitz der Bücher ſchwieriger war 
und da die Nefultate in Büchern noch nicht gegeben waren. Da 
waren die Vorträge die einzigen Hülfsmittel und die Saat, aus 
der die theologifche Litteratur hervorgefchoffen ift. Seht, da die 
gedruckten Hülfsmittel fo verbreitet find, follte weit mehr erreicht 
werden, als die bloße Mittheilung der Nefultate; Borträge foll- 
ten die jungen Theologen zugleich in den Stand feßen, von den 
gedruckten Hülfsmitteln einen zweckmaͤßigen Gebrauch zu machen. 
Dies wäre noch weit. leichter zu erreichen durch ein näheres Ver— 
haͤltniß zwiſchen Lehrer und Studirenden in den Seminarien. 
Aber dies iſt noch nicht vorhanden. Jetzt aber muß der Lehrer 
das zu erſetzen ſuchen: er muß gleichſam vor den Augen der Stu— 
direnden arbeiten, und dieſe muͤſſen zuſehn, wie viel ſie ſich von 
ſeiner Verfahrungsweiſe aneignen und wie ſie ſich daraus eine 
eigne Methode bilden koͤnnen. — Und ſo wird es auch in dieſen 
Vortraͤgen jetzt meine Richtung ſein, nur den Geiſt der Unterſu— 
chungen und die Art und Weiſe, wie ſie dem beſondern Gegen— 
ſtande gemäß zu führen find, anzuregen, und die Reſultate aller: 
dings fo mitzutheilen, wie fie fich ‚einer beflimmten Methode zu— 
folge geftalten. — Die Gegenftände einer Einleitung in das neue 
Zeftament find von der Art, daß man fagen muß: es liegt etwas 
Einfchläferndes, ja Gefährliches darin, wenn man über alle hier 
zu behandelnden Gegenftände fefte Nefultate aufftellt. Es wird mehr 
für die Ausbildung des wifjenfchaftlihen Characters gewonnen, 
wenn dies nicht gefchieht,, fondern nur die Urfachen zur Anſchau⸗ 
ung kommen, warum die Gegenſtaͤnde noch nicht beſtimmter aus— 
gemittelt find oder nicht ausgemittelt werden koͤnnen ). | 


1) Erf. Entw.: Glaubensbefenntniß über den Werth der mimdlichen 


- 


Benutzung der vorhandenen Litteratur, 23 


Mas die vorhandenen Hulfsmittel auf diefem Gebiete be: 
trifft, fo ift die Frage, wie viel davon und auf welche Weife hier 
mitzutheilen nöthig iſt. Die theologifche Kitteratur ift felbft für 
fich ein_weitfchichtiger Gegenftand, und es ift nicht möglich, ein 
Theologe zu werden ohne Kenntniß derfelben. Hierzu giebt es aber 
auc eine Menge von Hülfsmitteln: Werke über theologifche Kit - 
feratur im Allgemeinen oder über beftimmte Fächer. — Je weiter 
nun das Studium fortgefchritten, deſto mehr ift vorauszufeken, 
daß Seder eine gewiſſe Bekanntfchaft mit der Litterafur der Theo— 
logie hat; ſolche Vorträge hingegen, die nahe am Anfange deſſel— 
ben liegen, haben am wenigften Necht zu diefer Vorausfegung. 
Auf manchen Univerfitäten werden auch noch immer befondere- 
Borträge über die theologifche Litteratur gehalten, und da koͤnnte 
man fragen, wann fie am zwedmäßigften gegeben werden, am 
Anfange des Studiums oder am Ende. Allerdings fo wie wir 
denken, daß das Studium doch wefentlih ein Selbftfudium fein 
fol, aber in der Wiffenfchaft doch Nichts gethan werden kann 
‚ohne Kenntniß des Vorhandenen: fo feheint es freilih, daß ohne 
alle Kenntniß der Litteratur folches Studium nicht angefangen 
werden kann, und da fcheint es natürlich, auf diefem erſten Sta— 
dium des Univerfitätsftudiums entweder vorauszufeken, daß Jeder 
fih in den Befiß einer allgemeinen Kenntniß der Litteratur feße, 
oder, wenn das nicht, durch die Vorträge bei jeder einzelnen 
Difeiplin darauf hinzuleiten. So wie jedoch über eine theologifche 
Difeiplin ſchon Werke vorhanden find, die fie in einer gewiffen 
Ausführlichkeit behandeln, fo wird in diefen das Nothwendige von 
der Litteratur gegeben fein; denn ein Schriftfteller wird dabei nicht } 
ohne Gitationen auskommen; fo daß in jedem Werfe diefer Art 
die Litteratur mit enthalten ift. Daher eine ausführliche Ueber— 


Vorträge. Sie find nur noch wichtig wo es darauf anfommt, daß 
man die Reſultate entſtehn ſieht und wo man ſie in dieſem Sinne ein— 
richtet. Die jezigen entgegengeſezten Richtungen machen ſie bei dieſer 
Difeiplin noch wünſchenswerth. 


24 Litteratur. 


ſicht derſelben als Einleitung mitzutheilen, von wenigem Nutzen 
iſt. Es waͤre zwar gut, wenn es ſich thun ließe, die Haupt— 
werke gleich alle vor das Auge zu bringen und die einzelnen zu 
characteriſiren und die Cautelen, mit welchen jedes zu gebrauchen 
iſt, an die Hand zu geben. ‚Aber das kann ebenſo von ſelbſt ge— 
ſchehn durch den Gebrauch, der in den Vortraͤgen ſelbſt von ih— 
nen gemacht wird, wenn man in den einzelnen Theilen auf die— 
ſes oder jenes verweiſ't oder verſchiedene Anſichten anfuͤhrt, wobei 
man den Einen oder den Andern als Gewaͤhrsmann nennt. 
Und was ſo an ſeiner Stelle geſagt iſt, wird auch unmittelbarer 
aufgefaßt, wogegen eine bloße Aufzaͤhlung der Litteratur ein todter 
Buchſtabe bleibt Y. 


1) Erſt. Entw.: Litteratur. Faſt ganz in der deutſch proteſtantiſchen 
Kirche. — Ueber den Gegenſaz einer katholiſirenden und einer abſolut 
freien Richtung. Beide durch den Gegenſaz geſchärft; dabei dringt auf 
der einen Seite ein ein antiwiſſenſchaftlicher Sinn auf der andern ein 

antikirchlicher. Nach dieſer entgegengeſezten Richtung die Geſinnung der 
Gelehrten zu qualificiren iſt nur Sache des Privaturtheils. Kurze Wür⸗ 
digung von Michaelis, Eichhorn, Bertholdt, Hänlein, Schmidt, De 
Wette. Warum ich den lezten nicht zum Grunde gelegt. Ueber Hug. 

Erf. Borlef. Seit Richard Simon iſt faſt Alles ausſchließlich in 
den Händen deutſcher Theologen geweſen. Das älteſte bedeutende 
Deutſche, was die Bahn gebrochen hat, iſt Semlers Abhandlung 
von freier Unterfuhung des Canons. Es Fam hauptfächlich darauf an, 
diefe Freiheit herzuftellen, denn in mehreren ſymboliſchen Büchern findet 
fi) die Aufzählung der neuteftamentlichen Schriften als Firchlicher Arti- 
fel oder Glaubensartife. Dadurch ſcheint alfe Unterfuhung ſchon in 
voraus verhindert, u. f. w. 

Michaelis Einleitung ins N. T. ift ein Buch, auf das man noch im— 
mer in vielen Puncten zurüdgehn muß. Es herrfcht darin eine refpecta- 
bie Gefinnung, rein theologifches Sntereffe und freie Forfchung. 

Eichhorn's Einleitung zeichnet ſich aus durch die von ihm entwickelte 
Hypotheſe des Urevangeliums und durch ausgedehnte Zweifel über die 
Authentie einiger didactiſcher Schriften. Es herrſcht darin eine gewiſſe 
Willkür. 

Bertholdt behandelt altes und neues Teſtament gemeinſchaftlich. Dar— 


Trennung der Einl. ins N. T. von der ins A. T. 25 


8. 9. 

Es iſt die uͤberwiegend herrſchende Methode, die Einleitung 
in das alte und die in das neue Teſtament abgeſondert von ein— 
ander zu behandeln; Andre haben das Entgegengeſetzte gethan. 
Es laſſen ſich zwei entgegengeſetzte Motive dafür denken: 

1. Daß beides zuſammen die Bibel ausmacht, und daß man 
glaubt, ihrer Auctoritaͤt zuwider zu handeln, wenn man's trennt. — 
Wenn man damit behaupten will, daß das alte Teſtament zum 
Chriſtenthum daſſelbe Verhaͤltniß, wie das neue, habe: ſo muͤſ— 
ſen wir uns ſehr beſtimmt gegen dieſes Motiv erklaͤren. Als 
Chriſten duͤrfen wir nicht verwechſeln, was der Zeit der Verhei— 
ßung und was der Zeit der Erfuͤllung angehoͤrt, und muͤſſen uns 


\ 


auf lege ih am wenigften Werth. Ex zeichnet fi durch eigenfinnige 
Willkür und Breite des Dortrags aus. 

Hänlein's Einleit. ins N. T. nähert fich Feinem Extreme und enthält 
im Einzelnen hübſche Unterfuhungen, und ift für den Anfänger ein 
brauchbares Bud. 

Schmidts Einl. ins N. T. if ein compendiarifch eingerichtetes Buch, 
worin intereffanie Unterfuhungen mehr angeregt, als durchgeführt find; 
if Sehr zu empfehlen durch feinen anregenden Geift, 

De Wette's Einl. ins A. u. N. T. fagt mir am meiften zu. Doc hielt 
mich Manches ab, fie hier zum Grunde zu legen, wovon eins ift, daß 
die Einleitung ins A. T. damit verbunden if. Bei De Wette ift vor— 
züglich mit großer Freiheit ausgefprochen, was als gewiß anzufehn if, 
und worüber noch Zweifel obwalten und mas noch Gegenftand der Un— 
terfuchung bleiben muß. Sn gewiffen Puncten giebt er feine beſtimmte 

* Auskunft. Dies ift ganz vortrefflih, da es deutlich zeigt, daß einige 
Elemente noch) nicht fo ausgemittelt find, daß man mit Sicherheit ent- 
ſcheiden kann. Dabei ift ein großer Litterärifcher Apparat, der fehr ber . 

lohnend ift, da der Verfaſſer fein Urtheil einmifcht. 

Hug’s Einkeit, ins N. T. ift mit großer Freimüthigfeit gefchrieben und 
fogar einem proteftantifchen Theologen gewidmet; doch ift eine Neigung 
unverfennbar, Etwas geltend zu machen; was auf einer dent Geift der 
Fatholifchen Kirche angemeffenen Schäßung beruht; der Verfaffer hat ſich 
noch nicht ganz von den befchränfenden Principien feiner Kirche frei ge— 
macht. Daher iſt ſein Buch mit Vorſicht zu gebrauchen. 


26 Verhaͤltniß des alten Teſtaments zum neuen. 


Er 
an die Nichtung halten, die daS neue Zeftament felbft genom- 
men hat, welches, indem ed in Chrifto die Erfüllung der gött- 
lichen Berheißungen zufammenfaßt, von felbft feftftelt, daß in 
dem, was von Chrifto ausgeht, nur erft das Licht des göttlichen 
Rathfchluſſes iſt, alles Fruͤhere nur Andeutung; es iſt der we— 
ſentliche Unterſchied zwiſchen dem Reiche Gottes, wie es von 
Chriſto und ſeinen Juͤngern verkuͤndigt ward, und zwiſchen der 
Ausſicht auf ein ſolches Reich, welche fragmentariſch früher eroͤff— 
net war. Will man eigenthuͤmliche Lehren des Chriſtenthums 
aus dem alten Teſtament erweiſen, ſo abolirt man damit dieſen 
Unterſchied zwiſchen den Zeiten der Verheißung und Ahnung und 
denen der Erfuͤllung. Betrachten wir dies hiſtoriſch, ſo iſt der 
Unterſchied einleuchtend. So wie es die Chriſten mit Juden zu 
thun hatten, ſo war natuͤrlich, daß ſie aus dem alten Teſtament 
zu erweiſen ſuchten, daß die Weiſſagungen der Propheten in 
Chriſto ihre Erfüllung haͤtten; dies konnte nur den Grund haben, 
den Widerfpruch aufzuheben zwifchen dem, was bis jeßt ihr Halt- 
punct war, und dem, was ihnen nun dargeboten wurde. Ferner wurde 
in den chriftlihen Verfammlungen nach Art der Synagogen das 
alte Zeftament gelefen und über daſſelbe gelehrt; daher haben wir 
auch eine Menge von Homilien über die altteftamentlichen Buͤ— 
cher. Dies war Nichts, als die hiftorifche Anfnüpfung der chrift- 
lichen Berfammlungen an das, was die jüdifche Uebung gab; 
daran reihte fich erft allmählig Lefung und Commentation der 
neuteftamentlichen Bücher, wie diefe befannt und gefammelt wur— 
den. So lange man an das alte Veftament gewiefen war und 
doch Chriftliches vortragen wollte, fo war natürlih, daß man 
auf alle Weife den Uebergang fuchte von dem, was gelefen wurde, 
zum hriftlichen Vortrag; da Fam eine gefünftelte, allegorifirende 
Auslegung in Uebung. Aber man darf nicht denken, daß die 
chriftlichen Väter und Lehrer dies fo gemeint hätten, als ob fie 
die chriftliche Wahrheit aus dem alten Seftament fhöpften. Nach— 
dem wir aber an den neuteftamentlichen Ganon, als an die erften 
Ausfprüche und Zeugniffe des chriftlichen Glaubens von fich felbft, 


Verhältniß des alten Teſtaments zum neuen. 27 


gewiefen find und jener gefchichtlihe Zufammenhang mit dem 
Sudenthume in den Hintergrund getreten ift, fo koͤnnen wir jene 
dogmatifche Marime nicht billigen. Entweder kann ein Sa nur x 
aus dem alten Zeflament nachgewiefen werden und nicht auch 
aus dem neuen: dann müßte man zweifeln, ob es ein chriftlicher 
fei; oder es kann ein Sat aus dem neuen Teſtament bewährt 
werden: dann ift dies genug. Wollte man den neuteftamentlichen 
Stellen mehr Feftigfeit durch die altteftamentlichen geben, fo ge- 
ſchaͤhe dadurch der Selbftftändigkeit des chriftlichen Glaubens Ab— 
bruch. Daraus folgt aber nicht, dag die Bibel foll entzwei ges 
fihnitten werden; denn fie ift ein gefchichtliches NRefultat; es ift 
ein fo altes Factum, daß die Kirche beide Theile zufammengefaßt ‘ 
hat, daß Feine Urfache ift, dies aufzuheben, da die nachtheiligen 
Folgen, die daraus entftehn Fünnen, fich auf andre Weife befei- 
tigen laffen. — Aber wenn man die Bibel ganz als Eins be= 
trachtet und in derfelben gefchichtliche und Lehrbücher feheidet und 
die gefchichtliche Abtheilung mit den altteftamentlichen Geſchichts— 
büchern anfängt und dann die neuteftamentlichen folgen Jaͤßt, und 
ebenfo es mit den Lehrbüchern macht: fo ift dies etwas ganz 
Berfehltes; denn der Zufammenhang zwifchen den Gefchichtsbü- 
chern und den prophetifchen und übrigen heiligen Büchern des 
alten Zeftaments ift Höchft genau, aber ein Zufammenhang zwi: 
fhen den altteftamentlichen und den neuteflamentlichen Gefchichts- ! 
buͤchern eriftirt nicht, und eben fo wenig zwifchen den beiderfeiti= 


gen Lehrbüchern, außer da, wo hin und wieder einzelne Stellen 


aus jenen in diefen angeführt werden. Aus jenem Verfahren kann 
alfo nur fchiefe und unrichtige Anficht der Sache entftehn. 

2. Nun läßt fih zu einem folchen Verfahren auch noch der 
andre Grund denken: in einer enfgegengefeßten Richtung das neue 
Teſtament in eine Linie mit dem alten zu fielen. Nemlich vom 
alten Zeftament würde von diefem Gefichtspunete zugegeben, daß 


es nur unvollflommne Andeutungen von dem enthält, was von „ 


der Erfcheinung Chrifti aus gefchehn follte, daß in der Art und 
Meife, wie der altteftamentliche Canon entftanden ift, eine Menge 


28 Trennung der Einl. ind N. T. von ter ins A. T. 


Zweifel über die dabei zu Grunde liegende Meinung und über 
die Zeit der Entftehung ſich vorbringen laffen, und daß da Vieles 
in Dunkelheit und Unficherheit liegt; wobei die Abfchliegung der 
Sammlung rein als Product des Zufalld erfcheint. Stellt man 
nun das neue Teſtament damit auf gleiche Linie, fo wird vie 
Vorftellung befördert, daß in ihm auch nur Andeutungen enthal- 
ten wären von dem, wozu die Menfchen durch das Chriftenthum 
gebracht werden follen, von einem weit höhern Zuftande als der 
chriftliche jeßt ift, fo daß man das neue Teſtament auch nur als 
ein Product einer unvolfiändigen Ahnung anſieht. Dies ift die 
Lehre von der Perfectibilität des Chriftenthbums, welche viele Theo— 
logen aufftellen, daß ſich aus dem Chriftenthum auch etwas Boll- 
kommneres entwideln koͤnne und müffe. Diefer Anficht würde je- 
nes Verfahren angemeffen fein. 

Da nun das Erfcheinen der beiden Theile der Bibel gefchicht- 
lich Fein zufammenhängendes Factum ift, da eine folche Vereini— 
gung den einen oder den andern Nachtheil natürlich nach fich' zieht, 
und wenn man fich von beiden entfernt hält, Fein Grund zu fol- 
her Behandlungsweife da ift: fo ift der gefchichtlichen Natur der 
Sache angemeffen, wenn man beides gänzlich von einander trennt !). 
Die Praxis ift darüber jebt fo einftimmig, daß die alte Methode 
fich nicht wieder wird geltend machen Fönnen, wenngleich man in 
einer biblifchen Dogmatik Altteftamentliches und Neuteftamentliches 
in ein Ganzes vereinigt und nachher freilich einen Gegenfaß macht 
zwifchen biblifcher und Eirchliher Dogmatik. Darin liegt eine 
Analogie zu jenem Berfahren. 


1) Erfter Entwurf: Ueber die Behaydlungsweife in Berbindung mit 
dem alten Teftament. Entweder Chriftus ift überflüffig, wenn das alte 
Teftament fol chriftliche Lehre enthalten oder man muß auch profanes 
mit hinein nehmen, wenn das alte Teftament nur gebraucht wird we- 
gen einer Kunft, criftliches aus unchriſtlichem zu entwideln. 


Keihenfolge der Unterfuchungen. 29 


$. 10. 

Wir werden unfer Gefchäft fo führen, daß wir das Allge— 
meine, was fich auf das neue Teſtament ald Ganzes bezieht, vor- 
anftellen, und dann die befondre Einleitung in die einzelnen Schrif- 
ten folgen laſſen. Ein umgefehrtes Verfahren ift zwar möglich 
und auch angewendet worden; aber e5 hat manche Unbequemlich- 
feiten. Es fcheint freilich gefchichtlicher zu fein, weil die einzelnen 
Bücher eher da waren als die Sammlung; aber dann müßte man 
auch die einzelnen Bücher zeitgemäß ordnen; dies ift aber theils 
nicht möglich, theils würde es nur durch ſolche Vergleichung zu 
Stande zu bringen fein, die bei jedem einzelnen Buche die an- 
dern alle vorausfeßt. Es ſcheint auch das andre Verfahren fogar 
das einzig gefchichtlihe zu fein. Wir müffen nemlih von ung 
an rüdwärts gehn und fagen: jebt ift uns das neue Zeftament 
jo gegeben; wie lange ift e5 fo? Wenn wir fo gleichfam die 
Genefis der Sammlung verfolgen, fo gelangen wir von ihr auf 
die einzelnen Schriften. — Auch wenn wir auf die Unterabthei- 
lungen fehn, die wir früher angegeben haben, fo kann es darin 
ein verfchiedenes Verfahren geben. Es ift möglich, damit anzu- 
fangen, daß man die Nachrichten über die einzelnen Bücher ſam⸗ 
melt; aber wenn wir zur Geſchichte des Textes kommen, ſo laͤßt 
ſich dies nicht anwenden, weil wir vom Texte, welcher der Samm— 
lung vorangegangen iſt, Nichts wiſſen. — Außerdem iſt es ſchwer 
wenn man mit der Einleitung in die einzelnen Buͤcher anfaͤngt, 
eine Menge Wiederholungen zu vermeiden, vor denen man bei 
unſerm Berfahren ſicher ift. 

Zur allgemeinen Einleitung gehoͤrt alſo dann: 1. die Unter— 
ſuchung uͤber den Canon, uͤber ſeine Allgemeinheit und uͤber ſeine 
Entſtehung, 2. die Geſchichte des neuteſtamentlichen Textes. — 
In die beſondere Einleitung nehmen wir alles dasjenige in Beziehung 
auf die einzelnen Buͤcher, was in die Prolegomena zu einem 
Schriftſteller gehoͤrt, mit Ausnahme deſſen, was ſchon im allge— 
meinen Theile verhandelt iſt, und deſſen, was man nur aus dem 
Buche ſelbſt wiſſen kann, denn das muß man erſt durch die In— 


30 Anordnung der einzelnen Materien. 


terprefation erfahren; wogegen aber das Kicht, welches andre neu— 
teftamentlihe Bücher auf ein einzelnes werfen, mit in die Einlei- 
tung gehört, ausgenommen in fo fern nur von einzelnen Stellen 
die Rede ift, nicht von der Zotalität des Buchs. — Es würde 
dann noch die Frage fein, wie man bei diefer einzelnen Einleitung 
verfahren will: ob man die Bücher ganz ifoliren und, weil man 
dann eine Neihenfolge haben muß, diefe auswählen, chronglogifch 
oder nach Verwandtfchaft des Inhalts oder nach der Reihenfolge 
des Canons in feinem jeßigen Beftande, oder ob man doch ges 
wiffe Abtheilungen machen und nach diefen eine gemeinfchaftliche 
Betrachtung mehrerer Bücher anftellen will, ehe man ins Einzelne 
geht. Hierzu giebt es miehrere Beranlaffungen. Einmal find 
mehrere Bücher von demſelben Berfaffer, und es fragt fih, ob 
nicht zweckmaͤßig derfelbe Schriftfteller im Ganzen behandelt wer— 
den muß. Bei den paulinifchen Briefen hat dies feine Schwie- 
rigkeit; da find auch die Schriften alle von einer Art, der di— 
dactifchen; aͤhnlich iſt es mit Lucas, deſſen beide Schriften 
biftorifch find, nur fragt fih, ob es nicht Nachtheil bringt, das 
Evangelium des Lucas von den andern Evangelien zu frennen. 
Sn Beziehung auf Sohannes ft es fchwieriger, von dem wir ein 
Evangelium und Briefe haben; dazu find letztre nicht von glei— 
‚cher canoniſcher Auctorität und gleicher Gewißheit ihres Verfaſ— 
ſers. Faͤngt man mit der befondern Einleitung an, fo fieht man, 
dag Fein Grund zu einem Verfahren in diefer Hinficht angegeben 
werden kann. Erft wenn die allgemeine Einleitung vorangegans 
gen ift, bat man Kefulfate, nach denen man ſich hieruͤber ent— 
ſcheiden kann. 

Die Frage, ob einzelne Buͤcher den Verfaſſern angehoͤren, 
denen ſie beigelegt werden, muß man wohl von der andern un— 
terſcheiden, ob ſie in den Canon auf gleiche oder ungleiche Weiſe 
gehoͤren. Die canoniſche Beſchaffenheit der Schrift bleibt dieſelbe, 
ungeachtet nachgewieſen wird, daß fie nicht von dem Verfaſſer 
ift, dem man fie zufchrieb. Die Verwechfeling beider öragen ift 
oft ein Verfahren der Kirche gewefen. 


Stellung der materiellen Seite der Einl. 3l 


Bon einem Puncte ift befonders zweifelhaft, wohin er zu ftel- 
len fei, dies ift die materielle Seite der Einleitung, nemlich die 
Aufgabe, uns in den Kreis der Kenntniffe und Denfungsweife zu 
verfeßen, welche die neuteftamentlichen Schriftiteller bei den Le— 
fern vorausfegen konnten. Betrachten wir das neue Zeftament 
als Product des chriftlichen Glaubens und nehmen an, die neu— 
teftamentlihen Schriftfteller haben nur auf diefen ihren Bezug 
genommen, fo ift Feine Frage, daß diefe Materie als eine un- 
getheilte in der allgemeinen Einleitung muß behandelt werden. 
Aber fo wie wir denken müffen:. der eine Schriftfteller hat einen 
ganz andern Kreis von Lefern in einem ganz andern Vorſtellungs— 
zuftand vor fich gehabt, als andre, und es giebt hierin beftimmte 
Differenzen: fo ift es nöthig, die Materie zu theilen, und zweck— 
mäßiger, fie in der einzelnen Einleitung zu behandeln. So war 
ein bedeutender Unterfchied zwifchen Suden = und Heidenchriften ; 
jene haften ganz andre Vorftellungen, als das Ehriftenthum zu 
ihnen Fam, als diefe; fo mußte auch das neue Princip bei ihnen 
ganz ‚andre Nefultate bilden, Kann man annehmen, es giebt 
neufeftamentlihe Schriften, die allein auf Sudenchriften, andre, 
die allein auf Heidenchriften Rüdficht nehmen: dann würde zwed- 
mäßig fein, beides zu trennen. So kann man einen andern 
Durchſchnitt zwifchen paläftinenfifhen und hellenifchen Juden ma- 
chen; giebt es nun neuteftamentliche Schriften, welche allein an 
paläftinenfifche Sudenchriften gerichtet find, und andre, die au 
Sudenriften in der duaonog«, wo Juden- und Heidenchriften 
gemifcht waren: dann müßte man ebenfo beides trennen. 


Erfter Theil, 
Allgemeine Einleitung ind neue Teſtament. 


Erſtes Capitel. 
Geſchichte Des Canons. 


—3 


Bei der Unterſuchung uͤber den Canon kommt es darauf 
an, zu wiſſen, wie und in welchem Sinne und von welchen Ge— 
ſichtspuncten aus dieſe Sammlung von Schriften zu Stande ge— 
bracht ifl. Der Ausdrud Canon felbit, deffen man fich überwie- 
gend bedient, befagt eigentlich über die Gefichtöpuncte, aus wel- 
chen diefe Bücher zufammengeftellt find, Nichts. Zweierlei Eommt 
befonders in Frage, und man hat häufig darüber geftritten, wel— 
ches die urfprüngliche Anficht gewefen: ob die Sammlung die 
Bücher habe aufnehmen follen, welche beftimmt waren, in der 
Kirche öffentlich vorgelefen zu werden; oder die, welche für. 
infpirirte Schriften gehalten wurden. Es ift hierbei noth- 
wendig, auf die einzelnen Zeugen zu fehn, die von befondrer Mich: 
tigkeit in diefer Sache find. Dabei fcheint es am zwedmäßigften 
zu fein, allmählig rückwärts zu gehn, erft die fpätern Zeugniffe 
zu vernehmen, von diefen aber auf die altern Spuren zurüdzu: 
fchreiten. Dies ift deßwegen befonders wichtig, weil man eine 
Bafis für die folgenden Unterfuchungen nur hat, wenn man et— 
was allgemein Anerfanntes findet. 
| Gegenwärtig ift die neuteftamentlihe Sammlung faft in der 
ganzen Chriftenheit dieſelbe; nur in einzelnen morgenländifchen 


Sebige Uebereinſtimmung des neutejt. Canons. 33 


Gemeinden giebt es Ausnahmen, welde anzuführen überflüffig 
if. Mit dem alten Zeftamente ift es nicht fo, da die pro- 
teftantifche Kirche nicht, wie die Fatholifhe, die apoeryphifchen 
Bücher mit zum Canon rechnet. Der neuteftamentliche Canon 
dagegen ift derfelbe geblieben, ungeachtet Luther von einigen Buͤ— 
chern weit geringer dachte, alS von den andern, was ihn jedoch 
nicht bewog, fie aus dem Canon zu floßen. 


$. 12. 


Gehen wir num weiter rückwärts, fo müffen wir eine Reihe 
von Sahrhunderten durchwandern, in denen man fich mit diefem 
Gegenftande gar nicht befchaftigte. Wir bleiben bei der Zeit ftehn, 
wo der gegenwärtige Canon im Ganzen feftgeftellt fcheint, wo 
aber noch Differenzen befannt waren und Negeln gegeben wurden, 
fie zu löfen. Hier find zunächft zwei Zeugniffe zu nennen, aus 
der griechifchen und lateinifchen Kirche; erfteres ift um etwas älter, 
doch ift die Differenz nicht fo groß, daß man fie in Rechnung 
bringen müßte. 

Grfteres ift eine Stelle aud Cyrillus von Serufalem, Catech. 
IV. 33—36, ) worin er feinem Schüler die Anweifung giebt, wo 


1) Vergl. Cyrill. Hieros. ed. Toutide 1763 pag. 67—69. Tuüra dt dı- 
duoroV0w Mas wi Heonvevoro, youpal vis nuhmas ve au aawis dıa- 
Gans 2 en... . Kai gilonados iniyvadı, nal nuga vis. Errınoias, 
zoiuı ev Eioıw wi ns ruehmüc dıagnams Bißhoı, nom de ung zung, 
ui nor undtv vor drosgigwv avayivaoae* o yo Ta rao« zÜüow ouo- 
hoyovusva un dag, ‘wi negi Tu angıßa)köneae Taruınwgeis udınv; 
avayivmore Tag Jeius yougus, zes Einocı vo Pißkovs Tg alas 
d1aImans Tavrag, Tue Und Tüv EBdounjxovru ÖVo. Epunvevrav EQumvev- 
DEOUS one... 7005 ÖE Tu anonpvga umdiv !ye Hoıwov. Taurus 
uovas ueltta onovdaiwg, üs dv zul Errimoig ueru nadömoiag uvayıra- 
Orousv. TOoAV 00V goovıumrspoı zul zUAußEoTEVoL 700v 06 «700T0J0ı, 
zu) ol doyasoı nioxonor, ol TS !arhmoiag MooOTETaL, 0: TuVTag nagu- 
BEE aa Tas Ot zuwis dıudgnjans, va TEovagw, nova &Ü- 
uyythıa' va d8 Jona wevdeniygaga zul Blußpsga ruyyarsı. "Eyouyav 
zai Mavıyaroı zurc Owuüy zvayythroy, 07:0, Eindie wis eVayyekız)s 


Einl. ins N. T. 3 - 


34 Zeugniß des Cyrill von Serufalem über den Canon. 


er die Beitätigung für die vorgetragenen Lehren finden fol. Da 
wird vom Canon gehandelt: ai Heonvevoro: yoapal Tg nalaıdg 
TE nal name dradyang. Zum N. T. rechnet. er unfre 4 Evan- 
gelien, und fagt dann: va ÖF Aoına (sc. sdayy.) wevdsniypapa 
naı Plaßsod Tuyyaver, fie gehörten nicht den Schriftftellern an, 
denen fie zugefchrieben wurden. : In der allgemeinen Bezeichnung 
der canonifchen Schriften entipricht HEONVEVOTOS nicht. unferm 
„eingegeben“; mehr dem lateinifchen inspiratus; da ift alfo von 
einem befondern göftlihen Einfluffe die Rede. Wenn die übrigen 
Evangelien als „ſchaͤdlich“ bezeichnet werden ‚fo müffen wir dies 
auf den Zwed beziehn, auf welchen der Verfaſſer feinen Schüler 
hinweif’t, nemlich die Beftätigung feiner Lehre zu finden; ſchaͤdlich 
find alfo die, welche diefe Lehre wanfend machen. Es gab alfo 
einen Unterfchied von ächter und falfcher Lehre, und die Bücher 
wurden darnach unterfchieden: die zur Beftätigung der Achten Lehre 
dienten, waren Hsorswevoro:, die entgegengefesten -Biaßeoar, 
welche zugleich wevdsniyoagpor waren. Diefe beiden Merkmale 
treffen alfo zufammen; nie aber die entgegengefegten. Man könnte 
aber fragen: wenn nun die andern Evangelien wirklich von den 
Apofteln herrührten, denen fie zugefchrieben wurden, aber doch 
falfiche Lehre enthalten hätten, was würde dann gefchehn fein? 
Man würde die Möglichkeit nicht zugegeben haben, d. b. wenn 
man eine fichere Tradition darüber gehabt hätte, daß eine Schrift 
von einem Apoftel herrührte, fo würde man die darin vorgefra= 
genen Lehren in die ächte Lehre aufgenommen haben. Aus jener 


” 
! \ 





3 1 J ⸗ c 22T} 
nToooWvvniag Enirey0woutvov, dıuydeigsı Tas yvzus TOV anrkovoriowv. 
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Atyov dt „ui vug IToufas Tov Öwderu dnooroiwsv‘ zpos rovrog de zwi 
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rüs Enra, Iarwpov, zui IlErgov, Ioayvov, zul Tovda »aFolıruz Erıoro- 
Aus 2 2 d} zw 2) ; undnTov To rekevratov, Tug 
Aus’ ErIopguyıoua dE TWV AUVTWV, ai HaImTWv To :@lov, TuS 
Fr ’ . : ’ \ “ x v Ya i 
Ilavlov derartoougug riorolas. Ta de koınu nuvıa, &o*) #E0dm 
a dent 28 iv &v Euninoi ’ vayıro; vavra ande 
&v devTEgw. nal 000 iv &v EunÄmoiaıg u7 Wvayırmoreraı, un 


x x 2 ** x BJ} 
KATU OEUVTOV uvaylvwore, nu9mc NROVOUG. 
\ ' ? 


*) Vox :£0 non habetur in codd. nonnullis. 


Zeugniß des Cyril von Serufalem. 35 


Stelle koͤnnten wir auch ſchließen, daß die Sammlung fchon da- 
mals ihre Zitel: melaıs und x d1adHan gehabt habe. Aber 
dies wäre zu viel gefchloffen; es find nur die Zitel der beiden 
Snftitutionen. | | 

Die Ausdrüde, deren fich der Verfaſſer in Beziehung auf 
die Behandlung der Bücher bedient, Enüpfen fich natürlich. an den 
Zweck anz er ſagt: avayivuoze und deyov; das Aufnehmen be- 
zieht fih auf das Lefen: nimm fie mit auf unter die Bücher, die 
du leſen willft. — Nachdem er nun die eanonifchen Bücher auf- 
geftellt hat, fährt er fort: za de Aoına navra, womit er doch 
offenbar chriftliche Schriften meint, die jenen ähnlich find, 2ZEw 
81090 Ev Öevreon, in einem zweiten Ort oder Volumen; er 
giebt alfo doch ein folches devzeoov zu. ES fragt fih, ob in 
dieſes dsvregov die Plaßsow Fommen follten? Das ift ſchwer 
zu glauben; die Aoısza müfjen alfo eine Mittelgattung ausmachen. 
Er fährt fort: zur 00a uw Ev Eundyolaıs m avayıyworeraı, 
zudra uyds zara osavıov dvayivwors. Hier fieht man ganz 
deutlich einen Unterfchied zwifchen denjenigen Schriften, die zur 
erften Claſſe gehörten, und denen, die zur zweiten, die aber doch 
in öffentlichen Eirchlihen Verfammlungen gelefen wurden. Hier— 
aus fehn wir, daß, was unfer Canon ift, nicht dadurch beftimmt 
wurde, ob Bücher im den Kirchen vorgelefen wurden, oder nicht; 
es find mehr vorgelefen worden. Nun fragt fich, ob diefen vor: 
gelefenen, aber nicht in die erfte Glafje gefeßten, doch das Prädicat 
Feosrvevoror zugehörte? Dies müffen wir verneinen,- weil nur 
die zur adaıg und zaımn dıadnan gehörigen dort aufgeführten 
Bücher fo genannt werden; aber man wird doch nicht folche ge— 
lefen haben, die mit diefen in Widerfpruch ftanden. Hier fehen 
wir alfo, daß ein gewiffes Maaß der Lehre zum Grunde gelegt 
wird, wornach beftimmt wurde, welche Schriften in der Kirche 
vorgelefen wurden; dies war der größere Kreis, und es gab in 
diefem wieder einen engern Kreis, nemlich Schriften, welche die 
Defonomie des alten und neuen Bundes ausmachten. 

Die Heonvevoror Yyoayal INS »aıwng duadmung, die Cy- 

3% 


J 


36 Zeugniß des Auguſtin über den Canon. 


rill aufführt, find: die 4 Evang., die mouksıs TWv 410070), 
die Enca vadolımei und die 14 paulinifchen Briefe, worunter 
alfo auch der Hebräerbrief. 

Das zweite Zeugniß ift bei Auguſtin, de doct. christ. lib. II. 
12. 13.9. Hier ift die Hauptbezeichnung divinae scripturae, 
aber diefe werden eingetheilt in canonicae und ceterae. Hier ha: 
ben 'wir alfo einen beftimmten Ausdrud für die engere Sammlung, 
aber nicht, daß fie von der dıadrun genannt wurden. Nun 
rühmt er denjenigen, welcher möchte alle göttlichen Schriften ge— 
lefen haben, dumtaxat eas, quae appellantur canonicae; denn 


1) RL BR oper. ed. Bened. Tom. II. P. 1. pag. 18. Erit divi- 
narum scripturarum sollertissimus indagator, qui primo totas legerit, 
notasque habuerit, et si nondum intellectu, jam tamen lectione, 
‚ dumtaxat, eas, quae appellantur canonicae, Nam ceteras securius 
leget fide veritatis instructus, ne praeoccupent imbecillem animum, 
et periculosis mendaciis atque phantasmatis eludentes praejudicent 
aliquid contra sanam intelligentiam. In canonicis autem scripturis 
ecclesiarum catholicarum quamplurium auctoritatem sequaiur, inter 
quas sane illae sint, quae apostolicas sedes habere et epistolas acci- 
pere meruerunt, Tenebit igitur hunc modum in scripturis canonicis, 
ut eas, quae ab omnibus accipiuntur ecclesiis catholicis, praeponat 
eis, quas quaedam non accıpiunt; in eis vero, quae non accipiuntur 
ab omnibus, praeponat eas, quas plures gravioresque accipiunt, eis 
quas pauciores minorisque auctoritatis ecclesiae tenent. Si autem 
alias invenerit a pluribus, alias a gravioribus haberi, quamquam hoc 
facile invenire non possit, aequalis tamen auctoritatis eas habendas 
puto. — Totus autem canon scripturarum, in quo istam considera- 
tionem versandam dicimus, his hibris continetur: .. sv... His 
quadraginta quatuor libris testamenti veteris terminatur auctorilas: 
novi autem, quatuor libris evangelii, secundum Matthaeum, sec. 
Marcum, sec. Lucam, sec. Johannem: quatuordecim epistolis Pauli 
apostoli, ad Rom., ad Corinth. duabus, ad Gal., ad Ephes., ad Phi- 
lipp., ad Thessal. duabus, ad Colossenses, ad Timotheum duabus, 
ad Titum, ad Philemonem, ad Hebraeos; Petri duabus; tribus Jo- 
hannis; una Judae et una Jacobi; Actibus Apostolorum.libro uno, et 


I 


Apocalypsi Johannis libro uno. 


Zeugniß des Auguſtin. 37 


die uͤbrigen ſollte nicht Jeder gleich leſen, denn ſie koͤnnten leicht 
imbecillem animum praeoccupare, d. h. offenbar mit unrichtigen 
Vorſtellungen, welche ſchwer wieder ausgerottet werden. Da ha— 
ben wir alſo wieder jene Unterſcheidung, aber ſo, daß die andern 
auch divinae scripturae genannt werden, natuͤrlich im weitern 
Sinn, alfo chriftlichen Snhalts; denn es wäre ganz ungramma= 
tifch, wenn Auguftin ceterae fagt, nur dad Subflantiv scripturae 
binzuzunehmen, nicht daS Ganze: divinae scripturae; es liegt 
auch im Zufammenhange, weil fonft eine ganze Menge anderer in 
diefe Elaffe Eommen koͤnnten. — Nun finden wir eine Anweifung, 
wie die canonifchen Schriften zu unterfcheiden find; man foll da— 
bei befolgen auctoritatem ecclesiarum catholicarum quamplurium, 
d. b. was die meiften Eatholifchen Gemeinden in ihrem Canon ha= 
ben, fol man für canonifch halten. - Katholifche Gemeinden find 
folche, welche nicht in Verdacht von irrigen Lehren ſind; da iſt 
alſo wieder ein Bezug auf ein gewiſſes Maaß richtiger Lehre. 
Es ſcheint zwar, Auguſtin habe noch einen andern Geſichtspunct 
gehabt, denn er ſetzt hinzu, unter dieſen Gemeinden müßten vor- 
züglich die fein, welche werth geachtet find, von Apofteln geftiftet 
zu fein und Briefe von Apofteln empfangen zu haben. Aber dies 
ift nicht im Widerfpruch mit der obigen Erklärung von Eatholi- 
fhen Gemeinden; Auguftin denkt fih, man Fönne eine Menge 
ganz rechtgläubiger Gemeinden zufammenbringen, aber fie koͤnn— 
ten ganz unbefannt und abgelegen fein, die Nichts entfcheiden 
Fonnten; nur die, welche von Apofteln geftiftet find oder von ih- 
nen Briefe empfangen haben, haben Auctorität in dieſer Beziehung. 
Wir fehen: auf einen andern Grund einer Auctorität der Gemein 
den, daß fie etwa Metropolitanfirchen waren, darauf giebt er 
gar Nichts, fondern nur auf ihren apoftolifchen Urfprung, weil 
fie dann die Vorausſetzung für ſich hatten, die ächte apoftolifche 
Lehre bewahrt zu haben. Nun fagt er weiter, daß Derjenige, 
welcher feine Auswahl mache, die Schriften, welche. von allen 
Fatholifchen Gemeinden angenommen find, denen -vorziehn folle, 
welche von einigen nicht angenommen werden; unter diefen aber 
\ 


38 Zeugniß des Auguftin und Cyrill v. Zeruf. 


müffen die, welche von mehreren Gemeinden angenommen find, 
denen vorgezogen werden, die nur wenige Gemeinden annehmen, 
doch müffen wenige bedeutende Gemeinden eben fo viel Auctorität 
haben, wie mehrere unbedeutende. Hier fieht man in der Sache 
felbft ein Schwanfen. | 

Wenn wir nun Diefes Tateinifche Zeugniß mit jenem griechi= 
fchen ‚vergleichen, fo koͤnnen wir jagen: Die ceterae des Auguftin 
werden diefelben fein, wie Die 2v devreown xsilnsvar des Eprill, 
denn beide find folche, die auch in den Gemeinden öffentlich ge= 
lefen wurden; aber das ganze Verfahren ift bei. beiden doch ein 
ganz verfchiedenes. Auguftin giebt gar Fein fo firenges Verbot 
des Leſens von foldhen Schriften, die nur eine partielle Auctori= 
tat in der Kirche hatten, fondern er macht nur eine Abftufung 
in dieſer Auckorität. Daraus aber dürfen wir nicht fchließen, daß 
er in diefer Beziehung einen weitern Gefichtöpunct hatte, als 
Eyrill, fondern daß er eine weitre Sonderung in der Praris zwi⸗ 
[hen den Schriften vor ſich hatte, welche bei Eyrill PAußeoni 
heißen; welche denn auch aus den Fatholifchen Gemeinden ver: 
bannt waren. Ueber die Frage, ob nun die Theopneuftie, ein 
Wort, das fehr verfchieden gefaßt werden Fann, auch eine wefent- 
liche Vorausſetzung bei den Schriften war, die er canonicae nennt, 
giebt er uns keinen Aufſchluß, denn der Ausdruck divinae scriptu- 
rae ıft von weiterm Umfang. Und es zeigt fich nicht, daß als 
Scheidungsgrund für irgend eine Stufe die Theopneuftie aufge— 
ftellt wurde; denn wenn man ſagt, die apoftolifchen Gemeinden, 
auf die er hinmeif’t, würden Feine Schriften aufgenommen haben, 
welche diefes Merkmal der Theopneuftie nicht an fich getragen: 
fo ift dies doch zu viel gefchloffen, denn daraus folgt nur, daß 
die Schriften mit der apoftolifchen Lehre übereinftimmten, aber 
noch nicht, daß fie auch von Gott eingegeben waren. 

Der Inhalt der Sammlung ift nicht ganz derfelbe, wie bei 
Eyrill, bei dem die Apocalypfe nicht mit aufgenommen war, die 
wir bei Auguftin finden. Auch die Ordnung ift nicht Diefelbe; 
auf die 4 Evangelien folgen bei ihm die 14 paulinifchen Briefe, 


Canon zur Zeit des Cyrill und Auguftin. 39 


von denen der Hebräerbrief der letzte ift, dann die Fatholifchen, 
die Acta und die Apocalypfe. 


Wenn wir dies recht zufammennehmen und fragen, wie es 
damals um den Ganon geftanden hat, fo müffen wir fagen: es 
läßt fi) aus diefer Stelle des Auguftin nicht geradehin und mit 
Gewißheit fhließen, daß manche Kirchen damals noch einen an 
dern Canon gehabt haben; er Eünnte nur haben befchreiben wol- 
len, wie der Canon entſtanden ſei. Aber wahrfcheinlicher iſt doch, 
daß eine allgemeine Uebereinſtimmung darüber noch nicht fattfand 
und daß in Beziehung darauf Auguftin die Regeln angegeben hat. 
Eine fo beftimmte Scheidung, wie die bei Eyrill zwifchen den 
Schriften, die er zuerfi nennt und denen, von welchen er fagt: 
!En nElodn 29 devrson, finden wir bei Auguftin nicht auf die— 
felbe Weife. AllerdingS was er canonicae scripturae nennt, ift 
die erfte Ordnung Cyrill's; aber für die zweite hat er Feine Be— 
zeichnung, nach welcher fie noch von andern gefondert werden; er 
nennt fie ceterae, die aber doch noch divinae find; Diefe ceterae 
divinae ftehen alfo andern von Fatholifchen Gemeinden nicht an— 
genommenen entgegen und entjprechen den &9 devreom neıneveug 
des Cyrill. 


Daruͤber aber, welchen Maaßſtab die Gemeinden, auf die 
ſich Auguſtin beruft, angelegt haben, geht nichts Genaueres her— 
vor. Unter den canonifchen Schriften find auch nicht = apoftolifche, 
wie Lucas und Marcus; es laßt fich alfo nicht ein bloß Außeres 
Merkmal denken, wornah man in den angefehenften Gemeinden 
verfahren hätte. Da bleibt nichts Andres übrig, als das Ver— 
halfniß der einzelnen Schriften zu dem, was damals. als ächte 
Lehre galt. Da ift e$ möglich, daß manche Bücher, die nicht ge— 
ringere Auctorität hatten, als die canonifchen, nicht aufgenommen 
wurden. Gpyrill rechnet das Evangelium des Thomas unter die 
falſch überfchriebenen und ſchaͤdlichen; es fei von den Manichäern 
verfaßt. Dies kann aber leiht nur eine Conjectur gewefen fein. 
Manichaifche Lehrer mögen Siellen aus diefer Schrift angeführt 


\ 


40 Folgerungen aus den vorigen Zengniffen üb. d. Canon. 


— 


haben; man konnte ſie nicht widerlegen, und machte daher die 
Schrift ſelbſt verdächtig. Das iſt der natürliche Hergang ?). 

Fragen wir nun, wo die Schriften find, welche Cyrill 2» 
devreon hinlegt und Auguftin ceterae scripturae divinae nennt, 
fo finden wir, daß ein Theil davon noch übrig ift und den foge- 
nannten codex pseudepigraphus de3 N. T's. bildet; da das 
evangelium infantiae, evang. Jacobi u. a. m. 


$. 13: \ 

Da wir aus diefen Zeugniffen gefehn haben, daß es nicht 
diefelben Gränzen waren, in welchen die canonifchen Schriften 
und diejenigen, welche in den Kirchen öffentlich gelefen wurden, 
zufammengefaßt waren, indem Cyrill ja dies aufs beftimmtefte 
unterfcheidet: fo geht hieraus fchon hervor, daß die übrigen Schrif: 
ten zwar gefammelt worden find, daß aber ein Unterfchied gemacht 
wurde zwifchen denen, welche gelefen wurden und welche nicht. 
Es giebt hierin eine Analogie mit dem Goder des alten Zeftaments ; 
es wird nemlich gefagt, daß die Schrift des Jeſus Sirach und 
die Weisheit Salomon’3 nit in den Canon gehörten; aber doch 
ol die Jugend darnach unterrichtet und ihr daraus vorgelefen 
werden 2). Aber man achtete fie nicht geeignet, in den Kirchen 
gelefen zu werden, wahrfcheinlih, weil man diefe moralifchen 


Einzelnheiten nicht in eine Reihe mit dem Geſetz und den prophe— 
tiſchen Stuͤcken des A. T. ſtellen wollte. — Wir muͤſſen nun 


niemals vergeſſen, daß zu jener Zeit der Beſitz von Buͤchern eine 
gewiſſe Wohlhabenheit vorausſetzte, und wenige Gemeindeglieder 
im Stande waren, ſich bibliſche Buͤcher anzuſchaffen; alle chriſtli— 


1) Vergl. Cyrill. op. pag. 107. Toü Mdyn uagyrai roeis yeyovaoı, Ou- 
pas ui Buddas En Eonäs. MnJdeis avayırwortıw NE, Owuav 
svayyelıov’ 0oV ya Zosıv £vos rov Öwmdera unooroiov, ahı dvos TOV 
»040v Toıwy vov Muyn nasmtar, 

2) Vergl. Athanas. epist. fest. (1.963) ; Synops. script. sacr. (Opp. Athan. 
II. 128); Hieronym. Praefat. in libros Salomonis (I. 939.). 


Verordnung der Laodiceifchen Synode üb. d. Canon. 41 


chen Schriften konnten alfo nur in Archiven der Gemeinden auf: 
bewahrt und vor dem Untergang gefichert werden. Später finden 
wir, daß Schriften chriftlicher Lehrer fpäterer Zeit in den Gemein 
den vorgelefen wurden; aber diefe Borlefungen vertraten Die Stelle 
der homiletifchen Vorträge, wie dies aud in den Synagogen der 
Fall war. In den chriftlihen Gemeinden hatte ſich von Anfang 
an der .bomiletifche Vortrag als ein wefentlicher eingeftellt, um 
die Anwendung altteftamentlicher Stellen auf Chriftum zu zeigen. 
Wenn nun Fein dazu Befähigter da war, was bei der abnehmen= 
den Bildung im Sten und Gten Sahrhundert Teicht möglic) war, 
fo wurden Schriften berühmter Lehrer vorgelefen; dies hängt aber 
damit zufammen, daß die Vorlefung der frühern nichteanonifchen 
Bücher immer mehr in Abnahme gefommen war. 

Ein andres, der Zeit nach nicht völlig feftzuftellendes, aber 
merkwuͤrdiges Zeugniß iſt im 5Iften und 60ſten Canon der 
Laodiceiſchen Synode aus dem Anfange der zweiten Haͤlfte 
des Aten Jahrhunderts. Es finden ſich hier Beſtimmungen der 
Synode uͤber die oͤffentlichen Vorleſungen in den Kirchen, aus 
denen wir ſehn, daß die Vorleſung der nichtcanoniſchen Bücher 
Ihon in Abnahme gefommen fein mußte, denn fie wird hier aus: 
drüdlich verboten. Ov dei Zdemrınovg Warnovg Aeysodaı 2v 
19 Erniyoie, das heißt wahrfcheinlich, Pfalmen, welche Privat- 
männer zu Verfaſſern hatten ?); ovde auewövıoza Pıßlia, dAAc 
(LOVE TE navovira TNS naıvns nal naraıas badynys. Da 
waren alfo fowohl die apocryphifchen Bücher des alten Teftaments 
ausgefchloffen, als auch das ganze deuzeoov des Cyrill und die 
ceterae des Auguſtin. Wenn wir übrigens hier die Umftände naͤ— 
ber berüdfichtigen, fo koͤnnen wir aus diefem Canon, nicht viel 
fchließen, denn dieſe Synode Fann nur Lehrer und Aeltefte von 
folhen Gemeinden umfaßt haben, zu denen Fein apoftolifcher Sitz 
und keine Gemeinde von einer groͤßeren Auctoritaͤt gehoͤrte, ſondern 


1) Erſt. Entw. Pſalmen von Privatverfaſſern (wol nicht immer Laien) 
in wie es ſcheint häufigem Gebrauch. (Aehnlich in der ſyriſchen Kirche) 


42 Verordnung der Laodiceiſchen Synode über den Canon. 
I 


nur unbedeutende Städte. Da war ed wohl natürlich, daß Feine 
bedeutendere Sammlung von andern als canonifchen Schriften 
vorhanden war; darum braucht man unter den: axavorioro:g 
auch nicht eine ſolche Sammlung zu verſtehn, wie dad deureoov 
des Epyrill; fondern es gab wohl nur vereinzelte folhe Schriften, 
wie die idiotiſchen Pfalmen; und die VBorfteher der Gemeinden 
mochten fich Fein Urtheil über die Auctorität von deren Verfaſſern 
zufrauen. Der 60fte Sanon giebt nun ein Verzeichniß der cano- 
nifchen Schriften, beim X. T. wird unfer jegiger Canon erwähnt 
ohne die Apoerpphen, auch ohne die Maccabäerbücher; der neute= 
ftamentliche Canon führt auf: die 4 Evangelien, die Apoftelge- 
fchichte, die 7 Eatholifchen Briefe und 14 paulinifche; aber nicht 
die Apocalypfe. Da haben wir alfo ganz denfelben Canon, wie 
bei Cyrill. 

Aber diefer 60ſte Laod. Canon ift von manchen Critikern, 
Spittler an der Spike, angefochten und als ein fpäterer Zuſatz 
erklärt worden. Wir fünnen uns auf die Gründe bier nicht ein— 
Iaffen. Wenn man davon ausgeht, dag diefer Canon unaͤcht fei, 
fo muß man annehmen, daß damals in jener Gegend Fein Zwei- 
fel darüber gewefen fei, welche Bücher canonifch feien. Diefe 
Vorausſetzung ift nun Feineswegs richtig; indeß koͤnnte fie für jene, 
Gegenden dadurch geflüßt werden, daß eben diefe Kirchenprovinz 
fo abgelegen von dem allgemeinen Verkehr mit den andern gewe— 


fen ſei VY. 


S. 14. 

Gehen wir weiter zurüd, fo Fommen wir auf Eufebiu$ 
von Caͤſarea, in deſſen Kirchengefchichte es mehrere Stellen 
über den Canon giebt. Sn allen diefen Stellen (im 2. 3. u. 6. 
Buche feiner hist. eecl.) ift nicht davon die Nede, daß er den 
Canon feiner eignen Kirche aufführe, auch Feineswegs, Daß er 
einen eignen Canon mache; fondern was er vorträgt, find nur 


1) Erf. Entw.: feine Aechtheit wol ohne hinreichenden Grund bezweifelt. 


Zeugniß des Eufebins über den Canon. 45 


critifche Unterfuchungen und Urtheile. Nun hat man außerdem 
häufig den Fehler begangen, daß män fi an die Hauptfielle aus— 
fchließlich gehalten hat, da man doch die Ausdrüde darin nicht 
recht verftehn kann, wenn man nicht die andern Stellen vergleicht. 
Es kommen bei Eufebius fo mancherlei eigenthümliche Ausdrüde 
vor, daß man dabei fehr vorfichtig fein muß. Lib. IL. c. 23, fagt 
er vom Brief des Jacobus: vossveraı, er werde für unädht er— 
klaͤrt. Wir verftehn unter einer unächten Schrift die, welche den 
Namen des Verfaſſers mit Unrecht trägt; und dies ift dort aller- 
dings auch die Meinung, aber Eufebius führt immer mit an, daß 
wenige von den Alten diefes Briefs erwähnt haben; und dafjelbe 
fei auch der Fall mit dem Briefe des Judas, der auch zu den 
Aeyouevoıg natokınais gehöre t). Lib. III. c. 3. fagt er von dem 
1iten Brief des Petrus: diefer fei zvdiadnyaos, welcher Ausdrud 
offenbar in Beziehung auf die Sammlung dafjelbe bedeutet, was 
bei Auguftin scripturae canonicae und im Can. Laod. zavovızd. 
Dagegen vom 2ten Brief des Petrus und allen übrigen dem Pe— 
trus zugefchriebenen Schriften fagt Eufebius: ovd’ olug 27 na- 
Holımois nooededousve, fie feien nicht in den Fatholifchen Ge— 
meinden überliefert, weil Fein kirchlicher Schriftfteller Zeugniſſe 
daraus gebrauche ?). Dies ift ein Hauptpunct bei Eufebius, auf 


. . E € 
4) Bergl. Eus. h. e. ed. Heinich. 1. I. c. 23. .... Tuexoßov, ov 7 
Be — > — ⸗ — 2 - 5 ’ > [4 —3 
T0HLN ν ovonusousrwv audohırav Enıorol@v zivu Atyerarn. Tortzov de 
c ’ ‚ 2 - * ” — c 
vs vohzverus nv" ov noAlol yoiv Tov auluov aurijg Zuymuovevour, Ws 

> on - ) — 2 r - J > el - e x — 
ovde ı7g Aeyoutvns Tovda, was zul wurng ovong ν Ente Aeyontvov 

— NL - ⸗ 

»agolırav. "OQuws dE vousv zul Tuvrug ueru Tov Aoınov dv wleioraıg 


Ösdmnooısvusvag &rrAmoiaus. 


2) L.II. c.3. IlEvoov Zmıoroln nia 7) Asyouivn avrov noorigu, dvauoko- 
yyron vavın Öt zul 0: nulaı myeoßvrego og dvanyıliıra dv Tois 
opÜV avıcv zurarizonvrar ovyyoaunaoı.  Tijv dt Yevoulvmv avrov 
devrigur, ovan dvdıadnaov utv eivar nugsılmgane. “Oung de nokkois 
Kon0ınoS Yuveioa, nero vov allov Zonovdcodn youyüv. To ye unv 
ı0v Inırerimusvov avrov nousswv, ul TO zur’ avıov Wvouuonevov ev- 


— r ’ 2 — r ’ 
uyytkıov, TO ve Aeyonevov avvov xngvyun, au ımv nuhovnivnv «rro- 


44 Zeugniß des Eufebins. 


den er fich häufig bezieht, und worin er fich von Auguftin unter: 
ſcheidet. Eufebius fragt, ob’angefehne Lehrer fich der Zeug- 
niffe aus einem Buche bedient haben, während Auguftin fich auf 
das Urtheil bedeutender Gemeinden beruft. Letzteres ift das 
Spätere; denn das Urtheil der Gemeinden ift wefentlic durch das 
angefehner Lehrer beftimmt, und fo erklärt fich jenes Spätere 
aus dieſem Früheren. | | 

L. VI. c. 13. fagt Eufebius, daß Clemens von Alerandrien 
in feinen Iromuezsis Zeugniffe gebraucht habe do zwv avaı- 
Aeyonivov yeopav, namentlih aus dem Hebräerbrief, dem 
Briefe des Barnabas, Clemens und Judas. Hierbei müffen wir 
zugleich auf die apoftol. Canones Rüdficht nehmen, wo eben- 
falls die Briefe des Clemens mit unfer den canonifchen Schriften 
fiehn ); ebenfo in den apoftol. Conftitutionen. — Bier 
wird alfo ein Begriff aufgeftellt, welcher fowohl auf folde Schrif- 
‚ten, die noch jeßt in unferm Canon find, angewandt wird, als 
auf folche, die nicht darin ftehn. Der Hebräerbrief ift lange Zeit 
von einem Theil der Kirche angenommen worden, von dem an- 
dern verworfen; die abendländifche Kirche hat ihn lange nicht an- 
erkannt. Ebenfo wird zweifelhaft gelaffen, ob alle 7 Fatholifchen 
Briefe oder nur drei davon canonifch find. Wie nun Eufebius 
von dem ten petrinifchen Briefe fagt, er ſei nicht von Allen an— 
genommen, fo ſtellt er ihn auch nicht, unter die canonifchen. Nun 
fragt fich, ob nicht Einer wie Auguftin, der zu der Zeit des 
Eufebius gelebt hätte, die andern 4 Fatholifchen Briefe unter die 
canonifchen .gefeßt haben würde, als von angefehenen Gemeinden 
angenommen. Sie würden zu dem devrsoov des Eyrill gehört 
haben für ſolche Gemeinden, bei welchen fie nicht im Canon ge- 
ftanden. Es fragt fih, ob wir das „widerfprochene Schriften‘ 


c —* a — * 
zahvyw, oVd” oAms iv auFokınoig vous nuoadedoueve, oTı (um ve aQ- 
’ m KT Ni x % es * >, 
zuov un rs vov auF° NuaS TuS E#aAm0ı@OTıRog OVyyQUPEVUS Tas 85 uu- 
— — J 
TOV OVVEZONIATO HUQTVDLALS. 


1) Mansi, conc. I. 47. | 2 


Zeugniß des Rufin. 45 


bloß auf die Verfaſſer beziehn koͤnnen, ob alſo der Hebraͤerbrief 
da, wo er als canoniſch angenommen wurde, immer als pauliniſch 
angeſehn wurde. Ich glaube nicht, daß damals daran gezweifelt 
wurde, daß der Brief des Barnabas und Clemens von dieſen Ver— 
faſſern ſei. Da wird alfo der Begriff der avrıleyouevaı yoa- 
opal zweifelhaft, ob er mehr auf die Unächtheit der Ueberfchrift 
oder den Gebrauch der Schrift fich bezieht. Im folgenden Gapis 
tel fagt Eufebius von Clemens, daß .er in dem nicht auf uns 
gekommenen Werfe der unorunwosg eine Aufzählung der ge— 
fammten canonifhen Schriften des N. T. mache und dabei auch 
die avzıleyörıevar nicht auslaffe?). Bei Rufin 2). finden wir 
auch einen Unterfchied zwifchen canonifchen Büchern und folchen, 
welche nicht canonifch find, aber doch gelefen wurden. Er nennt 
fie libri ecclesiastiei, zu denen er aber von neufeflamentlichen 
beſtimmt nur den Pastor des Hermas rechnet. Man ficht bier 
alfo wieder die Differenz der canonifchen und der vorgelefenen 
und dad Schwanfen in der Bedeutung von avzılsyorevar zwis 
fohen der Unficherheit über den Berfaffer und dem Mangel au 
Auctorität bei Gemeinden und Kehrern. 

Wenn wir nun dies im Allgemeinen zufammenfaffen, fo ſe— 
hen wir, wie aus den verfchiedenen Elementen des Urtheils erſt 
allmählig fih ein gemeinfchaftliches gebildet hat, und wie unfer 
gegenwärfiger Canon durch eine Ausgleichung entftanden iſt zwi- 
fchen differenten Gebrauchöweifen und Anfichten; wobei auf der 
einen Seite eine Neigung zur Bermehrung des Canons aus 
einer gewiſſen Claffe von Schriften, auf der andern Seite eine 
beftimmtere Ausft oßung anderer, die früher einen zweifelhaften 
Rang hatten," vorgewaltet hat. Dies wird ſich genauer ergeben, 


1) Lib. VI c. 14. Ev Ö wars vnorunwosoı ndons 75 Wrdiadıjaov you- 

"PN Zurerunnivag TETOLNTL dinyjoss, umdz zus ayrıkeyolvus augel- 

Ir‘ av Tode Alym zul rag Aoınas audolınas Ztıoroius, Tjv TE 
Buovaßae zul u7v IlEroov Aeyoulonv anoxakvy, 

2) Rufin. expos. in symb. apost. ad 'cal&. opp. Cyprian. ed, Oxon. p. 26. 2 

® 


46 Zeugniß des Athanafius. 


wenn wir auf die Hauptftelle des Eufebius näher eingehn und 
andre Ausfprüche über andre Schriften, die nicht in unferm Ca— 
non mehr vorfommen, hinzunehmen. 

Eufebius behandelt diefe Angelegenheit immer fo, daß er bei 
den einzelnen Apoſteln und apoſtoliſchen Maͤnnern gleich ihre 
Schriften anfuͤhrt und die unterſcheidet, welche allgemein aner— 
kannt werben, und die andern: omoAoyovsevar und avzıleyo- 
eva. Darüber fagt er, er werde dies immer fo thun, daß er 
bei den bedeutendften Kirchenlehrern namhaft machen wolle, welche 
apoftolifchen Schriften fie anführen. Man fieht, fein ganzes Ver: 
fahren ift ein critifches; 1. IL. c. 25. giebt er dann das Re— 
fultat feinter Unterfuchungen an. Denfelben Geficht3punct finden 
wir auch bei Andern; z.B. Athanafius kiebt in einem Briefe!) 
ebenfalls den Canon und ftelt fidy dabei gewiffermaßen parallel 
mit dem Lucas: es hätten Biele unternommen, die apoeryphifchen 
Bücher mit den Gott eingegebenen Schriften zu verinifchen, und 
das wolle er aus einander legen, und die in den Canon gebrach— 
ten, überlieferten und als göttlih anerkannten Bücher wolle er 
verzeichnen, damit jeder, der hintergangen fei, den Betrug wahr- 
nehmen Fünne. Und nun giebt er einen Canon, der mit dem Cy— 
rillifchen faft ganz übereinftimmt, nur daß er die Apocalypfe hin= 
zufuͤgt. Dies überhaupt feien die unyal Tov owrrygiov, und in 
diefen allein werde die Lehrweiſe der Gottfeligfeit verkündet (2v 
TovToıg AovoLS To Tyg svVoeßeiag dıdaona)eiov edayyskiterer). 
Man fieht, daß diefer Gefichtspunet im Aten Jahrh. vorherrfchend 
geworden war. 

Gewöhnlich fieht man. jene Stelle des Euſebius 2) fo an, 


1) Atban. opp. ed. Bened. Tom. I. 961 sq. 

2) Euseb. h. e. II]. 25. Tuxriov ?v ayWras Tv ayiav ov zvayyekiov 
rergurtiv, oig Enermı 7 av nodkeov vöv anoorölmv yougn.  Mera di 
ravınv, vas TMlavkov zurakerreor Ztorolug, aig Es Tv YEgousınv 
Imayvov royoriouv, zul swoing nv Ilivoov zvgwr£ov Zrumrohp. "Eri 
zovvos varrlov, eye yaveln, Tıv anondkvyıv Imavvov, eob MS cu dü- 


Eurra zura zuıpoV 34 I700n:Iu Kai ravra uw iv onokoyovutvorg. Tüv 


Canon des Enfebius. 47 


daß er eine Dreitheilung mache in orodoyovueva, avrıleyorıeve 
und vos. Das ift aber genau genommen falfch. Er fagt, es 
Fomme eigentlich darauf an, diefe Schriften der zuuwn dıadyan 
von denen zu unterfcheiden, welche unter dem Namen der Apoftel 
von den Ketzern vorgebracht würden; diefen Kebern ſtehn die &x= 
#lyoioı aagolınaı entgegen. Er hatte ſchon von andern Schrif- 
ten gefagt, fie feien nicht 2v. wadoAınois augadedonere }). 
Dies ift alfo fein Hauptgegenfaß: Schriften der zer und a- 
Aaıc Öagay der ganzen hriftlichen Kirche, und Schriften, welche 


—— — —— Fe = e > 
Ö avrıkeyouivov, yyopiumv Ö ovv oums Toig noAloig, m Asyousınm Ja- 
* — c c/ * x h € ’ 
#ußov glostaı zul 7 Jovda, yve Ilivgov devriga Zmiotoin, zul 7 ovo- 
o ‚ ’ ⁊ 2 — >» - — 2 — 
— "Inavvov, &ı TE Tov evayyehıorov TUyyavov- 
“r x — c ’ = ‚ 977 — ’ [4 
oa, zire nal Eripou oumvuuor tzeiva,. Ev Tois vogos »uTareraydo 
Y - r "a € er KL ‚ \ ETC | 
za av Ilavkov zouSewv 7 yougn, 0 TE Asyousvog noıumv, zul N ano- 
En F D r \ ’ [3 ’ a. 
»akvyig Ilergov. Kai no0s rovrois, 7 peooutvn Buovupe &zuoroin, 
At - > ‚ r ‚ n y RE’ Aar e>3 ‚ 
+0) Tov arooroLmv wi Asyonsvaı didazei' Fr Te os !ynv nm Jouvvov 
2 ‚f 71 = ’ er c % 9: - [77 d: 3; ’ 
anoxulvyıs E Yuvein, 17V Tıyes WS Epnv aIeTovgw, ETEQ0ı dE &y#GivovVOu 
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Toig ouoAoyovusvouc. "Hon Ö’ 37 Tovroıs Tiic zui To »a® Epowiovs 
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zVayytlıov nart)etuv, © nahıora "Epouiov oi Tov Xgıorov nugadeiuus- 
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vor zuipovon. Teavra uv aaıre vov ayrıkeyoulvav @v Ein, Avuyraios 
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ÖE #ui ToVTWv oumg Tov nurakoyov nenommsde, bıarpivarres Tag TE zUTu 
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vas yoapas, nal Tas uhlas auou ruvras, our Evdıadjzovs nev akku 
zul avrılsyouivas, ons Ö8 zugd alsioroıs TWV Earlmoıaorızov yıyvo- 
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Oroutvus, ıv zidevaı oey⸗ avvag TE Tavras, nal Tug ovouarı TO 
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zul 7 TWV EV avTois pEgoutvmv TPOWIQENG , heiotov 0009 uns aAmFovs 
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- 173 262 — 2 x ’ > > c 
oupas nwgiormow’ 00 ovd iv vodos uvTu AUTATURTEOV, ah 05 
> ‚ a - ‚ 
«ron nuvın zul dvoosp7 nugpwıTnTeor, 


1) 1. 3. Siehe oben Seite 43, 


a 


48 Canon des Eufebius. 


nur von den Kebern gebraucht und angenommen werden. Uns 
ter den erftern unterfcheidet er wieder folde, welche EV NOWTOLS 
zu ftellen feien (nemlich die, welche er ouoAoyovsreva nennt, 
deren fich alle Firchlichen Schriftfteller von Anfang an bedient ha— 
ben), und ſolche, welche weniger allgemein anerkannt find. Was 
diefe letztern betrifft, fo ift Die Sonderung, nach welcher er einige 
von ihnen ald avzdeyoneve, andere als vos bezeichnet und 
Dadurch zwei verfchiedene Abtheilungen gemacht habe, ganz falſch. 
Denn nachdem er den Brief des Sacobus, des Judas, den ten 
des Petrus und den 2ten und Iten des Johannes unter Die dv- 
zıhsyöeva gezahlt hat, fährt er fort: u vor vodoıg zarare- 
Teydo naı u. f. w. Go fiebt man, Daß v080» dafjelbe fagen 
will, was avrıleyouevor. . Faßt man die Sache in der Drei- 
theilung, fo. wäre auch gar nicht zu erklären, wie er von der 
Apocalypfe fagen kann: Einige ftellen fie unter die OuoAloyovuerg, 
Andre unter die voIa, unter diefe müffe man fie feßen, wenn 
man fie nicht unter die OuoAoyovseva rechnen wolle. Wenn 
avrıleyoueva eine von vos« verfciedene Claſſe wäre, fo würde 
er fie wohl eher, dahin geftellt haben. Nun fieht man alfo, daß 
es ihm auf die Unterfcheidung,, die er innerhalb der yoapez der 
zw dadyan macht, nicht angekommen ift, fondern daß er nur 
Abftufungen hat machen wollen, daß er aber die orokoyovueva 
ganz feftftellt, mit Ausnahme der Apocalypfe, welche fchwanfend 
- bleibt. Dies kommt aber daher, weil diefe Schrift immer als 
eine apoftolifche angefehn und auch von den Gemeinden, welche 
fie annahmen, weit höher, als die 4 Fatholifchen Briefe, geachtet 
wurde. Es fommt ihm auch nur darauf an, die Zeugnijfe in ih- 
rem Endrefultat zufammenzuftellen. — Unter die vo9a, die cr 
fireng von den von Kekern aufgebrachten fondert, rechnet Euſe— 
bius auch den Brief des Barnabas und die dedayar ruv "Ano- 
"oroAmv und außer der Apocalypfe auch das Evangelium xu9 
“Eßowtovs, welches dasjenige fei, auf welches die Gemeinden 
aus den Hebräern den größten Werth legen. Nun fagt er von 
diefem gar nicht, daß es einem beftimmten Berfaffer beigelegt 


Canon des Eufebins, 49 ° 


werde; alfo kann es nicht unter die unächten. gefegt werden in 
dem Sinne, nach welchem es auf den Verfaſſer anfommt; fondern 
weil man außerhalb Paläftina diefes Evangelium nicht Fannte, 
fo konnten auch andre Schriftfieller (EunAroraorınoı ovyyoageig) 
feine Zeugniffe daraus hernehmen. Alfo konnte es auch) feine andre 
Stelle befommen, als diefe, weil es bei den Schriftftellern nicht 
vorkommt, deren Urtheil Eufebius ausmitteln will. Wenn man 
fieht, daß er die Apocalypfe, indem er gar nicht zu erkennen giebt, 
ob er felbft zu denen gehört, die fie zu den o10A oyovssvo zählen, 
bi hier herunter ruft, fo muß er auch einen ſolchen Mangel 
daran, daß ſich Schriftfteller ihrer bedient hätten, gefunden haben, 
und fie muß in feinem litterarifchen Kreife Feine andere Stel— 
lung, als diefe, haben befommen können. Senes aber feßt er nur 
als die Meinung Einiger hin. 

Dazu finden wir noch einen Schlüffel in der befannten 
Stelle aus dem Briefe des Hieronymusan den Dardanus?): 
„Die Gewohnheit der Lateiner nimmt den Brief an die Hebräer 
nicht unter die canonifchen Schriften auf; die Griehen aber'thun 
es alle.” In den griechifhen Berzeichniffen finden wir immer 
14 paulinifhe Briefe; darunter ift alfo auch der Hebräerbrief. 
„Aber“, fagt er, „ebenfo wie die Lateiner den Brief an die He- 
braer nicht annehmen, fo nehmen die Griechen die Offenbarung | 
des Sohannes nicht an; ich felber. aber nehme beide‘, und folge 
nequaguam hujus. temporis consuetudinem, ‘sed veterum scri- 
ptorum auctoritatem“, "Nun wiffen wir nicht, welche alte Schrift: 
ſteller dies ſind. Wahrfcheinlich waren es Iateinifche oder auch 
paläjtinifche und fyrifche; es koͤnnen aber: auch griechifche gewefen 
ſein. So ſtellt fich, dies ziemlich sebenfo, wie bei Eufebius. 

Fragen wir, was der Ausdrud yoayy! vdındnnog bedeutet, 
fo muͤſſen wir allerdings ſchwanken, ob wir. die, ganze? erfte 
Hauptabtheilung des: Eufebius, alles, was Auctorität in der 
Kirche hat und nicht Fegerifch ift, darunter verftehn follen, oder 


1) Hieron. opp. ed. Martian, II, 608. 
Ein, ins N, T- 4 


50 Zeugniß Gregord von Nazianz über den Canon. 


nur die Schriften, welche er 2» nuewro:s feßt. Sein Sprachge- 
brauch hat in diefer Beziehung etwas Schwanfendes, was daher 
kommt, daß er Feiner beftimmten Theorie folgt, fondern nur den 
Zeugniffen Anderer, die eine unbeftimmte Abftufung zulaffen. 
Aus der Zeit der erften von uns angeführten Zeugniffe ift 
noch eine Stelle bei Gregor von Nazianz zu bemerken. Er 
fiellt auch einen Canon auf und fagt von den Eatholifhen Brie- 
fen 1): Einige fagen, e3 feien fieben, Andre, man müffe nur drei 
aufnehmen (nemlich 1. Petr., 1. Soh. und Sacob.). Ferner fagt 
er von der Offenbarung des Sohannes, daß Einige fie mit hinein 
Ichrieben (in den Canon), die Meiften aber fie für vogFog erklärten. 
Er feßt hinzu: 0brog uwevöcotarog navWv av im Tav Hso- 
VvEvVoTrov yoapwv. Das „von Gott eingegeben” hat hier offen= 
bar Feineswegs die Bedeutung eines Zeugniſſes über eine befon- 
dere Glaubhaftigfeit, fondern es ift dafjelbe, wie das oben aus 
Athanafius Angeführte: daß in diefen Schriften allein der eigent- 
liche Lehrtypus der hriftlichen Gottfeligfeit verfündigt werde. 
Nun fehn wir alfo hier offenbar fo viel, daß es eine ganz 
falſche Vorſtellung vom Canon in jener Zeit und von canonifchen- 
Schriften fei, wenn man ſagt, es feien diejenigen, welche in den 
Kirchen vorgelefen wurden. Denn offenbar find viele gelefen, 
von denen es Niemanden einfiel, fie in den Canon zu feken. 
Der Kreis der. Bücher, welche in Gemeinden gelefen wurden, 
war fehr fchwanfend, aber der Canon beftimmt. Die Briefe des 
Clemens und des Barnabas wurden aus dem Canon heraus: 
genommen, aber ſchwerlich gehörten fie in andern Gemeinden dazu, 
als in denen, an welche fie gerichtet waren. Unter die Bücher 
von einer folchen zweifelhaften Stellung gehört nun außer: der 
Offenbarung des Johannes befonders ‘der Pastor des Hermas, 
von dem Eufebius fagt, daß Einige ihn in den Canon nehmen, 
Andre aber behaupten, er fei nicht von dem Hermas, der im 


1) Greg. Naz. Op. II. 194 sggq. ed. Colon. 


, Das Muratoriihe Fragment. Sl 


N. &. erwähnt werde !). Da fieht man alfo, diejenigen, welche 
diefe Schrift für apoftolifchen Urfprungs hielten, von dem Bekann— 
ten des Paulus, nahmen fie in den Canon auf; die aber daran 
zweifelten, nahmen fie aus demfelben heraus. So finden fi 
auch Zeugniffe, wo diefes Buch allein als ein neuteftamentliches ano- 
zovpov angefehn wird mit jenen altteftamentlichen zufammmen ?). 


$. 15. 


MWenn wir num weiter zurüdgehn, fo kommen wir auf ein 
fehr merkwürdige Zeugnig, was aber ifolirt da ſteht und über. 
deffen Urfprung ſich Nichts entfcheiden läßt. ES ift das Mura- 
torifche Fragment (Muratori, antigg. Ital. medii aevi. III, 
854.), ein Iateinifches Verzeichniß der neuteftamentlichen Bücher, 
von Muratori und einigen Critifern ans Ende des 2. Jahrhun— 
derts, von andern ins Ate gefekt?). Die paulinifchen Briefe ftehn 


1) H. e. III. 3. ’Enei dt 6 anoorolog &v wars Zai Teisı 77000070801 TG 
zoos “Punaiovg yyyunv nenointar nera av allow nal Eoua, * 
guoiv Unupysw To Tvov nonevog Pußkiov, lioriéor WG ui Tovro noog ulv 
zıvov avrılikenrar, di 005 our av &v ouoAoyovulvosg TEeFein, vp Eriowv 
dt dvayzuıorarov ois ualıora det 0To1yEIW0E0S EOayoyınjg Aergıra. 

2) Hieronym. in prologo galeato, vergl. Athanas. I. 961. u. Rufin. expos. 
symb. apost. (vergl. De Wette Einl, Th. I. Seit. 45. d. Iten Ausg.) 

3) Das Fragment beginnt mit Lucas; es folgen Soh., Acta und die paulin. 
Briefe ohne den an die Hebr. Dann heißt eg: Fertur etiam ad Laudecen- 
ses, alla ad Alexandrinos, Pauli nomine fictae ad haeresem Marcionis; 
et alia plura, quae in catholicam ecclesiam recipi non potest. Fel enim 
cum melle misceri non congruit. Epistola sane Judae, et super- 
scripti Johannis duas in catholica habentur. Et Sapientia ab amicis 
Salomonis in honorem ipsius scripta. Apocalypsis etiam Johannis et 
Petri tantum recipimus, quam quidam ex nostris legi in ecclesia 
nolunt. Pastorem vero nuperrime temporibus nostris in urbe Roma 
Herma conscripsit, sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio epi- 
scopo fratre ejus. Et ideo legi eum quidem oportet, se publicare 
vero in ecclesia. populo, neque inter prophetas completum numero 
neque inter apostolos in finem iemporum potest. Arsinoi autem 

4 * 


* 


— Das Muratoriſche Fragment. 


voran, wie es in der lateiniſchen Kirche zu ſein pflegt, waͤh— 
rend in der griechiſchen die katholiſchen Briefe gewoͤhnlich vor 
jenen genannt werden. Dann heißt es, es gebe auch einen 
Brief an die Laodicenfer und einen an die Alexandriner. Ein 
Brief mit der erftern Ueberfchrift findet fih im Codex pseudepi- 
graphus, der Brief an die Werandriner kann Faum ein andrer 
als der an die Hebräer fein; er fei der Keberei de Marcion zu 
Liebe erdichtet. Dies iſt gar nicht einzufehn, da fcheint alfo eine 
Lücke zu fein. Es folgt: et alia plura, quae in catholicam ec- 
dlesiam recipi non potest. Diefer Singular giebt wieder den 
Berdacht einer Luͤcke. Da ift die Nede unbeftimmt von mehreren 
Büchern, welche in die Fatholifche Kirche nicht aufgenommen 
werden Fünnen, weil man doch Galle und Honig nit unter 
einander ‚mifchen dürfe. Epistola sane Judae et superscripti 
Johannis duae in’catholica habentur. Das müßte der 2. und 
3. Joh. fein, und vorher müßte vom erften Joh. die Nede gewe— 
fen fein. Es folgt: Et sapientia ab amicis Salomonis in hono- 
rem ipsius scripta; da ift alfo ſchon eine Vermiſchung des Alt- 
und Neuteftamentlichen. Dann heißt es: Apocalypsis etiam Jo- 
hannis et Petri tantum recipimus. Bier, glauben Biele, fei eine 
Luͤcke; unmittelbar kann es nur beißen, von den Apocalypfen 
nehme er nur die des Sohannes und Petrus an. Die des Netrus 
wurde aber immer für unächt gehalten; bier heißt es aber nur: 
von welcher Einige nicht wollen, daß fie in der Kirche gelefen 
werde. Es Fann alfo im Canon fein, was nicht öffentlich gelefen 
wurde. Dann wird vom Pastor des Hermas gefagt, daß dies 
Buch ganz neuerdings in Nom von einem Bruder des römifchen 
Biſchofs Pius gefchrieben fei, deshalb follte es zwar gelefen 
werden, aber e3 öffentlich in der Kirche dem Volke bekannt zu 
machen, gehe nicht an. Der Ausdrud se publicare entfpricht 


- 
seu Valentini vel Mitiadis nihil in totum recipimus, qui etiam no- 
vum psalmorum librum Marcioni conscripserunt una cum Basilide 


Assianum Catafrygum constitutorem, 


Dad Muratoriſche Fragment. 53 


dem griech. — ——— , daS ſich immer auf das in den 
Sammlungen der Gemeinden gewefen fein und in den Gemein: 
den privatim oder öffentlich gebraucht werden bezieht und ein ge= 
meinfchaftlicher Ausdrud für alle die Schriften ift, die nicht häre- 
tifch find und als OuoAoyovueva und avrıleysueva zufammen 
die zaımn dıadyan bilden; Schriften aber aus fpäterer als der 
apoftolifhen Zeit, werden niemals darunter begriffen. Entweder 
müffen wir glauben, daß die Gemeinden feine Sammlung davon 
- hatten und fie nur im Beſitz der Schule waren, oder daß man 
gleich einen beftimmten Unterfchied zwifchen den apoftolifchen und 
fpätern Schriften gemacht hat, weil man nur die erftern zu Be— 
weifen gebrauchen Fonnte, worauf doch immer am meiften anfam. 

Da im Fragment von zwei Briefen des Paulus die Rede 
ift, die verworfen werden, dann von einem des Sudas und 
zweien superscripti Johannis, dann von der Sapientia Sal., von 
zwei Apocalypfen und endlich vom Pastor des Hermas: fo ift 
kein Buch darunter, das unter die HroAoyovueva gehört; denn 
wir müffen die beiden letzten Briefe des Johannes verftehn, da 
entweder nur der erfte oder alle drei für canonifch gehalten wer— 
den Fünnen. Der eigentliche erfte Canon muß alfo fehon voran— 
gegangen fein. So erflärt fih, warum der Berfaffer ein alttefta- 
mentliches Apocryphon erft jet anführt, wenn er das alte Zefta- 
ment mit in feinen Canon aufgenommen hatte. So Fann alfo 
hier ein Schluß gemacht werden auf den Zuftand der Sammlung, 
welche bei Cyrill 2» devreow ift und bei Eufebius nicht zu den 
rowrorg gehört aber auch nicht Fegerifch ift. Man fieht, daß die 
- Dffenbarung des Petrus in einigen Kirchen gelefen wurde, da es 
heißt, daß Andre es verbieten. Die zweite Claffe zerfiel in der 
Folge immer mehr in zwei Theile, von denen der eine, nemlich 
die Offenbarung des Sohannes, der Hebräerbrief und die vier ka— 
tholifchen Briefe in den Canon aufgenommen wurden, während 
die Schriften des andern Theil nicht gefammelt wurden und ſich 
jo mit andern vermifchten. 

Man könnte auf den Gedanken kommen, daß dad Fragment 


\ 


54 Das Muratorifche Fragment. 


eine Ueberfegung aus dem Griechifchen fei; aber dem widerfpricht, 
was von dem Pastor des Hermas und der Auctorität der römi- 
chen Gemeinde gefagt wird. Man kann alfo aus dem Fragment 
fehn, wie die lateinifche Kirche ihren eignen Gang für fich gegan- 
gen iſt; nur daß wir nur indirect ſchließen koͤnnen, wie der eigent- 
liche Canon gelautet hat. Er hatte alfo die paulinifchen Briefe 
mit Ausnahme des Hebräerbriefes, den 1ften und vielleicht auch 
den 2ten Brief Petri, 1ften Soh. und den des Sacobus )). 
Merfwürdig ift noch die letzte Stelle, nachdem gefagt ift, 
daß der Pastor von dem Bruder des Bifchof Pius gefchrieben fei. 


1) Erf. Entw. Kommentar über das Fragment. Nach Hieronymus 
kann man wol glauben, daß Hebr. Br. in der lat. Kirche fehr unbe- 
fannt war und je älter deſto Teichter. Merkfwürdig, wenn man ven 
Text nicht ändert, daß grade Jac. und Peir, Br. ganz fehlen. Die 
Zwifchenfihiebung der Weisheit Salomonis deutet entw. auf große Un— 
wiſſenheit oder auf ein verlorenes N.T.lihes Apocryph. Oder darauf, 
daß hier überhaupt nur von libris ecclesiasticis die Nede ift und dies 
fein einziges altteftamentliches war. Die Gleichftellung der Johannei— 
fhen und Petriniſchen Apocalypfe (wenn man den Text nicht ändern 
wi) und zwar auf eine Weife, die auch mehr ähnliche Werfe von 
Andern vorausfezt, ift merkwürdig. Pastor muß wegen des bifchöfli- 
hen Bruders gelefen werden. (Diefe Stelle weifet doch fehr deutlich 
in das 2. Jahrh. Hin.) - Wichtig die dreifache Abftufung, die troz des 

- verberbten Tertes deutlich: das Lefen Cein Unterfchied, den Cyrill für 
feine Catechumenen nicht anerkennt) das publicare se in ecclesia po- 
pulo, Gebrauch in den öffentlichen Verſammlungen, und das in pro— 
phetas et apostolos redigi, gleich dem kanoniſchen des Laod. und dem 
&vdıadnnog des Euseb. mit Rückſicht auf Beweisſtellen. Aus der zwei— 
ten Maſſe wurde nun theils die dritte vermehrt, theils fiel ſie der er— 
ſten anheim. Das Schwanken ſieht man noch bei Gregor. von Naz., 
dann bald wird der Kanon feft. 

(Das Muratorifhe Verzeichniß erwähnt entweder den Brief an die‘ 
Hebr. gar nicht oder unter dem Namen ad Alexandrinos Pauli nomine 
ſicta. Wenn nun aus diefem die Worte Hebr. 12, 15. angeführt wer— 
den: fo müßte es offenbar anführen, daß es den Verfaſſer aus fich felbft 
widerlege.) 


Zeugniß des Gregorius Thaumaturgos. 3) 


Schwerlich ift fie ganz rein, aber merkwürdig ift doch und gewiß 
nicht falfch: er wolle den Pastor weder unter Die apoftolifchen 
Briefe noch unter die Propheten ftelen. Da giebt es aber eine 
Stelle, die freilich fehr fpät ift, aus dem 6. Jahrh. in einer Samm- 
lung über den Ritus, wo es heißt: zoug Waltovg dvayıynorsı 6 
coyıdıznovog, TV Ö& NEOpYTElav #0 TOV ENOOTOAov 6 now- 
- tenooroAdoros. Da find alfo Vorlefungen in drei Abthei- 
lungen, Pfalmen, Bropheten und Apoftel; und die Evangelien 
fehlen. Aehnlich bei Eyrill von Scythopolis: dudakaı To warıy- 
01:0v za Tov anootolov. Da konnte man den Pastor des 
Hermas entweder unter den prophetifchen Büchern leſen oder un- 
ter den apoflolifhen; unfer Fragment fagt, daß er unter Feine 
von beiden gehört und nicht vorgelefen werden kann. Diefe fpä- 
tern Notizen geben einen Winf, daß die ganze Sammlung des 
neuen Veftaments viel fpäter, als jene eritifchen Unterfuchungen \ 
und Beftimmungen des Werthes der einzelnen Bücher, noch nicht 
als eine vollfommne kirchliche Einheit in der Praris gegolten hat. 
Allerdings da alle jene Auctoritäten immer die 4 Evangelien vor- 
anftellen, fo müffen diefe allgemein verbreitet gewefen fein; aber 
es fcheint, daß fie nicht fo bald in die öffentliche Praris der Vor— 
lefung übergegangen find, wie‘ die apoftolifchen Briefe; fondern 
da zuerft in den chriftlichen Verfammlungen nur die altteftament- 
lihen Schriften vorgelefen wurden, fo fieht man, wie fich daran 
die apoftolifchen Briefe zunächft angefchloffen haben. 


$. 16. 


Meiter ruͤckwaͤrts finden wir eine Sielle in der en Rede 
des Gregorius Thaumaturgos um die Mitte des 3. Sahrh.: 
0Tav GvayırnorsTaı To svayyElıov 9 dnoorolınov!). Es 
ift nicht abzufehn, woher mehrere Schriftfteller nach Suicer im 
thesaur. eccles. die Meinung gehabt haben, dies fei ein Gefang 
gewefen, der fo gehießen; denn dagegen fpricht durchaus das ave- 


1) Gregor. Neocaes. opp: ed. Gerh. Voss, pag. 74. 


56 Zeugniß des Origenes über den Canon. 


yırwonsıv. Andere verftehn unter anooroAızov das apoftolifche 
Glaubensbefenntniß; aber dies widerlegt fich durch den Anachro- 
nismus. To anooroArzov muß eine Sammlung apoftolifcher 
Schriften fein, und fo wäre dies die ältefte Stelle, wo eine folche 
zweifache neuteftamentliche Vorleſung angeführt wird; während 
fpäter Neuteftamentliches und Altteftamentliches mit einander ver: 
lefen wurde und Erjtere dann nur das Apoftolifche war. 
Eufebius bemüht fich (h.e. VI.25.) Stellen des Origenes zu 
fammeln, um zu zeigen, wie diefer die heiligen Bücher gefchäßt und 
welche er für acht gehalten habe. Eufebius hatte die Schriften 
des Drigenes noch vollftändig vor fih; an diefer Stelle zeigt er 
nun, daß Drigenes die 4 canonifchen Evangelien abgefondert von 
allen andern hinftellt und einen: apoftolifchen Zufammenhang für 
fie geltend zu machen fucht, indem er Marcus auf den Petrus, 
Lucas auf den Paulus zurücdführt; die Reihenfolge ift die unfrige. 
Aehnliches findet man auch bei Eufebius aus dem Clemens 
von Alerandrien, welder eine Zradition mittheilt, daß die 
beiden Evangelien, welche die Genealogien haben, die älteften feien, 
ebenfo den Marcus auf den Petrus zurüdführt, und vom Johan— 
ned fagt, daß er zuletzt gefchrieben habe, weil die andern drei 
nur 7a owuerıza der evangelifchen Gefchichte gegeben hätten }). 
Be, rigened hat auch den Brief an die Hebräer commentirt, 
und Eufebius führt eine Stelle an, wo er fagt, es fei gar nicht 
der paulinifche Stil, aber der Inhalt volllommen paulinifche Ge— 
danken. Er hätte ihn gewiß nicht commentirt, wenn er ihn nicht 
für ein canonifches Buch gehalten hätte; er hatte alfo in feinem 
Canon ſchon 14 paulin. Brief. — Sm Commentar zum Johan— 
nes fpricht er über das fparfame Schreiben der erften Apoftel und 
fagt, Petrus habe nur eine einzige ZrrovoAm OuoAoyovuevn bins 
terlaffen, Johannes nur ein kurzes Evangelium und einen Kleinen 


v r a % 

1) Eus. h. e. VI. 14. .... 709 utyror ’Inayryv Zogurov ovmdorre orı Te 
8 8 er > * © 8 - 0 

muarıra Ev Tois zvayyekioıs dedyimru, ngorgunevra vno Tray YrWQi- 


’ , - > ’ 
uwv, Nvsvuurı FEopoomdevze, TVEUuaTıRoV Toy OLL svayyskıorv. 


Zeugniß des Drigenes. 57 


Brief; die beiden andern und der zweite des Petrus würden be- 
zweifelt. Die Apocalypfe erwähnt er auch, ohne irgend einen 
Zweifel dagegen geltend zu machen. | 
Mas die Evangelien betrifft, fo haben wir noch eine Stelle 
in der Ueberfeßung der erfien Homilie des Drigenes über den 
Lucas, wo er über den Eingang diefes Evangeliums jagt, daß 
er einen Tadel derjenigen enthalte, welche gewagt hätten (conati 
sunt — Znssyeioyoav Luc. 1, 1.), die heilige Geſchichte zu 
fchreiben, ohne vom heil. Geift erleuchtet zu fein. Die Kirche habe 
nur 4 Evangelien, die Keßer eine Menge). 
Merkwuͤrdig ift noch eine Stelle des Drigenes, wo er 
wuͤnſcht, das Zalent der heil. Schriften zu vervielfältigen: zv- 
yoraı T7V gwav eite sVayyeliov, elite aN00T0A0V, EiTE NQO- 
pYToV, site vouov nomocı no)Aandaotova?). Hier fehn wir dies 
felbe Eintheilung, wie bei Gregorius Thaum.; das Neuteftamentliche 
faßt Drigenes zufammen in Evangelium und Apoftel, das Altte— 
ftamentliche in Gefeß und Propheten. Da er das Neuteftament- 
liche voranftellt, fo kann man nicht fagen, er habe die Eintheilung 
nach der Analogie des A. T. gemacht). Alfo geht daraus hervor, 
daß dies die Hauptoifferenz ift: zo evayyelıov, alle 4 Evv. bes - 
greifend, und 6 anoorolog. Nun fragt fich aber: ift dies fo zu 
verftehen, daß dies zwei verfchiedene Theile des Canons gewefen 
find, und daß man denken muß, die neuteflamentlichen Bücher 


1) Orig. T. II. pag. 933. Hoc, quod ait: Conati sunt, latentem habet 
accusalionem eorum, qui absque gratia Spiritus sancli ad. scribenda 
evangelia prosilierunt. Matihaeus quippe, et Marcus, et Joannes, et 
Lucas non sunt conati scribere, sed Spiritu sancto pleni scripserunt 
evangelia..... Ecclesia quatuor habet evangelia, baereses plurima. 

2) Hom. XIX. in Jerem. T. Ill. p. 264. 

3) Erfi. Entw. Man fieht, nach der Analogie der altteftament. Einthei— 
Yung ift auch die neuteftamentifche gemacht. — Es ift wol nicht zu ſchlie— 
fen, daß damals zwei befondere Sammlungen, Evang. u. Apoft. das 
gewöhnliche waren. Hier dominirt das altteffam. und dem wird Das 
neue anbequemt. “ | 


58 Doppelte Sammlung, svapyslıov und anoorolızov. 


feien in 2 Abtheilungen getheilt worden, und es habe, ehe man 
das N. T. inEins zufammengefaßt, zwei neuteftamentliche Samm— 
lungen gegeben? Das wäre hieraus zuviel gefchloffen. Aber e3 
giebt doch allerdings Stellen, wo fich dies ziemlich Elar herausftellt, 
und wo Gitate fo angeführt werden, im suayyeiıov ſtehe das, 
und im anoorolos dad. So bei Srenäus und Tertullian oft. 
Man muß alfo Sammlungen unter der allgemeinen Weberfihrift 
To evayyekıov, und andere unter der Ueberfchrift 6 amoorolos 
gehabt haben. Wenn man nun aber fragt, was in beiden geftan- 
den haben mag, fo ift freilich das Zeugniß des Drigenes fehr 
entfchieden dafür, daß ihm Fein Beifpiel befannt war, daß man 
in der Kirche ein andres Evangelium hatte, als die vier. Unter 
ecclesia bei Drigenes find gewiß nur die griechifch redenden Ge- 
meinden zu verftehn; alfo kann Drigenes das svayyeiıov nad 
"Eßoriovs, welches Eufebius wenigftens unter die deuferocanoni- 
ſchen Schriften ftellt und von den hebräifchen Chriften vorzüglich 
gefchäßt nennt, nicht mit unter dem allgemeinen Namen zo ev- 
ayyehıov begriffen haben, da es femitifch war. Schwieriger ift 
zu entfcheiven, was 0 dnnooroAoc gewefen fei. Wenn es die 
paulinifchen und Fatholifchen Briefe waren, fo fieht man nicht ein, 
warum es nicht oö amooroAo: heißt oder To anrooroAınov , wel= 
che aber wohl nur bei Gregor. Thaum. vorkommt. Wenn man 
darauf achtet, wie verfchieden die Drönung bei Eyrill und Augu— 
fin ift, und daß bei erfterm die Fatholifchen Briefe den paulini— 
fhen vorangehn und allen die Acta, fo wird man geneigt zu 
glauben, daß 6 anooToAog das alles gewefen, indem die Acta 
wohl als hiftorifche Einleitung dazu gehörten. Nimmt man aber 
die Fateinifche Drönung bei Auguftin: die paulinifchen Briefe zu— 
erft, dann die Fatholifchen und die Acta zulebt, fo wird es zwei: 
felhaft, ob diefe beiden Haupttheile nicht erft fpäter hinzugekommen 
find. Das ift Feine Frage, daß die paulinifchen Briefe eher ge= 
fammelt wurden; Marcion hat ſchon eine Sammlung von ihnen, 
von den Eatholifchen Briefen aber nicht. So geftaltet fich alfo 
die Sache, wenn wir bei diefen Zeiten, wo unfre fichern Quellen 


Sammlung des ganzen neuen Teſtaments. 59 


erft anfangen, ftehn bleiben fo : daß unter diefer Form zuerft die 
Sammlung zu Stande gefommen, in diefer Duplicität von ev- 
&yyekıov und assoorolog, und das Lebtere erſt allmählig erwei- 
tert ift, indem zu den paulinifchen Briefen zuerft die 3 Fatholi- 
fchen Briefe und dann die 4 hinzufamen, und daß diefe Einheit 
erft entftanden ift durch die allmählige Sonderung des 2ten Theil, 
indem nemlich einige von diefen Büchern in den Canon übergin- 
gen, die andern nicht mehr durch Firchlihe Sammlungen verbrei= 
tet wurden und fo allmählig verloren gingen, fo daß fie größten- 
theils nur fragmentarifch durch Anführungen von Schriftfiellern 
vorhanden find. Aber. felbft der Ausdrud Zvdeadmnos ſcheint 
nicht zu beweifen, daß zu der Zeit eine ausfchließende Samm— 
lung fchon vorhanden gewefen fei. Wenn man bedenft, wie die 
Bücher damals geftaltet waren, fo war es nicht gut möglich, hier 
eine beflimmte abgefchloffene Einheit zu mahen; und da war es 
um fo wichtiger, daß man fich zuerft über die Schriften verftän- 
digte, welche zum Beweife der chriftlichen Wahrheit gebraucht 
werden konnten; und daß die andern erft alle, je nachdem fie fich 
an diefe anfchloffen, oder nicht, gefammelt wurden oder in der 
Berborgenheit blieben. 

Wie wenig feftftehend der Gefichtspunct war,: wornac) man 
chriſtliche und kirchliche Schriften für göttliche hielt, Fann man 
am beften aus den Aeußerungen des Drigenes fehn, der doch) 
gewiß der befte Gritifer feines Zeitalter war. So citirk er den 
Pastor des Hermas öfter, ohne Etwas darüber zu fagen; an an- 
dern Stellen citirt er ihn mitten unter biblifchen Buͤchern, z. B. 
neol aoyav lib. IIty: „Damit wir aber auch ex scripturarum 
auctoritate glauben, daß fich dies fo verhält, fo höre —— und 
nun cifirt er eine Stelle aus den Maccabaerbüchern, dann aus 
dem Pastor und dann ganz auf diefelbe Weife aus den Pfalmen. 
An andern Stellen erklärt er fich zweifelhaft darüber, d. h. er 
führt Stellen daraus an mit folchen Ausdrüden: si cui tamen 


\ 


41) Orig. op. I. 79. 


60 Schwanfen über den Begriff göttlicher Schriften. 


scriptura illa recipienda videtur !) oder si cui placeat etiam 
illum legere librum?). Sm Comment. in Matth. XIV, 5) fagt 
er: „Wenn man fo dreift fein darf (ToAumnoevre), auch aus 
einer in der Kirche herumgehenden Schrift, die aber nicht von 
Allen dafür anerkannt wird, eine göttliche zu fein, dies zu befta- 
tigen.” Da ftellt er alfo den status causae dar, aber fo, daß 
das 0v neo naor zeigt, daß die Schrift einen bedeutenden Anz 
hang hatte. Endlih im Gommentar über den Nömerbrief beim 
Gruß an den Hermas fagt er*): Ich glaube, daß dies der Her- 
mas ift, der den Pastor gefchrieben, quae scriptura valde mihi 
utilis videtur et, ut puto, divinitus inspirata ($eonvevorog). 
Hier fieht man, wie das Merkmal der Firchlichen Geltung, der 
auctoritas, und das der göttlichen Eingebung nicht zufammenfällt. 
— Aehnlich ift es mit den Aeußerungen des Drigenes über die- 
jenigen neuteftamentlichen Schriften, von denen wir geſehn haben, 
daß fie auch noch fpäter in eine zweifelhafte Stellung gefest 
wurden, 2. und 3. Soh., Jud. Hebr. Nun hat er den Hermas 
nicht für den gehalten, für welchen ihn das Muratorifche Frags 
ment hält, fondern für einen Bekannten des Paulus, alfo auch 
für einen apoftolifhen Mann; und doch hat er nicht verlangt, 
dag Alle feine Schrift anerkennen. 

Man hat aus einer andern Stelle des Drigenes gefchloffen 
(auh De Wette), daß er auch fihon eine vollfiändige neutefta- 
mentlibe Sammlung als Sammlung gekannt habe. Im Anfang 
de3 Aten Buchs suegi aoywv fagt er: Wir nehmen zum Beweife 
« deffen, was von uns gefagt ift, Zeugniffe hinzu aus den Schrif— 
ten, zu welchen wir das Vertrauen haben, daß fie göttlich find, 
aus der f. g. alten und neuen day). Allein hiermit ift 
e3 wieder fo, wie wir fhon in Beziehung auf den weit beftimmtern 


1) 11. 294. II. 681. 2) III. 872. 

3) III. 644. 4) IV. 683. vgl. Röm. 16, 14. 

8) 1. 156. DMooszugakuußuvouev, ig Tv pawousnv nuiv unodasır Tav 
keyoulvov, yupruvgia 7a ir Tav nEnıoTevnEvov nuiv eivan Feiov Yyow- 


yor, vs Te Aeyonims raAates duagnenS; za T7S nakoruerig Raw. 


Zeugniß der Epistola ad Diognetum. 61 


Ausdrud Zrdıadrnos gefagt haben), daß es nicht auf die Samm— 
Yung der Bücher fich bezieht, fondern auf ihren Character, fofern 
fie jenen beiden Inſtituten angehören. Aus dem weitern Verfolg 
ſieht man, wie Drigened zur DVertheidigung feines chriftlichen 
Glaubens. diefe göttliche Deconomie mit der heidnifhen Weisheit 
vergleicht; aus diefem Zufammenhang geht hervor, daß duagnian 
nicht die Sammlung bezeichnet, fondern ulaıd digen ift die 
Deconomie des alten Bundes Gottes mit den Menfchen durch Abra— 
ham und Mofes, und zum) dındyan die des neuen in Ehrifto 2). 

Daß aber fhon Sammlungen unter den beiden Namen ev- 
ayy£kıov und dnnoozolog zu des Drigened Zeit vorhanden ge- 
wefen find, hat allerdings größere Wahrfeheinlichkeit, wiewohl ic) 
nicht einmal behaupten möchte, daß diefe Sammlungen immer 
auf gleiche Weife beftimmt waren, fondern nur, daß man die 
Bücher claffifieirt und bie einen ald zo sUayyeiıor, die andern 
als 6 ENOOTOAOG bezeichnet babe. Man will die Spuren diefer 
Sammlungen auch noch anderwärts finden; aber man muß fich 
darin vorfehn. In der Epistola ad Diognetum) heißt 
ed: sira poßos vonov aderas nal NOOPYTOV YaQıs Yıvaorerar 
nal svayyeliav nioug idovrar #al AN0o0TOAWv Tragddooıg 
pvAaoosreı. Der Plural edayyeriov undianmoozoiwv deutet aber 
nicht auf eine Sammlung hin, fondern fcheint im Allgemeinen 
evangelifche Schriften und ſolche die von Apofteln herrührten, zu 
bezeichnen. , Wenn überhaupt Schon gefchloffene Sammlungen 
unter beflimmten Ueberfchriften häufig gewefen wären, fo würde 
nicht fo viel Zweifel und Uneinigkeit über einzelne Schriften ge= 


1) Vergl. oben Seite 59. u. 35. 

2) Erf. Entw. Merkwürdig ift, daß ſelbſt Eufebiug Feine zufammen- 

.  hängende Nechenfchaft über feinen Canon bei Drigenes fand. Daß 
Sammlung nicht ſchon gewefen wäre, ift nicht glaublich, vielleicht ‚aber 
nimmt Origenes eben weil fie fo verichievden war auf fie feine bes 
ſtimmte Rückſicht. 

3) Ep. ad Diogn. cap. 11. in Justin, opp. pag. 240. 


62 Zeugniß des Tertulian über eine doppelte Sammlung. 


wefen fein; ja Cyrill wurde nicht die Bücher einzeln feinen Gate 
chumenen aufgeführt, fondern gefagt haben: „Alles, was in die- 
fer Sammlung fteht, Iefet, und was fonft auch in der Kirche vor= 
gelefen wird.” Nun finden fich bei Tertullian ein paar Stel- 
len, welche beftimmtere Ausdrüde enthalten. De pudic. cap. 11. 
beißt e8: „quod ad Evangelium pertinet,“ und cap.12. „de apo- 
stolico instrumento‘“; und de bapt. cap. 15. fagt er: „dies 
geht hervor tam ex Domini Evangelio quam ex Apostoli litte- 
is.“ Wenn diefer Singular Apostolus allein fiande, fo Fünnte 
man fich eher denken, daß er collectivifch gemeint fei; aber Apo- 
stoli litterae Elingt mehr fo, als ob die Briefe eines Mannes 
genannt feien und Tertullian nur Die Driefe des Paulus im 
Sinne gehabt habe. In dem Ausdruck apostolicum instrumen- 
tum aber koͤnnen die Eatholifchen Briefe auch begriffen fein. Die 
Verſchiedenheit in dieſen Ausdruͤcken ſcheint alſo dagegen zu ſein, 
daß eine feſte Sammlung unter einem beſtimmten Titel geweſen 
ſei. Doch das Weſentliche der Sache, daß man ſich alle heiligen 
Schriften ſo claſſificirte, tritt in dieſen Citationen hervor, und iſt 
ſehr natürlich und von ſelbſt zu denken }). 


S. 17. 


Es ift alfo der Canon erft allmählig einer geworden und die 
Sammlung erft dadurch überall dDiefelbe, daß man das, was in 
verfchiedenen Eirchlichen Provinzen vorhanden war, mit einander 
verglich und ſich darüber verftändigte; wofür die Stelle in Hieron. 
ep. ad Dard. ein fehlagender Beweis iſt, wo er fagt: die lateini— 
fche Kirche nehme die Apocalypfe an, aber nicht den Hebräerbrief, 
die griechifche umgekehrt; er felber aber nehme beide an. Durch 


1) Erfl. Entw. Daß zu Drigenes Zeiten und früher es zwei getrennte 
Sammlungen Ebang. und Apoft. gegeben habe, ſcheint aus allen bei 
De Wette angeführten gewöhnlichen Stellen gar nicht, fondern nur. 
die von Tertullian führen beftimmt auf eine foldhe Unterſcheidung der 
Bücher und vielleicht instrumentum auch auf eine äußere Abtheifung. 


Alte Ueberfesungen: Stala und Peſchito. 63 


ihn entftand alfo die Einheit. Seine Ueberfegung war aber 
nicht die erſte; er fand eine alte vor, die er umbildete, indem er 
griechifche Handfchriften zu Rathe zog. ES fragt fih aljo: Wenn 
es vor Firirung des Canon Ueberfegungen gegeben hat, wie ha= 
ben diefe ausgefehn? waren es einzelne oder Sammlungen? und 
wie waren diefe Sammlungen? Wir müffen dabei befonders auf 
zwei Ueberfeßungen Ruͤckſicht nehmen, die lateinifche und die fyri- 
fche. Was die lateinifche betrifft, fo Fann der Umſtand, daß 
es jest noch Handfchriften giebt, welche die vor-hieronymiſche Ueber- 
feßung interlinearifch enthalten, nicht beweifen, daß dieſe Ueber- 
feßungen vor Hieronymus jchon al$ Sammlung vorhanden gewefen. 
Es find alle diefe Bücher fchon lateiniſch überfeßt gewefen; aber 
ob diefe Ueberfegungen als Sammlung beftanden und feit wann? 
darüber wiffen wir Nichts; nur daß im Ganon der römifchen 
Kirche in Altern Zeiten der Brief an die Hebräer nicht war, dar— 
über haben wir jenes beflimmte Zeugniß; aber Dies war Fein 
Geſetz für andere Kirchen, und fo wie es ganz in der Nähe, z.B. 
in Mailand, ganz unabhängige Einrichtungen gab, fo kann aud) 
ein anderer Canon dort beftanden haben. — Mit der ſyriſchen 
Ueberfeßung iſt es anders. Die jüngere Philorenianifche enthält 
unfern jeßigen Canon; die ältere, die Peſchito, aber nur die 
4 Evang., die Acta, die 13 paulinifchen Briefe, 1. Petr., 1. Sob., 
den Brief an die Hebräer und den des Sacobus; fie fchließt alfo 
aus: 2. Petr., 2. u. 3. Joh., Jud. und die Apocalypfe. Hug 
ftelt die Hypotheſe auf, daß diefe fehlenden Bücher erft fpater 
ausgelafjen feien; man fieht daraus, wie fehwer es einem Fatho- 
lifchen Theologen wird, etwas anzunehmen, was der Auctorität 
feiner Kirche zuwider iſt; er will feinen Canon ſchon in der Pe— 
hito finden, feine Annahme ift aber ohne alle Analogie. Offen— 
bar vielmehr ift aus jener Ordnung der Bücher, daß der Brief 
des Sacobus und der an die Hebräer erft fpäter hinzugefügt find, 
weshalb fie am Ende der Sammlung ftehn‘). Diefe Ueberfeßung 


1) A nm Sm erften Entwurf und der darnach gehaltenen erften Borle- _ 


IR 


64 Canon des Marcion. 


repraͤſentirt das letzte Viertel!) des dritten Jahrhunderts, und 
wenn die beiden letzten Briefe ſpaͤter hinzugefuͤgt wurden, ſo muß 
die Sammlung ſchon früher geweſen fein. Die ſpyriſche Kirche 
war von der griechifchen fo durch die Sprache gefondert, daß die 
Bücher leichter zu einer feftftehenden Sammlung gelangen konn— 
ten, während bei den Griechen mehr Bücherwefen, einzelne Buͤ— 
cher mehr verbreitet, und deshalb Feine fefte Sammlung war. 


$. 18. 


Gehn wir noch weiter zurüd, fo fommen wir auf den Ganon 
des eigentlich ohne Grund als Ketzer verrufenen Marcion in 
Nontus. Er war nur ein firenger Gegner der judaifirenden 
Chriften und behauptete, daß im A. T. eine ganz andere Idee 
von Gott herrfche, al3 im neuen. Man hat auch feinen Canon 
für Eeßerifch angefehn. Er hat, wie es fcheint, diefe Sammlung erft 
gemacht, die nur aus 1 Evangelium und 10 paulinifchen Brie— 
fen beftand. Seine Gegner haben vorausgefeßt, daß vorrihm in 
Pontus der vollftändige Canon fehon gewefen fei, und daß er die 
übrigen Bücher geftrichen habe; aber es ift vielmehr wahrſcheinlich, 
daß er diefe nicht gefannt haft. Allerdings kommt Manches in 
den Eatholifchen Briefen vor, was ihm nicht genehm fein Fönnte; 
er würde alfo fie vielleicht nicht aufgenommen haben, wenn er fie 
gehabt hätte, als er feinen Canon machte; aber darüber conftirt 
Nichts, und es ift cher möglich, daß diefe Bücher noch nicht bis 


fung Schleiermachers fehlt diefe aus der Neihenfolge der Bücher 
gezogene Folgerung ‚ganz. Nach Ebedjesu in Assemani bibl. orient. 
T. HL P. A. pag. 8. ift die Reihenfolge diefe: die 4 Evang., Act., 
Ep. Zacob., 1. Petr, 1. Joh., 13 paufin. Briefe und der an. die Hebr. 
als der 14te. Ebenſo in den von Adler in.N. T. verss. syr. simpl,, 
Philos: et. Hier Adenue examinalae pag. 20. 24. befihriebenen Neftorian. 
Codd. — Dagegen in Troſt's Ausgabe der Pefhito folgen die Bü— 
cher fo auf einander; 4 Evv., Act, 13 paul. Br., Hebr, Dr., Jacob., 
1. Petr., 1. Joh. Ti 
1) Erf. Entw. das erfte Biertel. 


Ganon des Marcion, 65 


Pontus gekommen waren. Was fein Evangelium betrifft, fo 
fagen die Kirchenlehrer, die gegen ihn gefchrieben, er habe das 
des Lucas gehabt, aber entfeglich verfälfcht. Aber es heißt nicht, 
daß er. es das des Lucas genannt habe; er hatte nur paulin. 
Briefe, alfo wurden diefe unter dem Namen 0 anöoro)og ange= 
führt, und das Evangelium hieß natürlich zo evayyelıov. So 
kommt man fehr leiht auf, den Gedanken, daß diefe Samm— 
lung des Marcion vielleicht die urfprüngliche gewefen fei, ‚getheilt 
in sdayyskıov und anoorolog, welhe Namen fich auch nicht 
änderten‘, als noch mehr Evangelien und Briefe hinzufamen. 
Dei der fyrifchen Ueberfekung waren alfo fehon die 3 andern 
Evangelien und mehrere Briefe binzugefommen; aber, wie es 
fcheint, zu zwei verfchiedenen Zeiten. Ob aber das Evangelium, 
das Marcion hatte, unfer Lucad geweſen fei, ift immer noch) 
zweifelhaft; vielleicht daß es eine frühere Edition deffelben gewe— 
fen, in der fowohl Theile des Anfangs als des Endes fehlten, 
vielleicht auch, daß Marcion eine befondere Redaction veranftaltet hat, 
jedoch nach andern Grundfägen, ald nach dem dogmatifchen Inhalt. 

Wollte man nun aber fagen, daß die Sammlung de Mar— 
cion die ältefte und urfprünglichfte fei, fo wäre dies zu viel be- 
hauptet; wir haben nur Feine Nachrichten von den andern Ge- 
genden aus der Zeit. Auch fieht man nicht ein, warum gerade 
in Pontus zuerft eine Sammlung paulinifcher Briefe veranftal- 
tet fein follte, allerdings Fonnte Mareion wegen feiner antijudai- 
firenden Richtung einen befondern Beweggrund haben, gerade 
Briefe des Paulus zu fammeln; aber auch in andern Gegenden, 
wo weit mehr Berfehr war, mußten ſich Sammlungen paulinifcher 
Briefe bilden, namentlich follte man meinen, daß wenigſtens die 
zwei Briefe an die Corinther, der an die Roͤmer und die beiden 
an die Theſſalonicher in jeder dieſer großen Staͤdte, die mit einan— 
der verkehrten, muͤſſen vereinigt geweſen ſein. Es muß die Bil: 
dung von Sammlungen als eine fortſchreitende angeſehn werden; 
und allerdings. find die altſyriſche Ueberſetzung und die Samm— 
lung des Marcion dabei zwei feſte Puncte, die als Mittelglieder 

Einl. ins N. T. I 


66 Theologiſches und afeetifches Intereffe bei der Sammlung. 


zwifchen dem Canon, wie er fpäter überall gleichmäßig wurde, und 
dem der frühern Zeiten ftehn. Aus diefen beiden läßt fich fo viel 
deutlich machen, daß unfer gegenwärtiger Canon allmählig zu 
Stande gefommen ift, wie dies auch aus den obigen crififchen 
Zeugniffen fpäterer Schriftfteller hervorgeht. . | 


$. 19. 


Wollen wir nun aus dem ©efagten Folgerungen machen 
auf die Principien, von denen man ausging, fo kann man dabei 
eine Duplicität nicht verfennen. Der erſte Gefichtspunct nemlich 
war, Bücher zu fammeln, welche durch ihre Auckoren eine ſolche 
Dignität befamen, daß fie ald authentifche Zeugniffe der reinen 
Lehre betrachtet werden konnten. So fahen es Drigened und Eu— 
febius an; es ift das theologifche Intereſſe, das der Schule. 
Der zweite Gefichtspunct war, die Sammlungen von Büchern, 
von welchen in den Gemeinden öffentlicher Gebrauch gemacht 
wurde, in eine Uebereinffimmung zu bringen; dies ift daS afce- 
tifche Sntereffe, daS der Gemeinden. Aus diefen beiden gemein— 
fchaftlich ift der Canon, wie wir ihn haben, entftanden. Hieraus 
entwideln fich von felbft zwei entgegengefeste Marimen, die mit 
einander im Kampfe fein müffen. Sm Sntereffe der Gemeinden 
würden wir nicht an eine ſtrenge Gritif denken, fondern da über: 
wog das Intereſſe der Erbaulichkeit, und je reicher die Samm— 
[ung war, defto erfreulicher war dies für die Gemeinden an und. 
für fi, und defto mehr Abwechslung hatte man beim Vorlefen. 
Die Spuren hiervon finden wir in den critifchen Urtheilen de$ 
Eufebius; der Ausdrud dednmoorsvuevos deutet darauf hin. 
Menn wir nun die Facta darnach fondern, und daran denken, 
wie das Buch des Hermas in vielen Gemeinden einen bedeuten: 
den dffentlichen Gebrauch hatte, und wie Drigenes felbft ihm ei= 
nen großen Werth in diefer Beziehung beilegte, ohne daß er für 
die Lehre einen großen Gebrauch davon gemacht hätte, wenn wir 
ferner fehn, wie von Anfang an die Berichte über den Urfprung 
von 2. Petr., Sud., 2. und 3. Soh. faft nur negativ lauten, Daß er 


— 


sandaction zwijchen beiden. 67 


ſich nemlich nicht gut nachweifen läßt: fo folgt wohl, daß dieſe 
Schriften durch das afcetifche Interefje in die Sammlung gefom: 
men waren. Und wenn critifche Schriftfteller eine Sonderung ma— 
chen zwifchen folchen, dieev mowrors, und foldhen, die u devreow 
ſtehn, fo ift Fein Zweifel, daß fie in die erfte Glaffe nur die ge= 
ftellt haben werden, welche dem theologifchen Intereſſe zur Er— 
Fenntniß der wahren Gottfeligkeit dienten, in die zweite Claſſe 
Dagegen auch die, welche die Gemeinden zum afcetifchen Gebrauch 
gefammelt hatten. Der zweite Brief Petri und der des Judas 
haben in ihrem Snhalte Aehnlichkeit mit der Apocalypfe, weil fie 
auch in Andeutungen von kuͤnftigen Schidfalen der Gemeinden 
reden; wogegen allerdingd 2. und 3. Joh. mehr eine erbauliche 
Tendenz haben; das Buch des Hermas vereinigt beides, indem 
das Viſionaͤre darin die Form ift, in die das Erbaulicye gefaßt wird, 

Fragen wir nach der eigentlichen Bedeutung von Iela yoapy 
und Heömvsvoros yoagy, fo, müffen wir diefe aus dem alten Te— 
ſtamente herleiten und aus der Art, wie im ſpaͤtern Judaismus ein 
Unterſchied zwiſchen den urſpruͤnglich canoniſchen und den ſpaͤtern 
helleniſtiſchen Schriften gemacht wurde. Der Begriff der Theo— 
pneuſtie iſt mehr von dem aſcetiſchen, als von dem theologiſchen 
Intereſſe abhaͤngig; was ſich ſpaͤter allerdings anders ſcheint ge⸗ 
ſtaltet zu haben. 

Betrachten wir das Ende der Sache, — die Geſtaltung 
des Canons ſeit dem 5ten Jahrhundert, ſo erſcheint darin eine 
gewiſſe Transaction zwiſchen jenen beiden Intereſſen und Maxi— 
men. Es ſind gewiſſe Buͤcher, welche fuͤr das theologiſche Inter— 
eſſe eine negative Bedeutung hatten, weil fie in der Lehre ver- 
dächtig waren, aus dem öffentlichen Gebrauche ganz verfhwunden, 
wie der Pastor de$ Hermas, die Acta Petri und die Apocalypsis 
Petri, die in vielen Gemeinden fich 2», devrzow befanden. Dage: 
gen ift der Unterschied zwifchen den zowroıs und den 2v devzzon 
aufgehoben, und die Bücher, welche auf apoftolifche Namen zuruͤck— 
geführt wurden ohne wefentlichen Einwand gegen die Lehre, find 
mit den andern, den 2v srowroıs, gleichgeftellt. In diefer Bezie- 

| | br, 


68 Keine Spuren von Sammlımgen vor Marcion. 


hung ift immer merfwürdig, wie fchon oben angeführt ift, die 
in der fyrifchen Sammlung befolgte Ordnung, wo die Stel- 
lung des Brief an die Hebräer und des Sacobus hinter den des 
Petrus und des Sohannes auf eine fpätere Annahme derfelben 
zu deuten fiheint ). In andern Sammlungen dagegen fand der 
Hebräerbrief als 14ter paulinifcher &v szowrors, und fo findet hier 
ſchon eine folche Aufhebung des Unterfchieds Statt. Die Marime, 
welche vom theologifchen Snterefje ausging, würde, wenn fie allein 
geherrfcht hätte, unfer neues Teſtament mehr befchränft haben; die 
Marime des afeetifchen Intereſſes wirde noch mehr aufgenommen 
haben; das neue Teſtament würde dann in zwei verfchiedene 
Theile zerfallen, wie e5 Anfangs war. Go aber ift eine diefen 
Unterfchied aufhebende Transaction eingetreten; doch ift darüber 
keine beftimmte Uebereinfunft getroffen, fondern es ift die Richtung, 
welche der Gegenftand in feiner Beweglichkeit genommen hat. 

Wenn man nun früher in Behandlung diefes Gegenftandes 
rein das theologische Intereffe ald die Marime angefehn hat, durch 
welche der Canon zu Stande gefommen wäre; und in fpaterer 
Zeit, namentlih durdh Semler, die entgegengefekte Anficht 
allein vorwaltete: fo ift dad Eine eben fo einfeitig, wie das An— 
dere; und nur wenn. man fih in das gleichzeitige Wirken beider 
Marimen hineindenkt, fo fieht man, wie aus beiden zufammen 
ſich daS Gegenwärtige gebildet hat. 


§. 2. 

Dieſe Auseinanderfegung fand am zweckmaͤßigſten bier ihre 
Stelle, weil der. Canon des Marcion das Xeltefte ift, was wir 
von einer Sammlung, welche beftanden hat, wiſſen. NRüdwärts 
von feiner Zeit verlieren fich die Spuren beftimmter Sammlungen 
immer mehr, und wir brauchen nicht viel weiter zuruͤckzugehn, um 
nur noch ſolche einzelne Erwaͤhnungen zu finden, die nicht hier, 
ſondern bei der Specialeinleitung in die einzelnen Buͤcher ihre 
Stelle haben muͤſſen. 


1) Siehe oben ©. 63. mit der Anm. 1. 


Dreifache Maxime über Behandlung der Schrift. 69 


Zwiſchen Marcion und der aͤlteſten ſyriſchen Ueberſetzung 
liegen nun noch Tatian und Juſtin. Der Erſtere hat eine 
gewiſſe Analogie mit Marcion, indem er als Corrector der apo— 
ſtoliſchen Schriften erſcheint und ſich Aenderungen in den ſelben 
erlaubte. Beide koͤnnen dabei nur vom theologiſchen Intereſſe 
ausgegangen ſein, und es fragt ſich, wie ſie dann die Aechtheit 
der Lehre conſtruirt haben, die ſie durch die Correctur herſtellen 
wollten, und was ihnen als das Unterſcheidende der chriſtlichen 
gegolten hat, und ob fie dabei doch von einer Auctoritaͤt ausgin— 
gen. Wahrfcheinlih haben fie einige Schriften als Achte zum 
Grunde gelegt, und andere durch Aenderungen mit ihnen auf den— 
felben Punct geftellt. Wollte man fagen, fie hätten bei der Be- 
fiimmung deffen, was urfprüngliche chriftliche Lehre fei, ein ſpe— 
culafives Maaß zum Grunde gelegt: fo möchte fich dies wohl 
kaum rechtfertigen laffen; allerdings aber laͤßt fich fragen, ob 
nicht die mündliche Ueberlieferung ihr Maaß geweſen fei, ob fie 
nicht nach dem, was fie von ihren Lehrern als chriftliche Lehre 
empfangen hatten, die Schriften geändert haben, Dies hätte am 
meiften Analogie mit der Praxis der Eatholifchen Kirche, die der 
Tradition gleihe Auctorität mit der Schrift giebt; bei jenen 
hätte dann die Tradition größeres Anfehn gehabt, als die Schrift. 
Sene andere Maxime ift die fpeculative, die man auch zu verfchie= 
- denen Zeiten hat geltend gemacht, um zu beftimmen, was urfprüng- 
ih und wahrhaft chriftlich fei. Eine dritte Maxime ift die, welche 
in der proteftantifchen Kirche die überwiegend geltende geworden 
ift im Gegenfaß gegen die römifche und die philofophifche, indem 
der Grundſatz aufgeftellt wird, daß die Lehre Chrifti von feinen 
nächften Süngern ganz rein aufgefaßt fei durch den ihnen verheis 
Genen göttlichen Geift, und daß ſich in ihren Schriften diefe reine, 
durch den Geift hervorgerufene und bewahrte Auffaffung finde, 
die zum Maaße für alles Uebrige dienen müffe. Wenn e3 aber 
‘darauf ankommt, fefte Graͤnzen zu ziehn, wie weit die reine Auf: 
fafjung geht, fo fieht man, wie die Unterfcheidung zwifchen proto— 
canonifchen, deuterocanonifchen und apoceryphifchen Schriften ent— 


\ 


70 Tatian's Kenntniß des neuen Teſtaments. 


fteht. Diefe Marime hat bei der Befiimmung des Ganons die 
Dberhand befommen. Auch fpäter hat fich dies immer bewährt. 
Mo wir Elemente des Katholifchen und Proteftantifchen im Streit 
finden, da finden wir auch die beiden Marimen im Streit, das 
Sefthalten an der Tradition und das Zuruͤckgehn auf das Urſpruͤng— 
liche. Darum ift auch die Critik des Canons am meiften in der 
proteftantifchen Kirche bearbeitet worden, wie auch der Gebrauch 
des Canons in diefer Kirche von weit größerer Bedeutung ift, 
als in der Fatholifchen. 

Dem Tatian wird eine Schrift zugefchrieben unter dem 
Namen dra Teoodowv, was ſich offenbar auf die 4 Evangelien 
bezieht, welche in der Kirche geltend geworden find. Aber ob er 
diefe alle gekannt hat, ift deswegen noch gar nicht wahrfcheinlich ; 
denn es ift nicht ausgemacht, ob diefer Namen als Ueberfchrift 
vom Tatian felbft herrührt. Es giebt Spuren, daß er das 
Evangelium des Sohannes Hatte, ob er aber die andern drei 
auch gekannt hat, und in miefern fein Evangelium auf der 
Bafis des Sohannes ruht, und er felbft nur einige Erzählun- 
gen aus andern eingefchaltet hat, darüber kann man gar 
nihts Sicheres unterfcheiden. _ Eufebius fagt von ihm, daß er 
auch paulinifche Abfchnitte corrigirt habe; und das wäre freilich ein 
ftarfes Hinausgehn über das Gewöhnliche; man müßte annehmen, 
daß er den Paulus nicht in die erfte Glaffe geſetzt hätte, weil er Fein 
perfönliher Schüler Chrifti gewefen. Wir fehn, bier fangt Alles 
fhon an, dunkler zu werden. Nach Eufebius fcheint e$, als ob 
diefe Verbeſſerung der paulinifchen Stellen nur in Beziehung auf 
die Sprache gefchehn, denn Tatian war ein griechifch gebildeter 
Mann. Eufebius drücdt fih auch nicht fo aus, ald wenn er das 
dır Teoocowv felbft gefehn hätte, daher ift feine Angabe, daß 
Tatian felbft jene Schrift fo genannt habe, von feinem Gewicht). 


1) Bergl. Euseb. h. e. IV.29. Xoovra, utv ouv ovro, (Severiani) vouw 
4 3 r n r‚ ec _ - % r 

au nOOPNTUGS zul zuayyshioıg, dimg Egumvsvovres Tav lE0Wv Ta vonuaT« 

- - e — 2 — ⸗ 

yougüv' PAuopnuovuvres de Iluvkov zov anoorolov, auFerovow avrov 


x \ F — 2 c 
Tas EnigvoiAus, und: rag nous Tav. unooroiwv #aradsgousvo,. OÖ 


Suftin’d Bekanntſchaft mit neuteftamentlihen Schriften, 71 


Ebenfo problematifh ift Juſtin's Bekanntfchaft mit unfern 
neuteftamentlichen Schriften, namentlih mit einer Sammlung 
derfelben. Nach der Epistola ad Diognetum hätte er außer den 
Evangelien auch andere apofloliihe Schriften gekannt; aber diefer 
Brief ift nit von Ju ſtin. Auch der deuAoyog eos Teviywva 
wird von einigen Gritifern bezweifelt; nur die beiden Apologien 
find ficher von ihm. In ihnen aber führt er immer. nur ano- 
AIVNUOVEU LATE TÜV ArooToAnv an. Was man darunter zu 
verſtehn hat, ift noch nicht entfchieden; am ausführlichften hat 
Eichhorn davon gehandelt, aber die Sache nicht erledigt, was 
auch wohl nicht eher gefchehen Fann, als bi$ man über die Entfie- 
hung der Evangelien im Reinen if. Es fommen zwar manche 
Stellen vor, die große Aehnlichkeit mit Stellen aus unfern Evan- 
gelien haben; aber da Suftin ein litterärifch gebildeter Mann war, 
fo ift es deshalb nicht wahrfcheinlich , daß er unfre 4 Evangelien 
gekannt habe, weil er fie nie unter ihrem Titel aufführt. Es 
fommt zwar bei ihm die Stelle vor: oi amooroloı 2v Teig 
YEvorEVoIS UT AUVTEV KTTOLVMWOVEULAOW, & nakeivue EVayY- 
yehıa!) ete., aber fo oft ich dies gelefen habe, find mir die Worte. 
& na hsiraı evayysiıa immer als eine Gloffe vorgefommen, denn 
wenn Juſtin den furzen Namen gekannt hätte, würde er nicht 
nachher immer mit dem längern, anouvyuovsvuare Tov d1o- 
oToAwv, citirt haben. Selbft wenn die von Suftin angeführten 
Stellen nocy mehr Aehnlichfeit mit Stellen aus unfern Evanges 
lien hätten, und Feine andre, als folche, dabei wären: fo würde ich 
doch noch zweifelhaft fein; denn Suftin Fonnte ja jene Stellen aus 
Relationen haben, die älter waren, als die Nedaction unfrer Evan: 
gelien, und die Webereinftimmung daher Eommen, daß beide, die arzo- 


* —* — — 
uEvroı yE 0018005 avrov aoymyos 6 Tarınvos ovvapsıdy Tıva Kal OVV- 
{| > zo eo ni > k . ‘ \ r ⸗ 

uyaynv ovx od onwg Tav zvayyehiwv ovvFeis, To din TEOOEEWV Tovro 
’ [4 {1 ’ — — ⸗ - \ > ’ 

rooswvounoev. "O xai zupa Tiow zioerı viv ploerau Tov dt anooro- 

— 
kov gaolı ToAumoui Tıvas aVTov uerapououı Ywvas, @g InıdıiopFoVusvov 
avrov nv TS Pouoews ovvrufı, 


4) Justin. ed Bened. apolog. I. cap. 66. pag. 83. 


72 Suftin’s Bekanntſchaft mit nenteftanentlihen Schriften. 


vnuovsvuerte und die Evangelien, au& einer gemeinfchaftlichen 
Duelle gefchöpft. Merkwärdig ift, daß Suftin erwähnt ?), in den 
Berfammlungen würden ro anouvnuovsvuare Tüv anooToAmv 
N Ta 0VYYyoRLETE Tav nEOpYTav- vorgelefen, daß er alfo das 
Geſetz ausfchließt und nur die Propheten vom A. T. anführt. 
Wenn wir nun unter den anouvzuovevnere die Evangelien 
denfen, fo paßt dies nicht recht den Propheten gegenüber, denn 
man erwartete vielmehr ein didactifches, als ein erzählendes Ele— 
ment; da Fünnte es eher eine Sammlung von Neden Chrifti fein, 
welche die Apoſtel gemacht hätten. Diefer Stelle hat freilih Schmidt 
in Gießen?) das Stillſchweigen des Plinius in ſeinem Brief 
an Trajan entgegengeſtellt, der von einem Vorleſen von Schrif— 
ten in den Gemeinden Nichts erwaͤhnt. Aber die Chriſten wurden 
zuerſt immer als eine Secte der Juden angeſehn, deren Religion 
eine erlaubte war; es kam alſo, wenn man gegen die Chriſten 
Etwas vorbringen wollte, vorzuͤglich auf das an, was bei ihnen 
anders war, als bei den Juden; nun waren die Vorleſungen in 
der Synagoge ganz gewoͤhnlich, wenn ſie alſo auch in den chriſt— 
lichen Verſammlungen geſchahen, fo konnte dies nicht auffallen 
und hatte nichts Verfaͤngliches, und fo erklaͤrt ſich, daß Plinius 
Nichts davon erwaͤhnt. Doch folgt nun daraus nicht, daß dieſe 
ENOMVNLOVEHLAETE TOP AnooroAnr in jenen Kirchen in Palaͤ— 
ſtina überall diefelben gewefen find, fondern es wurden wohl fo 
immer die Sammlungen der Reden und Thaten Chrifti genannt, 
welche bald fo, bald fo gemacht wurden. 

Wir koͤnnen uns nun leicht denken, daß von Suftin ab 
früher hinauf jede Spur einer neuteftamentlichen Sammlung ver- 
fhwindet. Der ganze Zeitraum bis zum apoftolifchen Zeitalter 
bietet bier eine vollſtaͤndige Luͤcke, welche nur ausgefuͤllt wird mit 
hier und dort zerſtreuten Notizen uͤber einzelne Schriften. Hier 
bleiben wir alſo in gaͤnzlicher Unkunde uͤber die erſte Geneſis 
einer ſolchen Sammlung. Daß nun zweifache Elemente, wie ſie 
4) Apol. I. cap. 67. 

2) Vergl. Schmidt: Einleit. ins N. T. 9.2. 


Ueber die Art der Verbreitung u. Sammlung der neuteft. Schriften. 75 


fich für die Ausdrüde zo svayyelıov und 0 anoorolog ſchicken, 
allmählig find gefammelt worden, ift an und für fich fehr wahr— 
ſcheinlich; wollen wir dies aber rückwärts verfolgen, fo fehn wir, 
daß die Uebereinftimmung in Hinfiht folder Bücher nur fehr 
allmäplig zu Stande Eommen konnte. 


S. 21. 


Ueber die Art des Bekanntwerden und der Zufammenjtellung 
der heiligen Schriften laſſen fich alfo fehr viele Hypothefen machen. 
Das Meifte hing dabei unftreitig von dem Eifer und der Sorg— 
falt der Gemeinden und namentlich des Clerus in denfelben ab. 
Hierbei muß man nicht fowohl nach jener Marime Auguftin’s 
fih an die Gemeinden halten, welche apoftolifchen Urfprungs find, 
als vielmehr an die, welche in den Metropolitanftäbten waren, 
weil diefe im Mittelpuncte des Verkehrs fich befanden. Wenn 
auch Paulus Feine Briefe an die Gorinther und Römer gefchrieben 
hätte, fo würden diefe Gemeinden fich doch leichter eine Samm— 
lung haben verfchaffen koͤnnen, al3 die Galater und Coloſſer. 
Nun laͤßt fih auch in Beziehung auf die beiden Elemente der 
Sammlung ein verfchiedenes Intereſſe denken, ein überwiegend 
biftorifches und ein überwiegend didackifches, fo daß in einigen 
Gemeinden 0 anoorolos reihhaltiger war, in andern To svay- 
yehrov. So find erft allmählig die einen Gemeinden mit den 
Sammlungen der andern befannt geworden, vermuthlich zuerft 
durch Neifende und dann allmählig durch die Synodalverfammiuns 
gen, welche aber doch immer nur eine Fleinere oder größere Re— 
gion in Uebereinftimmung mit fich felbft bringen Fonnten. — Ueber 
die allmählige Bereicherung de8 arsooroAog haben wir Zeugniffe 
genug, die oben mitgetheilt find. Aber mit dem svayyelıor ift 
e5 anders; da ift ein großer Sprung von dem Ausdrude des 
Suflin : anouvnuovsvuara Tov arsootoAwv, der doch wahrfchein- 
lich ein überwiegend evangelifches Element bedeutet, bi zu dem 
Erfcheinen der 4 Evangelien als abgefchloffene Sammlung, die 
überall diefelbe war. Nur Marcion's Evangelium und Ta— 


—F 


74 Der Canon als Werk der Kirche, nicht eines Einzelnen. 


tian's dea Tsoodowv liegt dazwiſchen. Meine Vermuthung, da 
der Name dee Teoonewv erſt ſpäͤter gemachte Ueberſchrift iſt, 
welhe Zatian nicht gekannt, gründet fich darauf, daß Zatian fo 
bald nach Juſtin lebte, und diefer davon noch Nicht5 weiß. Wie 
aber die 4 Evangelien zufammengefommen find, und wie fich die 
Zeit der Abfaffung zu der der Aufnahme in die Sammlung verhält, 
darüber fehlt e5 an Nachrichten. Möglich, daß einige erft Furz 
vor Entftehung der Sammlung gefchrieben find, andere dagegen 
fehon lange in den Archiven einzelner Gemeinden lagen. Was 
ſich darüber in einzelner Hinficht nachweifen läßt, Fanıı nur bei 
der Einleitung in die einzelnen Bücher vorfommen. 

‚Am Ende diefer Unterfuchung Fönnen wir auf die Frage, 
wie das neue Teftament zu Stande gefommen fei, nicht anders 
antworten, als: Es iſt ein Werk der Kirche; es giebt Feinen 
‚Einzelnen, dem man es mehr ald einem Andern zufchreiben koͤnnte, 
und es ift allmählig durch Ab— und Zuthun entftanden. Genau 
genommen werden wir fagen Fünnen, daß die Sammlung, fo wie 
fie jet ift, durch Hieronymus geworden ift, aber nur indem 
diefer die älteren Auctoritäten der verfchiedenen Gewohnheit in 
der lateiniſchen und griechifchen Kirche mit einander vereinigt hat. 
‚ Aber dies thut der Wahrheit jenes Urtheild, daß es nicht Werk 
eines Einzelnen ift, Feinen Eintrag; denn die Herftellung des Ca— 
nons in der lateinifchen und des in der griechiichen Kirche war 
eben ein folches im allgemeinen bewußtlos entjtandenes Nejultat 
der fortgehenden einzelnen Thätigkeit, die auf die Scheidung und 
Sammlung de3 Ganzen von jenen zwei Gefichtspuncten aus ges 
richtet war. Dabei läßt fich allerdings leicht die Möglichkeit den— 
Een, daß unfere neuteftamentliche Sammlung hätte koͤnnen anders 
ausgefallen fein, als fie ausgefallen if. So ift z. B. wohl nur 
dem Uebergewicht der Sprache zuzufchreiben, daß wir das evay- 
yehıov na9° “Eßociovg nicht in unfrer Sammlüng haben; wenn 
es zeitiger eine griechifche Uebertragung deſſelben gegeben hätte, 
als unfre vier Evangelien befannt wurden, fo würde es wahrſchein— 
lich eben fo gut aufgenommen fein; wiewohl Einige es haben 


Der Canon als Werk der göttlichen Providenz. 75 


dadurch verdächtig machen wollen, daß es nicht die theologifche 
Probe der reinen Lehre halte. Ebenſo hätte es fehr wohl fein 
koͤnnen, daß wir die Acta nicht in unferm Canon hätten, denn 
fie find in manchen Gegenden erft fpät befannt geworden; wäre 
eine Uebereinftimmung des Canons früher zu Stande gefommen, 
fo wären fie nicht hineingefeßt. Daſſelbe gilt von den vier 
Fatholifhen Briefen, die mit der größten Wahrfcheinlichkeit nur 
dem afcetifchen Sntereffe ihre Aufnahme verdanken; denken wir 
uns alfo einen größern Einfluß derer, bei denen das theologiiche 
Intereffe vorwaltete, auf die Sammlung des Canons, fo würden 
diefe Briefe ausgefchloffen fein. Denfen wir uns dagegen einen 
größeren Einfluß des afcetifchen Intereſſes, fo würde vielleicht der 
Pastor in unfern Ganon aufgenommen fein. Wenn ich fage, 
daß die Acta vielleicht nicht aufgenommen waren, wenn der Ga= 
non früher abgefchloffen ware: fo hat dies darin feinen Grund, 
daß zu ihrer Aufnahme vorzüglich ein eritifches und hiftorifches 
Snterefie gehörte, was damals nicht fo hervortrat. 

Wenn wir nun fagen: es ift ein Wer der güftlichen Pro- 
videnz, Daß der Ganon fo geworden, wie er ift: fo muß dies 
Seder zugeben, der nur überhaupt eine religiöfe Betrachtung ber 
Gefchichte zuläßt. Wenn man aber fagt: es ift aud ein Werk 
der göttlichen Inſpiration, daß er fo geworden: fo Fünnen wir 
dies auch zugeben in dem Sinne, daß das höhere Prinzip, welches 
die Schrift den heiligen Geift nennt, in der chriftlichen Kirche 
wirkſam gewefen ift; aber nicht in dem Sinne, daß es ein befon= 
derer Act der göttlichen Snfpiration gewefen fei. Denn der Ca— 
non ift ein Gewordenes, und die Urtheile find lange genug wis 
derfprechend geweſen, ehe er zu Stande gekommen ift. 


| Zweites Gapitel. 
Don dem Verhältniſſe unfers neuteftamentlichen Textes 
zu dem urfprünglichen. 
g. 22. 
Es find, wie fchon oben gefagt ift, zwei Fragen wohl zu 


76 Urſprüngliche Sprache des netten Teftaments. 


unterfcheiden, nemlich die nach dem Berhältniffe unfers Textes zu 
dem urfprünglichen der Sammlung, und dem urfprünglichen 
der Schriftfteller felbft. Unmittelbar haben wir es nur mit 
dem Erften zu thun. — Die Zeit der Sammlung Eönnen wir aber 
nicht anders rechnen, ald von da, wo man weiß, daß die Schrif: 
tem, die unfer N. T. bilden, fchon in der Kirche gebraucht und 
durch Abfchriften vervielfältigt wurden, wenn auch die einen &v 
roororg, die andern 2» dsvreow gewefen find, d. i. in der 
Mitte des 4. Sahrhunderts. 

Die Sprache unfers neuen Leflaments ift griechifceh, und wir 
wiffen, daß der Text der urfprünglichen Sammlung auch grie- 
ch iſch gewefen if. Sowohl das Syriſche, als das Lateiniſche 
wird uͤberall als Ueberſetzung behandelt, und es findet ſich nir— 
gend die geringſte Spur, daß von einer einzelnen neuteſtamentlichen 
Schrift das Syriſche waͤre als Grundſprache angegeben, wenn— 
gleich alnndings vielen Apoſteln und apoſtoliſchen Männern das Syri— 
fche geläufiger war, als das Griechiſche; damit bleibt allerdings die 
Moͤglichkeit, daß einzelne Schriften urſpruͤnglich ſyriſch geweſen; 
aber in der Sammlung iſt die urſpruͤngliche Sprache die grie— 
chiſche, und was wir jetzt in der Peſchito haben, iſt durchaus nur 
Ueberſetzung. Was aber einzelne Schriften betrifft uͤber die Zeit 
der Sammlung hinaus, gehoͤrt nicht mehr in die allgemeine 
Einleitung. 

Wir ſind noch gar nicht im Klaren daruͤber, wie es mit der 
gewoͤhnlichen Sprache in Palaͤſtina in dem ganzen Umfange, wie 
es der Schauplatz des Lebens Chriſti war, geſtanden hat. Ein 
großer Theil von Galiläa, welches ſchon ſeit lange das Galilaͤa 
der Heiden hieß, war mit Fremden befeßt, unter denen auch wohl 
griechifch Nedende waren. Daffelbe war der Fall in der foge- 
nannten Decapolis und auch an andern Orten des eigentlichen 
Peraͤa. So ift es wohl möglich, daß Chriftus und die Apoftel ſich 
des Sriechifchen auch im gemeinen Leben und in den Synagogen 
bedient haben. Sieht man am meiften auf Serufalem und was die: 
ſes Gentrum des Landes zunächft umgab, fo war hier die Landes: 


Das Griechiſche als allgemeine Grundſprache des N. T's. 77 


ſprache wohl die herrſchende; die griechiſch redenden Juden hat— 
ten aber mehrere beſondere Synagogen in Jeruſalem. So kann 
keineswegs geradezu behauptet werden, daß Chriſtus und ſeine 
naͤchſten Schuͤler des Griechiſchen unkundig geweſen. Von Paulus 
wiſſen wir durch ihn ſelbſt, daß er ein Cilicier aus Tarſus warı; 
dort gab es ſchon griechifche rhetorifhe Schulen, und es war 
nicht gut möglich, daß die Suden ſich ganz von den Griechen 
gefondert hätten. Paulus Fam früh nach Serufalem und war 
Schüler des Gamaliel; aber wir wiffen doch nicht, ob er nicht zu 
den griechifchen Synagogen fich gehalten habe. Hier fehen wir alfo 
gleich die Möglichkeit fowohl urfprünglich griechifcher als auch ur- 
fprünglich forifcher mündlicher und fchriftlicher Rede in der erſten 
Geſellſchaft der Chriſten. 

Die ſyriſche Kirche hatte zeitig eine bedeutende firchliche Lit— 
feratur, und es ift wohl ald möglich zu denfen, daß fie auch 
apoftolifhe Schriften in fyrifcher Sprache Fünnte empfangen ha— 
ben. Defjenungeachtet haben wir feine Tradition von urfprüng- 
lich ungriechifchen Originalen unfrer 'neuteftamentlihen Schriften, 
ausgenommen das Evangelium des Matthäus, von welchem die 
Tradition ſagt, daß er es urſpruͤnglich für die paläftinifchen Chri- 
ften in ihrer Sprache gefchrieben habe, und den Brief an die 
Hebräer, von dem man daffelbe aus dem Namen ſchloß. Später 
ift eine allgemeine Behauptung diefer Art in Beziehung auf die 
paulinifchen Briefe aufgeftellt, nemlich daß Paulus fie fyrifch dic- 
tirt, und der Schreiber fie griechifch niedergefchrieben habe. Diefe 
Hypotheſe entbehrt aber aller Zeugniffe aus den Alten; fie müßte 
bloß aus innern Gründen bewährt werden, worüber wir und die 
Unterfuhung für die Betrachtung der einzelnen Bücher vorbe- 
halten koͤnnen. Aber felbft wenn diefe Hypothefe angenommen 
würde, fo waren doch die paulinifchen Briefe ald Briefe, ehe 
fie in_die Sammlung gekommen, urfprünglich griechifch gewefen. 
Es bleibt alfo dabei, daß für die canonifhe Sammlung das 
Griechiſche die allgemeine Grundſprache iſt. 

Fragen wir nun, ob das Griechiſche, wie es vor und liegt, noch 


78 Dialect des N. 28. . 


das ift, welches zuerft in die Sammlung Fam, fo laſſen fi) dar: 
über viele Möglichkeiten denken. Mögen die Schriften urſpruͤng— 
lich griechifch oder aramäifch gewefen fein, fo viel ift Elar, daß 
fie unter ſich fehr verfchieden an Stil und Character waren; einige 
rührten aus der unmittelbaren Umgebung Chriſti ber, andre nicht. 
Daher ließe fich wohl denken, daß man, ald nun die verfchiedenen 
Schriften ein Ganzes fein follten, die Differenzen des Gtils 
durch Aenderungen zu heben und eine größere Gleichmäßigfeit 
hervorzubringen gefucht hätte. Dazu hätte aber gehört, daß die 
Sammlung durch einen Einzelnen und abfichtli gemacht wäre; 
unfre Unterfuhung bat uns aber das Gegentheil gelehrt. So 
Ihwindet denn diefe Vorausſetzung von einer abfichtlichen Veraͤn⸗ 
derung von ſelbſt. Was in dieſer Hinſicht von Tatian berichtet 
wird, daß er die pauliniſchen Briefe geaͤndert habe, iſt doch nicht 
in die Kirche eingedrungen. 

Wenn man ferner den Zhatbeftand des neuteſtamentlichen 
Textes unterfucht, fo ergiebt ſich durchaus Feine Wahrfcheinlichkeit, 
daß die einzelnen Schriften geändert wären. Wir haben freilich 
wenig, womit wir ihrer Sprache wegen fie vergleichen Fünnen, 
außer den apocryphiſchen Schriften des alten Zefiaments, welche 
aus Paläftina herrührten. Sofephus hatte fich auf eine befondere 
Weiſe griechifch gebildet, fo daß von ihm Fein Schluß auf das 
Griechiſch der Sünger Chrifti zu machen ift; noch weiter liegt der 
alerandrinifche Philo ab. Wir müffen uns alfo nit an Analo- 
gien, fondern an die Sache felbit halten und an das ‚ was darin 
das Überwiegend Wahrfcheinliche if. Da ift zweierlei zu beachten. 
Einmal, daß das neue Zeftament in der fogenannten #007 dıd- 
Assros gefchrieben ift, welche daS Zeitalter nach Alerander dem 
Großen haracterifirt, wo manche Anklänge an das Macedonifche, 
ebenfo manche Idiotismen und Archaismen in die gewöhnliche 
griechifche Sprache übergegangen waren. Zweiten muß man 
es als natürlich denken, daß Analogien aus den Landesfprachen, 
felbft wörtliche Ueberfegungen aus dem Hebräifchen oder Syrifchen 
im Sprachgebrauch werden häufig gemwefen fein. Diefe Erſchei— 


Verhältniß der Schriftzeichen zur urfprünglichen Rebe. 79 


nung kehrt überall wieder; fo haben die franzöfifchen Emigranten 
noch immer Galliciömen. Ein ähnlicher Fall fand überall in den 
urfprünglich forifchen und arabifchen Provinzen Statt, die von 
Alexander zuerft gräcifirt wurden. Daffelbe blieb aych bei der 
römifchen Herrichaft, nur daß noch eine Neigung zu Latiniömen 
hinzufam, weil manche Verwaltungs- und Gerichtögegenftände 
Iateinifch behandelt wurden. — Alſo eine nicht durch lifte- 
rarifche Bildung gereinigte, fondern mit Hebrais- 
men und Syriasmen verfebtexor.u7 muß man der Natur 
der Sache nach im N. T. vorausfegen; und diefe findet fih auch. 
Dabei find einige Schriften reicher an Hebraismen, andere freier 
davon; und diefe Differenzen find bedeutend genug, fo daß wir 
nicht an ein gleichmachendes Verfahren denken koͤnnen, fondern 
glauben müffen, daß wir noch die urfprüngliche griechifche Schreib— 
art haben. 


2028; 


In Betreff des Aeußerlichen des Vertes, d.h. des VBerhält: 
niffes der Schriftzeihen zur Auffeffung der Rede 
durch denLeſer müflen wir zunaͤchſt einen feften Standpunct 
nehmen. Fangen wir beidem gedrudten griechifchen Zeflament 
an, fo hat das felbft wieder eine bedeutende Geſchichte; wir müf- 
fen alfo zu den vorhandenen Handfchriften zurüdgehn, aus 
welchen der gedruckte Text entftanden if. Diefe find aber 
felbft fhon fehr mannigfach, einige mit Uncialfchrift, andre mit 
Minusfeln, mit Interpunction, Accenten oder ohne diefelben, 
u.f.w. Dies afficirt nun die Aufgabe des Berftändniffes bedeu- 
tend; Durch verfchiedene Interpunction und Accentuation fann 
der Sinn fehr verändert werden. Da muß e5 uns in voraus 
fehr problematisch erfcheinen, in wie weit unfer N. T. mit der 
urfprünglichen Geftalt der Sammlung übereinjtimmf; denn es ift 
unvermeidlich, daß fich in die Ueberlieferung des Textes Manches 
eingefehlichen hat, was Urtheil und Irrthum derer ift, welche 
die' Ueberlieferung machten. Abfchreiber koͤnnen Fehler gemacht, 


\ 


80 uncialſchrift. 


andre Abſchreiber oder Herausgeber koͤnnen vermittelſt der Leſe— 
zeichen ihre Erklaͤrung in den Text gebracht haben. Soll nun 
das neue Teſtament von Jedem ſelbſt verſtanden werden, ſo muß 
das, was erſt durch das Urtheil Anderer hinzugekommen iſt, bei 
Seite geſetzt werden, und dazu muͤſſen wir den status causae des 
Textes erft Fennen lernen. Nun ift dieſe Aufgabe nicht dem 
N. T. allein angehorig, fondern der ganzen griechifchen Litteratur; 
daher muß auf das vermwiefen werden, was in der Gefchichte der 
claffiichen griechifchen Litteratur gelehrt wird; denn die Fortpflan- 
zung der Handfchriften des neuen Veftaments ift ganz auf diefelbe 
Weiſe gefchehen, wie die der Eodices der claffifchen Auctoren. 
Wir koͤnnen alſo aus der griechiſchen Paläographie als bekannt 
heruͤbernehmen, daß die Un cialbuch ſtaben auf jeden Fall die aͤl— 
teſten Formen geweſen ſind, die ſich noch in Inſchriften auf Stein 
vorfinden aus der Zeit, als das Schreiben auf portative Gegenſtaͤnde 
noch nicht ſo weit verbreitet war. Die Schrift, deren wir uns 
gegenwaͤrtig im Schreiben und im Druck bedienen, iſt allerdings 
aus den Handſchriften genommen, aber nicht ohne mannichfache 
Veraͤnderungen, welche zum Behuf der mechaniſchen Manipula— 
tion gemacht wurden, fo daß es wohl keine Handſchrift giebt, 
deren Schriftzeichen genau mit den Druckzeichen uͤbereinſtimmen. 
Nun iſt eine Thatſache, daß die aͤlteſte Art, mit den Uncialbuch— 
ſtaben zu ſchreiben, eine ganz gleichmaͤßige Nebeneinanderſtellung— 
der Buchſtaben geweſen iſt, ohne die Woͤrter zu trennen und die 
Saͤtze durch beſtimmte Zeichen zu unterſcheiden. Bei der Ver— 
vielfaͤltigung ſolcher Handſchriften mußten nun leicht manche 
Veraͤnderungen entſtehn, auf welche der Critiker Bedacht nehmen 
muß, wenn er verdorbene Stellen vor ſich hat, z. B. wegen der 
Aehnlichkeit wurden Buchſtaben ausgelaſſen oder verdoppelt. 
Man mußte daher bald auf Huͤlfsmittel denken, um die Ver— 
gleichung der Handſchriften zu erleichtern. Sobald die neuteſta— 
mentliche Sammlung entſtanden war, muß man annehmen, 
geſchah die Vervielfaͤltigung in weit groͤßerem Maaße, als die der 
claſſiſchen Auctoren. Schon Chryſoſtomus tadelt es, daß mit 


Stichometrie, 81 


koſtbaren und zierlichen Handſchriften der heiligen Schriften Luxus 
getrieben wurde. Zur Erleichterung der Collation erfand man 
nun wahrfcheinlich in Alexandrien dad Schreiben in oriyoıg, be— 
fiimmten Zeilen, die ohne Nüdficht auf die Form des Pergaments 
immer diefelben blieben. Shre Zahl blieb fich alfo in den Ab— 
fehriften gleich, und man brauchte daher nur die Zeilen zu zählen, 
um fich zu überzeugen, daß der Abfchreiber Feine überfehn hatte. 
Nun haben wir eine beftimmte Nachricht von einem chriftlichen 
Gelehrten Euthalius, der eine befondere Ausgabe erſt der 
paulinifchen, dann auch der Eatholifhen Briefe und der Acta bes 
ſorgte ); er trug Dies Schreiben in oriyorg auf die neuteftament- 
lihen Schriften über und zählte die Stichen, was eben den Aus— 
drud orıyoueroia begründete. Er verfab auch die einzelnen 
Schriften feiner Ausgabe mit Argumenten und gab die Anzahl 
der Stihen am Ende an. Diefe Stichometrie bildet einen be= 
ſtimmten Scheidepunct, und man claflificirt Handfchriften, die Alter 
find, als diefe Methode, und folche, die aus diefer Periode find. 
Weit fpäter entftand erft die Interpunction, und als dieſe auffam, 
war es natürlich, daß man die Stichometrie wieder vernachläfligte, 
denn diefe war gar nicht nach dem Sinn gemacht, fondern bloß 
zur mechanifchen Erleichterung des Schreibens. Daher giebt dies 
eine Ueberſicht über die periodifhen Veränderungen, die in der 
äußern Geftalt der Schrift vorgegangen find, und Dies find Die 
Hauptpunrte, wornach fich das Alter der Handfchriften, in Ueber— 
einftimmung mit den enndenngen der Schriftzeichen ſelbſt, be— 
ſtimmen laͤßt. 

Dazwiſchen liegt jedoch I manches Andre. Weil nemlich 
die größere Bervielfältigung der Handfchriften es auch nöthig 
machte, auf die Erfparung des Raums zu denken, und, wenn 
die Zeilen immer diefelben blieben, wie in der Urfchrift, Raum- 
verfchwendung nicht zu vermeiden war: fo fing man an, zu ſchrei— 
ben, wie es das Format des Pergaments erheifchte, aber die ur— 


1) Um das Fahr 462, vergl, De Wette $. 29. 
Einl. ins N. T. 6 


82 Interpunction, zepadaen,, Leſeabſchnitte, Gapitek 


ſpruͤnglichen Stichen durch ein Zeichen zu trennen. Erſt nach 
dieſer Operation fing die Interpunction an, ſich zu geſtalten, 
d. h. eine Trennung nach dem Sinne und für das Leſen. Man 
hatte anfänglich Fein andres Zeichen als das Punet, nur daß 
dies eine verfchiedene Bedeutung erhielt an verfchiedenen Stellen, 
unten, in der Mitte, und oben. Die zweifache Bedeutung des 
Puncts oben und unten hat: die griechifche Interpunction beibe= 
halten; das mittlere ift durch das Komma erfeßt worden. Nun 
ift allmählig auch das Adfegen der einzelnen Wörter durch Zwi— 
fchenräume eingeführt worden, was auch erft eintreten konnte, 
nachdem das Abſetzen nach den gemeſſenen Zeilen aufgehört Kae 
N 
$. 24. 

Größere Abtheilungen mußten entweder nach der Zahl der 
Stichen oder nach dem Sinne gemacht werden; Erſteres geſchah 
nicht, weil es auch uͤberfluͤſſig war, Letzteres enthaͤlt allemal ſchon 
ein Urtheil, denn es richtet ſich nach der Art, wie der, welcher 
es thut, den Zuſammenhang anſieht. Solche Abtheilungen, welche 
man zepaiaıe nannte, fand Euthalius ſchon vor und nahm bei 
feinen Argumenten darauf Nüdfiht. Euſebius hat fie in. den 
Evangelien geordnet. Späterhin erfchienen die zizkor. 

Ein befonderes Beduͤrfniß von Abtheilungen entftand noch 
aus dem öffentlihen Vorleſen, wozu beftimmte Abſchnitte aus 
dem neuen Zeftamente gebraucht wurden. Diefe Borlefungsab- 
fhnitte fcheinen in der Kegel nicht in dem Text der Exemplare 
felöft bezeichnet zu fein, fondern es gab darüber einen Inder, aus - 
welchem allmählig die lectionaria entftanden, d. h. ſolche Hand: 
ſchriften, welche nur diejenigen Stellen enthielten, die in diefem j 
Inder verzeichnet waren. 

»  Unfere gegenwärtigen Gapitel find nun weder diefe Ab- 
theilungen der Rectionarien noch die zepakaıa des Eufebius und, 
Euthalius, fondern weit neuern Urſprungs; ſie ſind keineswegs 
ſehr zu empfehlen, ſondern unterbrechen haͤufig den Zuſammenhang. 
Es iſt daher viel beſſer, daß man die Capiteleintheilung voͤllig 


| 


£ 


Schädlichkeit der Gapitel: und Versabtheilung. Unterfchriften. 83 


s 
ignorirt. Sch begreife deswegen, nicht recht, daß man noch immer 
fo häufig findet, daß die Commentatoren die Argumente der 
Schriften nach den Gapiteln eintheilen; es läßt fich nachweifen, 
daß dies nur nachtheilig auf die Auffaffung des Ganzen gewirkt hat. 
Bon unfern Berfen, die als Eleinere Abtheilungen an vie 
Stelle der Sticken getreten find, gilt dies noch viel mehr. Man 
kommt leicht in Verſuchung, bei. jedem Verſe einen Abfchnitt im 
Sinne zu machen,‘ der gar nicht flaftfindet; ja diefe Gewöhnung, 
den Sinn in folche Eleine Theile zu zerfchneiden, ift Die Urfache 
von einem großen Uebel im dogmatifchen Gebrauche des neuen 
Teſtaments geworden, denn es iſt dadurch das beguͤnſtigt, daß 
man die Stellen aus dem Zuſammenhange herausgeriſſen und ſie 
als einen Sinn fuͤr ſich bildend angeſehn hat. Daher ſo viele 
unpaſſende Beweisſtellen in den Dogmatiken, namentlich den aͤl— 
fern, was durch die Kaͤtechismen wieder in den populären Ge= 
brauch übergegangen ift. Daher follte jeder Herausgeber des N. 
85. es ſich befonders angelegen fein laffen, diefe fchlechten Ab— 
linie dem Xefer fo viel wie möglich aus dem Auge zu 
rüden. Ganz läßt fich freilich daS Eingeführte nicht befeitigen, 
weil es der allgemeine theologifche Gebrauch —— iſt, nach 
dieſer Abtheilungsart zu citiren. 


5 
Das bisher Geſagte muß uns nun in den Stand ſetzen, die 
Frage zu beantworten, was von der Geſtalt, in der jetzt das N. 
T. uns vorliegt, auf den urſpruͤnglichen Zuſtand zuruͤckgeht, oder 
nicht. Doch ſind noch vorher einige Puncte zu bemerken, welche 
eigentlich außerhalb der Buͤcher liegen, die Unterſchriften und 
Ueberſchriften. N“; 
Mir finden nemlich Unterfchriften unter allen neufefla- 
mentlichen Büchern in folchen Ausgaben, die den Handfchriften 
folgen. Sie beftehen bei den Briefen aus zwei Elementen, von 
denen daS zweite bei den Evangelien wegfällt; das beiden ge- 
meinfchaftliche ift die Abzahlung der Stichen, alfo eine Legitima— 
6* 


Ss . Unterfchriften und Leberfchriften. 


tion für den Abfchreiber. Dies ift gegenwärtig völlig unnüß 
und brauchte. nicht mehr bei ven Ausgaben wiederholt zu werden; 
man koͤnnte es in den entferntern critifchen Apparat werfen. Das 
andere Element, welches fich nur bei den Briefen findet, ift die 
Angabe des Orts, von wo der Brief gefchrieben, und des Ueber- 
bringers. Nun ift aber nicht wahrfcheinlih, dag diefe Angaben 
acht find; urfprünglich find fie gewiß nicht, denn da der Her— 
gang der Sache war, daß die Briefe immer durch Neifende ab- 
gefendet wurden, fo war die Erwähnung diefes Umftandes im 
Briefe nicht nöthig, und der Ueberbringer konnte es felbft ausfagen, 
wo und unter welchen Verhältniffen er den Apoſtel verlaffen habe. 
Es läßt fi) nun auch nachweifen, daß mehrere diefer Unterfihrif- 
ten falfche Angaben enthalten und auf eine uncritifche Weiſe ge— 
macht find. Nimmt man noch dazu, daß fie da, wo fie fich fin- 
den, in Verbindung mit der Angabe der Zahl der Stichen find, 
die erft aus dem Ende des 5. Sahrhunderts find, fo läßt ſich 
ſchwerlich glauben, daß fie viel älter fein follten, als diefe. Cie 
fallen alfo auch von demjenigen weg, was zur Urkunde felbft 
gehört, und koͤnnen nur als ein Urtheil benugt werden. 

Anders ift es mit den Veberfchriften, bei denen man 
aufere und innere unterfcheiden muß, fowohl bei den didacti— 
fchen als den hiftorifchen Büchern, wenngleich bei den Ießtern 
nicht allgemein. Die äußere Ueberfchrift ift z. B. bei Matthäus: 
svayy&lıov aardMarIaiov, die innere: Bios yerkocwe "Iyoov 
Xo:ortov; bei den Briefen-macht jene die Ueberfchrift. des Briefes 
felbft aus, diefe die Anrede des Verfaſſers an den, an welchen 
der Brief gerichtet if. Nun ift offenbar, daß jene äußere Ueber: 
Schrift nicht Fan dem Berfafler zugefchrieben werden. Wo es 
nun eine innere Ueberfchrift giebt, da kann uns die Außere voll- 
fommen gleichgültig fein. Wo es aber folche nicht giebt, oder 
wo fie unvollfiändig ift, wie im Evang. Luc. und Act. zwar der— 
jenige genannt wird, für den das Buch gefchrieben ift, aber der 
Verfaſſer felbft fich nicht nennt, oder wie im SHebräerbriefe gar 
feine innere Weberfchrift ift: da befommt die äußere eine andere 


Aeußere und innere Ueberfchriften. 85 


/ 


Wichtigkeit, weil man ſie fuͤr gleichzeitig oder doch authentiſch 
halten koͤnnte. Bei einem Briefe, nemlich dem an die Epheſer, 
iſt auch die innere Ueberſchrift nicht vollkommen ſicher, und wir 
haben eine ziemlich alte Notiz, nemlich bei Baͤſilius dem Großen, 
daß der Name des Orts in einigen Handfchriften gefehlt habe. 
Da liegt die Sache offenbar fo, Daß in einem folchen Falle die 
äußere Ueberfchrift der innern feinen Zuwachs an Sicherheit ge- 
ben Fann. | 

Es frägt fih nun, ob diefe außern Ueberfchriften älter find, 
al3 die Sammlung, oder auch Alter, ald der Gebrauch der Schrif: 
ten zur Vorleſung in den chriftlichen Gemeinden? Diefe Frage 
ift allerdings nicht Teicht zu beantworten; wir müffen uns die 
verfchiedenen Falle im allgemeinen vorhalten, um uns eine gewiffe 
natürliche Anfiht von der Lage der Sache zu verfchaffen. Unter 
den Briefen konnten die, welche an beftimmte Gemeinden gerichtet 
find, offenbar, fo lange fie in diefen Gemeinden blieben, nicht 
eine ſolche äußere Ueberfchrift befommen, welche gar nicht noth- 
wendig war. Wenn wir uns aber denken, daß eine einzelne Ge— 
meinde Gelegenheit hatte, mehrere ſolche Briefe abfchriftlich zu 
befommen, fo war eine folche Ueberfchrift zweckmaͤßig, um mit 
Leichtigkeit beſtimmen zu koͤnnen, aus welchem Briefe geleſen 
werden ſollte. Wo nun die aͤußere Ueberſchrift nur ein Auszug 
aus der innern war, da iſt weiter Nichts daruͤber zu ſagen, denn 
ihre Sicherheit beruht auf der innern. Denken wir uns aber 
den Fall, wie er bei dem Hebraͤerbrief iſt, ſo finden wir, daß die— 
ſer ſich ganz erſtaunlich von andern apoſtoliſchen Briefen unter— 
ſcheidet, einmal durch den Mangel einer innern Ueberſchrift, dann 
dadurch, daß er Anfangs nicht in beſtimmter Anrede fortſchreitet 
und erſt ſpaͤter dazu uͤbergeht. So muß man fagen : dies iſt gar 
nicht ein Brief von ganz berfelben Art. Daffelbe gilt fehr nahe 
auch vom erften Briefe des Sohannes, der auch Feine innere 
Ueberfchrift hat und doc) für den einzigen Achten gehalten wurde 
zu einer Zeit, wo bedeufende Auctoritäten den zweiten und dritten, 
die eine innere Ueberfchrift haben, für unaͤcht erklärten. — Ließe ſich 


— 


86 Aeußere und innere Ueberſchriften. 


daruͤber, zu welcher Zeit die aͤußern Ueberſchriften entſtanden ſind, 
Etwas ausmitteln, ſo waͤre dies ein bedeutendes Moment. Wenn 
wir wuͤßten, daß ſie eine ſichere Tradition enthielten, ſo koͤnnten 
ſie in manchen Faͤllen entſcheiden; aber dafuͤr hat man ſie nicht 
genommen. — Nehmen wir nun den Fall, wo es mehrere Briefe 
von einem Verfaſſer an dieſelbe Gemeinde giebt, fo mußten dieſe 
unterfchieden "werden. Bei manchen ergab fich dies aus der- 
Beihaffenheit de Inhalts; fo geht aus den Gorintherbriefen 
hervor, welcher von ihnen der Zeit nach der erfte ift, bei den Thef- 
falonicherbriefen dagegen haben Manche gezweifelt, bei den Brie- 
fen des Johannes aber ift Feine Urfache, den einen für früher ges 
Ihrieben zu halten, alö den andern. Da muß man alfo wohl 
an die Zeitfolge bei der Erwerbung vderfelben denfen, und das 
giebt dafür eine Andeutung, daß die äußern Ueberfchriften mehr 
mit der Sammlung des Ganons zufammenhängen, als mit der 
Ordnung der einzelnen Bücher für fich. Hätten fie ſchon als 
einzelne diefe Ueberfchriften gehabt, fo wäre Fein Grund gewe— 
fen, eine folhe Beftiinmung nowrny, deyreon, Toltny zu feßen, 
wie bei den Briefen des Sohannes. Alſo kann man bei den 
legtern ganz beftimmt annehmen, daß die Aufßere Ueberfchrift 
erſt bei der Sammlung des Canons entflanden iſt; und wie 
wir ein fo fchlagendes Beifpiel hier haben, fo ift es fehr na⸗ 
tuͤrlich, daß wir die aͤußere Ueberſchrift uͤberhaupt ganz und gar 
der Sammlung zuſchreiben. — Merkwuͤrdig aber iſt, daß zu der 
Zeit, als die Sammlung noch nicht feſtſtand, man auf die in= 
nern Ueberfchriften auch Feine Rüdficht nahm und alfo vermus 
thete, daß ein Anderer unter dem Namen eines Apofteld diefe 
Briefe gefchrieben; wie man 2. Petr. und 2. und 3. Soh. ebenfo 
bezweifelte, wie die Ayocalypfe des Petrus, bei der dies Doch | 
wahrfcheinlich nur die außere Heberfchrift war. Kamen nun ſolche 
Schriften in folche Gemeinden, wo man noch niemals von ihnen‘ 
gehört hatte, und fand es fih, daß es das Vorherrfchende war, 
daß fie in diefer Gegend nicht gekannt wurden, fo vermuthete 
man daher, die innere Ueberfchrift wie die außere fei etwas Gemachtes. 











Ueber Dieudonymität der Verfaſſer. —8 


Wenn wir uns nun in dieſer Beziehung die doch ſehr wich— 
tige Frage vorlegen, welchen Einfluß das auf die Authenticitaͤt 
der neuteftamentlichen Schriften: hat, daß man von Anfang an 
fo unficher über die, Berfaffer gewefen ift, und ob nun der Canon 
doch derfelbe bleiben foll, ungeachtet die Auctorität fo wenig be= 
gründet ift: fo muß das fehr nach dem Character der Zeit beur— 
theilt werden, in welche die Entftehung jener Schriften fällt. 
Denn wir uns denken, daß Jemand fich bewußt war, alles, 
was er ſchrieb, fei übereinftimmend mit dem, was ein Apoftel 
gelehrt hatte: fo konnte er leicht in folder Zeit es ald eine ganz 
erlaubte Fiction anfehn, daß er feine Schrift unter des Apo— 
ſtels Namen herausgab und die darin befindliche Lehre ihm zu— 
eignete. Jene dazu gehörige Vorausſetzung konnte mehr oder 
weniger gegründet fein; aber dies änderte, wenn es bona fide 
gefchah, die Moralität des Verfaffers nicht. Es ift daher ganz 
falfh, wenn man darin das fieht, was es wohl heute zu Lage 
wäre, nemlich eine Betrügerei). Wir müffen die abfichtliche 
Unterfchiebung von Häretifchem und die Bezeichnung eines Acht 
Shriftlihen mit einem Auctorität gebenden Namen wohl unter- 
fheiden; obwohl bei ung das Letztere eben fo verwerflich fein 
würde, als das Erftere. Man behandelte die einzelnen Namen 
nicht in Beziehung auf ihren individuellen Character, fondern als 
einzelne Puncte einer ganzen gemeinfchaftlihen Sphäre; wenn 
die Sphäre diefelbe war, fo ſchien es gleihgultig, an den einen 
oder den andern Punct anzufnüpfen. 

Verfolgen wir nun die Frage nach dem Urfprung und dem 
Alter der Ueberfihriften der einzelnen Bücher weiter: fo müffen 
wir eingeftehn » daß die Ueberfchriften der widerfprodenen 
Bücher offenbar älter waren, ald das Beftreben, eine übereinftiim- 
mende Sammlung hervorzubringen, und daß diefe fchon vorher 
unter ihren Namen bekannt waren. Dagegen find aber ſolche 
außere Ueberfchriften, die eine Zahl an fich tragen, gewiß erſt bei 


1) Vergl. Schleierm. Sendſchr. über 1. Tim. Seite 233. 


\ 


88 Ueberſchriften der hiſtoriſchen Bücher. 


der Sammlung entftanden, wenn auch nur in Bezug auf eine 
partielle Sammlung. Wo fihon der 1fte Brief Petri war, und 
Hann der Ae hinzufam, da wurde diefer ald der 2te bezeichnet, 
ohne daß dies die geringfte Beziehung auf die Zeit der Abfaffung 
enthalt. Und wir haben Feine Notiz, daß es irgendwo-anders 
gewefen, und der jesige te Brief als der erfte bezeichnet worden 
fei; woraus allerdings hervorgeht, daß der te Brief wahr: 
fcheinlich jüngern Urfprungs ift, weil er fich nicht fo früh hat 
geltend gemacht. 

Gehn wir zu den hiftorifcehen Büchern über, fo haben die 
oassıs Tov KrrootoAov, die überall ihre Stellung inder Samm- 
lung in Beziehung auf die epiftolifchen Schriften haben, eine Zus 
Schrift nach der Weife, wie fie lateinifhe Bücher zu haben pflegen, 
3. B. bei Cicero. Die äußere Ueberfchrift aber kann offenbar 
gar nicht als urfprünglich angefehn werden, weil eben aus der 
Zuſchrift erhellt, daß dies Buch nur eine Fortfeßung der urfprüng= 
lichen dunynoıs, ein zweiter Theil des Evangeliums gewefen ift. 
Und nun werden wir allerdings gleich davon weiter zurüdfchließen 
fonnen und fagen, die außere Ueberfchrift de8 Evangeliums des 
Lucas fei auch Feine urfprüngliche, weil er ſich das Ganze als 
eins gedacht hat. Das Verhaͤltniß der beiden Zufchriften ift ein 
folches, daß wir die Sache nicht fo anfehen fünnen, als wäre 
es dem Berfaffer erft fpater eingefallen, nun auch von den Bes 
gebenheiten nach der Himmelfahrt Chrifti zu fehreiben; fondern die 
erfte Zufchrift ift fhon fo unbefiimmt, daß wir fie auf das Ganze, 
auch auf die Acta mit beziehn Fünnen, und die zweite fieht dar- 
auf zuruͤck als devregog Aoyog. Nun nehmen unfre erfien Zeugs 
nifje einer critifchen Sammlung die 4 Evangelien immer ſchon zus 
fammen, und doch ift Elar, daß die Acta fpäter verbreitet find, als die 
Zetralogie der Evangelien, daß alfo die beiden Theile der Schrift 
des Lucas zeitig von einander getrennt find. Darüber laffen fih 
mancherlei Hypothefen machen, aber es fehlt an allen Angaben, 
um etwas Feftes aufzuftelen. Denken wir uns, es fei eine be= 
ftimmte Vendenz gewefen, mehrere Bücher von der Art der Evans 


\ 


Ueberichriften der Evangelien, 89 


> 


gelien zufammenzuftellen, wie denn Drigenes immer fo davon redet: 
fo erklärt fih, wie der erfte Theil der Schrift des Lucas vom 
zweiten gelöfet wurde, und dieſer letztere deshalb viel weniger in 
Gebrauh Fam, ald das Evangelium; denn wir haben gefehn, 
daß im manchen Kirchen die Acta erſt hinter den Fatholifchen 
Briefen ftanden, fo daß fie gleichfam als eine Einleitung zu den 
paulinifchen Briefen betrachtet wurden. Nirgends ift die Ordnung 
jo, daß beide Schriften des Lucas zufammenftänden. 

Mas die Ueberfchriften der Evangelien betrifft, fo haben 
wir eine Ausfage des Chryfoftomus ?), daß die vier Berfaffer 
ihren Schriften ihre Namen nicht vorgefeßt hätten, woraus folgt, 
daß die Beilegung der Namen zu den Schriften fchon ein zwei- 
fer Act, ein Urtheil der Tradition fei, woraus aber nicht folgt, 
daß diefelben nicht aufhentifch fein Fönnten. Auch in der Zufchrift 
des Lucas fteht der Name des Verfaſſers nit. Nun fragt fich, 
woher der Name evayyzdıov fommt, und was er eigentlich 
bedeutet. Wir müffen und hierbei von unfrer Gewöhnung, euey- 
yehıov als eine Lebensbefchreibung Ehrifti anzufehn, ganz losmachen ; 
denn weder in der Etymologie des Wortes noch in feinem neu- 
teftamentlichen Gebrauche liegt eine Beziehung darauf. Paulus 
redet von „feinem Evangelium”; das ift aber weder ein Buch 
über- das Leben Chrifti noch ein mündlicher Vortrag darüber; 
jondern es ift dies beide: das ihm anvertraute Amt, die Berfühnung 
durch Chriftum und das Neich Gottes zu predigen, und der In— 
halt deſſen, was er predigen follte; beides bald ganz als Eins 
gedacht, bald aber das Eine überwiegend. Das VBerbum zvay- 
yehileodaı ift dann die Thätigkeit in Ddiefem Auftrage. Und fo 
ift denn das Wort im Allgemeinen, etymologifch betrachtet, nichts 
Andres, ald eine Botfchaft in Beziehung auf das Neich Gottes 
in Chrifto. Etwas anders geftaltet fich die Sache ſchon, wenn 
wir auf den Ausdrud svayysdsorys?) fehn, welcher ald Bezeich- 


—— 
1) Chrysost. homil. 1. in ep. ad Rom. 
2) Act. 21, 8. Ephes. 4, 11. 2. Tim. 4, 5. 


— 


90 Bedeutung von evayyelıov. 


nung einer gewiffen Thaͤtigkeit in der chriftlichen Kirche vorkommt, 
unterfchieden von Apofteln, Propheten und Aelteften; und fo wird 
auch ſchon eine beftimmte Perfon durch diefe Bezeichnung ihrer 
Gefchäftsführung von andern gleichnamigen Perfonen unterfchieden. 
Da müffen wir allerdings eine befondere Gefhäftsführung uns 


denken, eine überwiegend erzählende Verkündigung, die ein 


nothwendiges Supplement zu der eigentlich apoftolifchen war 
für die Gegenden, wo es Feine oder wenig Augenzeugen des Le- 
bens Chrifti gab. Die Apoftel berufen fih auch an außerpaläfti- 
nifchen Orten bei ihrer erften Verkündigungsrede auf die Thaten 
Ehrifti ald Allen bekannt; dies Fonnte da gefchehn, wo eine zahle 


‚teihe Sudenfchaft war, die doch immer in Verkehr mit Serufalem 


fand. Wo das aber nicht war, da mußte Etwas an die Stelle 
deffelben treten; und ba ift es fehr natürlich, daß es dafür bes 
fondere Perfonen gab, für die man jenen Namen wählte. So 
laͤßt fih alfo fehr gut denken, daß. der Ausdrud hernach aud) für 
Schriften gebraucht ift, die nur daſſelbe leiften follten, was vorher 
diefe Erzählung geleiftet hatte. Ob nun aber die Berfaffer, wenn 
fie, wie Chryfoftomus fagt, ihre Namen ihren Schriften nicht vorge= 
fest hatten, doch denfelben ſchon ſelbſt die Bezeichnung evapyeiıov 
gegeben haben, iſt eine andere Frage. De Wette vermuthet das Y. 
Aber das Evangelium Matthäi fcheint entfchieden dagegen zu Iprechen; 
denn hätte der Verfaffer das Ganze svayyeirov genannt, fo hätte 
er nicht unmittelbar darauf mit Aıßkos yeveoeng "In00v Xororov 
anfangen können, ohne hinzuzufügen, PR dies nur eine partielle 
Ueberfchrift fein follte. 

Näthfelhaft ift in der Ueberſchrift aller 4 Evangelien ber Ge: 
brauch des zura, das mit dem Namen des Verfaſſers ganz uns 
gewöhnlich iſt. Schmidt erklärt es als den Genitiv umfchrei- 
bend, indem die urfprüngliche Ueberfchrift: euapyeirov Inoov 
Xorotov gewefen fei, und man den zweiten Genitiv nicht hinzu: 
fügen wollen, ſondern umſchrieben habe?). Dagegen ſpricht aber 


1) De Wette's Einl. $. 32. 29) Schmidts Einl. $. 10. 


Br 


Ueber daS zara in den Ueberfchriften. 91 


Marc. 1, 1., wo edapyeirov offenbar noch den Sinn: „Ver— 
kuͤndigung von Chrifto‘‘ hat, wobei es unpaffend gewefen wäre, 
wenn der Berfaffer es unmittelbar vorher in der Ueberfchrift in 
anderm Sinne gebraucht hätte. Wenn damals, als Juſtin fehrieb, 
unfre Evangelien ſchon in ihrem jebigen Zuſtande vorhanden 
gewefen find, fo müffen fie doch diefen Zitel nicht gehabt haben, 
denn fonft hätte er fie nicht immer als anozrmuovsvgara Tov 
anoororwv citirt. Was zara betrifft, fo iſt merfwürdig, daß 
auf diefelbe Weife es svayyelıov xu3” "Eßoalovs heißt, wo es 
nicht Bezeichnung des Verfaſſers fein Fan. Gehn wir von dies 
fem Puncte aus und fagen, daß wir vermuthen müflen, ‚daß 
diefe Ueberfchriften erft entflanden find in Beziehung auf diefe 
Sammlung der 4 Evangelien für fih: fo läßt ſich erflären, wie 
or entitanden ift in feiner eigentlichen Bedeutung: secundum, 
indem svayyeiıov die mehr hiftorifche Art der Verkündigung von 
Chrifto bedeutet. Denken wir uns nemlich einen folchen evay- 
yehıorys, fo trug diefer Nachrichten aus dem Leben Chrifti vor, 
doch nicht um ein hiftorifches Ganzes zu geben, fondern nur in 
einer Neihe von einzelnen Erzählungen, wie e$ die Gelegenheit 
mit fich brachte, fo wie Etwas aus dem lehrenden Vortrage da= 
durch zu erläutern war. Nun aber war doch der gefchichtliche 
Zufammenhang diefer einzelnen Erzählungen in dem Leben Chriſti 
felbft gegeben; alfo mußte auch ſchon in den bloß Hörenden die 
Sendenz fein, diefen Zufammenhang zu fuchen, fie mußten ihn 
vorausfeßen. ine folche gefchichtlihe Zufammenfaflung Fonnte 
nun als die&otalität. der Nachrichten des evayyelıcıys betrachtet . 
werden, und das iſt das svayyerıov. So konnte man fagen: 
E27 svayy£kıov »ota& Mer$aior, d. h. nad) der Weife, wie es 
Matthäus vorgetragen. Diefer Ausdrud ift immer zweideutig, 
er kann bedeuten, dag Matthäus es verfaßt habe, oder, daß es 
nach feiner Erzählung gefchrieben fei; aber: immer wird auf 
feine Auctorität zurückgegangen. Dffenbar feßt aber diefer Aus— 
druck ſchon mehrere ahnliche Schriften voraus und kann allo. 
nur -in Beziehung auf die Sammlung entftanden fein. Hier 


92 Differenzen im Tert felbft. 


‚giebt es noch Gegenftände der Unterfuhung, We der Behandlung 
im Einzelnen müffen vorbehalten bleiben. 


g. 26. 


Alle Interpunction, als grammatifches Urtheil, alle Abthei- 
lung, alle Notizen in Ueber= und Unterfchriften gehören alfo nicht. 
zur urfprüngliden Schrift. Was nun aber den Tert felbft 
betrifft, fo ift eine ausgemachte Thatfache, daß es in demfelben 
Differenzen in großer Menge giebt. Es hat allerdings eine 
Zeit gegeben, wo man dies für unverträglih mit der Art hielt, 
wierman fich die Sufpiration des neuen Teſtaments dachte; aber 
der Augenfchein hat dies widerlegt, und die Theorie muß fich 
darnad) bequemen und zugeben, daß fih das N. T. I demfel- 
ben Gefeß vervielfältigte, wie andere Bücher. 

Wenn wir die Frage aufftelen — niht um Prineipien der 
Critik daraus abzuleiten, fondern um das Thatfächliche aufs 
Reine zu bringen —, welches das ficherfie Mittel. wäre, diefe Dif- 
ferenzen wieder zu reduciren: fo wäre es das, wenn man die 
Urfchriften hätte und damit jede Copie vergleichen koͤnnte. 
Dies aber liegt außer der Möglichkeit, denn nicht nur giebt es 
von feinem neuteftamentlichen Buche die Urfchrift, fondern e$ 
gehn auch nicht einmal unfre Nachrichten bis auf die Urfehriften 
zurüd, von deren Schickſalen es gar Feine Erzählungen giebt. Die 
Nothwendigkeit ift aber natürlich vorhanden , dag die Abſchriften 
definitiv won den Urfchriften herrühren, daß alfo die neuteſtament— 
lichen Bücher müffen vervielfältigt fein, ehe die letztern verloren 
gegangen find. Aber es wäre ganz falfch, wenn man denken 
wollte, daß von Anfang an ein critifches Beftreben über die Ver: 
. vielfältigung gewacht habe. Denn das würde fih in jener erften 
Zeit darin haben ausfprechen müfjen, daß auch die Abjchriften 
aus der zweiten und dritten Hand mit den Urfchriften verglichen 
worden wären, und davon wirde gewiß irgend eine Notiz übrig 
geblieben fein. Auch die Werthſchaͤtzung der neuteflamentli- 
hen Schriften ift in der Zeit vor der Sammlung erft allmahlig 


Frühzeitige Verſchiedenheiten der Lesarten, 93 


bis auf ihre größte Höhe gefommen. Wenn wir die apoftolifchen 
Briefe als die früheften Producte anfehn, was fie Doch wahrfchein- 
lich find: fo waren diefe an einen beflimmten Kreis gerichtet, 
und es läßt fih gar nicht denken, daß irgend ein Apoftel den 
Gedanken gehabt hätte, daß feine an eine Gemeinde oder eine 
Perſon gerichtete Schrift für die ganze Chriftenheit follte beftimmt 
fein. Bon einer folchen prophetifchen innern Anfchauung findet. 
fi Feine Spur. Die Gemeinden und Perfonen, an welche folche 
Briefe gerichtet waren, fahen diefe natürlich ganz einfach als die 
ihrigen an. Nun war es natürlih, daß ein gewifjer Werth 
darauf gefeßt wurde, eine ſolche Schrift zu haben, weil dies ein 
näheres Berhältnig zu einem apoftotifhen Manne vorausfekte, 
deffen Andenken wohl durch Vorleſen von Zeit zu Zeit lebendig 
erhalten wurde. Dabei find wohl zum Privatgebraucd die erften 
Abfchriften gemacht, aber ohne dag man daran dachte, andere 
als die gewöhnlichen Negeln dabei anzuwenden; und fo. entitan 
den gewiß fchon fehr frühzeitig, ehe Sammlungen gemacht wur 
den, Differenzen im Text. 

Einige merkwürdige Beifpiele verfchiedener Lesarten finden 
fih bei Clemens Alerandrinus Go führt er Mat. 5, 10. 
fo an: uaxdoroı oi dedımyuevor Evenev Öinaıoovvng, OTı avrol 
viol Hs0oV #Am9Yo0ovzaı und giebt al$ Abweihung an: axd- 
oo. ol dedımyuevor Uno Tg dinatoovvng, OTL @avrol E00vrat 
1£,8101, mal yanagıoı oi Öedınyyıevor Evena Zyod, orı EFovos 
Tonov 0nov oV dinydnoovzeı!), Diefe Aenderungen und Zus 
fäße bezeichnet Clemens als Abweichungen von feiner eignen Hand— 
ſchrift; aber er felbft hat in feinen Gitaten folche Verfchiedenheiten 
von unferm Text; Mat.6, 33. Enteize nowrov Tyv Paoıkeiay etc. 
giebt er ganz anders: airsiode Tu ueya)e nal To zUnoa Vuiv 
1000T5450E701?). Das ift noch dazu eine fo ‚befannte Stelle, 
die gewiß viel gebraucht worden ‚if. Ebenſo giebt es Eleinere 


1) Clem. Alex. strom, lib. 1V. pag. 490. ed. Sylburg. 
2) Strom, lib. I. pag. 346; vergl. dagegen Paedag. lib. Il. pag. 198. 


j 


94 Abweichungen, deren Clemens und Drigenes erwähnen. 


Abweichungen, die doch auch nicht unbedeutend find, fobald man 
fie von Seiten der Abficht befrachtet, die Sprache zu verbeſſern 
oder zu erklaͤren; fo Mat. 10, 42. ſtatt orygeov yuygov bei 
Glemend: Moryjerov ıyvy900 Vdarog !). } 

Ueber folche abfichtlihe Aenderungen zur Verbeſſerung des 
Textes vergleihe De Wette $. 36. — Auch Drigenes Flagt 
fchon über bedeutende Berfehiedenheiten in den Handfchriften und 
ſchreibt fie theild der ‚ed via derAbfchreiber zu, theils der roAum 


derſelben in Beziehung auf die Sprache, ja auch dem Privatmeinungs- 


Intereſſe. Er fagt: Sept ift offenbar. die Verfchiedenheit der Hand« 
fchriften fchon fehr groß, fei es nun aus Nachläfligkeit der Ab— 
fchreiber, fei es aus der Kühnheit Einiger in Schlechter Berichtigung 
des Geſchriebenen, oder ſei es daher, daß Einige das, was ihnen 
beſſer gefiel, in der dusodwoes hinzugeſetzt oder hinweggenommen 
haben?). Der Ausdrud dıoodwors Tann Zweierlei bedeuten: die 
dem Abfchreiben vorhergehende Zurichtung einer Handfihrift zum 
Abfchreiben und die Vergleichung des Abgefchriebenen mit der Urs 
fchrift nebft den dabei vorgenommenen Berichtigungen. Nun 
denft man gewöhnlich nur an das Erftere, aber ich weiß nicht, 
ob mit Recht; nach‘ der Stelle des Drigenes fcheint es vielmehr 
das Zweite zu bedeuten, es find superscriptiones, die der gemacht 
bat, welcher die Abjchrift mit der Handichrift, wovon fie genom— 
men war, verglich, wobei Gonjecturen faftfinden Eonnten. 

Die älteften Differenzen, von denen wir befiimmte Notizen 
haben, find die, welche Zertullian und Epiphanius aus dem 
Marciond) anführen. Da findet fih nun, daß beide in ihrem 


. f = x ‚ - - J x - nd r AZ 
Inresre ınv Baoıkeiuv Toü HzoV, zul Ta TS TOOp7S ngoHTEdTOETM vntv 
ai - x ; — — 
und Strom, IV. p. 488. Syrere ag@rov mv Puoıkiav TOv ovgavov 
x \ G — J * — J J J x ’ 
za Tv Jınaiovvyy' Talra va yeyaha‘ To dt wızou za megi Tov Pior, 
TUUTa TOOOTEINOETUL vum. 
. . c \ J Na.) 

1) Clem. Al. Quis dives salv. 31. o de uugyrıjv morioag &5 ovona uagn- 
r - r wur ki 
Tod TorjpL0v wvxooV vVdarog, ToVv wodov ovr anoldosı. 


2) Origen. comment. in Matth. XV. T. III. p. 671. Vgl. De Wette $. 35. 
3) Bgl. De Wette $. 34. 


\ 
Abweichende Lesarten des Mareion. \ 95 


Urtheile über diefe Differenzen gar nicht einig find. Der Eine 
fagt, den Brief-an Philemon habe Marcion ganz unverändert 
gelafien, der Andre, er habe ihn ganz verderbt; Zertullian bezeich- 
net in den Briefen an die Zeffalonicher nur kleine Berfälfchungen, 
Epiphanius nennt fie ganz verderbt; ebenfo verhält es ſich mit 
dem Philipperbrief. Drigened fagt, daß Marcion den Schluß 
des Nömerbriefs ganz abgefchnitten habe; darin ift aber Feine 


dogmatiſche Tendenz zu bemerken, es muß alfo an den Hand: 


fehriften gelegen haben, die Marcion hatte. Ob nun Zertullian 
andere Handfchriften des Marcion gefehn hat, al5 Epiphanius, 
oder ob vielleicht die Handfchriften der Marcionitifchen Sammlung 
überhaupt variirt haben, ift nicht auszumahen, Go viel ift ge= 
wiß, daß fehr viele Verfchiedenheiten darin vorkommen, die durch: 
aus nicht abfichtlich fein: Eönnen.. Auf folche alfo, in denen Feine 
antijudaifirende, Abficht erkennbar, müßte man einen hohen Werth 
legen, weil der Tert des Marcion von einem fo hohen Alter ift. 

Dei den Yenderungen, wovon Drigenes oben berichtet, iſt 
fhon ein Einfluß der Critik fichtbar, fo wie aus dem Clemens 
ein gloffirendes Verfahren, analoge Zufäge zu machen, erhellt. 


So koͤnnen von diefen Zufäßen manche aus den Anwendungen 


enfftanden fein, die wielleicht. in öffentlichen Vorträgen gemacht 
wurden, und die nachher Semand in den Zert hineingetragen hat; 
woraus freilich hervorginge, daß eine fo gar große Ehrfurcht vor 
den apoftolifchen Schriften nicht kann gewefen fein. Wir haben 
alfo aus diefer Zeit Veränderungen des Textes von dreierlei Art: 
Serfhümer aus Mangel an Sorgfalt, Irrthuͤmer, die auf Veran— 
laffung theils folcher Fehler theild einer urfprünglichen Nachläflig- 
keit Durch Anwendung der Eritif entftanden fein Eönnen (droodwors), 
und Srethümer durch Vermiſchung von Anderem mit dem Urfprüng- 
lichen. — Wenn man nun bier zu fehr den Unterfchied zwijchen 
dem Abfichtlichen und Zufälligen urgirt, fo kann leicht etwas 
Uebertriebenes hineinfommen. Es liegt noch Etwas zwifchen 
beidem, nemlich die Aenderung mit Wiffen und Willen, aber ohne 
eine beftimmte Abficht. Nur im Intereſſe von häretifchen Par- 


96 Gegenwärtiger Beſtand unſers handichriftlichen Textes. 


theien mag folche Abficht den Aenderungen zum Grunde gelegen 
haben. Sonft hat Seder feine Veraͤnderungen wohl nur für 
feinen Privatgebrauch gemacht, denn außerdem war ja Feine Ver- 
anlaffung, Etwas zu verändern. Bei größern in ſich abgefhlof- 
fenen Partheien gab es aber allerdings eine foiche, nemlich, um den 
in ‚der Eatholifchen Kirche gewöhnlichen Text außer Gebrauch zu 
feßen. — Eine fpätere Stelle bei Hieronymus deutet ebenfalls 
auf Beränderungen in Handfhriften hin, die mit Wifjen und 
Willen gemacht waren; er fagt nemlich: „Sch übergehe die Hand: 
fohriften, die man unter dem Namen des Lucian und Heſy— 
chius Eennt, denen aber nur die verkehrte Streitfucht weniger 
Menfchen einen Werth beilegt .“ Hier ift allerdings eine Spur 
von Beranderungen im Text, die eine beftimmte Claſſe von Hand- 
Schriften conftituirten, und auf- die ein gewiſſer Werth gelegt 
wurde. Aber man kann, was Hieronymus ſagt, nur von Privat— 
leuten (pauci homines) verſtehn, und keineswegs waren dieſe 
Veraͤnderungen in gewiſſen Provinzen einheimiſch, noch hatten fie 
großen Einfluß. 


8. 97. 


Wenn wir nun dies fo in ſeinem natürlichen Verlaufe be— 
frachten, fo kommen wir auf den gegenwärtigen Beftand unfers 
bandichriftlichen Zertes. u 

Es giebt noch eine fehr große Menge von Abfchriften der 
neuteftamentlichen Bücher aus verfchiedenen Zeiten, die fich von 
einander bedeutend unterfcheiden. Die in den critifchen Appara= 
ten mit Buchftaben bezeichneten Handfchriften find mit Uncialen 
gefchrieben, die mit Zahlen bezeichneten mit Eurfiofchrift feit dem 
10. Sahrhunder. Der Differenz des Alters wegen muß man 
dies als zwei verfchiedene Claſſen anfebn. Es iſt aber eine Moͤg— 
lichkeit, daß doch der Werth einer Curſivhandſchrift groͤßer iſt, 
als der einer Uncialhandfchrift, denn die erſtere kann von einer 


1) Hieron, praef. in IV. Evang. ad Damas.; vergl, De Wette $. 39. 


— 


Glaffification der Codices. .97 


Uncialhandfchrift abgefchrieben fein, die weit beffer und älter, war 
als die, wovon die lebtere copirt ward. Diefer Umftand ift es 
eigentlich, der zu einer fehr Fünftlichen Behandlung dieſes Gegen- 
ftandes Beranlaffung gegeben hat. 

Nach dem, was fihon über ältere Verfchiedenheiten im Text | 
gefagt ift, muß es natürlich erfcheinen, daß die Differenzen feit 
der Zeit, wo die Bücher als Sammlung in den Kirchen gebraucht 
und vervielfältigt wurden , auch auf außerordentlihe Weife fich 
vermehrt haben. Die drisodworg zwar hatte den Zweck, die durch 
das Abfchreiben entftandenen Fehler zu vermindern; denken wir 
aber, daß zur Vervielfältigung in größerm Maaßftabe gleichzeitig 
mehrere Abfchriften verfertigt wurden, indem Einer vorlas, Meh— 
rere fchrieben, fo .ward das berichtigende Berfahren fehmieriger, 
und die Fehler häuften fih. Nimmt man dazu, daß auch Hand- 
fhriften zum Abfchreiben gebraucht wurden, welche in fleißigem 
Privatgebrauch gewefen, und in denen Manches am Rande ge- 
fchrieben war, theils als Berichtigung einer offenbar verfälfchten 
Stelle theild als erflärender Zufaß: fo konnte es leicht Eommen, 
daß ein minder Fundiger Abfchreiber alles dies in den Text hin- 
einnahm, fo daß dieſe gloffirenden Veränderungen eine neue Quelle 
von Differenzen waren. 

Es giebt verfchiedene Mittel, die vorhandenen Handfchrif- 
ten nad der fehr verfchiedenen Zeit, worin jede gefchrieben 
ift, zu claflificiren. . Alte Handfchriften zu leſen, ift bekanntlich 
eine eigenthümliche Fertigkeit, wozu ein gewiffer Grad von 
Uebung gehört; ebenfo ift es eine eigne Kunft, ihr Zeitalter 
zu befiimmen. Dies ift, was man mit dem Ausdrud Pala- 
ographie zu bezeichnen pflegt. Die Kennzeichen liegen theils 
in den Schriftzeichen, theils in der Art und Weife, den Zert 
zu behandeln, theild in dem Material, worauf er gefchrieben 
ft. Iſt z. B. auf Leinenpapier gefchrieben, fo Fann die Hand- 
Schrift nicht älter fein, al$ die Erfindung diefes Papiers; die auf 
Baummollenpapier find fchon älter, am älteften die auf Pergament, 
doch wurde dies auch noch gebraucht, als man ſchon Papier Fannte. 


Einl. ins N. T. 7 


98 ai Codices. 


Das beſte Kennzeichen bleiben immer die Schriftzeichen, und dar— 
nach hat man ſie abgetheilt. Wir haben noch Handſchriften, die 
aͤlter ſind, als die Stichometrie, ohne Wortabtheilung, Accente 
und Interpunction, andere mit Zeichen der Stichometrie, andere, 
wo die Interpunction an die Stelle der Stichometrie getreten iſt. 

Zu der 1ften Claſſe gehoͤren: 

1. Der Codex  Alexandrinus (A,), in England befindlich, 
dad ganze U. und N. T. enthaltend mit einigen Lüden, von 
MWoide am Ende des vorigen Sahrhunderts als Facſimile abgedruckt. 

2. Der Codex Vaticanus (B.), das A. m. N T., letzteres 
mit Lüden. — Beide Codices find ohne Accente und Interpunc—⸗ 
tion, die ſich nur bei fehwierigen Stellen, offenbar aus fpäterer 
Zeit, findet. Der Cod. A. hat auch die Altern Hauptftüde der 
Evangelien, welde unter dem Namen zirior befannt ſind; der 
Cod. B. andre Abfchnitte,-verfchieden von denen des Eufebius 
und‘ Euthalius. 

3. Der Codex Ephraem (C.), ein cod. rescriptus, fehr un: 
vollftändig im A. T., aud im N. T. mit Lüden. —J 

Dieſe 3. Codices find die aͤlteſten; Einige ſetzen fie ins Ste, 
Andre ins A. Sahrhundert. Sn Montfaucon’s palüographifchem 
Werke find Schriftproben aus ihnen. 

4. Später bekannt geworden ift der Codex Z., der fih in 
‚Dublin befindet und einen Theil des Evang. Matthäi enthält; 
er ift von Barret im Facfimile herausgegeben. 

Die 2te Elaffe bilden die Handfchriften aus den Zeiten 
der Stichometrie. 

1. Der Codex Cantabrigensis (D.), nur die Evangelien und 
die Apoftelgefhichte, mit einer aͤltern Yateinifchen Ueberfeßung zwis 
fchen ven Zeilen. Er ift vielfach unterfucht, neuerdings von Dav. 
Schulz in einem Programm, der ihn in weit fpätere Zeit fest, 
als andere Gritifer, die ihn fehr hoch ftellen. Er iſt dadurch merk: 
würdig,:daß er mehrere von den alten Abweichungen von unferm 
Text enthält, die fich bei Clemens Aler. finden. Facſimile von 
Kipling in Cambridge. | 


Codices. 99 


2. Codex Claromontanus, auch mit D. bezeichnet, weil er 
eine Art Ergaͤnzung des Cantabrigiensis enthaͤlt, nemlich nur die 
pauliniſchen Briefe, ſtichometriſch mit Accenten und lateiniſcher 
Ueberſetzung. 

Von derſelben Art, nemlich latiniſirend, ſind die uͤbrigen 
ſtichometriſchen Handſchriften; dahin gehoͤren zwei, welche mit E. 
bezeichnet ſind, nemlich 

3. Codex Laudianus, die Apoſtelgeſchichte enthaltend, mit 
den Euthaliſchen Abſchnitten, ohne Accente, und 

4. Codex Sangermanensis mit den paulin. Briefen, jetzt all— 
gemein für eine Abfchrift des Claromontanus gehalten. ” 

5. Codex Augiensis (F.), die paulin. Briefe enthaltend, eben— 
falls mit lateinifcher Ueberfesung, die Wörter fehon mit Puncten 
abtheilend, gewöhnlich in das 9. Sahrh. geſetzt. 

6. Codex Boernerianus (G.), mit lateinifcher Snterlinearvers 
fion. Die Stihen find hier ſchon zufammengefchrieben, jedocd) 
mit größern Buchftaben bezeichnet. Ohne Accente, aber. interpunz= 
girt. Enthält die paulin. Briefe, ‘ 

7. Codex Coislinianus (H.), nur Fragmente der paulin. Briefe. 

Die 3te Elaffe umfaßt Handfchriften wieder ohne Spuren 
der Stichometrie, die nur von geringerm Werthe find, und von 
denen Feine das ganze N. T. enthält. Hierhin gehören: Codex 
Basiliensis, ebenfall$ mit E. bezeichnet, nur die vier Evangelien, 
aber fehr Iüdenhaft, enthaltend; Codex V., im Evang. Sohannis 
abgebrochen und von einer jüngern Hand fortgeſetzt; Codex Cy- 
prius, fonft Colbertinus (K.), mit den Evangelien; Codex M. 
ebenfalls mit den Evangelien; eine von den Handfchriften Mate 
thaͤi's, die er mit g. bezeichnet, die paul. und Fath. Briefe ent= 
haltend, mit Scholien, die in Eurfivichrift gefchrieben find, fo daß 
man fieht, daß die Uncialen auch noch neben der Eurfivfchrift ge= 
braucht wurden. Man Eünnte daraus fchließen, daß felbft Hand- 
ſchriften mit Uncialen aus einer Zeit waren, wo fchon lange die Curſiv— 
fchrift bekannt war; aber dies ift doch nicht wahrfcheinlich, ;fondern 
jener Codex muß wohl aus einer Zeit fein, wo noch beide Schrift: 

7+ 


100 Codices. 


arten gewoͤhnlich waren, denn die muͤhſame Uncialſchrift wird 
man gewiß nicht angewendet haben, wo ſie nicht gebraͤuchlich war. 
Er ſteht alſo an der Graͤnze beider Perioden, nemlich im 10. Jahrh. 

In Berlin befindet ſich der Codex Ravianus, von dem Pap— 
pelbaum nachgewieſen hat, daß er unaͤcht und aus einem ges 
druckten Zerte nachgemacht iſt. 

Nun folgt eine große Menge von Handfchriften auf gewöhn: 
lichem Papier in Eurrentfchrift, in welchen ſich die Mannigfaltig- 
feit des Textes fehr gefteigert hat. 

Daß Solche offenbar jüngere Handſchiften doch getreue Co— 
pien von ſehr alten ſein koͤnnen, iſt ein Motiv, die Unterſuchung 
uͤber das Alter der Lesarten auch in dieſes Gebiet hineinzuziehn, 
um zu beurtheilen, wornach die Handſchriften unter ſich zu claſſifi— 
ciren wären. Dies gehört aber in die Difeiplin der neutefta- 
mentlibhen Critik, und kann daher hier nicht behandelt wer- 
den. Nur daS gehört hierher, was die Vorausſetzungen jener 
Critik enthält und den Thatbeftand angiebt, welcher den darauf 
bezüglichen Hypothefen zum Grunde liegt. Ehe wir Darauf ein- 
gehn, müfjen wir zuerft eine fo zu fagen natürlide Geſchichte 
des Lertes conftruiren. 


Ä — 5 | 

Die urfprüngliche Vervielfältigung der einzelnen neutefta: 
mentlichen Bücher müffen wir uns als Privatfache denken von 
Leuten, die auf Reifen neuteftamentliche Schriften fanden, die 
fie in ihrer Heimath nicht Fannten und deshalb abfchreiben ließen. 
Denn ein urfprünglich abfichtliches Verfahren kann man fich des- 
halb nicht denken, weil es damals noch feinen allgemeinen kirchlichen 
Zufammenhang gab. Wenn eine Gemeinde einen apoftolifchen Brief 
hatte, fo wurde er freu bewahrt und durch Vorleſen von Zeit 
zu Zeit in die Tradition übertragen. Befondre Abfchriften wur- 
den davon nicht gemacht; höchftens kann man fich denken, daß, 
wenn eine Gemeinde in einer größern Stadt viele Eleinere Neben— 
gemeinden unter fich hatte, fich dann die Nebengemeinden Abſchrif— 


Natürliche Gefhichte des Textes. 101 


ten diefer Briefe verfchafft haben. Dabei muß nun die Sache 
ihren natürlichen Gang gegangen, und durch Verſehen Verſchie— 
denheit im Texte entitanden fein. 

Wenn nun an einzelne Gemeinden und einzelne Mitglieder 
Schriften von anderwärts gefommen waren, fo entſtand auf diefe 
Meife ein erweitertes Vorleſen, und von daher Datirt ſich das 
bäufigere Abfchreiben. Es ergiebt fich von felbft, wie die Firchlichen 
Metropolen dabei Centralpuncte bildeten, in denen. fich neuteſta— 
mentliche Schriften anfammelten, und von denen die Vervielfaͤl— 
tigung ausging; und fo entftanden die Notizen von der Differenz 
der Sammlungen in den Gemeinden, weßwegen einzelne Bücher 
angenommen oder nicht angenommen wurden. Wenn wir nun 
denfen, daß von diefen Wuncten aus in dem Maaße, als die 
Sammlung fic) vergrößerte. und allgemeiner wurde, die Berviel: 
fältigung nad) einem größeren Maafftabe gefchah, fo ift Har, dag 
von jedem diefer Puncte aus ein gewiffer gleichfürmiger Text fich 
verbreitete. Dffenbar find in manchen Provinzen durch die locale 
Aussprache und Berfchiedenheit der Schriftzeichen Fehler entflan- 
den, die es im andern nicht gab; fo läßt fich denken, daß conftante 
Differenzen fi einfanden. Nun fragt fih, ob man Urfache hat, 
anzunehmen, daß eine critifche Vergleichung verfchiedener Zerte 
aus andern Provinzen beim Abfchreiben zum Grunde gelegen 
hat. Wir haben an Clemens Aler. und Origenes gefehn, daß 
allerdings die Critik fehr zeitig erwachte; aber es läßt fih gar 
nicht fagen, daß diefe critifchen Bemühungen das Gefchäft des 
Abſchreibens unter ihre Direction nahmen, fondern es war nur 
gelehrte Beurtheilung einzelner Stellen, ohne daß eine Behand: 
lung des ganzen Textes von crififcher Anficht aus ftattgefunden 
hätte. Beim Abfchreiben lag gewiß nur die Auctorität einer 
Handſchrift aus einer angefehnen Gemeinde zum Grunde, worauf 
dann die dröodwoıs folgte. Nun gab es aber außerdem auch 
Eremplare zum Privatgebrauch bei vornehmen Chriften; und dies 
war nicht etwas Ungewöhnliches, fondern es gehörte, wie, wir 
aus dem Tadel des Chryfoftomus ſehn, zum Luxus, fich befonders 


102 Natürliche Gefchichte des Textes. 


ſchoͤn gefchriebene Handfchriften von neuteftamentlichen Büchern 
zu verfchaffen. Und auf diefem Gebiete konnte weit eher eigent- 
lich ceritifche Behandlung des Textes zu Stande kommen )). ’ 
Dei der großen Menge der fpätern Handfchriften, welche, die 
Lectionarien mitgerechnet, mehrere Hundert betragen, bleibt im— 
mer ein Hauptunterfchied, den wir fchon bei den Altern Codices 
bemerkt haben, die Berwandtfchaft mit dem Iateinifchen Texte 
auf der einen, und der rein griechifche Text auf der andern Seite. 
Man Fann auch aus andern paläographifchen Kennzeichen Schlüffe 
auf die Gegend machen, in der eine Handfchrift gefchrieben ift. 
Einige der bedeutendften find offenbar in Egypten gefchrieben. 
Nun war Alerandrien in jener Zeit der Sit der grammatifchen 
Studien, und daraus läßt fich die Vermuthung bilden, daß dies 
einen vorzüglichen Einfluß auf den Text des neuen Teſtaments 
gehabt; aber wenn man annimmt, daß der Vaticanifche Eoder 
auch in Egypten gefihrieben i , fo fcheint das doch nicht der 
Fall gewefen zu fein, denn der Zert deffelben. verräth gar nicht 
die Hand eines grammatifchen Abfchreibers oder Verbeſſerers. 


$. 9. 


Nun wollen wir die, verfehiedenen Hypothefen betrachten, 
die man gemacht hat, um fich die Aufgabe der Critik des neute— 
flamentlichen Textes zu erleichtern. 

Die Aufgabe ift eigentlih, daß man fuchen foll, die jeßigen 
Lefer fo viel wie möglich in die Stelle der urfprünglichen Lefer 
zu verfeßen, d. h. den Text der Urfchrift wieder herzuftellen. 
Dazu muß man das Borhandene vornehmen, um aus den ver- 
fihiedenen Lesarten nach beftimmten Grundfäßen auszuwählen 
und, wo alle Godices Falſches haben, nad) der größten Wahr- 
fcheinlichfeit zu Andern.- Bei der Vergleichung der verfchiedenen 


l 


1) Erfter Entw.: Auf diefe Exemplare im Privatgebrauch Fann eher 
fritifehe Autorität einen Einfluß gehabt haben. Damit ſtimmt auch die 
Art, wie Hieron. fich über Hesych. und Lucianus Außert. 


Hypotheſen über das Verhältniß der Handfehriften zu einander, 105 


Kesarten Fommen nun zwei Negeln mit einander in Streit, nem: 
lich, die Stimmen zu zählen, und fie abzuwägen, und die Auf- 
gabe der Gritif ift, entweder zwiſchen Diefen beiden Negeln zu 
entfcheiden, oder fie mit einander auf, gewiffe Art zu combiniren, 
‚Um fie abzumwägen, muß man einen Maaßftab haben, und der iſt 
das Alter; aber es koͤnnen fehr junge Codices Abfhriften von 
fehr alten, und alfo beffer , als unfre alten, fein; ſo verſchwindet 
alſo diefer Maaßftab wieder. Wenn man aber die Stimmen 
zählen will, fo wird man in ſolche Weitläuftigfeit geführt, daß 
man fuchen muß, die Zahl abzukuͤrzen, indem man mehrere Hand: 
Schriften als: Eins betrachtet, und man muß. darauf fehn, welche 
Codices befondere: Berwandtichaft haben, um nicht daffelbe Zeug: 
niß doppelt zu zählen. Dieß iſt nun befonders die Richtung, 
welche jene "Hppothefen nehmen. : Seit Bengel, Wetftein, 
Semler hat. man bie Berfchiedenheiten der Lesarten phyfionomifch 
betrachtet und ‚die Codices nach gewiſſen Familienähnlichkeiten zu— 
ſammengeſtellt. Befonders wichtig. find dabei die beiden Hypothe— 
fen, welche von Griesbach und Hug aufgeftellt worden. 
Hug nimmt an, es habe lange Zeit: einen ganz unregelmä= 
ßigen Text der neuteftamentlichen Bücher gegeben, wobei man 
keine rechte Sorgfalt angewendet habe, fo daß Teicht willführliche 
Aenderungen entftehen konnten. Diefen Zuſtand nennt er %0207 
&udooıs, welher Ausdruck urfprünglich von demjenigen homeri- 
Then Text gebraucht wurde, welcher älter iſt, als die Necenfio: 
nen der Alerandriner t). Der Ausdruck iſt dafür fchon vielleicht 
nicht ganz richtig, vollends aber nicht beim N. T., denn unfer 
&xdooıg verfteht man eine Menge gleichzeitig erfcheinender Ab— 
Ichriften deſſelben Zertes, bei uns Ausgabe in mehreren Erempla= 
ven. Nun nimmt Hug nachher drei Necenfionen an: 1. die Ale- 
randrinifche, die er. dem Heſychius zufchreibt, 2. die Conſtantinopo— 
litanifhe des Lucien, 3. die des Drigene®. Go nimmt er 


1) Ueber den Ausdruck x017 in Beziehung auf den Tert per LXX. vergl. 
De Wette Eint, ins A. T. $. 46. 


104 Hug'ſche Hypotheſe. 


alſo vier Textesarten an, die eine iſt gleichſam wild, die andern 
ſind cultivirt. Allein die hiſtoriſche Begruͤndung dieſer Hypotheſe iſt 
ſchwach. Die angenommene doppelte Recenſion des Heſychius 
und Lucian gruͤndet ſich nur auf eine Stelle bei Hieronymus, 
die wir oben ſchon angeführt haben ?); da wird allerdings geſagt, 
daß es foldhe Necenfionen gegeben, aber daß diefe in der Kirche 
geltend gemacht worden wären, davon ift Feine Spur. Daß es 
ferner eine eigne NRecenfion des Drigenes gegeben habe, davon 
finden wir in deſſen Schriften Nichts. Er beklagt ſich über die 
große Verſchiedenheit der Eremplare und fiellt ſelbſt einige Ber- 


befferungsverfuche an, aber ohne eine Recenfion des ganzen Tertes 


vorzunehmen. Es ift hier ein zu weiter Gebrauch von den An= 
deutungen des Hieronymus gemacht worden, welcher bier und dort 
fagt, daß er den Eremplaren des Adamantius folge?); was 
fi) wohl eher auf die Anführungen des Drigenes bezieht. Da— 
gegen ift.es wohl wahrfcheinlidh, daß von onftantinopel aus, 
als einer Hauptkirche, wohin Alles zufammenfloß, fi ein gewiffer 
übereinflimmender Text in der europäifchzgriechifchen Kirche verbrei- 
tete; aber ebenfo müßte auch zu Antiochien, wo eine eigne Schule 
war, ein beſonderer Text gewefen fein, der in die afiatifchegriechi= 
fche Kirche überging ; nimmt man nun noch Alerandrien und Sta= 
lien dazu, fo hätte man alfo auch vier Textesgeſtaltungen, und 
fo wäre das ein beftimmtes Bild, welches oe genug wäre, 
wenn man ed nur verfolgen koͤnnte. 

Griesbach ift nicht fo ins Einzelne eingegangen; er nimmt 
aber auch drei verfchiedene Tertesrecenfionen an, ohne fie 
jedoch auf einzelne Urheber zurücdführen zu wollen, fo daß es viel- 
mehr nur drei Hauptgeftaltüngen des Textes find. Die. erfte 


1) Seite 96. 

2) Hieron. ad Mat. 24, 36.: quum in graeeis, et maxime Adamanlii et 
Pierii exemplaribus, hoc non babeatur adscriptum. Ad Gal. 3, 1.: 
hoc, quia in exemplaribus Adamantii non habelur, omisimus. Bergl. 


De Wette Einleit. ins N. T. $. 39. 


/ 


Griesbach'ſche Hypothefe. | 105 


nennt er die occidentalifche und bafirt fie auf der erften Ueber: 
gang der Bücher aus dem Orient nad Stalien, wo denn gleid) 
zu den Borlefungen eine lateinifche Ueberfeßung nothwendig wurde; 
daber hat er ein Vorurtheil für die Aechtheit und das Alter des 
‚italifhen Textes. Wenn er aber annimmt, daß vie italifche 
Recenſion fich früher gebildet habe, al$ im Drient die Sammlung 
des aöorolog enffiand: fo ift ‚dad doch zu viel behauptet. 
Denn wenn die Bücher auch früher nad) Stalien gekommen wären, fo 
hätte. dies doch nur einzeln gefchehn koͤnnen. Wir haben aber 
feine Notiz von einem Vorhandensein einzelner Bücher in Italien 
älter ald die Sammlung; vielmehr ift gerade der italifche Text 
am Ahnlichften dem der jüngften ſolcher Sammlungen in der gries 
hifhen Kirche. Dann müffen wir doc noch unterfcheiden das 
Hinüberfommen der neuteftamentlihen Bücher nach Stalien und 
das Entftehen eines befondern Zerte in Uebereinftimmung mit 
einer lateinifchen Ueberfegung. Denn fo lange das Chriftenthbum 
in Stalien noch nicht überwiegend herrfchte, war eine lateinische 
Ueberfegung gar nicht nothwendig, weil dad Griechifche in den 
größeren Städten befannt war. Wenn man aber aud) das große 
Alter diefer Necenfion zugeben wollte, fo würde daraus für den 
Werth derfelben Nichts folgen. Denn es würde nur ein Text 
gewefen fein, wie Hug feine #017 Endooıg befchreibt, aus Privat: 
fammlungen entflanden und ganz unregelmäßig. So mußte 
denn auch die Unbekanntfchaft mit einem andern Texte das Ein- 
fhleihen vom Fehlern und Gloſſen erleichtern ). Alſo koͤnnen 
wir diefen italiſchen Zert, wenn er auch fehr alt wäre, doch nicht 
höher fhäßen, als die xoıwn Endooıg bei Hug. 

| Die beiden andern Recenſionen Enüpft Griesbadh nun mit 
Recht an den überwiegenden Einfluß von Alerandrien und 
Conſtantinopel?). Wie nun aber zu erkennen ift, was als 


1) Erf. Entw.: nur die firengeren Hebraismen möchten als Acht anzu— 
fehen fein. 

2) Erfi. Entw.: alfo im Gegenfaze zu Hug au die DOeffentlichfeit und 
den klerikaliſchen Einfluß. 


106 Gebrauch der alten Ueberfesungen in der Tertescritik. 


alerandrinifcher Bert zufammengehört, und was ald conftantino= 
politanifcher, ift fehr fehwierig und immer unficher, weil es an 
binreichenden Datis fehlt, um das Vaterland der Handfchriften 
auszumitteln. Daher hat fi) Griesbach vorzüglich an die Schrif- 
ten der Kirchenväter aus diefen verfchiedenen Provinzen und an 
die alten Ueberfeßungen gehalten. (Sch habe von diefen Ueber— 
feßungen nicht beſonders gehandelt, weil für den gewöhnlichen 
Gebrauch in Beziehung auf das eigentlich allgemein Zheologifche 
in. der That wenig dabei herausfommt; es ift nur der Critiker 
von Profefjion, den man wegen dieſer alten Ueberfeßungen an 
das darüber Gangbare verweilen muß). Nun ift es allerdings 
wahr, daß die ältefte ſyriſche Ueberfekung älter iſt, ald der Canon 
fich firirt hat. In Antiochien zwar war eine ſo ſtarke griechifche 
Golonie , daß man es faft ganz ald eine griechifche Stadt anfehn 
kann. Aber in dem übrigen Syrien, wo das Chriftenthbum fehr 
zeitig eindrang, war ‚das Syriſche die Landesfprache, alſo eine 
Ueberſetzung nothwendig, fobald man anfing, neuteftamentliche 
. Schriften in den Kirchen zu gebrauchen. Nun giebt es Nach— 
richten von dem Alter auch anderer Ueberfegungen, und es ift 
alfo unläugbar, daß mehreren derfelben ein Text zum Grunde liegt, 
der älter ift, als unfre älteften Handfchriften. Der Gebraud) 
aber, der in der Eritif von diefen alten Ueberfegungen zu machen 
ift, reducirt fich auf fehr wenig, fo daß der allgemein theologi- 
fche Xefer von ihnen Feine Notiz zu nehmen braucht. Denn von 
den zahllofen Berfchiedenheiten des neuteſtamentlichen Zertes find 
doch nur wenige, die einen wirklich) verfchiedenen Sinn geben, 
und noch weniger, die für dad Dogma von Bebeutung wären; 
die meiften beruhn auf grammatifchen Einzelnheiten. ‚In den 
meiften diefer Fälle Fann man aber zu den Ueberfeßungen feine 
Zuflucht nicht nehmen, weil man nicht aus ihnen fehen kann, wa$ 
für einen Text fie gehabt, da die grammatifchen Beflimmungen 
in den verfchiedenen Sprachen verfchieden find. Allerdings, wenn 
ein gehöriger Borrath von folhen Stellen vorhanden wäre, aus 
denen man fohließen koͤnnte, wie die alten Ueberfeßer gelefen haben, 


Gebrauch von Gitationen der Kirchenväter in der Critik. 107 


und wenn man beftimmt fagen Eünnte, woher fie ihren griechifchen 
Text genommen haben: fo koͤnnten fie ein wichtiges Moment fein 
fiir die Ausmittlung und Ausführung der größeren Familienahn- 
lichkeiten. Aber nun liegt die Sache fo, daß bier ein fo gefün- 
ftelte3 und wilfführliches Verfahren im Einzelnen ift, daß wenig 
damit ausgerichtet wird, und eine vorgefaßte Meinung zu Urtheis 
len führt, die Niemand unbefangen billigen fann. Nach der Art, 
wie Griesbach die Haupteriterien feiner Familien beſtimmt, ftellt 
er die Hypothefe auf, daß die fyrifche Ueberfeßung durch verfchie= 
dene Hände gegangen und nach fpätern griechifchen Handfchriften 
corrigirt ſei; das ift aber eine mit dem Zuftande der fyrifchen 
Litteratur gar nicht zufammenftimmende Meinung. 

Ebenfo findet man in beiden Hypothefen eine Anficht über den 
Text des Chryſo ſtomus, die fuͤr ſich betrachtet ſehr wunderlich 
herauskommt. Hug rechnet den Chryſoſtomus zu der Recenſion 
des Origenes, und es laͤßt ſich gar nicht denken, wie er ſollte 
gerade zu egyptiſchen Exemplaren gekommen ſein, wenn es noch 
dazu eine Lucianiſch-conſtantinopolitaniſche Recenſion gegeben hat. 
Auch Griesbach meint, daß der Text des Chryſoſtomus nicht 
zu der eigentlich conſtantinopolitaniſchen Recenſion gehöre, ſondern 
ein vermifchter fei. Aber wenn die Familienaͤhnlichkeiten fchon 
damals durch einander -gemifcht waren, fo fehe ich gar nicht die 
Möglichkeit, wie man fie jeßt noch aus einander halten will. Es 
ift überhaupt der Gebrauch von Stellen der Kirchenväter in der 
Gritif eine fehwierige Sache; nur in folchen Fallen, wo fie in 
der Auslegung befondere Ruͤckſicht auf eine abweichende Lesart 
nehmen, kann man erkennen, was fie gelefen haben, oder da, wo | 
mitten in der Nede Stellen eingeführt werden. Denn die Ab- 
ſchnitte, über welche die Homilien gehalten waren, wurden fpäter 
geändert, und fo findet man häufig Spuren, daß der Kirchenvater 
ganz anders gelefen hat, als jeßt davor fteht. Auch die Citate 
in der Mitte der Rede find gewöhnlich aus dem Gedächtniß angeführt 
und daher find Fehler und Abweichungen natürlich. Wenn man 
die Art betrachtet, wie Griesbach in feinen Prolegomenis und 


108° Anfichten von Matthäi und Scholz. 


Symbolis eritieis: über einzelne Kirchenväter und Handfchriften 
urtheilt, fo muß man ſich nothwendig überzeugen, daß dies ganze 
Syſtem in feinen Gründen nicht gehörig feft ift und in feinen 
Folgerungen fo Fünftlich, daß es zu gar Nichts führt. _ Der Aus: - 
drud, Recenfion, paßt bei ihm nur auf die alerandrinifche; Die 
beiden andern find genau genommen nur zwei verfchiedene Zuftände 
eines nicht recenfirten Textes, zwei verfchiedene Zweige der #007 
&udooıg, die fih im Decident eigenthuͤmlich geftaltete; 3. B. da 
es im Lateinifchen Feinen Artikel giebt, fo gefchah es, wenn eine 
Snterlinearverfion gemacht wurde, häufig, daß auch im Griechi— 
ſchen der Artikel ausgelaſſen wurde; ähnlich geſchah ed mit Praͤ— 
poſitionen und Caſus, die im Lateiniſchen anders ſind, als im 
Griechiſchen. Wenn wir nun bedenken, wie zu verſchiedenen Zei— 
ten der Zuſammenhang zwiſchen den europaͤiſchen und aſiatiſchen 
Theilen der griechiſchen Kirche ſehr verſchieden war, ſo koͤnnen 
wir die Verſchiedenheit der Textesgeſtaltung uns erklaͤren, ohne 
an eine ſolche Recenſion zu denken. | 
Abweichend find die Anfichten von Chr. Fr. Matthaͤi und 
Scholz. Erftierer bat lange in Rußland gelebt und dorf eine 
Menge von Handfchriften gefunden, die unter fich ſehr ähn- 
lich find, und fich zum Stavonifchen ebenfo verhalten, wie Die 
oecidentalifchen zu der Iateinifchen Verſion. Diefe Handfchriften 
find wahrfcheinlich aus Gonftantinopel; und daher hat Matthäi 
eine große Vorliebe für die conftantinopolitanifche Recenſion, der 
er eine große Sorgfältigfeit zufchreibt. Wollten wir aber dabei 
ftehn bleiben, fo würden wir nur einen fehr fpäten Text für das 
N. T. befommen. Der Eatholifche Profefior Scholz ift der- 
felben Meinung und nimmt auf fehr fhwache Gründe an, daß 
diefer Text, wenn auch jünger, doch beffer fei, ald unfer ältefter, 
und identifch mit dem urfprünglichen, wie er war, ehe die Aen— 
derungen hineinfamen; es wäre alfo dies die Hug'ſche zoıw 7 Endooıs. 


8.30, 
Wenn wir Alles zufammennehmen, werden wir leicht einge= 


Reſultat der Gefchichte ded Textes. 109 


fiehn, daß wir nicht Hülfsmittel genug haben, um eine fo beftimmte 
Gefhichte des neufeftamentlichen Textes aufzuftellen, und daß bie 
einzelnen Data ein viel zu verworrenes Nefultat bilden, als daß 
wir eine beftimmte Scheidung darauf gründen Fünnen. Das 
Weſentlichſte ift immer der Unterfchied zwifchen den Iatinifirenden 
und den rein griechifchen Handfchriften, und es ift in einzelnen Fällen 
bei fpätern Handfchriften Leicht zu fehn, welcher von’ diefen beiden 
Seiten fie angehören ; aber weiter wird man es ſchwerlich bringen. 
Was uns hierbei vorzüglich fehlt, ift eine fichere Nachricht über den . 
Übergang der neuteftamentlichen Schriften nach Italien, womit 
gerade eine fo eigenthümliche Geftaltung zufammenhängt. Das 
ift offenbar, daß Tertullian und der lateiniſche Überfeger des Ire— 
naus ſchon den italifchen Text hatten; man fieht dies auch 
daraus, daß die Polemik des Lertullian gegen den Marcion zu: 
gleich eine Polemik des italifchen Textes gegen den griechifchen ift. 
Daß aber die fortgefebte Vervielfältigung des griechifchen Textes 
in Büchern mit lateinifcher Überfegung und von lateinifcyen Ab- 
ſchreibern größere Veränderungen mit fih bringen mußte, ift an 
fich felbft Ear. Wenn nun das’ Factum richtig ift, daß der Co- 
dex Cantabrigiensis, der auf diefe Seite gehört, eine Menge Zus 
fäße und Veränderungen enthält, welche wir beim Clemens von 
Aerandrien finden: fo würden wir daraus fihließen koͤnnen, daß 
die neuteftamentlihen Schriften mehr von dort aus, ald von 
Griechenland, nach Stalien gekommen wären. Aber diefe Hand— 
ſchrift hat fo viele unbeftreitbar fpätere Zuſaͤtze, dag man dies 
nicht ald allgemeines Kennzeichen anfehn Fann. 

Wenn wir fragen, was uns die Gefchichte des neufeftament= 
lihen Textes, fo weit fie fich aufftellen läßt, für die Lefung def: 
felben nüst: fo koͤnnte man leicht fchliegen, daß ich den Nutzen 
nicht hoch anfchlage, weil ich die Bemühungen, ein Syftem dar- 
über aufzuftellen, für verunglüdt anfehe. Aber die Gefchichte 
des Textes darf nicht vernachläffigt werden, um die Mängel des 
gedruckten Textes verbeffern zu koͤnnen, aber nicht nach diefen 
ſyſtematiſchen Bearbeitungen; fondern wir müffen und nach dem 


119 Htefultate der Gefchichte des Textes. 


richten, was fich beftimmt aufftellen laͤßt. Es ift nicht zu 
laͤugnen, daß das Ziel diefer Critik, die jetzigen Leſer in die Stelle 
der urfprünglichen zu verfeßen, nicht erreicht ift, denn der Zu— 
fammenhang zwifchen unfern aͤlteſten Quellen und den Autogra= 
phen der Auctoren läßt fih auf Feine Weife nachweifen oder er- 
ganzen. Stellen wir aber die Aufgabe fo: wir müffen fuchen, 
die gegenwärtigen Leſer möglichft denjenigen gleichzuftellen, welche 
diefe Schriften in den Kirchen Iefen hörten zu der Seit, wo die 
Summlung der neuteftamentlichen. Schriften in der griechifchen 
und occidentalifchen Kirche (bis auf die Abweichung wegen des 
Hebräerbriefs und der Apocalypfe) diefelbe war: fo hat man eher 
Etwas erreicht, aber allerdings noch Feine Einheit; denn damals 
fhon war der Text nicht überall derfelbe. Aber man fommt dann 
nicht auf die Aufgabe, eine Eleinere oder größere Anzahl verfchie: 
dener NRecenfionen zu unterfcheiden, fondern wenn wir uns Die 
Aufgabe fo denken, fo ift zu wählen, ob man einen griechifchen 
Text der Lateinifchen oder der griechiichen Kirche darftellen fol. 
Mancher wird das Eine wählen, weil der Zert der lateinischen 
Kirche aus der älteften Zeit herrührt, Mancher dad Andere, weil 
in der griechifchen der Text nicht folchen Alterationen ausgefeßt 
war, wie in der lateinifchen. Einen feften Punck giebt hierbei 
Hieronymus, der die Iateinifche Überfegung verbeflerte, aber dabei 
feinen andern Grundfaß anerkannte, als, die Gewohnheit der 
Lateinifchen Handfchriften für Nichts zu achten und überall nad) 
den beften griechifchen Auctoritäten zu entfcheiden. Er hat alfo 
erkannt, daß der wahre Text nicht in den Täteinifchen Hand— 
ſchriften zu finden fei, und fo ift er eine ſtarke Auctorität gegen 
den Vorzug, den man für eine jebige Bearbeitung des Textes 
den latinifirenden Handfchriften geben möchte. Um auf etwas 
Einzelnes zu verweifen, fo ftellt fih gerade das, was wir bemerkt 
haben, im rechten Kichte dar, wenn man Griesbach's Arbeit 
über 1. Joh. 5, 7. aufmerffam lieſ't. Hier befommt man eine 
Elare Überſicht darüber, wie doch das Urtheil von der Unächtheit 
diefer Stelle nur durch eine allgemeine Nevifion aller ‚befannten 








Gedruckter Text. 111 


Handſchriften hat begründet werden Fonnen, und wie da ſich Al- 
les fo ftellt, die Hauptfcheidung zwifchen den rein griechifchen 
und den latinifirenden Handfchriften zu machen, wobei dem Grie $= 
bach felbft alle feine Unterfcheidungen von Mecenfionen ganz 
verloren gehn, und alle Spuren der erften Einſchiebung diefer 
Worte fich in latinifirenden Handſchriften zeigen, wenngleich auc) 
dort fie in den älteften noch fehlen. Diefe Arbeit it wirklich ein 
Eleines critifches Meifterftüd,, fo daß man * Beſſeres daruͤber 
aufſtellen kann. 


31.2). 

Für die Betrachtung des gedrudten Textes müffen wir 
uns zunaͤchſt das Verhaͤltniß deſſelben zum handſchriftlichen klar 
machen. 

Lange Zeit waren die Uncialbuchſtaben die einzigen Charactere, 
mit denen man ſchrieb; nur ſie waren geeignet, in Stein gegra— 
ben zu werden, was die erſte oͤffentliche Aufſtellung wichtiger Ur— 
kunden war. Allmaͤhlig gingen ſie in die Curſivſchrift uͤber, und 
erſt als das Baumwollen- und Leinenpapier allgemeiner wurde, 
ward auch dieſe Schrift uͤblicher, weil die leichtere Behandlung 
des Materials eine leichtere Manipulation in der Schriftweiſe zu: 
ließ. Diefe Eurfiofchrift, in der alle Handfhriften vom 11. und 
12. bis ind 16. Sahrhundert gefchrieben find, beftand aber nicht 
aus lauter einzelnen Buchftaben, fondern es wurden dafür abbres' 
virte Zeichen verbunden, um noch mehr abzufürzen. Um Diele 
Zeit war fehon lange die Stichometrie abgefommen, und die Abs 
theilung der Wörter gebräuchlich, ein natürliches Nefultat von dem 
Ineinanderziehn der Buchflaben. Aber auch früher war Diele 
Abtheilung fchon gemacht, um das Leſen zu erleichtern; ebenfo 
war die Interpunction um diefe Zeit allgemein geworden. In 
diefem Zuftande fand die Buchdruderei das neue Teftament. Da— 
bei aber ift noch zu bemerken, daß das Borlefen deffelben in der 


19) Berge. De Wette $. 42 — 48, 


112 Complutenſiſche und Erasmiſche Ausgaben. 


Urſprache ſchon uͤberall abgekommen war, ausgenommen vielleicht 
in der eigentlich griechiſchen Kirche, die aber damals in einem ge— 
ringen Zuſammenhang mit den litterariſchen Regionen ſtand. Die 
Kloͤſter waren immer die Fabriken der Abſchriften des N. T.s ge— 
weſen; in ihnen fanden ſich faſt uͤberall mehrere Handſchriften, 
und außerdem waren viele Einzelne im Beſitz von ſolchen. 

Der Anfang dazu, das neue Teſtament in gedruckten Typen 
darzuſtellen, wurde faſt gleichzeitig an ganz verſchiedenen Orten 
gemacht in der Complutenſiſchen Ausgabe und in der Aſten 
des Erasmus. Was für Handſchriften die Herausgeber der 
complutenfifhen Bibel gehabt, ift nicht recht auszumitteln, 
außer etwa durch den einen Umftand, daß fie 1. Seh. 5, 7. auf: 
nahmen; aber es ift noch nicht gewiß, ob fie ein griechifches Manu— 
feript hatten, worin diefe Stelle ftand, oder ob fie diefelbe grie- 
chifch gemacht haben, da fie von ihnen lateinisch gefunden wurde. 
Erasmus hatte zu feiner erften Ausgabe, die noch früher als 
die complutenfifche erfchien, zwei SHandfchriften, die fih in 
Bafel fanden, aus denen er feinen erften Text machte; in diefen 
war jene Stelle nicht. Da fie aber in die fpätern Editionen der 
Vulgata aufgenommen war, fo entſtand hieraus gleich ein heftiger 
Streit der complutenfifchen Herausgeber gegen Erasmus. Bei 
feiner 3ten Ausgabe erhielt diefer endlich aus England Collationen 
einer griechifchen Handfchrift (ded Codex Montfortianus), worin 
wirklich jene Stelle enthalten war. Er nahm fie nun auf, da 
die Complutenſiſche Ausgabe durch die Geiftlichfeit beforgt, und er 
doch fehon einer gewiffen Neigung für die Neformation verdächtig 
war; er fagt aber ausdrüdlich, daß man fie in einer griechi— 
Shen Handfchrift gefunden, und er fie nur aufnehme, ne causa 
sit calumniandi. Der erfte Drud des Tertes fing alfo gleich mit 
einem fchlimmen Gefchide an, denn es ift Elar, daß Erasmus 
wider feine beffere Überzeugung eine Lesart, die er nur in einer 
Handfohrift fand, aufnahm, um fi nicht in Streitigkeiten zu 
verwideln. Nach diefer de$ Erasmus wurde nun eine Menge 
Editionen des griechifchen neuen Teſtaments gemacht. 


Ausgaben von Bea, Walton, Fell u. ſ. w. 113 


Eine zweite Reihe mit etwas mehr critiſchen Bemuͤhungen 
beginnt mit Beza in Genf, der mehr Handſchriften verglich und 
aus mehreren Lesarten nach eignem Urtheil die beſte ausſuchte; 
er legte die Zte Ausgabe des Rob. Stephanus zum. Grunde. 
Aber es war bei ihm durchaus kein durchgeführtes critifches Prin— 
cip, fondern ein willfürliches Nefultat von einzelnen Handfchriften ; 
denn er hatte außer dem Codex Cantabrig. nur lauter Handfchrif- 
ten aus fpäterer Zeit mit Eurfivfchrift. Diefe Eurfivfchrift der 
fpätern Sahrhunderte mit ihren Abbreviaturen hat auch das Mu: 
fter zu unfern griehifhen Typen abgegeben, und dabei ſah man 
bald auf eine befondere Bierlichkeit, und vorzüglich die hollaͤn— 
diihe Buchhändlerfamilie Elzevir gab diefe Ausgabe des Beza 
mit befonderer Schönheit heraus. Dadurch Fam diefer Text 
in die größte Verbreitung, fo daß man in einer fpätern Ausgabe 
jagen Eonnte, diefer Text werde nun von Allen angenommen. Er 
bildet feitdem die fogenannte recepta. Es find alfo hierbei zwei 
Hauptquellen zu unterfcheiden: die Erasmifche und Complutenfi- 
Ihe Hauptausgabe, wozu die flüchtige Vergleichung mit einigen 
Codices fommt, die Beza anftellen fonnte. Ale Ausgaben, die 
noch im 16. und in der erften Hälfte des 17. Sahrh. erfchienen, 
tragen durchaus diefen Character an fich. 

Die Vergleichung des Codex Cantabrig. wurde genauer durd)= 
geführt in der Londoner Polyglotte von Brian Walton in der 
zweiten Hälfte des 17. Sahrh. Er fügte die Lesarten des Codex 
Alexandr. hinzu, nebit zerftreuten Vergleichungen anderer Hand: 
fchriften. Hierauf gründeten fich hernach die erften an critifchem 
Apparate reichern Ausgaben, wozu die Orforder von Fell und 
Gregorius gehören; die legfere, die einen fehr Eleinen zierlichen 
Foliant bildet, ift durch eine intereffante Zugabe merkwürdig, in= 
dem fie bei jeder Stelle die älteften patriftifchen Citationen ent- 
hält, was fie für den Xefer fehr brauchbar macht. Darauf folgen 
die mit einem großen critifchen Apparat verfehenen Ausgaben von 
Mill und Küfter. 

Eine neue Epoche in diefer Eritif beginne in der erften Hälfte 


Ein. ins R. 7. / 8 


114 Ausgaben von Bengel und Wetftein. Üüber Gonjecturen. 


des 18. Jahrh. mit den Ausgaben von Bengel und Wetftein. 
Grfterer gab einen neuen Text und die Begründung der Princi- 
pien dazu im Apparat, Lebterer ließ den recipirten Text ftehn, er- 
fand aber die critifhen Unterfcheidungszeichen über das, worin 
andre Handfchriften von der recepta abweichen. Bowyer gab 
hernady einen Bert heraus, der dem gleich war, welchen fich Wet— 
ftein gedacht hatte. Wetſtein's Ausgabe enthält zugleich Prolego- 
mena, welche Notizen über die gebrauchten Handfchriften geben, 
das erfte bedeutende Verzeichniß folcher Handſchriften; er bezeich- 
nete die Uncialcodices mit großen lateinifchen Buchftaben, die Eur: 
fivcodices mit Eleinen Zahlen. Hierbei hat er fich aber manches 
nicht zu Billigende erlaubt, indem er manche Handfchriften mehr- 
“ mals bezeichnete je nach den verfchiedenen Büchern, und andrer- 
ſeits Collationen von verjchiedenen Handichriften, die ihm zuge— 
[hit wurden, unter eine Nummer zufammenfaßte. 

Der oben genannte Engländer Bomwyer. fügte feiner Aus— 
gabe eine Sammlung von Conjecturen hinzu. Es ift viel 
darüber geftritten worden, ob man das neue Teftament auch fo 
behandeln Fünne, wie andre Schriften. Es kommt darauf an, wie 
denn andre Schriftfteller behandelt werden, und allerdings hat man 
es zu verfchiedenen Zeiten fehr verfchieden damit gehalten. Jetzt 
fommt man immer mehr darauf zuruͤck, das Amt eines eritifchen 
Herausgeber und das eines Eregeten, der dem Leſer zu Hülfe 
fommen will, fireng zu unterfcheiden. Auch jest würde man es 
ganz über die Befugniß eines Herausgebers hinausgehend anfehn, 
wenn er feine Conjecturen in den Text feken wollte. Das Eon 
jecturiren ift allerdings immer der Natur der Sache nah unend= 
lich, d. b. wenn erft volllommen ausgemadt ift, daß alles das— 
jenige, was wir haben, nicht das enthalten kann, was der Ber- 
faſſer felbft gefchrieben hat, dann find die Methoden, die man 
befolgen kann, um das Richtige an die Stelle zu feßen, jo mans 
nigfach, je nachdem die verfchiedenen Vorausſetzungen find,’ von 
denen man ausgeht, daß ſich wohl denken läßt, daß für diefelbe 
Stelle fehr viele Conjecturen gemacht werden Fünnen, für welche 


Griesbach. 115 


alle: fih Etwas fagen läßt. Ein critifcher Herausgeber darf Nichts 
in den Text feßen; aber Semand, der das N. &. zum Privat: 
gebrauch herausgiebt, kann das ohne Gefahr hun. Will man 
einen volftändigen critifchen Apparat aufftellen, fo muß man dar- 
aus den status causae erkennen Fünnen, um ein freies Urtheil zu 
behalten. Das aber ift eine wunderliche Vorausfeßung, daß un: 
erachtet der großen Menge von verfchiedenen Lesarten Die göttliche 
Providenz dafür geforgt haben müffe, daß unter den vorhan- 
denen Lesarten immer eine die wahre fein müffe. Nun aber 
muß man allerdings auf der andern Seite jagen, daß bei der 
Beichaffenheit der meiften Stellen, worin das Richtige nicht zu ha— 
ben man fich wohl überzeugen kann, es nur fehr wenige Stel- 
len giebt, dies auf den Sinn, fofern verfelbe eine theologifche 
Wichtigkeit hat, Einfluß hätte So muß man fagen, dag auch 
bei .folchen bloß für das Lefen berechneten Ausgaben das Gon= 
jecturiren unterbleiben kann, weil es nicht nothwendig ift ?). 


Die leiste Periode in der Geftaltung des gedrudten Textes 
beginnt mit Griesbach's Bemühungen. Er hält fich nicht fo 
fireng, wie Wetftein, an den recipirten Text, fondern wo er et— 
was Anderes ftatt deffelben hineinfeßt, macht er es nur durch eine 
Fleinere Schrift bemerflih. Die dominirende Schrift ift die re- 
cepta; jteht am Nande etwas mit diefer gewöhnlichen Schrift, fo 
ift der recipirte Text an diefer Stelle verworfen. Dies ift aller: 
dings ſehr bequem für die Vergleihung und ein regelmäßiger 
Fortſchritt; allein es beruht dies doch auf einer gewiſſen Beruͤck— 
ſichtigung des recipirten Textes, die nicht begründet ift; denn da 
er bloß ein zufälliges Werk ift, fo ift nicht einzufehn, warum er 
in der außern Geftaltung einer critifchen Ausgabe dominiren foll. 
Das Uebelfte it, daß diefe Berückfichtigung einen nachtheiligen » 
Einfluß auf die Anordnung des critifchen Apparats gehabt hat, 


1) Erft. Entw.: Es ift viel vichtiger, den Sinn hermeneutifch zu er- 
ganzen aus dem Zufammenhang, als den Text grammatifch durch Conjectur. 
Ä | 8 


116 Schulz, Matthäi, Scholz. 


Griesbach führt nemlich immer nur die Autorität für das an, 
worin er von der recepta abweicht; aber man ift nicht im Stande, 
aus feinem Apparate zu fehn, woher der recipirte Text kommt. 


Schulz in Breslau, der zuleßt den Griesbach'ſchen Text 
herausgegeben, hat zugleich eine neue Bearbeitung des neutefta- 
mentlichen Zertes von ihm felbft angekündigt; aus dem, was er 
am Griesbach’fchen Zerte gethan, erhellt noch nicht recht, nach 
welchen Principien er die neue Necenfion bearbeiten wird. Man 
follte denfen, daß ein neuer Bearbeiter des Textes in derfelben 
Linie fortgehn würde, wie Wetftein und Griesbach, d. h. immer 
mehr vom reeipirten Zert abgeben, und daß die falfche Ehrfurcht 
davor verfchwinden werde. Aber in einzelnen Stellen, die Schulz 
bearbeitet hat, kehrt er wieder mehr zur recepta zurüd, und die 
Art, wie das geſchieht, feheint nicht auf richtigen Principien zu 
beruhen. | 


Außerdem ift noch auf Zweierlei in der Gefchichte des ge- 
druckten Textes zu ſehen. Erſtlich auf die einzelnen Unternehmun- 
gen, den Text gewiffer Handfchriften zu vervielfältigen und Jedem, 
fo viel es möglich, zugänglich zu machen. Dies ift gefchehen durch 
Abdrud de$ Cod. Alexandr. und Cantabrig. im Facfimile und ei- | 
nes Wiener Coder (Cod. Lambeceii I.) und des Cod. Boer- 
nerian. mit gewöhnlichen Lettern Y. Zweitens die abweichenden 
Grundfäße in den Bearbeitungen. Da ift Matthaͤi's Gegenſatz 
gegen Griesbach, indem er aus moscomitifchen Handfchriften ei- 
nen der recepta mehr ähnlichen Text lieferte und das ganze von 
Dengel, Semler und Griesbach aufgeftellte Recenſionenſyſtem ver: 
warf. Daraus ift eine lange eritifche Fehde entftanden, worin 
allerdings von Matthai nicht immer fo verfahren-ift, wie es zu 
erwarten war. Große Ähnlichkeit mit den Matthärfchen Bemuͤ— 
hungen um das N. &. haben die von Scholz, fofern er auch an 
die recepta ſich enger anfchloß. 


1) Erf. Entw. Wichtigkeit verfelben für Jeden. 


Handausgaben. Lachmann. 117 


Bon den critiſchen groͤßern Ausgaben aus giebt es zahlreiche 
Handausgaben,, von deren critifcher Befchaffenheit fich Jeder über: 
zeugen muß. Sehr allgemein ift feit langer Zeit die Knapp’fce . 
in Gebrauch, die auf der einen Seite Erleichterung gewährt, aber- 
auf der andern freier zu Werfe geht, als es für eine Handaus— 
gabe fich ziemt. Knapp wollte nicht ganz der recepta folgen, 
aber eben fo wenig ganz den Griesbady’fchen Text geben und auch 
nicht fich zu einer ganz neuen Necenfion entfchließen; daher hat er, 
wie er es nennt, eine Necognition des Textes geliefert, d. h. er 
hat nach feinem beften Urtheil an bedeutenden Stellen ausgewählt, 
was zum Tert gehört, ohne Fenntlich zu machen, wa$ die recepta 
bat; unten giebt er einige bedeutende Lesarten an. Co ift er 
von der unbegründeten Achtung vor der recepta auf eine löbliche 
Meile abgemichen. ı 

Eine Handausgabe, von der zu wünfchen ift, daß fie Feine 
Handausgabe wäre, ift die von Laͤchmannz; es wäre nemlich fehr 
wünfchenswerth, daß wir den eritifchen Apparat, der dem Werke 
zum Grunde gelegen, dabei hätten. Lachmann hat feine Prin- 
cipien in den Studien u. Crit. 1830 befannt gemadht, und 
ich kann nicht anders, als denfelben beiftimmen. Er ftedt das 
Ziel des Gritifers nur fo weit, wie es für uns möglich iſt, und 
findet die größte Sicherheit de3 Textes darin, wenn die älteften 
Auctoritäten der lateinifchen und griechifchen Seite übereinftimmen ; 
wo dies nicht der Fall ift, ſetzt er, was die urfprünglich griechi- 
fhen enthalten, weil fie die älteren find. Noch eine Eigenthiim- 
lichfeit in diefer Ausgabe, die ich nur loben Fann, wiewohl fie 
vielleicht unbequem erfcheint, ift, daß er die Gapitel- und 
VBersabtheilung dem Lefer auf gewiffe Weife aus den Augen 
ruͤckt und nur Abfäbe giebt, die durch den Sinn conftituirt wer- 
den. Diefe Gapitelabtheilung ift oft fehr falfch und finnftorend, 
und es giebt nur wenige neufeftamentliche Bücher, wo fie mit 
Verſtand gemacht ift; wir verdanken fie dem Gardinal Hugo von 
St. Caro im 13. Sahrh., der fie zum Behuf einer Poftillenbibel 


115 Urſprung der BVersabtheilung. 


gemacht. Ebenfo ift es mit den Verſen, die doch ein Fleineres 
Ganzes bilden follen, was oft durchaus nicht der Fall ift; dieſe 
Abtheilung hat Rob. Stephanus gemadht, und da fie einmal 
überall eingeführt ift, fo läßt fie fich nicht mehr aufheben. Die 
Berfe find deshalb in der Kachmann’fchen Ausgabe zwar notirt, 
aber fie foren doch num nicht mehr den Sinn. 


Fu 


Zweiter Theil. 


Sperielle Einleitung in die einzenen Theile, 

des neuen Teſtaments. 

— 532 

Es iſt hier von den beſondern Sammlungen einzelner Theile 
des neuen Teſtaments zu reden. O dnoorolos und zo svar- 
yekıov find fchon ald ‚die beiden Hauptabtheilungen des Ganz 
zen genannt worden. Nun enthält offenbar die Sammlung o 
anoorolog die alteften neuteftamentlichen Schriften, welche aus 
dem Bedürfniffe der vor kurzem geftifteten Gemeinden hervorgin- 
gen. Freilich: ift fonft ſehr haufig behauptet worden, das Evange— 
lium Matthäi fei die ältefte Schrift und zwifchen das 25ſte und 
30ſte Sahr nach der Himmelfahrt Ehrifti zu ſetzen; dies beruht 
aber blos darauf, daß man davon ausging, das Evangelium des 
Sohannes fei das legte, und diefer habe die andern drei vor ſich 
gehabt, während Lucas und Marcus den Matthäus benutzt hätten; 
wie weit aber diefe Hypothefe gegründet fei oder nicht, werden 
wir fpäter fehn. Die Sammlung 0 anoorokcog ift die ältefte, 
und enthält vorzüglich, die paulinifhen Briefe; wir wollen 
daher zuerft von diefen reden. Sie bilden zugleich den am meiften 
dogmatifchen Theil des Ganzen, woher fich vorzüglich das Inter— 
efle, diefe Schriften bald zu verbreiten, herjchrieb, wogegen nicht 
jo bald ein gleiches Intereffe an der Abfaffung und Berbreitung 

chriftliher Evangelien genommen werden Eonnte. 


120 Bewährung der paulinifchen Briefe durch die Apoſtelgeſchichte. 


Erftes Eapitel. 
Die paulinifhen Briefe. 
6.483, 

Bei der Unterfuchung über die paulinifchen Briefe muß die 
Frage an die Spitze geftellt werden: Woher bewährt fi 
diefe Sammlung als folder? Sft eine Sammlung wäh 
vend des Lebens des Verfaſſers gemacht, fo bewährt fie ſich durch 
ihn felbft. Dies ift aber hier nicht der Fall und dem Character 
und der Folge der Zeit entgegen. Die Nachrichten aber von der 
Art, wie diefe Sammlung zu Stande gekommen ift, reduciren 
fih auf die wenigen Puncte, die wir fchon mitgetheilt haben, 
nemlich daß wir fie unter den neuteftamentlichen Schriften in den 
aͤlteſten Zeugniffen und in Firchlihen Sammlungen finden. Bei 
den BZeugniffen der griechifchen und Tateinifchen Kirche, die wir 
an die Spitze geftellt haben, ift die Differenz der Meinungen, ob 
der Hebräerbrief zu den paulinifchen zu rechnen fei, oder nicht. 
Dagegen erhalten wir bei der älteften Sammlung, der des Mar- 
cion, nur 10 paulin. Briefe, indem die beiden an Zimotheus und 
der an Titus fehlen und ebenfo der Hebräerbrief. Daher müffen 
wir fagen: die zehn Briefe bilden die erfte Abtheilung, jene drei 
und der Hebräerbrief die zweite. Doch folgt keineswegs, daß bie 
Sammlung des Marcion fcehon dadurch das vollfommne Zeugniß 
der Authentie für fich hat, weil fie einige Briefe nicht enthält. 

Da mir aber von der Art, wie die Sammlung zu Stande 
gekommen ift, gar Nichts eigentlich wiffen, fo müffen wir das 
Zeugniß der Authentie aus der MWahrfcheinlichfeit hernehmen, 
mit welcher diefe Briefe für paulinifch gehalten werden. Hier 
haben wir faft Nichts, als die Apoftelgefhichte aufzumeifen, 
mit welcher die andern ungleich fpätern hiftorifchen Zeugniffe in 
fofern übereinftimmen, als fie e8 als eine fortlaufende Tradition 
anfehn, daß einige Gemeinden von Paulus felbft geftiftet find. 
Diefe Zradition Fann nicht erft au der Aopoftelgefchichte entftan- 
den fein, fondern es find dies zwei einander beftätigende und er: 


Bewährung der pauliniihen Briefe durch die Apoftelgefchichte. 121 


gänzende Puncte. Soll alfo ein Urtbeil über die: Aechtheit der 
Sammlung gefällt werden, fo können wir Nichts thun, als prüs 
fen, mit welcher WahrfcheinlichFeit die einzelnen Theile derfelben 
auf denfelben Auctor zurücgeführt werden, und dazu muß ihre 
Sufammenftimmung unter ſich und mit jenen Nachrichten aus der 
Apofielgefchichte und aus der Tradition über den Paulus nad) 
gewiefen werden. Es giebt einige unter diefen Briefen, die fich 
in die Acta mit einer gewiffen Genauigkeit hineinfügen, ohne daß 
man fagen Fönnte, die Acta gingen darauf aus, eine Beſtaͤtigung 
diefer Briefe zu fein, da fie überhaupt gar feine Erwähnung 
thun, daß Paulus Briefe gefchrieben habe. Um defto unabhän- 
giger ift die Zufammenftimmung, und dies ift der erfte fefte Punct, 


an welchen fich das weitere critifche Verfahren anfchließen muß. 


In der Apoftelgefihichte kommen fowohl Notizen über die 
Perfon des Paulus, als auch Reden von ihm vor. Nun bat 
man diefe letztern mit denen in griechifehen und römifchen Ge— 
ſchichtsbuͤchern verglichen, welche berühmten Perfonen untergelegt 
wurden ohne beftimmte Zeugniffe, daß fie gerade fo gehalten find, 
fo daß fie nach den Umjtänden vom Auctor erdichtet find. Allein 
die Differenz zwifchen jenen Gefchichtsbüchern und der Apoftel- 
gefchichte in Beziehung auf hiſtoriſche Kunft ift fo groß, Daß 
man nicht von den einen auf die andere fehließen Fann. Es kom— 
men aber in den Neden des Paulus Sachen vor, wozu fich ftarfe 
Analogien in feinen Briefen finden, ohne daß die Acta beftimmten 
Bezug auf die Briefe nähmen; auch ift zwifchen beiden die Aehnlich: 
keit, daß man aus ihnen denfelben Character des Apoſtels erkennt ?). 

Ziehn wir nun einen andern gefchichtlihen Punct in Erwä- 
gung, fo finden wir anderwärts in der griechiichen Litteratur eine 
Menge von Briefen, die bedeutenden Perfonen beigelegt, aber 
ſchon feit langer Zeit von den Critikern für unacht erklärt find, 
dies führt auf das Factum der Unterfchiebung. Da entjteht alfo 
die Möglichkeit, daß auch dem Apoftel Paulus Briefe untergefcho- 


1) Bergl. Schleierm. Sendſchr. über 1. Tim. Seite 20. 


® 


122 Bewährung der pauliniihen Briefe durch die Apoftelgejchichte. 


ben fein koͤnnen. Nun find aber die Umftände fehr verfchieden : 
jene falfchen nachgemachten find offenbar rhetorifche Schulübun- 
gen, wozu in der chriftlichen Kirche damals gar Feine Veranlaſſung 
war; diefe Analogie fällt alfo weg. Wir müßten daher bei der 
Borausfesung der Unterfchiebung paulinifcher Briefe wenigftens 
andere Motive auffuchen. Se größer nun die Analogie derfelben 
mit dem wäre, was ſich in die Acta einfügen läßt, defto mehr 
Grund hätten wir, die Sammlung für acht zu halten; je weniger 
dies der Fall wäre, defto mehr andre Gründe der Aechtheit müß- 
ten herbeigefchafft werden, und defto mehr Verdacht entftände ge- 
gen diefelbe. | 

Nun haben mehrere Gritifer die zweite Abtheilung der Samm: 
lung angegriffen, und ich will dabei gleich einen Grund in der Allges 
meinheit, wie man ihn aufführt, entkräftigen. Wir haben es oben 
einen feften Haltungspunct genannt, wenn fich einige Briefe in 
die Acta genau einfügen laſſen; nun aber hat man umgefehrt 
gefagt: wenn fich einzelne Briefe gar nicht in die Apoftelgefchichte 
bineinfügen, fo fei dies ein Verdachtsgrund gegen ihre Aechtheit. 
Dies würde vorausfesen, daß die Apoftelgefchichte eine zufammens - 
hängende Relation paulinifcher Begebenheiten wäre. Wenn fich 
aber das Gegentheil nachweifen läßt, nemlich, daß bedeutende 
Luͤcken in der Erzählung derfelben find, fo fällt dieſer ganze 
Grund weg. Um aber darüber volftändig urtheilen zu können, 
müffen wir fragen, wie es mit den Notizen flieht, die wir von 
Paulus haben; denn je mehr wir uns ein beftimmtes Bild von 
feiner Perſon und feinen Berhältniffen machen fönnen, um fo mehr 
haben wir einen beſtimmten Haltungspunct und innern Grund, 


S. 34. 

Dazu haben wir num eben dies beide, theils die Samm- 
lung felbft, welche Gegenftand der Unterfuchung ift, aber bei der 
man fagen muß, daß, je mehr man daraus ein bejtimmtes Bild 
von der Perſon des Verfaſſers und feiner innern Entwidlung 
bekommt, deſto mehr Grund ift, fie für Acht zu halten, theils 


Herkunft und Bildung des Paulus. “ 128 


die Notizen’ der Apoftelgefchichte. Hier ift alfo zuerjt zu bemerken, 
was wir von Pauli Herkunft und von der Art und Weife feiner 
perfünlichen Entwidlung oder Bildung wiſſen koͤnnen. 

Sn einer feiner Neden in der Apoftelgefchichte giebt fich Pau— 
lus als einen Gilicier aus Zarfus zu erfennen‘!). Wenn er 
anderwärts 2) fagt, er fei 'Eßowiog 2 "Eßoxiwv,, fo hat man 
daraus den Schluß machen wollen, daß feine Eltern früher in 
Palaͤſtina gewohnt haben 3), weil "Eßgeios eine Bezeichnung der 
Ginwohner des Landes fei. Aber genau genommen müßte er 
dann auch felbit in Paläftina gelebt haben und geboren fein, wo— 
gegen jene Stelle in der Apoftelgefchichte fpriht. Es muß alfo 
2: "Eßoaiov fo verftanden werden, wie "EAgeios felbft. | 

Sn eben diefen Reden fagt der Apojtel *), und es finden fich 
auch fonft mehrere Spuren davon, daß er das römifche Bürger: 
recht hatte, und zwar von Geburt an. Wir haben feine Notiz 
darüber, daß Tarfus die Civität gehabt hätte, Pauli Eltern Fünnen 
fie aus irgend einem Grunde befeflen haben, aber es folgt daraus 
nicht, daß auch die ganze Stadt fie hatte. 

Zarfus hatte eine zahlreiche Sudenfchaft, aber auch eine be- 
deutende griechifche Schule; es fragt fih nun, ob Paulus eine 
bellenifche Bildung erhalten hat. Doc ift dies von Feiner großen 
Bedeutung; die einzige Folgerung würde wohl die fein, daß, 
wenn er griechifch gebildet war, man um fo weniger annehmen 
fünnte, daß er feine Briefe aramäifch gefchrieben habe. Aber es 
ift fhon an fich ganz unwahrſcheinlich, daß er überall aramaͤiſch 
gefprochen und bei feiner Verkündigung an die Heiden immer ei- 
nen Dollmetfcher bei der Hand gehabt haben follte; denn dann 
würden feine Neden Feine große Wirkung gehabt haben. Hat 
er nun griehifch ſprechen koͤnnen, fo Eonnte er auch griechifch 
fhreiben; aber daraus folgt noch Feine eigenthumlich hellenifche 


{) Act. 22, 3. 2) Phil. 3, 5. 

3) Vergl. die Sage bei Hieronym. comm. in epist. ad Philemon. v. 23. 24.: 
Ajunt, parentes apostali Pauli de Gyscalis regione fuisse Judaeae. 

4) Act. 46, 37. 22, 27.28. 


124 Befehrung des Paulus. 


r 


Bildung, denn er Fam, wie er felbft fagt!), früh nach Jeruſalem 
und wurde in der rabbinifchen Schule des Phariſaͤers Gamaliel 
erzogen. In Serufalem gab es mehrere hellenifche Synagogen, 
wo er feine Uebungen im Griechifchen fortfeßen konnte; aber die 
ganze Sache hat überhaupt gar nicht die Bedeutung, die man 
Darauf gelegt hat; denn vollends, daß er in feinen Briefen zu: 
weilen Stellen aus griechifhen Dichtern anführt, beweiſ't gar 
Nichts, da es fprichwörtliche Redensarten find, die in Aller Munde 
waren, und die er bei feinem Umgange mit Griechen leicht ange: 
nommen haben EFonnte. 

Von feiner rabbinifchen Bildung geben die Acta und feine 
Briefe ein gleichmäßiges Zeugniß in einer Menge von: Eirzeln- 
heiten. — Indem er vor feiner Bekehrung die Chriften verfolgte, 
fcheint er nicht in Webereinftimmung mit feinem Lehrer Gamaliel 
gewefen zu fein, der das Verfolgungsſyſtem nicht billigte, fondern 
die Sache gewähren laffen wollte 2). — Irgend eine Erklärung 
defien zu verfuchen, was mit feiner wunderbaren Befehrung aus 
diefer Verfolgung heraus zufammenhängt, würde nicht zur Sache 
gehören. Aber merkwürdig ift fein eignes Zeugniß darüber, daß 
folche efftatifche Zuftände auch fpater mehrere Male bei ihm vor- 
gekommen find), verbunden mit feiner fo befonnenen und dialec- 
tifchen Entwicklung der Gedanken, was ein pfychologifches Phaͤ— 
nomen ifl. In Bezug auf feine Bekehrung wäre intereffant, zu 
wiſſen, ob nicht eine Vorbereitung, ein innerer Kampf zwifchen 
der heftigen Berfolgungswuth und der Milde feines toleranten 
Lehrers, erweckt durch den Tod des Stephanus, bei ihm vorher: 
gegangen fei, und ferner, ob gleich mit feiner Bekehrung auch die 
Berufung zum Heidenapoftel verbunden gewefen, ob er alfo von 
Anfang an das Chriftenthbum in feiner Univerfalität aufgefaßt 
bat. Ungewiß ift ferner, wo er nach feiner Entfernung von Das 
maskus das Evangelium zu predigen angefangen bat, ob in 


1) Act. 22,3. ? 2) Act. 5, 34—39. 
3) 2. Cor. 12, 1 sqq. Act. 22, 17. 


Abſolute Chronologie des Lebens Pauli. - 125 


Arabien oder in Syrien und Gilicien , oder ob ihm erft der 
Anftoß dazu Fam, als ihn Barnabas nad) Antiochien rief.?) — 
Man hat früher auch darauf Wichtigkeit gelegt, zu unterfuchen, 
woher er den Namen Paulus befommen habe. Einige haben 
gemeint, er fei ihm bei der Zaufe gegeben; als ob damals die 
Taufe mit Namengebung verbunden gewefen wäre, Noch wun— 
derlicher ift die Hypothefe, er habe den Namen in Cypern von 
dem dort erwähnten Sergius Paulus) angenommen. Wahr: 
fcheinlich hatte er den Namen fchon früher, wie die Juden häufig 
griechifche oder lateinifche Namen außer ihren jüdifchen annahmen, 
welche entweder Ueberfeßung derfelben waren oder ahnlich Elangen. 


$.. 39. 

Wenn wir die Sammlung der paulinifchen Briefe als Gan- 
zes für fich betrachten, fo ift nächjt ver Frage nach der Aechtheit 
der einzelnen eine andere, die nach der Zeitfolge derielben, 
wichtig, um ein vollfommnes Bild von dem Gange feiner Gedan- 
fenentwidlung und den Gegenftänden, über die er fchreibt, erlan— 
gen zu Tonnen. Die erftere Frage ift in großem Maaße von der 
letztern abhängig; und überhaupt ift die Chronologie des Apo— 
ftelS eine bedeutende Aufgabe. Es giebt hierüber zwei Unterfus 
chungen, die an Schwierigkeit fehr verfchieden find, nemlich Die 
über die abfolute Chronologie und die über die comparative. 

I. Die erftere ift die Ausmittlung der Zeit, in welcher die 
paulinifchen Begebenheiten vorgefallen find, nach Sahrszahlen, wo— 
bei wir alfo nach den Negierungsjahren der römifchen Kaifer 
rechnen müßten. Nun fommen aber weder in der Apoftelgefchichte 
noch in den Briefen des Paulus folche Bezeichnungen nach Re— 
gierungsjahren der Kaifer vor; man koͤnnte alfo diefe Zahlen nur 
indireet durch Vergleichung folcher Begebenheiten. ausmitteln, die 
auch außerhalb des neuen Teſtaments vorkommen, und deren 


1) Gal. 1, 17-21. 2) Acı. 11, 25. 
3) Acı. 13, 7. 9. 


126 Data zur abjoluten Chronologie des Lebens Pauli. 


Chronologie man aus andern hiftorifchen Schriften kennt. Nun 
aber ift leicht zu ſehn, wie erſtaunlich wenig dergleichen Momente 
es giebt. Pr 

1. Der erfte Punct, der hier feftzuftellen wäre, ift die Befeh- 
vung des Apoftels; aber alles, was man darüber gefagt hat, ift 
unfichere Hypothefe- Paulus felbft erwähnt 2. Cor. 11,32. 33.2), 
wohl auf: befondere Veranlafjung, einer feiner erften Begebenheiten 
nach feiner Befehrung, die man auf nichts Andres als feine erfte 
hriftfiche Predigt in Damascus beziehn kann, nemlich daß er, 
weil Aretas Damaskus belagert habe, genöthigt geweſen ſei, 
aus Damascus zu fliehn. Nun wiſſen wir gar nicht, wann das 
gewefen. Aretas felbft ift zwar befannt, aber nicht, wie er dazu 
fam, Damascus zu belagern, welches ebenfalls, wie er felbft, der 
roͤmiſchen Herrfchaft unterworfen war. Etwa, wovon wir be= 
ſtimmte Nachrichten haben, ift ein Krieg des Aretas gegen Heros 
des; doch daraus ergiebt fih nur die Möglichkeit, daß es 
diefelbe- Begebenheit gewefen fei, deren Paulus erwähnt. 

I, Ferner wird Act. 18,12. der Proconful Annaͤus Gallio, 
Bruder des Senera, erwähnt, als Paulus in Corinth war. Man weiß 
nun wohl auch fonft, daß Gallio in Achaja gewefen aber nicht, wann? 

3, Als Paulus in Jeruſalem gefangen genommen wurde, 
war Felix Procurator in Paläftina. Hier findet man nun die 
erfte abfolute Zeitbeſtimmung, denn Felix wurde nach der ge= 
woöͤhnlichen Annahme im 12. Zahre des Claudius nach Paläftina 
geſchickt. Aber auch diefe Angabe ift nicht ganz ficher; denn Jo— 
fephus erzählt de bell. Jud. IL. 12. 8. nur auf einander. folgend 
die Sendung des Felir ohne Zeitangabe, die Vergrößerung der 
Dotation de Agrippa und den Tod des Claudius nach einer 
Regierung von 13 Sahren und S Monaten; an der andern Stelle 
Jos. antigg. XX. 7. fteht nur, Claudius habe den Felir geſchickt und, 
nachdem er dad 12te Jahr feiner Negierung vollendet, dem Agrippa 
die Tetrarchie des Philippus gefchenft. Alſo ift dies auch nur 





1) Bergl. Act. 9, 24. 25. 


— 


Comparative Chronologie des Lebens Paul. 127 


ungefähr bejtimmt. Wie lange aber Felir fchon in Serufalem 
gewefen, als Paulus gefangen genommen wurde, wird nicht erzählt. 

4. Nah dem Felir wurde Porcius Feftus Procurator, 
wa3 Sofephus ohne nähere Zeitbeftimmung erzählt. Er fagt nur 
Antigg. XX. 8. 9., als Feftus nah Paläftina gekommen fei, 
hätten die Suden Gefandte nach Nom gefhidt, um den Felir 
wegen feiner Amtsführung zu verklagen; aber fie hätten Nichts 
ausrichten koͤnnen, weil damals des Felix Bruder, Pallas, in» 
großer Gunft bei Nero geflanden habe, Mun wiſſen wir wohl, 
wann Pallas hingerichtet wurde, nicht aber, wie lange vorher 
er fchon in Ungnade gefallen. Es ift alfo eigentlich für die ab- 
folute Chronologie gar Fein ficheres Datum vorhanden. 

5. Dafjelbe gilt auch von dem Zufammentreffen des Paulus 
mit Aquilla und Priscilla in Corinth Act. 18, 2., die in 
Folge der Sudenvertreibung durch Claudius aus Italien ausge— 
wandert waren. Nun wiffen wir aber weder, im welchem Sabre 
Claudius dies Edict erlaffen hat, noch wie lange jene Beiden 
fhon aus Rom entfernt waren, ald Paulus fie traf. 

1. Mit der comparativen Chronologie, welche Fein be— 
fiimmtes Datum angiebt, fondern nur ermittelt ,. wie weit die 
einzelnen in der Apoftelgefchichte und den Briefen erwähnten Be- 
gebenheiten aus einander liegen, fteht es nicht viel befjer, al3 mit 
der abfoluten. Die Apoftelgefhichte macht fehr wenig Diftanzen 
bemerklich; am meiften wäre aus Gal. 1. und 2. zu hehmen ; 
aber Gal. 2, 1. findet fih eine Sahrszahl, die fo unmwahrfchein- 
lich ift, dag man nicht weiß, was damit anzufangen if. Man 
hat veoocenv ftatt deuarsoouowv lefen wollen, aber der Text 
ift Gußerlich ganz ungefährdet; man muß alfo verfuchen, wie 
weit man mit der Zahl 14 Fommen kann. Es ift überhaupt 
eine fehwierige und noch nicht gehörig aufgehellte Aufgabe, die 
anderweitigen Nachrichten des Apoftels in feinen Briefen mit den 
Angaben der Apoftelgefchichte zu vergleichen, da leßtere keineswegs 
eine zufammenhängende Erzählung der paulinifchen Begebenheiten 
ift. Man ift über die ganze Compofition der Acta noch nicht 


/ 


F 


128 Zweite Gefangenfchnft des Paulus in Nom. 


im Klaren; da aber überwiegend wahrfcheinlich ift, daß fie 
aus einzelnen unzufammenhängenden Erzählungen zufammenge- 
feßt ift, fo kann eine Neife des Apofteld eben fo gut zweimal 
erzählt fein, wie eine folche leicht ausgelaffen fein kann. 
Die Apoftelgefhichte verläßt den Paulus in feiner zweijaͤh— 
rigen Gefangenfchaft in Rom; bier wiffen wir Nichts, als daß 
‘eben deswegen, weil Feftus ſchon in Palaͤſtina war, als Paulus 
- in Rom gefangen war, dies unter der Regierung des. Nero ges 
fchehen fein muß. Nun ift eine fehr alte Tradition, daß Paulus 
unter Nero in Nom hingerichtet fei. Der natürlihfte Schluß it 
alfo, daß er in die ſer Gefangenfchaft getödtet worden, daß alfo 
feine Wirkfamkeit in demfelben Raum eingefchlofjen fei, in welchem 
die Apoftelgefchichte fich begränzt. Dagegen giebt es aber eine _ 
Ueberlieferung von einer zweiten Gefangenfchaft des Apofteld 
in Rom. Aber wenn wir die beiden Stellen, welche diefelbe 
enthalten, Euseb. hist. eccl. II. 22. und. Hieron. d. script. eccles. 
c. 5., genauer betrachten, fo koͤnnen wir nicht anders fagen, als 
daß es eine hiftorifche Hypothefe ift, um allerlei Schwierigkeiten 
und fcheinbare Widerfprüche im ten Brief an den Zimotheus zu 
befeitigen!). Rom. 15,24. erwähnt Paulus einen Entwurf, nad) 
Spanien zu reifen; nach einer firengen SInfpirationstheorie bes 
hauptet man nun, wenn er es befchloffen habe, fo müffe er auch 
dort gewefen fein. Nun ift es eigen, daß die Tradition von ber 
Zeit zwiſchen der erften und zweiten Gefangenfchaft Nichts berich- 
tet, als daß Paulus in Spanien gewefen fei, wovon aber gar 
fein beftimmtes Reſultat angeführt wird; man fieht alfo deutlich, 
daß dies mir ein Schluß aus der Notiz ift, die Paulus über 
feinen Entwurf giebt. 


1) Erf. Entw.: Wenn Euseb. und Hieron. frühere ähnliche Angaben für 
wirkliche Zeugniffe angefehn hätten, würden fie fih auf fie berufen ha— 
ben. Ja man fann fogar fagen, auch die Nachrichten von dem Märty- 
rerthum Pauli überhaupt in Nom feien unſicher, da die Hauptftellen fie 
mit dem fehr verbächtigen des Petrus in Verbindung bringen. 


Zeitfolge der paulin, Briefe. 129 


$. 36. 


Wenn wir alfo auf diefem "Gebiete einer allgemeinen com— 
parativen Chronologie des Paulus auch nichts Beftimmtes feftfegen 
Eönnen, fo fragt e8 fich, wie es mit der comparativen Chro— 
nologie in Bezug aufdie Briefe felbfb fteht, d. h. in 
wie weit fich ausmitteln läßt, in welcher Reihenfolge nach einan= 
der fie gefchrieben find. | 

Um nun hier ein paar. fefte Puncte zu befommen, fo würde 
ih die ganze chriftliche Wirkſamkeit des Apoſtels in Drei Ab- 
fchnitfe theilen: 1. von feiner Befehrung bis zu feinem Ueber- 
gange nach Europa, 2. von dort bis zu feiner Gefangennehmung, 
3. von diefer bis zu ſeinem ung unbekannten Ende. Briefe alfo an eu- 
ropäifche Gemeinden, die auf einem perfönlichen Berhältniffe beruhen, 
koͤnnen nicht im erften Abfchnitte gefchrieben fein; alle Briefe aber, 
in denen er feine Gefangenfhaft in Nom erwähnt, müffen in 
den dritten Abfchnitt fallen; diejenigen aber, in denen Feine Ge- 
fangenfchaft erwähnt wird, und die an europäifche Gemeinden 
gefchrieben find, müffen aus dem zweiten Zeitraum fein. Ob 
aber einige von denen, welche Paulus an nichteuropäifche Ge— 
meinden fchrieb, aus dem erften Zeitraum find, müffen wir un— 
gewiß Taffen. Dies trifft befonders den Brief an die Galater 
und den an Zitus. Lebterer findet den Titus in Creta, und 
bezieht fih auf eine frühere Anwefenheit des Apoftels dafelbft; 
wüßten wir nun, in welcher Zeit er mit dem Titus befannt ge: 
worden, und wann er in Greta geweſen iſt, fo wären wir darüber 
im Keinen D), 


1) Erſter Entw.: Möglich bleibt, daß gegen bie gemeine Meinung 
der Briefan die Gal. (nur muß man 2, 1—9 dann von „einer 
frühern Reife verfiehn als zum fogenannten Concil) und der Br. an 
den Zitus in den erften Abfchnitt gehören; aber wahrfcheintich if 
es nicht. Ueber Titus ift nichts zu fagen, da er ohne allen Zufammene 
bang mit Act. iftz aber eben deshalb kann dies nichts gegen dem Brief 
beweifen. 


Einl. ins N. T. 9 


130 | i Zeitfolge der paulin, Briefe. 


Nun wollen wir fehen, wie wir Die Briefe einigermaßen 
ordnen Tonnen: 

Der erfie Brief an die Theffalonicher hat eine große 
Wahrfcheinlichkeit, nicht lange nach der Stiftung diefer Gemeinde 
gefchrieben zu fein, weil darin folche Umftände erwähnt werden, 
von denen Feine Notiz genommen würde, wenn fchon ein länge- 
ver Zeitraum dazwifchen wäre. Es ijt alfo wahrfcheinlich, daß 
Paulus diefen Brief während feines Aufenthalts in Gorinth ges. 
fchrieben hat, wohin wir nad der Apoftelgefchichte ihn von der 
Gründung der Gemeinde in Theſſalonich verfolgen koͤnnen. Wahr: 
fcheinlich ift alfo dies der frühefte paulinifche Brief. 

Sm erfien Briefe an die Eorinthber erwähnt der 
Apoftel, daß feit feiner Anwefenheit mehrere Lehrer dort gewefen, 
die Beranlaffung zum Streit gegeben. Es muß alfo ein Zeit: 
raum dazwifchen liegen; doc braucht diefer nicht fehr lang zu 
fein, da der Zufammenfluß von Fremden in Corinth fehr groß 
war. Ein beflimmtes Datum finden wir cap. 16,8. 19., wo Pau= 
us fagt, er gedenke noch bis Pfingiten in Ephefus zu bleiben. 
Vorher foricht er von einer befchloffenen Keife nad) Macedonien; | 
Act, 20, 1. wird erzählt, daß er von Ephefus nach Macedonien 
ging; hier flimmen alfo wieder beide Quellen zufammen. Es ift 
alſo wahrfcheinlich, daß Paulus den erften Brief an die Corinther 
während feines Aufenthalts in Ephefus Act. 19. gefchrieben hat. 

Sm zweiten Briefe an die Corinther find mehrere 
Notizen, cap. 2, 13. 7, 3. 9, 2., welche zeigen, daß er auf jener 
im erften Briefe, angekündigten Reife in Macedonien gefchrieben 
if. Er Enüpft fi alfo auch an die Apoftelgefchichte an, und 
zwar auf ganz unverdächtige Weile. 

Im Briefe an die Römer ſpricht Paulus cap. 15.25—32. 
von einer Reife nad) Serufalem mit der in Macedonien und Achaja 
gefammelten Beifteuer, von wo er dann die Reife nach Spanien 
zu unternehmen und dabei auch die Römer zu befuchen gedachte. 
Act. 20. lefen wir auch, daß er in Corinth befchloß, nach Jeru— 
falem zu reifen. Diefer Brief ift alfo während feines Aufenthalts 


Briefe aus der Gefangenichaft Pauli. 131 


in Gorinth Act. 20. gefchrieben,. und der letzte ae; hi) aus 
dem zweiten Abfchnitte. 

Nun haben mir mehrere Briefe, in. denen ſich Paulus be- 
ſtimmt ald Gefangenen bezeichnet, an die Ephefer, Philipper, 
Golöffer, Philemon und den zweiten an Timotheus. 
Aber dies reicht nicht hin, um zu beftimmen, daß: diefe Briefe 

aus dem dritten Zeitraum find, denn Paulus fonnte ja in meh: 
teren Fällen gefangen gewefen fein, da wir nicht feine vollftän- 
dige Gefchichte in den Actis haben ; auch hatte er fchon in Seru= 
falem und Gäfarea daſſelbe Schikfal. Wenn. alfo nicht Rom be: 
flimmt als Ort der Gefangenfchaft erwähnt wird, fo Eönnten 
wir darüber zweifelhaft fein. Denken wir nun zugleich an jene 
problematifche zweite Gefangenfchaft in Rom, fo müßte man 
doch Zeichen haben, zu unterfcheiden, daß einige von den Bries 
fen in die erfle, andere ‚in die zweite gehören. So viel geht 
hervor, daß der Brief an die Coloſſer und der an Philemon 
zufammengehören, und daß damal Paulus gute Ausfichten 
hatte. Nun iſt ferner eine große VBerwandtfchaft zwifchen dem 
Inhalte des Briefes an die Coloſſer und des an die Ephefer; 
fie koͤnnen alfo der Zeit. nach nicht weit aus einander liegen. 
Doch erregt eben diefe Verwandtſchaft und der Umftand, daß Pau⸗ 
lus im Epheferbrief feines langen Aufenthalts in Ephefus gar 
nicht erwähnt, Verdacht gegen diefen Brief, wozu no fommt, 
daß in einigen Handfchriften der Name des Orts in der Ueber- 
Schrift fehlt. In dieſem Briefe find nicht fo fehr die guten Aus- 
fihten vorherrfchend. — Im zweiten Briefe an Zimotheus herrfcht 
die Erwartung des Todes vor; zugleich aber erwähnt- Paulus 
mehrerer kleiner Umftände aus der frühern Lebensperiode des 
Zimotheus und dem VBerhältniffe, welches urfprünglich zwifchen 
ihnen beiden flaftgefunden. Deshalb find viele Bedenken entftan- 
den, denn diefe Anführungen. weifen in die erfte Zeit der gemein- 
ſchaftlichen Wirkfamkeit des Paulus und Zimotheus, jene Ausfich- 
ten auf den Tod dagegen in bie letzte Zeit ſeiner Gefangenſchaft. 
Aus dem Ausdrucke own anoroyie 2. Tim. 4, 16. darf man 
9* 


> — 


— 


132 Die Paftoralbriefe. 


nicht "auf eine zweite Gefangenschaft fehliegen, denn unter &no- 
Aoyio ift nur eine Verantwortung vor Gericht, nicht der ganze 
Rechtshandel und die ganze Gefangenfchaft zu verftehn. 

Ganz ohne: beftimmte Anknüpfung bleiben der erfte Brief 
an Zimotheus, der zweite an die Theffalonidher und 
der an Titus. — In 1. Tim. finden wir nur cap. 1, 3., daß 
Paulus den Timotheus ermahnt habe, in Ephefus zu bleiben, 
während er felbft nach; Macedonien gezogen. Dies weil’t auf 
die Zeit der Briefe an die Corinther und Römer; aber die Apo- 
ftelgefchichte . ift gerade in diefer Zeit fo zufammenhängend, daß 
fi) der Brief gar nicht einfügen laffen will, da ſie dieſer Angabe 
des Briefes widerftrebt. — Vom zweiten Briefe an die Theſſalo— 
nicher glauben Viele, daß er gleich nach dem erften gefchrieben 
fei, und Einige fegen ihn fogar v or den erften. Aber man hat 
. auch allerlei Bedenken gefunden; wenn Paulus am Ende fagt, 
diefen Gruß fchreibe er mit eigner Hand, und dies fei fein Kenn 
zeichen in jedem. Briefe,’ fo hat man daraus gefchloflen, daß Pau— 
lus fchon damals: eine lange Praxis des Brieffchreibens gehabt 
haben muͤſſe, und das will wieder in jene erſte Zeit nicht recht 
hineinpaffen. Auch koͤnnte es fiheinen, als follte dies Verdacht 
gegen den erften Brief erregen, indem weder Diefer noch mehrere 
andere Briefe dies Zeichen der Aechtheit tragen. 

Merkwuͤrdig ift, daß die drei fogenannten Paftoralbriefe, die 
beiden an Timotheus und der. an Titus, in dem Canon des Mar: 
eion gefehlt haben. Allerdings kann man fagen, daß Briefe an 
Einzelne viel länger unbefannt bleiben Eonnten, ehe fie Gemein 
gut‘ der Chriftenheit wurden, und daß, wenn Marcion den an 
den Philemon hatte, dies daher Fam, daß derfelbe mit dem Colof- 
ferbriefe im Zufammenhange ftand. Wenn nun aber gegründet 
wäre, was eine alte Tradition fagt, daß Timotheus lange Zeit 
in Epheſus Vorſteher der Gemeinde gewefen, fo ließe ſich nicht 
denken, daß Briefe eines Apofteld an ihn dort nicht gleich follten 
firchlich geworden fein. Da fehen wir alfo, wie nicht Alles in 
diefer Sammlung gleiche. in die Augen fallende Sicherheit hat. 


Glaffification der Briefe nad) ihrem Inhalte, 133 


Wenn wir hiernach claffifieiren wollten, fo würden am unbeftreit- 
barften die Briefe fein, welche in der zweiten Periode -gefchrieben 
find; dazu würde aber noch auf jeden Fall der Galaterbrief kom— 
men, feine Zeit mag fein, welche fie will, denn er trägt nicht ‚allein 
das paulinifche Gepräge vorzitglid an fich, fondern hat auch meh— 
rere Notizen aus dem Leben des Apoſtels, die Niemand fonft 
wiflen Fonnte. — Hieraus folgt aber nicht, daß die andern Briefe 
unaͤcht find, fondern nur, daß fich ihre Aechtheit nicht fo. beftimmt 
nachweiſen laßt; wir fielen fie daher in die zweite Reihe. 


5,37, 
Betrachten wir die Briefe des Paulus auf eine mehr inner- 


liche Weife, fo gruppiren fie fih anders. Wir müffen dabei auf 
die Natur des Brieffchreibens und auf die damalige Art und 


Weiſe defjelben Nüdficht nehmen. Der Brief iſt der Stellver- 


— 


treter der muͤndlichen Rede, und man kann alſo, indem man No— 
tizen von einem Entfernten bekommen hat, einen beſtimmten 
innern Impuls haben, ſich der ſtellvertretenden Briefrede zu 
bedienen. Nun aber tritt hier eine Differenz ein zwiſchen unſrer 
Zeit, wo ein beſtaͤndiger Zuſammenhang mit jedem beliebigen ent— 
fernten Puncte iſt, und einer Zeit, wo Alles nur von einer guͤn— 
ſtigen Gelegenheit abhing. Hiernach laſſen ſich zweierlei Ver— 
haͤltniſſe denken, 1. es kann der Impetus zum Briefſchreiben 
ſehr ſtark und dringend ſein; alsdann kommt es darauf an, ob 
man ſich eine Gelegenheit machen, oder darauf warten ſoll; 2. es 
kann auch ſein, daß ohne einen beſtimmten Impetus eine Gele— 
genheit da iſt, einen Brief abzuſenden, die man benutzt, um 
die Gemeinſchaft zu erneuern. Beides giebt natuͤrlich den Brie— 
fen einen ganz verſchiedenen Character. Wenn dem Briefe ein 
ſtarker Impuls zum Grunde gelegen hat, ſo kommt Alles in dem— 
ſelben auf dieſen Punct zuruͤck; wenn dagegen nur die gute Ge— 
legenheit den Entſchluß zum Schreiben hervorgerufen hat, ſo wird 
der Brief leicht den diffuſen, unbeſtimmten Character haben, wie 
ein Geſpraͤch, das der Zufall herbeifuͤhrt. Dies ſind aber nicht 


134 Glaffification der Briefe nach ihrem Inhalte. 


reine Gegenfäge, fondern verfchiedene Charactere, und die einzel- 
nen Briefe werden nur mehr auf der einen oder auf der andern 
Seite liegen. ‚Der Teßtere Fall kann nun noch wieder unterfchie= 
den werben: es kann fich Gelegenheit darbieten, an Gemeinden 
oder Perfonen zu fchreiben, mit denen der chriftlidhe Lehrer in 
einem beftimmten WVBerhältniffe fteht; oder aber dies beftimmte 
Berhältniß Tann ganz fehlen, aber der Schreibende doch gern bei 
der dargebotenen Gelegenheit ein Wort der chriftlichen Anz 
fprache mittheilen wollen. — Da es nun immer Reifende waren, 
welche diefe Gelegenheit der Ueberfendung gaben, und welche leicht 
mehrere Puncte berührten, wo chriftliche Gemeinden fich fanden: 
fo läßt es fich denken, daß ein Brief an mehrere Gemeinden 
gerichtet war, welcher ſich dann natürlich mehr an das Allgemeine‘ 
halten mußte. Dies ift die Idee eines encyclifchen oder Cir— 
cular-Schreibens. Doc haben wir unter den paulinifchen - 
Briefen vielleicht eigentlich nur einen, den man fo anfehn Fann, 
den an die Ephefer, der in andern Handfchriften ohne Orts— 
namen ift. Anders ift es mit dem Briefe an die Coloffer, 
denen Paulus fehreibt, fie möchten diefen Brief nah Laodicea 
ſchicken und fich ebenfo den von ihm nach Laodicea gefchriebenen . 
mittheilen laffen ; dies ift nur ein Austaufh. Noch ein andrer 
Salt ift bei dem Briefe an die Galater; denn dies ift nicht 
Namen eines Orts, fondern einer Landfchaft, die hauptfächlich 
aus einer Anzahl Städte beftand, die in einem engern Verhältniffe 
zu einander waren. Da haben wir alfo Urfache, vorauszufegen, daß 
‚in allen oder den meiften diefer 12° galatifhen Städte hriftliche 
Gemeinden waren, an welche der Brief gerichtet ward, weil in 
allen gleiche Umftände müffen gewefen fein; diefer Brief ift alfo 
ein Gircularfchreiben, aber für einen gewiſſen Kreis. 

Wir koͤnnen alfo unter den Briefen unterfcheiden: 1. folche, 
welchen eine Nothwendigfeit, beftimmte Gegenftände zur Sprache 
zu bringen, zum Grunde liegt; 2. folde, die aus guter Gelegen- 
heit entftanden, aber fi) auf beſtimmte Verhältniffe zwifchen 
Schreibenden und Leſenden beziehn; 3. foldye, die bei guter Gele: 


Glaffification der Briefe nach ihrem Snhalte. 155 


genheit ohne beftimmte Motive und ohne folhe ftattfindende Ver- 
bältniffe bloß aus dem Impetus des Lehrens im Allgemeinen ge= 
fchrieben find. — Bei den Briefen von der erſten Art wird fich 
der Apoftel immer in demfelben Berhältniffe zu den Empfangen: 
den befinden, wie bei denen von der zweiten Art; daher finden 
wir in vielen Briefen nach einer zufammenhängenden Auseinan= 
derfegung eine Menge einzelner Ermahnungen ohne beftimmten. 
Sufammenhang, weßhalb man bei diefen gewöhnlich den Didac- 
tifchen und den gnomiſchen Theil unterfcheidet. In Briefen 
von der zweiten Art fondert fich dies weniger; fie find von e i— 
nem Guß, aber freier in der Form. Wir wollen alfo die einen 
Gefhäftsbriefe, die andern Gelegenheitsbriefe nennen, 
und bei den letztern die mit freundſchaftlichen Herzens— 
ergießungen von denen unterſcheiden, die mehr Analogie mit 
der muͤndlichen Verkuͤndigungsrede haben. Fuͤr dieſe drei 
Charactere haben wir beſtimmte Muſter in denjenigen pauliniſchen 
Briefen, die einen derſelben am reinſten ausdruͤcken, waͤhrend an— 
dere mehr gemiſcht erſcheinen. Zur erſten Claſſe gehoͤren am 
meiſten die beiden Briefe an die Corinther und der an die Gala— 
ter. Die Corintherbriefe beziehn ſich theils auf Anfragen 
über bedeutende Puncte der Lehre und des Lebens, theils auf 
Nachrichten, die Paulus von dort erhalten hatte. Da finden 
wir nun, daß ihnen die genauefte Anfchauung der dortigen Um— 
fände zum Grunde liegt, fo daß auch der Lefer die Verhältniffe 
durchfehen Fann. Nun war der Reichthum der zu behandelnden 
Puncte fehr groß, und die Behandlung im hohem Grade eifrig 
und aufgeregt; daher erfcheint bei diefen am wenigften ein folcher 
zweiter, gnomifcher Theil, fo daß wir nur am Ende perfönliche 
Notizen finden. — Diefen am nächften fteht der Salaterbrief, 
wo die Verhaͤltniſſe wefentlich diefelben waren ). — Als das voll- 
Eommenfte Mufter der zweiten Claſſe fonnen wir den Brief 


1) Erf. Entw.: Gal. ift poftulirt wie Cor., auch diefelbe Lebendigkeit; 
aber da nur Ein Gegenftand herrfcht, fo ift auch Annäherung an Röm. da. 


136 Claffification der Briefe nach ihrem Snhalte. 


an die Philipper anfehn, der ald eine Herzensergießung er— 
fcheint, weßhalb Fein beftimmter Faden fich durchzieht, Feine be- 
fiimmte Idee darin prädominirt, und daher auch ein zweiter 
Theil von dem erften fich weniger fcheidet. Es findet fich aller- 
dings auch einzelnes Gefchäftliche im Briefe, aber es ift der Art, 
daß es eben fo gut mündlich durch den Ueberbringer abgemacht 
werden Eonnte und daher gar nicht hervortritt.— Die Briefe 
an die Coloffer und Ephefer gehören offenbar zu diefer 
zweiten Art, find nur aus Gelegenheit entftanden, enthalten zwar 
viel Didactifches, aber ohne Ruͤckſichtnahme auf befondere Ver— 
haltniffe. Man hat diefe Unterfchiede oft ganz überfehen und 
Driefe von der zweiten Art ebenfo behandelt, wie foldhe von der 
erften, bei denen die Aufgabe entfteht, ihre Veranlaſſung aus ih: 
nen felbft zu erkennen. Dies fann man bei denen an die Corin— 
ther und Galater fehr gut; wenn man aber aus denen an die 
Philipper, Ephefer und Goloffer ebenfalls Schlüffe auf die Be— 
fchaffenheit der Gemeinden machen will, fo hat dies nie gelingen 
fünnen und wollen, weil die ganze Anlage diefer Briefe gar nicht 
darnach eingerichtet ift.— Der erfie Brief an die Theffalo- 
nicher erfcheint vollfommen ebenfo aus der Gelegenheit entftan- 
den, wiewohl er fich mehr an einen beftimmten Punct hält; ebenfo 
der an die Römer, der zwar nur aus der Gelegenheit ent- 
ftanden ift, aber ven Hauptpunct der paulinifchen Lehre behandelt ?). 
Der zweite Brief an die Theſſalonicher ift dagegen ein 
Gefchäftsbrief, der Aufklärung eines Mißverftändniffes und Bes 
lehrung über einen beflimmten Punct giebt. Der an Philemon 
ift ebenfalls pojtulirt, ein Empfehlungsbrief, und daher nicht Di- 
dactifch; das Gefhäftliche darin ift fehr frei behandelt und mit 
unverfennbarer Feinheit eines Meltmannes. So find auch der 
an Titus und der erfie an Timotheus offenbar Gefchäfts- 


1) Erf: Entw.: Bon der fih am meiflen ver Verfündigungsrede nähern 
den Form ift Röm. der reinfte Ausdruck. Das Ganze aus einem 
aufgeftellten Thema fich entwidelnd und auch der guomifche RR in 
ftirengern Zuſammenhang übergehend. 


% 


Verlorene Briefe des Paulus, 137 


briefe I), doch gelingt es bei dem letztern nicht recht, den eigent: 
lihen Zufland des Timotheus daraus Fennen zu lernen, mas zu 
den Berdachtögründen hinzufommt. — Der zweite Brief an 
Zimotheus gehört in die andere Gategorie; das Gefchäftliche 
darin iſt Nebenfache, und dad Ganze ift Herzensergiegung- in 
Dezug auf den damaligen Zuftand des Apoftels 2). 


8. 38. 


Vergleichen wir nun dieſe Sammlung pauliniſcher Briefe 
ihrer Quantität und ihrem Inhalt nach mit der ganzen apoſtoli— 
ſchen Wirkſamkeit des Paulus, fo muß es uns als eine wunder= 
liche Vorausſetzung erfcheinen, zu glauben, daß er nicht viel mehr 
Driefe gefchrieben, als wir haben. Wenn wir die große Menge 
feiner Beziehungen zu Perfonen und Gemeinden betrachten, ferner 
die eichtigkeit der Behandlung, die aus feinen Briefen hervor- 
leuchtet, und dazu nehmen, daß er faft nie ohne eine mehr oder 
minder zahlreiche Begleitung war, die er zu feinen Gefchäften 
gebrauchen und auch mit Reifen beauftragen konnte: fo fehen wir, 
daß auch von diefer Seite Fein Grund vorhanden ift, daß er 
feine epiftolifhe Wirkſamkeit hätte fo befchränfen follen. Wenn 
wir nun nicht von der Vorausſetzung ausgehn, was wohl- jeht 
Niemand mehr thut, daß nichts von den Apofteln Gefchriebenes 
verloren gegangen fei: fo haben wir feinen Grund, unfre Briefe 
des Upofteld für die einzigen zu halten. Wir brauchen daher 
auch nit den Briefan die Laodicener, der Gol. 4, 16. 
erwähnt wird, durchaus für einen Brief, den wir noch haben, zu 
halten, und den an die Gorinther, der 1. Cor. 5,9. genannt 
wird, durch eine Eünftliche Auslegung anders zu erklären; fondern 
es find verloren “gegangene Briefe. Denken wir an die Kata, 
denen folche Eleine Schriften ausgefekt waren, ehe an die Samm— 


1) Erf. Entw.: allein da nur Aufträge von feiner Seite, fo mehr Ruhe 
als in den Corintherbriefen. 
2) Bergl. zu diefer Elaffification Schleierm. Sendſchr. über 1.Tim. 
©. 129—139. 


138 Zengniffe für die Wechtheit der einzelnen paulin. Briefe. 


lung gedadyt wurde, zumal da viele nicht weiter bekannt fein 
mochten: fo entfcheidet fich leicht das Bild von der epiftolifchen 
Wirkſamkeit des Paulus dahin, daß die Briefe, die wir haben, 
nur die oworerve find. Aber auf der andern Seite ift wohl nicht 
wahrfcheinlich, daß Paulus etwas Andres, als Briefe gefchrieben ; 
denn feine ganze apoftoliihe Wirkfamfeit ging in der VBerfündi- 
gung des Evangeliums auf, und darauf beziehn ſich alle feine 
Driefe, und die, welche einen beflimmten Gegenftand durchführen, 
bleiben ganz in dem Character des Brieflichen, als Vorbereitun— 
gen zu feiner weitern Verkündigung. 


8. 39. 

Sn Beziehung auf dieſe Sammlung al3 einen befondern 
Theil des neuen Teſtaments koͤnnen wir einen Schritt weiter gehn, 
„als dort, wo wir das ganze N. T. ald Einheit behandelten, und 
nun fragen, wie es um die Zeugniffe der Aechtheit für die ein- 
zelnen Theile diefer Brieffammlung fteht, wenn wir über die Zeit 
der zaımn Iadyan hinausgehn. Wir haben Notizen in priftlichen 
Schriftſtellern, die Alter find, alS die Zeit der Sammlung, und 
außerdem Nachrichten in fpätern über ältere, befonders in der 
Kirhengefchichte des Eufebius, der es ſich zur Aufgabe gefekt 
hat, nachzuweiſen, welcher apoſtoliſchen Schriften ſich die frühern 
Schriftfteller bedient haben. Nur müffen wir hierbei mit der ge= 
hörigen Behutfamkeit zu Werke gehn. 

Um die Mitte des 18. Sahrh. bildete fich gegen die englifchen 
und franzöfifchen Freidenfer, welche auch die Bibel angriffen, eine 
antideiftifche apologetiihe Schule, an deren Spige man Lardner 
fiellen kann. Aber man unterließ die nöthige Vorſicht und fah 
jede ftrengere Critik mit fcheelem Auge an. So war man viel 
zu freigebig mit Zeugniffen aus alten Firchlihen Schriftftellern 
für die Anführung neuteflamentlicher Bücher. Man muß den 
Unterfchied feftftelen, ob ein Schriftfteller jener Zeit, wo es die 
Sammlung noch nicht gab, einzelne Theile derfelben namentlich 
anfuͤhrt, oder nicht. Im erſtern Falle brauchen die Worte nicht 


Zeugniſſe für die Wechtheit der einzelnen paulin Briefe. 139 


identifch zu fein, fondern nur die Gedanken, um ein unzweifelhaftes 
Zeugniß zu geben, denn die Differenz der Worte erklärt fich leicht 
Dadurch, daß aus dem Gedaͤchtniß citirt ift. Ganz anders 
ift e8 aber, wenn die Theile des N. T. gar nicht namentlich ge= 
nannt find, fondern nur Säbe vorkommen, die in unferm N. T. 
auch ftehn. Da kommt es fehr auf die Art des Sakesan. Wenn 
die Stelle ganz ausfchlieglich dem Zufammenhange im N. T. an: 
gehört, fo ift fein Zweifelsgrund dagegen; aber wenn fie prover- 
bieller Natur ift und in jedem Zufammenhange vorkommen konnte, 
fo ift das Gitat unficher,- felbft wenn es mit denfelben Worten 
angeführt würde, mit denen es im N. &. ſteht. Wollen wir 
nur auf die fichern Zeugniffe zurüdgehn, fo beſchraͤnkt ſich ihre 
Zahl ſehr. — Wir finden nun diefe Citationen überall in den 
Lehrbüchern über die Einleitung zum N. &.; ich will fie daher 
nur nach dem aufgeftellten Schema fondern. 

Zur die Briefe an die Galater und Theſſalonicher 
bat man Zeugniffe aus Polycarp, Clemens Romanus 
und Sgnatius (der freilich felbft eine Aufgabe für die Critik ift, 
weil er fo interpolirt ift) angeführt, die alle zu den unfichern ge- 
hören. Dagegen werden bei Srenaus, Clemens von Ale— 
randrien, Zertullian diefe Briefe ganz beſtimmt citirt. 

Die Briefe an die Corinther und Römer werden von 
Polycarp und Clemens Romanus beftimmt angeführt; 
ebenfo der Philipperbrief von Polycarp. Letzterer ſchrieb 
jelbft an die Philipper, fland .alfo mit ihnen in Berbindung 
und Fannte ihren Brief, ebenfo fehrieb Clemens Romanus an 
die Corinther. Den KRömerbrief hatte Clemens in feiner Kirche, 
und Smyrna hatte mit Nom und Gorinth fo viel Verbindung, 
dag Polycarp diefe Briefe leicht Fennen Fonnte, während andre 
fih ihm verbargen. — Für die Corintherbriefe finden fich 
außerdem beftimmte Zeugniffe bei Athenagoras, bei dem Ber- 
faffer ver epistola ad Diognetum und dann bei Srenäus, 
Clemens Aler. und Fertullian; für den Nömerbrief 
bei Theophilus von Antiochien und dann bei Srenaus, Ele- 


140 Zeugniſſe für die Wechtheit der einzelnen paulin. Briefe. 


mens und Sertullian. Da fehn wir fchon eine weitere Ber: 
breitung, und in Srenaus und Sertullian den ——— in die 
lateiniſche Kirche. 

Fuͤr den Golofferbrief treten Suftin, der für die bisher 
genannten Feine fichere Stellen hat und alfo wohl weniger Kennt: 
niß von neuteftamentlichen Schriften gehabt haben muß, und 
Theophilus auf. | 

Für den Eyheferbrief finden fich beftimmte Anführungen 
bei Polycarp und Ignatius. Dies ift ein merkfwürdiger 
Punct für die damalige Behandlungsweife diefer Gegenftände ; 
denn es ift Ear, daß der Brief an die Epheſer ein fchwieriger 
und zweifelhafter Gegenftand ift, weil Paulus in demfelben 
feiner beftimmtert Berhältniffe in Ephefus erwähnt, auch mit kei— 
ner Silbe feines perfönlichen Verhaͤltniſſes zu diefer Gemeinde 
gedenft, die er doch felbft geftiftet und in der er mehrere Sahre 
gelebt hatte. Dies hatte alfo doch Sedem, der ihn als einen : 
Brief an die Ephefer kannte, einen Zweifel erregen müffen , ob 
es fich mit ihm fo verhalte. Aber Polycarp und Sgnatius hegen 
gar keinen Zweifel; fie nennen ihn als einen Brief des Paulus. 
Ebenfo wenig finden wir, daß fie eine berichtigende Zradition 
gehabt, hätten, die jene Schwierigkeiten erklärte; fondern fie führen 
das ganz ohne Weiteres an. Da nun diefer Brief offenbar ein 
eigentlicher Brief an die Ephefer nicht ift, fo erhellt, wie wenig 
jene Schriftfteller dergleichen Sachen genau nehmen, und wie 
wenig man felbft in fo nahe gelegenen ‚Puncten, - wie Smyrna 
und Ephefus, auf richtige Zradition rechnen kann. 

Daß die älteften Zeugen: Polycarp, Clemens Romanus, 
Ignatius, Zuftin für mehrere paulinifche Briefe Feine Anführun= 
gen haben, Tann“ man offenbar noch nicht zu einem Verdaͤchti— 
gungsgrunde rechnen. Wir müffen fragen, wie viel Gelegenheit 
fie wohl gehabt, diefe Briefe Fennen zu lernen, und wie viel, fie 
anzuführen. Was ſich in Metropolitangemginden befand, Fonnte 
und mußte früher befannt werden. Dagegen Galatien und Co- 
loffa lagen gänzlih ab von der großen Straße, und deshalb 


Reſultat aus den Zeugniffen für die paulin. Briefe. 141 


konnten die dort verwahrten Briefe nicht fo fehnell befannt wer— 
den. Suftin Eannte den Colofjerbrief, weil er feinem Herfommen 
nach ein uutoßaoßeoog war, wogegen er die andern Briefe nicht 
kannte, die alfo auch wieder ihre befondern Gränzen zeigen. 

Der Brief an Philemon hat am wenigften Firchlichen 
Merth, weil er Eeinen allgemeinen Gegenftand behandelt; er war 
aber in der Sammlung des Marcion, welcher in der Gegend 
von Golofja lebte; dort alfo war der Brief einheimifch. Diefen 
Brief erwähnt nun Feiner von jenen Schriftftellern, als der fpätefte 
unter. ihnen, Zertullian, der fich wundert, daß Marcion ihn auf— 
genommen, wahrfcheinlich, weil er ihn in den frühern Schrifte 
ftellern nicht findet. Aber er Eonnte fehr gut auf Privatwegen 
mit dem Briefe an die Eoloffer verbreitet fein, und fo ift er gewiß 
an Marcion gelangt. 

Fur die Daftoralbriefe haben wir bei Polycarp, 
Clemens Romanus und Ignatius nur ganz unfichere 
Anführungen ). Nur für den Drief an Titus ift Tatian 
der ältefte Zeuge. Irenaͤus Fannte diefe drei Briefe, und nad) 
ihm werden fie immer eitirt. — Es ift wahr, daß Briefe an einzelne 
Perſonen länger konnten unbekannt bleiben ; indeſſen merkwürdig 
wäre ed, wenn Zimotheus-lange in Ephefus Vorſteher gewefen, 
und feine Briefe dort doch nicht Eirchlich geworden wären. 

Das Refultat aus diefen Zeugniffen ift alfo, daß die Samm— 
lung der paulinifchen Briefe erft almählig zufammengefommen 
ift, und daß immer die des Marcion, wiewohl nicht vollftändig, 
die ältefte ift, die wir nachweifen können. Später find die Pas 
ftoralbriefe ebenfo wie die andern, aufgenommen. Nun aber tft 
immer der Zuftand der außern Zeugniffe nicht ein folcher, daß 
wir eine fichere gefchichtlihe Zuruͤckfuͤhrung der Handjchriften, 
welcher fich der citirende Schriffteller bediente, auf die adzoyoaye 
hätten zs und bie einzelnen vorhandenen Handfchriften geben Feine 
Sicherheit für deren Gleichmäßigfeit. Allerdings aber koͤnnen wir 


1) Bergl. Schleierm. Sendſchr. über 1. Tim. Seite 16—18. 


142 f Sunere Merkmale der Authentie. 


fagen, daß, wenn die Schriftfieller bis Origenes bedeutende Dif- 
ferenzen gefunden hätten, fie e8 bemerkt haben würden; alſo muͤſ⸗ 
ſen wir annehmen, daß die Codices zu der Zeit noch ziemlich 
gleichmaͤßig geweſen find. — Wie nun aber das frühere Verfah— 
ven in Bezug auf diefe Auctoritäten keineswegs vorfichtig genug 
gewefen ift, und ein fpäteres das Ganze einer neuen Reviſion 
unterworfen und mehr auf die innern Verdachtsgruͤnde Ruͤckſicht 
genommen hat: fo müffen wir nun auch ſehn, wie es mit den 
innern Merfmalen der Authentie bei diefem Theile der, 
‚Sammlung fteht. ! 


* 


g. 40. 


Die Frage, ob eine Schrift einem beſtimmten Verfaſſer an— 
gehoͤre, kann niemals urſpruͤnglich durch innere Merkmale 
ausgemacht werden. Etwas hiſtoriſch Ermitteltes muß immer 
vorausgehn, man muͤſſte ſonſt apagogiſch beweiſen, und das waͤre 
unendlich. 

Das Schreiben iſt eine That. Wie man nun, wenn man 
das ganze Leben eines Menſchen genau kennt, mit einer gewiſſen 
Wahrſcheinlichkeit beurtheilen kann, ob er eine That, die ihm 
zugeſchrieben wird, begangen haben Fann: fo iſt es auch mit dem 
Schreiben. Aber das laßt fich doch nur ermitteln, wenn eine 
gehörige Anzahl von analogen Thaten deflelben Menfchen da ift. 
Wenn wir alfo eine größere Menge von mündlichen Vorträgen 
der Apoftel in fichern Abfchriften hätten, fo koͤnnten wir die Frage 
über Aechtheit ver Schriften mit Wahrfcheinlichkeit beantworten. 
Allein dies ändert fich fogleich wieder, fo bald die Umftände fo 
find, daß man eine Zendenz der Nachahmung und der Unterfchie= 
bung eines fremden Machwerkes vorausfegen muß; denn da läßt 
fi nicht fagen, wie weit es Iemand in Nahahmung bringen . 
kann. Wenn der Nachahmer fehr vorfichtig ift, nicht von That— 
lachen redet, die er nicht genau weiß, wodurch er fich verrathen 
‚ Könnte; und wenn ſich Feine enfgegengefesten Zeugniffe darüber 
finden: fo ift die Unterfuchung von diefer Seite weit fehwieriger. 


Sunere Merkmale für die Authentie der paulin. Briefe. 143 


Fragen wir num, welche inneren Merkmale wir für die Aecht- 
heit der einzelnen Schriften des Apoſtels Paulus aufftelen 
koͤnnen: fo haben wir Nichts von der Art, wovon wir oben ge= 
fagt haben, mit Ausnahme der wenigen Neben, die wir von 
- ihm in der Apoftelgefchichte haben, die aber Feineswegs hinreichend 
find; denn fo viel Analogie, wie ſich dort findet, wäre fehr leicht 
auch von einem Andern hervorzubringen. Thatſachen aus dem 
Leben des Apoftels haben wir auch in der Apoftelgefchichte;, aber 
dies ift nur das Aeußere, und hier gehn die innern Merkmale 
nur auf das Negative zurüd, ob fi Feine Widerfprüche zwifchen 
dem Einen und dem Andern finden. Dabei ift ein fehr wichtiger 
‚Umftand, daß die Apoftelgefchichte ganz über den Verdacht erha- 
ben ift, als fei fie erft mit Ruͤckſicht auf die paulinifchen Briefe 
gemacht ; vielmehr ift ganz Elar, daß die Erzählungen vom Leben 
des Apoftel3 feine Briefe ignoriren, da eine Menge Veranlaffung 
gewefen wäre, die Verhältniffe in den Briefen zu berühren, was 
aber nicht gefchehn ift, z. B. die verwidelten VBerhältniffe, die 
nach den Corintherbriefen der letzten Ankunft Pauli in Gorinth 
vorhergingen , erwähnt die Apojtelgefchichte bei der Erzählung 
diefer Ankunft gar nit. Wir haben alfo einen Haltungspunct 
an der Apojtelgefchichte, und wenn ſich ein Berhältniß eines Brie— 
fes zu ihr ermitteln läßt, fo ift dies ein wefentlicher Beitrag zu 
‚einem richtigen critifchen Urtheil. Da wir nun außer diefem gar 
keinen folhen Haltungspunct haben: fo ift es am zwedmaßigften, 
die Vergleihung zwiſchen den Briefen und der Apoftelgefhichte 
zuerft anzuftellen, fo daß wir die Erzählung der letztern vom Le— 
ben Pauli zum Grunde legen und nun fehen, wie die einzelnen 
Driefe hineinpaffen. 

Die-erfte Erzählung von feiner Bekehrung cap. 9. führt uns 
natürlich hier zu Nichts. Zunächft wird dann cap. 11, 25. er- 
| wähnt, daß Barnabas, von Serufalem nach Antiochien zu der 
. dort entftandenen Heidenchriftengemeinde geihidt, nad Tarſus 
gegangen ſei und den Paulus von dort nach Antiochien geholt 
habe. Vor dieſen Zeitpunct kann keiner der Briefe fallen; denn 


\ 


> 


144 Innere Merkmale für die Anthentie der paulin. Briefe. 


wenn Paulus auch fhon feine apoftolifhe Wirkſamkeit begonnen 
hatte, fo Eünnte dies doch nur in Gilicien und der Umgegend 
fein, wo etwa Golofja und Laodicea lag; aber die dahin gerich- 
teten Briefe find offenbar aus viel fpäterer Zeit. Die Lüde zwi- 
Shen feiner Belehrung und feiner Ankunft in Antiochien füllt 
Paulus felbft aus, indem er Gal.1,17. erzählt, er fei nach feiner 
Bekehrung gar nicht nach Serufalem gekommen, fondern nad) Ara- 
bien und von dort wieder nach) Damascus und dann erft nad) 
Serufalem gezogen, wo er nur den Petrus und Jacobus gefehn, 
und dann nach Gilicien, von wo ihn Barnabas nach Antiochien 
nahm. Bon hieraus machte beide eine Miffionsreife Act. 13, 
2—14,%., während noch ein Gleichheitsverhältniß zwifchen ihnen 
war, und Barnabad auch Apoftel genannt wurde und vielleicht 
eher den erften Rang einnahm. Auf diefer Reife wird Fein Drt 
und Feine Perfon genannt, die mit unfern paulinifchen Briefen 
in Verbindung zu bringen waren. Hernach folgt wieder Antio: 
chenifche Gefchichte, die nicht hierher gehört; erft cap. 15, 36 ff. 
wird erzählt, daß jene Beiden eine zweite Neife antreten: wollten, 
um die auf der vorigen Bekehrten zu befuchen, daß fie fich aber 
über einen Keifegefährten entzweiten, und Paulus mit Silas allein 
die Neife durch Syrien und Gilicien machte. Cap. 16, 1. wird 
erzählt, daß Paulus den Timotheus gefunden und mit fich ge— 
nommen; dies ift das erfie Mal, daß Semand, erwähnt wird, an 
den felbft Briefe vorhanden find, und den wir öfter in der Ge— 
meinfchaft des Apoſtels finden. 


§. 41. 


Act. 16, 6, wird zuerfi Galatien erwähnt, indem erzählt 
wird, die Gefellfchaft fei durch Phrygien und Galatien gereift. Ob 
aber Paulus damals die Salatifche Gemeinde geftiftet „ ift eine 
fehr ungewiffe Sache, und die Gritifer find darüber fehr verfchie= 
dener Meinung. Daraus, daß wir dort lefen: „Nachdem fie 
Phrygien und Galatien durchreiſ't und vom heiligen Geift ge= 
hindert waren, in Afien das Evangelium zu verfünden, u. f. w.,” 


Der Galaterbrief. 145 


läßt fih nun eigentlich Nichts fchliegen. Eben fo wenig geht aus 
Gal. 1, 6. ‚fie fein ouro Tayens in ihrem Glauben wanfend 
geworden‘ bejtimmt hervor, daß der Abfall bald nach ihrer Be— 
kehrung angefangen, ſondern es bezieht. fich dies darauf, daß 
den falfhen Lehrern ihre Verführung nicht viel Zeit und Mühe 
gekoftet habe. Nun haben Einige aus Gal. 4, 13. fhließen 
wollen, daß Paulus, als er diefen Brief fchrieb, Thon zweimal 
müffe in Galatien gewefen fein, indem das zo noozepov ein 
Ösvreoov vorausfeße. Aber dies ift nicht nöthig, denn es Fann 
auch der Anfang derfelben Anmefenheit damit bezeichnet fein. Sn 
den Actis wird Oalatien erſt cap. 18, 23. wieder. erwähnt: nach- 
dem Paulus von Ephefus nach Cäfarea gefommen, hinaufgezogen 
fei und die Gemeinde begrüßt habe, fei er nach Antiochien ges 
gangen, zal Moımoag 490v0v Tıva, 2E7AdE, dregyorsvog nadeknjg 
ınv Talarınyv ywoav xal Dovyiav, Znıoryeituv navreg 
Tovg uadmras. Diejenigen, welche aus Gal. 4, 13. eine zwei— 
malige Anmefenbeit fchließen, nehmen an, daß der Oalaterbrief 
erfi nach Act. 18, 23. gefchrieben fei. Aber es bleibt immer eben 
fo möglich, daß der Brief früher gefchrieben fei an einem Orte, 
wo fih Paulus länger aufhielt. Er fällt alfo entweder vor Act. 
18, 23. und dann wahrfcheinlich in Corinth, oder nachher und 
dann wahrfcheinlich in Ephefus. 

Es bleibt nun noch die Frage übrig, ob aus der Nichter- 
währiung des Apoftelbefchluffes Act. 15, 23 ff. folge, daß der Brief, 
in welchem es fich doch ganz und gar um die Verpflichtung der 
Chriften zum mofaifchen Gefege handelt, früher gefchrieben, und 
alfo auch die Gemeinde vor Act. 16, 6. geftiftet fei. Aber die 
Annahme, welche die Stiftung der Gemeinde nach Act. 14, 6.7. 
verlegt, Paulus habe in der Umgegend von Derbe und Lyſtra 
gepredigt, und Darunter fei Galatien mit begriffen, ift nicht phi— 
(ologifch richtig. Eine Provinz kann nicht ald reoiyweog von 
zwei außer ihr belegenen Eleinen Städten befchrieben werden. — — 
Aber es ift auch im Galaterbrief der Inhalt jenes Apoftelbefchluf- 
ſes indirect erwähnt, Gal. 2, 6 ff., denn Paulus erzählt hier eine 

Einl. ins N. T. 10 


146 Der: Galaterbrief. 


Berftändigung mit den Apofteln, die man fehwerlich auf etwas 
Andres, ald die Zufammenkunft in Serufalem beziehn kann. Es 
find hier Schwierigkeiten, Beides in einander zu paflen; aber es 
fehlen doch nur die genauern Details. Wenn Paulus den Gala- 
tern jene Befchlüffe früherauf eine beftimmte Weiſe bekannt gemacht 
haͤtte, fo hätte er fich) darauf berufen und ihnen einen Vorwurf 
daraus machen müffen. ‘Daraus folgt aber Feineswegs, daß der 
Beſchluß noch nicht "vorhanden gewefen; denm dieeinzelnen Puncte 
deffelben waren immer fo, daß Paulus nicht für nothwendig hal- 
ten Eonnte, fie geradehin-aufzuftellen, außer, wo ein Streit ge= 
wefen :wäre, der: ihn: dazu. genöthigt haͤtte. Das Verbot des 
Dpferfleifches, Blut und Erftidten (Act. 15, 29.) wollte aber 
Paulus, weil es Doch ein grundlofer Zwang war und bei Hei— 
denchriften mit einem Zerreißen ihrer Bamilienverhältniffe verbun- 
den gewefen wäre, nicht erwähnen, fondern er faßte die Abficht 
davon nur in der Negel zufammen, daß man durch den Gebrauch 
der Freiheit Feinen Anftoß geben follte. So ift fein Zweifel, daß 
‚Paulus hier dafjelbe berichtet, 'waS Act. 15. erzählt ift, und der 
Brief bat alle Merkmale der Aechtheit, die nur der Natur der 
Sache nach aus der VBergleichung beider Schriften hervorgehn 
fönnen. Eine größere Uebereinftiimmung wuͤrde auch ein größeres 
Detail in den Briefen und der Apoftelgefchichte vorausfegen ?). 


$. 42. 

Zum innern Beweife der Authentie gehört die Zufammen- 
fiimmung einer Schrift, die irgend einem Verfaſſer beigelegt wird, 
mit dem, was fonft von ihm, äußerlich und innerlich, bekannt ift; 
ift e8 ein Brief, fo kommt noch hinzu die Zufammenftiimmung 


1) Erf. Entw.: Der Galaterbrief bewährt fich nächſtdem innerlich durch 
Gedankenverwandtſchaft mit Röm. und durch dieſelbe dialektiſche Ver— 
knüpfungsweiſe, ſo wie, da er auch auf eine beſtimmte Veranlaſſung 
ſich motivirt, durch die den Korinthiſchen Briefen ähnliche Lebendigkeit. 
Auch Die eigenthümliche Probe von Allegorie paßt zu feiner rabbini- 
ſchen Bildung. N; 


Kern von ächten pauliniſchen Briefen. 147 


mit dem, was man von dem weiß, an welchen der Brief gerichtet 
if. Obgleich dies nun außere Zhatfachen find, fo rechnet man 
es doch zu. den innern Merkmalen, weil fie aus der Sache felbft 
genommen find, wogegen die außern in der Auctorität der Zeu- 
gen beſtehn. — Das Wefentliche nun, was aus der Apoftelgefchichte 
über Paulus erhellen Fann, ift dieſes: Daß er aus einem Yeidenfchaftli= 
chen Verfolger des Chriftenthums plößlich. ein Berfündiger geworben, 
und daß er vorherrfchend die Richtung genommen, das Chriftenthum 
unter die Heiden zu bringen. Dies giebt einen fehr beflimmten 
Character, der fich in feinen Briefen wieder abjpiegeln muß; und 
ie mehr das gefchieht, defto ftärfer ift die Ueberzeugung von ihrer 
Aechtheit. Er muß erftlich zu folchen, bei denen er Befanntfchaft 
damit vorausfegen Fann, aus feiner pharifäifchen Bildung heraus 
fprechen, und zweitens überall die Maxime. durchbliden Iaffen, 
daß das Chriftenthum für Heiden, wie für Suden beftimmt fei. 
Diefer Character tritt mehr oder weniger in allen paulinifchen 
Briefen hervor; und die find die authentifchften, in welchen dies 
am meiften der Fall ift. Dahin gehören auf der einen Seite der 
Brief an die Römer und der an die Galater. Sn diefen 
kommt der Hauptpunct von der Univerfalität des Chriftenthums recht 
eigentlich zur Sprache; die ganze Methode der Ausbreitung des Chri— 
ſtenthums, wie fie hier entwickelt wird, zeigt zugleich fein nationales 
Sntereffe am jüdifchen Volke. Daher wenn Jemand diefen Brief an 
die Römer aus irgend einem andern Grunde anzweifeln . wollte, 
oder wenn ſich aus andern Umftänden entgegengefegte Anzeichen 
ergaben: fo würde doch diefer Character ficher das Uebergewicht 
haben. Wenn wir auf der andern Seite auf das Zufammen- 
fiimmen der Briefe mit den Lebensumftänden des Apoſtels, die 
uns anderweit befannt find, fehen, fo find der erfte Briefan 
die Eheffalonicher und die beiden an die Corinther die, 
welche in diefer Beziehung, deutlih oben an fiehen. Denn die 
Acta erzählen uns ganz beftimmt, auf welche Weife Paulus zuerft 
nach Europa, nah Maredonien gekommen ſei; cap. 17, 1—10. 
wird fein Aufenthalt in Theſſalonich erwähnt; und wenn man 
10* 


148 Kern von ächten pauliniſchen Briefen. 


den erften Brief an die Theſſalonicher damit vergleicht, fo findet 
man die genauefte Uebereinftiimmung, und doch nicht fo fehr in 
allen Kleinigkeiten, daß man. vermuthen Fünnte, der Brief fei 
erft nach den Actis gebildet. Ebenfo verhält es fich mit den Co— 
tintherbriefen; da wird ebenfalls in der Apoftelgefchichte erzählt, 
wie Paulus zuerfi nach Corinth gekommen, und gerade in Be— 
ziehung auf die Stiftung und erften Anfänge diefer Gemeinde 
ift die Erzählung ausführlicher. Wenn man manche Stellen aus 
cap. 18. 19 und 20. mit den beiden Briefen, wo Perfönlichkeiten 
theil5 im Anfange theil am Schluffe vorfommen, vergleicht: fo 
kann man Alles in einander fügen, fo daß fich die Erwähnungen 
in den Briefen und den Actis einander ergänzen, doch fo, daß 
jedes feinen Gang für fi geht, und nicht eins nach dem andern 
gebildet if). Was Paulus im erften Briefe von feinem Vor— 
haben, Ephefus zu verlaffen und nach Europa herüberzufommen, 
erwähnt, ftimmt ganz überein mit dem, was die Apoftelgefchichte 
darüber erzählt; nehmen wir den zweiten Brief dazu, fo. fehn 
wir, daß Paulus Anfangs einen andern Reiſeplan hatte, (nemlic) 


unmittelbar von Ephefus nach Gorinth und dann erft nah Ma: 


cedonien zu gehn), diefen aber aufgab und nach einem andern 
feine Reife einrichtete, die Acta erzählen natürlich nur von dem 
letztern. — Diefe Briefe find alfo durch die erwähnten Thatſachen 


auf eine folhe Weife beglaubigt, wie jene andern durch ihren: 


Inhalt. Daraus folgt wieder: wenn fich follten in dieſen 
Briefen Einzelnheiten in Bezug auf jene innern Thatſachen fin= 
den, die wir nicht aus dem im Allgemeinen darüber Gefagten 
erklären koͤnnten, fo würden diefe hier untergeordnet werden müfjen, 
und wir müßten das Bild des Apoſtels darnach ergänzen. Auf 
diefe Art gewinnen wir für die Beurtheilung aus innern Merf- 
malen einen folchen Kern von paulinifchen Briefen, beftehend auf 


1) Erf. Entw.: Vergl. Act. 18, 1—11. 18—21. ferner 24—27. und 
19, 1. 8-11. 21.22. 20, 1. 2: mit 1. Eor. 16, 9.8. 10. 12. 19. 
u. 2. Cor. 2, 12.13. ferner 2. Core 7, 5.6. 8,16. ff. 9, A. 


Kern von ächten pauliniſchen Briefen. 149 


der einen Seite aus Römer: und Galaterbrief, auf der andern 
aus dem erften an die Zheffalonicher und den beiden an die Co— 
tinther, daß wir einen Maaßftab für die übrigen haben. 

Hieraus ift zu fehn, wie eine ſolche Unterfuchung über das 
Specielle in den einzelnen Briefen unter ſolchen Umftänden nöthig 
if. » Wenn wir 3. DB. die Corintherbriefe ihrem Inhalte 
nach betrachten, fo finden wir allerdings, daß fie mit den Haupt- 
grundzügen ' der Methode der Verkündigung, wie fie fih aus 
den andern. ergeben, ganz wohl zufammenftimmf. Paulus macht 
natürlich einen ‚Unterfehied zwiſchen Sudenchriften und Heidenchri— 
ften; in Corinth hat er :eö nun, wie wir aus den Actis fehn, 
ganz ausdrüdlich darauf angelegt, fich mit der Gemeinde, die er 
bildete, von: der Synagoge unabhängig zu machen, gewiß weil er 
voraudfegte, Daß die Zuden ihm in feiner Wirkfamfeit unter den 
Heiden nur hinderlich fein Fonnten. Was ſich nun von befondern 
Borfällen und darauf fich beziehenden Ermahnungen in den Co— 
rintherbriefen, findet, ſtimmt überein mit dem Zuftande, den wir 
uns bei einer fo entjtehenden Gemeinde’an einem Orte, wie Co— 
rinth, denken muͤſſen. Cinmal war es eine gewiſſe fchroffe Oppo- 
fition der Heidenchriften ‚gegen alles, was: aus der judifchen Praris 
hervorging ; daher die Ermahnung des Apoftels, ſich der chriftlichen 
Sreiheit nur fo zu bedienen, wie es der chriftlichen Eintracht und 
der Gemiffensruhe: Einzelner zutraͤglich ſei. Ferner waren es 
Zerſpaltungen in der Gemeinde, wobei vorzuͤglich Ruͤckſicht genom— 
men wird auf die Anhaͤnglichkeit an Einzelne, die durch gewiſſe 
Talente, beſonders durch redneriſche, ſich ausgezeichnet haben; 
dies ſtimmt ſehr damit, daß in Corinth die Gemeinde ſchon aus 
Gebildeten und Ungebildeten, Reichen und Armen gemifcht fein 
mußte, da Gorinth ein Sig mandjerlei Bildung war, wie fie fo= 
wohl aus Schulen als aus dem allgemeineh Weltverkehr hervor- 
ging. Da ſtimmen alfo die Angaben der Briefe fo fehr mit dem 
an und für ſich Wahrfcheinlichen überein, daß daraus der bün- 
digfte Beweis für die Aechtheit geführt werben kann. 


150 Die beiden Theffalonicherbriefe. 


$. 43. 

Wenn ich nun: vorher nur den erften Brief an die Theſ— 
falonicher in dieſe Glaffe gefeßt habe, fo gefchah dies darum, weil 
der zweite manche Schwierigkeiten. darbietet. Von dem erften 
Drieferan die Theſſalonicher ift wahrſcheinlich, daß er 
nicht lange nad) der Gründung der "Gemeinde bei dem erften 
Aufenthalte des Apoftels in Gorinth und Achaja gefchrieben ift?). 

Bon dem zweiten Theffalonihherbrief läßt fi die 
Zeit fo wenig beſtimmen, daß Einige gemeint haben, er fei vor 
dem erften gefchrieben. Se weniger nun eine Zeitbeflimmung mög: 
lich. ift, defto weniger kann man ſich ein "Bild von dem machen, 
was in diefem Briefe zu: erwarten iſt. Es fommen einige: Stel- 
len darin vor, die Anlaß zu mancherlei Bermuthungen und Zweis 
fel gegeben haben, und man fieht daraus, daß er nicht in diefelbe 
Reihe mit dem erften geftellt werden Tann. — Gap. 2. bittet 
Paulus.die Zhefjalonicher in Beziehung auf die. Wiederkunft Ehrifti 
und unfre, Wiedervereinigung mit ihm, fie möchten fich nicht aus 
ihrer Befonnenheit herausreißen laſſen, weder, Durch begeifterte Rede 
‘ darüber noch Durch Briefe, als wenn der Tag Chrifti nahe fei. 
Nun fucht er gerade in Beziehung auf den Tag Chrifti die Thef- 
falonicher im erften Briefe wegen der unter ihnen Geftorbenen 
zu fröften. Dabei jagt er mit: Beziehung auf Worte Chrifti, 
Daß er unerwartet kommen werde; doch fpricht: er davon als von 





1) Erf, Entw.: Die Art wie Paulus in 1. Theſſ. die unmittelbar vorher— 
gegangenen Begebenheiten in Philippi und die Rückkehr des Timoth. 
(vergl, 1. Theſſal. 3, 1—6. w, Act. 17, 14..18,'5,) erwähnt, beweift 

theils, daß Dies nicht künſtlich aus der: Ap. Geſch. gemacht if, weil dort 

eine .Ausfendung des Timoth,. nach Theſſalonich nicht erwähnt iſt, theils 
dab der Brief nicht ange nachdem Timoth. wieder zu Paulus geftoßen 
iſt, kann gefihrieben fein, weil die Heinen Umſtände fonft nicht vorfom- 
men würden. Diefe Iebereinftimmung ift nun bon der Art, daß fie 
die Aechtheit des Briefes beweift, fo daß wir nach innern Merkmalen 
weiter nicht zu fragen haben, fondern Gedanken, Eompofition, Styl deg- 
halb für Pauliniſch zu Halten Haben, weil fie fih hier finden. 


j — 


Der zweite Theſſalonicherbrief. 151 


einem Ereigniſſe, das er und ſie noch erleben wuͤrden. Wenn er 
nun im zweiten Briefe ſagt, daß ſie ſich nicht uͤber den Tag 
des Herrn beunruhigen ſollen, ſo muß er alſo ſeine Meinung 
hieruͤber ſchon modificirt haben; entweder muͤſſen wir alſo einen 
bedeutenden Zwiſchenraum denken, oder daß er zu einer ploͤtzlichen 
Aenderung ſeiner Ueberzeugung beſtimmte Gruͤnde gehabt, von 
denen aber Feine Erwähnung: geſchieht. Wenn er im erſten Co— 
zintherbrief über die: Auferftehung und das: Ende der menfchlichen 
Dinge redet, ſo fehn wir Feine Spur’ einer Vorausfeßung, daß 
dies etwas Nahes fei; fo wie im Roͤmerbriefe die Vorausſetzung, 
daß ganz Iſrael ſelig werden ſolle, dieſem geſchichtlichen Bufam- 
menhange einen weit groͤßern Spielraum laͤßt. Von einer ſtren⸗ 
gen Inſpirationstheorie aus muͤßte man es nun fuͤr undenkbar 
erklaͤren, daß ein inſpirirter Mann uͤber ſolchen Gegenftand: feine 
Anficht geändert habe; man müßte alfo einen Brief, worin von 
einer nahen Wiederkunft Chrifti geredet wird, für unächt erklären. 
Aber fo weit iſt Niemand auch mit der einfeitigften Infpirations- 
theorie gegangen; man hat dann gefünftelte Auslegungen gemacht. 
Verſetzen wir uns in die damalige Zeit, ſo mußte zu Anfang der 
Wirkſamkeit der Juͤnger Chriſti, als ihre Erfolge noch ſo gering 
waren, die Sehnſucht nach einer Wiedervereinigung mit Chriſto 
deſto größer fein, wogegen ſpaͤter, als die Ausdehnung des Chri— 
ſtenthums mehr zunahm, dieſe Sehnſucht vor der Groͤße der un— 
mittelbaren Aufgabe, die alle ihre Kraͤfte in Anſpruch nahm, zu⸗ 
ruͤcktreten mußte. Man kann alſo es nur natuͤrlich finden, daß 
Paulus im Anfange die Vorſtellung von einer nahen Wiederkunft 
Chriſti mehr hatte, als ſpaͤter; daher muͤſſen alſo die Briefe, in 
denen das Erſtere vorkommt, früher ſein, als die andern. Da 
nun im zweiten Theſſalonicherbriefe noch eine Wirkung des erſten 


vorausgeſetzt wird: fo kann er nicht viel fpäter, als ber erfte, 


gefchrieben fein. Es ift auch nicht wahrſcheinlich, daß Paulus in 
der Zeit zwiſchen den beiden Briefen in Theſſalonich geweſen fei, 
da dann der Apoftel die Sache würde mündlich erläutert haben; 
cap: 2,5. fpricht Feineswegs dafür, denn nehmen wir die andern 


152 Der zweite Theſſalonicherbrief. 


Verſe, in denen er von feinem Dortſein ſpricht, hinzu ): fo iſts 
am natuͤrlichſten, Alles, auf feine erſte Anweſenheit bei der Stif— 
tung der Gemeinde zu beziehn. — Etwas Näheres über die Zeit- 
beftimmung haben wir nicht.) Einige haben die Stelle cap. 3,2. 
auf die Angriffe, die gegen ihn in: Ephefus —— bezogen, 
was jedoch eine zu loſe —— ift2). 


1) Berg. 2. Chef. 3, 10. und 1.250f[. 1, 11:52 Theft 3,8. und 1 Thefl. 2,9. 
2) Erfier Entw.: Daß diefer Brief wenigftens ſpäter geſchrieben ſei 
als der erfte, geht faft fhon aus :2. Th. 2, 15. hervor. Noch mehr 
aber deutet der, Ausdruck 2, 5. darauf, daß P. damals nur Einen Auf- 
enthalt in Theſſal. gemacht hat. Ich würde ihm alfo vor Act. 20, 1. 
fezen in den Eppefinifchen Aufenthalt. Aber nicht gern in Act. 19, 
21. 22. weil in 2. Theſſ. keine Erwähnung eines baldigen Wiederſehns 
vorkommt. Auch finde ich nicht in 2. Thefſ. 3, 2. eine Anſpielung auf 
9 die Ephefinifchen Un ruhen, denn der: Say ov yuo nuvrwv 7 nioris delt 
tet eher auf folche, die in einer noch nicht gründlichen Verbindung, mit 
„ber Kirche ftehn, als auf offenbare Gegner. — Man hat aber (Schmidt) 
Zweifel gegen diefen Brief erregt wegen 2.32 und 3, 17., als ob näm- 
lich diefer Brief den Gedanfen des erſten verwürfe und den erften felbft 
verdächtig machen wollte: Alfein ein untergefchobener Brief wird am 
wenigſten wollen ein Kennzeichen der Aerhtheit angeben; zumal wir doc), 
daß Paulus: es wirklich fo gehalten, aus Gal. wiffen. Aber eben fo 
wenig kann dies den erfien Brief verdächtig machen. DielSache kommt 

- auf zwei Fragen zurüd, Iſt wirklich ein Widerſpruch zwifchen 1. Theſſ. 
4, 15. u. 2. Theſſ. 2, 2. und ift die Stelle 2. Theſſ. 2, 3 ff. etwas des 

‚ Apoftels unwürdiges? Widerſpruch zwifchen 1. Theſſ. A, 15. u. 2. Theff, 
2, 2. befteht eigentlich nit. An der erfien Gtelle ift Feine Abficht, 
Zeit zu beflimmen. Die Theffalonicher fahen ſich ſelbſt der Mehrzahl 
nach an als übrigbfeibende, und in dieſe Borausfezung geht Paulus 
ein; fein Zweck ift bloß zu zeigen, daß Fein Unterfchied zwiſchen Leben— 
den und Todten beftehe. Gefezt aber au, er hätte hier. Zeit beſtim⸗ 
men wollen, fo iſt noch ein, großer Unterſchied zwiſchen der Unmittel- 
barkeit. des dviormre und dem Hinausfhieben an das Ende einer Ge- 
neration. Eben fo wenig. kann man behaupten, daß die ganze Dar- 
fiellung 2. Th. 2, 3 ff. unpauliniſch ſei. Sie ift nicht daffelbe mit An— 
lichriſt und hängt vieleicht zufammen mit feiner im Römerbrief aufge: 
fiellten Theorie über die Berwerfung der Juden, wenn er fich gedacht 


Die : Corintherbriefe. _ 153 


man 6.44. e 
Aenn wir nun zur Conſtatirung der Verhaͤltniſſe, aus wel— 
3 uns die innern Kennzeichen der Aechtheit der Briefe hervor: 
gehn muͤſſen, die Apoſtelgeſchichte weiter verfolgen, ſo fuͤhrt ſie 
von Macedonien den Paulus nach Athen und von dort nach 
Corinth, cap. 18. Hier ward er mit Aquila und Priscilla 
bekannt, die wegen des Edicts des Claudius kuͤrzlich aus Rom 
gekommen waren. Paulus verkuͤndigte in der Synagoge das 
Chriſtenthum; als aber ſich eine Oppoſition dagegen erhob, trennte 
er ſich von derſelben und predigte im Hauſe eines Proſelyten 
Juſtus. Nachdem er 1%, Jahr in Corinth geweſen, wo auf eine 
Anklage der Zuden Galio nicht einging, ſchiffte er nach Syrien, 
hielt aber zuerfi in Ephefus an, und ging von da nad) Caͤſa⸗ 
rea, Serufalem und nach Antiochien. Cap. 19. fängt ganz abs 
gebrochen an, fo daß hier eine Luͤcke zu fein fcheint: er habe Ga— 
latien und Phrygien durchreiſ't und fei dann nach Ephefus ges 
fommen, wo. er fich zwei Sahre aufhielt: und feine Gemeinde 
ebenfall5 von der Synagoge abfonderte. V. 21.22. wird erzählt, 
er habe eine Reife nach Macedonien und Griechenland machen 
wollen, um von Dort nach) Serufalem und dann nah Rom zu 
gehn, und habe deshalb zwei Schüler vorausgefhidt, während 
er. felbft noch einige Zeit dageblieben. : Cap. 20. folgt feine 
zweite Reife nach Macedonien und PR die aber nur 
ganz Eurz berührt wird. Ä 
" &o haben wir alſo den Apoſtel als Stifter Pr Gemeinde 
in Corinith, und fein Berhältniß zu. derfelben ift vollfommen 
feftgeftellt. Die Schwierigkeiten bei Vergleihung der Acta und 
der Gorintherbriefe find nur einzeln und rühren aus den Lüden 


bat eine heidniſche Oppofition, welche nun den Uebergang bes Chriſten— 
thums unter die Juden erleichterte. Dann fände der Brief in Bezug 
auf das Hinausfezen der Wiederkunft fohon auf demſelben Punct mit dem 
an bie Römer. Daß fih die Sache fo verhalten kann und doch bes 
ganzen Iſrael Feine Erwähnung gefchehn, ift Leicht zu fehn. 


154 Die Corintherbriefe. .. 


der Nachrichten her, die durch- einander ergänzt werben müffen; 
und was über den Character den Gemeinden aus den Briefen 
hervorgeht/ iſt den bekannten Berhältniffen: des Orts ganz onalog.!). 
Der erſte Brief an die: Corinther iſt von Paulus wäh- 
rend feines: Aufenthalts in. Ephefus gefchrieben; er Tpricht darin 
von feiner‘ baldigen “Abteife nach. Macedonien 1. Cor. 16, 5—8. 
Der zweite Brief iſt offenbat: aus: Macebonien * * Ab⸗ 
reife von Epheſus. ges lggen + 
Sm. zweiten Briefe finden ſih — —A Siwie- 
rigkeiten, vornemlich: 4. entgegengeſetzte Aeußerungen über Titus, 
Bitte um gute Aufnahme 8, 23. 24. und Frage, wie er ſich auf- 
geführt habe: 12,:18 5 2. entgegengefeste Aeußerungen-über den 
Apoftel ſelbſt, al& 0b er nun erſt im Begriff ſei, von Maredonien 
aus zu fommen 9,4. und dann wieder, als ober ſchon ein zwei- 
tes Mal dagewefen 12, 14. 13,1. 2., was ſich aber nicht mit der 
Erzählung in den Actis verträgt; endlich 3. findet man auch. ganz 
verfchiedene, ſtrengere, herbere Stimmung am Ende, als am An- 
fang. : Daher nun Hypothefen von Semler und Weber, 
welche die Einheit des Briefes ‚bezweifeln, um alle die verfchiede: 
nen Puncte in verfchiedene Briefe zu bringen, Allein der. Eine 
theilt anders, als der Andere, Keiner recht ficher, und Seder fehr 
gefünftelt, fo daß man fieht, die Hypotheſen haben Feinen andern 
Grund, als’ eben diefe Schwierigkeiten ?). Was am meiften auf: 
faͤllt, iſt, daß Paulus fagt, er fei im Begriff, zum Dritten Male 
nach Eorinth zu fommen. Diejenigen, welche die Zheilung nicht 
annehmen, wollen dies fo verftehn, Daß Paulus während feiner 


1) Dergl. oben Seite 149. ae 

2) Erſt. Entw.: Allein ad 1. fo Fann die lezte Trage auch auf Anträge 
gehn, die Titus ihnen vorher fehriftlichh von Mafenonien aus gemacht, 
weil er nicht Zeit hatte! ſich länger aufzupalten. Bertholdt will fie 
auf die frühere Anmwefenheit des Titus, von der. er-cap T, 6. 7. in 
Makedonien zurück war, beziehn. Allein das. ift wenigftens nicht über- 
wiegend wahrfcheinlich. Doch neige ich mich jeßt.mehr dazu, da bie 
Beziehung auf die Steuer nicht fo genau ift, als es mir ſchien. 


Der zweite Corintherbrief. 155 


erften 1Ysjährigen Anweſenheit einmal von Corinth weggereiſ't 
fei, fo daß er diefe fehr gut bald als einen Aufenthalt, bald 
als zwei anfehn Tonne. Aber einfacher ift, es fo zu erklären, daß 
er dreimal hinkommen wollte, aber nicht wirflih fam!). Was 
‚ die Verfchiedenheit des Tons betrifft, fo ift das lediglich Sache 
de3 individuellen Gefühls; die Differenz beruht! doch eigentlich 
nur’ auf der Verfchiedenheit der Gegenftände: Paulus ſpricht ſich 
im erfien Theil des zweiten Briefs fehr gelinde über einen Ge— 
genftand aus, den er im. erfien Briefe fehr: ftreng behandelt hatte; 
aber daraus folgt nicht, daß er nicht jest über einen andern 
Gegenftand mit. Strenge fprechen follte. — Eine einzelne Sache 
ift allerdings noch, daß zweimal im Briefe von einer Sammlung 
die Rede ift, die Paulus für Die Gemeinde in Serufalem anftellen 
ließ, cap. 8. und cap. 9. ohne Ruͤckſicht auf dad Vorhergehende. 
Deshalb befonders hat Semler den Brief nach cap. 8. getheilt 
und das Folgende als für die Eleinern Gemeinden in Achaja be- 
fiimmt angefehn. Aber dies läßt fich auch fehr leicht durch eine 
dazwiſchen liegende Unterbrechung erflären, fo daß Paulus cap. 9. 


En Erf. Entw.: Fehlt doch in Inhalt und den Sachen jede poſitive 
Spur von einem inzwiſchen eingetretenen Aufenthalt "Pauli in Ko— 
rinth. Der Schlüffel zu: 12, 14, und 13, 1.2. fiheint mix vorzüglich zu 

liegen in 1, 15., woraus man fieht, er hatte früher einen andern Meg 
nehmen. wollen, Dies fällt aber noch in. Die Zeit vor Abfendung 
des erſten Driefes, muß aber damals fhon in Korinth befannt ges 

worden fein, woraus fih allein 1. Kor. 16, 5. erklärt. Darüber 

' hatte man fih in Korinth aufgehalten, wie man aus jener Stelle fieht; 
und nur um ſich zu folgen Beränderungen in Maaßregeln recht offen 
zu befennen, hebt er. 2, Kor. 12, 14. ausprüdlich hervor,. es fei nun 
ſchon das dritte Mal, daß er auf dem Sprunge.fiehe. Etwas anders 
verhält.es fih mit 13, 1.2. wobei man auf 12, 20. zurüdgehn muß, 
wie er fürchtet, e3 möchte Doch noch unangenehme Eindrüde von beiden 
Seiten geben. Daher fagt er (ähnliches fagt man fo oft in ähnlichen 
Fällen) fie foltten es anfehn, als ob das nächfte Wiederfehen ſchon vor— 
bei wäre und er nun zum drittenmal fomme, und fo, als ob er Das 
zweitemal ſchon dageweſen wäre, fage er ihnen vorher ꝛc. — 


156 Der NRömerbrief. 


auf das zuruͤckkommt, was er cap. 8. ſchon vorgetragen, used 
ohne fich deffen zu erinnern. ⸗ 

Alle andern in den beiden Briefen beruͤhrten Vethaͤltniſſ e 
ſind nun bloß aus ihnen ſelbſt zu entnehmen. Es ſind aber dieſe 
Briefe zugleich der reinſte Typus pauliniſchen Geſchaͤftsſtils; es 
zeigt fich hier-die dialectifhe Schärfe im Auffaffen der Streitpuncte 
und Dabei das freiefte Sichgehnlaffen in der Anordnung des Ein: 
zelnen. Daher. hat man befonders in Bezug auf den zweiten 
Brief geglaubt, Daß er: wegen der Zerftreuung auf der Reife fo 
verworren.. gefchrieben ſei und vielleicht an vwerfchiedenen Orten 
mit Unterbrechungen. Das ift aber in der That nicht der Fall, 
fondern es zeigt ſich nur die briefliche Freiheit in der Anordnung, 
die fih auch im erften Briefe findet. 


$. 45. 

Die nächte Ortserwaͤhnung in der Apoftelgefhichte ift cap. 18, 
19. und 19, 1 ff. von Ephefus. Aber wir fünnen hier noch nicht 
von dem Briefe an die Ephefer reden, da diefer die Gefangenschaft 
Pauli vorausfest. Aber Act. 19, 21. wird die Luft erwähnt, 
Rom zu fehen, und da nun Paulus, ald er den Briefandie 
Römer ſchrieb, auch noch nicht dort gemwefen war, fo haben 
wir Urfache, hier nach dieſem Briefe zu fragen. 

Aus Röm. 1, 13. verglichen mit 15, 23. 25. 26. 30. 31. 
geht hervor, daß er fhon früher öfter nah Rom reifen gewollt 
hat, daß aber der Entſchluß richt eher reif geworben war, als 
ießt, da er in den bisherigen Gegenden Nichts mehr zu thun 
hatte, daß er auf der Neife nach Serufalem war mit einer Steuer, 
die er in Macedonien und Achaja gefammelf, daß er von einer 
ihm dort drohenden Gefahr Nachricht hatte. Dies führt faft ge— 
nau auf feinen legten Aufenthalt in Corinth, wo er wegen Nach— 
rihten von Nachftellungen feinen Neifeplan änderte, Act. 20, 
3.22. 23. Diefelbe Steuer wird in ben Gorintherbriefen er— 
wähnt. Hier ift alfo wieder ein gewäbrleiftendes Einfügen in die 
anderweitig erzählten Begebenheiten. 


Der Römerbrief, 157 


“Daß Aquila und Priseila nah Rom. 16, 3. wieder in 
Nom waren, giebt Feine nähere Beſtimmung an. Sie Fonnten 
bald nach Claudius Tode zurüdgegangen fein, und fcheinen fchon 
während des zweijährigen Aufenthalts Pauli in Ephefus nicht 
mehr dort gewefen zu fein. Nun haben Biele wegen diefes 
Umftandes und wegen der vielen Grüße am Ende des Briefes 
geglaubt, daß das 16. Cap. eigentlich nicht zum Römerbriefe ges 
höre; man meint, es fei eine Beilage zum zweiten Corintherbrief. 
Einen fcheinbaren Grund. findet man darin, daß Phobe, Diaco-- 
niffinn in Kenchreä, den Lefern des Briefes empfohlen wird, 
welche doch nicht in Nom gewefen fein Fönne. Allein dies 
fpricht gerade gegen jene Hypothefe, denn da Kenchreaͤ Hafenftadt 
von Corinth war, fo mußte Phöbe den Corinthern ganz bekannt 
fein, daher wäre die Erwähnung, daß fie Diaconiffinn in Ken— 
chreaͤ fei, für diefe ganz überflüffig gewefen; dagegen konnte fie, 
da eine Diaconiffinn doch immer eine wohlhabende Perfon fein 
mußte, fehr wohl Gefchäfte in Rom haben. — Nun frägt fich 
aber, wie Paulus fo viele Mitglieder der Gemeinde in Nom ges 
Fannt haben konnte. Nach der Apoftelgefchichte gingen ihm, als 
er nah Rom Fam, viele Mitglieder der Gemeinde enfgegen, feine 
Ankunft mußte alfo ſchon ganz befannt fein; als er dagegen in 
Rom die Sudenvorfteher zu ſich kommen läßt, fagen ihm Diefe, 
fie hätten noch Nichts von ihm gehört, obwohl fehon von ber 
Secte der Chriften in Serufalemz; fie ignoriren aber gänzlich eine 
chriftlihe Gemeinde in Rom. Aber man muß bedenfen, daß 
Nom als eine fo große Stadt immer ein Sammelplak von Leu— 
ten aus den verfchiedenften Gegenden war, und daß, nachdem 
das Chriftentyum in Kleinafien, Macedonien und Griechenland 
ſich fchon fo verbreitet hatte, auch in Rom viele Chriften fich 
werden zufammengefunden haben, ohne daß doch eine eigent= 
lihe Gemeinde von in Rom anfäfligen Hausvätern da war. So 
laßt fich alfo erklären, daß Paulus viele Bekannte in Ron hatte, 
ohne, dort gewefen zu fein, und auch, wie die Judenſchaft dafelbft 
vom einer: römifchen Chriftengemeinde Nichts gewußt hat, da es 


158 ‚Der Römerbrief. 


Heidenchriften waren, die fich um die Sudenfchaft nicht kuͤmmer— 
ten und in Feiner Verbindung mit der Synagoge ftanden. So 
fallt alfo der hieraus geſchoͤpfte Verdacht weg )). 


1) Erfter Entw. Schwierig ift es, fich eine zichtige Borftellung von dem 
Zuftande der Chriften in Nom zu machen, wenn man das fpätere in 
der Apoftelgefchichte vergleicht. Nämlich der Brief fezt eine Gemeine 
in Rom voraus, da Paulus Hon feinem Hinfommen redet, das Ende 
der Apoftelgefihichte weiß zwar von Brüdern, die ihnen aus Rom ent- 
gegenfommen 28, 15, aber faft fo, als ob ihre Anweſenheit Paulum 
überrafchte. Dann kennen auch die Synagogenvorſteher (v. 22.) das 
Chriſtenthum nur vom Hörenfagen, und v. 30, 31. fommt gar nichts 
vor von einem Berhältniß Pauli zu. der dortigen Gemeine, Diefe An: 
gaben laſſen fi faft nur fo vereinigen. 1. Es mußte ſchon einen feften 
Kern geben, denn fonft hätte Paulus nicht fo frhreiben Fönnen, als ob 
pie, die er fehn würde bei feinem Hinkommen diefelben wären. Diefer 
Kern braucht aber nur fehr Hein zu fein, fo daß bei weitem der größte 
Theil der Chriften immer ab und zu ging und deshalb eine orbentliche 
Gemeinde-Einrihtung nicht practicabel war. 2. Da der größte Theil 
der aus helleniſchen und afiatifchen Gemeinen zufammenftrömenden Eins 
zelnen Heidenshriften waren (und wahrſcheinlich die Gaftgeber, bei denen 
fie fich verfammelten, auch) folglich fih um die Juden nichts Fümmerten: 
fo können diefe wirklich in Unwiſſenheit gewefen fein, und die unläug- 
bare Neberrafhung des Apoflels kann nur auf die Befchaffenheit der 
Perfonen gehn (wie wir ja hernach welche som Xaiferlichen Haufe fin- 
den). 4. Daß aber gar nicht von feinem Verhältniß zu den Brüdern 
während der zwei Jahre die Nede if, muß auf Rechnung des Erzählers 
geichrieben werden, der vielleicht nicht derfelbe, der vorher in der erften 
Perſon erzählt Hatte, von der dortigen Lage nicht genau unterrichtet war. 

Auch von diefem Briefe ift bezweifelt worden, ob er urfprünglich ein 
folches Ganzes gewefen fei wie jezt. Das hat feinen Grund in den 
anfıheinenden fünf Schlüffen a. cap. 11, 36. b. cap. 14., wenn man 
die große Doxologie ficher ftellt c. cap. 15, 33. d. 16, 24. und e. 16, 
27. Die Hauptpuncte, von denen man ausgehn muß, ſcheinen mir fol- 
gende zu fein: 1. Eine Dorologie kommt als Schluß nur 2. Petr. und 
Jud. vor und ift als folcher gar nicht Paulinifh. Daher auch a.11,36. 
fein Schluß ift, fondern nur ein Abſaz. b. Gar nicht wahrſcheinlich, 
daß Paulus die große Doxologie follte hinter den rechten Schluß 16,24. 
geftellt Haben. © Daß die Dorolögie nach 14, 23. von’ fremder Hand - 


Der Römerbrief. 159 


follte eingelegt worben fein, ift ganz unwahrfcheinlich, weil fie den Zu- 
ſammenhang unterbricht. Ein zufälliges Fehlen der beiven Kapitel ift 
+ ein. abenteuerlicher Gedanfe, da mehr Kapitel nicht erifticten und big 
15, 13. dieſelbe Same fortgeht. Ebenſo das Nichtgelefenwordenfein 
beider Kapitel, fondern höchſtens von 15, 14. an, welches aber zur Er- 
Härung der Sache gar nicht hilft. Hieraus folgt nun, daß die Doro« 
logie urfprünglih nach 14, 23. geftanden hat; aber nicht als eigentlie 
cher Schluß fondern vieleicht als das eigenhändige von Paulus, dem 
die Grüße noch folgen ſollten. Hernach hat er Die Materie wieder auf- 
genommen und 15, 33. den eigentlichen Brief gefchloffen wegen der 
großen Anzahl der Degrüßungen, welche folgen follten, ſo daß keines— 
wegs folgt, cap. 16. fei eine abgefonderte Beilage gewefen. Die Stelle 
17—20. if vielleicht ein neues von ihm hinzugefügtes eigenhändigeg, 
um das feit 15, 1. zu beglaubigen. Hiernach Hat Tertius die perſön— 
lichen Grüße einzelner, bie ihm aufgetragen waren, nachgebracht mit 
feinen eigenen und die gewöhnliche Schlußformel.. Die Doxologie ift 
son denen, bie nad) 14, 23. den Zufammenhang: nicht. unterbrechen 
wollten, ans Ende geſtellt. | 

Aus dem, was über die Röm. Gemeine zur Zeit dieſes Briefes ge⸗ 
ſagt worden, verſteht ſich von ſelbſt, daß der Inhalt des Briefes nicht 
durch ein beſtimmtes Bild von einem dortigen Zuſtande beſtimmt ſein 
konnte. Es findet ſich davon auch nur eine Spur, aber auch hier ſind 
es mehr die Verhältniſſe ver Hauptſtadt überhaupt und alſo der Chri— 
dien als Bewohner derfelben, nemlich- der Artikel von der Obrigkeit, 
(Mißbilligende Erwähnung von Hugs Gefhichte der röm. Gemeine und 
Beziehung des Briefs auf Uneinigfeit zwiſchen Zudenchriften und Hei: 
denchriſten). Daher ift auch der eigentliche Kern des Briefes freie Ge- 
anfenergießung annahend an den Character der Abhandlung. Aus 
zwei Theilen beftehender Hauptfaz die für Zuden und Heiden gleiche 
ſeligmachende Kraft des Evangeliums, Gleiche Berwerflichfeit von Ju— 
den und Heiden, Kraft der Erlöfung, die rein auf dem Berhältniß zwi- 
ſchen Chrifto und Adam. beruft: Gegenfaz zwifchen dem natürlichen 
in fich felbft verwerflihen Menfchen und dem, an welchem in Chrifto 
nichts verbammliches mehr if. Dann, da nun Juden und Heiden an 
ſich gleich gefezt werden, die Juden aber doch auch noch Bewahrer des 
göttlichen Gefezes find, fo muß ihr offenbares Zurüfbleiben in Bezug 
auf das Evangelium erflärt werden, und dies bildet den zweiten Theil. 
Dann kommt der zweite mehr gnomifch geftaltete paränetifche Haupt: 


160° Der Philipperbrief. 


Nun ift Mar, daß der Brief an die Römer zugleich auch ber 
legte aus der zweiten Periode iſt; außer den beidey, bie feinen 
Anknuͤpfungspunct in der Apoftelgefchichte haben (Zit.und 1. Tim.), 
find uns nur noch die übrig, in | Denen eine e ORDNEN des 
Paulus erwaͤhnt wird. 


8.46. 


E3 genügt nit, wenn Paulus feine Bekemsentäeht 
im Allgemeinen erwähnt, denn es folgt noch nicht daraus, daß 
es ‚die römifche gemwefen fei. Daher hat man felbft vom Phi- 
Iipperbrief die Hypotheſe aufgeftellt, daß er in der Gefangenfchaft 
Pauli zu Cäfarea gefchrieben fei. Denn wenn er cap. 4, 22. 
unter den Grüßenden erwähnt ol &# zye Koioagog oiniag , ſo 
ift noch nicht gefagt, daß diefes Haus des Caͤſar in Nom war; 
es hatte in Cäfarea Herodes einen Palaſt erbaut, den er hernad) 
dem Kaifer überließ, und oixia Fünnte dann, wie familia, die 
Hausbedienten bezeichnen, welche in diefem Palaſte wohnten. 

Es ift überhaupt viel Raum für eine andere Gefangenfchaft 
des Paulus. 2. Cor. 11, 23ff. führt er viele Thatfachen an, bei 
denen er zwar nicht ausdruͤcklich Gefangenfchaften nennt, aber die 
folche vorausfegen. Nimmt man dazu, daß die Acta viele Lüden 
haben‘, fo darf man um fo weniger annehmen, daß Paulus bloß 
in Rom gefangen gewefen, und nur von dort diefe Briefe ges 
fihrieben habe. 

Sm Philipperbrief wird alfo Rom nicht, fondern nur 
eine oisix vov Koioaoog erwahnt, und in jedem Faiferlichen Palaft 
auch in der Provinz war auch ein Faiferliches Hauswefen, und 
wo ein Proconful war, war auch ein Praetorium (cap. 1, 13); 
nimmt man dazu, daß viele Merkmale darin find, die wie im er- 
ftien Briefe an die, Theffalonicher darauf deuten, daß er nicht 


theil, motivirt theils durch die unmittelbare Umgebung des Apoftels in 
Korinth (daher das von den Schwarhgläubigen) theils bu“ die Bier 
meinen Erfahrungen. 


Der Philipperbrief. 161 


lange nach der erfien Gründung der Gemeinde gefchrieben fei, 
fo hat man Urfache zu glauben, daß Paulus nur erft einmal in 
Philippi gewefen fei; denn er erwähnt darin mande Fleine Um: 
ftände aus der frühern Periode (fie hätten ihn in Zhefjalonich 
unterftüßt, fie allein hätten mit ihm gerechnet nah Einnahme 
und Ausgabe 4, 15. 16.), die überflüffig waren, wenn er nicht 
bald nachher diefen Brief gefchrieben. So Fünnte es aljo wohl 
fein, daß er aus einer frühern Gefangenfchaft wäre ?). 


. 


es 


Eine fehr nahe Berwandtfchaft haben der Briefan die 
Goloffer und der an den Philemon, welder in oder bei 
Goloffa muß gewohnt haben. Beide find gleichzeitig durch Ty— 
chicus in Gemeinfchaft mit dem Oneſimus abgeſchickt worden, 
auch beide mit in des Zimotheus Namen gefchrieben, vergl. Col. 





1) Erf. Entw. Da in Korinth Feine Gefangenschaft fiattgefünden hat, fo 
it auf Oeders Hypothefe nichts zu geben, Soll es aber die römifche 
fein, fo wäre eine Erwähnung der zweiten und dritten Anwefenheit 
faft unvermeidlich. Diefe Fann man nun 4, 16. finden. Nur von Ko— 
rinth fommend war Paulus eher in Thefjalonich als Philippi, und fie 
müßten ihm alfo entgegengefchickt haben, welches indeß feine Schwierig- 
feit macht. Die profecticte Theilung des Briefes ift aus vo Aoızov 3, 1. 
und der die ganze Gemeine angehenden doch aber in den Separatbrief 
treffenden Erwähnung der Unterſtützung hinreichend wiberlegt. Ein gro- 
Ber Einfluß von Sudaifirenden ift an einem Ort, wo nicht einmal 
eine Synagoge war, nicht zu erwarten. Es will mir auch nicht ausſehn, 
als ob 3, 2ff. auf judaifirende Srrfehrer ginge: fondern auf die 
Seindfhaft der Juden gegen das Chriſtenthum, die ihn dahin brachte 
zu fagen, die geiftige Befchneidung fei die einzig wahre, zufammenhäns 
gend mit dem Zopayi zura nreune, Nur 3, 18. ſcheint auf Chriften 
zu gehn, aber mehr auf Feigherzige, weil nemlich die Philipper auch 
fhon waren verfolgt worden, vergl. 1, 29. 30. idexe fann entweder auf 
die erfte Anmwefenheit gehen oder auf die bei der lezten erhaltene Nach- 
richt von bevorfiehenden Nachſtellungen. Daß es auch diefem Briefe an 
namentlichen Grüßen fehlt, beweifet, daß an und für fir) hieraus nichts 
nachtheiliges geſchloſſen werden kann. 


Einl. ins N. T. 11 


162 Der Brief an die Coloffer und der an Philemon. 


1, 1. 4, 7—9. mitPhilem. 1.10. Der Brief an Philemon ift zu= 
gleich an Archippus gerichtet v. 2., der Col. 4,17. als dort woh- 
nend erwähnt wird und dem Philemon nahe geftanden haben 
muß. Auch die Umgebung des Paulus ift in beiden Briefen dies 
felbe; er grüßt von Ariftarh, Marcus, Lucas, Demas, Epaphras, 
der von dort her war, Col. 4, 10—14. Dhilem. 23. 94. , Sm 
Briefe an den Philemon erbittet fih Paulus Quartier bei diefem 
v. 22., hat alfo Ausficht auf baldige Befreiung, denn als Gefan: 
genen giebt er fi in beiden Briefen an, Col. 1, 4. 4, 3. 
Philem. 1. 10.5 aber von Rom kommt Feine beftimmte Erwaͤh⸗ 
nung vor. Der Colofferbrief fpricht zwar nicht fo beftimmt des 
Apoftels Hoffnung aus, und fo Fünnte man glauben, jene Bitte 
gehöre nur zur Artigkeit des Briefes an Philemon; aber Eol.4,3.. 
außert er doch den Wunſch, daß ihm eine Thuͤr fuͤr das Evan— 
gelium moͤge geoͤffnet werden, was in ſich ſchließt, daß er nicht 
gedacht hat, dieſe Gefangenſchaft ſei das Ende ſeines Lebens. 
Aber daraus kann man auch nicht ſchließen, daß Paulus wirklich 
frei geworden und nachher in eine zweite Gefangenſchaft gerathen | 
fei, denn in einer fo langen Zeit konnten fih die Verhaͤltniſſe 
ſehr ändern }). 


1) Erf. Entw. Koloffer und Philemon haben ihre Bewährung gegenfei= 
tig in-fich, gleichzeitig von demfelben Ort her zu einander pafiend ohne 
irgend durchſcheinende Abfichtlichkeit. 1. Philemon ift ein ſchöner Ty- 
pus für alfe Stellen in andern paulinifchen Briefen, worin ein Privat- 
verhältniß heraustritt,. 2. Koloffer. As an eine nicht beftimmt 
befreundete Gemeine gerichtet zunächſt dem Nömerbrief verwandt. Aehn— 
lichfeit in der Structure nach Maaßgabe des geringern Umfangs. Der 
sufammenhängende Theil ift theoretifche Vertheivigung und Hülfe gegen 
die Anmuthung des Züdifchen. Dies ift 2, 8. und 2, 20 ff. deutlich zu 

ſehn und das dazmwifchentretende 15 und 18 muß nur im Zufammenhang 
damit erflärt werden. Wenn alfo meoa«dooıs dv9oWawv UNd u7 aym 
gnoftifches ausſchließt und —— zov ayytiov auf Eſſener hinweiſt, 
fo darf auch zu & u7 Ewoanev äußarsvov v. 18. noch nichts neues ge— 
fucht werden, da ja die Engel auch unfichtbares find. Die doyas und 
ovale geben ſich durch v. 16. fogleich als die menſchlichen Autoritäten 


Der Epheferbrief. 163 


$. 48. 

Der an die Ephefer überfchriebene Brief thut de8 Timo— 
theus Feine Erwähnung, und doch wäre es am natürlichften 
gewefen, ihn hier in die Gemeinfchaft des Briefe aufzunehmen, 
da Paulus mit ihm in Ephefus zufammengewefen war. Man 
möchte alfo vermuthen, Paulus habe damals den Timotheus nicht 
bei fich gehabt. Dagegen fagt er cap. 6, 21. 22., er habe den 
Tychicus zu ihnen gefandt, um fie mit feinen Angelegenheiten be- 
Fannt zu machen, gerade wie im Golofferbriefe,-dies laßt alfo auf 
diefelbe Zeit ſchließen. AS Gefangenen giebt er fi im Gruße 
nicht zu erkennen; dagegen bezeichnet er fih am Schlufle ganz 
beftimmt als folchen cap. 6, 19. 20., vergl. cap. 3,1.4,1. Das 
bei diefelbe Bitte, für feine Wirffamkeit am Evangelium zu beten, 
indem er zugleich feine Gefangenfchaft als eine für die Heiden 
zu leidende Trübfal und als eine Gefandtfhäft für dad Evange- 
lium darftellt. Er hat alfo auch in der Gefangenfchaft predigen 
fönnen, und dies paßt im Allgemeinen auch auf die römifche; 
doch wird Rom auch hier nicht erwähnt. Dabei finden ſich gar 
feine Grüße von Einzelnen und an Einzelne. 

Nun iſt aber der Inhalt des Briefes an die Gphefer fo ver- 
wandt mit dem des an die Goloffer, daß auf ein näheres Ber: 
haͤltniß zwifchen beiden muß gefchloffen werden, wie es auf aͤhn— 


im Judenthum zu erfennen. Auch das thenretifche im Koloſſerbriefe, 
wie ſich alles frühere auf Chriftum bezöge, führt auf das zigyvozomous 
hin und ift fehr verwandt mit der Gleichfezung der Juden und Heiden 
im Römerbriefe. Eigenthümlich ift die Darftellung der Kirche als Leib 
Chriſti doch vorgebifvet in den Korintherbriefen, hier noch weiter geführt 
in dem DBeftreben jeden Chriften als einen iRzog in Ehrifto darzu— 
ſtellen. Sp auch in dem mehr gnomifchen Theil Cap. 3. und 4, fnüpft 
fi) die Darftellung der Heiligung an die Theorie von dem neuen Men- 
fchen, in dem weder Jude noch Heide ift. Die Durchführung durch die 
verfchiedenen Lebensverhältniffe paßt fich fehr gut für eine Gemeine, die 
feines mündlichen Interrichts entbehrt hat, Der Brief fteht alfo voll— 
kommen feft in fish ſelbſt. 
11* 


164 Der Epheferbrief. 


liche Weife zwifchen dem Briefe Suda und 2. Petri fattfindet. Bei 
beiden giebt es entgegengefegte Anfichten darüber, welcher aus dem 
andern entftanden ſei. Bergleiht man die Art ihrer Zuſam— 
menfeßung, fo kann ich nicht anders glauben, als daß der Brief 
an die Goloffer der urfprüngliche, und der an die Ephefer erft 
fpäter darnach gemacht iſt; er ift loſer zuſammengeſetzt, fuͤhrt 
Manches weiter aus und laͤßt dagegen Schwierigkeiten, die im 
Coloſſerbrief find, bei Seite }). 

"Hierzu müffen wir noch die Nachricht des Baſilius hinzu— 
nehmen, daß es Codices gab, in denen Epheſus nicht genannt 
wurde; ferner das hoͤchſt ſonderbare Factum, daß das perſoͤnliche 
Verhaͤltniß des Apoſtels zu der Gemeinde mit Feiner Silbe er— 
wähnt wird. In Colofja war er nad) Col. 2, 1. nicht gewef en; 
zwar erklärt Schulz in Breslau?) diefen Vers fo, daß Pau: 
lus drei Claffen nenne, um die er Sorge trage: um die Goloffer, 
um die Laodicener, und um die, welche fein leibliches Angeficht 
nicht gefehn; aber dagegen fpricht der Gebrauch von 000u°). 
Sn Ephefus aber hatte er zwei Sahre zugebracht und die Ge- 


1) Erfl.-Entw. Zu merken die verwickelte Weitfchweifigfeit des Eingangs, 
wo man das Beftreben der Erweiterung ohne neues Material fehr deut- 
lich fiehtz der Begriff der orvn dominirend und rheisriicher ausgeführt 
am Ende des zweiten Kap. Der Uebergang zum zweiten Theil durch 
eine ausführliche Auseinanderfezung: feiner Amtsthätigkeit. Im zweiten 
Theil ift das einzige eigenthümliche der mit dem eigenen des erften 
Theils correfpondirende Gedanke, das Berhältniß Chriftt zur Gemeine 
zu parallelifiven mit dem ehelichen. Hauptpunft ift dabei gewiß, daß 
die Frau von dem Fleifh des Mannes genommen. tft. Belonders merk: 
würdig aber, daß die Bergleichung mit dem Berlaffen des väterlichen 
Haufes fchließt, welches entweder auf Präeriftenz Chrifti, die fonft bei 
Paulus nicht beftimmt vorkommt, oder auch darauf bezogen werden 
fann, daß Chriftus nun das väterliche Haus verlaffen, d. h. die Ge— 
meine fih ganz vom Judenthum getrennt hat. 

2) In Stud. u. Eritif. 1829. Seite 536 ff. 

3) Vergl. hierüber Schleierm. über Col. 1, 15—20. in Stud. und Crit. 
1832. Seite 498. in Schleierm. ſämmtl. Werk. Abth. I. Band 2, Seite 323. 


Der Epheferbrief. 165 


meinde felbft geftiftet, es muß daher feltfam erfcheinem, daß er 
dies perfönliche Verhältniß zu ihr im Briefe gar nicht erwähnt, 
nach cap. 1,15. hat er nur von ihrem Glauben gehört, 4, 21. 
vermuthet er auch nur, daß fie nach demfelben Typus unterwie— 
fen worden feien, und 3, 2. ſetzt er auch) nur voraus, daß fie 
von feinem Beruf als .Heidenapoftel wüßten. Daher hat man 
gemeint, der Brief fei ein Gircularfchreiben an mehrere Gemein- 
den, die er nicht Fannte, aber habe zugleich auch nach Ephefus 
gehn follen. Aber ich muß mich gegen diefe Anficht erklären }). 
Paulus hätte darnach zwei Briefe gefchrieben, beide durch Tychicus 
abgefandt und unter fich fehr ähnlich, den einen nach Goloffä, den 
andern als Gireularbrief an mehrere Gemeinden; aber da wäre 
doch fehr fonderbar, daß er nicht vielmehr an die Ephefer, die er 
genau Fannte, einen befondern Brief gefchiet und den andern, 
den an die ihm weniger befannten Goloffer, zum Gircularbrief be= 
flimmt hätte. Fordert er doch die legtern auf, ihren Brief auch 
den Laodicenern mitzutheilen; warum follte er alfo nicht gleich 
nur die weitere Girculation diefes Brief5 angeordnet haben? 
Daher wird es überwiegend wahrfcheinlih, daß der Epheferbrief 
nicht mit nach Ephefus beflimmt war, und daß diefer Name 
auf unrichtige Weife hineingefommen ift?). art 

Fragt man —** ob es wohl ee fi, deß Pau⸗ 


1) Erſter Entw.: Die Vorſtellung eines Circularbriefes iſt ſchwer feſt— 
zuſtellen. Der Galaterbrief iſt ein ſolcher, aber die galatiſchen Städte 
hatten in ihrer alten Verfaſſung einen Verbindungspunkt; die apoſtoliſchen 
Briefe können nicht angeführt werden, da wir nicht wiſſen, ob ſie nicht 
gleich anfänglich auf eine andre Weiſe publieirt worden. Ein Rund— 
ſchreiben von Paulus an eine Menge Gemeinen, wenn zuſammenhängend, 

mußte ſich auf gemeinſchaftliche Verhältniſſe beziehn; aber ſchwerlich 
wird Paulus einen ſolchen Brief geſchickt haben an eine Menge von 
Gemeinen, die mit ihm in ſo enger Gemeinſchaft ſtanden. 

2) Erſt. Entw.s Die Auslaſſung bei Baſil. kann wol nicht fo entſtanden 
fein, wie de Wette meint: ; eher ift die — E des Marcion kriti— 
ſche Willkühr. 


166 Der Epheferbrief. 


lus, wenn er zwei folche Briefe fchreiben wollte, darauf reducirt 
gewefen fein follte, den einen bei dem andern fo zum Grunde 
zu legen, wie es hier gefchehn zu fein fiheint, zumal zu einer 
Zeit, wo er doch viele Muße hatfe, und wo es auch an Motiven 
nicht fehlen Fonnte: fo wird die ganze Lage des Briefes zweifel- 
haft. Weiter läßt ſich aber darüber Nichts fügen, und allen po⸗ 
ſitiven Hypotheſen fehlt es an Grund Y. 
$. 49. 

E3 ift noch der zweite Brief an den Zimotheus 
übrig, worin Paulus fich einen Gefangenen nennt, cap. 1, 8., 
zugleich aber ausdrüdlih Roms erwähnt 1, 16. in Bezug auf 
den Onefiphorus, der ihn dort aufgefucht, (was nun freilich moͤg— 
licher Weife auch auf Früheres zurüdgehn Fann), Außerdem be= 
richtet er, daß Viele aus feiner bisherigen Umgebung theil von 
ihm weggeſchickt worden, theils ſich felbft von ihm zuruͤckgezogen 


1) Erf. Entw.: Vieleicht von andern als Paulus zur mit dem Briefe 
an die Koloffer gleichzeitigen Verfendung (aber in andere Gegend) ge- 
fertigtes von Paulus gebilligtes Schreiben. Nur mit Laod. und Ephe— 
fus nichts zu thun. Die hinzugefügten einzelnen Gedanfen yon Bedeu— 
tung können von Paulus: felbfi angegeben oder doch gewiß von ihm 
gebilligt. fein, — Das wahrfcheinlichfte ift alfo, daß Tychicus diefen 
Drief mitnehmen follte an die Gemeinden, zu welchen er auf feiner viel- 
Yeicht nor nicht genau beftimmten Reife fommen würde, und daß er 
feibft oder ein Anderer ihn nach Anleitung des Kolofierbriefes anfgefezt 
und Paulo vorgelegt, fo daß er alfo als von ihm genehmigt vielleicht 
auch mit dem eigenhändigen Gruß ausgeftattet angefehn werden kann. 
Das eigenthümliche kann alles Acht Paulinifch fein, 

* Nachricht von Schulz Hypotheſe von Cäſarea, im beſten Lichte dar— 
geſtellt, beſtätigt vorzüglich dadurch, wie ſehr natürlich To bald als mög⸗ 
lich nach der Gefangennehmung des Apoſtels eine ſolche Abſendung 
war wie die des Tychicus mit einem Briefe zum Vorleſen und mit den 
wahrſcheinlich dreien Col., Laod., Philemon, die eine beſondere Beſtim— 
mung hatten. Die Bekehrung des Oneſimus in den Banden iſt kein 
bedeutendes Hinderniß dagegen. Nur ſehe ich nicht ein, warum Phi⸗ 
lipper nicht auch ſollte eben daher ſein können. 


Der zweite Brief an Timotheus. 167 


hätten. Er bittet den Zimotheus, bald zu ihm zu fommen, er 
werde: bald geopfert, feine Auflöfung feinahe 4, 6—12. Dies 
find alfo andre Umftände, als im Goloffer- und Epheferbriefe; 
"dazu kommt noch, daß im Briefe an die Römer Aquila und 
Prisca gegrüßt werden als in Rom befindlich, hier aber 4, 19. 
dem Timotheus Grüße für fie, als bei ihm befindlih, aufgetragen 
werden. Sie müßten alfo von Rom wieder weggezogen fein (viel— 
leicht nachdem fie ihre dortigen bei ihrer Vertreibung unter Clau— 
dius ungeordnet gelaffenen Ungelegenheitet geordnet), und fih an 
den Drt, wo Zimotheus war, begeben haben, was wohl Ephe: 
fus fein Eonnte, denn an fich iſt dies nichts MWiderfprechendes. 
Allerdings aber unterfcheiden fich die Umftände fehr von den in 
den Übrigen Briefen aus der Gefangenfchaft angedeuteten; auch 
ift nicht recht wahrfcheinlich, daß Timotheus damals in Ephe— 
fus gewefen fei, da Paulus fagt, er habe den Tychicus nach 
Ephefus gefendet 4, 12%. Beſonders fchwierig ift aber, was er 
von einer Reife fo fagt, ald ob fie noch gar nicht lange her wäre. 
Gr habe in Troas Gegenftände zurüdgelaffen, die Timotheus ihm 
bringen foll 4, 13.5; wenn er aber ſchon zwei Sahre in einer 
ziemlich freien Lage gewefen war, fo häfte er wohl ſchon früher 
Gelegenheit gehabt, diefe Sachen zu erhalten. Ferner erwähnt 
er, Eraft fei in Gorinth geblieben, den Zrophimus habe er Frank 
in Milet zurüdgelaffen 4 20. Dies find nun aber Orte, die 
Paulus auf feiner Reiſe nah Nom, wie wir aus den Actis 
wiſſen, nicht berührt hatz aber auch die nach Serufalem kann 
nicht gemeint fein, da Trophimus mit Paulus nach Serufalem 
ging und dorf im Tempel geſehen ward Act.21,29. Der Brief 
ſcheint hiernach in eine der Apoſtelgeſchichte fremde Zeit zu fallen’), 


\ 


1) Erf. Entw.: eben wie der an ven Titus. Daraus folgt nun zwar 
noch lange nicht eine zweite Gefangenſchaft in Rom, überhaupt au nicht 
etwas fpäteres als die erfte. Denn die Apoftelgefchishte Hat Lücken und 
in den Eorintherbriefen werden der Apoftelgefchichte fremde Begebenhei- 
ten erzählt, die leicht mit einer Öefangenfchaft zufammenhängen können. 
Nur eine dazwiſchen fallende Reife nach Rom und Gefangenſchaft dort 


168 Der zweite Brief an Timothens. 


und Einige haben gefchloffen, er fei aus einer zweiten Gefan- 
genfchaft des Apoftel3 in Nom, Andere, wie Eichhorn, daß er 
unaͤcht fei, Allein dazu find noch nicht vollfommen hinreichende 
Gründe, wiewohl es auch an andern Umftänden in diefem Briefe 
nicht fehlt, die bedenklich find, 3. DB. daß Paulus den Zimotheus 
noch zexvov sıov 2, 1. nennt, da er fo lange fein Gehülfe ge= 
wegen, und er ihn fich gleichgeftellt hatte; ferner, daß er ihn er— 
mahnt, an der Lehre, wie er fie von ihm empfangen, feftzuhalten 
1, 13., wa3 nicht auf eine fo fpäte Zeit paßt; ferner, daß er 
früherer Begebenheiten gedenft 3, 11., ohne der fpätern zu er— 
wähnen; auch daß er den Zimotheus an feine. Jugend erinnert 
2, 22. Alles dies fpricht Dafür, daß der Brief früher gefchrieben 
fei, und doch wird die Gefangenfchaft in Kom erwähnt. 


$. 50. 


E3 find und nun nod) die andern Briefe übrig, welche Feine 
befiimmte Anfnüpfung an die Apoftelgefchichte haben. Zuerſt der 


iſt nicht zu denfen. — Will man diefe Briefe alle als römifche anſehn: 
fo müßten die früheften die fein, wo er fi) eine Thüre fürs Evange— 
lium geöffnet wünfcht Epheſ. Coloſſ.; dann die, wo feine Gefangenschaft 
zum DBortheil des Evang. gereicht Philipper, und zulezt diefer mit den 
trüben Ausfichten 2. Tim., welches aber nicht geht, weil dann Timotheus 
noch nicht müßte bei ihm gewefen fein, als er Col. und Phil, fehrieb, 
Wenn man die Briefe, welche feine ausprüdliche Erwähnung von Rom 
enthalten, in Cäſarea gefchrieben denkt und 2, Tim. in Rom, fo war 
in 2 Jahren feine Beranlaffung zu fo trüben Ausſichten. Alſo überall 
noch große Dunkelheit auf diefen Briefen ruhend. Dagegen aber innere 
Spuren des falfchen gar nicht fo daß man von felbft darauf fommen 
würde. Die Nachrichten von einer zweiten Gefangenfchaft tragen fo 
fehr den Stempel an fih, daß fie nur gemacht find als eine Hypotheſe 
um Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Denn’ das einzige, was 

man beſtimmt angiebt, ift die Reife nach Spanien, der doch gar’ feine 
Tradition von Gemeinen, die Paulus in Spanien geftiftet hätte, zu 
Hülfe fommt. So daß wenn der Brief acht ifl, auf jeden Fall eine ung 
ganz unbekannte Zeit und Dertlichkeit innerhalb der Zeit der Apoftel- 
geſchichte angenommen werden muß. 


Der Brief an Titus und der erfte an Timotheus. 169 


Brief an Titus, worin von einer Reife des Apoftels nad) 
Greta gefprochen wird cap. 1, 5., von der in den Actis Nichts 
erzählt ift. Darausiift aber gar nicht auf Unächtheit zu fehlies 
gen, denn eine folche Reife kann leicht in den Aufenthalt Pauli 
in größern Städten, wie Ephefus, Corinth und Antiochien gefal- 
Ien fein, von denen die Apoftelgefchichte bloß die Länge angiebt. 
Die Zeit der Abfaſſung dieſes Briefes koͤnnen wir alſo nicht 
beſtimmen 1). 

In dieſe Reihe habe ich auch den erſten Brief an den 
Timotheus geſetzt, ungeachtet in demſelben von ſolchen Puncten 
die Rede iſt, die uns in der Apoſtelgeſchichte gegeben ſind. Er 
beginnt damit, daß Paulus ſagt, er habe den Timotheus gebeten, 
in Epheſus, während er nach Macedonien ging, zu bleiben und 
dort die Srrlehrer abzumehren, welche auf Mythen und Genealo- 
gien Werth legten. — Nun wifjen wir zwar, daß Paulus von 
Ephefus nach Macedonien gegangen ift (Act. 20, 1.), aber auch, 
daß er den Zimotheus Furz vor feiner Abreife nach Macedonien 
vorausfchidte (Act. 19,22... Um dies zu vereinigen, hat man ans 
genommen, daß Zimotheus nur fehr Furze Zeit in Maredonien 
gewefen und nach Ephefus zurüdgefehrt fei, ehe Paulus abreif'te. 
Er müßte aber bald darauf ihm nachgereift fein, denn er findet 
fih, wie der Eingang des 2ten Corintherbriefs zeigt, in Macedo= 
nien mit ihm zufammen. Nun giebt Paulus aber dem Timotheus 
Aufträge für fein Zurücbleiben in Ephefus, die gar nicht in Eur- 
zer Zeit abgemacht werden Eonnten2). Dies giebt eine fo totale 





1) Bergl. unten ©, 173. 
. air Entw.r Paulus hofft jedoch 3, 14. bald wieder zu ihm zu kom— 
Wie hat Paulus’ dies fehreiben können von Macedonien aus, 
ae er die ganze Zeit mit der Reife nach Serufalem befchäftigt war und 
auch, wenn er von Korinth aus nad Syrien gefhifft wäre, gar nicht 
würde einen Aufenthalt in Epheſus gemacht haben, welches er aus 
Eilfertigkeit ausdrücklich vermied? — Wenn des Timotheus Gefchäft 
nur noch eine Einfchärfung fein follte, warum hatte die nicht Paulus 
gehörig beforgt, da er fo Tange ſchon befchloffen hatte zu reifen? Oder 


\ 


170 Der erſte Brief an Timotheus. 


Unwahrſcheinlichkeit, daß ich nicht glauben Fann, daß der Brief 
von Paulus iſt. Vergleiche mein Sendfchreiben über die: 
fen Brief!). Des jüngern Pland Ausftelungen gegen meine 
Schrift befonders zu widerlegen, habe ich nicht für nöthig gefun— 
den; denn es Fann gar nicht genügen, wenn man gegen jede 
Schwierigkeit eine eigne Möglichkeit anführt, fondern man muß 
das Ganze in ein anfchauliches Bild zufammenfaflen. Eichhorn 
hat alle drei Paftoralbriefe bezweifelt, aber meine Gründe gegen 
die Aechtheit von 1. Tim. zum Theil zu widerlegen gefucht, in= 
dem er nur Gründe gelten laffen will, welche die drei Briefe 
gemeinschaftlich betreffen. Bei diefer Beurtheilung muß man auf 
das ganze Gepräge der paulinifchen Schriften Rüdfiht nehmen. 
Was die amıaE Asyouevo betrifft, fo kommt es nicht auf ihre 
Zahl an, die in andern paulinifchen Briefen eben fo groß ift, 
fondern auf ihre Qualität. 


S. 31. 


Ueberfehn wir den Cyclus der paulinifchen Briefe dem vers 
ſchiedenen Grade ihre Bewährtheit nach, fo ftehn die Corinther— 
briefe am vollfommenften gerechtfertigt da, denen der Römer: 


hätte er vom Ereoodiduoxuks erſt ſpäter erfahren, warum Darüber gar 
feine Derwunderung ? Wenn Timotheus fo zeitig kommen follte, wozu 
die allgemeinen Anweifungen? Wenn er. länger bleiben follte, wie 
fonnte er ohne Pauli Anweifung fo ſchnell wieder aufbrechen, da es 
Paulo in Macedonien nicht an helfenden und dienenden Brüdern fehlen 
fonnte‘, und übrigens Feine Gefahr war, auch die Angelegenheiten dort 
und in Achaja fhon durch Titum beforgt? Wenn ſchon damals in 
Ephefus folche Noth mit Srrlehrern war: wie fann Paulus in feiner 
milefifhen Nede davon bloß als von einer fünfkigen Sache reden? 
Kurz nichts ſtimmt zuſammen. 

1) Ueber den ſogenannten erſten Brief des Paulos an den 
Timotheos, ein kritiſches Sendſchreiben an J. C. Gaß 
1807. in Schleiermachers ſämmtlichen Werken Abtheil. I. Band 2. — 
9. Plan Bemerkungen über d. 1. paul. Br. an d. Tim. 

Dez. aufd. Erit. Sendſch. 1808. 


Ueberficht der verfchiedenen Bewährtheit der paulin. Briefe. . 171 


brief ſchon nicht völlig gleichfteht, weil er uns ein unficheres 
Bild der römifchen Gemeinde giebt, ohne daß er jedoch deswegen 
zu bezweifeln wäre. Zunaͤchſt an die Gorintherbriefe würde der 
erfte an die Theſſalonicher fommen. Der Salaterbrief 
hat feine Bewährung in fich felbft durch die von den Actis uns 
abhärigigen Data aus dem Leben des Apoftels, die Fein Anderer 
fingirt haben Fann. Diefe Briefe bilden alfo infofern den Kern 
der pauliniſchen Y. 

Die Briefe aus der Gefangenſchaft liegen dagegen —— 
der Apoſtelgeſchichte, ſofern ſie uͤber ſeinen Zuſtand waͤhrend der— 
ſelben Nichts erzaͤhlt; man muß daher die Gruͤnde ihrer Aechtheit 
aus der Vergleichung der hiſtoriſchen Angaben dieſer Briefe unter 
einander nehmen. Da Paulus auf der einen Seite Plaͤne macht“ 
und ſeine Befreiung hofft, auf der andern ſeinen Tod erwartet, 
ſo iſt es ſchwer, beſtimmte Urtheile uͤber die Prioritaͤt dieſer Briefe 
zu faͤllen; es kommen ſogar entgegenſtehende Merkmale vor. 
Doch berechtigt dies noch nicht zu Zweifeln, aber auch nicht zur 
Annahme einer 2ten Gefangenfchaft. 

Kürzlich ift ein Schriftftellere aufgetreten?), der die ganze 
Theorie der paulin. Briefe auf den Kopf ftelt, und von den 
meiften glaubt, daß fie nach den Actis gefchrieben find, indem 
er von der Borausfeßung ausgeht, daß jeder Brief fich in Gapitel 
und Verſe der Acta einrangiren laffen muͤſſe. Aus diefer Hypo— 
thefe Eommen fo. verzerrte Bilder heraus, dag man fie wohl nicht 
einer befondern Aufmerffamkeit zu würdigen braucht. Aber aller= 
dings ift es wahr, Daß man die Apoftelgefcbichte noch einer ganz 
andern Betrachtung unterwerfen muß, ald bisher, wenn man. 
diefe Unterfuhung ‚glüdlich fortfegen will. Man muß auf die 
Urt, wie fie entftanden iſt, und auf ihre Luͤcken achten. 

Ueber den Epheſ erbrief insbeſondere muß man ſich 


1) Vergl. oben Seite 147. 


2) Köhler: Verſuch über die Abfaſſungszeit der epiſtoliſchen Schriften im 
R. 1830, 


172 Der Epheferbrief. 


erft darüber Mar werden, in wiefern man fich ihn als einen pau— 
Iinifchen, aber nicht an die: Ephefer gerichteten denken Tann, 
oder wie man fich erflären Fann, daß Paulus fein Verhaͤltniß 
zu ihnen ganz vernachläaffigt und einen folhen Brief mit für fie 
beftimmt habe. Eine Ueberlieferung darüber, daß diefer Brief 
von Ephefus aus zuerft verbreitet worden, giebt es nicht; aber 
in allen alten Citationen kommt er alö der an die Ephefer vor. 
Seine Berwandtichaft mit dem Colofferbrief bleibt jedoch immer 
der Art, daß fie allerlei Bedenken erregt. Der Colofjerbrief kann 
nicht aus dem Epheferbrief von Paulus ausgefchrieben fein, denn 
war Paulus in einer dem Schreiben fo ungünftigen Stimmung, 
daß er die Gedanken aus einem frühern Briefe nahm, fo paßt 
dazu nicht, Daß er in den zweiten fehwierigere Gegenftände ein— 
geflochten hätte, die im erften nicht waren. Halten wir aber 
den Epheferbrief für den zweiten, fo müßten wir eine fehr un— 
günftige Lage annehmen, worin Paulus einen Brief aus dem 
andern gemacht hätte; allerdings aber ließe fich denken, daß er 
fich dabei einer andern Perfon bedient hätte, und zwar auf eine 
andre MWeife, als unmittelbar durch das Dickiren, indem er ihr 
bloß die Contenta angegeben und fie - den Colofjerbrief verwie= 
fen ‚hätte 1); 

Die drei fogenannten Paftoralbriefe gehören ihren 
gefchichtlichen Angaben nach, verglichen mit der Apoftelgefchichte, 
gar nicht zufammen, und auch der gemeinfchaftliche Name ift 
‚mehr zufällig. Nur ein Gefhichtlidhes haben fie gemeinfan, 
nemlih daß fie im Canon des Marcion gefehlt haben, woraus 
aber an fich noch Fein Verdacht folgt 2)... Daß Eichhorn fie un— 
ter gleihmäßigen Verdacht zufammengefaßt hat, fcheint mir 
eine Uebereilung zu fein, die ihren Grund in dem gemeinfamen 
Namen und der Beflimmung an einzelne Perfonen hat?). Aller: 


1) Vergl. oben ©. 166. Anm. 1. 
2) Vergl. oben ©. 132. 
3) Bergl. Schleierm. Sendſchreiben. Seite 24-27. 


Die drei Paftoralbriefe. 173 


dings giebt es eine gewiſſe Berwandtfchaft zwifchen 1. und 2. Zim. 
- und zwifchen letzterm und Zit., und zwar fo, daß 2. Tim, und 
Zit, befjer geordnete Ganze bilden, als 1. im. Aber dies geht 
auf daS Gebiet der Kennzeichen der Aechtheit, die auf der Com— 
pofition berubn, über, wobei man fehr vorfichtig fein muß. Denn 
es giebt von fohriftlichen Arbeiten nichts Freieres, als gerade 
Briefe, fowohl an innerm Gedanken Inhalt und Zufammenhang 
und an Sprache, die fich hier am meiften der Converfation nähert, 
als auch an Stimmung des Verfaffers, wornach ſie die fubjeeti- 
veften Gompofitionen find. Da ift es alfo fehr ſchwer, ſolche 
Puncte feftzuftellen, daß man fagen Fünnte, daß Semand den oder 
jenen Brief nicht Eonne gefchrieben haben VY. 


1) Erf. Entw.: Das Zufammenfaffen der fogenannten Paftoralbriefe 
bezieht fih nur auf einen Theil des Inhaltes, nämlich die Gemeine- 
Anordnungen und dann darauf, daß fie verglichen mit den andern eine 
befondere Sprachmaffe bilden. Die Bemerkung, daß fie deshalb, wenn 
alle ächt, auch gleichzeitig fein müffen, ift richtig genug, weshalb man fie 
denn auch neuerlich alle in die Zeit nach der erfien Gefangenfchaft gefezt 
hat. Paulus wäre alfo vemnädft aus Nom nad Spanien gegangen, 
von da nad) Coloſſä zu Philemon und nad Epheſus, von da nach Mas 
fedonien und wieder nach Ephefus zurüdz; nad Kreta; von da nah 
Kleinaſien, um in Nikopolis GBithynien, denn Epirus ift doch 
nicht wahrfcheinfich) zu überwintern, und fo, nachdem er noch einmal 
muß in Troas und Milet gewefen fein, wieder nach Rom, ohne 
daß man von allen diefen Begebenheiten etwas weiter wüßte ober Daß 
er darin der frühern Zeit gedächte. — Da wir nun vom Briefe an 
Titus noch nichts weiter gefagt, fo ift mit dieſem anzufangen. Ange— 
nommen alfo, Paulus Tann vor der erfien Gefangenfchaft in Kreta 
gewefen fein (nicht eher jedoch wegen 3, 13. als er etwas von Apollo 
gewußt alfo früheſtens auf der nicht erwähnten Neife vor dem langen 
Aufenthalt in Ephefus), fo fönnte nur auffallen, daß Paulus einem fol- 
chen Gehülfen erzählt, was 1, 3. fleht, allein dies kann um der Kreter 
willen gefagt fein, denen 1, 12. nicht brauchte verſchwiegen zu werben, 
weil es eine allgemein befannte Sache war und Pauli Erwähnung 
derfelben ihnen nur ein Sporn werden konnte. Das unbeftimmte Bild 
der Berhältnifie finde ich hier auch nicht fo; denn 1, 10—14. ſcheinen 


174 Die Paftoralbriefe. 


mir eigentlich Feine Irrlehrer zu fein, fondern num’ widerfpenftige, die 
befonders gegen firenge Forderungen immer einzuwenden hatten. Am 
unverftändlichften ift wol 3, 9. aber doch zu begreifen, Daß er, weil 
ernfte Lehre noch fo noth that, fich nicht einlaffen follte auf ſolche Fra— 
‚gen, durch Die man ihn abfichtlich wollte von jenen Hauptfachen abziehn. 
Das abfpringende Schwanfen vom Befondern zum Allgemeinen finde 
ich auch weder in 2, 11—15. noch in 3, 3—8. Jenes ift ein natürliches _ 
Zufammenfaffen, und ſeitdem war noch, freilich fehr kurz, eine Anweifung 
eingetreter zum Berhalten nach außen hin, die fehr natürlich eine Ver— 
oleichung des ehemaligen Zuftandes mit dem dermaligen herbeiführt. 
Die Sprache ift, wenn man den Brief allein nimmt, nicht fo auffallend 
verfihieden. Die einzige aus Unbeſtimmtheit verdächtige Stelle ift 1,15. 
Auch zwifchen den Aufträgen, die Paulus giebt, und den perſönlichen 
Berhältniffen ift Fein folcher Widerſpruch, wie in beiden Tim. Titus 
erhält freifich Vorſchriften für Kreta und fol doch zu Paulus Eommen. 
Allein ex foll nicht eher fommen, bis Paulus ihm Andere gefickt hat. 
Die Structur des ganzen Briefes ift einfach und enthält nichts unpau- 
liniſches. 1. Von wefentlichen Eigenfohaften der Aelteften mit Rückſicht 
auf die unbequemen Eigenfchaften der Kretenfifchen Judenchriſten. 2. Wie 
Titus die verfchiedenen Gefchlechter und Alter ermahnen fol, damit fie 
Alle dem Evang. zur Ehre wandeln möchten. 3. Wie fte fih nach außen 
hin verhalten und immer die erften fein follten bei gemeinfamen guten 
Werfen. Dann Aufträge. Anders freilich verhält es fich mit zweiten 
Br. an Timotheus. Hier erfiheint widerfprechend der Auftrag, 
baldmöglichſt zu kommen, mit den Borfchriften, die ihm nur helfen 
können, wenn er noch lange da blieb, wo er war. Indeß löſet fich dies 
noch, wenn man von der im ganzen Brief vorherrfchenden Todesahnung 
ausgeht. So war es möglich, daß Timoth. ihn nicht mehr fand, und bie 
Borfhriften, jene Neden auch auf Standhaftigkeit fich beziehend, waren 
eine Art von Vermächtniß. ine zweite Schwierigkeit bildet dieſes, 
daß Paulus von der Aechtheit des Glaubens im Timotheus nur eine 
Veberzeugung wieder aus Glauben hat (1, 5.) und zwar vornämlich 
von wegen feiner Mutter und Großmutter. Als ob ex nicht ſchon eine 
lange Erfahrung davon hätte, Ebenfo führt er aus ihrem gemeinfamen 
Leben 3, 11. nur das alferältefte an, da er doch ſeitdem ſchon viel mehr 
Bewahrungen erfahren hatte. Daffelbe gilt von der Art, wie er ihn 
auf feine Weihe verweift, als wäre alles neu, 1, 6. und 3, 14. 15. So 
daß man den Brief, wenn nur nicht Ephefus erwähnt würde, ganz 


Die Paftoralbriefe. 175 


zeitig fegen möchte. Und dies wird um fo Schlimmer, je fpäter man 
fich den Brief denken fol, am fehlimmften alfo nach der erften Gefan- 
genfchaft. — — Hymenäus und Philetus 2, 17. glaube ich wieder- 
zufinden unter denen, welche 1. Cor. 15. fagen, es ſei Feine Auferfte- 
hung. Denn dies Fonnte ſchwerlich in der Gemeine gefagt werben ohne 
eine allegorifche Auslegung, So etwas kann man wieder fihwerlich 
für gemacht halten. Die Befchreibung 3, 1—7. fieht fehr aus, wie 
eine aus, Kenntniß des römifchen Lebens gefchöpfte Ahndung. Bielleicht 
daß da auch ſchon anfing das Chriftenthum als ein fremder Gottespienft 
in fuperftitiöfem Sinne in Schwung zu fommen. Sonderbar aber ift 
auch hiebei der Werhfel 3, I—9., dann auf Timotheus 10. 11., dann 
wieder zurück 12—13 und dann wieder auf Timoth. 3,,14—4, 2. So 
daß es höchſt ſchwierig if, zu einem Refultat zu kommen. 

Daß ver erfte Briefan Timotheus nur außerhalb der Apo— 
ftelgefhichte feinen Ort findet, ift fhon erwähnt. Außer dem aber, 
was fihon gegen eine Zeit nach der erflen Gefangenſchaft gefagt ift, 
ift noch) zu merken, daß wenn der Brief fo fpät fallen fol, nicht einzu- 
fehn ift, wozu Timotheus Zwei Drittheil deſſelben, nämlich die Ge- 
meinordnung und die Regeln über die Aelteſten noch brauchte und wie 
er ſie in Epheſus, wo es nun ſchon feſtſtehende Sitte gab, anwenden 
ſollte. Paulus könnte demzufolge nach Rom den Brief nur geſchrieben 
haben um deswillen, was gegen die Irrlehrer darin ſteht. Das aber 
iſt fo unbeſtimmt, daß es nicht auf einem beſtimmten Thatbeſtande be- 
ruht. Wenn Hingegen Guerife fagt: Grade ein Eompilator würde 
viel beftimmter einzelne Lehren, gnoftifche over jubaifirende angegriffen 
haben: fo wäre das richtig, wenn der Compilator un dieſer Polemik 
willen den Brief gefihrieben hätte, wag aber aus bemfelben Grunde 
nicht möglich ift, aus welchem Paulus ihn zu dieſem Zwed nicht kann 
geichrieben haben. Deine Meinung ift auch, der Compilator hat ihn 
gefchrieben, um,die Gemeinorbnungen und Wahlregeln irgendwo in 
Umlauf zu bringen, wo fies noch nicht waren; das andere hat er 
mit nicht gehörigem Gefchict mitgenommen. So daß er nicht ganz dem 
Brief an die Ephefer gleichzuftellen ift, fofern Feine Combination in- 
bicirt ift, vermöge deren er Paulo könnte vorgelegt und von ihm ge— 
nehmigt worden fein, 

Die Sache der drei Briefe liegt alfo für mich noch immer fo, Daß 
ich gegen Titus nichts ordentliches aufzubringen weiß, gegen 2. Tin. 
Bedenken habe, die aber nicht ſtark genug find, eine Entſcheidung her- 


176 Vergleichung des Inhalts der Briefe mit d. Perſönlichkeit Pauli. 


$. 92. 


Betrachten wir nun noch in Bezug auf die Zeichen der 
Aschtheit den Inhalt der paulinifchen, Briefe, fo fommen wir 
wieder auf feine Perſoͤnlichkeit zurüd, womit derfelbe über: 
einflimmen muß"). 

Als Paulus noch Berfolger des Chriftenthums war , Fonnte 
feine heftige Feindſchaft gegen daffelbe zu einer Zeit, da es noch 
rein gleichfam eine Synagogenfache war, und die Chriften eine 
neue Synagoge gleich entfernt von Pharifäaern und Sadducäern 
bilden zu wollen fchienen, Feinen andern Grund haben, als daß 
er entweder ein Gegner der meflianifchen Ideen war, oder daß 
er die pharifäifchen Zuſaͤtze zum Gefeß, gegen welche Chriftus ſich 
perfönlich erklärt hatte, für nothwendig hielt, um die Juden defto 
ftrenger von den Heiden zu fondern. Sein Eifer zeigt fich zuerft - 
bei der Verfolgung des Stephanus?), welcher gefagt hatte, daß 
das Volk niemals das Geſetz recht gehalten habe, und daß es 
viel zu fehr an den Aeußerlichfeiten hänge und namentlich daran, 
daß Gott in einem befondern Berhältniffe zur Rocalität des Tem— 
pels ftehen koͤnne. Daher ver leidenfchaftlihe Unwille gegen 
Stephanus, als einen Läfterer des Heiligthums. Aber daraus 
koͤnnen wir nicht Schließen, daß dies der Punct fei, von welchem 
Paulus ausgegangen; ebenfo wird und auch nicht Flar, worauf 
unmittelbar feine Befehrung zum Chriftenthbum fich gründete. 
Wenn man bedenft, von welcher Seite er bei diefer Gelegenheit 
angefaßt wurde, fo liegt in dem Ausdrud: oxArj00v 00. oog 
nevroan Aanriterv Act. 26, 14. daß er fih in Oppofition gegen 
eine unvermeidliche, vollig entſchiedene Nichtung der Gefchichte 
befinde. Knüpft man hieran, fo muß man glauben, daß aud) 


vorzurufen, 1. Tim. aber nicht zu vertheidigen weiß auch bei Dem be— 
ſten Willen. 

1) Dergl. oben $. 34. und Seite 147. 

2) Ach 7, 57, 8,1. 


Verhältniß d. paul. Briefe zu feiner Bildung vor feiner Befehrung. 177 


fein Eifer gegen das Chriftenthbum ſolchen gefchichtlichen Character 
‚gehabt habe, daß er nicht Gegner der meffianifchen Weiflagung 
überhaupt war, fondern fie nur nicht in Ehrifto erfüllt glaubte, 
und daß er für nothwendig hielt, durch firenge Geſetze das Bolt 
in feiner Sfolirung zu erhalten, damit der Meſſias bei feiner Er- 
fheinung einen reinen Boden fände. Betrachten wir in den 
Schriften des Apoftel3 feine große Theilnahme für fein Volk, 
und die Art, wie er fich, feitvem er in Chrifto den Meflias er- 
Fannte, die Verwerfung des Volks ihrer gefchichtlichen Tendenz 
nach erklärte : ſo müffen wir geftehn, daß beides außerordentlich 
zufammenftimmt, und uns daraus das erflären, daß er nun der 
Abfonderung des Volks aufs ftärffte entgegen war. So koͤnnen 
wir uns denken, daß feine Anfichten von den meflianifchen Weif- 
fagungen und von der Beftimmung des jüdifchen Volks in Bezug 
auf diefe Weiffagungen vorher und nachher diefelben gewefen find, 
und daß er, nachdem er überzeugt worden, daß Sefus der Meſ— 
fias fei, feine ganze Handlungsweife diefer Ueberzeugung gemäß 
eingerichtet hat. Die wefentlihe Haupftendenz in den Briefen 
Pauli und in feiner Verkündigung in der Apoftelgefchichte finden 
wir durchaus übereinftimmend mit diefem Entwicklungsknoten 
feiner eignen innern Richtung, wenngleich "wir nicht entfcheiden 
können, ob fich fein Beruf zum Apoftel der Heiden unmittelbar 
an feine Bekehrung Fnüpfte. Man Fanrı aber mit großer Sicher: 
heit behaupten, daß feine große Klarheit über das Chriftenthum 
und feine befländige Befonnenheit in demfelben mit feiner Rich— 
tung auf deſſen Univerfalität und mit der Tendenz, diefe zu 
verwirklichen, zufammenhängt. Wenn wir nun die ſtarke Natio- 
nalität, die fi in feinen Briefen ausſpricht, mit in Betracht ziehn, 
fo müffen.wir auch fehr natürlich finden, daß er vorzüglich gern 
hätte feine Anfichten unter feinem Volk geltend gemacht, und 
er. erzählt felbft, daß dies feine urfprüngliche Richtung gewefen 
daß er aber überzeugt worden, fein Zeugniß werde nicht ange= 
nommen werden. Er nahm nun bei der Hartnädigkeit feines 
Volks die entgegengefegte Richtung. — Dies ift alfo ein Uebergang 
Einl. ins N. T. 12 


l 


178 Berhältniß d. paul. Briefe zu feiner Bildung vor feiner Bekehrung. 


von einem und befannten Frühen zu einem uns befannten Spä- 
tern, die innere Wahrheit in der ganzen Entwidlung des Apo— 
ſtels, die fich gleicher Weife in feiner Lehre in den Actis und in 
feinen Briefen beftätigt findet. 

- Wenn wir nun auf; die. Bildung Pauli fehn und zugleich, 
auf das Factum feiner außerordentlihen Wirkfamfeit, wozu auch 
das gehört, daß die ihm zugelchriebenen Briefe zuerft eine befon- 
dere Tendenz zu einer canonifchen Geltung erlangt haben: fo 
müffen wir ihm in der That eine große geiftige Kraft zufchreiben, 
durch die er das Drgan des chriftlichen Prinzipes oder des goͤtt— 
lichen Geiftes hat werden koͤnnen. Damit müffen alfo auch feine 
Briefe übereinftimmen. Ziehn wir dabei den Character der rabbinifchen 
Schule in Betracht, fo werden wir das Poftulat ftellen: 1. über: 
al indem Apoftel eine gewiſſe fpisfindige Schärfe zu finden, die 
alle Ausgezeichneten ‚in dieſer Schule characterifict, 2. eine gewifle 
Leichtigkeit in allegorifcher Anwendung von altteftamentlichen Das 
tis, 3. ‚eine ‚große: Gegenwärtigkeit des alten: Teſtaments uͤber— 
haupt, um. Stellen daraus, nach den ‚weitern Geſetzen der rabbi- 
nifchen Auslegung zur gebrauchen. Bei diefem Legten müfjen wir 
beachten, daß das A. T. die ganze Litteratur des Volks aus der Zeit 
ſeiner Bluͤthe, feiner. Selbftftändigkeit ald des Volkes Gottes, enthielt, 
und daß. alle, fpätern Producte Dagegen gar nicht in Betracht Famen, 
d. h. daß litterarifch. ganz und gar in jenem gelebt wurde. Dar: 
aus entwicelte ſich von ſelbſt eine, gewiffe weitere Methode, von 
Ausfprüchen in. demfelben ‚Gebraud zu ‚machen. Da Paulus 
nicht zu denen gehörte, welche die meflianifche Idee nicht aner- 
Fannten (im Sadducaͤismus): fo warb auf der andern Geite 
diefe Soee, je mehr fie: fich ‚geltend machte, das ganze Gen= 
trum der Denkungsart. Nun war, ed auch natuͤrlich, daß die 
Propheten vorzüglih auf dieſe Idee bezogen wurden, und 
daß nun. jene weitere Methode im Gebrauch fich darauf rich- 
tete. Daher war, es ein Canon derer, die in diefen Anfichten 
fanden, daß man alle -Weiffagungen, für die fich ein: beſtimm— 
tes Subject nicht nachweifen laſſe, auf: den Mefjias beziehn 


Berbältniß d. paul. Briefe zur feiner Bildung vor feiner Bekehrung. 179 


muͤſſe; wogegen diefer eine andere Eregefe gegenüberftand, welche 
alle Erfüllung der Weiffagungen in die größte Nähe mit dem 
Ausfprechen derfelben bringen wollte. 

Die Neigung zu efftatifchen -Zuftänden, die wir bei dem 
Apoftel finden, bildet einen gewiſſen Contraft mit diefer ſpitzfin— 
digen dialectifhen Schärfe. Man könnte einwenden, daß diefe 
Zuftände des Apoſtels als unmittelbare göttliche Einwirkungen 
anzufehen feien, und daß dazu gar nicht eine befondere Neigung 
gehöre. Aber diefe Anficht ift zu unhiftorifch; wenn das göftliche 
Princip des neuen Bundes ein gefchichtliches werden follte, fo war 
es den Bedingungen alles Gefchichtlichen in feiner Entwidlung 
unterworfen, und mußte in Sedem und auf Seden feiner indivi- 
duellen Natur gemäß wirken. Wenn es alfo folde Momente 
hervorbringt, wie fie der Apoftel erzählt und gern herworhebt, 
aber nicht als feiner Natur widerftrebend: fo müflen wir eine 
vorzüglihe Möglichkeit zu folchen Zuſtaͤnden uns in feine indivi— 
duelle Natur hineindenken, um fie zu begreifen. Dies ſetzt alfo 
eine große innere Lebendigkeit und Beweglichkeit in ihm voraus, 
die es möglich machte, mitten im gewöhnlichen Leben durch das, 
was das Gemüth befonders bewegte, in folche außerordentliche Zu— 
ftände zu kommen, die dann allemal zu großen Entfchlüffen 
führten. Wo nun eine folche Befchaffenheit ift, muß fie fih auch 
in der ganzen Geiftesthätigfeit verrathen; und nun ift auch gerade 
jene lebendige Beweglichkeit verbunden mit der dialectifchen Schärfe 
der überwiegende Character der paulinifchen Briefe. Seder auf- 
merkfame Lefer wird leicht unterfcheiden, was man äußerlich ge= 
nommen leicht verwechfeln kann, nemlich die Beweglichkeit im 
Gedanfengange,. die auf folcher Stärke eines innern Princips 
beruht, daß Alles unter deſſen Gefichtspunck' geftellt wird, und 
den Mangel an Zufammenhang, welcher die Folge des Mangels 
an Uebung in der Gedanfenproduction und an Fähigkeit, einen 
Gegenitand auf ordentliche Weife zu erfchöpfen, ift. Die rafchen 
Uebergänge bei Paulus find nie von der een fondern immer 
von der erftern Art. 

42° 


180 Berhältniß d. paul, Briefe‘ zu feiner Bildung vor feiner Befehrung. 


Die fefte Anficht des Apoftels, daß jetzt zu einer Sfolirung 
des jüdischen Volks Fein Grund mehr vorhanden, fondern Heiden 
und Suden unter dem höhern Princip  zufammenzufaffen feien, 
findet fich al5 ein Hauptpunck in allen feinen Briefen, aber ver: 
fchieden vorgetragen, wenn er zu folchen Chriften redet, die ſchon 
ganz fein Verfahren Fannten, und bei denen dieſe Grundideen 
daher nicht mehr fo heraudtreten, oder wenn er zu denen  fpricht, 
die mit ihm weniger  befannt waren. Wir haben nun Briefe, 
die gleichfam auf, allen. Puncten diefer Linie fiehn.. Der Brief _ 
an. die Römer hat, ganz abgefehn davon, daß Paulus viele per— 
fünlihe Bekannte unter ihnen hatte, durchweg. ‚den Character, 
feine ganze Verkündigungsweife in Bezug auf eine erſt anzuknuͤ— 
- pfende Gemeinfchaft zur Darjtelung zu bringen... Aehnliches ‚haben 
wir im Colofjerbrief, indem wir fefthalten, daß Paulus noch nicht 
in Coloſſaͤ gewefen war, wenngleih Einige ihm dort befannt 
waren, . Daneben haben wir andere Briefe an Gemeinden, mit 
welchen er aufs genauefte bekannt war, an die Philipper und die 
Gorinther; zwiſchen diefen aͤußerſten Puncten „liegen die andern 
Briefe: Aber überall finden wir diefe Ideen durchherrſchend, 
wenngleich auf verfchiedene Weife. Da es zwifchen den beiden 
Elementen der Gemeinden, weil Seder aus feiner frühern Exi— 
jtenz mitbrachte, was dem Andern fremd war, natürlich immer 
Reibungen und Verwicklungen gab: ſo finden wir auch in den 
Briefen beſtaͤndig die Tendenz zur Vermittlung, bald ſich auf be— 
ſtimmte Vorkommenheiten beziehend, wie in den Corintherbriefen, 
bald mehr vorbauend im Allgemeinen, wie im Coloſſer- und 

Epheferbriefe. 
| Zu. der rabbinifchen Bildung gehörte überall auch eine ge— 
wiſſe Virtuofität, in. kurzen Sägen und einzelnen Sprüchen zu 
reden und in dieſe sufammenzudrängen , was über Einzelneö ges 
fragt war, und Dadurch weitere Gedankenentwidlungen zu ver— 
anlafjen 1). Dies zeigt fich in dem, was wir in vielen paulini- 





1) Bergl, Schleierm. Sendſchr. über 1. Tim. Seite 138. 


Zujammenfaffende Betrachtung der pauliniichen Lehre, 181 


fchen Briefen ald einen befondern gnomifchen Theil abgefondert 
finden, aber fo, daß eben diefe Verhaͤltniſſe zwifchen den werfchies 
denen Elementen der Gemeinden die Gegenitände find, auf welche 
feine Belehrungen gehn. Im Wefentlichen jtimmt der Inhalt 
derfelben überall mit dem, was wir von einem Manne wie Pau 
[us vorausfesen müffen, außerordentlich zufammen. Nur freilich 
ift hierbei Feine Gleichförmigfeit in den einzelnen Briefen, fondern 
wir fehn diefelben Abftufungen, die wir fehon in Bezug auf die 
Authentie gefunden haben. Da muß alſo gefragt werden, wie 
ſich die Puncte, die fich als die Ächteften und ficherften bewähren, 
und die enfgegengefeßten zu einander verhalten und. fich gegen— 
feitig ausgleichen. . Diefe- zufammenfaffende Betrachtung macht 
dag Ende der ganzen Unterfuchung über die paulinifchen Briefe aus. 


S. 53. 


Paulus mußte nothwendig, wenn er nicht fein ganzes frühe- 
reö Leben aufheben wollte, was das gute Gewiſſen einer Froͤm⸗ 
migkeit nach dem Geſetz nicht litt, die allgemeine Offenbarung 
im alten Teſtament feſthalten, d.h. eine durch die ganze Geſchichte 
des jüdifchen Volks hindurchgehende. Der Punct, an den er fi 
daher zunächft gewiefen fand, war Abraham, während er nun das 
moſaiſche Gefeß als ein zwifcheneingefretenes dachte, um Das 
Volk zu ifoliren und es zum Bewahrer der richtigen Gotteser- 
fenntniß zu machen. Man hat hierbei dem Paulus oft vorge- 
worfen, daß er entweder feine Meinung geändert habe oder in 
feiner Praxis von feiner Theorie abgewichen fei, indem er darauf 
drang, daß die Zudenchriften im Umgang mit Heidenchriften 
fich Feine Schranken fegen follten, wogegen er felbft in Serufalem 
an der gefeglichen Löfung eines Gelübdes Theil nahm!), was 
nicht einmal durch das Geſetz felbft geboten, fondern nur von der 
fpatern Zradition als verdienitlich angefehn wurde. Aber bie 
Sache verhielt fich offenbar fo: Einerſeits hielt er die religiöfe 


1) Act. 21, 24—26. vergl. Act. 18, 8. 


BE; Pauli Lehre vom Verhältniß 


Nothwendigkeit der Beobachtung des Gefeßes durch die Erfchei- 
nung Chrifti für vollkommen befeitigt, und in diefer Bedeutung 
macht er immer einen Gegenfaß zwifchen der Gerechtigkeit aus 
den Werken des Geſetzes und der Gerechtigkeit aus dem Glau— 
ben; erftere fei früher aufgeftelt, als lestere noch nicht eintreten 
konnte. Andrerfeit3 gab es noch ein andre Element der Theo— 
cratie, dad politifche, und in Beziehung auf diefes Fonnte er 
die Berbindlichkeit des Gefeßes noch anerkennen, aber nur für 
den Kreis, für den es urfprünglich gegeben war, für die Nach— 
fommen Abrahams zare oaoxe und im Gebiet von Paläftina. 
Es ift wohl ein unbeftrittenes Factum, daß, fo lange der Tempel 
von Serufalem beftand, die Chriften in Paläftina ganz ebenfo das 
Gefeß gehalten haben, wie die Juden, und dagegen hat ſich Pau- 
lus gar nicht ausgefprochen, weil dies gar nicht mit dem unmit- 
telbaren Berhältnig zu Gott zu thun hatte. Alfo bat er ſich 
nicht widerſprochen, wenn er den Petrus tadelte, daß er ſeine 
Lebensweiſe, die er in Antiochien mit den Heidenchriſten gefuͤhrt, 
den Judenchriſten zu Gefallen aͤnderte, und wenn er dann doch 
in Jeruſalem ſolche Handlung beging, welche vor den Augen 
des Volks als eine oͤffentliche Anerkennung des Geſetzes er— 
ſcheinen mußte. 

Merkwuͤrdig iſt aber, wie Paulus die Gerechtigkeit aus den 
Werken des Geſetzes nicht bloß als eine juͤdiſche, ſondern auch als 
eine heidniſche darſtellt, als einen allgemein menſchlichen Zuſtand, 
welcher der goͤttlichen Offenbarung in Chriſto habe vorausgehn 
muͤſſen, wenn auch in verſchiedener Form. Er haͤlt alſo in dem 
Geſetze das politiſche und ſociale Element als das urſpruͤngliche 
feſt und ſieht das politiſche und das moraliſche Urtheil im Volke 
als Eins an, aber nur als eine Vorbereitung, um das Bewußt— 
fein der Sünde und Erlöfungsbedürftigkeit zu erweden. Wenn 
er diefe beiden Elemente, das politifche und religiöfe, im theo— 
cratifhen Gefeß als urſpruͤnglich verfchieden geſetzt hätte, 
fo hätte er nicht die Theorie aufgeftelt, die durch alle feine Briefe 
fih hindurchzieht, aber da das Gefes durch Mofes von Gott 


des mofaifchen Gefeges zum Chriſtenthum. 183 


gegeben war, fo hatte e8 auch das religiöfe Element in der innig— 
ften Verbindung mit dem politifchen. Daher mußte er eine Aus— 
kunft darüber geben, wie durch die Anerkennung Chrifti die reli— 
giöfe Werthſchaͤtzung des Geſetzes aufhörte, aber auch, wie die 
göttliche Offenbarung durch Chriftum und die im alten Bunde 
nicht mit einander in Widerfpruch jtänden. Das Erſte denkt 
er fih fo: daß Chriftus durch das Geſetz getödtet worden fei, 
d. h. daß ein hinreichender Vorwand dazu aus dem Gefeß ge= 
nommen werden Fonnte; daraus folgert er, daß alle auch unter 
demfelben Geſetze Stehenden, die Chriftum anerkennen, darum 
aufhören müßten, das Geſetz anzuerkennen. Das iſt das, was er 
am ſtaͤrkſten durch die Formel ausdruͤckt: durch das Geſetz dem 
Geſetz geftorben fein!). Das Zweite iſt, daß er die goͤttliche An— 
forderung an Abraham und die göttliche Anforderung an feine 
Zeitgenofjen zur Anerkennung Chriſti als identifch darftellt. Hierbei 
koͤnnen wir fragen, warum er nicht ebenfo auf Noah zurüdgeht; 
denn auch dort iſt eben folches Verhältniß des Glaubens begrün=- 
det, indem Noah nur auf das göttliche Verfprechen, daß Gott die 
Erde nicht wieder verderben würde, die neue Cultur derfelben 
begonnen. Es laffen fich nun zwei Gründe dafür angeben, daß 
Paulus nicht hierauf zurüdgeht, die beide mit einander verbun— 
den werden müffen: 1. nach der Auslegung, die Paulus ‚dem 
göttlichen Verfprechen an Abraham gab, indem er es auf Chriftus 
bezog, hatte diefe Berheigung eine geiftige Bedeutung, während 
die dem Noah gegebene eine irdifche war; 2. die Yebtere hätte 
auch nicht fo das Judenthum erklären koͤnnen, weil fie einen In— 
halt für das ganze menschliche Gefchlecht hatte. So bleibt Pau— 
lus bier wegen feine Sudaismus auch bei Abraham ftehn. — 
Wenn nun alfo Paulus die Sache fo darftellt, daß jeßt erft die 
göttliche. Forderung ihrem göttlichen Inhalt nach erkannt fei 
‚und dadurch für alle, die fie Fennen, der Werth jeder Geſetzge— 
bung im Berhältniß zu Gott aufgehoben fei: fo liegt darin, 


1) Bat. 2, 19. 


154 . Symbolifirende Auffaffung 


daß er für die Heiden ebenfo, wie für die Juden, eine Gerechtig- 
feit aus dem Gefeß gelten ließ und auf diefem Gebiete den Unter: 
hied zwifchen einem gegebenen und einem auf dem Gebiet der 
menfchlichen Natur und Gefchichte gewordenen völlig aufhob, dann 
aber auch, daß nun. die göftlihe Forderung an den Menfchen 
nicht mehr unter der Form des Gefeßes geftellt werden, fondern 
ſich realifirend al3 ein Regiertſein vom göttlichen Geifte erfchei: 
nen follte. 

Es giebt nun in der paulinifchen Theologie, wie fie fih in 
den Briefen darftellt, noch einige merfwürdige, dem Apoftel eigen= 
thümlihe Puncte, wozu wir ebenfalls in der Art, wie er zum 
Chriſtenthum Fam, den Schlüffel ſuchen müffen. 

Hierher gehört, was fich zunächft an das bisher Gefagte an= 
ſchließt, das Symbolifiren der Auferfiehung Chrifti. Wie der Tod 
Chrifti als durch das Gefeß bewirkt mit der Aufhebung der religio- 
fen Schäßung des Gefekes zufammenhängt, alfo dad Ende des geſetz— 
lichen Lebens vermittelt, fo denft er den Anfang des neuen Le— 
bens als vermittelt durch die Auferftehung Chrifti. Dies ift 
allerdingS nur eine Darftellunasweife, die ficb aus jenen Puncten 
am beften erklärt; Feineswegs hat der Apoftel dadurch die Reali— 
tät und Geſchichte der Auferftehung Chrifti in Schatten ftellen 
wollen, die er vielmehr fo. ſtark hervorhebt,, wie e3 fih auch nur 
durch die Art, wie er zum Chriftentbum gefommen war, erklären 
läßt. Aber die Darftellung des neuen Lebens, deſſen Grund der 
Glaube, und deſſen lebendige- Kraft der göttliche Geift ift, im 
Verhaͤltniß zu der Auferftehung Chrifti hängt unmittelbar zufam- 
men mit der Aufhebung des gefeßlichen Lebens durch den Tod 
Chrifii. Hierbei ift noch zu bemerken, daß Paulus fih auf gleiche 
Weiſe des Ausdruds bedient: mitChrifto dem Gefege fterben, und: 
mit Chrifto der Sünde fterben. Beides ift nicht vollfommen identifch, 
ausgenommen, fofern man fagt: wenn Chriftus durch das Geſetz 
getödtet wurde, fo hätte das nicht gefchehn Fönnen ohne eine fündige 
Richtung, welche auf die Auslegung und Anwendung des Geſetzes 
Einfluß hatte. Aber es ift dies noch anders: Paulus fchreibt das 


+ 
= 


der Auferſtehung Ehriffi bei Paulus. 185 


als das eigentliche innere Wefen dem Geſetze zu, daß es die Er- 
Eenntniß der Sünde hervorbringt, der Sünde als Manifeftation, 
des innern Verderbens in einzelnen Handlungen, in welchen fich 
der Widerfpruch mit dem Gefeße zeigt: Nun tritt aber offenbar, 
fo wie das Geſetz in den Hintergrund tritt, auch der Werth der 
einzelnen Handlungen in den Hintergrund; und wie der göttliche 
Wille in den Gläubigen Geift ift, d. h. innerer Smpuls, fo ift 
auch die Unangemeffenheit zum göttlichen Gefeße als innere Re— 
gung, Smpuls, zu feßen; das ift der Begriff der odo&, des vorog 
Ev Tois ereoıw. Dadurch ift Elar, daß auch der ganze Begriff 
der Sünde mit der Aufhebung der religiöfen Schäßung des Ger 
feßeS eine ganz andre Bedeutung befommen, und ebenfo Geift 
werden muß, wie die Gerechtigkeit. Daher auch jenes Symbo— 
lifiren der Auferftehung als Zypus des neuen Lebens, weil das 
ganze Leben und Sein Chrifti nach derfelben nicht mehr ald ein 
ſolches Außeres gedacht wurde und hervortrat. Um dies aber 
ganz zu verfiehn, müffen wir noch auf einen Punct aufmerkfam 
machen. 1. Cor. 15., wo Paulus von der Auferftehung Chriſti 
dogmatifch gegen folche redet, die eine allgemeine Auferftehung im 
gewöhnlichen Sinne läugneten, zahlt er die Manifeftationen Chrifti 
als des Auferftandenen an feine Junger auf und führt dabei fich 
felbft als den leßten an. Das fann nun auf nichts Andres zus 
‚rüdgeführt werden, ald auf das Factum, welches feine Bekehrung 
zum Chriſtenthum bewirkte; fo daß ihm der Unterfchied zwifchen 
der Zeit, die der Himmelfahrt Chrifti voranging und der darauf 
folgenden völlig aufging. Das ift nun offenbar nicht fo zu er- 
Elären, daß Paulus gemeint, Chriftus fei damals, als er fich be= 
kehrt, noch auf Erden gewefen in demfelben Sinne, wie in den 
40 Sagen; fondern es ift ein Zufammenfaffen der beiden Begriffe 
des Auferftehens und des Himmelfahrens Chriſti, fo daß er die 
einzelnen Manifeftationen nach der Auferfiehung nur ald Ausnah— 
men feßt. Doc muß man fich hüten, Feine voreiligen Schlüffe 
zu machen, ob Paulus von einer Himmelfahrt Ehrifti Feine wahr: 
nehmbare Facta gehabt habe. Daraus aber, daß er fich beide 


156 Pauli Lehre von der Wiederfunft Chrifti 


als Eins denkt, erklärt man fich am leichteften, daß das neue Le— 
ben ebenfo eine Beziehung auf die Auferftehung Chrifti hat, 
wie das dem Geſetz Abfterben auf feinen Zod. 

Hieran Enüpft fich eine andere dem Paulus eigenthümliche 
Lehre; die von der allgemeinen Auferftehung und von der Wie- 
derfunft Chrifti, die in eben folchem BVerhältniffe zu einander ftehn, 
wie der Tod und die Auferftehung Chrifti zu dem Ende des alten 
und dem Anfange des neuen geiftigen Lebens. Es ift fehon er: 
wähnt, daß man allerdings eine Aenderung der Anfichten des 
Apoftel3 von der Zeit der Wiederkunft Chrifti nicht läugnen Fann ?), 
wenn man nicht auf Die gezwungenfte Weife mit der Auslegung 
feiner Neußerungen verfahren will. Dennoch geht nicht daraus her— 
vor, daß er fich dieſer Aenderung auf beftimmte Weife bewußt 
geworden fei; denn er ftellt diefe Ueberzeugungen nie al$ einen 
fo doctrinelen Sab auf, daß damit eine fo ganz beftimmte Zeit- 
erfcheinung gedacht if. Die ganze Borftellung kann nur unter 
ver Form des Bildes fein, und daher Fan er es fich bald fo, 
bald fo gedacht haben. So wie die Heiligung ein allmähliges 
Merk des göttliben Geiftes ift, fo ift auch die Beſitznahme der 
göttlichen Wahrheit nur eine allmählige. — Aber auch den eigent- 
lichen Inhalt feiner Darftellung über diefen Punct Fan, man nur 
als etwas Bildliches, nicht als etwas Theoretifches auffaffen. In 
den Briefen an die, Eheffalonicher ift offenbar die Beruhigung 
der Gemüther der eigentliche Zwed, und man fieht, daß die herr- 
chende Borftellung von einer nahen Wiederkunft Chrifti und ei— 
ner gänzlichen Umgeftaltung aller Dinge zum Grunde liegt. Im 
erften Brief an die Corinther ift der Gefichtspunct eher dogmatiſch; 
da kommt es auf die Realität der Sache als einer Fünftigen 
Thatſache an, und Paulus läßt fich darauf ein, mögliche Einwürfe 
zu widerlegen, die davon ausgehn, daß fich Fein anfchauliches Bild 
davon machen laſſe. Da ftellt er nun eine Theorie auf über 
1) Siehe oben $. 43., vergl. dagegen in der Note die Anficht des erſten 

Entwurfs. 


und der allgemeinen Anferftehung. — 1. Cor. 15, 24—28. 187 


das Berhältniß des Fünftigen Lebens von feiner organifchen Seite 
betrachtet zu dem gegenwärtigen; und da ift es eine interefjante 
Frage, in wiefern dies als eine allgemein chriftliche Lehre und als 
ein unmittelbares Refultat der Wirkung des göttlichen Geiſtes 
anzuſehn, oder in wiefern es eine individuelle Anficht fei. Be— 
denken wir, wie Paulus feine‘ Darftelung immer durch Analogien 
rechtfertigt, (von der Pflanze, die auf unfichtbare und thätige 
Meife fhon im Samenforn enthalten fei): fo fünnen wir nicht 
läugnen, daß damit zugleich die Genefis feiner Borftellung ange— 
geben ift. Diefe Analogie liegt in der Naturfunde, und diefe 
ift nicht ein Gegenftand des göttlichen Geiftes; die Darftellung 
ift alfo ein Product aus dem Kreife von Vorftellungen, welchen 
der Apoftel hatte. 

1. Eor. 15, 24—28. findet fi * merkwuͤrdige Punct, daß 
die Herrſchaft Chriſti einmal aufhoͤren, und er ſie Gott uͤbergeben 
werde, wenn alle ſeine Feinde uͤberwunden ſeien, von denen der 
Tod der letzte ſei; ſo daß dies alſo mit der allgemeinen Auferſte— 
hung zuſammenhaͤngt. Es hat dies eine gewiſſe Aehnlichkeit mit 
den Anſichten derjenigen Theologen, welche eine Perfectibilitaͤt des 
Chriſtenthums in Bezug auf die Idee der chriſtlichen Kirche ſelbſt 
annehmen. Denn ſo lange alle Entwicklung unſrer Vorſtellungen 
und die Geſtaltung unſers Lebens im Verhaͤltniß zu Gott nur 
Darſtellung iſt von dem, was urſpruͤnglich in Chriſto gegeben iſt, 
ſo iſt das eine Herrſchaft Chriſti, und wenn wir annehmen, daß 
alles Menſchliche nur Annaͤherung an Chriſtus ſei, ſo ſetzen wir 
eine ewige Herrſchaft Chriſti. Wenn wir aber ſagen, daß eine 
Zeit fommen wird, wo der menfchliche Geift diefes Zufammenhangs 
mit Chriftus nicht mehr bedürfen wird: fo hat ed dann mit der 
Herrfchaft Chrifti ein Ende. Wenn alfo Paulus fagt, die Herr— 
ſchaft Chrifti werde fo lange währen, bis alle Feinde von ihm 
überwunden find: fo fcheint er damit zu behaupten, daß die Herr: 
[haft Chrifti nur fo lange dauern werde, fo lange im Leben der 
Menfchen ein Streit if. Das kann man allerdings als den In— 
halt diefer Darftellung anfehn. Nun ift natürlich, daß man immer 


I 


188 Stufen höherer Geifter. 


eine andre Auslegung hiervon gefucht hat, weil es im Wider— 
ſpruch fteht mit der allgemeinen Auffaffung unfers Verhältniffes zu 
Chriſto und Chrifti zu Gott; aber es ift immer höchft merfwürdig, 
dag wir ſchon in den apoftolifchen Schriften einen Punct finden, 
der eine Analogie mit jener Anfiht hat. Nun ift es Feineswegs 
meine Meinung, daß dies der eigentliche Sinn des Apoſtels gewefen, 
daß er es fo habe auf das Geiftige beziehn wollen ; die ganze Dar— 
ftellung verfirt in einem Zufammenhange, worin offenbar weit mehr 
das Phnfifche, die Naturanfiht vom Zufammenhange des gegen- 
wärtigen mit dem-fünftigen Leben vorwaltet; und fie hängt zufam- 


men mit der Vorſtellung, die Paulus auch gegeben, von einer 


Abftufung der geiftigen Kräfte in jenem eben, aber innerhalb des 
Gebietes des menfchlihen Geiftes. Aber auch das ift nur von 
der Naturfeite dargeftellt; und es, ift zu viel gefchloffen, wenn 
man fagen wollte, Paulus habe in diefer Hinficht das Ende der 
Herrfchaft Chrifti angenommen; er hat es nicht in dieſes Leben, 
fondern darüber hinausgefest. 

Ein anderer Punct, den wir beachten müffen, ift der, daß 
man fih Mancherlei als paulinifche Lehre gedacht hat in Bezie— 
hung auf geiftige Wefen oberhalb des menfchlichen Geiftes, auf 
Beranlaffung einzelner Stellen, die eine andre Auffaffung nicht 
nur zulaffen, fondern im Zufammenhange poftuliren. Es liegen 
Dabei zugleich ſchwer zu erflärende Widerfprüche vor. Man bat 
nemlich, befonders in früherer Zeit, geglaubt, daß fich in manchen 
Stellen paulinifcher Briefe (Col., Ephef., 1. Lim.) Spuren von 
"Polemik gegen gnoftifche Meinungen finden; zugleich aber behaup- 
tet man, daß der Apoftel felbft eine Theorie von mannigfacher 
Abftufung höherer geiftiger Wefen gehabt habe, was doc eine 
große Analogie mit den. gnoftifchen Spyitemen if. Wenn beides 
in derfelben Negion läge, fo müßte des Paulus Meinung über 
diefen Punct befonders unterfchieden und hervorgehoben werden 
im Gegenfaß zu jenen, die er widerlegen wollte. Nun aber ift 


eine Operation, die fehr umerläßlich ift, diefe, Daß, wenn man: | 


eine folhe Meinung bypothetifch annimmt, man fie auch zum 


7 


> 


Pauli Genugthuungsfehre. 189 


Grunde legt für alle Auslegung in andern Schriften deffelben 
Berfaflers; das gefchieht aber felten, und deshalb hat fich fo viel 
leeres Hppothetifches eingefchlihen. Wenn wir annehmen, Pau: 
lus habe ſolche Abftufung geiftiger Wefen vorausgeſetzt, und wir 
lefen nun 1. Cor. 15, 41. 42.: in jenem Leben haben die Men: 
fchen verfchiedene Abjtufungen der Herrlichkeit, wie die Geftirne: 
fo hätte er jene Theorie über die Geifterwelt doch auch in Korinth 
vorgetragen, und da wäre es doch viel natürlicher, gewefen, daß 
er dieſe Bergleihung von den höhern Wefen genommen hätte, 
die doch etwas Geiftiges find, als daß er fie von den entfernter' 
liegenden phufifchen Gegenftänden, den Weltkörpern, hernimmt. 
Es ift alfo wohl jede folhe Darftellung ſchon an und für fich 
ſehr verdächtig; und wenn man nun fieht, wie an diefen Stellen 
ſelbſt eine ganz andre Auslegung poſtulirt ift, weil von folchen 
Borftellungen für dad, was dort ermittelt werden foll, gar Fein 
Gebrauch gemacht werden kann, fo muß dies einen großen Ver— 
dacht dagegen erregen). Es gehört dies nothiwendig zum richti= 
gen Gebrauch deffen, was auf dem Gebiete der Auslegung ſchon 
gefchehn ift; und es giebt wohl feinen neuteftamentlichen Schrift: 
fteller, bei dem die Borfiht gegen herrfchend gewordene Auslegung 
fo nöthig wäre, wie bei Paulus, | 

Ein Beifpiel hiervon iſt Folgendes: Es iſt befannt, daß 
man paulinifche Stellen genug für Die Behauptung. herbeigezogen 
hat, daß eine auf Rechtsbegriffen von Strafgerichtsbarkeit gegrün- 
dete Genugthuungslehre urfprünglich neuteftamentlich ſei. Bedenkt 
man, wie Paulus fo beftiimmt die Gerechtigkeit aus den. Werfen 
des Geſetzes und die neue durch Chriftus offenbarte Gerechtigkeit 
einander gegenüberftellt: fo fcheint das unmöglich feine Anficht 
gewefen zu fein. Viele Stellen find offenbar dagegen, aber diefe 
werden nicht berüdfichtigt. Wenn Paulus fagt: die Gerechtigkeit 


1) Anm. Ueber die Art, wie Schleiermacher die betreffenden Stellen aus⸗ 
legt, vergleiche man feine Abhandlung üder Col. 1, 15—20. in Stud, 
und Erit. 1832, ©. 497 ff. in Schleierm. ſämmtl. Werk. Abtheil.1. Bo. 2, 


190 Nöthige Vorſicht bei Auslegung paul. Stellen. 


aus dem Geſetz fei aufgehoben, und die, welche der Geift regiert, 
haben fein Gefeß; und wenn Strafe fih nur auf beftimmte gefeß- 
widrige Handlungen bezieht: fo fieht man, wie garnicht von 
einer Strafgerechtigfeit die Nede fein Tann. Alle Darftellungen 
bei Paulus vom göttlichen Zorne, die aus dem altteftamentlichen 
Gefihtspunete genommen find, beziehn fich ebenfalls nur auf das 
Geſetz. Wenn er nun den Streit des Geiftes gegen das Fleifch 
nachher fixirt als mit der Zheilnahme am Geifte beginnend und 
niemals aufhörend, fo wäre, wenn diefer Streit follte das Straf: 
bare fein, diefe Strafbarfeit etwas ganz Allgemeines; aber es 
ließe fich dann Feine Uebertragung der Strafe denken, weil fein 
Geſichtspunct da ift, wornach dieſe Fünnte ausgemittelt werden; 
wie denn auch die Sache fo niemals dargeftellt worden ift, fon- 
dern immer aus dem Geſichtspunct der einzelnen Handlungen, 
Sobald man aber jenes Verfahren beobachtet und jenen Begriff 
hypothetifch annimmt und alle Aeußerungen des Apoftels über 
den Gegenfaß zwifchen dem Alten und Neuen und über das, was 
Gott durch Chriftum beabfichtigt, an jene Vorftellung Hält, ſo 
wird man fehn, daß fie fih mit den beftimmteften Aeußerungen 
deffelben nicht verträgt, alfo auch nicht die feinige kann gewefen fein. 

Unter allen neuteftamentlichen Schriftftellern iſt keiner -in 
diefer Beziehung fo reichhaltig, wie Paulus, und aus feinem 
laſſen fich fo viele Elemente, welche in der Entwidlung der. chrift: 
lichen Lehre fruchtbar gewefen find, aufführen; aber auch bei kei— 
nem muß man fich fo hüten, auf Erklärung einzelner Stellen aus dem 
Zufammenhang geriffen und mit fpätern BVorftellungen in Zuſam—⸗ 
menhang gebracht zu trauen. Darum ift Feine andre Methode 
für das Studium der paulinifchen Schriften anzurathen, ald daß 
man bei jedem einzelnen Briefe zuerft die allgemeine Vendenz 
deſſelben aufſuche, fich die Compoſition Far mache und alfo 
das, was ihm in diefem Briefe Hauptfache ift, von dem Beiläu- 
figen fcheide, und für die Hauptpuncte, um fich feine Totalanficht 
zu geflalten, nur dasjenige fefihalte, wovon er ex prolesso han 
delt und. um das es ihm unmittelbar zu thun iſt. Was als ſecun— 


Verſchiedene Schäkung des Paulus in der Kirche. 191 


där erfcheint, muß erft geltend gemacht werden, wofern man ans 
dere Stellen findet, wo derfelbe Gegenftand ex professo behandelt 
wird. Hiernach bleiben für das eigentlich Dogmatifche immer Die 
Briefe an die Römer, Galater und Eoloffer die wichtigften, weil im 
erſten und legten dem Apoftel offenbar um allgemeine Darftellung: 
feiner Methode zu thun ift, ausführlicher im Roͤmer-, gedrängter 
im Golofferbrief, im Galaterbrief aber er zwar von einem einzelnen 
Puncte ausgeht, der aber für ihn felbft der Mittelpunct war. 
Wenn man fih nun in diefen Briefen den Gang des Apoftels 
vecht Ear macht und die Aeußerungen, die fih auf die Haupt: 
puncte de3 ganzen Zufammenhangs beziehn, auf etwas Gewiſſes 
zu bringen fucht: fo wird man ein Ne von Hauptvorftellungen 
befommen, in welches fich die andern eintragen laſſen, und womit 
dann die Andeutungen des Apoſtels uͤber ſein eignes Leben zu 
vereinigen ſind. In den andern Briefen werden dann wenige 
Puncte ſein, die etwas Beſonderes hinzubringen, was in jenen 
nicht angeregt waͤre. 

Allerdings hat Paulus von Anfang an in der chriſtlichen 
Kirche merkwuͤrdige Schickſale erfahren, von Einigen einſeitig her— 
vorgehoben, von Andern einſeitig zuruͤckgeſetzt. Das Erſtere hat 
in ſofern ſeinen guten Grund, als Paulus das bedeutendſte Organ 
geweſen iſt, die Univerſalitaͤt des Chriſtenthums zu begruͤnden 
und es ſo zu fixiren, daß es durch ſich ſelbſt beſtehen ſollte. Der 
Verdacht gegen Paulus ging dagegen urſpruͤnglich von den judai— 
ſirenden Chriſten aus, bei denen eine geringere Vorſtellung von 
der allgemeinen Bedeutſamkeit des Chriſtenthums galt, indem ſie 
es als die letzte Entwicklung des Judenthums anſahn. Auf ent-⸗ 
gegengeſetzte Weiſe iſt neuerlich ein Zuruͤckſetzen der pauliniſchen 
Darſtellung zum Vorſchein gekommen, weil man glaubt, darin 
eine zu ſehr juͤdiſche Faͤrbung zu ſehn; er habe zuerſt Zuſaͤtze zur 
einfachen Lehre Chriſti gegeben und Darſtellungen von der Dig— 
nitaͤt Chriſti, die in den Aeußerungen Chriſti ſelbſt gar nicht in— 
dicirt ſeien. Allerdings wenn man auf der einen Seite ſagt, 
Paulus habe das Chriſtenthum rabbiniſirt, und auf der andern, 


⸗⸗ 


192 Sprache der paul. Briefe. 


Johannes habe ſich ſelbſt hineingehoͤrt, und man behält Nichts 
übrig, als die fynoptifchen Evangelien und die Fatholifchen Briefe : 
jo kann man fehr Vieles als nicht im urfprünglih Chriftlichen 
gegründet darftellen, und man befommt ein Nefultat, wovon es 
fich gleichfam von felbit verfieht, daß darüber hinausgegangen wer: 
den muß. Aber man fest fich dadurch in den größten Widerfpruch 
mit der urfprünglichen Entwidlung in der chriftlichen Kirche; denn 
die paulinifchen Briefe haben zuerft canoniſche Geltung gehabt, 
und es ift Niemanden zu der Zeit eingefallen, fie als etwas nicht 
rein Chriftliches darzuftellen, fondern wir müfjen fie anfehn , als 
durch die Gefammtheit des apoftolifchen Kreifes vollftändig be- 
glaubigt. Es müßte wunderbar zugegangen fein, wenn es richtig 
wäre, daß er jüdifcherabbinifche VBorftelungen in das Chriſtenthum 
gebracht, und es follte fich nicht eine ganz andere Oppofition 
gegen ihn bemerklich gemacht haben, als die, welche in den Actis 
erwähnt wird, und es follte folhe Zufammenftimmung zwifchen 
ihm und den andern Apofteln fein koͤnnen, wie doch offenbar dee: 
gewefen ift. Daher ift es allerdings richtig, daß die paulinifchen 
Schriften müfjen als die wichtigften Beftandtheile des N. ZT. an: 
gefehn werden, nur muß man bei der Auslegung mit der gehoͤri— 
gen Borficht zu Werke gehn und die rechte Methode anwenden. 


’ $. 34. 

Was die Sprache der paulinifhen Briefe betrifft, 
fo entbehrt Bolten’s Hypothefe, daß Paulus feine Briefe ara= 
mäifch dictirt, und der Schreiber fie gleich griechifch niedergefchrie- 
ben habe, aller Gründe, da Feine Tradition darüber vorhanden, 
und es unmöglich ift, daß Paulus, der auf feinen Reifen nie ei- 
nen Dollmetfcher zuzog, nicht follte des Griechifchen mächtig ge— 
weſen fein; auch ift die Sprache in ihrem Periodenbau gar nicht 
wie eine Uebertragung aus dem Aramäifchen. ' Der einzige, aber 
ziemlich unfichere Haltungspunet ift, daß einzelne fihwierige Stel: 
len leichter zu erklären find, wenn man fich denkt, daß der Ueber— 
feßer ein aramäifches Wort falfch verftanden habe; aber dann 


\ 


Wi 


Sprache des Epheferbriefes und der Paftoralbriefe. 193 


hätte der Apoftel fich ja nicht einmal die. Ueberfeßung vorlefen 
laffen, um zu fehn, ob auch, was er gewollt, richtig ausgedrüdt 
fei. Daß das Griechifche des N. T., auch das paulinifche, einen 
andern Character hat und lesbarer ift, als das der LXX., hängt 
damit zufammen, Daß es bei den re Suden in Afien 
mehr ins Leben übergegangen war. | 

Betrachten wir_die Sprache des Apoſteis in allen Briefen 
als eine Einheit, ſo werden wir finden, daß die Briefe, welche 
nach den innern Kennzeichen die meiſten Gruͤnde der Aechtheit 
fuͤr ſich haben, auch die ſind, aus denen man den Character des 
pauliniſchen Stils am ſicherſten entnehmen kann; wogegen wahr 
iſt, daß fich die drei Paftoralbriefe und der Epheſerbrief 
bedeutend von den übrigen unterfcheiden. Der Iektere weicht 
nicht fo fehr der Sprache wie dem Stile nach ab; es zeigt fich 
darin ein gewiſſer Wortreihthum, der oft Stellen aus dem Colof- 
ferbriefe mehr mit Redensarten, als mit Gedanken erweitert (cf. 
De Wette) und das überfpringt, was fehwieriger fo zu hand- 
haben war. 

Die Paftoralbriefe, die ich in Bezug auf die innern 
Kennzeichen der Aechtheit nicht fo zufammengenommen habe, 
bilden dod in Bezug auf die Sprache ein gewiffes Zufammen- 
geböriges; und da find nicht bloß einzelne Worte, fondern auch 
Phrafen, die fonft nicht bei Paulus fich finden; weßhalb man fie 
in eine andere Zeit, die der zweiten Gefangenfchaft, ſetzte. Allein 
fieht man außer der Sprache zugleih auf die Compofition, fo 
verliert fich die Aehnlichkeit wieder, und die, welche am mwenigften 
der paulinifchen Compofition ahnlich find (1. u. 2. Zim.), unter- 
fcheiden fi) doch noch von dem dritten (Zit.) bedeutend. Ver— 
gleicht man fie aber. mit den andern, fo Fann man nicht glauben, 
daß fie aus einer fpätern Zeit find, denn Paulus müßte dann 
in der Leichtigkeit, die Sprache zu handhaben, ruͤckwaͤrts gegangen 
fein. Diefe Briefe bedürfen offenbar noch einer genauern Unter: 
fuhung; ih Fann mich nicht dazu entfchließen, fie insgefammt 
für unächt zu erklären, am wenigften den an Titus; wenn 


Einl. ins NT, 13 


194 | | Verſchiedene Unächtheit. 


die beiden andern unaͤcht ſind, ſo muͤßte der Verfaſſer den erſtern 
vor ſich gehabt haben, wodurch ſich die Ueber der 
Sprache erklären würde. 

Halten wir die Borftellung von der Unächtbeit einzelner 
Schriften an die Idee des Ganons, fo müffen wir von unfrer 
gewöhnlichen WVorftelung vom Unterfchieben uns losmachen; in 
jeßiger Zeit würde es für einen Betrug erklärt werden müffen 
(da ja in 1. und 2. Tim. Paulus ald Berfafler genannt. wird), 
aber damals war es ganz anders). Wenn wir die große Menge 
von untergefchobenen Schriften betrachten, die es wirklich gab, 
und  berüdfichtigen,, wie Paulus von jeher fo großes Anfehn in 
der Kirche genoß: fo wäre e8 wirklich zu verwundern, wenn 
ihm Feine Schrift untergefchoben wäre. Hier fünnen wir uns 
nun mehrere Abftufungen denken. Zuerft wenn er aramäifch dic- 
tirte, und fein Schreiber griechifch fchrieb , dann wäre von Letzte— 
tem auf jeden Fall fchon Etwas hineingefommen; doch ift das 
freilich nicht anzunehmen. Ferner wenn ftehende Formeln, wie 
die Eingangsworte, oft wiederfamen, fo konnte er das zuleßt dem. 
Schreiber überlaffen, doch nur da, wo es fich abſetzt, nicht da, 
wo es mit dem übrigen Briefe zufammenfließt. (Auch fehen 
wir, daß der Schreiber Grüße von fich felber beifügt). Ebenſo 
laͤßt fich fehr gut denken, daß er, wenn er feine Zeit hatte, nur 
den Hauptinhalt angab, und die Ausführung einem Freunde 
übertrug, hernach aber den Brief durchfah und als den feinigen 
anerfannte. So kann e3 beim Epheferbrief gemefen fein; bei 
1. Zim. aber fann man fich dies nicht jo denken, fondern bier 
muß das Andere eingetreten fein, Daß er von einem ganz 
Andern - untergefchoben ward und nur aus paulinifchen Gedanken 
und in feine Situation hinein gefchrieben. War der Schreiber 
überzeugt, die Gedanken feien paulinifch, fo bat er mit gutem 
Gewiſſen es gethan. 


—— 


1) Vergl. oben S. 87. und Seite 121. 


Vier canonifche und viele häretiſche Evangelien. 195 


$. 53. 

Dei der bisherigen Betrachtung der paulinifchen Briefe ift 
gar nicht vom Briefe an die Hebräer die Rede gewefen. 
Dies hat darin feinen Grund, daß ich glaube, die Unterfuchungen 
darüber find fo weit gediehen, daß man ohne Weiteres ihn aus 
der Zahl der paulinifchen Briefe ftreichen fann. Wenn man aud) 
den Canon ganz Außerlich nimmt, fo fondert er fich fehon wegen 
der Anonymität des Verfaſſers und dadurch, daß er erit fpäter 
> aufgenommen if. Die Unterfuchung darüber ift daher weiter hin— 
auszufegen, da er für fich ganz allein eine befondere Art bildet. 

Es fcheint nun am natürlichften zu fein, zu den Fatholi- 
fhen Briefen überzugehn. Aber berücfichtigen wir die Ent- 
ſtehung des Canons, fo war ſeine aͤlteſte Eintheilung die des 
anoorolog und evwyyelıov. Zum anoorolog gehoͤrten aber 
urfprünglich nur die paulinifchen Briefe; die Fatholifchen Famen 
erft fpäter hinzu. Es ift alfo angemeffen, daß wir jest zu den 
Evangelien übergehn. - 


Zweites Capitel. 
Die vier Evangelien. 


$. 56. 


Ueberall finden wir unfre bekannten vier Evangelien und 
mit wenigen Ausnahmen in derfelben Ordnung, wie wir fie haben. 
In einer frühern Periode müffen wir uns fie gleichzeitig vorhan- 
den denken mit einer Menge von Büchern defjelben Namens und 
ähnlichen Inhalts, wie Origenes fagt: Ecclesia quatuor habet 
Evangelia, haereses plurima. Es fragt fich alfo zuerft, wie diefe 
vier im Gegenfaß gegen die vielen zu ihrem Firchlichen, cano— 
nifchen Anfehn gefommen find. Viele Umftände machen diefe 
Stage fehr Schwierig. Einmal tragen unfre vier Evangelien kei— 
neswegs alle den Namen eines Apoftels, wogegen unter den haͤ— 
vefiihen mehrere find, welche nach Apofteln genannt wurden, 
> DB. das des Thomas, Petrus, Bartholomäus, das 


13 * 


” 


196 Bier canonifche und viele häretiſche Evangelien. 


der zwölf Apoftel. Wie hat man nun eine Scheidung machen 
und Evangelien mit apoftolifhen Namen verwerfen und andere 
aufnehmen koͤnnen? Wenn dies nach critifhen Principien 
gefchehn fein foll, fo müfjen wir weiter fragen, welche dies da— 
mals gewefen find; aber wir haben gar Feine Urfache, eine aus: 
gebildete Gritif in diefer Beziehung vorauszufegen, denn theils 
gab e3 nicht viel litterarifch gebildete Männer unter den erften 
Chriften, theils fehn "wir, wie auch fpäter diefe litterarifchen Maͤn— 
ner fehr behutfam waren, etwas auszufprechen, was gegen Die 
hergebrachte Meinung war. Dies führt uns darauf, Daß es mehr 
ein allgemeines Berfahren war, was die vier Evangelien 
abfonderte; aber dies erklärt die Sache noch gar nicht. 
Sn jenen Worten des Drigenes fcheint eine Andeutung auf 
den Fekerifchen Inhalt der andern Evangelien zu liegen; dar— 
nach wären alfo die innern Gründe überwiegend gewefen. Aber 
es läßt fich fchwer denken, wie es um den fegerifchen Inhalt 
folcher Bücher, wie der Evangelien, geftanden habe, da fie doch 
hiftorifche Bücher find. In der Erzählung kann nicht leicht 
eine Keberei liegen, fondern nur in dem Urtheil, daS fich der 
Schriftſteller über die Thatfachen erlaubt. Hier vergegenwärti- 
gen fih uns fehr leicht die verfchiedenen Meinungen, die es 
zeitig über die Perfon Chrifti gegeben hat; und diefer Um- 
ſtand vielleicht hätte dann wohl den Ausfchlag geben können, daß 
wegen einer geringern Meinung von»Chrifto, die fih in einem 
Evangelio fand, daffelbe niht in Gebrauch Fam. Allein auch bei 
unfern vier Evangelien findet fich ein ähnlicher Unterfchied, den 
man fihon von alter Zeit her fo aufgefaßt, Daß das des So= 
hannes ein mveuvuarızov fei, die drei fynoptifchen aber owuonıza, 
d.h. von geringerem Inhalt. Dies bezieht fich wohl darauf, daß 
die leßtern mehr einzelne Begebenheiten aus dem Leben Chrifti haben, 
das des Sohannes dagegen mehr Reden und Gefpräche Ghrifti, 
und gerade folche, worin er felbft Zeugniß über feine höhere Dig— 
nitat giebt. Diefer Unterfchied wäre alfo im verjüngten Maaß— 
ftabe derfelbe, wie der zwifchen den canonifchen und den häretifchen 


Nachrichten über uncanoniſche Evangelien. 197 


Evangelien; und da doch jene Reden Chriſti von ſeiner hoͤhern 
Dignitaͤt nicht an Johannes allein, ſondern an alle Juͤnger und 
eine groͤßere Menge Menſchen gerichtet waren, alſo auch den an— 
dern Evangeliſten ſehr gut bekannt fein konnten: fo koͤnnte man 
den Schluß machen, daß ſie eben nicht die Vorſtellung von der 
hoͤhern Dignitaͤt Chriſti in ſich aufgenommen und daher jene Re— 
den abſichtlich ausgelaſſen haͤtten. | 


6.57. 


Wenn wir num die beglaubigtiten Thatfachen zufammenftel- 
len, fo hat es erftlih ein Evangelium des Petrus gegeben, 
welches nach Euseb. h. e. VI. 12. in Eilicien im Gebrauche war, 
und gegen weldhes Serapion fehrieb, weil es dofetifch war. 
Es war alfo, obwohl -häretifch, doch in einer Eirchlichen Provinz 
aufgefommen, wurde aber wieder verdrängt. Wie man darin das 
Doketifche erkannte, ift nicht ganz deutlich, da es als ein Evange— 
lium doch Fein zufammenhängendes Räfonnement enthalten Fonnte; 
es müffen alfo wohl die Erzählungen felbft fo angelegt, und foldhe 
Urtheile damit verbunden gewefen fein, daß man die dofetifchen 
Borausfegungen daraus erkannte. Wenn nun in den fynoptifchen 
Evangelien 3. B. erzählt wird, Chriftus habe 40 Tage lang ges 
faftet, ohne daß dies ald etwas MWunderbares bezeichnet wird, fo 
Fönnte man fagen, unfre Evangeliften haben auch dofetifch gedacht, 
wenn fie das an Chrifto gleichfam natürlich finden. Wenn dieſe 
Evangelien alfo nicht fonft fchon in Anfehn geftanden hätten, 
fo hätte Serapion aus demfelben Grunde auch fie befeitigen müf- 
fen. Wir können alfo in diefer Beziehung den Gegenfaß nicht 
fefthalten, und müffen eher geneigt fein, allmählige Uebergange 
anzunehmen. 

Bom Evangelium des Marcion fägen Zertullian und 
Epiphanius, daß es das des Lucas verftümmelt fei. Aber wenn 
wir alle Differenzen ins Auge fafjen, die davon angeführt werden, 
fo fcheint es mehr ein befonderes Evangelium gewefen zu fein, 
was nur vielleicht große Achnlichfeit mit dem des Lucas gehabt 


198 Nachrichten über uncanoniſche Evangelien: 


hat. Nun ift Marcion, ald Häretifer angefehn und den Gnoftifern 
beigezahlt worden, fein Gnofticismu3 aber ift mir, geftehe ich, et— 
was fehr apocryphiſch; er feheint mir gar nicht in die gnoftifche 
Familie zu gehören. Seine Weglaffungen werden diefem Gnofti- 
cismus zugefchrieben; Niemand aber giebt ihm Schuld, daß er 
ſein Evangelium felbft verfaßt habe, aber es kann auch Niemand 
nachweifen, wie er zu dem des Lucas gefommen fei, ohne die drei 
andern auch zu haben. Denn es conftirt feine Zeit, wo jenes 
allein vorhanden gewefen fei, fondern diefe Zeit liegt im Dunkeln. 
Da wir aber wiffen, daß es fo viele andere Evangelien gegeben 
bat, fo läßt fih eben fo gut fagen, Marcion habe in feinen Ga= 
non das Evangelium aufgenommen, was er gefunden hatte; und 
die Abweichungen find nicht von der Art, daß man etwas be- 
ſtimmt Häretifches darin nachweifen Eönnte, fondern es wird größ: 
tentheild aus dem Stillfchweigen, aus dem Fehlen gewiffer Stel: 
len, welche Lucas bat, argumentirt. Da fieht man alfo, wie das 
Ganze fehr in der Luft fhwebt, und das Urtheil erft hinterher 
und durch die Vergleichung gefommen ift; das Factum felbft aber 
wird dadurch gar nicht aufgeklärt ?). 

Ein andres fehr merfwürdiges Beifpiel ift da8 Evangelium 
09° "Eßoalovs. Warum es nicht unter die Firchlichen 
aufgenommen, ift fchwer zu ermitteln. Origenes druͤckt fich über 
dies Evangelium fehr behutfam aus; Hieronymus hat es aus dem 
Aramäifchen ins Griechifche und Lateinifche überfeßt und fagt, daß 
die Nazarder und Ebioniten ed vorzüglich gebrauchten. Damals 
ftanden die vier canonifchen Evangelien ſchon fo feit, daß diefe 
Veberfeßung wohl Nichts daran ändern Eonnte, aber fie beweif’t 


1) Erft. Entw. Aug Tertull. IV. 4. muß man fihließen, daß Marcion 
unfern Lucas für, dem Judaiſiren zu Liebe interpolirt angefehn habe, 
Aber es ſcheint nicht zu folgen, daß ver Firchliche derjenige fei, von dem 
er ausgegangen. — Ich getraue mich auch nicht zu. behaupten, daß er 
die andern Evangelien gekannt. Denn wenn Tert. fagt: dum constet 
haec quoque apud ecclesias fuisse, fo folgt noch nicht, daß fie in Pon- 
tus waren. 


Nachrichten über uncanoniſche Evangelien. 199 


doch, daß Hieronymus es der Mühe werth hielt, denn er über- 
feßte nicht, um zu widerlegen ; leider iſt dieſe Arbeit verloren 
gegangen. Nun werden die Nazarder und Ebioniten auch den 
Kebern zugezählt , aber nur, weil fie die höhere Vorſtellung von 
Ehrifto nicht ausgebildet hatten, nicht ald wenn fie eine ftrenge 
Polemik dagegen geführt hätten. Wenn fie nun die fpnoptifchen 
Evangelien gekannt hätten, fo hätten fie diefe bei ihren Vorſtel— 
lungen fehr gut brauchen koͤnnen; denn daß fie die Wunder Chrifti 
geläugnet, darüber conftirt Nichts. Wie alfo die ſynoptiſchen 
Evangelien dem des Sohannes ald owoxıra gegenüberftanden, fo 
muß in diefe Glaffe auch daS der Hebraͤer gehört haben. 

Dies alles erklärt uns alfo nicht, wie unfere vier Evanges 
lien zu ihrer ausfchließenden Auctorität gekommen find. Um: nun 
zu fehn, wo wir den Typus von häretifhen Evangelien 
am beflimmteften faffen fonnen, wollen wir zu dem des Bafilides 
gehn, der ein Gnoftifer aus fpäterer Zeit war, deſſen Evangelium alfo 
fein urſpruͤngliches, fondern ein zufammengefchriebenes iſt. Da 
Läßt fih alfo fchon denken, daß, wenn ein fpäterer Verfaſſer ein 
jolhes Bud zufammenftellt , er mannigfahe Quellen benußt, 
und daß die eigne Anficht mehr hervortritt, als bei Schrift: 
ftellern, die ald Augenzeugen Gefehenes und Gehörted mitthei— 
len; aber auch in diefer Beziehung werden wir Abftufungen bis 
zu dem Ganonifchen finden. Bafilives feste gewiß aus verfchie= 
denen Quellen zufammen, und Gnoftifches fonnte er hineinbringen, 
indem er entweder eignes Raͤſonnement beimifchte, oder indem 
er fo zufammenftellte, daß er alles befeitigte, was gegen den Öno- 
flieismus fpradh. 

Wie aber die fo einfachen evangelifchen Erzählungen bei jenen 
vom populären Vortrag fo entfernten gnojtifchen Theorien vor- 
fommen konnten, ift fehwer zu begreifen, und deshalb auch, wie 
man alle andern Evangelien, außer den vieren, für häretifch er- 
Elaren Eonnte. Hatte ein folches Evangelium einen Auctor, 
welcher das Haupt einer Härefie war, fo wurde es natürlich 
gleich verworfen; wie aber Fam man darauf, e$ für haretifch zu 


— 


200 Warum Evangelien fir häretiſch gehalten wurden. 


halten, wenn es einen apoftolifchen Namen trug? Gehn wir noch 
einmal auf da8 Evangelium Petri zurüd, fo fehn wir, daß es 
dem Serapion, Bifchof von Antiochien gegen Ende des 2. Jahr: 
hunderts, unbekannt war, bis in einer cilicifchen Gemeinde Strei— 
tigfeiten darüber entftanden. Vorher hatte er erlaubt, es zu lefen; 
nachdem er es aber von Doketen befommen und fennen gelernt 
hatte, fand er, daß es zwar in den meiften Puncten mit der rei— 
nen Lehre übereinftimmte, aber in einigen auch nicht. Dabei 
fagt er: „Wir achten die Apoftel, wie Chriſtum; aber die wev- 
dssziyoape, die unter ihrem Namen umgehen und Feine Ueber- 
lieferung für fich haben, nicht.” Wir fehen hieraus, daß die 
Borftelung von folhen wevdeneyoagpors damals fchon eine ziem— 
lich currente war, und daß darüber nur durch die Ueberlieferung 
entfchieden wurde, deren Sit die Haupfgemeinden waren. Ferner 
fehn wir, daß Serapion dad Buch vorläufig gelten ließ, bis er 
erfuhr, daß die Dofeten fich deffelben bedienten; und nun fand 
er denn auch abweichende Lehre darin. Daß es bei Häretifern 
vorfam, veranlaßte ihn alfo zuerjt, es als häretifch zu ſtempeln; 
dann fanden fich auch wohl einzelne Stellen darin, denen fich ein 
folcher Inhalt unterlegen ließ. Wenn Epiphanius fagt, daß die 
Sabellianer vorzüglih de3 Evangeliums zur’ Aiyv- 
stiovs fich bedienten, fo darf man nicht weiter fuchen; es 
brauchte nur in der Stelle Soh. 10, 30. Eyw xal 6 naryo eig 
Zoysv ftatt Ev Zouev zu ftehn, und ed wäre Sabellianismus ge= 
wefen ?). Aber felbft mit der Lesart Ev ließe ſich die Stelle fa- 
bellianifch deuten; und denken wir uns einen Menfchen, der nur 
unfere fynoptifchen Evangelien Fennte, und er hätte das Evan- 


1) Dergl. die Stelle des Epiphanius in De Wette’s Einl. ins 
N. T. F. 69. — Schle iermacher erklärt, daß er die Stellen, auf 
die er ſich beruft, in feinen Vorleſungen abſichtlich nicht eitire, theils 
weil man fie in allen guten Compendien finde, theils aber, weil, 
wenn folche genaue Citate gegeben würden, von drei Theilen der Zus 
börer einer fie doch nicht nachfehe und ein anderer Theil fie falſch 
auffchreibe. | 


Mit Matthäus verwandte Evangelien. 201 


gelium Sohannis mit obiger Stelle bei Sabellianern gefunden, fo 
würde er es für fabellianifch gehalten haben. 

Die Hauptfahe war alfo die Ueberlieferung. Es können 
Evangelien in abgelegenen Provinzen, entfernt von den Haupt: 
fißen der Kirche entftanden fein, und zwar auf die redlichfte 
Weiſe; legte man ihnen den Namen eines Apoftelö bei, fo mochte 
es bona fide gefchehn, nicht als Bezeichnung des Verfaſſers, ſon⸗ 
dern um anzudeuten, daß der Inhalt mit der Verkuͤndigung des 
Apoſtels (xura) uͤbereinſtimme. So mag es mit dem Evange— 
lium xara ITleroov,, und mit denen zurd Owrıav und xare 
BaoYoAoreiov gewefen fein. Ich rede bier nicht von folchen 
pfeudepigraphifch apoftolifhen Schriften im Allgemeinen, fondern 
von denen, von welchen wir Nachrichten gleichzeitig mit unfern 
canonifchen Evangelien haben. — Es folgt alfo, daß fich nicht ein 
folcher Gegenfaß aufftellen läßt, wie der von Origenes ausgefpro= 
chene, daß außer den vier Eirchlichen Evangelien die andern alle 
häretifch feien. Von dem eigentlihen Inhalte vieler diefer Evan 
gelien wiffen wir gar Nichts mehr. Sch glaube deshalb auch, 
daß man vorfichtig fein muß mit der Annahme, daß alle Bücher 
unter diefem Namen auch Erzählungen aus dem Leben Cprifti 
enthielten; denn dies Liegt nicht unmittelbar im Worte suayyekıor, 
fondern es läßt fich auch denken, daß es in der allgemeinen Be: 
deutung „Verkündigung“ gebraucht fei, wie bei Paulus. , E3 
fönnen alfo einige folcher Bücher mehr dogmatifch, als erzählend 
gewefen fein. 

Ein andrer Punct ift der,. daß von den Evangelien, die mit 
den canonifchen gleichzeitig find, viele eine große Verwandtſchaft 
mit dem des Matthäus haben, von denen zwar einige für haͤ— 
retifh gehalten, andre aber von den Firchlichen Schriftſtellern mit 
großer Behutſamkeit genannt werden. Hier ſteht das zvay- 
yEkıov a9 "Eßoaiovs!) an der Spike, das fehon von Cle— 
mens Aler. und Origenes angeführt wird. Epiphanius fagt, die 


1) Vergl. die betreffenden Stellen über dieg Evang. bei De Wette $. 64. 


4 


202 Mit Matthäus verwandte Evangelien. 


Nazaraer hätten das Evangelium des Matthäus in der 
größten Vollſtaͤndigkeit heb raͤiſch; von den Ebioniten fagt 
er dagegen, fie hätten auch das Evangelium zat« Mear3cior, 
nennten es aber 09° "EAoaiovs und hätten es nicht in derſel— 
ben Bollftändigkeit, fondern vorn und hinten verfiimmelt und 
mit Unächtem vermifcht. Nun werden aus dem Hebräerevangelium 
nad) anderh Berichten Erzählungen angeführt, die in unfern ſyn— 
optifchen Evangelien nicht ftehn, 3. B. die Erzählung von der 
Ehebrecherinn, die bei Sohannes (aber unaͤcht) ift. Daß aber die 
Nazaraer und Ebioniten, welche mehr dem Namen als der Sache 
nach verfchteden waren, follten zwei verfchiedene Evangelien ge— 
babt haben, ift fehr unmahrfcheinlih. Wie genau die Kenntniß 
des Epiphanius von diefen Büchern war, ift nicht Har; es kann 
ja verfehiedene Exemplare gegeben haben, wo entweder Anfang 
oder Ende fehlte. Epiphanius fagt ferner, daß die Anhänger 
des Cerinth das Evangelium xzat« MeorIaiov Eno NEQoVG 
gebrauchten ?), wobei man nicht weiß, ob es nur ein Theil des 
Matthäus gewefen, oder ob nur ein Theil des Matthäus mit dem 
Evangelium des Gerinth übereinftimmte. Nun gehörte Gerinth 
auch zu den Sudaifirenden, und da ift es fehr möglich, daß fein 
Evangelium nur eine Variation von dem xa9 “"Eßoeiovg war. 
Es geht hieraus offenbar hervor, daß die Bezeichnung zare Mer- 
Haiov nicht mehr eigentlich auf ein Individuum geht, fondern 
daß e3 eine ganze Familie von Evangelien gab, die alle einer 
überwiegenden Aehnlichkeit wegen fo genannt wurden. Weiter 
koͤnnen wir das Verhältniß diefer Evangelien zu unferm Matthäus 
bier noch nicht verfolgen. Zu den dem Matthäus verwandten 
gehörten wahrfcheinlich auch noch das Evangelium zer Alyv- 
griovs und das zuv Indsru anooroAwv; letzteres ift wohl nicht 
für Daffelbe mit dem Hebräerevangelium zu halten, da es Orige— 
nes befonders aufführt. 


1) Bergt. De Wette $. 68. 


Häretifche Evangelien. 205 


Merkwuͤrdig ift, daß noch in viel fpäterer Zeit Theodoret?) 
erzählt, daß er in feiner Didcefe ein folches häretifches Evange— 
lium gefunden und über 200 Eremplare davon vertilgt und den 
Leuten dafür die vier canonifchen gegeben habe. Man fieht alfo, 
daß in einzelnen Gemeinden noch damals haͤretiſche Evangelien 
verbreitet, und die canonifchen noch nicht dahin gedrungen waren, 
Es war alfo die Verbreitung der verfchiedenen Bücher fehr un- 
gleichmäßig, was fi) aus dem ungleichen Verkehr unter den ein- 
zelnen Gemeinden fehr natürlich erklärt. Die großen Metropo- 
litanfirchen hatten offenbar den meiften Zufammenhang. 

Wenn wir uns alfo die Sache fo denken müffen, daß viele 
von diefen Evangelien lange in einer gewifjen Dunkelheit vorhan- 
den gewefen find, weil fie in den von Gentralgemeinden entfern- 
ten Gegenden entitanden, wohin die canonifchen Evangelien nicht 
hindrangen; und wenn es doch gar nicht wahrfcheinlich ift, daß 
Bücher mit Erzählungen vom Leben Chriſti in häretifcher Abficht 
von Häretifern untergefchoben fein follten, indem fie ihre Lehre viel 
leichter in dogmatifchen Schriften verbreiten Eonnten: fo folgt, 
daß diefe Evangelien auch nicht fo fchlimm gewefen find, wie 
man fie fich bei der Bezeichnung „bäretifch” denkt. Wir Fünnen 
alfo, wenn wir von unfern vier Evangelien ausgehn, zunächft 
eine Mehrheit verfchiedener Evangelien anreihen, welche eine be- 
flimmte Verwandtſchaft mit unferm Matthäus haben, dann meh- 
tere andere, welche apoftolifhe Namen führen, die auch für haͤre— 
tiſch gehalten wurden, weil fie in Gegenden ‚gefunden wurden, 
wo fie den Häretifern zur Hand waren, Drittens aber konnte 
es auch wirklich häretifche Evangelien geben, wie das des Baſili— 
des. Es wird auch noch ein andres genannt, das des Ay elles?), 
eines Schuͤlers des Marcion, der aber von Marcion ſelbſt ausgeſto— 
ßen war * eine eigne mehr doketiſche Gemeinde geſtiftet hatte; er 


1) Theodoret. haeret. fab. I. 20. bei De Wette $. 68. Ks war das 
Evangelium des Tatian, vo dız reooapwr. 
2) Bergl. De Wette sg. 73. ö 


204 Alter der Anerkennung der 4 Evangelien. % 


bat alfo wahrfcheinlich das Evangelium des Marcion gebraucht und 
zu feinem Zwecke verändert. — Wenn wir aber fonft häretifche 
Evangelien erwähnt finden, haben wir Feine Urfache vorauszu— 
feßen, daß fie von Häretifern ausgegangen, fondern nur, daß fie 
im Bereich häretifcher Gemeinden vorfamen. 


$. 58. 

Mir hatten bisher die Spuren aufgefucht, wie fich bie vier 
eanonifchen Evangelien zu den Feserifchen dem Inhalte nach ver- 
halten haben mögen und wefhalb jene für Feßerifch erflärt wor— 
den find, wobei fich eine wichtige Abftufung manifeftirt hat. Der 
Ausdrud in jener Stelle des Drigenes, die wir zum Grunde ge- 
legt haben I), beweif’t, daß damals es fchon etwas Allgemeines 
war, daß die vier Evangelien in der Kirche anerkannt, die ans 
dern aber verworfen wurden. Wenn wir num der bisherigen Aus— 
einanderfeßung über den Snhalt derfelben die über das Alter 
anfügen, fo ergiebt fi) aus dem Ausdrud des Drigenes Nichts 
darüber. Es entfteht alfo die Frage: Wie weit geht die An— 
erfennungbder vier Evangelienüber das Zeitalter des 
Drigenes hinaus, und wie verhalten fih die Spu— 
ren der andern Evangelien zu denen von diefen? 

Hier aber muß ich zuerft eine allgemeine Bemerkung über 
die Art und Weife, wie diefe Unterfuchung geführt wird, voran= 
fhiden. Es laßt fich nemlich nicht anders thun, als daß man 
in den vorhandenen Firchlichen Schriften die Spuren von dem ei- 
nen oder dem andern Buche auffucht; nun aber begnügt man 
fich gewöhnlich zu fehr mit übereinftimmenden Saͤtzen, die ein 
Schriftiteller ausfpricht, und die auch in unfern Evangelien vorkom— 
men ohne daß man fich darum befünmert, ob das Evangelium dem 
Namen nach angeführt wird. Erinnern wir uns an die Menge 
der mit unferm Matthäus verwandten Evangelien, fo muß hier 
zunächft gefragt werden, ob eine Stelle wirklich gerade unferm 


1) Siche oben $. 56. 


Über das Amt der Goangeliften. 205 


Matthäus angehöre, wenn fie bloß unbeftimmt ohne Nennung 
deffelben angeführt wird. Wir fehn alfo, wie wenig manche fol: 
cher Stellen beweifen ?). 

Um nun die Sache bi$ auf die erften critifchen Gründe zu 
verfolgen, müffen wir uns erft mit allerlei Einzelnheiten befchaf- 
‚tigen, die unwichtiger zu fein fcheinen, aber die doch fpäter fehr 
in die Unterfuchung felbft eingreifen. 

Zuerſt müffen wir fragen, wie ed zugegangen ift, daß ſolche 
Bücher, wie diefe, den Namen „, Evangelium” befommen haben, 
da diefer doch im neuen Zeflament auf ganz andre Meife vor- 
fommt?). Doch finden wir im N. T. auch fchon den Ausdrud 
sdayyelıorig, den wir mit dem Namen drrooroAog vergleichen 
müffen. Letzterer ward urfprünglich nur den dwdere uagyTais 
Ghrifti beigelegt, aber e8 wurden auch Barnabas und Paulus fo 
genannt), und Feineswegs kann man, wie Einige wollen, einen 
Unterfchied zwifchen Apofteln der Gemeinden und Apofteln Chrifti 
machen, denn dies würde auf Paulus und Barnabas nicht paffen. 
Nun giebt es eine Stelle bei Drigenes im Eingange feines 
Gommentars zum Sohannes, wo er fagt, das eigenthümliche Amt 
eines evayysirorng fei das Erzählen, nun aber fei das doch nicht 
thunlich gewefen ohne eine ermahnende Nede, die daran gefnüpft 
fei, und wegen diefer Verbindung koͤnne man dad, was die 
Apoftel fchrieben, auch evayyeiıa nennen. Drigenes fest alfo 
voraus, die Apoftel hätten eigentlich al3 foldhe mit dem svapys- 
Aleodar Nichts zu thun; fie erzählten nur um des Ermahnens 
willen, die Evangeliften aber um des Erzählens willen. — Daß 
nun die eveyyelsorai des neuen Teftaments Schriftfteller gewe— 
fen feien, davon ift feine Spur, und noch weniger Fünnen dar— 
unter unſre vier verftanden fein. Auch ift nicht wahrfcheinlich, 
daß unter ihrem Erzählen eine Erzählung des ganzen Lebens 


1) Vergl. oben ©. 138. 
2) Siehe oben ©. 89. 
3) Act. 14, 4. 14. 


206 Ueber dad Amt der Evangeliften. 


Chrifti von Anfang an verftanden war, denn dazu ift ein einzel- 
ner münbdlicher Bortrag nicht geeignet. Das neue Leftament uns 
terfcheidet alfo dies Amt des Erzählens der evangelifchen Gefchichte 
im Einzelnen von’der apoftolifchen Thätigfeit der Verkündigung. 
Dazu aber mußte e5 noch eine dritte Thätigkeit geben, die Dri- 
genes die adhortatoria oratio nennt, das Gefchäft derer, welche 
in den Berfammlungen der Chriften fprachen. Dies thaten die 
Apoftel auch, wenn fie unter Chriften fich aufhielten, wo das 
anovyua zu Ende war und das eigentliche Ermahnen anging. 
Dffenbar nun hat die erzählende Thätigkeit zu diefen beiden an 
verfchiedenen Orten ein verfchiedenes Verhältniß; in Paläftina, wo 
Ehriftus in allen Landestheilen ſich aufgehalten hatte, und die 
Tefte Leute aus allen Gegenden in Serufalem vereinten, war für 
dad zrovyma eine Erzählung feines Lebens nicht nothwendig; 
anders aber in den vom Schauplage feines Lebens entfernten Drten, 
wo man erft mit demfelben befannt gemacht werden mußte. Da— 
gegen war das Verhältniß dieſer erzählenden Thätigkeit zu der 
ermahnenden überall daffelbe; denn fo wie die Lehre ins Ein— 
zelne ging, fo war das natürliche Verlangen, daß die Ueberein— 
flimmung der Lehrer mit Chrifto nachgewieſen wurde, und fo 
mußten die, welche in den Verſammlungen redeten, Ausfprüche 
Chriſti zur Beftätigung anführen. Dies war auch in Paläftina 
nöthig, weil die Meiften doch immer nur Einiges von den Reden Chrifti 
gehört hatten. So fehn wir, wie diejenigen, die fich diefem Ge— 
fchäft widmeten, fuchen mußten, außer dem, was fie felbft er: 
fahren, auch andere Erzählungen von Chrifto zu erhalten. 

Wenn wir nun das, was in den canonifchen und apocryphi— 
fhen Evangelien fteht, zufammen nehmen, fo werden wir uns 
folgendes allgemeines Bild machen: Um die Befanntfchaft mit 
der Perfon Chrifti, wo er nicht gelebt hatte, zu erfegen, mußten 
Notizen gegeben werden von feiner öffentlichen Erfcheinung, von 
feiner Lehrthätigfeit und feinem Wunderthun, von der Gataftrophe, 
die feinen Tod herbeiführte, und von feiner Auferftehung; dieſe 
Hauptpuncte bezogen ſich auf das anovyra. In Bezug auf das 


Gegenftände der evangeliftiichen Erzählung. 207 


ermahnende Moment aber als Fundament und Beleg waren Aus— 
ſpruͤche und Reden Chrifti nothwendig. Vergleichen wir hierbei 
unfere Evangelien, fo koͤnnen wir Ausfprüche Chrifti unterfchei- 
den, die fi) an Thatſachen anknüpfen, dann gelegentliche Vor: 
träge, die weniger ‘mit feinen Handlungen zufammenhängen, und 
dann ſolche, die dialogifch entftanden. Das Erfte ift am meiften 
die Verbindung von Handlungen Chrifti mit kurzen, gnomifchen 
Ausfprüchen, wo bald das Wunder nur um des Ausſpruchs 
willen erzählt zu.fein fiheint, bald einen integrivenden heil der 
Erzählung bildet, das Zweite find überwiegend Parabeln, die 
Chriſto gewöhnlich waren und auf feinen vielen Reifen, wo oft 
eine Menge Menfchen fih momentan um ihn fammelte, befon- 
derö zweckmäßig. erfcheinen. Nun ift es wohl Elar, daß folde 
kuͤrzere Ausfprüche Chrifti, die fich an etwas fo Auffallendes, wie 
die Wunder, anfnüpften, fich fehr leicht dem Gedaͤchtniß ein- 
prägten, und zwar bei Vielen, weil bei manchen Wundern eine 
fehr große Menge Zeugen war; fo daß die Evangeliften hier 
eine unerfchöpflihe Duelle hatten. Die Parabel hat ebenfalls 
etwas ſehr Anfchauliches, weil fie eine Thatfache nachahmt, und 
ift alfo jenen am nächften. Dagegen find Unterhaltungen, die 
mehr dialogifch find und woraus fich eine weitere Auseinander- 
feßung entwidelt, weit ſchwieriger zu behalten, weil fie folche 
finnliche Anfnüpfungspuncte für das Gedaͤchtniß nicht haben. Um 
diefe alfo mit Sicherheit wiedergeben zu fünnen, gehörte ſchon 
eine genauere Bekanntfchaft und Vertraulichkeit mit Chriſto dazu, 
und daß eS Fein gleichgültiger Zuhörer gewefen, der fie überliefern 
wollte. Alfo Eonnte dies nur von folchen gefchehn, die der Glaube 
an Chriftus befähigte, feine Neden richtig aufzufaffen und zu 
behalten. Wir fünnten nun hieraus fchon den bedeutenden Unter— 
ſchied erklären zwifchen den fynoptifchen Evangelien und dem des 
Sohannes, in welchem das Lebte allein entfchieden hervortritt. 
Doc müffen wir jetzt erft dem Urfprunge der ſchriftlichen 
Abfaffung der Lebensgefchichte Ehrifti nachgehn. Das neue Ze: 
ftament führt uns felbft darauf, jene evangeliftifche Thaͤtigkeit in 


208 Vermiſchung von Aechtem und Falſchem. 


einzelnen Erzaͤhlungen als das Urſpruͤngliche anzuſehn. Wenn 
gleichzeitig mit den Apoſteln viele Erzaͤhler des Lebens Chriſti fuͤr 
die Verbreitung des Chriſtenthums wirkten, ſo mußten natuͤrlich 
auch gleichzeitig viele Verſuche entſtehn, dergleichen Erzaͤh— 
lungen ſchriftlich darzuſtellen, die viel Ähnliches haben mußten 
ohne eine befondre Verabredung oder Leitung, und ohne daß Dabei 
Bergleichung flattfinden Fonnte und Unterfcheidung von Kirchlichem 
und Keberifchem. Nun ergiebt fi) auch ganz natürlich, wie in 
einigen Gegenden ein Bufammentreffen von verfchiedenen Erzäh- 
[ungen über daS Leben Chrifti, mündlich und ſchriftlich, ftattfin- 
den, in andern dagegen nur ein gewiffer Eyclus-beftehn mußte, 
je nachdem der geiftige Verkehr größer oder geringer war. 

Wenn wir nun die Abftufung, die wir verfolgt haben, zwi: 
fchen dem, was canonifch geworden und was als häretifch ver- 
worfen ift, auf die gemeinfchaftliche Grundlage der mündlichen 
Erzählung beziehn, fo müfjen wir allerdings fagen: es Fünnen ſich 
richtige Erzählungen mit unrichtigen Auffaffungen vermifcht haben, 
und bei den Einzelnen, die folhe Notizen zum Behuf der ſchrift— 
lichen Darftellung fammelten, müffen wir auch eine große Ver— 
fchiedenheit des Talents, Nichtiges und Unrichtiges zu unterfchei= 
den, annehmen. Daher muß es alfo Sammlungen gegeben ha— 
ben, die fich reiner gehalten, und andere, die mehr mit Unrichti- 
gem vermifcht waren. Betrachten wir nun die Menge der apo— 
cryphifchen Evangelien im Codex pseudepigraphus des Fabri— 
cius, fo brauchen wir daraus, daß dieſe erſt weit ſpaͤter abgefaßt 
find, gar nicht zu fchließen, daß diefe apoeryphifchen Erzählungen 
erfi in den fpätern Zeiten erfonnen wurden; fondern fo wie bei 
Vielen unter denen, die das Chriftentbum annahmen, leicht eine 
MWunderfucht fein Eonnte, fo entftanden bald auf natürliche Weife 
die apocryphiſchen Wundererzaͤhlungen, ohne daß man deshalb 
eine boͤſe Abſicht anzunehmen braucht. Es iſt uͤbrigens natuͤrlich, 
daß die richtigſten und vollſtaͤndigſten ſolcher Evangelienſammlun— 
gen ſich am haͤufigſten in den Gegenden fanden, die wegen eines 
allgemeinern Verkehrs leicht in Beſitz von Berichtigung falſcher 


Abweichender Character des Sohannesevangeliums, 209 


Erzählungen fommen konnten; wogegen in den vom Wege abge- 
legenften Gegenden am längften fich die apocryphifchen Erzählune 
gen erhielten, 

Unfere drei erften Evangelien beftehn überwiegend aus eben 
ſolchen Elementen, wie wir fie als natürlichen Gegenſtand ver 
mündlichen Erzählung aufgeftelt haben; fo erfcheinen fie auch als 
aus folchen einzelnen mündlichen Erzählungen entflanden. Bei 
Sohannes dagegen ift das Element der Nede Überwiegend, und 
das aus dem Dialog Entftandene, was für den Erzähler das 
Schwierigſte war, am hervorragendften. Auch ift hier eine be— 
flimmte Richtung auf einen Zufammenhang; nicht daß keine Luͤcke 
wäre, aber die Stetigkeit in der Entwidlung der Gataftrophe ift 
fehr deutlich. Fragen wir, wie es in diefer Beziehung mit den 
nichtkirchlichen Evangelien geftanden haben mag, die Drigenes 
unfrer Tetras gegenuͤberſtellt, ſo wird die Antwort ſehr leicht ſein: 
diejenigen, welche den Familiennamen des Matthäus fragen, 
werden gewiß in Analogie mit den drei fpnoptifchen Evangelien | 
fiehn; wogegen die übrigen mehr dem Sohannes ähnlich gemwefen 
fein mögen, ja vielleicht auch darüber hinausgehend. Ein Evan- 
gelium des Baſilides, welches die 'gnoftifchen Theorien enthielt, 
wird fich nicht mit den Gnomen und Parabeln Chrifti begnügt ha— 
ben, wohl aber mit folcher Nede, wie bei Sohannes; eben fo muß 
das Evangelium des Petrus nach Serapion’s Äußerungen mehr 
didactifch gemwefen fein. Ja, da Paulus den Ausdruf svayyerıov 
fo gebraucht, daß wir an den Inhalt und eigenthimlichen Typus 
feiner Lehre denken müffen, fo ift gar nicht nothwendig, daß alle 
Schriften unter dem Namen evayyeiın ausſchließlich erzählender 
Art gewefen find, fondern fie koͤnnen auch didactifch gewefen fein. 


$. 59. 


Wir ehren nun nach diefer Abfchweifung zu unfrer Frage 
zurüd, wie lange ſchon unfre vier Evangelien in der 
Kirhe mögen geltend gewefen fein. 

Origenes ſtellt die vier gleichſam als Eins dar; und ſo iſt 

Einl. ins N. T. 14 


u. 


210 Zufammenfaffung der 4 Gvangelien. 


auch feit der Zeit von Eirchlichen Schriftftellern immer davon ge- 
redet worden. Aber. es ift nicht möglich, daß die vier immer 
gleichzeitig vorhanden gewefen, fondern fie müffen erft allmählig, 
je nachdem fie in Gebrauch Famen, zufammengebunden und von 
den andern abgefondert fein, denn es wäre das Wunderlichfte, 
wenn fie von Anfang an nur mit Bezug auf einander gefchrieben 
fein follten; auch die Firchliche Tradition ift dafür, daß fie einzeln 
entftanden find. Wir müffen alfo hier zwei Zeiträume unterfchei- 
den, denjenigen, wo die Tetras fchon feftgeftellt war, und den— 
jenigen, wo fie erft gebildet wurde, Die Critifer, welde ſich 
hiermit befchäftigen, fcheinen mir viel zu weit in der Neigung 
zu gehn, die Tetras in eine frühe Zeit hinaufzufchieben. 

Da Drigenes, von dem wir ausgingen, eigentlich nach 
Egypten gehört, fo tritt uns hier fogleih Clemens von 
Alerandriem entgegen. Es finden fich bei ihm Anführungen 
aus Matthäus und Lucas mit Nennung der Namen. Eufebius 
erzählt uns nun noch, daß Clemens in dem verlorenen Buche der 
VnoTvawosıg von der Anordnung der Evangelien Nachrichten ge- 
geben, die er von älteren Lehrern empfangen habe H. Man fieht 
hieraus, daß zu der Zeit des Clemens fchon das Beſtreben, die 
vier zufammenzufaffen, vorhanden war, und daß er es von 
chriftlichen Lehrern überfommen hatte, die eine Generation älter 
waren. Aber ob dies ſchon etwas Allgemeines war, oder ſich 
nur auf die egyptifche Kirche befchränfte, darf man nicht zu fehnell 
entfcheiden. Olshauſen in feinem fehr fleißigen und brauchba- 
ren Buche über die Üchtheit der Evangelien, die er durch Zeug: 
niffe aus dem zweiten und erften Sahrhunderte nachweift, gebt 
hierin zu weit. 

Man hat ferner gefchloffen, daß Celſus, gegen welchen 
Origenes fohrieb, auch fehon unfere Evangelien gekannt habe. 
Aber dies ſcheint mir doch nicht für fo gewiß angenommen wer 


1) Euseb. hist. eccl. VI. 14, aeoi 175 ruseng Tav evayyehiov magadooıy 


- u ⸗ ! 
Tuv avenadev ngsopßvrigoy TEIETEL. 


Gelfus. Irenäus. Tatian. 211 


den zu koͤnnen. Er nennt nur vueregn ovyyoruere, die mit 
einander in MWiderfpruch feien, 3. B. daß von den Einen bei der 
Auferftehung Chrifti ein Engel erwähnt worden, von den Andern 
aber zwei. Nun führt allerdings Drigenes bei feiner Widerlegung 
diefes Einwurfs die Namen des Matthäus und Marcus, des Lu— 
cas und Sohannes an; aber ob Gelfus diefe auch gekannt oder 
nicht vielmehr andre Erzählungen, worin dies auch fo vorkam, 
ift eine große Frage). Man kann nicht läugnen, daß Gelfus 
von feinem heidnifchen Standpuncte die Polemik gegen das Chri- 
ſtenthum mit einer gewiffen GründlichFfeit angefaßt hat; wenn nun 
ſchon damals der Unterfchied der Firchlichen und häretifchen Evan- 
gelien bejtimmt feftgeftellt gewefen, fo würde er nicht häretifch- 
apoerpphifche Erzählungen gleichmäßig mit folchen, die aus un- 
fern canonifchen Evangelien genommen zu fein feinen, angeführt 
haben, ohne fie zu unterfcheiden. 

Gehn wir in eine andre Negion über, fo tritt und Irenaͤus 
entgegen. Bon ihm ift es ganz unftreitig, daß er unfre vier 
Evangelien nicht nur gehabt, fondern auch in ihrer ausfchliegli= 

chen Dignität gekannt hat. 
| Wir fommen nun auf Suftin und feinen Schüler Tatian in 
der Mitte des 2. Jahrh. Erfterer ift von unfern Gritifern auf 
ſehr verfchiedene Weife behandelt ; wir wollen den jüngern, Tatian, 
zuerft betrachten 2). Sein Buh did zeoo«on» wird ald eine 
Zufammenftellung aus unfern vier Evangelien characterifirt und 
gewöhnlich ald die erſte Evangelienharmonie angefehn, wiemohl 
man nicht fo viel von dem Buche weiß, um dies mit Beftimmt- 
heit behaupten zu fünnen. Der Name „eine Schrift, die vermit- 
telft der vier zu Stande gekommen” deutet offenbar auf unfre 
vier Evangelien hin. Wenn alfo Tatian felbft fein Buch fo ge- 
nannt, fo würde folgen, daß er die 4 Evangelien als zufammen= 
gehörig ausgefchieden und mit befondrer Achtung behandelt hätte. 


1) Bergl. die Stellen aus Orig. contr. Cels. bei De Wette, $. 76. 
2) Siehe oben ©eite 70, 
14* 


BR. — Tatian's die Teaoconv. Juſtin. 


Daß aber Euſebius dieſen Namen dem Tatian ſelbſt zuſchreibt, 
gilt wenig, weil nach ſeinen Außerungen uͤber das Buch er es 
nicht ſelbſt geſehn hat; Theodoret aber, der es kannte Y, ſagt 
bloß 6 Tarınvog To dia ν xaAovtEevov OVVTEedELnEV 
svayyehıov, woraus nicht hervorgeht, daß Tatian felbft es fo 
genannt hat. Theodoret feßt hinzu: ag Te yevsadoyiag negı- 
#0Vag ‚nat Ta La 000 &u on£eguerog Aufpid zarte oaon« 
yeysvvmuevov TovV nvgiov Öeinvvow. Dies ift etwas fehr Dunf- 
les, was wenig auf die eigentliche Chäracteriftif des Buches ein— 
geht 2). Warum mir aber fo wenig wahrfcheinlih ift, daß Ta— 
tian die vier Evangelien als folche gekannt habe, ift fein Verhält- 
niß zu Suftin. 

Bei Suftin ?) find viele Anführungen, aber unter dem Na— 
men KTouvmuovsvuota Toy anooroiwv. Wenn er nun unfere 
vier Evangelien in ihrer ausschließlichen Kirchlichkeit gekannt hätte, 
fo würde er fich nicht eines folchen ganz fremden Ziteld bedient 
haben. Sm Dial. c. Tryph. wird diefer Ausdrud erweitert ano- 
AIyNuoVEVUATE TOV ETOOTOAWV nal TWv Exeivoıg NaguxoA0ovdY- 
oavınv; aber es wird dadurch das Umgehen des gewöhnlichen » 
Titels durchaus nicht erflärlicher gemacht. Auch aus der Stelle 
in der einen Apologie anouwmuovevuerae, & nalgirar sVayye- 
Ara würde noch nicht folgen, "daß Suftin die vier Covangelia in 
ihrer befondern Dignität gekannt hätte, aber ich up diefen Zu— 
faß für eine Gloſſe halten. 


1) Siehe oben Seite 203 mit Note 1. 

2) Erf. Entw. Merfwürdig ift und Auffhluß gebend die Angabe des 
Epiphanius, daß zo dı« Teoo«gwv evayyeliov des Tatian von Einigen 
»ura "Eßgeiovs genannt werde. Denn entweder hat es 2 Bühler ge— 
geben, die ara “Eßowiovs heißen, was fehr unwahrſcheinlich ift, oder 
e8 liegt eine Berwechfelung zum Grunde, Nun hatte das Evang. sec. 
Hebr. befondere Geſchichten zum Theil mit Johannes gemein; fo fonnte 
jenes Yeicht auch dic Teooaew» heißen und hieraus die Berwerhslung 
hervorgehn. 

3) Siehe oben Seite 71; vergl. De Wette $. 66. 67. 


Juſtin's drzomynnovsduare. 213 


Nun war Tatian ein Schüler des Suftin, aber: Fein fehr 
fpäter, und deshalb ift nicht wahrfcheinlich, daß in diefer kurzen Zeit 
die vier Evangelien fchon fo ausschließlich in Gebraud und An— 
fehn gefommen fein follten, daß Zatian ein Buch darüber fehrieb. 
Er mag fie wohl einzeln auch, gekannt und aus richtiger Gritif 
vielleicht nichtS aufgenommen haben, was nicht auch darin ftand, 
_ und dadurch mag der fpätere Name feiner Schrift entftanden fein; 
aber daß er mit der befondern Abfiht, eine Harmonie aus den 
vier Evangelien zu machen, nur eben diefe vier, als kirchlich al- 
lein anerkannt, ausgewählt habe, ift nicht wahrfcheinlich. 

Wenn wir die Stellen des Juſtin mit den entfprechenden in 
unfern Evangelien vergleichen, fo finden wir felbft bei der größten 
Uebereinftimmung eine Art von Zufammenftelung, welche auf eine 
Aehnlichkeit mit dem fpätern dia reooaowv des Tatian fehließen 
laßt. Es find nicht nur Vermiſchungen aus Matthäus und Lucas 
(aus Marcus kommt wohl wenig oder fo gut wie gar Nichts vor), 
fondern auch aus Matthäus und Sohannes und aus Sohannes 
und Lucas; und das ift für mich eher ein Beweis, daß Juſtin 
unfre Evangelien nicht gehabt, als daß er fie hatte. Denn wo 
man die Zetras anerkannt hat, da hat man. zugleich. die Verfchie- 
denheit der drei erften Evangelien von dem des Sohannes beach— 
tet. Man fucht nun den Beweis gegen die Bekanntfchaft des 
Suftin mit unfern Evangelien, der daraus genommen ift, daß er 
fie nicht nennt, dadurch zu entkräften, daß er auch die alttefta- 
mentlichen Schriften nicht namentlich eitire, aber das erklärt fich 
aus einem Gefühle von Schidlichkeit, weil die Apologien vorzüg- 
lich an die römifchen Behörden gerichtet waren. Wir können aus 
den Citaten des Juſtin Feine ‚beftimmte Meinung über die Einheit 
oder Vielheit und befondere Befchaffenheit der Schriften, die er 
anfuhrt, bilden. Er führt unter demfelben Namen aud 
Stellen an, die nur in apocryphifchen Evangelien fein Fünnen ; 
was ſchon fuͤr ſich vollkommen beweiſ't, daß er die ausſchließliche 
Kirchlichkeit unſrer vier Evangelien nicht gekannt hat. Daß es 
mehrere Schriften find, die er unter dem Namen amouvnuovev- 


214 Juſtin's arzormrypoveirare. Marcion. 


yore zufammenfaßt, will ich gar nicht bezweifeln; es wäre auch 
fehr unwahrſcheinlich, wenn dort die ganze chriftliche Litteratur 
auf eine Schrift beſchraͤnkt geweſen wäre ?). 

Auh von Marcion ?) fuht Dlshaufen durchzuführen, 
daß er unfere 4 Evangelien gefannt und ihre Aechtheit nicht be- 
zweifelt, aber ihrer Eirchlichen“Brauchbarfeit wegen Ausftellungen 
dagegen gemacht habe. Aus den einzelnen Anführungen aus ber 
Schrift des Marcion conftirt aber daruͤber gar Nichts, fondern 
nur, daß feine Gegner vorausgefeßt, er Eenne die 4 Evangelien. 
Wenn Tertullian fagt, Marcion habe das Evangelium verfälfcht, 
fo macht Dlshaufen feine Folgerungen daraus, weil damals der 
Ausdrud Evangelium fhon die Evangelienfammlung bedeus 
tet habe, aber dabei wird die etwas rabuliftifche Polemik des 





1) Erf. Entw. Der Name wvayyilıor kommt in den Apologien gar 
nicht, fondern nur in dem fehwerlih von Zuftin herrührenden Dial: c. 
Tryph. vor. Wäre aber diefer auch Acht, fo würde doch To zuayyidıor 
nicht auf eine Kenntniß unferer Evangelien führen, da fein Name dabei 
fteht, fondern mehr darauf, daß entweder Zuftin nur Ein Evangelium 
gefannt hat oder daß das Wort im Singular als allgemeine Bezeich- 
nung für alle Schriften diefer Art gegolten hat. Juſtin's Ausdrud 
ift aber fehr natürlich und gar Feine Veranlaffung, dabei an Zenophon 
befonderg zu denken, fondern nur daß die Apoftel aus der Erinnerung 
aufgefehrieben. An Einer Stelle indeß (im Dial. c. Tryph.) erweitert 
‚er. den Ausdruck abfihtlich „die Apoftel und ihre Begleiter” was man 
freifich der befannten Tradition nad auf Marcus und Lucas deuten 
fönnte. Es bleibt auch an ſich möglich; denn die Namen eigneten fich 
als ganz unbekannte nicht dazu, dem Kaifer vorgelegt zu werben, an 
den doch die Apologie ging. Aber die Sache felbft ift dagegen, weil 
die fo angeführten Stellen nicht alfe in unfern canonifchen Evangelien 
ſtehn, manche gar nit, manche viel zu fehr verändert, als daß man 
dies auf Rechnung des freien Citivens ſchreiben könnte. Eben fo wenig 
deutet der Ausdruck auf ein Nrevangelium als gemeinichaftlihes Wer 
"mehrerer Apofiel und Apoftelgehülfen, fondern auf eine unbeftimmte 
Mehrheit folcher Aufzeichnungen. 

2) Bergl. oben Seite 64 und 197. 


Marcion’s Evangelium. 215 


Tertullian überfehn, der mit dem Ausdrude fpielt: weil Marcion 
nach feiner Vorausſetzung das Evangelium des Lucas verfälfcht 
hat, fo hat. er auch das Evangelium d.h. die Lehre verfälicht. 
Man befchuldigt ihn, gefagt zu haben, die Apoftel hätten die le- 
galia zu der Lehre Chrifti hinzugefügt. Dies verbindet man mit 
der andern Nachricht, daß er das Evangelium verfälfcht habe, und 
fchließt daraus, Marcion habe behauptet, daß die apoſtoliſchen 
Verfaſſer unſrer Evangelien ihre Nachrichten vom Leben Chriſti 
durch geſetzliche Elemente verfaͤlſcht haͤtten. Aber das liegt darin 
gar nicht; Marcions Meinung iſt nur, daß die Apoſtel nicht reine 
Ueberlieferer der Lehre Chriſti ſeien; alles Geſetzliche ſei auf Rech— 
nung der Apoſtel zu ſchreiben. Es folgt alſo nicht daraus, daß 
er unſere apoſtoliſchen Evangelien gekannt habe, ſondern nur, daß 
er, wenn er dergleichen in ſeinem Evangelium fand, es den Apo— 
ſteln zuſchrieb. Betrachten wir die Theorie des Marcion, ſo weit 
wir ſie kennen, ſo wuͤrde auch viel weniger Änderung dazu ge— 
hoͤrt haben, das Evangelium des Johannes ſeiner Theorie 
anzupaſſen, als irgend eins der ſynoptiſchen. Wir koͤnnen alſo 
nicht annehmen, daß er das Evangelium des Johannes gekannt 
habe, weil er fonft offenbar dies benutzt hätte, er hätte gar kei— 
nen Grund. gehabt, es mit einzelnen Änderungen nicht neben 
dem feinigen auch zu behalten. Es war ja gar nicht feine Abſicht, 
ſich in Streit mit der Kirche zu feßen; hätte er alfo die Firchliche 
Tetras gekannt, fo wäre jedes andere Verfahren beffer als das, 
was man ihm zufchreibt, gewefen, um feinen Zwed zu erreichen 
und doch die Kircheneinheit nicht aufzugeben. ES muß demnach 
ganz unwahrfcheinlich werden, daß Marcion unfre 4 Evangelien 
gekannt habe ; nicht einmal einzeln fcheint er fie gehabt zu haben. 

Fragen wir alfo, wann wir mit Sicherheit die Geltung der 
vier Evangelien aufitellen Fünnen, fo müffen wir bei Drigenes 
und Irenaͤus ftehn bleiben, höchftens fünnen wir bi$ Clemens 
von Alerandrien hinauffteigen. Keineswegs aber ift voraus- 
zufegen, daß dies in der ganzen Kirche gleichzeitig geweſen fei, 
fondern nach der Natur der Sache ift es vielmehr wahrfcheinlich 


216 Ueber zuza in der Benennung der Evangelien. 


daß e5 von einem Puncte begann, und die andern Kirchen dann 
nachfolgten; und wenn wir es zuerft bei Clemens finden, fo ift 
Nes wohl zu vermuthen, daß diefe Ausfcheidung und befondre 
Eirchliche Anerkennung unfrer vier Evangelien von Egypten 
ausging. 

Einzeln waren fie ſchon früher befannt; die Frage aber, wie 
weit fich dies nachweifen laffe, wird uns erft fpater befchäftigen, 
wenn wir jedes Evangelium für fich betrachten. 


$. 60. 


Das Wort evayyedıov ward nun der Name diefer Schrif- 
ten, weil fie vorzugsweife das enthielten, was die svayyelorai 
al Erzählung aus dem Leben Chrifti zu dem #novyue der Apo— 
ftel hinzufügten ?). Ueberall aber verknüpft fich mit diefer Benen— 
nung das zara?), nicht nur bei unfern vier Evangelien, fondern 
auch zara IIeroov, xara Owucv, aber auch ebenfo zu 
“Eßoeiovs, var Alyvnviovs. Soll daS zara nur eine andere 
Art fein, den Auctor zu bezeichnen 3), fo muß doch außerdem 
noch eine andere Bedeutung deffelben angenommen werden, denn 
svayyeiıov na9" “Eßociovs Tann doch nur heißen: ein Com— 
plexus der Kebensbefchreibung Chrifti, wie er bei den Hebräern 
‚gefunden wird; dies ift alfo ein oͤrtliches Verhältniß und das des 
Auctors tritt ganz zurüd. Hiervon müffen wir ausgehn, und e$ 
wäre darnach ganz möglich, daß ein Evangelium zwei folcher Ti— 
tel haben Eonnte; 3. B. das Evangelium ara Ileroov hätte 
eben fo gut zara Kidızas heißen Fünnen. Nehmen wir ferner 
die Tradition, daß das Evangelium des Marcus feine Auctorität 
dem Umftande verdanfte, daß er der Evangelift des Petrus ge: 
wejen, und das des Lucas dem, daß er der des Paulus gewe— 





1) Siehe oben Seite 205 — 208. 

2) Siehe oben Seite 90. 

3) Erf. Entw. Selbſt die Stelle in ven Maffabäern beweift nur, daß 
es des Nehemias Schrift fei von dem zu feiner Zeit vorgefallenen. 


Unterfchied zwifchen Biographie und einzelnen Erzählungen. 217 


fen: fo hätte das erftere auch das Evangelium xur« Ileroov 
heißen koͤnnen, und das zweite das „ara Ilaviov. Das xare 
bezeichnet alfo in dem einen Falle eine beftimmte Auctorität, in 
dem andern eine Zocalität. Wenn wir nun von den Evangelien 
xu9° ‘Eßociovs und-xav Alyunriovg nicht die Verfaſſer ken— 
nen, fo muß Jedem einfallen, daß diefe Namen nicht die ur= 
fprünglichen find; wer fie fchrieb, Tonnte fie unmöglich gleich fo 
nennen, fondern fie Eonnten erft fpäter fo genannt werden, als 
man fie ausfchließlich dort fand und fie unterfcheiden wollte; 
urfprünglich mögen fie bloß evayyedıov geheißen haben. Daraus 
folgt, daß man urfprünglich bei folhen Schriften gar keinen be— 
fondern Werth auf den Berfafler legte; und dies iſt auch fehr 
natürlih, wenn wir und ihren Urfprung aus dem Gefchäft der 
Evangeliften erklären; denn da ift der Diaffeuaft gar nicht der 
urfprüngliche Verfaffer, fondern einen folchen giebt ed gar nicht, 
weil mündlich forterzählt wurde; es giebt nur Quellen und Aucto— 
ritäten dafür. — Daß man diefen Punct bei diefer Unterfuchung 
nicht erſt feftgeftelt hat, haft viele Verwirrung in diefen Gegen— 

ftand gebracht. | 


i $. 61. 

Che wir zu den einzelnen Evangelien Tommen, haben wir 
noch im Allgemeinen davon zu reden, wie der Uebergang vom 
mündlichen Bortrage der Evangeliften aut ſchriftli— 
chen Abfaffung zu denken fei?). 

Aber auch hier ift gar nicht auf etwas Gleichmäßiges zuruͤck⸗ 
zugehn. Denken wir uns ein ſchriftliches Evangelium aus den 
oben betrachteten Elementen zuſammengeſetzt, aus Erzaͤhlungen, 
die ſeine goͤttliche Sendung und Meſſianitaͤt zu beweiſen beſon— 
ders geeignet waren, und aus Reden, die feine Lehren enthielten: 
bilden dann foldye arrouwnuovsvuara wohl eigentlich eine Bio- 


1) Bergl. Schleierm, üb. d. Schrift des Lucad. ©. 9— 14, 


218 Unterfchied zwifchen Sohannes und den Synoptifern. 


graphie? Eine foldhe erfordert, daß das Leben eines Einzelnen 
in einer zufammenhängenden Entwidlung gedacht und dargeftellt 
werde; da giebt es beftimmte Epochen ſowohl für die innere Seite 
feines Lebens, als für feine Relationen nach außen; diefe müfjen 
hervorgehoben und auf einander bezogen werden. Dazu aber gab 
eine Zufammenfegung aus einzelnen Erzählungen yon Evangeliften 
feine Beranlaffung. Allerdings mußte, da die Leidens: und Auf: 
erfiehungsgefchichte befonders mit zu dem beweifenden Elemente 
gehörte, hier ein Sufammenhang fein; aber alles Frühere war 
ohne einen folhen. Da wurde alfo eine verfchiedene Anordnung 
möglich, was dem biographifchen Character nicht angemefjen ift.— 
Nun aber wäre es doch fehr natürlich, daß es Biographien von 
Chriftus gegeben habe; in denen, die mit ihm beftändig lebten, 
mußte fich doch -ein folches zufammenhängendes Bild von feinem 
Leben geftalten. Aber freilich zu einer ſchriftlichen Darſtellung 
deſſelben gehoͤrte eine gewiſſe Ruhe und Muße. Denken wir aber, 
es ſei dergleichen nicht zu Stande gekommen, ſo lange die noch 
lebten, die Chriſtum ſelbſt begleiteten, fo konnte es ſpaͤter gar 
nicht geſchehn. Jede ſolche biographiſche Abfaſſung in einer ſpaͤ— 
tern Zeit wäre eine Fiction geweſen, oder es hätte ein ſehr forg= 
fältiges critifches Verfahren dazu gehört, was für jene Zeit nicht 
anzunehmen ift. 
Betrachten wir nun unfre vier Evangelien in diefer Hinficht, 
fo theilen fie fich offenbar in Diefe zwei Zweige. Die drei erften 
find folche, die aus einzelnen zufammenhangslofen Erzählungen 
entftanden find, was ſich fhon daraus ergiebt, Daß fie diefelben 
oft in verfchiedener Ordnung und Zeitfolge geben. — Aus der 
Berwechfelung diefer drei Evangelien mit einer Biographie ifl 
das entftanden, was fich in dem Commentar von Paulus 
bei Anführung ähnlicher Erzählungen findet, nemlich die Vorſtel— 
lung von befonders reich befeßten Tagen im Leben Shrifti. Wenn 
num einer von diefen Tagen vielleicht ein Viertel des Ganzen 
ausmacht, fo Eommt eine fonderbare Ungleichheit heraus, da doch 
das Öffentliche Leben Chrifti ein paar Sahre dauerte, fo daß große 


Unterfchied zwiſchen Johannes und den Synoptikern. 219 


Zeiten ganz leer ausgehn; wie müßte es alſo im Gedaͤchtniß derer, 
die Chriftum begleiteten, ausgefehn haben? Aber fo wie man da- 
von abftrahirt, daß jene Evangelien Biographien fein follten, und 
daß es auf eine zufammenhängende Darftellung abgefehn fei, fo 
prägt fich diefer Unterfchied gleich fehr deutlich ein. Unfere drei 
erften Evangelien fprechen 3. B. nur von einem Aufenthalte 
Chrifti in Serufalem. Dies hat man bei Matthäus fo erklärt, daß 
er nur das habe erzählen wollen, was nach der Gefangennehmung 
Sohannes des Taufers gefhehn fei; bedenkt man aber, daß die 

Schickſale deffelben gar nicht mit denen Chrifti zufammenhängen, 
fo erfcheint dies als vollig willkürlich. | 

Sm Evangelium des Sohannes ift dagegen der biographifche 

Character aufs beftimmtefte ausgeprägt. Alles wird auf be- 
ſtimmte Zeiten bezogen, natürlich nicht in der Abfiht, eine Chro- 
nit vom Leben Chrifti zu liefern, aber doch die ganze Enfwidlung 
der Begebenheiten von feinem öffentlichen Auftreten an. Nehmen 
wir dazu, daß bei Johannes in den Reden Chrifti gerade das am 
meiften hervortrift, was am fchwierigften in der Ueberlieferung 
zu behalten ift, das Dialogifche: fo fehn wir, daß diefe Compofition 
nur von Semand gegeben werden Fonnte, der mit Chriftus gelebt 
hat; ein Späterer hätte müffen genaue critifche Unterfuchungen 
anftellen, welche dem Evangelium wohl würden anzumerfen fein. — 
Ein biographifches Evangelium, wenn es acht fein fol, Fonnte 
nur von einem Begleiter Chrifti mitgetheilt werden, oder höchftens 
aus der zweiten Hand. 

Denken wir uns alfo diefe beiden Arten der evangelifchen 
Litteratur, die zufammenhangslofe und die biographifche, fo mußte 
die letztere ihrer Urfprünglichfeit nach früber fein, die erftere 
konnte auch fpäter entftehn. Natürlich Eonnten, wenn erft ein 
biographifches Gvangelium da war, nachher mehrere davon ge- 

macht werden. — Es ift alfo eine Gleichmäßigfeit und Gleichzei- 
tigkeit in der Abfaffung der Evangelien gar nicht vorauszufegen. 
Die aggregirenden Evangelien Fonnten weit Ipater abgefaßt 
werden, wenn gleich die einzelnen Elemente ſchon vorher vorhan— 


* 


220 Verſchiedenes Alter beider Arten von Evangelien. 


den waren, es kann aber auch fruͤher ſolche gegeben haben; da— 
gegen die biographiſchen Evangelien mußten nothwendig in die 
apoftolifhe Zeit fallen. 

Dies will ich einmal mit der fehr gewöhnlichen Borftellung 
vergleichen, daß die drei erften Evangelien Alter feien, als das des 
Sohannes, und daß dies zur Ergänzung jener gefchrieben fei. 
Behandeln wir dies bloß als eine Anficht der Sache, nicht als 
ein gefchichtliches Zeugniß, fo iſt es etwas fehr Unwahrfcheinli- 
ches; wir müffen vielmehr vermuthen, daß, wenn das Evangelium 
Johannis nicht von der zweiten Ordnung ift, fondern dem Apoftel 
Johannes angehört, dies das frühefte if. Wenn nun aber Zeug- 
niffe dagegen wären, fo müßten wir fagen, daß unerwartet früh 
jene mündlichen Vorträge in fehriftlihe Abfaffung übergingen. 
Denken wir uns aber ein biographifches Evangelium urfprünglich und 
aggregirende fpäter mit Kenntniß deſſelben verfaßt, fo koͤnnten fie | 
nicht fo ausjehn, wie unfere drei fonoptifchen. Denn es ließe fich 
nicht denken, daß fie nicht follten ihre Elemente nach diefer Auc— 
torität geordnet haben, oder daß wir es ihnen nicht anmerken folls - 
ten, wo fie diefelbe vor fich gehabt haben, und wo nicht. Wollen 
wir alfo das Evangelium des Johannes als ein biographifches 
früher feßen, als die drei fynoptifchen, fo müffen die Berfaffer 


der Ießtern das erftere nicht gekannt haben. Denn da z. B. Mat- 


thaͤus Nichts von einem frühern Aufenthalte Sefu in Serufalem 
weiß, dagegen Bieles in den Ießten, der doch nach Johannes nur 
wenige Tage dauert, aufhäuft: fo wäre es höchft-fonderbar, daß 
nicht irgend eine entfchuldigende Andeutung in Bezug auf die 
frübern Reifen vorkommt. Dies fcheint alfo eine Begünftigung 
der gewöhnlichen Anficht zu fein. 

Nun wollen wir aber noch einmal zu dem Urfprünglichfien, zur 
mündlichen evangeliftifchen Thätigkeit zurüdfehren, und uns ein 
Bild davon zu machen fuchen. Denken wir uns die erften Chri— 
fien in Serufalem und Galiläa, fo wird hier, fo lange die 
Zeitgenoffen Chrifti lebten, das evangeliftifche Gefchäft nicht von 
großer Bedeutung gewefen fein; e3 wird nicht Einer gewefen fein, 


Beichreibung der mündlichen Grzählungsweife. 221 


der nicht Einiges aus dem Leben Ehrifti follte feftgehalten haben, 
da3 er mit einer gewiffen Genauigkeit wiedergab. Da war ed 
alfo ein Austaufch von dem, was Jeder hatte, aber Fein Grund, 
e3 zu einem befondern Gefchäft zu machen. Aber leicht mochten 
Einige einen innern Trieb fpüren, dad, was fie durch den Aus— 
tauſch befamen, eben fo feftzuhalten, als was fie felbft erfahren. 
Das kann durch inprägung aus wiederholten Erzählungen rein 
im Gedächtniffe gefchehn fein, oder auch wohl zeitig ſchon durch 
Schrift. Doch haben wir nicht Urfache, in diefen Gegenden eine 
große Leichtigkeit in der fchriftlichen Abfaffung anzunehmen; unter 
den Juden gab ed wenig Veranlafjung zum Brieffchreiben, meil 
man bei den jährlichen Feften fich doch zufammenfand;' auch der 
gefchäftlihe Verkehr brachte nichts Schriftliches mit fih. Alſo 
müffen wir uns das Schreiben auf den litterarifchen Theil des 
Volks befchränft denken, und davon gehörte zu den erften Ehriften 
ein fehr Eleiner Theil. Wir müflen uns alfo hier eine große 
Berbreitung diefer Notizen, aber ohne Neigung zur 
ſchriftlichen Abfaffung denken. 

Sehn wir auf die weitere Verbreitung des Shriftenthums, fo 
finden wir zuerft eine unfreiwillige Zerfireuung der Chriften nach 
dem Tode des Stephanus., Es waren wahrfcheinli vorzüglich 
belleniftiihe Suden, welhe zum Theil wohl nicht einmal in Se 
rufalem mochten anfäffig gewefen fein, von denen die Berpflan- 
zung des Chriftenthums nach außen zuerft ausging, wie wir Dies 
3. B. in Antiochien authentifch wiffen. So wie alfo das Chri- 
ſtenthum bier Wurzel fhlug, war Anlaß da, daß das Erzählen 
der evangelifchen Gefchichte ein befonderes Gefchäft wurde. Dies 
jenigen, welche Chriftum felbft hier und dort gehört hatten, wer— 
den fich diefes Gefchäfts befonders angenommen haben. Nun 
entftand bald ein großer Verkehr zwifchen Serufalem und Antio- 
bien, und da werden Chriften, die noch mehr aus dem Leben 
Chriſti wußten, hinzugefommen fein, und das Geſchaͤft des Er- 
zählens wurde mehr ausgedehnt. Doc fcheint es, als Fonnten 
dies nur die mit Nußen treiben, die in Palaftina gelebt, aber Fei- 


222 Befchreibung der mündlichen Erzählungsweife. 


nen Wohnfiß haften; denn die in Serufalem wohnten, werden nicht 
viel von dem gewußt haben, was Chriftus in Galiläa gethan. 
Es mußte aber, fo wie das Erzählen ein eigentliches Gefchäft 
wurde, ein Fleiß entftehn, nachzuforfchen und Elemente, die zur 
Erläuterung feines Lebens dienten, Parabolifches und Gnomifches, 
in größern Maffen herbeizufchaffen. Wie dies aber befonders die 
trieben, die nicht an einen feſten Wohnfig gebunden waren, jo 
war noch weniger Beranlaffung zu fohriftlibher Ab- 
faffung, weil diefe ein mehr ruhiges und ſtetiges Leben erfor- 
dert. — Alles Eonnte mündlich gefchehen; denn wie bei den 
griechifchen Rhapſoden war das Gedächtnig damals geübter, als 
jetzt, wo wir fo an die Feder gebunden find. Daß bei diefem 
Zufammentragen durch Austaufch freilich nicht lange eine wörtliche 
Uebereinftimmung fein konnte, ift wohl Elar; und fo läßt fich 
denken, daß, wenn nachher eine fchriftliche Abfaffung eintrat, ſchon 
verfchiedene Relationen derfelben Zhatfahen da waren. ' Aber 
auch hier ift feine Gleichmäßigfeit zu denken, fondern es giebt 
wieder zwei verfchiedene Elemente. Es ift natürlich, daß man 
befondern Fleiß darauf wandte, die Reden Chrifti zu überliefern. 
Auch in den thatſaͤchlichen Elementen, wo fih an die Zhat- 
fachen Ausfprüche Chrifti anfnüpften, wird fich die Uebereinftim= 
mung länger in der Ueberlieferung feiner Reden erhalten haben, 
als in ber Erzählung. — Wenn wir uns dies weiter ausgebreitet 
denken, fo haben fich bald folbe Sammlungen von Erzählungen 
aus dem Leben Chriſti gebildet, die fich fortüberlieferten; und da 
konnten es an verſchiedenen Orten verſchiedene ſein, aber auch die— 
ſelben Elemente immer wieder vorkommen. Wegen der beſondern 
Dignitaͤt der Leidens⸗ und Auferſtehungsgeſchichte iſt wahrſchein⸗ 
lich, daß die Elemente derſelben uͤberall vorzuͤglich identiſch waren, 
waͤhrend das Uebrige in groͤßerer Verſchiedenheit ſich verbreitete. 

Es finden ſich bei den aͤltern Kirchenſchriftſtellern Traditionen, 
die auf eine gewiſſe Abhaͤngigkeit des evangeliſtiſchen Geſchaͤfts 
von dem apoſtoliſchen hinweiſen; aber man muß ſich dieſe nicht zu 
genau denken, als ob etwa jeder apoſtoliſche Mann ſeinen Evange— 


Vebergang der mündlichen Erzählung zur fchriftlihen Abfaſſung. 223 


liſten hatte, der ihn begleitete, oder als ob alles ewangeliftifch Ueber— 
lieferte einer apoftolifhen Beftätigung bedurfte. Es Fonnten ja 
Mehrere durch fich felbft beglaubigt fein, al5$ Augenzeugen, wenn- 
gleich fie nicht zum apoftolifchen Kreife gehörten, oder fie Fonnten, 
was fie vorgetragen, von folchen gehört haben. 

So geftaltet fich die Sache, wenn man fie der innern Wahr- 
fchbeinlichfeit nach denft im Sufammenhang mit unfern Notizen 
über die erfte Verbreitung des Chriſtenthums. 

Der Uebergang zum Schriftlichen nun laͤßt ſich 
auf zwei ſehr verſchiedene Arten denken, entweder als eine Sache 
der Noth, oder als eine Sache einer freien aber nur unter gewiſ— 
ſen Umſtaͤnden zu befriedigenden Neigung. Sache der Noth konnte 
es nur dann werden, wenn das Material der muͤndlichen Ueber— 
lieferung ſich anhaͤufte, und unter Vielen wenigſtens Einige wa— 
ren, die eines ſchriftlichen Feſthaltens bedurften, um ihr Material 
nicht zu verwirren. Aber auch dies dürfen wir und nicht in dem 
Bedürfniß einer gewiffen Ordnung begründet denken, die bei dies 
fer nur aggregirenden Sammlung nicht flattfinden fonnte, nur 
daß, was zur Leidens- und Auferftehungsgefchichte gehörte, zületzt 
‘ geftelt werden mußte. Aber um Berwechfelung des Aehnlichen 
in dem Material zu verhüten, konnte man wohl vieler fchriftlicher 
Notizen bedürfen, die aber nicht der Art zu fein brauchten, daß 
fie durch fich felbft verftändlich waren. Weit eher läßt fich den- 
ken, daß folche fchriftliche Aufzeichnungen von den Zuhörern, als 
von den Evangeliften felbft ausgingen..— Anders war es bei 
denen, die auf dem Schauplage der Begebenheiten felbft wohnten, 
da Eonnte es Viele geben, die Ruhe und Mufe hatten, Erzäh- 
lungen aus dem Leben Chrifti zu fammeln und zu ihrem Privat- 
gebrauche folche Aufzeichnungen zu machen. Immer gehörte dazu, 
fobald fie für fich verftändlich fein follten, eine gewiffe Ruhe und 
Opportunitaͤt, um eine gewiffe Volftändigkeit durch WVergleihung 
mehrerer Nachrichten zu erhalten. Aber daraus folgt noch gar 
nicht, daß die erften fehriftlihen Abfaffungen auf eine Geſammt— 
heit des Lebens Chrifti ausgegangen feien; fondern fo wie wir es 


224 Hppothefe von einem Urevangelium. 


als eine Sache der Neigung anfehn, fo Fonnte dad Mannigfal- 
tigfte dabei zum Vorſchein Fommen. Einige haben vielleicht be- 
fonders Wundergefchichten gefammelt, Andere befonders Parabeln 
u.f. w., und fo haben die Elemente der Evangelien vorher in 
folcher Zerftreutheit eriftirt. | 

MWenn wir und nun einen Evangeliften denken, der daS Ge— 
fchäft an einem und demfelben Orte trieb und zwar an einem 
folchen, wo er Gelegenheit hatte, von Autopten Mehrere einzus 
fammeln, wo feine Zuhörer aber wechfelnd waren: fo wäre ein 
Solcher beſonders geeignet gewefen, eine fchriftlihe Abfaſſung zu 
machen, und eine Menge von Material der bloß mündlichen 
YVeberlieferung zu entreißen. Ein Solcher wird Act. 21, 8 nam: 
haft gemacht, Philippus, welcher zu den fieben Diaconen der 
Gemeinde in Serufalem gehörte. Er wohnte in Cäfarea und 
wird ausdruͤcklich 6 evayyslıorng genannt; feine Toͤchter ſeien 
Tooyyrevovonıs gewefen. Aber wir wiſſen gar nicht, Daß er 
fchriftliche Aufzeichnungen gemacht habe, obgleich es ſehr wahres 
fcheinlicy war; denn Caͤſarea war der Sit des römifchen Procu= 
rators und eine wechfelnde Zuhörerfchaft hier natürlich; dabei 
war Galilda, der Schauplaß der meiften Thaten Chrifti, fehr nahe. 
Die Acta erwähnen zwar davon weiter Nichts; aber Feineswegs 
folgt daraus, daß unfre Darftelung unrichtig iſt, denn es wird 
des Philippus nur beiläufig gedacht. 


| er 


Hiermit wollen wir eine andere Vorftellung vergleihen, die 
eine Zeit lang ungemeinen Beifall hatte, die Eich hor n'ſche von 
einem Urevangelium?). Sie ift aus der Aufgabe hervorge- 
gangen, die Verwandtſchaft unfrer drei erfien Evangelien zu 
erklären. Nach unfrer Darftellung, die wir angefangen, wird 
ſich diefe ganz von felbft als natürlich darftellen: die wichtigften 


‚1) Berge. Schleierm. üb. d. Schr. des Lucas ©. 2— 8. 


Hypotheſe von einem Urevangelium. 2253 


Erzählungen werden vorzüglich identifch fein, Ordnung und Stel: 
lung aber fehr verfchieden. — Nimmt man aber bloß die Geftalt 
unfrer Evangelien vor die Augen, fo Fann man wohl leicht zu jener 
Hppothefe kommen, die aber, wenn man die Probe mit ihr macht, 
in Nichts zerfällt. Wir haben von oben angefangen; wenn wir 
nun einen Schluß gemacht hätten auf die Geftaltung der Evans 
gelien, wie fie darnach fein müßte: fo wäre die Probe, die wir 
zu machen hätten, daß wir zufähen, ob unfre darnach gebildete 
Borftelung von den Evangelien mit den wirklich gegebenen zu— 
fammenftimmt. Fänge man aber von unten an, von ben vor: 
handenen Evangelien, und fragt, worin ihre Berwandtfchaft und 
Berfchiedenheit ihren Grund haben kann: fo muß man die Probe 
umgefehrt machen. 

Eichhorn hat gedaht: was verwandt und wörtlich überein= _ 
fiimmend ift, muß urfprünglich Eins gemwefen, was aber ver: 
fchieden ift, muß fpäter hinzugefommen fein. So erhalten wir 
aber für das Urfprüngliche, das Urevangelium, nur ein fehr ma: 
geres Gerippe. Wenn aber dies fol feft und Eins gewefen fein, 
fo müßte es doch eine befondere Beglaubigung erhalten haben; 
und da müßten ſich die Apoftel über ein folches Urevangelium ver— 
einigt haben. Die Probe ift alfo, ob fich das, von oben ange 
fangen, fo denken läßt. Aber da finde ich nur ein immer ärger 
werdendes Gewebe von Unmahrfcheinlichkeiten. Warum wurde 
denn, als fich die Apoftel über eine gewiffe Anzahl von Erzählun: 
gen als Stoff der evangeliftifchen Thaͤtigkeit vereinigten, Einiges 
aufgenommen, Anderes ausgefchloffen? Unter dem, was bloß 
mafjenweife zufammengenommen ift, finden wir eine große Menge 
von denfelben Elementen, wie die, welche einzeln und ausführlich 
erzählt werden; warum die Apoftel diefe nun am erftern Drte 
geftrichen, läßt fich nicht einfehn, da fie fich im Gegentheil hätten 
freuen müffen, je vollfländiger und zufammenhängender ihre Er: 
zählungen waren. Biel natürlicher ift alfo, zu denken, daß die 
Sonderung erft allmählig gemacht wurde, als die vier Evange- 
lien in der Kirche feit wurden, und daß auf diefe Weife manches 

Eint. ins N. T. 15 


26 Hppothefe von einem Urevangeliunt. 


Schöne und echte mag verloren gegangen fein, weil es mit 
Unächtem vermifht war. Daß aber die Apoftel fih ein Mono- 
pol und Kichteramt über die zu erzählenden Elemente gemacht, 
und dabei nur ein fo mageres Ganzes gelaffen hätten, ift gar 
nicht zu denken. | N | 

Aber auch der ganze biftorifhe Thatbeftand fpricht genau 
betrachtet gegen jene Hypotheſe. Unfre Firchlichen Evangelien find 
doch zugleich mit andern geworben, von denen bie Kirchenväter 
mit einer gewiffen Achtung reden. Sollen fich nun diefe auch an 
das Urevangelium gehalten haben, fo müßte, da Ddiefelben von 
den verfchiedenften Gegenden ausgingen, das Urevangelium in 
dem Zuſtande eines magern hiftorifchen Gerippes durch die Ayoftel 
überall in den Kirchen verbreitet worden fein, ald der Rah— 
men, an den fich alles Uebrige anfchliegen folte. Dann aber ift 
unerklärlih, daß bei feinem Kirchenfchriftfteler eine Notiz davon 
anzutreffen ift. | 

Wenn man fich den natürlichen Gang der Dinge, wie er 
ohne allen fremden Impuls fo fein mußte, als ein Erzählen und 
Sammeln und ein Auffchreiben für das Erzählen denkt, und 
wenn nun eine folhe Anordnung, wie die des Urevangeliums, 
hemmend hineingriff: fo müßte doch eine beftimmte Abficht da— 
bei zum Grunde gelegen haben, Diefe hätte nur in der Aus— 
ſchließung anderer Elemente befiehn Fünnen; denn wenn jedem 
Erzähler freigeftanden hätte, nach Gutdünfen etwas hinzuzufügen, 
fo wäre die Anordnung unnüß gewefen ; follte aber nicht eine 
Ausfchliegung anderer Elemente, fondern die Verbreitung 
folcher, die vorzüglich geltend gemacht wurden, die Abficht fein, 
fo hätten fie müffen in einer größeren Ausführlichkeit gegeben 
werden. Eine dritte Abficht wäre die, eine gewiffe Ordnung 
feftzuftellen; aber theils Liegt eine »folche eritifche Tendenz gar 
nicht in jener Zeit, theild hätte diefe Drdnung doch nur für 
Schriftliche Abfaffungen gegeben werden koͤnnen, denn die münd- 
liche Ueberlieferung konnte nur fragmentarifch fein. Dazu fommt 
noch, daß diefe Abficht fehon in unfern vorhandenen drei Evan 


Hppothefe von einem Urevangelium. 2327 


gelien fich gar nicht bewährt hätte, denn die Anordnung ift in 
ihnen gar nicht diefelbe. — Wir koͤnnen uns alfo gar nicht denken, 
von welcher Abficht die Apoftel dabei ausgegangen fein follten. 
Die hätten aber auch die Apoftel es für möglich halten konnen, 
einen folchen Zweck, dem mündlichen Verfahren beftimmte Negel und 
Drdnung zu geben, zu erreichen? Wir müßten fie dabei als 
eine Art von abminiftrativer Behörde denken, die ihre Befehle 
ausſchickt. Aber ſchon die Communication war damals eine ganz 
andere. Auch Iehrt uns die Apoftelgefchichte, daß jener Zweck 
gar nicht erreicht werden Fonnte. Als die Apoftel erfuhren, daß 
das Chriftentbum in Samaria verbreitet war, ſchickten fie Pe— 
trus und Johannes dahin; da war aber das evangeliftifche 
Geſchaͤft durch Philippus und wahrfcheinlich manche Andere fehon 
geihehn Y. Ebenfo Fam die Entftehung der Gemeinde zu Antio= 
chien erft zur Notiz der Apoftel, als fie fich ſchon gebildet hatte 2). 
Wollten aber die Apoftel lange nachher manches, was ſchon in 
öffentlicher Nede war, wieder ausfchließen, fo wären fie theils zu 
fpat gekommen, theild vermochten fie gar nicht überall hinzuge— 
langen. Und dann müßte doch davon wenigftens eine Spur 
von Zradition erhalten fein. 

Nun ift noch ein Punct, der für mich fchon allein die ganze 
Hppothefe umwirft, nemlid das VBerhältniß des Sohannes zum 
Urevangelium. Die Hypothefe ift ganz davon ausgegangen, daß 
Sohannes die drei fonoptifchen Evangelien vor fich gehabt habe. 
Wenn nun das Urevangelium durch eine Uebereinkunft der Apo— 
fiel zu Stande gefommen ift, fo muß Sohannes mit dabei gewe— 
fen fein; dann aber hätte er doch gewiß dafür geforgt, daß das 
in dafjelbe aufgenommen wurde, worauf er fo befondere Wich- 
tigfeit legt, wenn auch nicht die Reden, doch das Gefchichtliche, 
3. B. die Heilung am Teich Bethesda, die des Blindgeborenen, 
befonders die Erweckung des Lazarus. Alfo müßte man doc) anneh- 
men, daß Sohannes nicht dabei gewefen ift; aber wir wiflen Nichts 


1) Act. 8, 4—15. 2) Act. 14, 19—22. 
15* 


228 Hppothefe von einem Urevangelium. 


von befondern Schikfalen, die ihn in der Zeit, als das Urevan— 
gelium verfaßt werden Eonnte, betroffen; vielmehr ift die allge— 
meine Meinung, daß er ein ziemlich ruhiges Leben geführt habe. 
Aber auch abgefehn hiervon, fo ift die Annahme, daß er zur Er: 
ganzung der drei Evangelien gefchrieben hat, falfch, wie fich nach— 
her zeigen wird. | 

Wenn man das Urevangelium aus den drei fynoptifchen Evan— 
gelien conjtruirt, indem man das allen drei Gemeinfchaftliche hin= 
einfeßt, fo überfieht man dabei diejenigen nicht canonifchen Evan- 
gelien, die mit den fynoptifchen von einer Familie waren. Es 
würde auch dad aus dem Urevangelium herausfallen, was in 
‚nem diefer verwandten Evangelien gefehlt hätte. Nehmen wir 
eine einzelne Erzählung, 3. B. die Verfuchungsgefchichte, welche 
bei Matthäus und Lucas ausführlich, aber bei jedem verfchieden, 
wovon aber bei Marcus gleichfam nur die Weberfchrift ift: To 
würde das Urevangelium nur diefe enthalten haben. Könnten 
wir num die andern Evangelien dazu adhibiren, fo würden gewiß 
noch mehr Elemente ſich ergeben, von denen nur eine ſolche ganz 
dürftige Weberfchrift im Urevangelium ge anden hätte. 


$. 63. 

Wir mögen alfo die Sache betrachten, wie wir wollen, fo 
ift fie unhaltbar. Wir müffen nun fehn, ob wir das ganze Fac⸗ 
tum, woraus dad Bedürfniß einer ſolchen Hypothefe entflanden 
ift, auf andere richtigere Weiſe auffaffen können. 

Mir müffen davon ausgehn, daß das Erzählen von Thatſa— 
hen aus dem Leben Ghrifti in der erfien Zeit ganz gewöhnlich 
und überall verbreitet war. Wenn nun die Apoftel doch die er- 
ſten Leiter der Angelegenheiten des Chriſtenthums waren, fo fragt 
fich, was für einen Einfluß fie auf diefes Erzählen hatten. Wir 
müffen darin dem Drigenes beiftimmen, daß dies nicht das Ge: 
ſchaͤft der Apoftel felbit war, da fie mit der Anordnung der kirch— 
lichen Angelegenheiten und dem x7gvyra genug zu thun hatten, 
während das Erzählen eben fo gut von Andern gefchehn konnte. 


Einfluß der Apoftel auf die evang. Erzählung. 229 


Ein gefhichtliches Moment freilich war in einem engern Kreife 
geblieben, die Auferftehung Chrifti, da er fich nicht dem Volke 
zeigte, fondern nur feiner nähern Umgebung, jedoch nach 1. Cor. 
15, 6. in zahlreicher VBerfammlung. Hier waren aber immer die 
Apoftel die eigentlihen Zeugen. Doch auch hierin hätte das 
Urevangelium nicht geleiftet, was die Apoftel in diefer Beziehung 
hätten leiften müffen, wenn fie ein folches verfaßt; denn was 
unfre fynoptifchen Evangelien hierüber gemeinfchaftlich haben, ift 
erftaunlich gering. 

Jedenfalls freilich müffen die Apoftel auch erzählt Haben, 
denn fie hatten doch immer auch Solche um fih, die nicht felbft 
Chriftum gefehn und gekannt hatten; aber es war Fein befonderes 
Gefhäft für fie felber neben dem des Verfündigens und Lehrens. 
Ebenſo werden fie, wenn fie falfche Auffaffung oder Irrthum 
fanden, gewiß berichtigt haben; aber eine befondere Auffiht über 
die evangelifche Ueberlieferung ift bei ihnen nicht anzunehmen. 

Was den Einfluß der Apoftel auf die aggregirenden Evan: 
gelien betrifft, fo koͤnnen wir uns einen amtlichen denken. 
Theils war die Abfaffung fehriftliher Nachrichten aus dem Leben. 
Chrifti gewiß nicht amtlich, theils ift überhaupt fehwerlich zu der 
Zeit an eine folche fehriftftellerifche Thatigkeit zu denken, als die 
Apoftel noch als Collegium vereint waren. Ferner würde in der 
Apoſtelgeſchichte, deren Verfaſſer doch forgfältig Nachrichten aus 
der erſten apoftolifhen Zeit zufammengefucht hat, es gewiß nicht 
übergangen fein, wenn durch einen apoftolifchen Beſchluß, fei es 
mittel3 eines Urevangeliums oder durch irgend eine allgemeine 
Seftitellung, die evangelifche Abfaffung geordnet wäre. — Was 
alfo die einzelnen Apoftel zur Evangelienfhreibung, wenn fie 
felbft keins gefchrieben, gethan haben Eönnen, ift zweierlei: 1. daß fie 
Einzelnes felbft erzählt haben, was Andere aus ihrem Munde in 
ihre Darftellungen aufnahmen; wobei aber zugleich auch viele 
Andere eine evangeliftifhe Thaͤtigkeit ausüben konnten, ohne Ge— 
legenheit gehabt zu haben, aus dem Munde der Apoftel ſelbſt 
Etwas aufzunehmen; 2. daß fie werden berichtigt haben, wo fie 


230 Verſchiedene Beglaubigung des Materials. 


gefragt wurden, oder wo ihnen Etwas zu Ohren Fam, was fie 
befjer wußten. — Dies liegt in der Natur der Sache; weiter 
aber Fann man nicht gehn, wenn man die urfprüngliche Sonderung 
der apoftolifchen und evangeliftifchen Thätigkeit fefthält. 

Hieraus folgt alfo, daß die evangeliftifchen Materialien, welche 
für die aggregirenden Evangelien ſich angehäuft hatten, von fehr 
verfchiedener Beglaubigung gewefen find. Am beglaubigtften 
war, was von unmittelbaren Augen= und Ohrenzeugen des Lebens 
Chrifti feinen Urfprung hatte; dann, was von diefen vielleicht 
durch die zweite oder dritte Hand in die evangeliftifche Kunde 
Fam und von Andern aus dem urfprünglichen Kreife beglaubigt 
wurde. Dann aber muß auch Manches noch dazu gefommen 
fein, was aus trüberen Quellen herrührte, wo theil$ daS man= 
gelhafte Gedaͤchtniß, theils die Befangenheit der VBorftellungen, 
theils die Wunderfucht Alterationen in den Erzählungen hervor- 
brachte. Wenn wir und nun eine folche Vermehrung des Fal- 
fchen auf der einen Geite ald das eine Extrem denken, auf der 
andern die Reinheit der apoflolifchen Ueberlieferung als das an— 
dere: fo haben wir die beiden Charactere des Apocryphifchen und 
Ganonifhen, und zwifchen diefen giebt es mannigfache Mittel- 
glieder, wenn gefagt wird, in diefem oder jenem Evangelium fei 
mandes Wahre geweſen, aber mit Falſchem vermifcht. Unfere 
noch vorhandenen apoerpphifchen Evangelien zeugen davon, wie 
durch ſolche falſche Motive fih das Apocryphifche zufammenge- 
häuft hat; doch find diefe aus weit fpäterer Zeit. Wie viel Un- 
veined Dagegen bie altern fogenannten häretifchen Evangelien ent⸗ 
halten haben, iſt — zu beurtheilen. 


S. 64. 


Diefe Auseinanderfeßung läßt e3 durchaus ungewiß, um 
welche Zeit unfre aggregivenden Evangelien zu Stande gekommen 
find, und wie fich diefer Zeitpunct zu dem der Abfaffung des 
Evangeliums des Sohannes verhält. Zu einem weitern Puncte 
enthält aber das bisher Gefagte allerdings einige Elemente. 


Zeit und Ort der Abfaffung der einzelnen Evangelien. 231 


| Ueberall, außer bei Marcion, finden fich die vier Evange— 
lien zufammen; es muß aber nothwendig eine Zeit gewefen 
fein, wo diefe Evangelien einzeln vorhanden waren, Denn 
fonft müßten fie in Beziehung auf einander gemacht fein, was 
offenbar nicht möglich ift, da ihr ganzes Ausfehn dann ein ande— 
res fein würde, indem doch irgend eine vollftändige Theilung 
nach Materie und Form unter ihnen flattgefunden haben müßte. 
Sie müffen alfo einzeln zu Stande gekommen fein; dadurch wird 
aber Feineswegs die Möglichkeit ausgefchloffen, daß, wenn das 
eine früher verfaßt ift, der Tpätere Verfaffer des andern e3 kannte; 
in wiefern aber dies eine MWahrfcheinlichkeit Betas muß erfi die 
Bergleichung der Evangelien ergeben. 

Können wir nun bei dem großen Zwifihenraum zwifchen 
dem Anfang der evangeliftifchen Thatigkeit und den canonifchen 
Berzeichniffen, die unfre vier Evangelien enthalten, irgend abfehn, 
in welchen Ort diefer Linie die Abfaffung der einzelnen Evange- 
lien fallen mag? Es fragt fich zugleih, ob fie aus einer und 
derfelben Negion find, oder aus .verfchiedenen. Davon wifjen wir 
Nichts und haben nur unfichere. Traditionen darüber. Wenn fie 
aus derfelben Region herfiammen, fo find fie entweder pald= 
ftinenfifchen Urfprungs oder Eleinafiatifchen oder egyptifchen. Dann 
müßten fie gleich einen gemeinfchaftlichen Kreis gehabt haben und 
‘gemeinfchaftlich in die andern Gegenden der chriftlichen Kirche 
gekommen fein; das einzeln Borhandenfein ift dann nur von Furzer 
Dauer. geweſen. Umgekehrt ift e$, wenn wir uns denfen, Daß 
fie aus ganz verfchiedenen Gegenden herrührten; dann ift natuͤr— 
ih, daß fie länger einzeln vorhanden waren, und indem fich 
diefer Zeitraum länger fielt, muß man entweder ihre erfte Ab- 
foffung früher feßen oder ihr Zufammenfein fpäter. 

Wie verhält fih nun dies, wenn wir auf die natürlichen 
Mahrfcheinlichfeitsgründe fehn? Nach Drigenes war es offenbar 
zu feiner Zeit nichts Neues, daß die Kirche die vier Evangelien 
gehabt; ihr Zufammenfein war alfo ſchon vorher, und ihre eins 
zelne Abfaffung muß daher um fo früher gefeßt werden. Wir 


232 Zeit und Ort der Abfaffung der Evangelien. 


fragen aber nun, ob es wahrfcheinlich ift, daß ſolche zufammen: 
haͤngende fohriftliche Abfafjungen ſchon in fehr früher Zeit 
vorhanden gewefen find. Unvermeidlich ift, daß man zwifchen 
dem fragmentarifchen Mündlichen und dem zufammenhängenden 
Schriftlichen gewiffe Mittelglieder denken muß, ausgenommen in 
dem Falle, wenn in einer Gegend der Kirche eine befondere Rich— 
tung auf die fchriftlihe Abfaffung verbunden mit einer fehr güns 
fligen Lage für das Bufammenfaffen mehrerer Nachrichten und 
einer ruhigen Zeit anzunehmen if. Suchen wir eine folche Loca— 
lität, fo kommen wir auf Paläftina zurüd, wo alles dergleichen 
zufammen war. In der Apoftelgefchichte- finden wir deutliche 
Spuren einer gewiffen Nuhe, deren fich die Chriften in Paläftina 
erfreuten. Mit den erften Anfängen des jüdifchen Kriegs trat 
jedoch eine Zeit ein, in welcher an dergleichen Unternehmen nicht 
zu denfen war. Die Evangelien müffen alfo entweder vor dem 
jüdifchen Kriege oder nach demfelben, als er ſchon vergeffen war, 
gefhrieben fein. Die vorherrfhende Meinung ift allerdings, daß 
es vorher gefhehn fei; fie hängt: damit zufammen, daß das 
Evangelium des Sohannes, die andern ergänzen foll, und daß das 
erite dem Apoftel Matthäus zugefchrieben wird. Aber wenn Diele 
Stuͤtzpuncte für fich betrachtet nicht fehr haltbar find, fo muß 
man doch mehr die Wahrfcheinlichfeit gründe geltend machen, und 
darnach war um diefe Zeit noch Feine Veranlaffung zu einer fol- 
chen fcohriftlichen Abfaffung, weil noch Ohren und Augenzeugen 
des Lebens Chrifti genug vorhanden waren. Daß man aber in 
Paläftina für andere Gegenden gefchrieben haben follte, hat wenig 
für fih. Wenn wir alfo den einen von den beiden Fällen vorziehn, 
nemlich, daß die Evangelien in derfelben Gegend gefchrieben und 
nicht lange einzeln vorhanden. gewefen find, fo müffen wir als das 
Wahrfcheinlichite annehmen, daß fie nach dem juͤdiſchen Kriege 
am Ende des apoftolifhen Zeitalters entflanden find. 

Bei jener evangeliftifchen Thätigkeit, die wir befchrieben haben, 
konnen wir und aber Faum denken, daß fie lange ohne die Hülfe 
ſchriftlicher Sammlung einzelner Materialien geblieben iſt. In 


Vorhandenſein einzelner fchriftl. Auffäse. 233 


meiner Schrift über den Lucas habe ich die Spuren der 
Zufammentragung ſolcher früher einzeln vorhandenen Materialien 
im Evangelium des Lucas nachzumweifen gefucht ?). Dies würde 
alfo beftätigen, daß folche Kleine fhriftliche Auffäge vorhanden 
gewefen und geblieben find bis zur Zeit der Abfaffung unfrer 
Evangelien. Daß diefe Eleinern Zufammenftellungen nachher un— 
tergingen, ift fehr natürlich. Aber eher koͤnnte es zu verwundern 
fcheinen, daß folche durch die Verwirrungen des jüdifchen Krieges 
hindurch in Paläftina follten übrig geblieben fein; allein bei dem 
großen Intereſſe, das dieſe Notizen für die Chriften haben mußten, 
und da wir Nachrichten haben, daß die Chriften fi vom unmit- 
telbaren Schauplage des Krieges zurücgezogen hatten: fo Fönnen 
wir nicht unwahrfcheinlih finden, daß fich folhe Materialien- 
fammlungen, die nachher benußt find, erhalten haben. 


$. 65. \ 


Gegenüber der Hypothefe von einem Urevangelium ift eine 
andere entftanden auch von dem Bedürfniffe aus, die große Ahn- 
lichfeit zwifchen den drei erften Evangelien zu erklären. Wenn 
wir uns Bücher von fo geringem Umfange, wie diefe, denken, fo 
Fönnten fie möglicher Weife fo verfchieden fein, daß fie außer der 
Leidens = und Auferftehungsgefchichte faft Nichts mit einander ge— 
meinfam hätten, indem in die Lüden des einen die ähnlichen 
Momente des andern hineinfallen koͤnnten. Wie fommt es nun, 
daß jene drei Bücher fo wenig verfchiedene Elemente haben? 
Man Fonnte antworten, daß ſich die von den Apofteln bewährten 
Erzählungen hierher zufammenge zogen hätten, während die apo- 
eryphifhen Evangelien die von den Apofteln nicht bewährten 
gehabt. Aber dieſe Antwort erklärt nicht, warum dieſe Drei 
Schhriftfteller nur gerade diefe Erzählungen als beglaubigt erhalten 


1) Ueber die Schriften des Lucas, ein fritifher Verſuch, 


erfter Theil 18175 in Schleiermahers ſämmtl. Werk. Abtheil. 1. 
Band 2. 


234 Gieſeler'ſche Hypotheſe. 


hatten, da doch die — von weit mehr Factis Zeugen gewe— 
ſen waren. 

Gieſeler ſetzt den Anfang der Evangelien in die muͤnd— 
liche Tradition, welche unter der perſoͤnlichen Direction der 
Apoſtel geſtanden. Dieſe Hypotheſe ſteht alſo der unnatuͤrlichen 
des Urevangeliums, welche mit dem Schreiben anfing, gerade 
entgegen. Aber es bleibt dabei immer unerklaͤrlich, warum die 
Apoſtel eine Menge von Erzaͤhlungen, die ſie berichtigen konnten, 
wenn ſie mangelhaft waren, ausgeſchloſſen haben, und wie alle 
weitere Erzaͤhlung von einer einzigen Schule, in der die apoſto— 
liſche Anweiſung ihren Sitz gehabt, ausgehn konnte. Offenbar 
muͤßte dies vor der Zerſtreuung der Chriſten, die auf den Tod 
des Stephanus folgte, geſchehn ſein, denn unter denen, die ſich 
aus Jeruſalem entfernten, waren gewiß Viele, die aus eigner 
Erfahrung oder aus den Mittheilungen der Apoſtel vom Leben 
Chriſti zu erzaͤhlen wußten; ſollten ſie ſich alſo auf gewiſſe Er— 
zaͤhlungen beſchraͤnken, ſo mußte die apoſtoliſche Anweiſung ſchon 
vorher gegeben ſein. Nun duͤrfen wir aber hier nicht bei unſern 
canoniſchen Evangelien ſtehn bleiben; in den vielen andern, von 
denen wir Notizen haben, koͤnnen andere Elemente geweſen ſein, 
ſo daß das Leben Chriſti doch nicht ſo fragmentariſch mit Aus— 
ſchließung vieler Zuͤge behandelt waͤre, wie in unſern drei Evan— 
gelien. So verſchwindet die Moͤglichkeit einer apoſtoliſchen Die 
vection, für die fich Fein paflender Ort finden läßt ?). 


Sch möchte fagen: fo wie die Eich horn'ſche Hypothefe in 
ihrer weitern Ausdehnung, wornach die Evangeliften andere Hand— 
fchriften ercerpiren, zu fehr nach der Analogie unfrer heutigen 
Compilation gemacht ift, fo die Giefelerfche zu fehr nach der 
Analogie der alten Rapfodenfchulen. — Nun ift allerdings die 
Aufgabe, die Übereinfiimmung der drei Evangelien zu erklären, 
noch ungelöft. 


1) Vergl. oben $. 63. 


Reſultat der bisherigen Betrachtung über die Evangelien. 255 


$. 66. 

Wir wollen nun dad ganze Bild, das wir erhalten haben, 
noch einmal zufammenfaffen, damit wir Fein wefentlihes Element 
überfehn. Wir fangen mit dem Factum der Verbreitung des 
Chriſtenthums an; denn urfprünglich war Serufalem der einzige 
Nunct, wo eine wirkliche Gemeinde beftand, wenn auch Galiläa, 
wo Ghriftus fo oft und auch noch nad feiner Auferfiehung ge— 
wefen war, Hleinere chriftliche Gemeinfchaften hatte. Durch die 
Zerftreuung der Chriften nad) de Stephanus Tode wurde theils 
in Samaria, theils in Syrien, Kleinafien und auf den Inſeln 
das Chriſtenthum verbreitet. Da müffen wir alfo evangeliftifche 
Thätigkeit denken, aber unvorbereitet und ohne apoftolifche Di- 
rection. In Galiläa, wo viele Zeugen des Lebens Chrifti waren, 
konnten leicht Elemente vom Leben Chriſti zuſammenwachſen, die 
eine gewiſſe Gleichartigkeit hatten, wogegen es nur zufällig war, 
wenn Ghriften hinkamen, die vom Aufenthalt Chrifti in Serufa= 
lem Etwas wußten; wir müffen bier alfo eine einfeitige evange- 
liſtiſche Tchätigkeit annehmen, bei der lauter galiläifche Elemente 
fih zufammenfanden. Sn Antiochien dagegen fanden ſich wahr 
ſcheinlich größtentheils heleniftifche Juden zufammen, die vor der 
Zerfireuung in Serufalem anfäffig gewefen waren und hier das 
Ehriftentbum angenommen hatten; fie konnten mehr von dem er— 
zählen, was Chriftus in Jeruſalem gethan; da läßt ſich alfo die 
enfgegengefeste Einfeitigkeit in der evangeliftifchen Thätigfeit den— 
fen. Die paulinifhe Wirkfamkeit wurde nun eine Vermittlung 
zwifchen beiden, indem eine Verbindung zwifchen der Gemeinde 
in Serufalem und den von Paulus geftifteten durch ihn angeknuͤpft 
und forgfältig erhalten wurde. Wenn Begleiter des Paulus, 
die bisher das evangeliftifche Gefchaft getrieben, nach Serufalem 
famen, fo fonnten fie dort neue Elemente in ihren Kreis ziehn. 
In Galilia war ein Hauptort Cäfaren, nach der Apoftelgefchichte 
der Wohnfik eines evayyedcoryg, und zugleich ein Bermittlungs- 
punet zwifchen Kleinafien und Serufalem,. In Cäfarea Fonnten 
alſo auch evangeliftiihe Elemente von verfchiedenem Urfprunge 


236 Reſultat der bisherigen Betrachtung über die Evangelien. 


und aus verfchiedener Gegend zufammen fommen. Es mußten 
nun Ausgleichungen entftehn und Elemente in mehrere Samm— 
lungen fommen, die in Feiner unmittelbar verbunden mit einander 
beftanden. Wenn wir nun denken, daß jeder, der die evangeli- 
ftifche Thaͤtigkeit muͤndlich ausübte, ſchon dadurch auf einen ge= 
wiffen befchränkten Gomplerus gewiefen war, weil eine Menge 
ähnlicher Begebenheiten fich zu leicht im Gedächtnig würde ver- 
wirrt haben: fo fehn wir fhon ohne Rüdfiht auf die fchriftliche 
Abfaffung, daß ein gewifles Maaß gegeben war, über welches 
man fih nicht hinaus verirrte, und wodurch eine Zufammenfaflung 
aller hauptfächlichften Elemente bedingt war. Nimmt man nun 
jene Ausgleichung und diefe Feftftelung eines gewiffen Maaßes 
zufammen, fo fommt man darauf, in diefem apoftolifchen Kreife 
eine gewifje Spentität der Elemente und eine Ausſchließung an⸗ 
derer natuͤrlich zu finden. 

Die Art und Weiſe des Uebergangs vom Muͤndlichen zum 
Schriftlichen iſt ganz unbekannt. Es kommt eine Tradition vor, 
nach welcher das Schriftliche als eine Art von Nachlaß derjenigen 
dargeſtellt wird, die bisher in einer Gegend das muͤndliche Ge— 
ſchaͤft betrieben hatten und nun dieſelbe verließen. Dies iſt fo 
natuͤrlich, daß es wahr waͤre, wenn es auch nur erfunden waͤre; 
es iſt die Entſtehung des Schriftlichen aus dem amtlichen Muͤnd— 
lichen. Aber eben fo natürlich iſt auch eine andere Entſtehung 
des Schriftlichen auf dem Privativege, nemlich daß ſich Zuhoͤrer 
aus den Vorträgen Etwas auffchrieben. So fieht man, wie das 
Mündliche mit den Anfängen des Schriftlichen gleichzeitig Fann 
fortgegangen fein. Das Aufhören des Mündlichen feheint durch— 
aus gebunden zu fein an eine Verbreitung ſchriftlicher Aufſaͤtze 
von einer gewiſſen Vollſtaͤndigkeit. 

Koͤnnen wir nun dies allgemeine Bild durch geſchichtliche 
Notizen beſtimmter ausfuͤllen, indem wir ſagen koͤnnen: hier ſind 
ſchriftliche Aufſaͤtze, die von ſolcher Vollſtaͤndigkeit muͤſſen geweſen 
ſein, und die aus einer beſtimmten Zeit ſind und in einer gewiſ— 
ſen Gegend guͤltig geweſen ſind? Wenn wir dies koͤnnten, ſo 


Galiläiſche und hierofolymitanifche Erzählungen, 237 


fönnten wir auch fagen, zu welcher Zeit in einer Gegend bie 
mündliche Erzählung aufgehört habe, welche urfprünglich als 
Unterftügung der apoftolifhen Belehrung diente, während nun 
die Belehrung die Form annahm, welche wir fpäter finden, daß 
Abfchnitte vorgelefen und commentirt wurden. Dies ift der Ueber- 
gang, der in der Natur der Sache liegt, und eS-fragt fich, wie 
ſich in diefem allgemeinen Rahmen unfre drei Evangelien verhal- 
ten. Diefe Frage zu beantworten, dazu würde gehören, zu 
wiffen, in welcher Zeit und in welcher Gegend jedes einzelne 
Evangelium entftanden ift, und wann und wie fie zuerft zufame 
mengefommen find, und wie es zugegangen, daß durch dies Zu— 
fammenfommen die übrigen Evangelien außer Gebrauch gefebt 
wurden. Dies wäre das Vollftändigfte, wenn wir die Materia- 
lien gehörig zur Hand hätten, aber das ift freilich nicht der Fall. 

Denken wir uns eine Reihe Erzählungen vom galiläifchen 
Aufenthalte Chrifti und eine andere Neihe bierofolymitanifchen 
Urfprungs, To wird fich eine Ordnung hierin von felbft gemacht 
haben, fo daß die legtere nach der erftern geftellt wurde, weil fie 
fihb an die Leidensgefchichte unmittelbar anfnüpfte. Und wenn 
nun auch viele Zeugen des Lebens Chriſti waren, fo wird fich 
doch leicht haben die Meinung bilden fünnen, daß Chriftus zu: 
erft in Galiläa gelebt habe, nachher in Serufalem, ohne eine 
pofitive Verneinung, daß Jeſus nicht auch früher nach Serufalem 
fam. Dies erklärt eine Anmerkung im Evangelium des Sohannes, 
wo dieſer beiläufig fagt, damals fei Sohannes der Läufer noch 
nicht gefangen gewefen, fondern habe zugleich mit den Süngern 
Chrifti getauft ). Sohannes erwähnt gar nicht die Gefangenneh- 
mung des Zäufers; er hatte alfo für fich feinen Grund, darüber 
Etwas zu fagen. Eine gewöhnliche Anfiht ift nun die, welche 
wir fhon bei Eufebius finden, daß die drei Evangeliften nur ha— 
ben erzählen wollen, was feit der Gefangennehmung des Täufers 
gefhehn fei, Sohannes aber habe auch das Frühere berichten.und 


1) 30h. 3, 24, vergl. 3, 22—4, 2. 


238 Ueber Joh. 3, 24. 


ausdrücklich bemerklich machen wollen, daß e3 eine Lehrzeit Chrifti 
vor der Sefangennehmung des Sohannes gegeben habe. Nun ift 
allerdings Far, daß Marcus ganz deutlih, Matthäus mit einer 
gewiffen Verworrenheit fagt !), daß Chriftus nach der Gefangen: 
nehmung des Taͤufers nach Galiläa gezogen fei. Wenn wir aber 
das als eine Ehatfache binftellen, daß Sohannes vor Chriftus auf: 
getreten, und daß im Allgemeinen die Lehrzeit Chrifti nach der des 
Sohannes fiel, und da nun im Allgemeinen die Lehrzeit Chrifti 
als eine galiläifche Dargeftelt wurde und nur zu Ende als eine 
bierofolymitanifche, wogegen  Sohannes in Sudaa und in Peräa 
lehrte: fo erklärt fich daraus leicht, daß es fich als Anficht geltend 
machte, Chriftus fei nach der Gefangennehmung- des Johannes 
nah Jud aͤa gegangen. Gegen diefe Anficht ift die Stelle im 
Evangelio des Johannes gerichtet, nicht gegen Matthäus und 
Marcus, denn fie ſteht gar nicht in Beziehung darauf, daß Chri- 
fius nah Galiläa gegangen fei, fondern darauf, daß er damals 
nicht auch in Judaͤa gewefen fei. — Unfere drei fynoptifchen 
Evangelien fegen Die ganze Lehrzeit Chrifti in Galilaͤa, und alles 
was fie von feinem bierofolymitanifchen Aufenthalt wiſſen, ver: 
ſchieben fie in: die lebte Zeit und verbinden es mit feiner leten 
Reiſe. Daraus conflirt alfo ihr Urfprung aus Galiläa. Doch 
folgt aus jener Stelle des Sohannes gar nicht, daß er die drei 
Evangelien gefannt habe, denn dann würde er theils jene Stelle 
ganz anders eingerichtet haben, weil jene von einer Thaͤtigkeit 
Ehrifti vor der Gefangennehmung des Sohannes gar Nichts aus— 
fagen, theil$ würde er wohl noch öfter und bei andern Gelegen- 
heiten mehr Urfache gehabt haben, fich auf fie zu beziehn, 


$. 67. 


Nun aber müffen wir nah den älteften Spuren von 
der Entftehung unferer Evangelien fragen. Dabei muß 
vorher das Vorurtheil befeitigt werden, aus den bloßen Ueber: 


1) Marc, 1, 14, Matth. 4, 12 ff. 


Prolog des Lucas. | 239 


fchriften, wenn nicht andere Zeugniffe dazu kommen, folgern zu 
koͤnnen, daß ihre Verfaffer der Apoftel Matthäus und die im 
N. T. erwähnten Marcus und Lucas geweien feien. 

Menden wir uns zu den älteften Zeugniffen, fo ift nicht zu 
übergehn der Eingang zum Evangelium des Lucas, wo 
es heißt, es hätten fchon Viele unternommen, eine Erzählung 
der unter den Chriften vorgefommenen Begebenheiten anzuordnen, 
fo wie die Thatſachen von den urfprünglichen Augenzeugen über- 
liefert worden; und nun, fagt Lucas, fchreibe er dies nach einer 
nochmaligen genauen Forfhung bis zu den Quellen. — Es folgt 
hieraus, daß Lucas ſchon mehrere zufammenftellende Evangelien 
gekannt hat, die in einem gewiffen Bufammenhange dad Ganze, 
umfaßten und die fchon nach den Ueberlieferungen der Augenzeu- 
gen gefchrieben waren. Gewöhnlich will man dies von Matthäus 
und Marcus verfiehn, die vorher gefchrieben hatten; allein zwei 
find nicht zzoAdor. Es würde auch folgen, daß Lucas felbft das 
Evangelium Matthäi nicht dem Apoftel zugefchrieben hätte; doch 
will ich daraus Nichts gegen dieſen beweifen, fondern unbe— 
ſtimmt laſſen, ob Lucas das Evangelium Matthäi gekannt hat. 
Er muß mehr al$ zwei gekannt haben. — Ferner fehn wir, daß 
Lucas fich felbft mit feiner Scription in die zweite Drdnung flellt, . 
als der darin Andern nacharbeitet. So verſchwindet fogleich das, 
daß der, welcher das gefchrieben, ein Begleiter des Paulus follte 
gewefen fein; denn wenn ein folcher ein Evangelium fchreiben 
wollte, jo hatte er viel Gelegenheit, unmittelbar an die Autopten 


‚zu kommen. Paulus felbft war Feiner; aber denken wir einen 


— 


Begleiter deſſelben mit der Abſicht, ein Evangelium zu ſchreiben 
und zwar als das Reſultat von eingezogenen Erkundigungen, ſo 
begreife ich nicht, wie es ihm nicht ſollte moͤglich geweſen ſein, 
mit oder durch Paulus nach Jeruſalem zu kommen und die Apo— 
fiel ſelbſt zu befragen; aber dann hätte er ſich doch ganz an- 
ders zu den andern Evangeliſten ſtellen, ſich uͤber ſie ordnen 
muͤſſen. Aber ferner iſt es auch ganz unwahrſcheinlich, daß es 
damals ſchon ſollte viele ſolche Zuſammenſtellungen gegeben haben, 


240 Zeugniß des Papias. 


und zwar fo, daß fie zur Notiz des Einen fommen konnten. Wir 
müffen alfo gleich an einen fpätern Urfprung denken und fagen: 
Entweder ift Lucas der Berfaffer, und dann ift er nicht der Be: 
gleiter des Paulus, oder er ift der Begleiter, aber dann ift die 
durch »ara ausgedrüdte Beziehung nicht die des Auctors. 

Sehn wir auf die beiden andern Evangelien, fo fommen wir 
zunaͤchſt auf ein Zeugniß, über deſſen Zuverläffigkeit fehr ver— 
fhieden geurtheilt wird 2). ufebius und Irenaͤus erwähnen 
nemlich des Papias, Bifhofs zu Hierapolis, den Eufebius 
an einer Stelle avnjo TE navıe oTı malıora Aoyınrarog zul 
Ts yoayis eldyjrov nennt?), an einer andern aber cyodoa 
orınoos zov vovv?), Diefen Widerfpruh will Balefius fo 
auflöfen, daß er die erftere Stelle für die Gloffe eines Scholiaften 
erklärt; doch da e3 uns hier nur um daS zu thun ift, was Pa— 
pias erzählt, fo kann uns dies Urtheil gleichgültig fein. Eufebius 
erwähnt nun ferner, Srenäus fage, daß Papias ein unmittelba= 
rer Schüler des Apoſtels Johannes gewefen fei, Papias felbft aber 
fage dies nicht, fondern nur, daß er die yrwolnovg Tov ano- 
0T0)wv, namentli den XAriftion und den Sohannes Presbyter, 
gekannt und von ihnen die agadooıg deſſen, was bie Apoſtel 
gelehrt, empfangen habe. Die biſchoͤfliche Dignitaͤt dieſes Mannes 
faͤllt in die erſte Haͤlfte des zweiten Jahrhunderts. Nun erzaͤhlt 
er bei Euſebius (h. e. III. 39.). MarYeiog “EPocidı dıelcnto 
zü Aöyın ovveyodıaro. “Houmvsvos ö’ wurd wg Yöuvero 
Euooroc. Es fragt fih, ob Eommvevsıw hier „uͤberſetzen“ oder 
„auslegen und commentiren’ heißt; weil vorher “Eßoeidı dıa- 
Anz fteht, fo erklärt man es gewöhnlich als Ueberſetzen. Aoyıa 
heißt eigentlich „Drakelfprüche”; daß es jemals von Erzählungen 


1) Bergl. Schleierm. über die Zeugniffe des Papias von 
unfern beiden erfien Evangelien in Stud. u. Crit. 1832. 
©. 735—768. in Schleierm. ſämmtl. Werk. Abth. I. Bd. 2. 

2) Hist. eccl. III, 36. 

3) H. e. III. 39, 





Zeugniß des Papias. 241 


von Thatſachen vorkomme, davon iſt kein Beiſpiel. Bei kirchlichen 
Schriftſtellern werden auch die Ausſpruͤche der Propheten ſo genannt; 
darnach waͤre alſo das Naͤchſte, daß es Ausſpruͤche und Reden 
Chriſti bedeutet. So wäre alſo gemeint, dag Matthäus eine ovy- 
yoopy der. Reden Chrifti gemacht; das läßt aber auf etwas ganz 
Anderes ſchließen, als auf unfer evapyelıov nar« Mardaiov. 
Papias hat nach Eufebius fünf Bücher Aoyımv avoranuv E£nyy- 
osıs gefchrieben, was doch nur Erklärungen der Ausfprüde 
Chrifti fein Fünnen. Alfo muß Aoyın in jener Stelle auch fo 
gefaßt werden, und man fieht daraus, daß Matthäus gar nicht 
ein Evangelium gefchrieben hat, fondern nur diefe Aoyıe, und 
dag es nachher viele an Werth verfchiedene Zoumweiaı Derfelben 
gegeben hat. Ob dies num Ueberfeßungen oder Erklärungen wa— 
ren, ift nicht völlig zu entfcheiden, aber viel wahrfcheinlicher ift, 
Daß Eorımvevew bier „erklären“ heißt ). — Wenn man aljo 
diefe Stelle philologiſch behandelt, fo ift nicht möglich, ihr einen 
‚andern Sinn beizulegen, und es ift unbegreiflich, wie man fie hat 
vom Evangelium Matthäi erklären koͤnnen. Nun koͤnnte man 
aber fagen, daß Papias, indem er eine ovyyoapn Aoyiav von 
Matthäus erwähnt, zugleich auch des Evangeliums des Matthäus 
erwähnt haben Fann, wenn dies derfelbe Verfafler war, und daß 
Euſebius dies nur nicht angeführt habe. Aber dies wäre ganz 
gegen die MWeife des Eufebius, der immer es fih zu einem be- 
fondern Gefchäft macht, bei ältern chriftlichen Schriften, die nicht 
ganz befannt waren, anzuführen, auf welche zur uw diadjun 
gehörenden Schriften fie fich berufen. Es ift daher wahrscheinlich, 
daß Papias unfer Evangelium Matthäi nicht gekannt hat. 

Bon Marcus fagt Papias, er fei Zoumvevrng des Petrus 
gewefen und habe duorßus aufgefchrieben, was er von Chrifti 
Reden und Thaten behalten habe, ou uevror rafeı. Dies kann 
entweder heißen, Marcus habe diefe Sachen nit zufammenhänzs 
gend, fondern. einzeln, oder, er habe fie zufammenhangend, aber 


1) Bergl. Stud. u, Grit. ©. 741 — 745. 
Einl. ins R. T. 16 


242 Zeugniß des Papias. 


nicht in richtiger Ordnung niedergeſchrieben. Doch iſt die letztere 
Erklaͤrung ſchon eine kuͤnſtlichere; fuͤr die erſtere dagegen iſt auch 
Luc. 1, 4., wo das avaraiaodeı dıyyyow doch nur einen Zu: 
fammenbang überhaupt, nicht den richtigen Zufammenhang 
bedeuten kann. Nun entfchuldigt Papias den Marcus damit, 
dag er es nur fo habe auffchreiben Fönnen, weil er Chriftum 
nicht felbft gehört habe, fondern nur den Petrus, der einzeln 
außer allem Bufammenhange eos rag yosiag feine Erzählungen 
gegeben habe. Es folgt alfo hieraus, dag Marcus die Reden und 
Thaten Chrifti, wie er fie von Petrus hörte, außer dem Zuſam— 
menhange einzeln auffchrieb. Wenn wir nun bedenken, daß unfer 
Evangelium des Marcus gar nicht diefen Character an fich trägt, 
fondern wie die andern ift, fo Fünnen wir bei Papiad eben fo 
wenig ein evayyelıov nat Maoxov finden, wie zar« Mar- 
Jaiov, wohl aber daS, was, als ein Früheres, zu diefen Be— 
nennungen Veranlaffung geben konnte. — Nimmt man hingegen 
rafıs in der Bedeutung von richtiger Ordnung, fo würde die 
Schrift ald nicht die wahre Ordnung der Zeit beobachtend ange- 
führt und durch den vereinzelten Vortrag des Petrus entfchuldigt. 
Aber dann paßt nicht, daß zur Entfchuldigung ferner gefagt wird, 
Marcus habe gefucht, Nichts auszulaffen und Nichts zu verfäls 
ſchen; denn ein falfcher Zuſammenhang iſt allerdings eine VBerfäl- 
[hung der Sache felbft. Ferner wenn rasıg in der Bedeutung 
der guten Ordnung dem Marcus abgefprochen wurde, fo müßte 
doch eine Ueberlieferung von Solchen da gewefen fein, welche die 
rihtige Ordnung kannten, oder es müßte fich dies Urtheil auf 
andere richtig geordnete Schriften beziehn. Papias führt feine 
Ausfage auf den Presbyter Sohannes, einen Schüler des Apoſtels 
Sohannes, zurüd; von dieſem alfo oder feinem unmittelbaren 
Schüler müßte die zatıs des Marcus als unrichtig bezeichnet fein. 

Nun ift allerdings Eufebius felbft der Meinung, daß das, 
was Papias von Matthäus und Mareus fagt, auf unfere beiden 
Evangelien geht. Nun aber führt Eufebius als Schriften, auf 
die Papias fich berufen habe, nur 1. Joh. und 1. Petr. an. Wenn 


Zeugniß des Papias. 243 


alſo Papias jene beiden Evangelien angeführt hat, fo hat er ge— 
wiß das des Lucas noch nicht gefannt; ja man müßte daraus 
ſchließen, daß er, obgleich er ein Bekannter von vertrauten Schuͤ— 
lern des Sohannes war, doch das Evangelium des Sohannes 
nicht gekannt hätte. Dies koͤnnte alfo von den. Gegnern des Evans 
geliums des Johannes in ihrem Sntereffe benußt werden; ich 
würde dem aber durchaus nicht beitreten, denn die innern Gründe 
find für mich fo ſtark, daß zehn folder äußern Gründe Nichts 
für mich gelten würden. Ich fehließe daraus nur, daß die Ver— 
breitung des Evangeliums des Johannes damals noch ſchwach 
war, und daß die gemeinfchaftlichen Bekannten des Papias und 
des Apoftels Sohannes fih von dieſem zu einer Zeit trennten, als 
er das Evangelium noch nicht gefchrieben hatte. — Von meinem 
Gefihtspuncte aus angefehn, hätte alfo Papias noch Feins von 
unfern canonifhen Evangelien gekannt, höchftens vielleicht noch 

das des Marcus. | 
Um aber Nichts zu verfchmweigen, will ich noch einen Grund 
gegen meine Anficht anführen. Decumenius, der Auszüge 
aus Altern Commentaren gemacht hat, führt zu Act. 1, 18. Et: 
was aus den Zinyrjosıg nvorwrwv Aoyiwv des Papins an. Da 
die Parallele dazu fih Matth.27, 5 findet, fo koͤnnte man fchlie- 
Ben, Papias habe doch unfer Evang. Matth. gekannt; aber mit- 
Unrecht. Daß zwifchen jenen Aoyioıg zvolov des Matthäus und 
unferm Evangelium ein Zufammenhang ift, will ich gar nicht 
laugnen; nun gab es viele Ausfprüche Chrifti, die nur in Ver— 
bindung mit Factis erzählt werden Eonnten, befonders in der Kei- 
densgefchichte, wo jedes Wort Chrifti befondere Bedeutung und 
Wichtigkeit befam und deshalb von Matthäus bei feiner Zuſam— 
menftellung von Ausfprüchen Chrifti gewiß nicht übergangen wurde, 
fo daß einzelne Umftände, bei denen dies Wort gefagt wurde, in 
„die Aoyıa »voiov mit hinein Famen. Da konnte alfo fehr gut 
etwas dem, was in unferm Matthäus fteht, fehr Aehnliches bei 
Papias vorkommen, was Decumenius auf unfern Matthäus 
übertrug. 
| 16 * 


244 | Zeugniß des Papins. 


Auch rühmt fih) Papias bei Eufebius, daß er viel bei Be- 
Fannten der Apoftel nach dem geforfcht habe, was Chriſtus ges 
lehrt, und feßt hinzu: „denn ich bin immer der Meinung gewe— 
jen, daß ich mich weit beſſer aus der lebendigen Nede, als aus 
den Büchern belehren kann”. Alfo muß er doch Bücher gehabt 
haben, und zwar foldhe, die daffelbe Beduͤrfniß ihm befriedigen 
‚Fonnten, wie feine mündlichen Unterredungen. Es Eonnten alfo 
heidnifche oder altteffamentliche nicht fein, fondern fie mußten 
aus neuteftamentlicher Zeit fein und ähnliche Elemente enthalten, 
wie die, welche er durch die viva vox erfahren konnte. Diefe 
Schriften Fonnten damals Feine andere fein, als folche, die auf 
die Auctorität von Augenzeugen mit einer gewifjen Unmittelbarkeit 
zurüdgingen, alfo fehriftlihe arouvnuovevunre. Er bat alfo 
unfere canonifchen Evangelien nicht gekannt, aber Schriften, welche 
evangeliftifche Materialien enthielten. | 

Faſſen wir nun das zufammen, was fich uns mit überwie- 
gender Wahrfcheinlichkeit hier ergiebt, fo paßt es fehr gut zu der 
Darftelung, die ih im Allgemeinen aus der Natur der Sache 
abgeleitet hatte. Die Schriften, welche Papias hier als minder 
zuverläffige Mittel, fich zu unterrichten, gleichfam befeitigt, brau— 
chen Feineswegs apoeryphifche oder Fekerifche gewefen zu fein. Und 
die ganze Marime, die er hier aufftellt, zeigt ihn gar nicht als 
einen oruzeos Tov vovv, fondern feine Meinung ift diefe: Sch 
kann diefelben Sachen vielleicht aus fehriftlichen Abfaffungen er- 
fahren, aber die größere Anfchaulichkeit mangelt, und die nähern 
Umftände fehlen; wende ich mich aber an einen Mann, der die 
Apoftel felbft gehört hat, fo kann ich dem nachfragen. Alfo nicht 
gerade mit falfchen und vertverflichen Schriften hätte Papias 
diefe Vergleichung fo anftellen koͤnnen, fondern auch mit folchen, 
in denen er richtige evangeliftifhe Nachrichten zufammengeftellt fand, 


$. 68. 


Wenn wir nun die Ausfagen des Papias über Matthäus 
und Marcus in dem Sinne nehmen, welcher uns der wahrfchein: 


Verhältniß unfers Matthäus zur Angabe des Papias. 245 


lichfte ift, und fragen, welcher Zufammenhang zwifchen jenen 
Schriften und unfern mit denfelben Namen bezeichneten Evange— 
lien ift, fo erklärt fih aufs bejtimmtefte der Ausdruck zara. Wenn 
nemlich bei einem Evangelium diefe Zufammenftellung von Neden 
Ehrifti zum Grunde gelegen hat, und aus andern Quellen das 
mehr Thatfächliche hinzugefügt worden ift, fo konnte eine folche 
vervolftändigte Schrift ein svayyelıov zara MerHoiov heißen. 

. Betrachten wir unfer Evangelium Matthäi, fo finden 
wir darin von Reden Chrifti zunächft die Bergpredigt Gap. 
5—7. Aus Vergleichung diefer mit Stellen in den andern 
Evangelien laßt fih auf eine Weife, die für mich noch dur) 
Nichts wankend gemacht ift, zeigen, daß fie nicht eine Rede ge- 
wefen ift, die jo im Bufammenhange gehalten ift, fondern daß es 
eine Erpofition der Lehren Chrifti im Gegenfat gegen die pharis 
fäifhen war. Wenn Semand, der bisher der pharifäifhen Rich— 
tung angehörte, eine Zufammenftellung der Ausfprüche Chrifti 
machte, fo hätte er fie gar nicht zwedmäßiger machen Fünnen, 
als es Matthäus thut. Nun find daran Heine Maffen angereiht, 
die Analogie damit haben, und zwar in einer gewiffen Form. 
Das ift alfo eine ſolche ovyyoayy. — Eine andere Maffe bilden 
die auf einander folgenden Parabeln von der Panıkleiae Twv 
ovoovaov Mat. 13, 1—52. Daß es wahrfcheinlich fei, daß 
Chriſtus diefe fo hinter einander vorgetragen, wird wohl Niemand 
fagen, denn fie find fo verwandten Inhalts, daß eine flatt aller 
ſtehn konnte; aber dag Chriftus oft in den Fall Fam, venfelben Inhalt 
in verfchiedener Form vorzufragen, ift leicht zu denken. Da be— 
ſtand alfo das ovyyoagyeaıv des Matthaud im Zufammenftellen 
des Analogen. — Eine dritte Mafle machen die zum Theil anti= 
pharifäifchen zum Theil auf die legten jüdifchen Dinge ſich bezie- 
henden Reden Ghrifti in Serufalem Mat. 23. und 24—25. Ich 
will gar nicht behaupten, daß der Apoftel Matthäus diefe beiden 
fo von einander verfchiedenen Maſſen als eine zufammengeftellt 
habe, da es nicht einmal wahrfcheinlih ift, daß fie aus einem 
Aufenthalte Chriſti in Serufalem find; daß aber ein evangeliftifcher 


246 Verhältniß unfers Mares zur Angabe des Papias. 


ovyyoagevs, der Shen mit der Tendenz herfam, hierofolymitani- 
fhe Elemente auf die galiläifchen folgen zu laffen, dieſe Reden 
ans Ende feßte und die Weiffagungen von ben lebten Dingen 
auch, ift ganz natürlich 2). | 

Etwas Ähnliches ftellt fich bei Marcus dar, wenn wir auf 
das ov zafsı des Papias fehn. Unfer Marcusevangelium: ift 
doch in einem BZufammenhange gefchrieben. Nun ift eine ge- 
wöhnlihe Meinung, die beſonders Saunier ausgeführt hat 2), 
daß der Verfaffer unfers Ev. Marc. das Ev. Matth. und Luc. 
vor Augen gehabt hat. Wenn alfo Semand die von Marcus ein- 
zeln aufgefcehriebenen Materialien in eine beftimmte zatıc bat brin= 
gen wollen und jene beiden andern Schriften ſchon gekannt hat, 
fo hat er fchwanfen müffen und ift bald der za&ıe der einen, bald 
der andern gefolgt. Bleiben wir bei diefer Anficht, fo ftelt fich 
die Sache fo, daß unfere Evangelien Matth. und Zur. eher da 
waren, als die Materialien des Marcus zu einem Evangelium 
verarbeitet wurden. Da haben wir alfo eine Art Gefchichte der 
evangeliftifchen Schreibung: voran ftellen wir die ovyyoayy des 
Apoftel Matthäus gleichzeitig mit den Materialien des Lucas und 
mit den zerftücelten drzouvnuovsuuooev des Marcus und dem 
ganz verfchiedenen Evangelium ded Johannes; dantı einzeln ent= 
ftehend die Evangelien Matth. und Luc., dann die Zufammen- 
fiellung des Evangeliums Marc. Dabei wird uns zugleich erklärt, 
wie die Formel evapyelıov war« Mard$aiov als eine Art von 
Familiennamen vorkommt; denn wenn Mehrere die ovyyoapn 
des Matthäus zum Grumde legten, fo fonnten ihre Evangelien 
alle sar« Marseiov heißen. Lucas folgt dagegen bei feiner «ve- 
redıs von Materialien einem andern Gefeße und hat wahrfchein- 
lih weder die ovyyoapn des Matthäus ie das Sp 
Matth. gekannt. 

Dies ift alfo eine ganz andere Vorſtellung, als die gewoͤhn— 





1) Berg. a. a. DO, ©. 746— 752. 
2) Saunier über d. Quellen d. Ev. des Marcus 1825. 


Die mit unſerm Matthäus verwandten Evangelien. 247 


liche, daß nad) des Papias Bericht das Evangelium Matth. 
urfprünglich hebräifch gefchrieben fei, und daß es davon eine 
Menge Ueberfegungen gegeben habe. Unferm Matth. fteht am 
nächften da3 Evangelium »ar "EPfowiovg, wad urfprünglich ara= 
mäifch gefchrieben war; wie verhielt fih nun dies zu dem, was 
Papias berichtet? Verſteht man das youyvevoe Ö’ Euuorog vom 
Ueberfegen, fo hat er dad Evangelium ber Hebräer nicht beruͤck— 
ſichtigt, da dies keine Ueberſetzung war. Da er aber den Marcus 
einen Eoumvevzng des Petrus nennt, fo Fann man fragen, ob 
nicht auch das ein Egumvevsıv fei, wenn Einer zu den Neben des 
Andern die erflärenden Umftände hinzufügt. Wenn wir dies auf 
das anwenden, was Papias von den Aoyloıs des Matthäus 
fagt, fo würde es gerade auf folhe Schriften, wie unfer Evange— 
um Matth. und das der Hebräer paflen: Seder habe die Aoyın 
Chriſti durch Hinzufügung der hiftorifhen Zhatfachen, der Um— 
ftände, unter denen er fie gefprochen, ins Licht geftellt und commen= 
tirt, fo gut er fonnte. Eine Menge von fihriftlichen Ueberfekuns 
gen ift auch ſchon an ſich in dieſer erſten chriſtlichen Zeit, wo der 
muͤndliche Vortrag ſo ſehr uͤberwog, nicht wahrfcheinlich; denn 
die Analogie der Ueberfeßung altteftamentlicher Schriften paßt 
nicht, da die neufeftamentlichen noch nicht, wie jene, in den Ber 
fammlungen gebraucht wurden. 
Für die ganze Familie der mit unferm Matth. verwandten 
Evangelien hätten wir alfo ein gemeinfchaftliches Fundament in 
‚ ber ovyyoagyn Aoyioy, von der Papias redet. Allerdings Eonnte 
diefe nicht ganz ohne alle thatfächliche Elemente fein, weil ſich 
manche Ausfprüche Chrifti nicht ohne folche erzählen ließen, wie— 
wohl wir z. B. in der Bergpredigt viele Gnomen finden, die 
Lucas mit ihren gefhichtlichen Beziehungen erzählt; aber da 
werden fie durch die Verwandtfchaft der Gedanken, zwifchen de: 
nen fie flehn, verftandlich. 
Es laͤßt fich aber auch aus-innern Kennzeichen nachweifen, 
daß unfer Evangelium Matth. fehwerlic vom Apoftel Matthäus 
kann gefchrieben fein, was ich hier nur vorläufig aus drei Um: 


248 Unfer Evangelium Matth. kann nicht vom Apoſtel fein. 


fländen Ear machen will, 1. E3 wird Matth. 9, 9. die Erwäh- 
lung des Apoſtels Matthäus erzählt, wodurch er anfing, Chrifti 
Begleiter zu fein. Nun müßte doch ‚ein gewiffer Unterfchied in 
der Erzählung zwifchen dem Frühern fein, was der Apoftel nur 
durch die Berichte Anderer wiſſen Eonnte, und dem Spätern, was 
er ſelbſt erlebt hatte. Aber in unferm Evangelium findet fich 
eine folche WBerfchiedenheit nicht. 2. Vergleichen wir die Aufer- 
ftehungsgefchichte Matth. 28. mit dem, was die andern Evange— 
liften darüber haben, namentlich, wie fich hier Alles fo unbeftimmt 
der Zeit nach zufammendrängt, wogegen bei Sohannes verfchie: 
dene Momente und verfchiedene Schaupläße aus einander treten 
in Erfcheinungen Chrifti in Serufalem und Galiläa, bei denen 
doch auch Matthäus gewefen fein muß: fo fieht man, wie da3 
fhwerlich ein Apoftel kann gefchrieben haben, Natürlich gehe ich 
bier von der Vorausſetzung der Aechtheit des Evangeliums Joh. 
aus; wer fie nicht annimmt, kann freilich auf umgekehrte Weife 
aus Matthäus gegen Sohannes argumentiren. Aber wenn wir 
in demfelben SKreife von Argumenten bleiben, fo hat dad Evan- 
gelium Joh. fo viel Kennzeichen der Urfprünglichkeit, daß es 
einen folchen VBorfprung vor Matthäus hat, daß eine foldhe Rüde 
argumentation nicht ftattfinden Fan. 3. Die 3 fynoptifchen Evan— 
gelien gehn beftimmt von der Borausfekung aus, daß Chriftus 
vor dem letzten DOfterfefte nicht in Serufalem gewefen fei. Wollte 
man nun auch annehmen, daß Matthäus erit im lebten Jahre 
berufen worden, fo mußte er doch von den andern Apofteln er- 
fahren haben, daß Chriftus fehon öfter dort gewefen. — So fann 
man alfo nicht wahrfiheinlich finden, daß * Evangelium 
Matth. von dem Apoſtel iſt. 

Ebenſo laͤßt ſich aus unſerm Evangelium des Marcus 
nachweiſen, daß es nicht unter dem unmittelbaren Einfluſſe des 
Petrus oder mit irgend einem Mitwiſſen deſſelben geſchrieben 
ſein kann. So wird z. B. mit Erzählung der Auswahl der 
Apojtel verbunden, daß Ehriftus dem Petrus feinen Namen gege= 
ben habe; daS gefchah aber nicht erſt, als die Zwölf zufammen 


Unf. Evalium. Marc. kann nicht unt. d, Einfluß d. Petrus geſchr. ſein. 249 


waren, ſondern es war eine fruͤhere Begebenheit . Dagegen 
fcheint die Bezeichnung der Brüder Johannes und Jacobus als 
vior Poovrns ſpaͤter gefchehn zu fein, als hier berichtet wird 2). 
Diefe ganze Erzählung aber, wie fie hier fteht, kann ſchwerlich 
ein Beftandtheil jener Schrift gewefen fein, wenigſtens findet ſich 
Nichts darin, was Petrus als daöuονααα gebrauchen konnte. 
Unſer Evangelium hat alſo wenigſtens auch ſolche Elemente in 
ſich, die jene Schrift nicht hatte. Dieſe ſind alſo gemacht, um 
eine vafıs hineinzubringen, da Marcus ou zasss geſchrieben 
hatte; es mußte dabei die Namengebung gleich bei der Ermäh- 
lung der Apoftel erwähnt werden. Aber Petrus hat es gewiß 
nicht felbft fo gefagt, und von Marcus heißt es doch, er habe 
Nichts daran verfälfcht, was doch in unferm Evangelium Marc. 
auf gewiſſe Weife gefchehn ift. 

Fragen wir nun unter Vorausfegung jenes Zufammenhangs 
zwifchen unferm Evangelium zara« Merdarov und den Aoyıois 
des Matthäus, wie alfo der zweite Verfaffer eigentlich zu Werke 
gegangen ift: fo hafte er durch dieſe Schrift felbft ſchon einen 
befondern Standpunct befommen. Cie zerfiel gleich in die bei- 
den heile des Galiläifchen und Hierofolymitanifchen; es mußte 
nun der gefchichtliche Zufammenhang, ein Rahmen von Thatfas 
hen, dazu gemacht werden. Unfer Evangelium giebt nun den 
Eindrud, daß diefe Einfafjung der Aoyıa für die galiläifche Zeit 
etwas dürftig ift, denn wir befommen immer nur ein fehr allge= 
meines Bild. ES heißt: „Chriftus begiebt fich auf einen Berg” 
wir wifjen nicht, welchen? oder „er ift am See“ oder „er zieht 
in den galiläifchen Städten umher”; nirgends anfchaulichere Be- 
flimmtheit. Da fieht man, daß es dem Verfaſſer gar nicht darum 
zu thun war; er hätte vielleicht noch mehr Notizen diefer Art 
beibringen koͤnnen, aber er mochte dann um fo weniger glauben, 
das Nichtige zu treffen. Es müfjen aber auch feine Quellen eben 


1) Mare. 3, 16. vergl. Joh. 1, 42., dagegen Matth. 16, 18. 
2) Mare, 3. 17, vergl. Luc. 9, 54. 


250  Berfahren der zweiten Verfaſſer zu Matthäus und Marcus. 


fo unbeftimmt gewefen fein; bei einzelnen fragmentarifchen Erzählun- 
gen wurde diefer Mangel nicht empfunden, fondern erft bei der Zuſam— 
menfeßung mehrerer. Wäre aber der Zufammenfeßer ein Augenzeuge 
gewesen, fo würde er von felbft das Beftimmte mitgegeben haben. 

Beim Evangelium zar« Meaoxov ift es viel fehmwieriger, 
ein Verhaͤltniß deffelben zu jener Schrift des Marcus bei Papias 
nachzumeifen. Ueberhaupt find die Urtheile über dad Verhaͤltniß 
diefes Evangeliums zu den andern fo verfchieden, daß es einer 
großen Weitläuftigfeit bedürfte, fie anzuführen. Mir genügt es, 
nachgewiefen zu haben, daß nicht wahrfcheinlich ift, daß unfer 
Evangelium jene Schrift fei. Alſo muß man entweder auf das 
Zeugniß des Papias ganz Verzicht Ieiften, wozu ich Feinen Grund 
einfehe, oder einen realen Zufammenhang des Evangeliums mit 
jener nur fragmentarifchen Schrift annehmen. 

Bon Lucas willen wir aus feinen Eingangsworten,, daß 
er Mg größern Vorrat) von Materialien hatte. Wenn er fagt, 
es hätten ſchon Viele das verſucht, was er nun auch thun wolle, 
ſo kann man nicht glauben, daß er alle jene Verſuche nur dem 
Namen nach gekannt haben ſollte; ſein Werk ſelbſt zeigt, daß er 
ſeine Forſchungen aus jenen genommen habe. Das Naͤchſte waͤre 
alſo, zu ſagen: Aus einem groͤßern Reichthum hat er Einiges 
ausgewaͤhlt, Anderes verworfen. Fragen wir, warum er Einiges 
verworfen habe, ſo koͤnnen wir nicht dabei ſtehn bleiben, daß er 
nur Unaͤchtes ausgeſchloſſen, ſondern er wird auch Manches, was 
feinen Erzählungen zu aͤhnlich war und nichts Neues darbot, weg— 
gelafien haben. Es kommen öfter folche Formeln wor, die ganze 
Reihen von Begebenheiten maffenweife zufammenfaffen. Nun wäre 
es doch wunderbar, wenn es darüber Feine Erzählungen gegeben 
hätte, Lucas ließ fie aber aus, weil er fehon ähnliche hatte und 
dad Volumen der Schrift nicht auf eine unzweckmaͤßige Weife 
vergrößern wollte. So mögen denn in andern Evangelien viele 
ächte Elemente gewefen fein, die Lucas nicht aufnahm; außerdem 
aber mag es aud) Vieles gegeben haben, was er gar nicht erfuhr, 
weil es in andern Gegenden cireulirte. 


Berhältniß der Drei ſynoptiſchen Evangelien zu einander. 251 


$. 69. 

Wenn man fich alfo dies fo denkt, daß der Berfaffer von 
unferm Evangelium Matth. den gefchichtlichen Rahmen zu jener 
ovvratıs Aoyiov geben wollte, Lucas aber eine mäßige Auswahl 
von dem am meiften Beglaubigten, und denft man fi) Beide in 
einer nicht fehr verfchiedenen Localität: fo läßt fih eine gewiſſe 
Berwandtichaft in dem, was Beide geben, fhon zum voraus er= 
warten. Aber freilich die große Uebereinftimmung im Einzelnen 
und in den Worten felbft wird dadurch noch nicht erklärt. Hat 
man nun eine fehr große Vorftelung von diefer Uebereinſtim⸗ 
mung, ſo hat man ein Recht zu der Hypotheſe, daß Einer den 
Andern benutzt habe. Aber ſie iſt nicht ſo groß, als man ſie ſich 
gewoͤhnlich vorſtellt. Es iſt nur ſo viel klar, daß ſie in Bezug 
auf Einzelnes dieſelben Quellen benutzt haben; dazu gehoͤrt aber 
die Vorausſetzung, daß ſie nicht an zu verſchiedenen Orten ſchrieben. 

Halten wir die ovvzekıs Aoyinv von Matthäus, wie fie 
uns Papias befchreibt, an die beiden Evangelien Luc. und Mare. 
und fragen, ob letztere wohl diefe Schrift gekannt haben, fo ift 
das bei Lucas allerdings unmwahrfcheinlid. Mit Marcus hat es 
eine ganz andere Bewandtniß. Er vermeidet ausführliche Berichte 
von Reden Chrifti im erften Theil, und es fieht faft fo aus ,- als 
ob er fich Anfangs gefürchtet hätte, feine Schrift würde zu groß 

werden, und da hat er erftfpäter reichlicher aufgenommen. Seine 
| ganze Tendenz ift alfo gar nicht, Reden mitzutheilen, fondern 
mehr Thatſachen; daraus folgt aber nicht, daß er jene Aoyıa 
nicht gekannt habe, es lag nur nicht in feinem Plan, ausführ- 
lichern Gebrauch davon zu mahen. Wenn wir aber Lucas mit 
unferm Matthäus in Bezug auf die ovvzakıs Aoyiov vergleichen, 
fo ift bei Erfierem Manches mit feiner hiftorifchen Veranlafjung 
erzählt, um welches Lebterer keinen folchen geichichtlichen Rah— 
men gemacht hat, indem er es fo ließ, wie er es in der ouvradıs 
fand, wiewohl Einiges zu einer ganz andern Zeit gefprochen war, 
als das dicht dabei Stehende. Nun findet fih im Lucas aber 
gar Feine Spur von einer Beziehung auf jene Schrift. Man 


252 Verhältniß der drei ſynoptiſchen Evangelien zu einander. 


kann fich freilich denken, daß ein Schriftfteller, befonders wenn er 
fih an ein beftimmtes Maaß bindet, fich alles daS verfagt habe, 
was in Bezug auf feine Lefer in der zweiten Ordnung ftände; 
und allerdings, wenn Lucas darauf aufmerkfam gemacht hätte, wie 
da Manches aus jener urfprünglichen Verbindung geriffen fei, fo 
wäre dies Etwas von der zweiten Hand gewefen. So Fönnte 
er alfo jene ovvrakıs doch gefannt haben. Aber wenn fie &fo«- 
idı drehduron gefchrieben war und das Eoumvevsw vom Anfüh- 
ren thatfächlicher Umftände zu nehmen ift, fo verfchwindet dieſe 
MWahrfcheinlichfeit wieder; denn Lucas hat fehwerlich den aramaͤi— 
fhen Dialect gekannt, da er reiner Hellenift war. 

Zu beachten ift, daß unfer Evangelium Luc. und die Acta 
zwei Theile eines und -defjelben Werks find. So wie die Alten, 
befonders- die Römer, denfelben Gegenftand in mehreren Büchern 
behandelten, fo daß jedes feinen eignen Eingang hatte, fo haben 
beide ihren eignen Anfang, aber die Acta beziehn ſich ausdruͤcklich 
auf das Evangelium, und die Dedication ift an denfelben gerich- 
tet. Nun aber erfcheinen fie in der Gefchichte des Canons durch— 
aus als getrennt; wo die vier Evangelien vorfommen, iſt da$ 
des Lucas darunter und alfo von der Apoftelgefchichte gefondert, 
und es ift wahrfcheinlih, daß nicht überall, wo daS erftere be- 
kannt war, aud die leßtere fchon verbreitet war. Wenn Mar 
cion’s Evangelium wirklich daS verftümmelte de3 Lucas gewefen, 
fo wäre Ear, daß er die Acta nicht gekannt, da fie ihm 
als natürliche Einleitung zu den paulinifhen Briefen fehr will- 
kommen fein mußten, und feine Lehre nichts Anftößiges darin fin= 
den Fonnte. Aber wenn wir dies auch dahingeftellt fein laffen, 
fo fcheint doch gewiß, daß die Apoftelgefchichte erſt fpäter allge— 
mein befannt wurde, und fo fieht man, daß beide Theile früh: 
zeitig von einander getrennt find. Denn es läßt ſich nicht den- 
fen, daß man fie blos deshalb aus einander geriffen habe, um 
die vier Evangelien zufammen zu nehmen, denn es konnten ja 
die Acta auch mit hineinfommen al3 eine Fortſetzung. Es muß 
alſo das Evangelium oͤfter allein abgeſchrieben und ſo in die Te— 


Beſchränkung der Evv. aufein gewiſſes Maaß des Umfangs. 255 


tras gekommen fein, ehe die Apoftelgefchichte verbreitet war, gegen 
die urfprüngliche Abficht des Lucas, daß beides follte als ein 
Ganzes betrachtet werden. 

Daß dies aber fo Fam, davon ift offenbar der nächfte Grund 
der Mangel an Vermögen. Es war zu Eoftbar, beides abfchrei- 
ben zu laffen, und_da begnügte man fi damit, noch Nachrichten 
aus dem Leben Chrifti zu erhalten. Hieran haben wir alfo einen 
Maapftab, wie groß eine Schrift fein mußte, um eine allgemeine 
Verbreitung in der Kirche zu erhalten. So fiehbt man, warum 
man fich auf einen fehr geringen Umfang befchränfte. Wergleicht 
man in diefer Beziehung unfere drei Evangelien mit einander, fo 
ift daS des Marcus das Eleinfte; aber hier fieht man zugleich die 
urfprüngliche Tendenz, nur einzelne Zhatfachen aus dem Leben 
Chrifti darzuftellen. Unferm Matthäus war die diazekıg Aoyiov 
gegeben; da war die größte Sparfamfeit nothwendig, um das 
Ganze nicht zu groß zu machen und doch Feine Reden Ehrifti aus: 
zulaffen. Bei Lucas fehn wir ein größeres Gleichgewicht zwifchen 
thatfächlichen Elementen und ausführlicher Mittheilung von Reden 
Chriſti. Denkt man fich alfo ein folches Maag durch den Zuftand 
der Dinge einmal gegeben und die erfte Schriftliche Zufammenfaf: 
fung zu einem wirklichen Complex doch natürlich nur auf die 
Zeitgenoffen gerichtet: fo folgt fchon von felbft, daß nur gefchicht- 
lihe Elemente von einer gewiffen vorzüglichen Bedeutfamfeit 
Fonnten in folchen Somplerus aufgenommen werden, während viele 
andere Iehrreiche, characteriftifche, anmuthige Erzählungen nur im 
mündlichen Umlauf waren. Es kommt alfo vorzüglich darauf an, 
daß man ſich überzeuge, die gefhihtlihen Elemente 
unfrer Evangelien feien von der Art, daß fie eine 
jolhe Heraushebung verdienten, und zwar fo, daß 
unabhängig von den Andern Seder, der auf eine 
jolche Zufammenftellung ausging, fie nicht umgehen 
konnte, fondern fie vor andern herausheben mußte. 
Hierauf kommt e3 befonders an, um fich von dem Berhältniffe 
der drei Evangelien zu einander eine richtige Vorftellung zu machen. 


254 Betrachtung der drei verwandten Evangelien im Einzelnen. 


Indem wir nun hierzu fehreiten wollen, fo erinnere ich noch 
einmal daran, Daß hier die Bezeichnungen: Matthäus, Marcus, 
Lucas, gar keinen beftimmten Perfonen gelten, fondern nur denen, 
die dem Evangelium ihre jeßige Geftalt gaben, indem ich ihre per— 
fünlichen Berhältniffe dahingeftellt fein laffe, 3. B. ob der Ber- 
faffer unfers Lucasevangeliums ein Begleiter des Paulus war 
oder nicht, oder ob Aufzeichnungen eines folchen Begleiters von 
einem Andern mit aufgenommen wurden. — Ferner feße ich den 
fohon erwähnten Hauptunterfchied zwifchen den galiläifchen 
und hbierofolymitanifchen Elementen voraus, von denen die 
erftern immer als die frühern betrachtet wurden. Aus Sohannes 
fehn wir, wie Chriftus auch noch in andern Zheilen des Landes 
ſich aufgehalten hat, in Peräa und Judaͤa. Daher mußte e3 
mehrere Elemente geben, die fich nicht recht in die eine oder ans 
dere Abtheilung ſchicken wollten. Ein apoftolifcher Verfaſſer hätte 
dadurch nicht in Verlegenheit kommen Fünnen; ihm wäre auch 
eine Scheidung in Galiläifches und Hierofolymitanifches in diefer 
Art nicht eingefallen. — Hiernach ift es am beften, unfre Unter: 
fuhung fo einzurichten, daß wir drei verfchiedene Abtheilungen 
annehmen, in welche die einzelnen Elemente geftellt werden: 
1. diejenigen Elemente, bei denen Chriftus in Galiläa theils woh— 
nend theils ald Lehrer umherziehend erfcheint, wo fich alfo Alles 
in den Umfang von -Galiläa einfchranftz 2. diejenigen, die nicht 
beftimmt galiläifch, aber auch nicht hierofolymitanifch find; 3. die 
ganz beftimmt als hierofolymitanifch aufgeführt werden. 


$. 70. 

1. Nehmen wir nun alles zufammen, was wir aus unfern 
Evangelien in der galiläifchen Abtheilung willen), und 
achten wir auf jene maffenweifen Relationen von Begebenheiten, 
deren Notiz doch auf etwas Speciellerem beruhen mußte: fo fehn 
wir, daß dad Material viel reicher war, als es in unfern 


1) Matt. 15 Mare, 1-9. Luc 1-9, 50, 


\ 


Die galiläifhen Elemente der drei Evangelien. 255 ° 


Evangelien erfcheint; und wenn Jemand, was im mündlichen 
evangeliftifchen Vortrage war, alles in einer Schrift hätte zuſam— 
menfaffen wollen, fo müßte diefe einen ungleich größeren Umfang 
gehabt haben. Denkt man fih nun mehrere unabhängig verfah- 
rende Schriftfteller, fo ift das Natürlichfte, daß der eine aus dem 
großen Materiale dies, der andere jenes ausmwählt, und eben, wenn 
fie fih auf einen geringen Umfang beſchraͤnken, werden fie Alles 
verfchieden haben. Behandeln wir die Sache claffenweife, fo fin= 
den wir auch diefe Differenz in unfern drei Evangelien: Matthäus 
hatte die duazekıs Aoyiov vor ſich und zugleich jenes große that- 
fächliche Material, es hing alfo von feiner perfönlichen Eigenthüm- 
lichkeit ab, ob er mehr von der erftern, oder von dem le&teren 
aufnehmen wollte; Marcus dagegen ging mehr auf das Frap— 
pante in einzelnen Zhatfachen aus; zwifchen Weide tritt Lucas in 
die Mitte. Betrachten wir alfo die Sache en gros, fo fehen wir 
die Differenz. Nun aber freilich fagt man: Aber die Einzeln- 
heiten find doch fo diefelben, daß jedes der drei Evangelien nur 
wenige einzelne Erzählungen hat, die den andern fremd wären. 
Dies ift allerdings wahr, und um zu fehn, woher das komme, 
müffen wir auf die eigenthuͤmliche Beſchaffenheit der 
mitgetheilten Erzählungen fehn. 

Hier muß ich aber noch eine allgemeine Auseinanderfegung 
voraufſchicken. Die evangeliftifhe Thaͤtigkeit ſchloß fih an die 
apoftolifche in zwiefacher Beziehung an, theils um die Darftellung 
der Perfon Chrifti für die, welche noch nicht von ihm gehört 
hatten, zu ergänzen und ihn als den Meflias darzuftellen, theils 
um da, wo fchon chriftliche Gefellfehaften waren, aus dem, was 
Chriſtus gefagt oder gethan, die Ermahnungen zu begründen. 
"Nun fieht man leicht, alles Wunderbare in der Gefchichte Chrifti 
gehört in die evangeliftifhe Thätigkeit in der erften Beziehung; 
ebenfo alles, was Aufforderung Chrifti zum Eintritt in die Aaoı- 
Asia enthält. Dagegen alles, worin Chriftus feine Lehre von der 
svoeßein, von der Anbetung Gottes im Geift und in der Wahr— 
heit, darftellt, alles, worin er fich gegen die pharifäifche nao«dooıs 


256 Weſentlich nothw. Stüde bei allen Erzählungen von Chriſto. 


| erklärt, und alles, was dem ähnlich ift, gehört in das zweite 

Gebiet. Dies find folche characteriftifche Puncte, die überall in der 
evangeliftifchen Thatigkeit vorherrfchen mußten. Außerdem aber 
wurde, wie wir uns denken müffen, Vieles erzählt rein aus einem 
Sntereffe an der Perfon Ehrifti, ohne eine befiimmte Beziehung auf 
“Die Lehrthätigkeit, und da Fam es denn vorzüglich darauf an, daß 
es möglichft mußte unmittelbar von Augenzeugen aufgefaßt fein, 
weil es nur durch feine Anfchaulichfeit und Lebendigkeit wirken 
konnte. Wenn nun dies das Wefentlihe in der mündlihen Thaͤ— 
tigkeit war, und die fehriftliche Abfaftung ihr folgte, fo mußte fie 
doch denfelben Typus haben und, wenn auch in einem Eleinen 
Volumen, daffelbe zu leiften fuchen. 

Wenn wir alfo den Inhalt unfrer Evangelien aus dem Auf⸗ 
enthalt Chriſti in Galiläa betrachten ), fo muͤſſen wir es natuͤr— 
lich finden, daß jede zuſammenhaͤngende Geſchichtsſchreibung an— 
fangen mußte mit der Taufe Chrifti, weil dies als der Schei— 
depunct zwifchen feinem Privatleben und feinem dffentlichen Auf- 
treten angefehen wurde. In wiefern dies genau ift, ift hier nicht 
zu unferfuchen; auch kommt es nicht darauf an, ob dies. beide, 
daß Chriftus fih von Johannes taufen ließ, und daß er nad) 
Galilaͤa ging, unmittelbar zuſammen hing; von ſeiner Taufe an 
wurde ſeine oͤffentliche Wirkſamkeit gerechnet. Dies ſtimmt damit 
zuſammen, Nichts von einem fruͤhern Aufenthalte Chriſti in 
Jeruſalem zu wiſſen, und durchaus ſeine Thaͤtigkeit in! Galilaͤa 
als die erſte anzuſehn. Nun tritt noch etwas Anderes zu dieſer 
erſten Einleitung hinzu, nemlich die Geſchichte von der Verſu— 
chung Chriſti. Es iſt offenbar, daß, wenn dieſe einmal als 
Geſchichte aufgefaßt war, man ihr Feine andere Stelle geben 
Eonnte, al3 unmittelbar nach der Laufe, wenn dies auch in ber 
Gefchichterzählung felbft nicht enthalten war. Denn wenn man 
auf den Urfprung diefer Erzählung fieht, fo Eonnte fie nur von 
Chriſtus felbft Herrühren, weil Niemand fonft zugegen war. Da 


1) Vergl. Schleierm. ü. d. Schr. des Lucas ©, 50-158. 





Verbindung der Tauf und Verſuchungsgeſchichte. 257 


die Apoftel Feiner fo langen Abwefenheit Chrifti in der Wuͤſte 
fich bewußt waren, feitdem fie bei ihm waren, fo mußten fie 
diefe Begebenheit ganz zu Anfang ftellen, entweder vor oder un— 
mittelbar nach der Zaufe. - Vor derfelben wäre fie ganz ifolirt 
gewefen; fobald man ein Verhältniß zu der Beſtimmung Chrifti 
(was doch ift, wenn man fie thatfachlich auffaßt) annahm, fo war 
ihre Stellung nad) der Taufe am angemefjenften. — Wenn alfo 
Taufe, Berfuhung und Anfang der Lehrthätigkeit in Galiläa 
verbunden ift, fo müffen wir diefe Vereinigung fehr natürlich fin: 
den. Nehmen wir dazu, wie viel Stoff die Verſuchungsgeſchichte 
darbot, um einer chriftlichen dıdaonarre zum Grunde zu liegen, 
und wie leicht fie ihrer Natur nach zu verbreiten war: fo müffen 
wir fie als ein fehr verbreitetes Element in der evangeliftifchen Ueber: 
lieferung anfehn. Sa, wir brauchen nicht einmal anzunehmen, 
daß die Apoftel felbft diefe Erzählung Chrifti als eine Thatſache 
angefehn haben; wenn fie nur vor der fchriftlichen Aufzeichnung 
fchon fo aufgefaßt wurde, fo laßt fich ihre Anordnung im Anfange 
der Evangelien fehr gut erklären, ohne daß eine befondere apo— 
ftolifhe Direction, ein Urevangelium, eine Benutzung des einen 
Schhriftftellers durch den andern oder fonft eine Hypotheſe dazu 
nöthig wäre. 

Menn wir den weitern Verfolg betrachten, ſo finden wir, 
daß es ſelten mehr als zwei Begebenheiten ſind, welche die ver— 
ſchiedenen Evangelien in derſelben Ordnung erzaͤhlen, waͤhrend 
faſt uͤberall Abweichungen in der Reihenfolge ſind. So wie man 
ſich die Sache ſo ſtellt, ſo bekommt man gleich einen viel gerin— 
gern Eindruck von der Uebereinſtimmung, und die Nothwendigkeit 
verſchwindet, einen gemeinſchaftlichen Faden anzunehmen, der zum 
Grunde gelegen habe. Um ſich dieſes anſchaulich zu machen, em= 
pfehle ich die Synopfe von De Wette und Lüde, bei welcher 
‚ich in diefer Beziehung nur Eins noch wünfcen möchte. Es 
find die Erzählungen nach einzelnen Nummern vertheilt; wenn 
nun die Synopfe folhe Combinationen von Erzählungen, die bei 
allen drei Evangelien diefelben find, unter eine Nummer geftellt 
Einl. ins N. T. 17 


258 Heilung eines Gichtbrüdigen und Berufung des Matthäus, 


hätte, fo. würden wir dies noch leichter überfehn Fünnen. — Wir 
wollen nun dieſe Falle nach den aufgeftellten Gefichtspuncten 
beurtheilen. . 

1. Zuerft finden wir in allen drei Evangelien verbunden die 
Heilung eines Gihtbrüdigen und die Berufung des 
Matthäus, Matth. 9, 1-8. und 9—17. Marc. 2, 1—12. und 
13—22. &uc. 5, 17—26. und 27—39., während von der Tauf— 
und Berfuchungsgefhichte an feit Matth. 4, 12. Alles verfchieden 
war. An jene Berufung Fnüpft fih die Frage über Chrifti 


Umgang mit Zöllnern und feine Antwort darauf. Hier haben- 


wir offenbar einen Faden des Zufammentreffens. Da die Heilung 
des Gichtbrüchigen und die Berufung des Matthäus innerlich 
durch Nicht3 verbunden find, fo ift wohl anzunehmen, daß Beides 
biftorifch nach einander gefchah. Jene Gefpräche aber Enüpfen 
fich genau daran an, daß Matthäus dem Erlöfer ein Mahl aus— 
richtete, bei welchem. Genoffen feines Standes zugegen waren, 
wodurch die Aeußerungen Chrifti hervorgerufen wurden. Nun 
enthalten diefe einen wichtigen Aufſchluß über die Methode Chrifti 
in Beziehung auf die Anordnung feines Lebens für feinen Zweck, 
nemlich daß er alle äußern. Diftinctionen überfah und lediglich 
die innere Empfänglichfeit der Menfchen berüdfichtigte. So wich: 
tige Aeußerungen Chrifti alfo mit dem, wodurd fie hervorgerufen 
wurden, Fonnten nicht leicht in einer wenn auch noch fo Kleinen 
fopriftlichen Aufzeichnung übergangen werden; es war auch natür= 
lich, daß fie eine folche Stelle am Anfange des öffentlichen Lebens 
Chrifti fanden. Wir haben zwar noch andere Aeußerungen Chrifti, 
die analog find, 3. B. die Parabel vom Zöllner und Pharifäer 
und die vom verlornen Sohne; aber fie find doch nicht fo ver- 
wandt, daß man fagen müßte, fie hätten auf diefelbe Weife all 
gemein fein müffen. Sie treten von felbft in Vergleich mit je: 
nen in eine zweite Claſſe. 

2. Das Nächfte, worin die drei Evangelien zufammenftimmen, 
iſt die Verbindung der Erzählung vom Aehrenausraufen der 
Sünger am Sabbath und der von der Heilung einer ver- 


ee 


Aehrenausraufen und Heilung einer verdorreten Hand. 259 


dorreten Hand, Matth. 12, 1—8. und 9—14. Marc. 2,23 bis 
Ende und 3, 1—6. Luc. 6, 1—5 und 6—11. Sie ftehen alfo 
bei Luc. und Marc. gleich hinter den beiden vorigen Erzählungen, 
bei Matth. aber erft fpäter. Das fie unter ſich verbindende Ele- 
ment ift, daß beide Thatfachen am Sabbath vorfielen, und daß 
Chriſtus dabei feine Grundfäge über den Sabbath ausſprach. 
Dies war auch wieder von einem fo wichtigen Einfluß auf die 
Praris der erfien riftlichen Kirche, und die Apoftel mußten fic) 
fo fehr auf folche Ausfprüche Chriſti berufen , daß es natürlich 
war, daß ein paar eclatante Begebenheiten diefer Art und die 
Aeußerungen Chrifti darüber zufammengeftellt wurden. Denken 
wir daran, wie bald eine gewiſſe Feier des Sonntags als des 
Auferftehungstages neben der Feier des Sabbaths Plab nahm, 
fo werden wir leicht darauf geführt, daß Feine von beiden fo 
fireng aufgefaßt werden fonnte, wie von den Phariſaͤern, und 
wie nothwendig es war, dies Vorurtheil der Suden durch die 
höhere Auctorität Chrifti zu befeitigen. Dies war alfo auch ein 
fo bedeutendes Element, daß es in einem See Evans 
gelium nicht fehlen durfte. | 

3. Eine etwas andere Bewandtniß hat ed mit der Combi— 
nation des Sturmes auf dem galiläifhben Meere und 
der Heilung des Daͤmoniſchen in Peraͤa. Matth. 8, 
23—27. und 28—34. Marc. 4, 35 bi Ende und 5, 1—20. 
Luc. 8, 22—25 und 26—39. Diefe beiden Begebenheiten find 
nemlich offenbar der Zeit nach zufammenhängend, und wenn man 
die eine erzählte, konnte man nicht unterlaffen, auch die andere 
zu erzählen, weil in beiden auf fo eclatante Weife die Wunder: 
kraft Chrifti bezeugt war. Die eine war ein Beweis von der 
Macht Chrifti über die Naturkfräfte, die andere nicht nur ein Be— 
weis von feiner Macht über die pfychifchen Kräfte, denn derglei- 
chen Fam öfter vor, fondern es zeigte fich hier zugleich auf frap- 
pante Art die Weife, wie Chriftus folche Kranke behandelte; fo 
daß diefe Erzählung im höchften Grade geeignet war, den perfün= 
lichen Eindrud für die, welche Chriftum nicht felbft gefehn hatten, 

17* 


260 Tochter des Jairus und blutflüſſige Frau. 


zu erſetzen; weßhalb ſie gewiß ſehr verbreitet war und in einem 
Evangelium nicht fehlen durfte. Wenn man ſich dieſe Geſchichte 
ausfuͤhrlich erzaͤhlt denkt, ſo haͤtten alle andern Erzaͤhlungen von 
aͤhnlichen Wunderwerken entbehrt werden koͤnnen, weil in dieſer auf 
ſo anſchauliche Weiſe, wie in keiner andern, die Heilung erzaͤhlt wird. 

4. Unmittelbar an die Ruͤckkehr Chriſti von dieſer Fahrt uͤber 
den See iſt bei Marcus und Lucas, doch nicht bei Matthäus, 
die Gefhichte von der Auferwedung der Tochter des Ja— 
irus und von der blutflüffigen Frau angefügt, Matth. 9, 
18 -26. Marc. 5, 22—43. Luc. 8, 41—56. Diefe beiden 
Erzählungen hängen wieder der Zeit nach genau zufammen, denn 
die Heilung der blutflüffigen Frau gefhah auf dem Wege zur 
Tochter des Sairus; deshalb blieben fie zufammen, aber von je: 
ner Fahrt auf dem See Eonnten fie eben fo’ gut gefrennt, als 
damit verbunden werden. Nun ift allerdings diefe Erweckungs— 
gefchichte faft einzig in ihrer Art; es giebt nur drei folche, Die 
des Lazarus nur bei Sohannes, die des Sünglings zu Nain nur 
bei Lucas, und diefe von der Zochter des Sairus, die den drei 
Spynoptifern gemeinfhaftlih ift.: Nun ift das fehr merkwürdig, 
daß Chriſtus der Meinung, fie fei todt, ausdruͤcklich widerfpricht. 
Nimmt man dazu, daß dies eine Begebenheit von einer feltenen 
Art war, und daß auch das, was in der Zmifchenzeit fich ereig- 
nete, etwas fehr Eigenthümliches war, nemlih, daß ohne den 
ausgefprochenen Willen Chrifti, ohne Aufforderung an ihn, die” 
Heilung der Blutflüffigen gefchah: fo Eonnte eine Erzählung von 
fo praͤgnanter Dignität nicht verloren gehn. Da finden wir 
alle Elemente von einer ausgezeichneten Bedeutfamfeit, welche, 
wie Plato einmal in anderer Beziehung fagt, Niemand, der dar: 
über fchreibt, ungefagt laffen darf. 

5. Das Nächfte, was die drei Evangelien auf diefelbe Weife 
verbinden, ift die Nachricht von der Nachfrage des Derodes 
nah Chriftus und die Speifungsgefhichte, Matth. 14, 
- 1-12. und 13—231. Marc. 6, 14—29. und 30—44. Luc. 9, 
7—9. und 10—17. 


Frage des Herodes und Speifungsgefhichte. Verklärung Chrifti. 261 


6. Dann folgen noch zwei verbundene Erzählungen, die mit 
den vorigen zufammenzunehmen find, obwohl fie nicht bei Allen 
unmittelbar darnach ftehn, nemlich das Zeugniß der Juͤnger 
und die Verklaͤrungsgeſchichte Matth. 16, 13 bis Ende und 
17, 1—13. Marc. 8, 277—9, 1. und 9, 2—13. Luc. 9, 18—27. 
und 28—36., woran bei allen dreien noch die Heilung des 
Mondfüchtigen hängt, Matth. 17,14—23. Marc. 9, 14—32. 
Luc. 9, 37—45.— Hier ift nun die Verknüpfung von des He- 
rodes Forfhungen nach Chriſtus und der Speifung allerdings 
von der Art, daß fie fehr verfchiedenartige Dinge verbindet. In 
Beziehung auf die außern Berhältniffe Chrifti geht freilich ein 
gewiffer Typus durch beide hindurch, aber dies Fann nicht die 
Urfache geweſen fein, daß fie mit einander verbunden wurden, 
Der Schlüffel liegt erft in einer Combination, die fich ergiebt, 
wenn wir beide Paare im Verhältniffe zu einander betrachten, 
Das Zeugniß der Jünger ift hervorgerufen durch die Frage Chrifti: 
Mas denken die Leute von mir? Dies hängt damit zufammen, 
daß er feine Sünger ausgefchickt hatte, um das Reich Gottes zu 
predigen; da war es natürlich, daß er diefe Frage an fie richtete, 
Auf dieſelbe Weife Fam Chriftus auch zur Kenntniß von dem 
Sntereffe des Herodes an ihm. Das Zeugniß der Sünger hängt 
unmittelbar mit der Gefchichte von der Berklärung zufammen, 
und zwar durch eine Zeitbeftimmung, die wir fonft nicht finden, 
und welche, obwohl fie zwifchen 6 und 8 Tagen differirt, doch 
zufammenflimmt, wenn man die verfchiedene Zahlung vom Anz 
fangs= und Endpunct berücdfichtigt. Nun ſieht man, daß das zu: 
fammenftrömende Volk das Gefpräch Ehrifti mit feinen Süngern 
nad ihrer Ruͤckkehr von jener Sendung unterbrochen hatte; fo 
fallt die Speifungsgefchichte dazwifchen. Man fieht alfo, wie 
Zufammengehöriges doch nicht zufammengeftellt wurde. — Fragen 
wir nun, was für eine Beziehung diefe Elemente zur evangelifti= 
ſchen Thaͤtigkeit haben, fo haben die lekten beiden, das Zeugniß 
der Sünger und die Stimme aus der Wolke bei der Verklaͤ— 
rung, eine fo große Bedeutung für die Geltung der meffianifchen 


262 Reden im galiläifchen Abſchnitt. 


Dignitat Chrifti, daß fie allgemein verbreitet wurden und in 
einer fchriftlichen Abfaffung nicht fehlen durften. Die erften Beiden 
Elemente fcheinen in diefer Beziehung nicht fo prägnant; doch 
kann man auch hier einen Grund zur Zufammenftellung finden. 

Fragen wir noch einmal, wie fich Lucas zu der Sammlung 
von Reden verhält, die dem Matthäus zum Grunde liegt, fo 
find es vorzüglich drei Maffen, die in diefen Abfchnitt wertheilt 
find, die Bergpredigt, die Inſtruction an die Apoftel und die Pa— 
tabeln vom Reiche Gottes. Die Bergpredigt hat Lucas in ei= 
ner andern Redaction, cap. 6, 17—49., und Manches aus derfel- 
ben hat er an einer andern Stelle. Dies hat fchon früher den 
Gedanken fehr allgemein gemacht, daß die Bergpredigt bei Mat: 
thaus nicht in einem Zufammenhange gehalten fei, 3. B. das 
Vater Unfer hat Lucas an einer ganz andern Stelle und zwar 
mit der eigentlichen Veranlaffung. Zwar haben mehrere neuere 
Ausleger die Einheit der Bergpredigt vertheidigen, wollen; aber 
wenn man daran denft, daß. die Parabeln ihrer Natur nach gar 
nicht hinter einander vorgetragen fein Eünnen, fo muß daffelbe 
auch für den erften Theil der Aoyıa gelten. E3 könnte zwar fein, 
das Lucas die ovyyoapny des Matthäus gekannt hat; aber weil 
er nade£ng fchreiben wollte, fo machte er von der Ordnung derfel- 
ben feinen Gebrauch und ftellte Sedes an feinen befondern Dre. 

Aus den Zufammenftellungen, die wir bisher betrachtet haben, 
fehen wir, daß einige allgemein verbreitet waren aus dem Prin- 
zip der Analogie des wichtigen Inhalts, andere aus der urfprüng- 
lichen Combination der Erzählungen. Letzteres ift befonders bei 
denen der Fall, die nur von den Apofteln herrühren Eonnten; die 
Gombination des Sturm und der Heilung des Dämonifchen 
fonnte nur von denen ausgehn, die mit im Schiffe waren und 
mit Chriſto ausftiegen; ebenfo mußte die der Erwedung der Toch— 
ter des Jairus und der Heilung der Blutflüffigen von Einem 
der Zwölf fein, die Chriftum immer begleiteten ; daffelbe gilt von 
der Verklärung auf dem Berge, die mit ihrer Zeitbeflimmung und 
in der Verbindung mit der Heilung des Mondfüchtigen nur von 





Geburts: und Kindheitsgefchichte Chriſti. 263 


denen erzählt werden Fonnte, die mit auf dem Berge waren. 
Dies ift alfo eine urfprünglich apoftolifche Combination. Daß 
die Apoftel zur Verbreitung diefer Erzählungen fehr beitrugen, ift 
natürlich wegen ihrer Wichtigkeit und des Frappanten darin. 
Außerdem ftand damit die Abreife Chrifti aus Galiläa und Die 
Borherfagung feiner Leiden in Verbindung; alfo war es ein fo 
prägnantes Moment, daß es nicht übergangen werden konnte. — 
Da müfjen wir alfo geftehn, daß das Zufammentreffen mehrerer 
gefchriebener Evangelien in diefen Combinationen gar Nichts für 
irgend ein Verhaͤltniß derſelben unter einander oder für eine be— 
ſtimmte apoftolifhe Direction in Bezug auf dad Schreiben be- 
weil’t, wenngleich die Combination felbft auf der ———— 
Erzaͤhlung beruht. 


&. 71. 


Wir haben aber über das, was auf dem Galiläifchen Bo: 
den liegt, noch mehr Betrachtungen anzuftellen. — Zuerft müffen 
wir und rücdwärts wenden und auf den Anfang unfrer Evan: 
gelien fehn, fofern fie von dem erzählen, was dem öffentli- 
hen Auftreten Ehrifti vorherging. 

Sn unfern vier Evangelien finden wir in Bezug hierauf zwei 
verfchiedene Marimen: Sohannes und Marcus fangen geradezu 
mit dem öffentlichen Auftreten Chrifti an und erzählen von feiner 
Geburt und feinem frühern Leben gar Nichts; Matthäus und 
Lucas haben Erzählungen von feiner Geburt und den erften Be— 
gebenheiten feiner Kindheit. Diefe entgegengefegten Marimen 
mögen wohl mit entgegengefeßten Anfichten zum Theil zufammen 
hängen. Man Eann fich eine folche denken, die alles Frühere für 
gar nicht im Zufammenhang mit dem Zweck der evangeliftifchen 
Thätigkeit ftehend anfah; denn das x7ovyun von der Perſon 
Chrifti und das von der Paoıksin Tov ovgavov war nur eins 
und daffelbe, und fo war von Chrifto Nichts zu erzählen, was 
dem xnovyua der Paoılein Tav ovoavav voranging. Dies 
trifft nicht die Erzählung von Johannes dem Zäufer, denn damit 


264 Geburts: und Kindheitsgeſchichte Chrifti. 


fing das evapyeiıov an, wie dies Marcus beftimmt ausfpricht. — 
Daß nun Schriften, die ihrem Volumen nad fo ähnlich und 
ihrem Hauptzwede nach fo identifch find, doch. fo entgegengefeste 
Marimen befolgen koͤnnen, darüber giebt uns. die Befchaffenheit 
diefer Erzählungen einigen Aufſchluß. Es Eonnte nemlich Chriften 
geben, denen dies ein fehr wichtiger Beweis für die meflianifche 
Würde Jeſu war, daß er aus der Familie Davids abftammte; 
Andern aber mochte Dies weniger am Herzen liegen, denn nur 
Sudenchriften konnte es von großer Wichtigkeit fein. Aber nicht 
nur Matthäus hat diefe Erzählungen, fondern auch Lucas, der 
doch feiner ganzen Perfönlichfeit nach für einen Heidenchriften 
gilt; und es find innere Kennzeichen genug dafür da, daß er nicht 
judaifirte. Aber er Eonnte diefe Erzählungen aus einem ganz an= 
dern Grunde aufnehmen, nemlich wegen des zagetng, das er fich 
zum Zweck gemacht; da nahm er, was er von der Kindheit Sefu 
vorfand. Denken wir diefe letzte Tendenz und erwägen, daß 
Maria nach Chrifti Himmelfahrt mit feinen Süngern zufammen 
lebte und diefem engften chriftlihen Kreife genau angehörte: fo 
müßten wir und wundern, wenn durch fie nicht mehrere Erzählun 
gen aus der Sugend Chrifti follten in Umlauf gefeßt fein; es ift 
jo natürlich, daß, nachdem die Erfcheinung Chrifti vorüber gegan— 
gen war, man nun auch nach dem Frühern fragte. Alſo muß 
dieſe erfte chriftliche Gefellfehaft mehrere Nachrichten von feiner 
Geburt und feinem erften Leben gehabt haben. Warum find diefe 
ganz verfhwunden? Ganz find fie es nicht, denn die apoeryphifchen 
Evangelien enthalten Manches davon; und wenn auch Vieles 
fabelhaft ift, fo braucht es doch nicht erfunden zu fein, fondern 
nur entftellt durch die Wunderſucht. Lucas nun, der ein eigent= 
liches hiftoriographifches Intereſſe befißt, hat ein paar einzelne 
Momente firirt, die Geburt und Darftellung im Tempel und die 
erfte Theilnahme Chrifti an den Feftreifen; aber da bricht er ab 
und ſchließt mit der allgemeinen Formel, daß er bei feinen Eltern 
in Nazareth in Eindlihem Werhältniffe gelebt habe. Schwerlich 
fonnen wir daraus fchließen, daß alle andern Erzählungen ſchon 


Geburts: und Kindheitsgeihichte Chriffi. 265 


verfchwunden waren, als die Materialien zu diefem Evangelium 
zufammengeftellt wurden, fondern, daß fie dem Lucas nicht be= 
deutend genug erfchienen fein müffen, um fein Evangelium damit 
auszufüllen, dad mit andern Erzählungen ſchon hinlänglich verfehn 
war. Nun find die ausgewählten Züge gerade fehr bedeutend, 
um die Richtung Chrifti auf die Frömmigkeit in feiner Kindheit 
zu bezeichnen. Die apocryphifchen Evangelien reden von einer 
Zheilnahme Chriſti an dem Gewerbe feines Vaters, welche wohl 
möglich ift}). 

Wenn wir die Erzählungen des Matthäus aus diefer frühern 
Zeit mit denen des Lucas vergleichen, fo ift Elar, daß fie von 
verfchiedenen Borausfegungen ausgehn und nicht mit einander zu 
vereinigen find, fo daß nur die einen richtig fein koͤnnen. Dies 
läßt fich fehr natürlich erklären eben aus der vereinzelten Auffaf- 
fung der Erzählungen, wobei immer zu ergänzen blieb, was von 
dem Einen fo, von dem Anderen fo gefchah. Ich verweife hierbei 
auf meine Schrift über den Lucas?), und ich glaube, wer nur 
einige Uebung hat, das, was Verfchiedene aufgefaßt haben, zu— 
fammenzubringen, wird die Sache nicht anders anfehn Eünnen, 
als dort gefchehn ift. 

Die lange befprochene Frage, ob die beiden erften Gapitel 
des Matthäus Acht feien, verliert bei unfrer Theorie ihre Bedeu— 
tung; denn fie kann hierbei nur ausdrüden, ob die beiden Capi— 
tel fchon zur erften Redaction unfers Matthäusevangeliums gehört 
haben, oder nicht. Dies aber zu läugnen, ift gar Fein Grund; 
denn es fehlen darüber die äußern Zeugniffe. Indeß ift nicht ohne 
Bedeutung, daß die Kirchenväter, wenn fie von den mit unferm 
Matthäus verwandten Evangelien fprechen, immer die Frage mit 
in Betracht ziehn, ob fie die yersaloyia owoxınn haften, oder 
nicht. So wie wir die Sache behandeln, fünnen wir nicht anders 
jagen, als: der Nedacteur unferd Evangeliums hat dieſe Genea- 


1) Bergl. Marc. 6, 3. mit Matth. 13, 59. 
2) Shleierm. üb. d. Schr. des Lucas ©. 20—49. 


266 Geburts = und Kindheitsgefchichte Chrifti. 


logie irgendwo vorgefunden und fie aufgenommen. Sagt man 
nun: die erſte Ueberfchrift ArßAos yeveocwugs I. Xo. gehört nur 
zu dieſer Genealogie, fo ift das richtig; denn es als „„Gefchichte 
der irdifchen Erfcheinung Chriſti“ zu verftehn, ift ganz willkürlich; 
es ift dies eine Weberfchrift, wie fie jede Genealogie hatte, welche 
damals wohl nur noch Familien von priefterlichem Amte oder da— 
vidiſchem Urſprunge beſaßen. Es iſt alſo dies ein Product von 
dem juͤdiſchen Intereſſe aus, Chriſtum als Nachkommen Davids 
darzuſtellen. Damit will ich aber dieſe Genealogie nicht verdaͤch— 
tigen, ſondern nur ſagen, daß eine beſondere Richtung dazu ge— 
hoͤrte, ſie aufzuſuchen; und daß ſie in unſerm Matthaͤusevangelium 
ſteht, bewährt, daß der Redacteur auch dieſes Intereſſe hatte. 
Alles Andere aus dem frühern Leben Chrifti mußte aus den 
firchlichen Evangelien, (d. h. folchen, die auf der einen Seite eine 
binlängliche Beglaubigung ihres Inhalts haben, auf der andern 
Seite auf eine gewiffe Vollſtaͤndigkeit Anfpruh machen) als das 
minder Wichtige nothwendig wegbleiben und allmählig verloren 
gehn. Unter den noch übrig gebliebenen apocryphifchen Evangelien 
haben einige befonders den Zwed, das frühere Leben Chrifti dar: 
zuftellen und zu zeigen, daß die Kraft des Wunderthuns ſchon 
vom Anfange: feines Lebens ihm beigewohnt habe. Wir fehn, wie 
diefes der Wunderfucht einen großen Spielraum eröffnete, zugleich 
aber, wie im noch einfachern und richtigern Zuftande Erzählungen 
diefer Art in den Evangelien nicht vorfommen Fonnten, weil das 
durch das richtige Verhaͤltniß geftört und das Volumen zu fehr 
vergrößert worden wäre. — Ohne alfo eine Hypothefe über ein 
beftimmtes Berhältniß der drei Evangelien zu einander zum 
Grunde zu legen, koͤnnen wir uns darüber verftändigen, daß 
gewiffe Elemente in ihrer Verbindung dagewefen und von allen 
gleihmäßig aufgenommen find, ohne daß fie von einander gewußt 
haben, und daß andere Elemente ebenfo ausgelaflen find. Es 
bleibt nur die Differenz der Negionen übrig. Bei Matthäus ift 
der Grund, warum er jene Erzählungen aufgenommen hat, offen= 
bar dad Intereſſe feines Volks, den Begriff der melfianifchen 


Gemeinfchaftliche einzelne Erzählungen. 267 


Wuͤrde Chrifti vorwalten zu laffen; bei Lucas ift es ein Streben 
nach biftorifcher Lotalität. Bei Sohannes und Marcus ift das 
Gegentheil von diefem, und es frägt ſich nur, ob bei beiden 
diefelbe oder eine verfchiedene Marime zum Grunde liegt. 

Es frägt fih nun, wie es mit dem Einzelnen ift, was die 
Evangelien gemeinfchaftlich haben, und was nicht. Dahin gehö- 
ven die mit der Taufe Chrifti zufammenhängenden Nachrichten 
über Sohannes den Täufer und feine Äußerungen 
über Chriſtus Yy. Dies war in der That ein unnachläßliches 
Element nicht nur außerhalb Paläftina, fondern wegen des Zeug: 
niffes über Chriftus auch innerhalb vefjelben. Daß nun diefe 
Nachrichten im, Wefentlichen des Inhalts übereinftimmen, ift na— 
türlih, da ein beftimmtes Factum zum Grunde liegt, und meh- 
tere Apoftel Chrifti vorher vertraute Schüler des Johannes ge: 
wefen waren. 

Analog ift die fpätere Gefandtfhaft des Johannes 
an Chriftus und die Erklärung Chrifti über Sohan- 
nes nach derfelben 2). Diefe mußte denen, die früher in einem 
Berhältniffe zu Sohannes geftanden hatten, fehr wichtig fein, und 
die Antwort Chrifti hatte außerdem große Bedeutung für das 
anovyaa von Chriſto. Es ift alfo natürlich, daB Beides in der 
apoftolifchen Ueberlieferung vorhanden ift. Sn der Erzählung des 
Lucas verwifcht es fich, daß diefe Sendung aus dem Gefängniffe 
des Sohannes gefommen; indeß eine Igife Andeutung davon, daß 
die Wirkſamkeit des Sohannes vorüber war, findet fih doch in 
den Worten Ehrifti zu 2feAyAugare eis Tyv Eoymov Hedoaodaı; 

Eine andere gemeinfchaftlihe Erzählung ift die von der Be— 
rufung der beiden Brüderpaare, der Söhne des Zebe— 
daͤus und des Petrus und Andreas 5). Da diefe von den ver: 
trauteſten Apofteln Chrifti handelt, fo mußte fie natuͤrlich eine 


1) Matth. 3, 1—12. Marc. 1, 1-8. Luc. 3, 1-20. 
2) Mattp. 11, 1—19. Luc. 7, 18— 35. 
3) Matth. 4, 18-22. Marc. 1, 16-20. Luc. 5, 1-11. 


268 Gemeinſchaftliche einzelne Erzählungen. 


große Publicität in der evangeliftifchen Verkündigung haben. Nun 
ift da freilich eine große Differenz zwifchen den drei Evangelien 
und dem des Sohannes ); nach den erſteren fcheint es die erfte 
Bekanntfchaft Chrifti mit diefen Männern gewefen zu fein, nad) 
Sohannes aber Fannte er fie fehon vorher. Doch läßt fich dies 
fehr gut ausgleichen. Die in den drei erften Evangelien erzählte 
Berufung war es erft, womit das Zufammenfein jener mit Chriftus 
anfing, wenngleich diefelbe ihnen nicht unerwartet Fam, und fie 
ihm nicht völlig unbekannt waren. Wenn fie alfo gefragt wurden, 
wie fie mit Chrifto zufammengefommen waren, und fie antwor—⸗ 
teten: durch jene Berufung in Galiläa: fo Eonnte e5 leicht fehei= 
nen, al3 ob dies erft der Anfang ihrer Befanntfchaft war. Dies 
war zugleich dad am meiften Anfchauliche, weßhalb es mehr ver: 
breitet wurde, wogegen bie Erzählung des Johannes fih gar nicht 
eignet, fo ifolirt vorgetragen zu werden, wie es doch das Erfte 
in der evangeliftifchen Thätigkeit fein mußte. — Nun hängt diefe 
Berufung bei Lucas mit dem Fifhzuge Petri zufammen,- fo 
daß feine Erzählung nicht leicht mit der des Matthäus zu verei- 
nigen ift. Da kann man fich eben fo leicht denken, daß nur zu— 
fällig diefe beiden Begebenheiten fo verbunden worden, wie, daß 
fie urfprünglich zufammengehörten und in der zweiten und dritten 
Hand getrennt find, weil doch der Fifchzug nicht fo wefentlich zur 
Erzählung von der Berufung zu gehören ſchien. Aber der Schein 
der erften Bekanntſchaft ruht auf Diefer Erzählung eben fo gut, 
wie auf der andern. Man Fan aber hieraus einen neuen Grund 
fhöpfen, es zu bezweifeln, daß für die Anordnung der Begeben— 
heiten eine apoftolifche Leitung Statt gefunden habe, denn e$ 
würden die Apoftel jenen Schein berichtigt haben. 

Eine ähnliche Begebenheit ift die Heilung der Schwie— 
germutter des Petrus vom Fieber 2). Da ift es die Loca— 
Iität von einem apoftolifchen Hausweſen, welche zur Verbreitung 
1) 305. 1, 37-2. 

2) Matth. 8, 14— 16. Marc. 1, 29— 34. Luc, 4, 38 — 40. 


Erzählungen, die nicht gemeinschaftlich bei Matth. u. Luc. find. 269 


diefer Erzählung beitrug. Es find der Züge von dem nähern 
Berhältniffe ChHrifti zu den zwölf Apofteln fo wenige, daß man 
fich viel mehr darüber wundern muß, daß nicht mehr vorfommen, 
als darüber, daß diefer eine fo verbreitet if. Nun ift aber doch 
nicht zu bezweifeln (ich bin gewiß ein guter Proteftant), daß Pe— 
trus gewiffermaßen der Vorſtand der Apoftel war; daher mußten 
Erzählungen, die ſich auf ihn bezogen, befonders verbreitet fein. 
Nun ift noch eine Heilungsgefhichte den Evangelien des 
Matthäus und Lucas gemeinfam, die des Knechtes eines 
Hauptmanns?). Dies war ein fo ausgezeichnetes Wunder, 
weil es ohne die perfünliche Anwefenheit Chrifti vor fich ging, daß 
hinter diefer Erzählung natürlich viele andere in Schatten treten 
mußten; auch war bemerfenswerth, daß der, welcher um die Hei— 
lung bat, fehe wegen feines Vertrauens belobt wurde. Freilich 
jind auch hier Differenzen, die nur dadurch zu erflären find, daß 
die Erzählung durch die zweite und dritte Hand gegangen war. 
Nun wollen wir die Erzählungen aus dieſem galiläifchen Com— 
plerus betrachten, welche die Evangelien nicht gemeinfchaftlich 
haben. . Da finden wir bei Matthäus und Marcus eine Erzählung 
von der Enthbauptung des Sohannes?), die bei Lucas nur 
mit ein paar Worten angedeutet ift. So wie Matthäus die Sache 
berichtet, fieht man deutlich, daß die Erzählung nicht von einem 
Apoftel herrühren kann, denn es ift eine gewiffe Unklarheit im 
biftorifchen Verlauf darin unverkennbar. Hier ift bei Lucas nicht 
eine Abweichung, fondern nur eine Verfchweigung und andere 
Stellung; an fi fand die Enthauptung des Sohannes in Feiner 
bedeutenden Beziehung zum Leben Chrifti, daher überhaupt we— 
niger darauf geachtet wurde. Die nähern Nachrichten über den 
Tod des Sohannes Fonnten nur von denen REN die in einem 
nähern Berhältniffe zu ihm ftanden. 
Ebenfo hat Matthäus gemeinfchaftlich mit Pr die Ge- 


1) Matth.-8, 5—13, Luc. 7,110. 
2) Matth. 14, 3-12, Marc. 6, 17-29. vergl. Luc. 3, 19. 9, 9. 


270 Die Geſchichte vom Stater nur bei Matthäus. 


fhichte von dem cananäifchen Weibe und von der Spei- 
fung der Biertaufend). Beides hat Lucas nidt. Das 
Grfte kann nur merkwürdig fein in Beziehung auf die Art, wie 
Ghriftus einen Gebrauch feiner Wunderkräfte für Nichtifraeliten 
abwenden will, doch aber hernah ihn zuläßt. Diefe Erzählung 
mußte ein fehr verfchiedenes Intereſſe haben, je nad) der verfchies 
denen Anficht von Meffianität. Für Einige mochte gar nichts 
Befonderes darin liegen, Andern war es etwas fehr Bedeutendes. 
Bon der Speifung der Viertaufend hat man fehon oft die Mei— 
nung aufgeftellt, daß ed nur eine andere Nedaction von der erſten 
Speifungsgefchichte ift, die für eine ganz andere gehalten wurbe. 
Daher fteht fie in den zwei Evangelien neben jener, während 
weder Lucas noch Sohannes fie hat. 

‚Ganz allein hat Matthäus die Geſchichte von dem Sta 
ter?). Weil dies nun gerade eine Erzählung aus dem Haufe 
des Petrus ift, und man daraus fieht, daß Chriftus fich bei ihm 
aufzuhalten pflegte, fo kann es fonderbar fcheinen, daß fie nicht 
bei Marcus ift, wenn er aufichrieb, was er von Petrus hatte. 
Aber Petrus Eonnte nur foldhe Erzählungen hervorheben, die Be— 
zug. auf die dıdaosedla hatten, und davon bot diefe nicht viel; 
denn die Aeußerung über das Abgabenwefen ift hier lange nicht 
fo geeignet für die Belehrung über diefen Gegenftand, als die 
fpätere vom Binsgrofchen; fo daß fie Marcus gar nit vom 
Petrus hörte. Dagegen kann fie nachher im Kreife der Sünger 
erzählt und fo in’ den evangeliftifchen Vortrag gekommen fein. 

Lucas hat eigenthümlich die Erzählung von einem Befeffe 
nen, der in der Schule geheilt wurde?), woran Nichts wei— 
ter merkwürdig ift, als daß diefer Chriftum ven ayıog Tod Heov 
nennt; dann hat er allein die Auferweckung des Juͤng— 


1) Matth. 15, 21—31. und 32—39. Marc, 7, 24-31. und 8, 1-10. 
2) Matth. 17, 24—27. 
3) Luc. 4, 31-37. Marc. 1, 21-28. 


° 
Erzählungen, die theild Lucas theild Marcus allein hat. 271 


lings zu Nain!) und die Erzählung von der Sünderinn, 
die Chriftum beieinem Öaftmahl falbt?) Lucas hat 
die Salbung in Bethanien nicht, welche Die andern drei Evans 
gelien erzählen; man Fünnte alfo fragen, ob nicht das Gefchicht- 
liche von beiden Erzählungen daffelbe fei. Nun läßt es fich nicht 
gut denken, daß Chriftus in Bethanien und in fo genauer Bes 
Fanntfchaft mit feinen fpecielliten Freunden Anlaß gefunden hätte, 
über die Vernachläffigung, die ihm in dem Haufe widerfahren, 
zu Magen, wie wird bei Lucas finden. Iſt es alfo Diefelbe Ge— 
fhichte, fo müßte fie doch ſchon durd viele Hände gegangen 
fein; aber es kann auch eine andere fein. 

Es giebt auch ein paar Erzählungen, die Marcus allein bat, 
nemlich die Heilung eines vwpog woyılakog?), wahrfcheinlich 
eines Taubſtummen, und die eines Blinden in der Nähe 
von Bethfaida*. Diefe Erzählungen haben etwas Eigen- 
thuͤmliches, nemlid daß Chriftus fich bei beiden Heilungen auch 
gewifjer materieller Mittel bedient, aber allerdings folcher, bei 
denen man ſich feinen Gaufalzufammenhang mit der Heilung 
denken kann. Da ift es möglih, daß gerade deswegen die an- 
dern Evangeliften diefe al3 zu unbedeutend im Vergleich mit den 
andern Wundergefchichten, wo Ghriftus durch fein bloßes Wort 
heilte, wegließen. Man hat hieraus fließen wollen, daß Marcus 
eine gewiſſe Neigung habe, die Wunder Chrifti natürlich zu er— 
klaͤren; aber das ift doch gar nicht darin zu finden. Eben fo 
wenig läßt fich freilich denken, daß diefe Erzählungen aus denen 
feien, die Petrus zum Behuf feiner dıdaozarle mittheilte, denn 
dazu eignen fie ſich gar nicht. Aber es ift doch fehr natürlich, 
daß Jemand, der unabhängig eine Zufammenjtellung vorhandener 
Materialien macht, eine eigenthümliche Schäkung über den Werth 
der aufzunehmenden Stüde bat. 


1) Luc. 7, 1117. vergl. Schleierm. üb. d. Schr. d. kur. ©. 103. 
2) Luc. 7, 36—50. vergl. a. a. D. Seite 110 ff. 


272 Spätere Erzählungen, die Matthaus in die galil. Zeit febt. 


Wie es zugegangen ift, daß eine Erzählung wie die Auferwe— 
Fung des Sünglings zu Nain nicht in den andern Evangelien 
ift, das ift doch nicht ganz fo fehwer zu erklären, wie daß die 
Geſchichte des Lazarus allein bei Sohannes fteht. Einen Aufſchluß 
giebt, daß die Localitaͤt eine folhe ift, in der fonft Nichts vor- 
fommt. Die Evangeliften, die in Galiläa fammelten, wurden 
durch die localen Andeutungen in der apoftolifchen Zradition ge— 
leitet, Nain aber liegt außer dem gewöhnlichen Zuge und war 
gar nicht bekannt, und deshalb mochte dieſe Geſchichte wohl nicht 
fo verbreitet fein. 

Matthäus hat noch einige Sachen in diefem galitäifchen 
Gomplerus, die bei Lucas fpäter vorkommen und von der Art 
find, daß fie fich leichter auf einer Reiſe gefchehn denken laſſen. 
So die Erzählungen, wobei die Befhuldigung vorkommt, daß 
Chriſtus die Teufel durch Beelzebub austreibe ). Wo Chriftus 
Yänger war, hätten die Pharifaer gar nicht fo Etwas fagen koͤnnen, 
ohne fich felbft zu compromittiren. Ferner einige fo zu fagen 
epigrammatifche Converfationen Ehrifti mit Solchen, die fich erbo⸗ 
ten, ihm zu folgen?). Diefe waren gut an ihrer Stelle, wenn 
Chriſtus auf einer längeren Reife war. Ebenſo gehört hierher 
die Stelle, wie Chriftus feine Sünger vor dem Sauerfeige der 
Pharifaer warnt, was fie als einen Vorwurf verftanden, daß fie 
nicht genug mit Speife verfehn feien 3), was auch nicht fo denk— 
bar ift in Gegenden, wo GChriftus länger blieb. 

Das Nefultat, wenn wir bie Erzählungen aus der galildi- 
fchen Rocalität zufammennehmen, ift, daß fich offenbar das Ueber- 
einftimmende und Abweichende der verfchiedenen Evangelien guf 
erklärt, wenn wir nur von der Aufgabe einer Befchränkung der 
fchriftlichen Abfaffungen für den Gebrauch und von der verſchiede— 
nen Dignität, welche die einzelnen Erzählungen hatten, ausgehn. 


1) Matth. 9, 34. 12, 24 ff. vergl. Luc, 11, 15 ff. 
2) Matth. 8, 19—22. vergl. Luc. 9, 57—62. 
3) Matth. 16, 6—12. Marc, 8, 14—21. vergl, Luc. 12, 1. 


Der Neifeabichnitt. latüdin 273 


8.172, 

I. Die —* Hauptmaſſe, welche die zwiſchen Bali- 
läa und Serufalem liegenden Elemente enthält?), ‚hat 
einen von dem der vorigen fehr 'verfchiedenen Character. Der 
Umfang derfelben ift bei den drei Evangelien erftaunlich ungleich; fie 
umfaßt, wenn wir den Einzug in Serufalem abfondern, bei Mat: 
thaͤus zwei Capitel, bei Marcus eins, bei Lucas aber beinahe 
zehn. "Dabei find hier aͤ ußerft wenig. gemeinfchaftliche Puncte 
und nur eine ’gemeinfchaftlihe Combination, nemlich die“ der 
kurzen Erzählung von den zu Chrifto gebrachten Kindern mit Der 
Frage nachdem ewigen Leben, die Jemand an ihn. richtete 2). — 
Wir fehn, wie viel reicher, als die andern beiden, Lucas in dies 

ſem Abfchnitt iſt; allerdings Fommt "hier Manches: bei ihm vor, 
was Matthäus an einem andern Orte hat, namentlich viele gno— 
mifche Ausfprüche Chrifti, die an beftimmte Thatſachen angeknuͤpft 
find, während fie bei Matthäus ganz für fi ftehn. 

An jene Erzählungen, die alle Drei gemeinfchaftlich combinirt 
haben, fehließt fi bei Lucas die von einem Blinden bei Sericho. 
Da war der Uebergang über den Zordan auf dem Wege nad) Je— 
rufalem; Chriftus war alfo fehon nahe am Ziele feiner Reife. So 
muß eine Tradition auch wohl jene andern beiden Erzählungen 
ans Ende diefes Abfchnitts  geftellt haben. Daß aber nicht alle 
Drei aus einer Quelle ſchoͤpften, fehn wir daraus, Daß Lucas 
mit der Gefchichte des Blinden die des Zachaͤus verbindet, won'dem 
| Matthäus Nichts weiß. — Außer diefen Erzählungen hat nun 
Matthäus hier nur einige Reden Chrifti mit bloß dialogifcher Ver-⸗ 
| anlafjung ohne weitere Thatfachen. Nun ift offenbar, daß der Re— 
| dacteur unfers Matthäus, der die duidrakıg Avyiav aufnehmen 
wollte und nun noch die große Maffe von Reden Chrifti in Je— 
ruſalem vor fich hatte, mit der Einfchaltung von Thatfachen fehr 
ſparſam fein mußte, wenn er das Volumen nicht überfchreiten, 






1) Matth. 19 und 20. Marc, 10. Luc. 9, 51—19, 28. 
2) Matth. 19, 13—30. Marc. 10, 13—31. Luc. 18, 15—80. 


Einl. ins R. T. 18 


274 Eigenthümliche Erzählungen des Lucas aus dem Reiſeabſchnitt. 


wollte. Bei. Lucas tritt es ſehr merklich hervor, daß alle Bege— 
benbeiten sin dieſer Abtheilung in einer großen Unbeftimmtheit de3 
Ortes gehalten werden; da heißt e8 &u zono vırz oder &p ud 
Twy ovveywaywv oder dergleichen. , Andere Erzählungen fangen 
mit der ausdrüdlichen SEN an, daß — damals auf 
der Reiſe nach Jeruſalem war. 

So ſieht man deutlich, daß alles, ng nicht auf den gali⸗ 
laͤſchen Aufenthalt zuruͤckzufuͤhren iſt und nicht den Stempel des 
hieroſolymitaniſchen an ſich traͤgt, als auf der Reiſe geſchehen an— 
geſehn wird. Aber nicht Alles laͤßt ſich doch auf eine und dieſelbe 
Reiſe bringen, denn einmal heißt: es, Jeſus ſei durch Samaria 
nach Jeruſalem gereiſ't, Anderes aber iſt ſo, daß man ſieht, daß 
er den Weg durch Peraͤa nahm. Was Matthaͤus davon im ga— 
lilaͤſchen Abſchnitte hat, ſcheint allerdings mehr auf die Reiſe 
zu paſſen, wie es Lucas hat; Anderes dagegen kann doch in Ga— 
lilaͤa vorgefallen ſein, nur wußte man die Localitaͤt nicht genau. 
Die herrſchende Vorſtellung bei Lucas iſt aber, nn. auf der 
Reife nach Serufalem gefchehen: fei. | 

Es finden fich hier mehrere dem Lucas ganz bigenthümliche 
Erzählungen. . So. die Ausfendung der 70 Sünger!), die 
an den Vorſatz, nach Jeruſalem zu reifen, geknüpft wird. Da 
hat Lucas viele von den Vorfchriften, die Matthäus in der In— 
ſtruction der zwölf Apoftel hat. Man darf fich dies nur recht 
vergegenmwärtigen, um überzeugt zu werden, daß an eine apoflo= 
lifche Leitung bei diefen Zufammenftellungen gar nicht zu denken 
ift. Die andern Evangelien wiſſen von den: Giebenzig Nichts ; 
ihre Zahl ift eben fo merfwürdig, wie die der Zwölf, die fich auf 
die 12. Stämme. bezog. Siebenzig war die Zahl der Aelteften, 
welche Mofes einfeßte.. Die Notiz muß doch Lucas überfommen 
haben; es ift aber fehr möglich, daß Andere fich dies Factum ganz 
anders gedacht haben, mehr zufällig, oder zu einem befondern 
Behuf, 3. B. wenn eine Feftcaravane zu groß wurde, fo theilte 


1) Luc. 10, 1—24. 


Neifebericht bei’ Lucas. 275 


fie fih. Aber daß nun ſolche Anweifungen daran geknüpft find, 
die auf das. ganze Gefchäft. einer Verkündigung des Evangeliums 
für die Zukunft gerichtet find, das ſtimmt nicht mit einem folchen 
Factum. — Lucas hat hier ferner. eine: Erzählung, daß ein Pha— 
rifaer Chriftum zum Gaftmahl einladet, und dieſer die, üblichen 
Waſchungen vorher unterläßt, woran ſich Reden knuͤpfen . 
Dies paßt für eine Reife beſſer, als fuͤr einen conſtanten Aufent: 
halt; es iſt kein dsravon , fondern ein i@oıorov, Fruͤhmahl, nach 
welchem Chriftus die Reife fortfeben konnte. Da mochte er die 
Waſchung unterlaffen haben, weil er eben von feiner Srühherberge 
gekommen war. — Bom andern Erzählungen hingegen ift es nicht 
fo. klar, daß: fie ſich aufieine Neife beziehn, 3. B. daß die. Nach» 
richt gebracht wurde von Galildern, die Pilatus bei der: Opfe— 
rung hatte umbringen laffen ?). Dpfer.: durften nur in Serufa- 
lem gebracht werden; es mußte alſo dort bei einem Fefte ge— 
fchehn fein ; erzählt werden Fonnte es aber eben fo gut in: Galiläa, 
und nur wegen der unbeftimmten Localität wurde es hierher gefeßt. 
— Bei den 70 Süngern wird ihre Ausfendung unmittelbar mit, 
ihrer Ruͤckkehr in Verbindung gefeßt. Dazwiſchen muß aber doch 
Manches vorgefallen fein. Man fieht alſo, wie Lucas die ur- 
ſpruͤngliche — wo Beides et einander: ftand, 9. nz ſo 
gelaſſen hat; | 

Es würde nun nicht uhfeei Abſi ht ———— die Meinen 
Erzaͤhlungen bei Lucas alle durchzunehmen, ſondern es kommt 
nur darauf an, das Verhaͤltniß dieſes ganzen Abfchnikts zur An— 
Ihauung zu bringen. Nun hat man oft die Meinung aufgeftellt, 
daß diefer Abfchnitt bei Lucas, der in den beiden andern Evans 
gelien fehlt, urfprünglich eine befondere Schrift gemwefen fei, 
die Lucas feinem Evangelium einverleibt habe. Gewoͤhnlich hat 
man diefe eine Gnomologie genannt, aber mit Unrecht, denn es 
fommen mehr Dialoge und größere Parabeln vor, was man doc) 


1) Lue. 11, 37 — 532, 
2) Zur. 13,1—9. 


18* 


276 Reiſebericht bei Lucas. 


7. 
nicht gnomologifch nennen kann; außerdem: ift eine Menge von 
Erzählungen darin, wo das Thatſaͤchliche uͤberwiegend, iſt und die 
einzelnen Ausſpruͤche Chriſti nicht fo als die eigentliche Spitze her: 
vortreten. Aber wenn man das zuſammennimmt, was ich bisher 
daruͤber geſagt habe, und man will esſeinen Reiſeberich t nen— 
nen und ännchmen;, daß eine Menge won Thatſachen, weil ſie 
einen zwiſchen dem galilaͤiſchen und hieroſolymitaniſchen ſchweben— 
den Character haben, in dieſen Reiſebericht aufgenommen iſt: ſo 
wuͤrde ich Nichts dagegen einzuwenden haben y. De Wette 
aber proteſtirt gegen dieſe Meinung?) ,:mweil die Eigenthuͤmlichkeit 
des Schriftſtellers in dieſem Abſchnitte ganz dieſelbe ſei, wie in 
allen uͤbrigen. Aber das iſt gar nicht die Anſicht, daß er ſollte 
das Vorgefundene ſo roh aufgenommen haben, ohne an der Diction 
zu aͤndern, ſondern er muß es feinem Vorſatze gemäß (Luc. 1, 
14) überarbeitet ‚habe: «Wenn mar :wegen diefer Einheit der 
Schreibart dagegen proteftiren wollte, daß die einzelnen Erzählun: 
gen früher vorhanden gewefen, als die Zufammenftellung, fo wäre 
das doch ganz außer dem richtigen Verhältnig der Sache, Wenn 
nan von eigentlichen. Rhapſoden abjiehbt, die es doch immer nur 
mir Poeſie zu. thun hatten, fo wird Niemand ein Gelefenes oder 
Gehoͤrtes genau wiedererzählen, eben ſo ‚wenig, genau nieder⸗ 
ſchreiben; ſondern wenn er auch in Manchem genau und woͤrtlich 
folgt, beſonders wo Neben und Worte eines Andern erzaͤhlt wer: 
den, fo: wird: doch feine eigne Art mit hineinfommen, bald mehr 
bald weniger. So auch bei dem Schriftlichen, nur daß diefes 
eine etwas groͤßere Gewalt ausübt, als das Mündliche. Doch 
möge das frühere Sovorhandenfein unentfchieden bleiben; was ich 
eigentlich fagen wollte, ift nur diefes, es beziehe fich Altes fo fehr 


1) Vergl. Schleierm. üb... Schr. d. Luc. ©. 158—250. Darnach 
it von Luc. 9, 51. nicht bis c. 18, 14., ſondern bis c. 19, 48. a 
menzufafien. 

2>-Siehe De Wette Einl. $. 92. vergl. $. 86. not. a, und 6. 93 % 
not. b. 


Reiſebericht bei Lucas. mies 977 


auf die fortgehende ‚Reife, als ob es in biefer Beziehung zuſam— 
mengeftellt wäre. Daß eine folche Zufammenftellung: früher" zu 
Stande gekommen fei, ift an und für ſich nicht unwahrfcheintich: 
Denn die Leidendgefihichte wurde gewiß. bald als ein Ganzes vor: 
getragen; und ſo konnte man auch ruͤckwaͤrts gehend: das zuſam— 
menfaſſen, was der Herr in Jeruſalem vor: feiner: Gefangenneh: 
mung gethan. Das Naͤchſte war dann die Reife: Der Uebergang 
zur gaͤnzlichen Zuſammenſtellung wird dadurch deſto leichter. Aber 
freilich auch ohne dergleichen vorzufinden, ſondern wenn Lucas 
hier auch nur kleinere Erzaͤhlungsganze hatte ‚.. mündlichernoder 
fehriftliche (wie ich denn die leßtern überhaupt nicht angenommen, 
um die Evahgelien aus, der Differenz zu erklären, fondern nur 
als in der Natur der: Sache liegend): fo mußte er fih nach feiner 
vorfichtigern Weife alles, was weder galiläifch ausfah noch hie— 
rofolymitanifch fein Eonnte, in dieſe für ihn einzige Reife zuſam— 
"menftellen. Dieſes war eine Sache des Urtheils, da die Localität 
felten angegeben wurde (er fand nur Sericho vor bei dem Blin— 
den und bei Zachäus, daher ihm diefes ald Ende beftimmt war), 
und ich habe zu zeigen gefucht, daß Lucas dabei richtig verfuhr. 
Der Berfafler des Matthäusevangeliums war durch die dicrasıs 
auch in Bezug auf: die Begebenheiten ſchon genirt und ift eben 
deshalb, weil er doch fchon in allen drei Mafjen von Neden Nicht: 
gleichzeitiges verbunden fand, hierin weniger forgfältig. 


Mr — 73. jichaadst. 'sik 

Stellen wir uns alfo das Verhältniß der Ähnlichkeit und der 
Differenz unfrer Evangeliften fo vor, daß das, was fie gemeinz 
fhaftlih haben, folche Züge find, die überall in der evangelifti- 
fchen Überlieferung vorfommen mußten, ‚dagegen das, was jeder 
befonders hat, folche, die jeder nach feiner befondern Individualität 
ausmählte: fo bleibt uns doch noch ein fehr fchwieriger Punck zu 
betrachten übrig, nemlih daß wir bei Johannes noch andere 
Materialien haben, von denen man fragen muß, warum nicht auch 
fie in die drei verwandten Evangelien gekommen find. Sch gebe 


278 Fehlen johann. Erzählungen bei den Synoptifern. 


von Feiner andern Borausfegung aus, als daß unfer Evangelium 
wirklich ein Werk des Apoſtels Sohannes ift, auch nicht von ei: 
nem: Andern überarbeitet. Wir wollen diefe Frage in Beziehung 
auf: die beiden Hauptabfchnitte der drei Evangelien, die wir. bis 
ießt betrachtet haben, aufwerfen, da im letzten Abfchnitte eine 
größere Uebereinftimmung in der Natur der Sache liegt; und ich 
will zunaͤchſt die — zůge hervorheben, die Sebannes 
in hat. | 

Zuerſt fehlt bei den aggregirenden‘ Eiangelien alles, was bei 
—— von der erſten Bekanntſchaft einiger Apoſtel 
mit Chriſto erzählt wird 1), alſo von dem erſten Anfange der 
Süngerfchaft, angefnüpft an das Zeugniß Sohannes des Zäufers. 
Eben fo: merkwürdig ift das Fehlen des erften Wunders, das 
Chriſtus auf der Hochzeit zu Sana verrichtete, und welches 
Sohannes mit einem gewiffen Accent ald den Anfang der Wunder 
Chriſti erzählt 2). Dies würde viel fchwerer zu erklären fein, wenn 
wir uns eine apoflolifche Leitung der evangeliftifchen Ueberlieferung 
dachten, denn daran würde auch Sohannes. Theil: genommen ha= 
ben. Gehn wir aber von unfrer urfprünglichen Vorausſetzung aus, 
daß unfre drei aggregirenden Evangelien aus der Mafle der evan— 
geliftifchen Erzählungen hervorgingen, bie fi) an das apoftolifche 
xrovyneo als einzelne Belege anfchlofjen: fo ift natürlich, daß für 
folhe Unterftüßung der Lehre durch Erzählung jene Anfänge des 
Apoftelthbums Feine Bedeutung hatten und daher wohl nicht in 
die Weberlieferung kamen, zumal da das beftändige Bufammenfein 
der Zünger mit Chrifto damals noch nicht angefangen 3). Daffelbe 
gilt von dem Wunder zu Cana. Chriftus ging von feiner Taufe, 
nachdem er ſich nur wenige Tage aufgehalten, nach Cana, wohin 
er mit feinen Süngern eingeladen. war. Aber wir miffen nicht, 
ob alle Sünger mit auf dem Feft waren, oder nur ‘einige. Es 

Ä \ 
1) 30h. 1, 35 — 52. 
2) So. 2, 1-11. 
3) Siehe oben ©. 268. 


Reinigung des Tempels. 279 


mochten von den Zwoͤlf nur wenige dabei ſein; außerdem war 
aus dieſer Erzaͤhlung kein andrer Lehrſtoff zu ziehn, als der, daß 
Chriſtus in Beziehung auf geſellige Vergnuͤgungen kein Rigoriſt 
und Pedant geweſen ſei. Aber dies ging ſchon aus der Art her— 
vor, wie er ſich Johannes dem Taͤufer gegenüberftellte 1), alſo 
wäre die Erzählung von dieſer Seite ein uͤberfluͤſſiges Material 
gewefen. Aber fie. war wahrjcheinlic wenig bekannt, und der 
Nachdruck, den Sohannes darauf legt, es fei das erfte Wunder, 
fcheint eben darauf zu deuten, daß es noch nicht genug bekannt 
war. Außerdem war Cana ein Ort, wo Chriſtus ſich nicht oft 
und lange aufhielt; daher mochten diejenigen, die nachher evan— 
gelifche Nachrichten fuchten, nicht erwarten, von dorther Jahre zu 
bekommen. 

Darauf erzaͤhlt Johannes von ber erſten Feftreife Shrifi 
Wenn die andern ‚drei Evangelien nur. von einem. Aufenthalte 
Chrifti in Serufalem wiffen, fo folgt daraus nicht, daß fie hiero- 
folymitanifche Begebenheiten aus einem’ fruͤhern Aufenthalte nicht 
erzählen fünnten. Nun berichtet Sohannes gleich bei dem -erften 
Aufenthalte Chrifti dafelbft eine folhe Reinigung des Tem— 
pels 2), wie die andern Evangelien in Verbindung mit dem 
legten haben. Viele haben hierbei gemeint, es fei dies ein Ge— 
dachtnißfehler des Sohannes, was mir aber durchaus unwahr: 
fcheinlich if, da er einen zu Elaren Ueberblid über die Haupfmo- 
mente des gefchichtlichen Verlauf hat. Man braucht fich nur die 
Sache vorzuftellen, wie fie wirklih war, um vorauszufeßen, daß 
Chriſtus, fo oft er in Serufalem war, jedesmal etwas Aehnliches 
thun mußte. In der Nähe des Tempels mußten nothwendig 
Geldwechäler fein wegen der Tempelmünze, ebenfo Händler mit 
Opferthieren. Sie follten nur eigentlich außerhalb des Tempels 
fein; allein fie Famen aud in die außern Vorhoͤfe und bei großem 
Gedränge in die Nähe der Hallen, in denen Ehriftus fowohl, wie 


1) Matt. 11, 18. 19. 
2) Joh. 2, 13— 22. 


280 Heilung am Teich Bethesda. 


die Phaͤriſaͤer, lehrte. Und da war natuͤrlich, daß eine gewiſſe 
Gewalt: angewendet wurde, dieſe Leute von da wegzutreiben, 
wo fie Fein Recht hatten zu fein. Aber es ift wohl fehr zu er: 
warten, daß fie immer, wieder Famen. Da ſich nun die hierauf 
bezüglichen -fpatern Handlungen: Chriſti gar nicht: fehr von den 
fruͤhern unterfchieden, fo war natürlich, daß fie von jedem Evan— 
geliften nur einmal erzählt wurden: Bei Sohannes' erfcheint die 
That noch ftärfer, weil Chriftus bamais noch nicht die Auctoritaͤt, 
wie nachher, hatte, | 

Die Erzählung von der Heilung am Teiche Bethesdan 
ebenfalls in Jeruſalem bot für die didaoxerla Nichts dar, als 
daß fie am Sabbath gefchehn war. Dergleichen hatten aber die 
andern Evangeliften fchon genug aus dem galiläifchen Aufenthalte, - 
und es war natürlich, daß fie in ihren letzten Abfchnitt nur das 
aufnahmen, was eine beflimmte Beziehung auf den Verlauf der 
letzten Begebenheiten hatte, und um fo weniger nach folchen Ma= _ 
terialien fragten, wovon fie Analoges fchon früher hatten. Johan— 
nes aber erzählt es um der Reden willen, die ſich daran Enüpften, 
und wegen der Verhältniffe, die fich daraus entwidelten. Hätten 
diefe Erzählungen in der evangeliftifchen Ueberlieferung fich mit der 
Zeitbeftimmung erhalten, fo würde die VBorausfegung von einem 
nur einmaligen Aufenthalt Chrifti in Serufalem nicht haben ent- 
fiehn Tonnen; man fieht aber daraus, daß Zeitbeftimmungen bei 
ber Ueberlieferung gar nicht genannt wurden, was auch in der 
Natur der Sache liegt. So mochten die drei Evangeliften viele 
Züge aus frühern Reiſen Chrifti nach Serufalem Eennen, aber 
ohne Zeitbeſtimmung, und ſo konnten ſie gar nicht auf den Ge— 
danken kommen, daß er öfter dort geweſen fei. 

Die Heilung des Blindgeborenen?) in Jeruſalem in 
ein an fich merfwürdiges Factum. Aus der Art, wie die Sache 
von Johannes erzählt wird, fieht man, daß es eine allgemeine 
Vorſtellung geweſen, daß fih angeborene Blindheit auf Feine 


Heilung des Blindgeborenen. 281 


Weiſe heilen laſſe. Wenn alſo die drei Evangeliſten die Wahl 
zwiſchen mehreren Blindenheilungen gehabt haͤtten, ſo wuͤrde 
das, daß die eine die eines Blindgeborenen geweſen, ein Motiv 
fuͤr ſie gegeben haben, dieſe hervorzuheben. Aber ſie mußten ſie 
doch in den letzten Aufenthalt Chriſti in Jeruſalem ſetzen, und 
da hatten fie eben erſt die: Blindenheilung in Jericho gehabt, 
und es mußte als eine Miederholung erfcheinen, da der Unter: 
fhied. doch zu gering war. So ift es alfo wohl moͤglich, daß 
diefe Erzählung in der evangeliftifchen Ueberlieferung wohl gewe— 
fen ift, aber nicht aufgenommen wurde wegen der Stelle, an die 
man fie nothwendig bringen mußte.  Diefe Erklärung hat aller= 
dings nur Bedeutung, wenn man fi denkt, daß die Erzählung 
von dem Blinden zu Sericho nicht eine ganz vereinzelte war; denn 
man batte dann Feine reine Auswahl, wenn man den größern 
Zufammenhang, worin jene Erzählung vorkam, nicht zerftören 
wollte, Uebrigens bleibt immer ungewiß, ob: die von dem Blind- 
geborenen in die Leberlieferung überhaupt gekommen ift, denn die 
Feftzeit in Serufalem war fo unruhig und. überfüllt, daß ein Bild 
durch das andere verdrängt, und ſolche vereinzelte Erzählungsftoffe 
weniger gefammelt wurden. | 

Aehnlich ift es mit der Erzählung von der Samaritanes 
rinn!) und mit dem Zeugniß von Ehrifto, das Johannes der 
Täufer gegen feine Sünger ablegte, als fich diefe über das Juͤn— 
germachen Chriſti befchwerten 2), Letzteres gefchah in einer Ge: 
gend in Zudäa, wo Sohannes taufte und die Juͤnger Chrifti 
ebenfalls, von der aber die andern Evangeliften nicht erwähnen, 
daß Sefus dagewefen fei. Dies war alfo gar Fein Ort für die 
gewöhnliche Genefis des evangeliftifchen Materials, und da ein 
Zeugniß des Iohannes für Chriftum ſchon vorhanden war, fo 
kam es entweder nicht in die Ueberlieferung, oder, wenn es darin 
war, Doch nicht in die Evangelien. Ueberall fieht man, wie Jo— 
hannes andere Geſichtspuncte hatte, als diejenigen, weldhe aus 


1) Joh. 4, 422. 2) 30h. 3, 22-36. 


* 


282 Auferweckung des Lazarus, 


der evangeliftifchen Weberlieferung zufammenftellten. Die Gefchichte 
von der Samariterinn hat allerdings viel Merkwuͤrdiges wegen 
der Aeußerungen Chrifti. in jenem Gefprache. Fragen wir aber, 
wie Johannes zur Kenntniß derfelben gekommen ift, fo wird er— 
zählt, daß die Jünger Chriftum am Brunnen mit der Frau‘ ges 
froffen, aber gar nicht weiter gefragt hätten; dann ging. Ehriftus 
mit ihnen indie Stadt, wo er zwei Tage lang lehrte; darüber 
fümmerten fich die Sünger um die Unterredung mit der Frau nicht 
weiter. Johannes aber ftand mit Chrifto in befonders engem 
Berhältniffe und erhielt von ihm manche vertrauliche Mittheilung ; 
fo mag alfo auch diefe Unterredung ihm allein mitgetheilt fein; 
aber falls auch alle. Sünger fie erfahren hatten, fo. konnte fie 
doch nicht in den evangeliftifchen Vortrag kommen, weil fich ein 
folcher Dialog gar nicht fo leicht dem Gedächtniß einprägt. 

Das Allerfchwierigfte iſt nun aber, daß die Gefchichte von der 
Auferwedung des Lazarus?) gar nicht in die andern Evan: 
gelien gekommen ifl. Die Erwedung des Sünglings von Nain 
ift nur bei Lucas; die Erzählung aber von der Tochter des Jai— 
rus konnte nicht veranlaffen, die von Lazarus auszufchließen, weil 
fie von ganz anderer Art ift, da Sefus felbft fagt, fie fei nicht 
todt; auch ift die Erwedung vom Tode ein Wunder, was in gar 
fein Berhältnig mit andern zu ftellen ift. Nun war: aber die 
Erzählung von Lazarus nad) Sohannes ganz ftadtfundig in Je⸗ 
ruſalem, ſie kann alſo nicht fruͤh verſchollen ſein. Auch legt Jo— 
hannes einen großen Accent deshalb darauf, weil ſie ein vorzuͤg— 
liches Motiv der Gegenparthei geweſen, die Maaßregeln gegen 
Chriſtus zu beſchleunigen. Aus allen dieſen Gruͤnden muß man 
ſich ſehr wundern, daß gar Nichts davon in den drei Evangelien 
vorkommt. Der Schluͤſſel dazu iſt aber auch Etwas, woruͤber 
man ſich nur noch mehr wundern müßte, nemlich daß die drei 
Evangelien das engere Verhaͤltniß Chrifti zu der Familie des La— 
zarus ignoriren. Man kann gar nicht zweifeln, daß Chrifius 


1) Joh. 11, 1—44. 


Auferweckung des Lazarus. \ 283 


diefelbe fhon länger Fannte und gewöhnlich bei derfelben in’ Be— 
thaniem wohnte, wenn er zum Feft nach Serufalem Fam. Daß 
nun die drei Evangelien Nichts davon wiffen, ift fo merkwürdig, 
daß ich glaube, es iſt fein Drittes möglich: entweder man: muß 
das Evangelium Johannis für ein ſpaͤteres Machwerk halten, 
oder man muß fich überzeugen, daß die andern drei:nicht unmit— 
telbar apoftolifchen Urfprungs find. - Sch kann keinen Augenblick 
fchwanfen, mich für das Letztere zu entfcheiden, denn das 
Evangelium: des Sohannes trägt fo unverfennbare Spuren: der 
Aechtheit und athmet fo fehr auf jedem Blatt den Augenzeugen 
un: dperfönlichen Theilnehmer, daß man fehr von Vorurtheilen 
eingenommen fein muß und aus der natürlichen Richtung bins 
ausgefchoben, um an. der Aechtheit zu zweifeln.  Bedenft man 
dagegen, wie ſich die Nachrichten vom apoftolifchen Urfprung des 
Matthäus: und Marcusevangeliums verhalten, wie dad des Lucas 
gar Feine Anfprüche darauf macht, und die andern fich nicht fehr 
von demfelben unterfcheiden; und ftellt man fich vor, daß man 
fich das Erzählen bei den Apofteln nur als fehr untergeordnet denken 
muß: fo erklärt fich die Sache daraus fehr leicht. In der Bes 
ziehung auf die dudaozadia hatte die Gefchichte des Lazarus kei— 
nen großen Werth; für Sohannes aber hatte fie einen: foldyen 
wegen des Zuſammenhangs mit andern Begebenheiten. Wenn 
man aber fagt: in diefer Gefchichte offenbarte ſich doch gerade das 
Göttliche in Chrifto und feine Wunderkraft am höchften: fo muß 
man erwiedern, "daß es gar nicht die Hauptrichtung der: Apoftel 
gewefen iſt, aus den Wundern das Göttliche in Chrifto zu erweis 
fen. Wenn alfo die verfchiedenen erften Quellen der evangeliftis 
ſchen Ueberlieferung nun auf diefen Zufammenhang nit gekom— 
men find, fo muß dies auch einen Grund haben, da diefe Familie 
fo nahe bei Serufalem wohnte, und es doch fo viele hierofolymis 
tanifche Erzählungen in unfern Evangelien giebt. Es muß der 
Anfang der eigentlih abfichtlichen evangeliſtiſchen Thaͤtigkeit zu 
einer Zeit oder unter folchen Umftänden gewefen fein, daß darüber 
außerhalb des apoftolifchen Kreifes keine Nachrichten mehr zu ha— 


24 ı Erweckung des Lazarus. 


ben waren. Man erklaͤrt die Auslaſſung gewoͤhnlich dadurch, daß 
Johannes andeutet, man habe dem Lazarus von Jeruſalem aus 
nachgeſtellt ), und daß die Apoſtel deshalb jene Erzählung unter— 
drüdt hätten, um ihm und feiner Familie nicht neue: Verfolgun— 
gen zu verurfachen. Diefe Entfehuldigung bedarf Feiner: ernfihaften 
Widerlegung; bei der mündlichen Erzählung, welche doch das Erfte 
war, und bie in der chriſtlichen Gemeinde blieb, war eine folcye 
Ruͤckſicht überflüffig. ; Eher möchte ich eine entgegengefeßte Hypo: 
tbefe aufftellen, nemlich daß jene Familie bald aus irgend: einem 
Grunde nicht mehr dort war, vielleicht eben um fich den Berfol- 
gungen zu entziehn. Wenn man denkt, daß feine Perfon aus 
dem unmittelbaren Kreife diefer Gefchichte eine Quelle der evan- 
geliftifchen Ueberlieferung geworden ift, fo kann man fich die Sache 
wohl erklären. : Dies fcheint aus unfern drei Evangelien hervor: 
zugehn. Lucas erzählt. in der erſten Hauptmaffe eine foldhe Sal- 
bung Chrifti, wie fie bei dem Mahl in Bethanien vorkommt 2); 
da iſt ftreitig, ob dies nicht dieſelbe Gefchichte fein: Fan. : Lucas 
erzählt nachher in dem außergaliläifchen Abfchnitte auf der Reife 
nach Serufalem 3) die befannte Gefhichte von den zwei Schwer 
ftern, die Chriſtum bewirtheten; da kommen biefelben Namen, 
Maria und Martha, vor, aber von einem: beftandigen genauern 
Berhältniß zu Chrifto und von einem Bruder derfelben iſt dabei 
nicht die Rede. Bei Matthäus ftehn in der Erzählung von dem 
Gaſtmahl in Bethanien *) die beiden Schweftern ganz im Schatten, 
und der Bruder Fommt gar nicht vor. Da kann man alſo nur 
Schließen, daß das ganze Verhältniß nicht als Erzählungsftoff in 
die Glaffe gefommen iſt, in welcher fich Die evangeliftifche Ueber⸗ 
lieferung am meiſten gebildet hat. 


$. 74. 
II. Wenn wir nun den dritten Abfhnitt vom Ein: 


1) 50. 12, 9-11. 2) 30h. 12,1—8. vergl. Luc. 7, 36—50. 
3) Zur, 10, 33—42. 4) Matth. 26, 6-13. Mare. 14, 3—9. 


Hierofolymitanifcher Abſchnitt. 985 


zuge Chriftiin Jeruſalem bis zu feinem Tode be 
trachten, indem wir Die Auferfiehung als einen vierten fondern, 
fo fheilt er fih am natürlichften wieder in: zwei. Hälften, deren 
erftere Das enthält, was als freie Wirkſamkeit Chrifti in 
und bei Serufalem erzählt wird, während die letztere das 
gerichtliche - Verfahren. gegen: ihn, bie a — 
ſch ichte, umfaßt. nr 

4) Auch in der erften Hälfte, wo eine Menge von Zuͤgen 
freier Öffentlicher Wirkſamkeit Ehrifti und längere Neben vorfom: 
men ‚.ift doch fehon eine weit größere Webereinftimmung: in Stoff 
und: Anordnung, als in den vorigen Abfchnitten. "Dies im Allges 
meinen zugegeben, fo fragt’ fih, ob daraus etwa ein Beweis zu 
führen fei, daß die Evangeliften ſich unter einander benußt, oder 
daß der Anordnung eine’gemeinfchaftlihe Divection zum Grunde 
gelegen habe. Die erfte Hypothefe Fann nur in Bezug auf Die 
Bücher, wie fie jest find, vorgetragen werden, und ba ift Elar, 
daß jie gar keine angemeffene Erklärung liefert, denn man kann 
immer wieder fragen: warum hat denn der fpatere Eoungelift 
den frühern nicht auch in den vorigen Abfchnitten benußt? Und 
die zweite Hypotheſe ließe fih auch aus demfelben Grunde nicht 
über die ganzen Bücher ausdehnen, fondern fie wäre nur annehm- 
bar, wenn man vorausfeßte, daß diefe Mafje von Begebenheiten 
in Serufalem für ſich als Ganzes vorgetragen wäre, Unter die- 
fer Vorausfegung würde auch die erfte Hypothefe gelten, aber 
dann find die Verfaffer, welche fich unter einander benußt haben, 
nur die Verfaffer diefes einzelnen Ganzen. Aber dies paßt nicht 
zu dem, was wir aus dem Zeugniffe des Papias annehmen müf: 
fen, denn es Fommen hier Neden vor, die’ gewiß eben fo, mie 
die früheren, in der erften ovyyoapr des Apoftels Matthäus ge— 
wefen find. Man Fünnte freilich annehmen, der Berfaffer unfers 
Matthäusevangeliums habe in Beziehung auf die legten Geſchichten 
eine ‚folche Graganzung, wie er bei den früheren zu der ovy- 
yoapy des Apoftels machte, ſchon vorgefunden und fie feinem 
Buche beigefügt. Dann müßte aber eine Differenz der Sprache 


\ 


286 Größere Uebereinftimmung der 3 Evv.; in diefem Theile, 


und Behandlung: fich zeigen, welche wir nicht bemerken.) Es ift 
aber noch eine andere Anficht der Sache möglich. Das muß 
nemlich Jedem einleuchten, daß die Leidensgefchichte ein wefent: 
liches Stüd in der evangeliftifhen Thätigkeit war, ganz beſonders 
in Bezug auf den Ausspruch des Paulus „ daß das Kreuz Chrifti 
den Einen eine Shorheit, den Andern ein Ärgerniß ſei. Sm Ge: 
genfab davon mußte die Betrachtung diefer Geſchichte, wo die 
Schuldloſigkeit Ehrifti und feine ſittliche Groͤße, ſchon bloß menſch— 
lich angeſehn, ſo hervorleuchtet, vorzuͤglich hervorgehoben, und das 
Ganze in feinem Zuſammenhange vorgetragen werden. In der 
naͤchſten Verwandtſchaft zu dieſer Geſchichte ſtehn aber offenbar 
die letzten Reden und Thaten Chriſti in Jeruſalem. Wenngleich 
in. den drei erſten Evangelien uͤberall feine fo beſtimmte pragma— 
tifche Tendenz ift, wie bei Sohannes, und eine Menge von Uns 
vollfommenheiten diefer Evangelien daraus zu begreifen iſt: fo ift 
doch offenbar, daß, in diefem Abfchnitte Spuren einer folchen pra— 
gmatifchen Tendenz zu finden find; was auch in der Natur der 
Sache liegt. Nach Sohannes waren vom Synedrium Befchlüffe 
gegen Chriftum gefaßt, eheer nach Serufalem Fam, und er hatte 
Notiz davon. Es mußte alſo in. diefer Zeit viel gefchehn, was 
nur in den Abfichten gegen ihn feinen Grund hatte; man mußte 
ihm allerlei Schlingen legen. Ebenfo mußte Chriftus fo reden 
und handeln, wie e5 feine Kenntniß von feiner Lage mit fic) 
brachte. Da mußte das Einzelne ſich fo verhalten, daß. diefer 
fahlihe Zufammenhang auch in einer einfachen Zufammenftellung 
doch hervorfreten mußte. Wenn wir ‚die einzelnen Elemente, 
aus denen. diefer Abſchnitt zufammengefest iſt, von dieſer Anficht 
aus betrachten, wornach fich die Zufammenftellung bei Allen wohl 
gleichförmig bilden Fonnte: fo finden wir doch im Einzelnen im— 
mer fo viel Differenzen, daß gar nicht nothwendig ift, ein Wiſſen 
der einen Darftellung von der andern ‚oder eine gemeinfchaftliche 
Direetion der Anordnung anzunehmen. 

Der erfte Eintritt Chrifti in Serufalem), der mit 

1) Matth. 21, 1-16, Marc. 11, 1-18. Zur. 19, 29—48, 


* 


Einzug Chriſti in Jeruſalem. Feigenbaum. 287 


ſo großen Zeichen der Anerkennung von Seiten des Volks ver⸗ 
bunden war, bildete ein Moment, das Keiner übergehn konnte 
eben in dem Vorausſehn auf die Leidensgeſchichte, wie das Volk 
Chriſto fo abtrünnig wurde. Daß nun Jeder, wenn er die Ges 
fhichten auch nur. einzeln hatte, fich denken mußte, daß eine offiei= 
elle Anfrage der geiftlihen Auctoritätnadh feiner Vollmacht!) 
in Verbindung mit feinem Eintritt:gefchehn fei, iſt auch fehr natürlich. 
Wenn man alfo diefe beiden Puncte, den. Einzug Chriſti und bie 
Deputation des Synedriums an ihn, zuſammendenkt, ſo iſt ſchon 
in der Erzählung des Lucas ein eigenthümlicher Zug mit einges 
‚mifcht, nemlich daß Chriftus in fichrer Ahnung über das Geſchick 
der Stadt in Thraͤnen ausbricht 2). Dies fehlt:in den andern Evans 
gelien, und wenn man das des Matthäus überwiegend. als ein 
paläftinenfifches anfieht, formuß dies um fo mehr auffallen; man 
muß alfo verſchiedene urfprüngliche Quellen sannehmen. Mat— 
thaus fehiebt hier die Erzählung von dem Feigenbaum?) 
ein, und noch unmittelbarer bringt Marcus diefe in Verbindung 
damit, indem er die ganze Erzählung von der Lempelreinigung 
in die vom Feigenbaum zwifcheneinfügt. Da fieht man doc, daß 
diefe Erzählung auch als Einzelnheit urfpränglich ſchon verjchieden 
gewefen ift.— Nun war es fehr natürlich, daß die Neben Ehrifti, 
die fich auf den. gegen ihn gefaßten Beſchluß beziehn theild wars 
nend theils prophetifch, fich auch hier anfchließen mußten; dahin 
gehört die Parabel von dem im Weinberge ermordeten Sohne des 
Eigenthümerd. Im Matthäus fteht vor derfelben die Parabel von 
den beiden Söhnen, von denen der eine des Vaters Willen thut, 
der andere nicht. Davon haben Lucas und Marcus Nichts; 
alfo ift auch hier eine Differenz. 

Eine zweite Hauptmaffe gleichfam bilden die abfichtlih an 
Chriftum gerichteten Fragen, die ihm zu Fallſtricken gereichen follten. 


1) Matth. 21, 23—46. Marc. 11, 27—12, 12. Luc. 20, 1-19. 
2) Luc. 19, 44—44, 
3) Matth, 21, 17—22. Mare. 11, 11—14. und 19—26. 


» 
288 Reden Chrifti in Zerufalem, 


Die bedeutendfte ift-die über den Zins H, die fehr verfänglich 
geftellt war, ihn entweder mit den Nömern zu compromittiren, 
oder dem Volk alle Gedanken zu nehmen, auf ihn ald den Mef- 
ſias zu hoffen, Daß nun daramdie Frage der Sadducäer?) - 
fich knuͤpft, Die eigentlich eine bloß theoretifche war und’ auf jene 
gar Feinen Bezug: hatte, ergiebt ſich offenbar als ein Zuſammen— 
hang, der in der Zeit ‚gelegen hat. Die Parthei, welche am ſtaͤrk— 
ften gegen Chriſtus war, bildeten die Phariſaͤer; die Sadducaͤer 
waren überhaupt "weniger auf ſeinem Wege, ſie hatten wenig 
Einfluß auf das Volk und hatten auch ganz ändere’ politifche An— 
fichten, als die Pharifäer. Als aber Chriſtus ſich hierin beſtimmt 
antiphariſaͤiſch erklaͤrt hatte, und da die Sadducaͤer doch im In— 
tereſſe des Synedriums waren, deſſen damalige Haͤupter Sad— 
ducaͤer waren: ſo war natuͤrlich, daß ſie auch Etwas ihrerſeits 
thaten, um Chriſtus in eine theoretiſche Verlegenheit zu bringen. 
Denkt man fih den Gegenfaß zwiſchen Pharifaern und Saddu— 
caͤern als eine allgemein befannte Thatfache, fo war es aud) 
natürlich, daß diefe beiden Verſuche unmittelbar verbunden wurden. 
So iſt alſo diefe Verbindung in der Natur der Sache begründet, 
und gar Feine befondere Erklärung dafür nöthig, fondern es ift das 
gewiß auch einzeln fchon zufammen erzählt. Man Fann den alle 
gemeinen Satz, daß, wenn Zwei daffelbe Thema’ behandeln, es 
Puncte giebt, die fie immer gleich ‘haben müffen, auch auf die 
Anordnung anwenden. Wenn die drei aggregirenden Evangelien 
auch Feine folche pragmatifche Tendenz haben, wie Sohannes, fo 
lag doch ſchon in der Entwidlung der Cataſtrophe felbit für den 
Gang der Verhandlungen eine natürliche Ordnung, die fih nicht 
verflüffigen ließ. — Die pofitive Polemik Chrifti gegen die Schrift: 
gelehrten überhaupt, welche die meflianifchen Ideen anerkannten, 
iſt das, was ihm auch die Feindfchaft der Sadducaͤer erregte. 
Shriftus legt ihnen die Frage vor, wie fich das vereinige, Daß 


1) Matth. 22, 15-22. Marc. 12, 13—17. Luc. 20, 20-26 
2) Matth. 22, 23-33, Marc. 12, 18-27, Luc. 20, 2740. 


Reden Chriſti in Jeruſalem. < 289 


der Meflias ‚der Sohn Davids fei, und David ihn feinen 
Herren nenne). Es konnte nun nicht fehlen, daß die erfte ovy- 
yoaypn des Apoftels Matthäus nicht auch follte zufammenhängende 
Reden Chrifti gegen Pharifaer und Schriftgelehrte überhaupt ent— 
halten haben. Nun finden wir folche auch in unferm Matthäus: 
evangelium 2), und da war es wohl fehr natürlich, daß der Ber: 
faffer deffelben jene Frage Chrifti, worauf die Pharifaer Nichts 
zu antworten wußten, vor diefe antipharifäifchen Reden ftellte. 
Bei Lucas findet fih nun dies nicht fo, fondern er hat dergleichen 
Reden an andern Stellen. ! 

Nun war ein anderer Punct, der mit einer gewiffen Accentua- 
tion erzahlt wurde und Allen fehr merkwürdig fein mußte, das 
legte Hinausgehn Chrifti aus dem Tempel; dies 
wurde noch ftärker bezeichnet durch die dabei geführten Ge— 
ſpraͤche. Da folgen feine beftimmten Weiffagungen über die Zer— 
fiörung des Tempels und die damit verbundenen Warnungen 3). 
Dies ift ein Punct, der nirgends fehlen oder in feinem Zuſam— 
menhange getrennt werden Eonnte. Bleiben wir num hierbei ftehn, 
fo fehn wir, wie neben diefem feften Puncte überall in jedem Evan- 
gelium mehr oder weniger Einzelnheiten erfcheinen, die den andern 
fehlen, wo man alfo doch wieder die Freiheit und Eigenthümlich- 
feit eines jeden erkennen Fann. So hat Lucas dort, ehe Ehriftus 
den Tempel verließ, den Eleinen Zug von dem Dpfer der 
Wittwet) Das kann fehr leicht aus einer ganz andern Zeit 
fein; wer dies einzeln ohne Zeitbefiimmung überfam, aber von 
der Vorftelung ausging, daß Chriftus während feines öffentlichen 
Lebens nur einmal in Serufalem gewefen, konnte e5 an feine an— 
dere Stelle ſetzen. — Daß nun bei Matthäus noch eine Menge 
Reden hier gehäuft wird, ift natürlih. Alles, was von Weiſſa⸗ 
gungen Chriſti zu finden war, und was in der avyyoagyn des 


I) Matth. 22, 41—46. Marc. 12,.35—37. Luc. 20, 41—44, 
2) Matth. 23, 1—37, vergl. Luc, 11, 39—52. 

3) Matth. 24, 1—36. Marc. 13. Luc. 21, 5—36, 

4) Luc. 21, 1—4. Mare, 12, 44—44. 


Eint. ins N. T. 19 


\ 


290 Leetzte Begebenheiten vor der Gefangennehmung Chrifti. 


Apoftels zulegt ftand, mußte hier angefnüpft werden. Daher find 
bier die Gleichniffe von den zehn Sungfrauen, von den an- 
dertrauten Pfunden, und alles, was von der Wieder- 
kunft Chrifti handelt). — In der Redaction der letzten Re— 
den Chrifti ift eine große Uebereinftimmung, weil diefe fehr feharf 
ins Gedächtniß gefaßt wurden. 

Es folgt das letzte Stadium der freien Wirkſamkeit Chrifti, 
woran fih ſchon die Vorbereitungen zu feiner Gefangennehmung 
fnüpfen2). Da ift ein Punct, der nicht bei allen drei Evange- 
lien identifch ift: bei Matthäus und Marcus folgt der Berrath 
des Sudas auf das Gaftmahl in Bethanien und die Salbung 
Chriſti dafelbft, Lucas aber übergeht diefes Mahl. Dies hat feinen 
Grund gewiß nur in der Aehnlichkeit mit dem, was er früher von 
der Sünderinn erzählt hatte, die Chriftum bei einem Mahle, wozu ihn 
ein gewifler Simon eingeladen hatte, falbte 5). Bei der Art, wie 
Lucas fein Evangelium verfaßte, ift kaum zu glauben, daß ihm 
nicht follten Erzählungen vorgefommen fein, wo die Verbindung 
zwifchen dem Mahl in Bethanien und dem Berrath des Sudas 
gemacht war. Man muß fich feine Abfaffung aber gar nicht 
fo denken, daß ihm das ganze Material gleich vom Anfange im 
Gedächtniß gegenwärtig war; da ann e$ leicht fein, daß er die 
erfte Erzählung in den Anfang feines Evangeliums ftellte, ohne 
‚fie genau mit der andern zu vergleichen, der er die Stelle in dem 
legten heil gab; und da war es natürlich, daß, da er feinen 
Gaufalzufammenhang fah, er das Bethanifhe Mahl nicht noch 
einmal wiederholen wollte. Wenn man fich denkt, daß Lucas 
den Matthäus benußt hätte, fo würde dies nicht fo leicht zu er= 
klaͤren fein. 

Hierauf mußte der Natur der Sache nad) die Erwähnung 
des Dfterfeftes folgen, und hier reihen fich die Begebenheiten auf 


1) Matth. 24, 37—25, 46. vergl. Luc, 17, 26.27, 30. und Luc, 19, 12—27. 
2) Matth. 26, 1—46. Marc, 14, 1-42. Luc. 22, 1—46, 
3) Luc, 7, 36-50, 


Die Leidensgefchichte, 291 


eine faft unvermeidliche Weife fo an einander, daß die Beftellung 
der Oftermahlzeit, die Einfeßung des Abendmahls, die im Ge— 
fpräche gegebene Andeutung von der Verläugnung des "Petrus, 
das Hinausgehn aus der Stadt, das Nehmen des Nachtquartiers 
im Garten am Delberg fo fehr eine zufammenhängende Erzählung 
ausmachen, wie Ffaum die Leidensgefchichte felbf. ES war "ein 
einziges Zuſammenſein Chrifti mit feinen Süngern, wo Nichts 
vereinzelt werden konnte; es find Verbindungen, die gar nicht 
verändert werden EFonnten. Deffenungeachtet fchiebt Lucas Ein: 
zelnheiten ein, die den Andern fehlen; er erzählt, wie Chriftus 
Waffen verlangt habe, nach der Warnung, die er dem Petrus 
gab; bei der Erzählung von dem Gebet im Garten fügt er die 
Stelle vom blutigen Schweiß und von der Stärkung durch einen Engel 
ein. Dies kann man fich fehr leicht aus der Methode des Lucas 
erklären, nemlich fo, daß dies in einer vereinzelten Erzählung vor: 
fam, und er es in die zufammenhängende Gefchichte hineinbrachte. 


8. 75. 


2. Ehe wir zur zweiten Hälfte diefes Abſchnitts, zur Leis 
densgefhichte!), übergehn, muͤſſen wir auf einige Umftände 
in der Sache Nüdficht nehmen, welche das Berhältniß der Er: 
zählungen zu einander leichter erflären laffen, obwohl Widerfprüche 
darin zu fein fcheinen. Man muß bedenken, daß es eine vollftän- 
dige Autopfie von Anfang an nicht leicht geben Fonnte. Manches 
geſchah bei nächtliher Weile, wo eine Beobachtung außer in un: 
mittelbarer Nähe nicht ftattfinden Eonnte, Manches an Orten, die 
Vielen unzuganglich fein mußten, wie der hohepriefterlihe Pallaft 
und das Prätorium; ferner kommt mancherlei Gleichzeitiges vor, 
was alfo nur aus verfchiedenen Erzählungen zufammmengeftellt 
werden Eonnte, wobei Ergänzungen nothwendig wurden, die fich 
Seder für das, was ihm fehlte ‚ durch Conjectur machen mußte. 
So beftanden alfo von vorn herein verfchiedene mündliche Erzäh- 


1) Maith. 26, 47—27, 66. Marc 14,43—15, 47. Luc, 22, 47-23, 56. 
19 * 


292 Die Leidensgefchichte. 


lungen, die nicht mit einander übereinftimmen konnten; weßhalb 
auch unfre Evangelien Berfchiedenheiten enthalten. Hätten, die 
fpätern “die frühern gekannt, fo würde wohl eine: Ausgleichung 
verfucht fein; daraus, daß auch in folchen zufammenhängenden 
Erzählungen folhe Differenzen vorfommen, geht deutlich hervor, 
daß ie unabhängig von einander verfaßt find. Sch meine hierbei 
vorzüglich das Verhältniß der Evangelien Matthäi und Luck zu 
einander; denn über das des Marcus find die Anfichten fo ver- 
ſchieden, daß ich mir eine kurze zufammenhängende Betrachtung 
deffelben auffpare. Sm Vergleich mit Sohannes muß man dann 
allen drei Evangelien Unrichtigfeiten zufchreiben; Johannes erzählt 
nur das, was er felbft gefehn hat, und fo erhalten wir Aufſchluͤſſe 
über die andern Evangelien, woraus man fchließen wird, daß 
Dieles in diefen nicht aus der Autopfie- gefommen ift. 

Matthäus und Lucas verlegen beide die Scene der Ver— 
läugnung des Petrus in den Pallaft des Hohenpriefters Cai— 
phas, wo Chriftus vom Synedrium verhört und verurtheilt wurde. 
Sie flimmen aber dabei nicht genau zufammen, fondern es find, 
offenbar verfchiedene Erzählungen, aber mit diefem gemeinfchaft- 
lichen Serthbum. Denn aus Sohannes fehn wir deutlich, dag diefe 
- Berläugnung im Pallafte des Hannas gefchah, der nicht der Ho— 
hepriefter war, und vor dem ſich nicht das Synedrium verfam- 
melte, fondern vor den Chriftus nur vorläufig gebracht wurde, 
Wir fehn alfo, daß jene Erzählung der andern Evangelien nur 
auf einer unrichtigen Ergänzung beruht, und diefe Verwechſelung 
war faft unvermeidlich für die, welche nicht Augenzeugen waren. 

Die Erzählungen bei Matthäus und Lucas beruhen darauf, 
daß die letzte Entfcheidung über Chriftus erſt am Krühmorgen er- 
folgte. Seine Gefangennehmung aber gefchah am fpäten Abende, 
als er in dem Garten, wohin er nach dem Abendmahl gegan— 
gen, von Judas und der von diefem geholten Wache gefunden 
wurde. Knüpft man gleich daran feine Vorführung vor den Ho— 
benpriefter und das Synedrium, fo bleibt eine geraume Zeit übrig; 
und daraus ift wohl entftanden, daß Matthäus nach der nädhtli- 


Die Leidenögefchichte, 293 


chen Berurtheilung Chrifti noch eine zweite Verſammlung des 
Synedriuns am andern Morgen darüber halten läßt, wie die 
Ausführung des Urtheilsfpruchs koͤnne bewirkt werden. Lucas dage— 
gen begnügt fih mit einer VBerfammlung und hilft ſich auf an— 
dere Weife, indem er die Nacht über Chriftum in den Händen 
- der Wache läßt und ihn erft am Morgen vor das Synedrium 
bringt. Sohannes erzählt nur, was er gefehn, alfo wie Chriſtus 
vor Hannas geführt fei, und giebt dadurd den erften Aufſchluß 
über die Sache; was er nicht mit angefehn, übergeht er und deu— 
tet es nur an. Bei Lucas ift nun in fofern Schon eine Berichti- 
gung des Matthäus, als Erfterer die Verläugnung Petri vor das 
eigentliche Verhoͤr ſtellt; dies ſtimmt mit der Autopfie des Johan— 
nes, nur daß Lucas von dem Borgeführtwerden — vor Han⸗ 
nas Nichts wußte. 

Die naͤchſten gemeinſchaftlichen Puncte ſind die Erzaͤhlungen 
von der Vorfuͤhrung Chriſti vor Pilatus und von deſſen 
Urtheil oder vielmehr ſeiner Beſtaͤtigung des Urtheils des Syne— 
driums. Matthaͤus ſchiebt davor die Erzaͤhlung von der Reue 
des Ju das und von feinem Selbſtmorde, was Lucas gar nicht 
erzählt, fondern in der Apoftelgefchichte nachträgt. Man darf fich 
nicht denken, daß Lucas es darum nicht erwähnt, weil er es in 
den Actis aus dem Munde des Petrus erzählen will. Entweder hat 
er die Nachricht von dem Ende des Judas noch nicht gehabt, oder 
er hatte nicht die Abficht,, fie in den Berlauf der Gefchichte im 
Evangelium aufzunehmen. Erfteres ift das Wahrfcheinlichfte, weil 
es eine vereinzelte Notiz war, die außer dem eigentlichen Zuſam— 
menhang diefer Gefchichte lag. Seinerfeit hat Lucas ein andres 
Moment, die Abführung Chrifti zu Herodes und feine 
Zurüdfendung auf das forum delicti, eingefchoben, was Fein 
Anderer erzählt. Allein es war fehr leicht möglich, daß diefe That— 
fache Bielen unbekannt bleiben Fonnte , weil Chriftus wahrfchein- 
lich innerhalb des Vestibulum war und von da gleich weiter ge- 
führt wurde. 

Nach der Verurtheilung folgt bei Matthäus die Geißelung 


294 Die Leidensgefchichte. 


Chrifti, die Lucas übergeht; dann ift gemeinschaftlich die Hinaus- 
führung zum Richtplaße, die erzwungene Hülfe des Simon 
von Eyrene und die Kreuzigung Chrifti. Lucas hat bei der 
Hinausführung noch die Anrede an die hierofolymitanifchen Frauen. 
Hier Fünnte man fich wundern über die Gemeinfchaftlichfeit der Er- 
zählung von Simon von Cyrene, da dies doch feine Hauptbege- 
benheit war; aber fie war vor Aller Augen gefchehen. 

Nun folgt bei Matthäus die Verloofung der Kleider, die 
Tafel, welche Pilatus an das Kreuz heften ließ, und der Spott 
der Anmwefenden; bei Lucas außerdem noch das Gefpräch Chrifti 
mit den beiden Mitgefreuzigten. Dann folgt die Finſterniß, bei 
Matthäus das Mißverfiändnig wegen des Eli, Eli, als ob Chri— 
ſtus den Elias rufe; dann das Zerreißen des Vorhangs im Lem: 
pel und der Tod Chrifti. Außerdem hat Matthäus das Erdbeben 
und das Hervorgehen verftorbener Frommen aus ihren Gräbern 
unmittelbar nach dem Tode Ghrifti. Dies hat einen von den 
übrigen Thatſachen disparaten Character, daher auch leicht zu den— 
fen ift, daß dies nur mißverftändlich für Thatſache gehalten ift 
und urfprünglich ein poetifches oder rhetorifches Clement bei der 
Erzählung war. Auch das Zerreißen des Vorhangs im Tempel 
hatte eine fo große fymbolifche Bedeutung vom Aufhören eines 
befondern Prieftertbums, daß es fihwerlich als Thatſache zu den— 
fen if. Das Hervorgehen der Verſtorbenen aus ihren Gräbern 
hat nicht diefen Grad fymbolifcher Bedeutung; aber es ift fo we— 
nig gefchichtlich anfhaulih, daß man fich gar Feine Vorftellung 
davon machen kann. Wenn man annimmt, daß dies urfprüng- 
lich poetifche Elemente find, fo folgt daraus, daß die Erzählung 
von der Leidensgeſchichte, wie wir fie in diefen Evangelien finden, 
erft ziemlich fpat in diefe Form gebracht ift, denn zu Anfang wäre 
eine folche Bermifchung ziemlich unmöglich gewefen. Nur wenn 
ed ſchon eine gewiffe Mannigfaltigkeit von Erzählungen über diefe 
Begebenheit gab, konnte Semand folhe Momente hineinbringen. 

Gemeinfchaftlich ift dann wieder der Ausruf des wachthaben- 
den roͤmiſchen Oberften, die Bitte des Sofeph von Ari- 


Die Auferftehungsgefchichte. 295 


matbia um den Leichnam und das Begraͤbniß. Matthäus 
fügt noch die Nachricht von der Berfiegelung des Grabe 
hinzu. Diefe fteht mit der Zabel, die fi unter den Juden nach— 
ber ausbreitete, daß die Sünger den Leichnam Ehrifti weggenom= 
men und fo die Auferftehung bewirkt hätten, in genauer Verbin— 
dung, doch hat es viele Schwierigkeit, fie fi ald Erdichtung zu 
denken. Auf der andern Seite ift es im höchften Grade unwahr⸗ 
fcheinlich , daß der hohe Rath follte eine Notiz davon gehabt ha= 
ben, daß Chriftus feine Auferftehung vorhergefagt, denn die Sün- 
ger felbft hatten es ja nicht verftanden. Das, was in dieſer Be— 
ziehung bei dem Verhoͤr Ehrifli vor dem Hohenpriefter zur Sprace 
kam von dem Aufbau des Tempels, wurde nicht auf feine Perfon 
bezogen, fondern auf den Tempel felbft. Auch ift fchwer zu den— 
fen, daß Pilatus, der fchon fo ungern in die Verurtheilung ge: 
willigt hatte, eine folche außerordentlihe Maaßregel getroffen, da 
er fich gar nicht für das Synedrium intereffirte. Dennoch fünnen 
wir diefe Erzählung bei Matthäus nicht ald eine vereinzelt hin— 
eingefommene anfehn, da bernach bei der Auferfiehung wieder von 
den Hütern die Nede if. Man muß fie fi alfo ſchon mit der 
erften Erzählung von der Auferftehung Chrifti in Verbindung 
denken. 


$. 76. 


IV. Was nun den Auferftehbungsabfohnitt betrifft, fo 
fcheint, als müßte es eine ähnliche Bewandtnig damit haben, wie 
mit der Leidensgefchichte, bei der wir eine große Uebereinſtimmung 
der Evangeliften in der Natur der Sache begründet gefunden ha— 
ben. Allein es ift nicht fo, fondern es ift befannt, daß die Er: 
zählungen von der Auferftehung in diefer Hinfiht vol Schwie- 
rigfeiten find, und daß vielfältig die Gegner des Chriftenthums 
gerade diefen Abfchnitt gewählt haben, um die Unzuverläffigfeit 
aller Nachrichten in unfern Evangelien überhaupt nachzumeifen. 
Sp wie wir aber erwägen, daß bei diefem Abfchnitte nur Erzaͤh— 
lungen von einzelnen Momenten Fonnten zum Grunde liegen, Da 


296 Die Auferſtehungsgeſchichte. 


das Zuſammenleben Chriſti mit feinen Süngern nad) der Auferfte: 
hung Teineswegs ein Continuum war, und wenn wir damit das 
verbinden, daß die Zufammenftellung gewiß das Spätere und etwas 
Milltührliches war, wenn Feine Zeitbeftimmung mit den einzelnen 
Geſchichten gegeben war: fo erklären fich diefe Differenzen ziemlich 
leicht. "Das Ganze gewinnt ‚freilich in den verfchiedenen Erzählungen 
ein fehr verfchiedenes Anfehn; ja, man fieht, daß die Borftellung, die 
fich die Berfaffer unfrer Evangelien von der Sache gemacht haben, 
nicht diefelbe war, und es geht daraus wieder hervor, daß die 
Zuſammenſtellung nur ein ſpaͤterer Act iſt, wobei nicht mehr von 
den erſten Urhebern der Erzählungen Rectificationen eingeholt wer: 
den Fonnten. Dem Einen fehlten Elemente, welche der Andere 
hatte, und darum war auch die allgemeine Anficht der Sache bei 
ihnen verfchieden, und fie ftellten daher das Einzelne, was ihnen 
ohne Zeitbeftimmung überliefert war, nach den verfchiedenften Vor⸗ 
ansfeßungen zufammen. — Gehn wir davon aus, daß die Apo— 
ftel, fobald fie anfingen, öffentlich das Chriſtenthum zu verfündigen, 
fih vorzüglich ald Zeugen der Auferftehung Chriſti geltend 
machten, fo fragt fi, ob fie zu dem Behuf nöthig hatten, durch 
eine Menge detaillirter einzelner Erzählungen dies Factum zu: be— 
glaubigen. Sch glaube, daß ihnen dies gar Nichts helfen Fonnte; 
denn fo wie fie doch ehrlich geftehn mußten, daß Ehriftus fih nur 
ihnen ‚gezeigt, fo mußte man ihnen doch nur auf ihren Credit 
glauben, und ob fie da nun eine oder: mehrere einzelne Erzaͤhlun— 
gen anführten, Tonnte den Gredit nicht vermehren. Wir haben 
alfo auch nicht Urfache, die einzelnen Nachrichten aus einer evan— 
geliftifchen Begleitung des erſten zJovyro der Apoftel abzuleiten, 
fondern es waren Erzählungen von Einzelnen. Es mußte unter 
den Chriften eine Ueberlieferung darüber geben, wie unter den 
Apofteln felbft die Gewißheit entftanden fer, daß Chriſtus aufer- 
ftanden war. Die Verkündigung des Chriftenthbums ift ihren Gang 
gegangen allerdings auf diefem Grunde, wiewohl man nicht ſagen 
kann, daß dies abfolut nothwendig gewefen wäre. ine Umbeu— 
gung der mefjianifchen Idee mußte natürlich überall erfolgen, wo 


Die Auferſtehungsgeſchichte. 297 


das apoſtoliſche Chriſtenthum hingeſtellt wurde, und dazu gehoͤrte 
dies, daß der Tod Chriſti den Fortgang der Paoıleia ToV HEoV 
nicht hindern fonnte. Die Auferfiehung war nun für die Sünger 
felbft ein Stärfungsmittel ihres Glaubens, und fie bedurften def- 
fen, um nicht wieder aus einander zu gehn. ""&o.ftellt fich das 
in den Evangelien; aber allerdingd Fann man das nicht als eine 
Nothwendigkeit an ſich, fondern bedingt durch ihren Geſammtzu— 
ftand, anfehn. Das ift klar, daß das Factum der Auferftehung 
von Anfang an ift geglaubt worden, und daß alfo die Erzählun- 
gen darüber müffen Feineswegs von der Art gewefen fein, daß fie 
leicht Eonnten als Taͤuſchung angefehn werden, fondern daß, wenn 
man nur an die Ehrlichkeit des Referenten glaubte, man zugleic) 
das Factum glauben mußte. ES findet fich nicht eher als in der 
corinthifchen Gemeinde eine Spur von Iweifeln an der Auferfte- 
bung Chrifti, die aber nur von Solchen herruͤhrten, welche die 
Idee der Auferſtehung rein auf das geiſtige Leben bezogen. Da 
weiſ't nun Paulus 1. Cor. 15. auf das Geſchichtliche daruͤber hin, 
ſo daß man ſieht, dieſe Erzaͤhlung iſt für ihn und in dem Kreife, 
in welchem er lebte, eine eben fo guf beglaubigte Zhatfache, wie 
alle andern. Nun aber befchranft fih Paulus nach dem Maag, 
welches fein Zweck hat, auf eine fummarifche Darftellung der 
Zhatfachen, wovon ihm Nachrichten zugefommen waren, aber fo, 
daß er feinen Lefern zumuthet, fich weitere darüber zu verfchaf: 
fen. — Daher haben wir auch bier auf einen ähnlichen Urfprung 
aus evangeliftifcher mündlicher Ueberlieferung zu ſehn, die aber 
nicht aus folchen Erzählungen, welche die Apoſtel felbft als 
Beweiſe aufgeführt hatten, hergenommen war. Wenn die Apoftel 
in ihrem BZufammenfein in Serufalem hier mehr, als in andern 
Abſchnitten, die Haupterzähler gewefen oder gar die Drdner, um 
fi aus dem Wunderbaren, was ihnen und Andern begegnet war, 
ein Ganzes zu machen, fo müßten unfre Evangelien hier offenbar 
ganz anders ausfehn. Sowie man aber hiervon abgeht und an- 
nimmt, die Erzählungen wurden nicht mitgetheilt, um den Glau- 
ben an die Auferftehung hervorzubringen (fo wie Petrus in feiner 


298 Die Auferſtehungsgeſchichte. 


erften Rede, Act: 2., nur die Thatfache fchlechthin erwähnt), ſon— 
dern jede ihres befondern Snhalts wegen, wie alle andern Ein 
zelnheiten aus dem: Leben Chrifti: fo darf man fich hier auch gar 
nicht wundern, daß unfre Erzählungen fo fragmentarifch find, da 
nicht alles allgemein verbreitet war, was fich einzeln und zerftreut 
vorfindet, und daß einzelne Facta gar nicht darin vorkommen, die 
wir nur aus der Erwähnung des Paulus im Gorintherbriefe Een- 
nen. Die Enantiophonien verlieren bei diefer Anficht ganz und 
gar ihre Bedeutung, denn fie find nicht größer, als in andern 
Abfchnitten, wo man nur nicht dafjelbe Sntereffe gehabt hat, fie 
hervorzuheben, und fie find hier doppelt natürlich befonders bei 
der eriten Erfcheinung Chrifti, weil hier die Ueberrafchung einer 
genauen Beobachtung nicht günftig war, und nicht nur Verſchie— 
dene mußten verfchieden berichten, fondern auch diefelben Perſo— 
nen Fünnen nicht immer gleich erzählt haben. ; 

Nichtsdeftomeniger ift es noch fchwierig genug, wenn man 
die Evangelien einzeln betrachtet, zu einer Klaren Vorſtellung zu 
fommen. Daß die Apoftel auch hier nicht die Haupfauctoren der 
einzelnen Erzählungen gewefen find, kann man aus der Belchaf: 
fenheit derfelben, fo wie man fie neben einander ftellt, leicht Elar 
machen. Für ihre Entftehung find zweierlei Motive zu unterfchei= 
den und zufammenzunehmen, von denen man das eine mehr ein 
neugieriges, das andere mehr ein wißbegieriges nennen Fann. 
Denn wenn es darauf ankommt zu willen, wie die Notiz von dem 
Auferftandenfein Chrifti zuerft aufgefommen ift, fo ift daS eigent- 
lih nur ein Motiv der Neugier; denn es mag gefchehn fein, 
wie es will, das Factum kann dadurch nicht aufgehellt werden. 
Das zweite ift, wie bei dem frühern Leben Chrifti, dad Motiv 
zu den Erzählungen von Reden und Thaten Chrifti, worin fi) 
feine Gefinnung darftellt. Aus diefen beiden Motiven find Die 
Erzählungen, wie fie in unfern Evangelien verfchieden laufen und 
verfchieden zufammengefebt find, hervorgegangen. 

So wie die drei Evangelien von der VBorausfekung ausgehn, 
daß Chriflus nur zum legten Dfterfeft nad) Serufalem gekommen, 


Die Auferftehungsgefchichte. 299 


übrigens aber in Galiläa einheimifch gewefen, fo ift eben folcher 
Gegenfaß zwifchen Galiläa und Judaͤa in der Erzählung von der 
Auferftehung. Matthäus weiß — mit Ausnahme des erfien Au— 
genblids — Nichts von Manifeftationen des auferftandenen Chriftus 
in oder bei Serufalem, fondern nur von einer in Galilaͤa; Lucas 
dagegen weiß Nichts von Galilda. Bei Marcus findet ſich das 
Sonderbare, daß die Jünger den Auftrag von Chriſto befommen, 
nach Galilaͤa zu gehn, aber daß nicht erzählt wird, daß dies ge- 
fhehn fei; und die einzige Manifeftation des Auferftandenen an 
feine Sünger läßt durchaus nicht die Annahme zu, daß fie unter- 
deß in Galilaͤa gewefen fein Eönnen. Hier ift es nun wieder Jo— 
hannis, der Beides vereinigt; bei ihm find Manifeftationen Chrifti 
in Serufalem und in Saliläa. Hier kommt man durchaus nicht 
über das Dilemma hinaus: entweder muß das Evangelium So: 
hannis falfch fein, oder das Hiftorifche in unferm Matthäusevane 
gelium Fann nicht apoftolifchen Urfprungs fein. Denn Johannes 
erzählt ausdrüdlich, wie das eine Mal, als Chriftus erfchien, alle 
Sünger beifammen gemwefen find mit Ausnahme des Thomas, wie 
das andere Mal aber auch diefer dabei gewefen. Nun follte der 
Apoftel Matthäus Nichts von dem erwähnen, wobei er beide Male 
anmwefend war? Doch gefeht, er hätte befondre Gründe gehabt, 
diefe Erzählung von dem Unglauben des Thomas abfichtlih aus: 
zulaffen, fo würden wir doch mwenigftens verlangen koͤnnen, daß 
ftatt defjen nun eine Elare Borftellung von der Art, wie die Sün- 
ger zu einer Notiz von der Auferftehung Chrifti gefommen, da 
wäre. Dagegen tragen die Erzählungen des Sohannesevangeliums 
auch in diefer Hinficht fo fehr das Gepräge der Augenzeugenfchaft, 
daß ich gar nicht zweifelhaft fein Fann, daß hier ein Augenzeuge 
ift, fo gewiß, wie im Matthausevangelium Eeiner if. Betrachtet 
‚ man die Erzählungen des letztern, fo Eommt durchaus Feine Klare 
Darftellung heraus, fo daß auch gänzlich verwifcht ift, was für 
einen Urfprung die Erzählung hat. Die eigentlichen Auctoren 
Fönnten nur die Frauen feiern, von denen erzählt wird, daß fie 
zuerft zum Grabe gegangen. Nun aber wenn gefagt wird, daß 


300 | Die Auferſtehungsgeſchichte. 


ein Engel vom Himmel herabgefommen fei und den Stein weg: 
gewälzt habe, fo müßten fie, wenn fie das gefehn hätten, auch 
Ehrifti Auferftehung gefehn haben, denn fonft wäre ja das Weg: 
wälzen des Steins überflüffig. Aber davon flieht Nichts da: In 
der Erzählung des Herabfommens des Engel liegt offenbar die 
Tendenz, die Möglichkeit des Factums der Auferftehung zu erklä- 
ren; aber wie das Fartum felbft gefchehn ift, das lebend fichtbare 
Heraustreten Chrifti aus dem Grabe, kommt gar nicht klar heraus. 
Eben folhe Verworrenheit ift -bei der Erzählung von den Hütern, 
denn entweder mußten fie davon gelaufen fein, oder die fpatern Be— 
fucher des Grabes mußten fie gefunden haben. Das Erftarrtfein 
vor Schred und das Laufen zur Stadt, um es dem Hohenprie— 
fier zu fagen, ift ganz aus einander geriffen. Man fieht deutlich 
einen Einfluß, den die vorige Erzählung von der Bewachung des 
Grabes auf diefe Relation hat; es ift eine nicht hinreichende Er— 
ganzung zu unvollfiändigen Erzählungen, welche die Aufgabe, fie 
mit einander in Webereinftimmung zu bringen, nicht Iöft und - 
offenbar in diefem Beftreben eine Spätere Hand verräth )). 

In der Erzählung des Lucas ift der erfle Theil offenbar 
die Mittheilung der Art, wie die erfie Notiz von der Auferfte- 
hung zu den Süngern. gefommen. Da ift die Darftellung ganz 
verftändig und klar, es wird Nichts erzählt, als was die Augen: 
zeugen, die Frauen, wiſſen Eonnten; ‚von der Ergänzung durch 
dad Erfcheinen des Engel und das Wegmwälzen des Steins ift 
kein Wort da. Es laͤßt fich Alles fehr wohl mit dem, was Jo— 


1) Erf. Entw. Ob nun diefe Verſchmelzung erſt unfer Berfaffer gemacht 
oder fie ſchon früher vorgefunden, ift nicht zu entfcheiden, mir aber das 
Yeztre wahrfcheinlicher. Dagegen verräth in der Galiläiſchen Erzählung 
der befannte Berg auch dieſelbe zufammenftelfende Hand, melde wir 
von früher ber fennen, und die Unvollſtändigkeit (man weiß gar niet, 
wo Jeſus und wo die Zünger geblieben find) erklärt fi) daraus, daß 
bei der einzelnen Erzählung wahrſcheinlich nur der lezte Auftrag Chrifti 
ohne allen äußern Apparat, vielleicht als das Ende der deuratıs gege= 
ben war. 


Die Auferſtehungsgeſchichte. 301 


hannes hat, in Uebereinftimmung bringen. Dann folgt bei Lucas 
die ihm eigenthümliche Erzählung von den beiden Juͤngern, Die 
nach) Emmaus gingen, und die wohl dem zweiten Motiv ange- 
hört, da fich Chriftus hier über die meffianifchen Weiffagungen 
und feine frühern Yeußerungen darüber ausfpricht. In diefer Er— 
zaͤhlung ift Alles Elar, außer etwa, ob fich nicht die beiden Juͤn— 
ger, die das urfprünglich erzählt haben, wegen des Verſchwindens 
Chrifti die ganze Erfcheinung auf gewiffe MWeife mehr geifterhaft 
gedacht haben. Lucas aber will offenbar das nicht, denn er er- 
waͤhnt gleich bei der folgenden Erfcheinung Chrifti in Serufalem, 
wie er fich betaften läßt, um diefen Schein abzuwehren. — Das i 
Folgende ift unflarer, die Reden Chrifti fügen fich an das Vorige 
unmittelbar an, aber auch an dad Folgende, daß er die Sünger 
nach Bethanien hinausgeführt habe. Da ſcheint alfo, daß der 
Erzähler. das alles fich an einem Tage gedacht habe, wo alfo 
die Erfcheinung, die nach Sohannes 8 Lage fpäter geſchah, und 
die Zufammenfunft mit den Züngern in Galilaͤa völlig ignorirt 
ift. Ob nun der letzte Zufammenfteller unfers Evangeliums hier 
erſt jelbft die einzelnen Momente fo geordnet hat, oder ob er jie 
fo vorgefunden, Laßt fih gar nicht entfcheidend). Sehr merk- 
würdig ift nun, daß Lucas im Anfange der Apoftelgefchichte eine 
zweite Erzählung giebt von dem Zufammenfein Chrifti mit feinen 
Süngern, welche offenbar eine Ergänzung deffen ift, was er im 
Evangelium mitgetheilt hat. Die Art, wie er da ausdrüdlich 
fagt, Ehriftus habe 40 Tage lang fich von Zeit zu Zeit feinen 
Süngern gezeigt und vom Reiche Gottes mit ihnen gefprochen, 
fcheint ziemlich deutlich zu beweifen, daß er früher fich das allesı 
an einem Zage gedacht hatte, und daß jene andere Notiz ihm 
erft fpäter gefommen iſt?). Dies zeigt und auch, daß die Apo— 


1) Erſt. Entw. Inſofern alles auf denfelben Tag zufammengedrängt 
- wird, ift es analog mit der erften Hälfte des Matthäus, daher ish au 
glaube, daß Lufas es ſchon fo vorgefunden. 

2) Erſt. Entw. Dies giebt ung Auffchluß über den Zuftand der Ueber— 


302 Die Auferftehungsgefchichte. j 
ftelgefchichte, obwohl fie der zweite Aoyos fein follie, doc nicht 
in einem Guſſe mit dem Evangelium fortgefchrieben ift, fondern 
daß letzteres früher publicirt war und deshalb von den Actis 
in der Kirche gefondert und mit den andern Evangelien zuſam— 
mengefaßt wurde. Dies wäre leicht zu ändern gewefen, wenn 
man den Canon mehr auf litterärifhe Weiſe behandelt hätte; 
aber man fieht daraus, daß man ſchon gewohnt war, die Tetras 
als ein Ganzes anzufehn, ehe der vollftändige Canon exiſtirte. 
Dei Lucas wird erwähnt, daß Chriftus dem Simon Petrus 
erfchienen feit), aber diefe Erfcheinung felbft wird nicht erzählt. 
Wenn nun der Berfafler, den die Einleitung Eund giebt, ein Ge: 
fährte des Apoftel3 Paulus gewefen wäre, fo ift nicht zu denken, 
daß er nicht follte zu einer Erzählung über das Zufammentreffen 
Chrifti mit Petrus gelangt fein, und daß dadurch nicht feine 
ganze Anficht von der Auferftehung fich geändert hätte. Denn 
wenn er durch Vermittlung des Apoftel3 aus authentifchen Quel- 
len darüber eine Erzählung befommen hätte, fo würde bei dieſer 
Gelegenheit wohl ein Wink vorgefommen fein, der ihn von der 
Anficht abgebracht hätte, daß Alles an einem Tage gefchehen fei. 
Dies beftätigt alfo die Anficht, daß das Evangelium und die 
Acta nicht von einem völligen Begleiter des Paulus herrühren. 
Daß der Verfaſſer aber, ald er die Apoftelgefchichte fchrieb, Die 
nähere Notiz über die 40 Tage, die ihm feitdem zugefommen, 
noch hinzufügte, giebt uns eine große Sicherheit von feinem ge= 
funden Ürtheil in der Compofition, fo weit feine Materialien reichten. 


$. 77. 
Indem wir nun bisher nur die gefchichtlichen Momente der 


lieferung. Denn offenbar hat er das übrige erft fpäter erfahren, was 
denn auch gegen ein großes BVerbreitetfein der einzelnen Auferfiehungs- 
gefhichten zeugt. Zu der Zeit der Apoftelgefchichte aber ift er vielleicht 
im Befit weit mehrerer Gefhichten von der Auferfiehung gewefen, die 
er aber nun nicht mehr anbringen konnte. 

1) Luc. 24, 34, vergl. 1. Cor. 15, >. 


Das Didactifche in den drei Evangelien. 303 


Evangelien verglichen, wäre nun noch von dem Didactifchen, den 
Reden, zu handeln. Die evangeliftifche Ueberlieferung als be⸗ 
ſondres Officium in der Kirche mußte einen Reichthum von ſol— 
chen Elementen enthalten, weil doch die Apoſtel haͤufig in ihren 
Didaskalien ſich auf Ausſpruͤche Chriſti berufen mußten. Wir 
muͤſſen aber dabei verſchiedene Elemente unterſcheiden, zuerſt das 
gnomiſche, die einzelne Sentenz, wie fie ſich aus Thatſachen 
oder als Antwort auf einzelne Fragen ergiebt. Dies war auf 
dem Schauplab des Lebens Chrifti etwas fehr Vorherrſchendes; 
die ganze Richtung der jüdifchen Didaskalie geht fehr auf das 
Scharfe, Prägnante, was diefer Art eigen ift. Solche Sprüche 
prägen fich leicht ein und eignen fich fehr dazu, das unter die 
Menge zu bringen, was man von derfelben wollte gewußt oder 
beobachtet haben. Das zweite Element ift das parabolifche, 
was auch fehr einheimifch war. Lehren, die fich nicht in folche 
Gnomen bringen ließen, wurden in ber Form von Gefchichten 
vorgetragen. Und eine folche prägt ſich dann eben fo leicht ein, 
wie ein felbft wahrgenommenes Factum. Das dritte find mehr 
zufammenhängende vemonftrative Belehrungen, die eigent- 
lid immer den Schluß zu einem Gefpräch bilden, denn fie find 
niemals abfolut allgemein, fondern immer für den gegenwärtigen 
Moment und für die, mit denen Chriftus redet. — Hierzu müß- 
ten noch Reden und Gefpräche hinzukommen, die Chriftus mit 
den Zwoͤlfen insbefondere geführt; aber es find deren in den 
aggregirenden Evangelien eigentlich fehr wenige; denn was von 
der Art in der Bergpredigt vorkommt, gehört offenbar urfprüng- 
lich nicht dahin. Was fich am leichteften dem Gedächtniß einprägt, 
Iharf gezeichnete Sentenzen und anfchaulihe Parabeln find am 
übereinftimmendften. In allem Andern findet man genauere und 
minder genaue Auffaffung, fo daß man auch hier verfchiedene 
Quellen unterfcheiden muß. So fehn wir alfo, daß in allen die- 
jen Hauptpuncten Feine beftimmte Urfache ift, eine Benukung 
des einen Evangeliums durch das andere vorauszufeßen. 

So wie man die Borftellung von der drarakıs des Matthäus 


304 Aehnlichkeiten im Einzelnen. 


richtig gefaßt hat, ſieht man auch, daß dieſe unſerm Matthäus: 
evangelium zum Grunde liegt. Es hat aber auch in dem Mit— 
telſtuͤck Redeſtoff, von dem ſich nicht auf gleiche Art nachweiſen 
läßt, Daß er zur duazases gehört habe, größtentheild an Fragen 
angefnüpft. Lucas hat feinen Redeſtoff überwiegend mit gefchicht- 
lichen Beranlaffungen verbunden; felbft die Bergpredigt Enüpft 
fih bei ihm vielleicht traditionell an die Vollzaͤhligkeit der Juͤn— 
gerfchaft als erſte Auseinanderfeßung (VBorhaltung des Segens 
und Fluchs) an. Nur in dem Mittelftük Cap. 9—18. hat er 
Neden ohne befiimmte Veranlafjung, aber nicht in dem Maaße, 
daß man das Ganze ald Gnomologie anfehn koͤnnte, zumal bei 
‚den großen Parabeln vom verlornen Sohn, vom Haushalter und 
veihem Mann die Veranlaffungen noch durch den gefchichtlichen 
Sufammenhang auszumitteln find. — Aus diefem Verbältniffe 
geht hervor, daß, wenn auch Beide einander gekannt hätten, fie 
fich doch nicht hätten benugen fünnen, und daß das Gemeinfame 
hinreichend zu erklären ift aus der gemeinfamen evangeliftifchen 
Ueberlieferung. 

Allein hier find nun noch die großen Ähnlichkeiten im Einzelnen, 
welche durchaus etwas Gemeinfames zu fordern fcheinen, zu über: 
legen. Borläufig bemerfe ich nur, daß ‚ebenfo auch eine durch 
das Ganze durchgehende Eigenthümlichkeit des einzelnen Schrift: 
ftelerS behauptet wird, und daß Beides fich nothwendig gegen- 
feitig befchränft. Es fragt fich alfo: welches ift vorzüglich der 
Sig des Einen und des Andern? Allgemein ift wohl anerkannt, 
daß die Gleichheit am meiften vorherrfcht in Ausfprüchen Chrifti 
und den fich darauf am .unmittelbarften beziehenden Gefchichten. 
Diefes aber mußte auch am gleichmäßigften fein in der mündlichen 
evangeliftiichen Überlieferung. Denn je ficherer Semand war, den 
Ausdruck Chrifti völlig aufgefaßt zu haben, dejto weniger Willkür 
bat er fich dabei geftaftet. Findet fich Aehnlichkeit in Anführung 
altteftamentlicher Stellen, wobei doch weder unfer hebräifcher Text 
noch der bei den Septuaginta der Auctor ift, fo hat diefe wohl 
ihren Grund in den Zargums, die im gemeinen Gebrauch waren; 


Nefultat in Beziehung auf Matthäus umd Lucas, 305 


hoͤchſtens Fünnte fie bemweifen, daß die einzelne Relation aus ei- 
ner gemeinfchaftlihen Quelle iſt. Indem man aber eigenthuͤm— 
liche Ausdrüde und Wendungen zugiebt, fo beweifen diefe eben, 
dag man zur Erklärung jener Uebereinftimmung nicht Abhängig: 
feit des Einen vom Andern anzunehmen hat. Die Differenz hat 
ihren conftanteften Si& in den freien Übergängen, wo das Matthäus- 
evangelium fich auszeichnet durch allerlei dem gemeinen Sprach— 
gebrauche nach beftimmte Ausdrüde, die hier unbeſtimmt gebraucht 
find, wenn man fie auf das unmittelbar Vorhergehende bezieht. 
Bedenkt man aber, wie unferm Berfaffer durch Die deazakıs fchon 
Maffen gegeben waren, fo bezieht fi fein zore, &v Eusivy 1% 
asoꝙ u. dgl. nur auf die Gehörigfeit der Begebenheit in die 
Mafle, in der er eben verfirt ?). 


$- 78. 


Alfo was fih als Refultat in Bezug auf unfre Evange- 
lien des Matthäus und Lucas hinftellt, ift, daß fie in ihrem ge- 
genwärtigen Zuſtande als zufammenhängende fehriftliche Darftel- 
lungen nicht unmittelbar dem apoftolifchen Zeitalter angehören, 
fondern aus im apoftolifchen Zeitalter entftandenen und zum heil 
ſchon hier in Verbindung gebrachten einzelnen Erzählungen fpäter 
zufammengefeßt find, und zwar fo, daß dies ein Gefchäft war, 
wofür es Feine gemeinfchaftliche Direction gab, und wo im Einzels 
nen Manches unficher und unbeftimmbar in Bezug auf die Zeitver: 


1) Erf. Entw. Außerdem find noch zwei Betrachtungen anzuftellen, 
1. daß auch ſchon in dem Vebergang zur fohriftlichen fragmentarifchen 
Abfaffung und durch Diefelbe rückwirkend in der mündlichen Manches 
fi fehr Tann angenähert haben; 2. daß die Mebereinftimmung beim 
erften Erfcheinen unferer Evangelien nicht fo groß gewefen ift als eben 
jest. Unfere Handſchriften zeugen an vielen Stellen davon, daß aus 
einem Evangelium in dag andere ift übertragen und nach einem in 
dem andern geändert worden. Höchſt wahrſcheinlich iſt ähnliches au 
ſchon früfer gefhehn, wovon wir jebt die Spur nicht mehr nachwei- 
fen können, 

Einl. ins N. T. 20 


306 Verhältniß des Marcus zu Matthäus und Lucas. 


hältniffe fein mußte, Sa bei der ihnen gemeinfchaftlichen Bor: 
ausfeßung von einem einmaligen Aufenthalte Chriſti in Serufa- 
lem laßt fich Faum denken, daß nicht follten Erzählungen aus 
einem früheren Zeitraum mit in diefen Abfchnitt gemifcht fein, 
weil fie chronologisch gar nicht gefchieden werden Eonnten, wenn 
man nicht von einem öftern Aufenthalte Chrifti in Serufalem 
wußte. Ganz unhaltbar ift, wenn man fagt, Matthäus habe 
nur das erzählen wollen, was fich zugetragen habe nach der 
Gefangennehmung des Täuferd, Sohannes dagegen auch das Fruͤ— 
‚here. Dies ift eine Folgerung, die man aus einer Stelle bei 
Matthäus macht, die aber gerade die Unklarheit in der Zeitbe- 
flimmung bei unfern Evangelien recht ins Licht fest. Es wäre 
auch im höchften Grade fonderbar, daß ein Apoftel fein Evange- 
lium bei einem Punct angefangen hätte, der gar nichts Entfchei- 
dendes für das Leben Chrifti hatte. Lucas nun, der doch daſſelbe 
Material hat, müßte dann entweder dieſelbe Marime befolgt oder 
den Matthäus benußt haben; Beides ift gleich unmwahrfcheinlich. 


8:37, 


- Die Frage nach) dem VBerhältnig des Evangeliums 
des Marcus zu den beiden andern habe ich bis zuletzt 
verfpart, weil dies mir der fihmwierigfte Punct der Unterfuchung 
ſcheint. Das Hauptphänomen ift dabei, daß Marcus fowohl mit 
Matthäus als mit Lucas weit größere Neihen von Erzählungen 
gemeinschaftlich hat, als diefe beiden unter fih. Man kann es 
bei Marcus ordentlich fo verfolgen, daß er eine Reihe von ein: 
zelnen Zügen mehr mit dem einen Evangelium gemeinfchaftlich hat 
und dann zu dem andern überfpringt, und fo wechfelnd von dem 
einen zum andern. Und wenn man diefen Prozeß durch das 
ganze Evangelium durchmacht, fo kann 'man faum anders, als | 
Griesbah’s und Saunier’5 Meinung annehmen, daß Mar: | 
cus wirklich unfern Matthäus und Lucas vor fich gehabt habe. 
Allerdings giebt e3 wieder einzelne Ausnahmen, indem Marcus 
ein paar Elemente eigenthümlich hat. Aber diefe mußte er doc 


Dad Evangelium des Marcus. 307 


an irgend einem Orte einfchalten, und das brauchte nicht gerade 
da zu gefchehn, wo er von dem einen Evangelium zu dem andern 
überging; dies ift alfo Fein Hinderniß. Aber außerdem kommen 
auch einzelne Ausnahmen in diefem durch dad Ganzen durchgehen 
den Verfahren vor. 

Dies ift jedoch nur die eine Betrachtungsweile der Sache. 
Dagegen da unfer Evangelium des Lucas abgefondert von den 
Actis in die Tetras gekommen ift, alfo auf jeden Fall früher, 
al3 die Acta eine gewilfe Verbreitung mit dem erfien Theil der 
Schrift erhalten hatten, und da in dieſer Tetras zu gleicher 
Zeit das Marcusevangelium war: fo entfteht. hieraus wieder ein 
Bedenken gegen jene Anficht, das ich nicht zurüdweifen. Fanın. 
Denn es müßte jene Benugung des Matthäus und Lucas durch 
Marcus eher gefchehn fein, als die Berbindung der Evangelien 
abgefchloffen war; daß aber ein aus Matthäus und Lucas zuſam— 
mengeſetztes Evangelium ſchneller und allgemeiner verbreitet fein 
follte, alö der zweite Theil des Lucas, ift für mich fehr unmwahr- 
ſcheinlich. Nun müffen wir noch hinzunehmen: wie follen wir 
unfern Marcus anfehn in Bezug auf das Beugniß des Papias, 
der offenbar von einem Marcus redet, der Erzählungen aus dem 
Leben Chrifti nach den Belehrungen des Petrus aufgefchrieben habe ? 
Wie wir nun aber dad, was Papias über Matthäus fagt, nicht 
auf unfer Evangelium, fondern auf etwas Andres beziehn, das 
Seder auf verfchiedene Weife auszulegen fuchte: fo werden wir 
einen ahnlihen Zuſammenhang vorausfegen zwifchen jenem von 
Marcus aufgefchriebenen dnowrmuovsvua und unferm Marcus- 
evangelium, wie zwifchen der ovyyoayn und dem Evangelium 
des Matthäus. Allerdings wenn das ov zafeı, was Papias 
von Mareus fagt, den Sinn hat, „ohne Zufammenhang, ohne 
ein fortlaufendes Ganzes daraus zu machen,” fo mußte Einer, 
der diefe einzelnen Erzählungen vor ſich hatte und nun ein fol= 
ches Continuum bilden wollte, fich entweder nach einer Leitung 
umfehn oder ganz willkürlich verfahren. Im letztern Falle ließe 
fih das Zufammentreffen in größeren Abfchnitten mit jenen beiden 

| 20 * 


308 Das Evangelium ded Marcus. 


Evangelien nicht erklären; im erftern Falle aber müßte man anz, 
nehmen, die Stüde, welche er bald mit Lucas bald mit Matthäus 
gemeinfchaftlich hat, wären fchon früher verbunden gewefen; aber 
wenn man ſolche Combinationen ſchon in der evangeliftifchen 
Ueberlieferung denfen will, fo wäre fonderbar, daß das eine Evan- 
gelium diefe längern Combinafionen, die andern beiden aber nur 
furze vor fich gehabt haben. Fragen wir ferner, ob man wohl 
‚in Stande wäre, aus unferm Evangelium Marci das zu fondern, 
was als aus dem Munde des Petrus genommen jene frühere 
Schrift des Hermeneuten des Petrus gebildet habe: fo müffen 
wir das verneinen. Einmal giebt e5 in diefem Evangelium un— 
erwartet wenig, wobei Petrus Tünnte al eine befondere Quelle 
gedacht werden, und fehr wenig wird überhaupt feine eigne Perfon 
erwähnt. Gerade die befonders den Petrus betreffende Erzählung 
von dem Stater, welche Matthäus giebt, hat Marcus nicht; in 
der Gefchichte der Verläugnung Petri hat er auch nichts, was 
auf diefe befondere Quelle hinwiefe. Nun folgt freilich aus der 
Stelle des Papias nicht, daß Marcus mit Petrus in einem Ver— 
hältniffe befonderer Vertraulichkeit geftanden, fondern es fcheint mehr 
ein officieles Verhältnig gewefen zu fein; und da Petrus nicht 
Beranlaffung hatte, folche perfünliche Sachen in feinen Didaska— 
lien vorzufragen, fo Eonnte auch Marcus fie nicht mittheilen. 
Aber die Erzählungen bei Marcus bieten fo wenig dar, was mehr 
auf einen Augenzeugen fchließen ließe, als die bei Matthäus und 
Lucas, daß das Verhältniß unfers Marcusevangeliums zu jener. 
Notiz des Papias ganz unklar bleibt. Anders wäre es freilich, 
wenn man das ov zafsı darauf bezieht, daß Marcus nicht die 
richtige Ordnung befolgt habe, fo daß diefer Zadel des Papias 
fein Lob, dag Marcus in der Erzählung des Einzelnen fehr genau 
fei, einfchränft; dann fallen einige Schwierigkeiten weg, aber das 
Ganze wird nicht anfchaulicher und Harer. 

Die Griesbach'ſche Anficht gewinnt ihre Stärke befonders 
dadurch, daß fich von einer einfachen Vorausſetzung aus nachwei- 
fen läßf, warum Marcus an den beflimmten Stellen immer den 


Benusung des Matthäus und Lucas durch Marcus. 309 


einen Evangeliften verläßt und zu dem andern übergeht). Er 
fängt mit dem Matthäus an; aber er verläßt ihn, wo er die 
Bergpredigt beginnt. Hieran Fnüpft fih nun jene Borausfeßung, 
nemlich, daß Marcus fich ein gewifjes Eleineres Volumen vorgefebt 
und daher die längern Neben vermieden habe. So geht er 
zu Lucas über, wo GChriftus nah Gapernaum kommt, und 
bleibt bei ihm, bis er feine Redaction der Bergpredigt anfängt. 
Dann geht er wieder zu dem über, was Matthäus nad) der letz— 
ten Begebenheit hat, die Marcus felbft dem Lucas nacyerzählt 
hatte, nemlich die Gefchichte von der verdorreten Hand. Nun 
bleibt er bei Matthäus, bis dieſer hinter dem Gleichniffe vom 
Säemann ihm zu viele Gleichniffe haͤuft; da wendet er fich wies 
der zu dem, was bei Lucas hinter dem Gleichniffe vom Saͤemann 
folgt, wobei er natürlid das auslaffen muß, was er ſchon nad) 
Matthäus erzählt hat, nemlic) das von der Mutter und den Brüdern 
Sefu. Er bleibt alfo in der Drdnung des Lucas nur mit der 
Ausnahme, daß er dad Auftreten Chrifti in Nazareth vor der Er— 
zahlung der Ausfendung der Apoftel einfchaltet. Dies. erklärt fich 
aus dem Folgenden. Er bleibt nemlich nach diefer Einfchaltung . 
bei Lucas, bis er zur Erwähnung der Hinrichtung des Sohannes 
kommt; da ihm aber diefe bei Lucas zu kurz ift, fo erzählt er fie 
nach der längern Darftelung des Matthäus. Bei diefem war 
aber jene Erzählung aus Nazareth Eurz vorhergegangen, bier 
fonnte Marcus fie aber nicht nachholen; ebenfo hatte er fie im Lucas 
früher übergangen. So mußte er fie alfo an einem andern 
Orte einfchalten, wenn er fie nicht ganz auslaffen wollte. — 
Nachdem er mit der Erzählung vom Tode des Sohannes zum 
Matthäus übergegangen ift, bleibt er bei diefem bis nach der 
Geſchichte der Verklärung, nur daß er zwei eigenthümliche Er— 
zahlungen einfchaltet. Im Folgenden haben Matthäus und Lucas 
ziemlich diefelbe Drdnung; aber daraus, daß Marcus die Ge- 
ſchichte vom Stater ausläßt, fieht man, daß er mehr dem Lucas, 


1) Vergl. De Wette $. 94a. 


310 Benusung des Matthäus und Lucas durch Marcus. 


als dem Matthäus, folgt. Nun ſchließt er den Aufenthalt Chrifti 
in Galiläa mit allerlei Heinen Reden, die in den beiden andern 
Evangelien zerftreut vorkommen; es ift natürlich, Daß er am 
Ende diefes Abfchnitts noch einmal zurüdfieht, was er von Aus- 
gelaffenem noch hinzufügen künne. — Die Gefchichte der Keife 
Chrifti nach Serufalem ift bei Marcus fehr Eurz, nur in Cap. 10.; 
daher ift fie natürlich mehr der Erzählung des Matthäus als 
des Lucas ähnlich, und es herrfcht darin die Drönung des Mat 
thäus. Bei Sericho fügt er den Namen des Blinden hinzu, 
welches eine befonvere Nebenquelle zu verrathen feheint. Uebri- 
gens folgt er hier dem Matthäus, was den Ort betrifft, aber er 
feßt nur einen Blinden, wie Lucas. 

Sm hierofolymitanifchen Abfchnitte unterfcheidet er fich gleich 
Anfangs von den beiden Andern dadurch, Daß er die Zempelrei- 
nigung auf den näcdften Zag nach dem Einzuge verlegt, und 
von Matthäus auch dadurch, dag er die Gefhichte vom Feigen- 
baum in zwei Momente theilt, was fih aus dem eigenthümlichen 
Character des Marcus erklärt, wovon fpäter die Rede fein wird. 
Gewiß hätte er das augenblidliche Verdorren nicht zu befchreiben 
gewußt; aber kuͤnſtlich ift, daß die Sünger es beim Zuruͤckgehn 
am Abend noch nicht bemerken, fondern erft am andern Morgen. 
Er traut alfo dem Matthäus in der Tageszeit und meint nur, 
er verwechfele zwei verfchiedene Tage. Es kann nun hier nicht 
mehr fo deutlich hervortreten, ob er diefem oder jenem folgt. Bei 
der Gefangennehmung Chrifti ift der nadte fliehende Süngling 
ihm eigenthümlich , vielleicht wohl aus einer befondern Quelle. 
Bei der Gefchichte des Verhoͤrs, wo die falichen Zeugen aufges 
ftellt werden, hat er die Erklärung eigen, daß Chriftus von ei- 
nem nicht mit Händen gemachten Tempel gefprochen habe, 
wornach die Anklage einen ganz andern Character befommt. In 
der übrigen Relation: von dem gerichtlichen Verfahren folgt er 
dem Matthäus, auch mit dem zweiten Rath am Morgen; woge— 
gen er das Eigenthümliche des Lucas, daß Chriftus zu Herodes 
geführt fei, nicht hat. Bei der Berläugnung des Petrus hat er 


Benusung des Matthäus und Lucas durch Marcus. 311 


noch das Eigene, daß er den Hahn zwei mal kraͤhen laͤßt, was 
auch, wenn nicht ſelbſt gemacht, doch eine Auswahl des Pikan— 
teren iſt; auch in der Warnung Chriſti hatte er dies ſo ausgedruͤckt. 
Im weiteren Verfolge aber laͤßt er vieles aus, was Matthaͤus 
hat: er weiß Nichts von den Verſtorbenen, die aus den Graͤbern 
bervorgehn), auch Nichts von den Huͤtern des Grabes. Da 
entfteht alfo die Bermuthung, daß er in der Auferflehungsgefchichte 
mehr dem Lucas folgt. Dies ift auch im Anfange der Fall, aber 
nachher folgt er wieder dem Matthäus, indem er das Gebot des 
Engels, nach Galiläa zu gehn, auch hat. Eigenthuͤmlich ift ihm, 
daß die Frauen unter fich fragen, wer den Stein ihnen abmälze, 
was auch eine gemachte Lebendigkeit ift; hernach, daß fich Alles 
bei ihm auf den Unglauben der Juͤnger concentrirt, bis Chriftus 
ihnen felbft erfcheint?). Aber da hat er offenbar den Lucas nicht 
vor fih, denn bei der Furzen Erwähnung der Jünger von Em- 
maus fagt er, diefen hätten es die Apoftel auch nicht geglaubt, 
während bei Lucas, als jene beiden von Emmaus kommen, die 
Sünger ſchon an die Auferftehung glauben, da Petrus auch fchon 
Chriftum gefehn hatte. Diefer Umftand wirft meiner Meinung 
nach jener Anficht fehon ein großes Hinderniß in den Weg, denn 
es ift unbegreiflich, wie er, wenn er die beiden andern Evangelien vor 


1) Erf. Entw. Am meiften fann einen wundern, daß er bag Hervor— 
gehn der Verftorbenen ausläßt. Allein es hat denfelben Grund, daß 
es in feiner Manier mit einer größern finnlichen Anſchaulichkeit nicht 
vorzuftellen war, ohne irgendwie ing abfurde zu gerathen. 

2) Erf. Entw. Iſt nun v. 15 ff. unächt, fo fihließt er pikant aber auch 

unbefriedigend mit der Auflöfung dieſes Inglaubens Durch die Erfchei- 
nung Ehrifti. Iſt es ächt: fo ift er dem Lufas weiter gefolgt mit ei- 
genthümlichem Zufaz v. 18., der aber eine Erweiterung von Luc. 10,19. 
zu fein ſcheint. Den innern Gründen nach würde ich an der Aechtheit, 
die auch Außerlich fehr ungenügend angefochten zu fein feheint, nicht 
zweifeln. Dann aber freilich Hat dag Gebot nad) Galiläa Feinen Erfolg 
und er kann fich die Sache faum anders gedacht haben, als daß bie 
Jünger das Gebot aus Inglauben verabfäumt haben, und Chriſtus 
fid ihnen deßhalb dort Habe offenbaren müffen. 


312 Eigenthümlicher Character des Marcus. 


ſich gehabt, diefen ausdrüdlichen Widerfpruch mit Lucas hat aufneh- 
men koͤnnen. Denkt man nun gar an den Marcus, der anouvnno- 
vevsare aus den Didaskalien des Petrus aufnahm, fo müßte diefer 
gerade das am erften wiffen, daß Petrus Chriſtum gefehn hatte. — 
Wenn man von diefem Bweifelspuncte aus das Bisherige noch 
einmal überlegt, fo muß man freilich geftehn , daß fich noch eine 
Menge von einzelnen Differenzen findet, die fi) aus der Gries- 
bach'ſchen Hypothefe nicht erklären. Die Ausnahmen erfcheinen fo 
bedeutend, daß Fein großer Ueberfhuß von —— fuͤr 
dieſe Hypotheſe uͤbrig bleibt. 

Wenn wir nun einmal das Evangelium Marei fuͤr ſich ‚bes 
frachten, Doch fo, daß wir dabei die Art und Weife ver andern 
im Sinne behalten: fo kann man ihm einen eigenthuͤmlichen 
Character nicht abfprehen. Wenn wir nemlich von der VBor- 
ausfeßung ausgehn, daß wir das VBerhältnig im Allgemeinen 
nur aus der evangeliftifchen Ueberlieferung ableiten, fo Fann man 
nicht laͤugnen, daß eine gewiffe Ueberarbeitung in diefem Evange— 
lium zu bemerken ift, die ſich in den andern nicht findet. Allerdings 
hat man gegen die Ableitung der Evangelien aus mündlicher 
Veberlieferung angeführt, daß in jedem Evangelium fich ein eigen- 
thümlicher Character zeige; allein diefer Einwurf hat in Beziehung 
auf Matthäus und Lucas niemals einen befondern Eindrud auf 
mich gemacht. Denn bei Matthäus erklärt fich die befondre 
Art der Anknüpfung aus feinem Verhaͤltniß zur urfprünglichen. 
ovyyoayy und aus der ganzen Weife, wie der Verfaſſer die 
Eocalität behandelt. Wegen feiner Neigung für altteftamentliche 
Anführungen hat man Urfache, anzunehmen, daß er auf der hebräi- 
Ihen Seite fteht, wogegen bei Lucas der Verfaſſer felbft nie her- 
vortritt außer im Eingange. Dann müffen wir die Eigenthüm: 
lichkeit in der Sprache daraus herleiten, daß viele Erzählungen 
in der mündlichen Weberlieferung urfprünglich aramäifch waren, 
und daß bei denen, die griechifch waren, die Nedactoren unfrer 
Evangelien fih nit an das Grammatifhe und die Schreibart 
im Einzelnen werden gehalten haben. Die Eigenthümlichkeiten 


Eigenthümlicher Character des Marcus. 313 


in der Sprache bemweifen alfo Nichts gegen diefe Entftehungs- 
weife. Aber bei Marcus ift es anders. Da ift ein Beftreben, 
eine Lebhaftigkeit und finnliche Anfhaulichkeit in die Erzählung 
zu bringen, das etwas fehr Gefuchtes hat; damit hängt eine 
gewiffe Uebertreibung in der Darftelung zufammen, die hier und 
da an das Unnatürliche granzt und haltungslos iſt; dann eine 
Sudt, die Sachen myfteriös darzuftelen. In den beiden Hei— 
lungsgefchichten, die Marcus allein hat I), tritt dad hervor, daß 
er Chriftus das Wunder abgefondert verrichten läßt, was ja fo 
fehr mit dem Character derfelben in den andern Evangelien ftreis 
tet, und daß Chriftus dabei allerlei Manipulationen macht; dann 
find Spuren von Gemüthöbewegungen dabei, die gar Feinen Grund 
haben. In den Manipulationen finde ich nicht fowohl eine Nei- 
gung, die Wunder natürlich zu erflären, als eine Richtung auf 
das Myfteriöfe, und e5 foll dadurch eine finnliche Anfchaulichkeit in 
die Erzählung gebracht werden. Ebenfo ift eine bedeutende, aber 
etwas verſteckte Stelle die, wo die Seinigen Chriftum zurüdhal- 
ten wollen, und es fo erfcheint, als ob fie bloß wegen der Menge 
von Heilungen geglaubt, er müffe wohl außer fi fein?). Ebenfo 
kommt bei der Reife nach Serufalem eine Stelle vor, wo eine 
allgemeine Betrübniß der Sünger, ehe noch Chriftus fein Leiden 
verkuͤndigt hat, erwähnt wird, von der man feinen Grund ein- 
fieht 3). So hat Marcus oft ein Zufammenftrömen des Volks, wo 
man nicht weiß, woher e3 Fommt, u. dgl. Eine folhe Neigung 
zur finnlichen Anfchaulichkeit, aber mit unzureichenden Mitteln, 
ift das Colorit, was durch das ganze Evangelium hindurchgeht, 
und was davon zeugt, daß er das Ganze von diefem Gefichts- 
puncte aus mehr überarbeitet hat, alö die beiden andern Evangeliften. 
Andere haben nun vom Evangelium zar« Magnov die 
entgegengefeßte Meinung aufgeftelt, daß es die Grundlage ber 
beiden andern gemwefen fei und die urfprüngliche Ordnung der 
1) Marc. 7, 32—37. und 8, 22—26. 
2) Mare. 3, 20. 21. 3) Mare. 10, 32. 


. 314 Nefultat der Unterfuhung uber Mares. 


Begebenheiten enthalte. Sch kann aber durchaus nicht finden, 
wodurch fich dies rechtfertigen fol. Bei der Bergpredigt, die 
Marcus nicht hat, geht Matthäus von ihm ab; aber nach der— 
felben geht ex gar nicht in der Ordnung fort, die Marcus hat. 
Ebenſo ift es mit Lucas; Marcus hat zwei Speifungsgefchichten, 
wie Matthäus, Lucas dagegen nur die eine, da fehlt ihm alfo 
alles, was bei Marcus zwifchen diefen beiden Puncten. vorkommt; 
aber er fahrt auch nach denfelben nicht in derfelben Ordnung fort, 
fondern erft nachher nad der Berklärungsgefchichte, wo aber die 
Zufammenftimmung in der Natur der Begebenheiten liegt. Vor— 
ber ift diefe Zufammenftimmung nur fehr gering. Sch enthalte 
mich hier einer weitläuftigen Auseinanderfeßung, die Synopfe 
von De Wette und Küde giebt davon die Elarfte Anfchauung. 
Sch weiß alfo Fein andre Ergebniß aus der Unterfuchung 
zu ziehn, ald: 1. daß die Art, wie Marcus die Auferftehungsge= 
fchichte behandelt, durchaus nicht dafür fpricht, daß er unfre Evan— 
- gelien Matthäi und Luca vor fih gehabt habe. Denn er hat 
mit Matthäus den Befehl an die Sünger, nach Galiläa zu gehn, 
gemein, aber nicht die dortige Zufammenkunft; und die Annahme 
der Unächtheit von v. 15 ff., welche diefen Widerſpruch löfen 
würde, ift nicht durchzuführen. Ebenfo widerfpricht er dem Lu— 
cas. Schwerlich hat er alfo jene beiden Evangelien in ihrer ge: 
genwärtigen Geftalt benußt. Aber eben fo wenig ift das Entgegen- 
gefegte zu behaupten. 2. Es ift gar nicht auszumitteln, wie das 
Evangelium »«z& Magxov ſich zu dem urfprünglihen anorıvn- 
wovevun des Marcus verhält, das Papias erwähnt. Es ift 
nicht5 darin, was den Character der apoftolifchen Darftellung an 
fich trüge. Dies Verhaͤltniß koͤnnen wir alfo nur ald ein durch⸗ 
aus unaufgeklärtes ftehn Laffen, obwohl ich es nicht wahrfcheinlich 
finde, daß die Stelle des Vapias auf unfer Marcusevangelium 
fich bezieht, da man bei diefem keinen Grund für den dort aus- 
gefprochenen Tadel des oð zakeı findet. Dagegen ift es völlig 
gewiß, Daß auch diefes Evangelium ebenfo wie die andern beiden 
aus dem Kreife der evangeliftifchen Ueberlieferung hervorgegangen 


Zweifel gegen die Aechtheit des Sohannesevangeliums. 315 


und eine Zufammenftellung von einzelnen früher vorhandenen Er— 
zählungen ift. Sollen wir es nun mit den andern vergleichen, fo 
würde zu urtheilen fein, daß es, wenn es auch innerhalb der Gränzen 
eines canonifchen Inhalts fich bewegt, doc in feiner Ueberarbei- 
fung durch das Streben nach Vergrößerung und Fünftlich hervor= 
gebrachter Außerer Schönheit eine gewiſſe Hinneigung zum apo— 
crpphifchen Character hat. Diefe Hinneigung bezieht ſich aber 
nur auf die Form; in den Materialien felbit ift nichts, was man 
nicht als vollkommen ächt anerkennen müßte. Da ift alfo nicht 
zu verwundern, daß das große Uebergewicht der rein evangeli= 
ftifchen Ueberlieferung darin und die entfchiedene Analogie mit 
den beiden andern Evangelien diefem Werke feinen Platz in der 
Tetras des Ganons angewiefen hat?). 


Das Evangelium des Johannes, 


$. 80. 


Bekannt find die Zweifel Bretfohneider’5 gegen daS 
Evangelium des Johannes und die Meinung, daß es 
aus fpaterer Zeit und ägyptifchen Urfprungs fei. Diefe Zweifel 


1) Erf. Entw. Nimmt man nun zufammen bie nicht abzuleugnende 
Abficptlichkeit in feinen Aenderungen und Zufäzen und die Art, wie er 
fi) zu Matthäus und Lucas verhält: fo bleibt allerdings wahrſchein— 
lich, daß er aus beiden für einen andern Kreis, denn ohne eine ſolche 
Annahme würde das gehörige Motiv fehlen, ein drittes gemacht habe 
nach den Marimen, die aus ver bisherigen Darftellung hervorgehn. 
Nur freilich repräſentirt er dann ſchon eine fpätere Periode der ſchrift— 
lichen Abfaffung, und vermöge feiner befondern Richtung nach meinem 
Gefühl eine gewiffe Hinneigung nach dem apoerpphifhen. Diefe ift 
aber nicht fo groß, baß nicht dag Webergewicht der reinen evangeliſti— 
ſchen Ueberlieferung und die entfihievene Berwandtfchaft mit Matthäus 
und Lufas hätte hinreichen müſſen, jeden Zweifel abzumweifen. (Spä— 
terer Zufaß am Rande: Die Auferftehungsgefchichte verringert 
die Wahrſcheinlichkeit, daß er die beiden vor firh gehabt, gar fehr). 


316 Falſche Vorausſetzungen iiber Sohannes. 


haben mich von Anfang an nicht getroffen; aber deshalb weiß 
ich fie auch nicht recht anzufaſſen. Es find dabei zwei Ausgangs- 
puncte, die ich von vorn herein nicht annehmen Tann, 

1. Erſtlich nemlich nimmt man die drei andern Evangelien 
in voraus als aus dem apoſtoliſchen Kreiſe hervorgegangen an; 
da nun die Differenzen des Johannesevangeliums mit jenen ſo 
groß ſeien, koͤnne dies nicht als apoſtoliſch angeſehn werden. 
Schon lange haben Viele die Meinung aufgeſtellt, Johannes habe 
in die Reden Chriſti Vieles von ſeinem Eignen eingemiſcht; er ſei 
von einer enthuſiaſtiſchen Gemuͤthsſtimmung geweſen und habe 
deshalb fih ein ganz andres Bild von Chrifto gemacht, als die 
andern Evangeliften aufgefaßt; und dies habe ihn fo beberrfcht, 
daß er, ald er num aus der Erinnerung fein Evangelium verfaßt, 
unbewußf feine eigne Auffaffung bineingetragen. Nimmt man 
aber dies an, fo muß man, eben wenn man eine größere Achtung 
vor dem apoftolifchen Character hat, Leicht dahin kommen, daß 
man daS Evangelium gar nicht auf einen Apoftel zuruͤckfuͤhrt. 
Aber jene Vorausſetzung uͤber die drei andern Evangelien iſt, 
wie oben gezeigt worden, unbegruͤndet, und man begreift nun, 
wie ein Evangelium, das von einem Apoſtel wirklich herruͤhrt, 
einen ganz andern Character haben muß. 

2. Ein andrer Punct iſt der, daß man ſchwerlich glauben 
kann, daß unſer Johannesevangelium und die Apocalypſe von dem— | 
ſelben Verfaſſer feien. Dies ift freilich auch eine wieder verloren 
gegangene Meinung ; denn in den ältern Zeiten war fie viel wei— 
ter verbreitet, al3 man gewöhnlich annimmt. Sch halte es für 
ausgemacht, daß Eufebius die Ueberzeugung gehabt, die Apocalypfe 
fei nicht vom Apoftel Sohannes; und das ift nicht das eigenthüm- 
liche Urtheil des Eufebius, fondern er ftellt es dar als die allge- 
meine Anficht. Wenn man aber davon ausgeht, daß die Apo= 
calypfe vom Apoftel Sobannes fei, fo Fann und muß man beinahe 
dad Evangelium ihm abfprechen wegen der großen Differenz . 
beider; nimmt man aber das Gegentheil an, fo fehwindet der 
Zweifel. 


Ob Zohannes die andern drei Evangelien habe ergänzen wollen. 317 

Auf der andern Seite ift nicht zu laugnen, daß die alten 
Zeugniffe für das Evangelium des Sohannes mit fo vielen andern 
Meinungen vermifcht aufgeftelt find, daß ich fie kaum für Zeug- 
niffe halten kann. Das ift aber gerade dasjenige nicht, wovon 
Bretfchneider ausgeht. Es ift nemlicy eine alte Ueberlieferung, 
aber ohne Zeugniß, daß Sohannes die andern drei Evangelien 
gekannt und zur Ergänzung derfelben gefchrieben habe), Davon 
Fann ich mich aber gar nicht überzeugen, da er dann fo viele 
Widerfprüche nicht hätte ſtillſchweigend übergehn Fünnen ; vielmehr 
glaube ich, daß Sohannes von unfern drei Evangelien Nichts ge= 
wußt hat und Nichts wiffen Eonnte, da fie in ihrer gegenwärtigen 
Geftalt nur fpater Fünnen entftanden fein, als das des Johannes. 
Aber eben fo überzeugt bin ich, daß die drei Evangeliften auch 
das Evangelium des Sohannes nicht gefannt haben; mogegen 
Lesterer die große Maſſe der mündlichen evangeliftifchen Ueber- 
lieferung muß gekannt haben. — Eine andere damit zufam- 
menhängende ebenfo falfche Meinung ift, daß Sohannes deswe- 
gen nach den drei andern Evangelien das feine gefchrieben habe, 
weil diefelben nur das lebte Sahr des Lebens Chrifti gefchildert, 
weßhalb er die frühere Zeit nachgeholt habe. Allein diefer Abfchnitt 
nimmt nur einen fehr geringen Raum bei Sohannes ein, denn 
die Speifungsgefchichte, die er mit den andern Evangeliften ge: 
meinfchaftlich hat, ift fchon im 6ten Gapitel, und von dem Fruͤ— 
bern muß man noch daS abrechnen, was zur Berufung der Juͤn— 
ger gehört; fo bleibt dafuͤr faft Nichts übrig, als der erfte Auf- 
enthalt in Serufalem und die Unterredung mit der famaritanifchen 
Frau. Der größte Theil des Evangeliums liegt offenbar in einer 
Zeit, welche die andern auch behandeln, 

Ganz anders verhält es fich mit einem fehr alten Urtheile 
in der Kirche, die drei aggregivenden Evangelien feien owpxıza, 
das des Sohannes aber nvevuarızov?). Dies liegt befonders 


1) Euseb. h. e. III. 24, Hieron. de vir, ill. c. 9. 
2) Siehe oben ©. 196. 


318 Das Sohannesevangelium als das zvevuuarınov. 

den Bedenklichkeiten Bretfchneiderd zum Grunde, indem er vor- 
ausfest, die Darftellung der evayyelıa owoxınd von Chriftus fei 
die eigentlich authentifche, das svevuasınov Dagegen fei Zuſatz 
und perfünliche Anficht des Verfaſſers. — Dies alte Urtheil rührt 
aber offenbar daher, daß die erfien drei Evangelien fo wenig von 
dem innern VBerhältniffe Chrifti zu feinen Süngern erzählen, eben 
weil fie nicht aus dem apoftolifchen Kreife herfiammen, fondern 
aus der evangeliftifchen Weberlieferung, die ihre Erzählungen mehr 
aus dem üffentlihen Leben Chrifti nahm, wogegen Sohannes vie 
vertrauteren Unterredungen Chrifti mit feinen Süngern hat. Aber 
es kommen doch auch in den andern Evangelien Aeußerungen 
Ehrifti über fein Verhaͤltniß zum Vater vor, die mit dem überein: 
fiimmen, was bei Sohannes weiter ausgeführt und als Grund 
des Glaubens hervorgehoben wird. Ein verfchiedenes Verhaltnig 
findet hier allerdings Statt, das feinen Grund darin hat, daß 
Johannes fparfam ift in Erzählung von Außern Thatſachen, auf 
die es ihm gar nicht anfam. Wenn man fein Evangelium genau 
betrachtet, fo fiehbt man, wie er jedesmal aus andern Gründen, 
nicht um ihrer felbft willen, dazu gekommen ift, eine Thatfache 
zu erzählen. Das Element der Rede Chrifti dagegen, ihrem ei- 
gentlich meflianifchen Gehalte nach, tritt in größerem Berhältniffe 
hervor, wogegen Sohannes die einzelnen Zhatfachen des Lebens 
Chriſti als durch die evangeliftifche Ueberlieferung befannt vor- 
ausſetzen konnte. | 


$. 81. 


Wenn wir aber ohne Bergleihung mit den andern das 
Evangelium des Sohannes für fich betrachten, fo ift der Total— 
eindrud des ganzen mir nie ein anderer, ald daß es nicht aus 
früher vorhandenen inzelnheiten zufammengefest ift, fondern 
mit Ausnahme weniger Ergänzungen lauter Selbfterlebtes erzählt, 
was Sedem befonders deutlich werden muß, wenn man die er= 
Fünftelte, nur an einzelnen Puncten heraustretende Lebhaftigkeit 
des Marcus mit der gleichformigen, vollkommen klaren Lebendig- 


Totaleindrud des ganzen Sohannedevangeliums. 319 


feit in allen johanneifchen Erzählungen vergleiht. Dabei geht 
eine doppelte Tendenz durch das Ganze hindurch: 1. Chriſti ganze 
Erfeheinung als Begründung des Glaubens an ihn Far zu ma— 
hen, und 2. die allmählige Entwidlung feines Verhältniffes zu 
denen, die das geiftliche Anſehn repräfentirten, woraus zuletzt die 
Gataftrophe hervorging. Das Erfte ift alfo ganz eigentlich eine 
apologetifche Zendenz, eine Apologie des Glaubens an Jeſum von 
Nazareth als den verheißenen Meffias, in dem alle Weiffagungen 
erfünt find; das Andere ift eine pragmatifche Tendenz, die wies 
der mit jener erftern zufammentrifft und fie ergänzt, fo daß man 
dies nicht al eine Duplicität des Zwedes anfehn Fann, fondern 
als natürlich zufammengehörig. Denn hier werden die entgegen— 
gefeßten Anfichten von Chriftus dargeftellt, wie auf der einen 
Seite aus diefer perfönlichen Lebenseinheit Chrifti der Glaube 
und die Gemeinfchaft, auf der andern die feindfeligen Beſtre— 
bungen fich entwideln, alfo einerfeits die Cataftrophe, andrerfeits 
das Prinzip der von ihm ausgehenden Auoılsia. So hat das 
Ganze einen pragmatifchen Zweck. 

Es ift fehr Teicht, dies durch das ganze Evangelium zu ver= 
folgen. Sch will dabei den erften Eingang vorläufig ignoriren; 
dann giebt es aber noch einen zweiten, der mit dem Auftreten 
Sohannes des Taͤufers beginnt, wobei zugleich der Total- 
eindrud der Erfcheinung Chrifti ausgefprochen wird. Da fiebt 
man das apologetifche Thema aufgeftelt, aber daneben zugleich 
auch das pragmatifche, denn e3 wird gleich damit verbunden ber 
Gegenſatz der erxclufiven Nichtung auf Mofes und das mofaifche 
Geſetzy. Dann folgt das Zeugniß Johannes des Taͤufers von 
Chrifto, und wie dies die erften Sndividuen um Chriſtus verfams 
melt, denen er die Ausficht auf himmliſche Gemeinfchaft eröffnet 2). 
Die Laufe Chrifti konnte natürlich Sohannes nicht eigentlich be- 
richten, weil fie nicht zu dem von ihm Erlebten gehört, aber er 
läßt den Täufer fie erzählen, und von diefer Erzählung war er 


1) 305. 1, 15—18. 2) 305. 1, 19-52. 


320 Nachweiſung deö pragmat, Characterd des joh. Evangeliums, 


Ohrenzeuge; fie iſt die Begründung des Zeugniffes des Taufers 
über Chriftus. Diefe Erzählung ift am Ende das einzige Funda- 
ment, von weldem aus fich die Differenzen und Enantiophonien 
der andern Evangelien in der Zaufgefchichte allein auflöfen Iaffen. 
— Nun wird berichtet, wie der gewedte Glaube. an die Meffiani- 
tät Chrifti durch das Beihen in Cana befeftigt wirdl), aber 
auch faft unmittelbar darauf wird erwähnt, wie fich durch viele 
Zeichen, die Chriftus in Serufalem that, ein ihm felbft verdächti- 
ger Glaube an ihn bildete”); er habe fich ihnen nicht vertraut. 
Dies ift ein fehr bedeutender pragmatifcher Punck, weil dies der erfte 
Anfang der ausgefprochenen Hoffnung von Chriftus als einem 
irdifchen Meſſias war, was doch die nächfte Urfache zu dem fpä- 
tern feindfeligen Verfahren gegen Chriftus ward, - Ein andres 
bedeutendes Moment ift, wie, während Chriftus und der Täufer 
beide noch öffentlich handelten, Einige die Eiferfucht des Taͤufers 
gegen Chriftum rege zu machen fuchten, wobei derſelbe aber nur 
ein neues Zeugniß für ihn ablegted). Die VBeranlaffung war 
aus dem ftreng gefehlichen Character des Sohannes genommen, 
mwornach er das Alte repräfentirte, jedoch, wie er felbft fagt, ab- 
nehmen mußte, wie Chriftus zunahm. — Nun wird es als eine 
Folge des unter den Pharifaern fich verbreitenden Rufs, daß 
Chriſtus Sünger fammelte, dar geftellt, daß er nicht in Judaͤa bleiben, 
fondern nach Galiläa gehn wollte*). Unterwegs gefchah das Ge- 
fpräh mit der Samaritanerinn), worin die gänzliche 
Aufhebung aller Bedeutung der Loralität zum Gottesdienfl dar- 
geftelt, und damit die Verfühnung diefer flreitenden Parteien 
durch Aufhebung des Particularismus verfündigt wird. — Nach— 
ber kehrt Sefus wieder nach Serufalem zurüd, wo fich der erfte 
Ausbruch eines Unmwillens in der Maffe findet, fichtlich von einer 
pharifäifchen Parthei erregt, wegen zu freier Behandlung Des 


1) Soh. 2, 1—11. 2) oh. 2, 23—25. 
3) oh. 3, 22—36. 4) Gap. 4, 1-3. 
9) Cap. 4, 4—26. 


Pragmatiiher Character des johann. Evangeliums. 321 


Sabbath3 und wegen behaupteter Meflianität ). Später ent- 
ftand bei Gelegenheit der Speifung ein Auflauf einer durch Die 
Nähe von Dftern fehr bedeutenden Volksmenge in Galilda, um 
Chriftum zu einem politifchen Partheihaupte zu machen 2). Chriſtus 
entzog fich der Menge gaͤnzlich und ließ den Naufch vorübergehn, aber 
feinen Gegnern gab dies Gelegenheit, für die Zukunft zu fürchten, 
daß in eine folche Volfsbewegung die Römer ſich mifchen und 
den Testen Reſt der Freiheit dem Volke ganz nehmen koͤnnten. 
Unmittelbar darauf wird eine durch unverftandene geiftige Erflä- 
rungen Chrifti veranlaßte rücdgängige Bewegung des Glaubens 
unter der Menge berichtet, und es läßt ſich faft vermuthen, daß 
auch unter den Zwoͤlf noch theilmeife ein folcher falfcher Glaube 
war, da Chriftus fie fragt, ob fie auch fich abwenden wollen 3). 
Hernach wird erzählt, wie Sefus aufgefordert fei, auf das Laub— 
hüttenfeft zu gehn, und wie über ihn verfchievene Meinungen 
unter dem Volke auf dem Fefte gemwefen, aber man fich nicht mehr 
getraut habe, frei über ihn zu reden*). Die pharifäifche Parthei 
muß aljo fich ſtark über ihn geäußert haben; es werden fogar 
Berfuhe gemacht, fich feiner zu bemächtigen, wobei fih Nicode- 
mus einem folchen Verfahren opponirt?). Dann folgen wieder 
Neden Chrifti, worin er aufs ftärffte feine mefjianifhe Würde 
ausſpricht, ohne Widerſpruch zu erregen‘); da ſcheint alſo feine 
Parthei wieder maͤchtiger zu ſein; doch bei ſeiner Aeußerung uͤber 
ſein Verhaͤltniß zu Abraham entſteht wieder ein zelotiſcher Volks— 
auflauf?). Darauf beſchließt das Synedrium ven ſ. g. kleinen 
Bann gegen jeden, der Jeſum für den Meſſias erklaͤren würde 8), 
was fich bei der Gefchichte des Blindgebornen deutlich Fund thut. 
Es folgt ein neuer Verſuch, Chriftum wegen feiner meffianifchen 
Behauptungen zu greifen und zu fleinigen, weßhalb er Serufalem 


1) 306. 5, 10-18, 2) Cap. 6, 14. 15. 
3) Cap. 6, 60-71. 4) Cap, 7, 1—13. 
5) Eap. 7, 32—52. 6) Cap. 8, 12—20, 
7) Cap. 8, 56-59. 8) Cap. 9, 22. 


Einl. ins R, T. 21 


392 Pragmaliſcher Character des johann. Evangeliums. 


verläßt und nach Peraa geht !). Es kommt die Krankheit und 
der Tod des Lazarus dazwiſchen; Die Juͤnger wollen Jeſum ab— 
halten, nach Judaͤa zuruͤckzukehren, aber er geht nach Bethanien; 
nach Auferweckung des Lazarus faßt das Synedrium einen Be— 
ſchluß gegen Chriſti Leben, weßhalb dieſer ſich nach Ephraim in 
der Nähe der Wuͤſte zuruͤckzieht?). Doch kehrt er zum Feſt zu— 
ruͤck; da zeigen fich die Wirkungen jener Auferwedung theils in 
Bethanien, theils bei dem von Geiten Chrifti ganz prunflofen 
Einzuge in Serufalem. Er verfündigt nun felbit feinen Tod als 
nahe bevorftehend, und feine Anhänger unter den Oberften haben 
nicht Muth zu einer Gegenwirfung 3). So ift die ganze pragma— 
tifche Entwidlung der Cataflrophe gegeben. Wenn fich nun auch 
Sudas nicht hineingemifcht, fo hätte es doch an einer Belegenheit, 
Sefum zu ergreifen, nicht gefehlt. Daher läßt fi auch Johan— 
nes über Sudas, und wie er bis zu feinem Berrath gekommen, 
nicht näher aus, mit Ausnahme des einzigen Umftands c. 12, 4—6. 

Dies ift der Gang des Evangeliums von der pragmatifchen 
Seite, und da fieht man deutlich, wie diefe Puncte, die nicht 
fo an einzelnen Zügen hängen, wie in den andern Evangelien, 
ſo ſtark hervortreten, daß man die pragmatifche Zendenz gar 
nicht überfehn Fann. Das apologetiiche Element, Die andere 
Seite des pragmatifchen, ift nun theil in den Handlungen 
theil3 in den Reden Chrifti niedergelegt. Da ift nun gleich 
zu bemerken, wie in dem ganzen Zeitraum bis zum leßten 
Auftreten Chrifti in Serufalem alle größern Redemaſſen, 
ja felbft ganz Heine Ueußerungen (wie c. 1, 51. 52.) es immer 
mit der meflianifchen Behauptung Chrifti zu thun haben; es 
find Aeußerungen über feine Dignität, über die Befchaffenheit 
feiner Sendung, über fein Verhältniß zum Vater und über fein 
Verhaͤltniß zur alten Bolksleitung, wogegen folche parabolifche 
und gnomifche Reden, wie in den andern Evangelien, faft gar 


1) 50h. 10, 22—42, 2) Cap. 11, 53. 54. 
3) Cap. 12, 23. 31. 42, 43. 


Reden Chrifti bei Johannes. 323 


nicht vorkommen; einige Parabeln allerdings, wie daß Chriftus 
ſich als den Hirten und als die Thür darftellt, aber immer im 
Zufammenhang mit folchen beftimmten meffianifchen Aeußerungen. 
Nun ift auch immer mit diefen Reden Chrifti die Darftellung 
der dadurch erwedten Stimmung, alfo immer das Pragmatifche _ 
mit diefem Apologetifchen verbunden. Achtet man darauf, wie ' 
diefe Reden theils fi) aus Gefprächen entwideln, theils wegen 
des ſymboliſchen Vortrags nicht fo leicht zu behalten waren, ſo 
befommt man eine rechte Anfchauung von der Differenz zmwifchen 
dem eigentlich apoftolifchen Erzählungselemente von Reden Chrifti 
und denjenigen Weberlieferungen diefer Art, Die aus einer andern 
Duelle Eommen konnten. Solche Reden, wie Soh. 6., und: Ex— 
tracte aus folchen Dialogen, wie mit Nicodemus und der Sama— 
riterinn, feftzuhalten und wieder zu geben, dazu gehörte offenbar 
‚ein näheres Verhaͤltniß zu Chriftus. Sie konnten nur von einem 
Apoftel wiedergegeben werden, und andrerſeits eigneten fie fi 
für eine evangeliftifche Heberlieferung gar nicht, weil fie nicht fo in 
abgerundeten Ganzen vorgetragen werden konnten. Ebenfo ver- 
halten fih die Reden in Serufalem c. 5. 7. S und 9. Aud die 
Neden in Cap. 10. hängen genau zufammen mit der Frage der 
Phariſaͤer an Chriftus, ob er fie zu denen rechne, die blind feien 
oder blind werden wollen. Hier fommen jene beiden Para— 
bein vor, und der Uebergang von Thür zu Hirt ift nicht eben 
fehr populär, aber ich möchte nicht einmal behaupten, daß beide 
aus verfchiedener Zeit und nur der Aehnlichkeit wegen verbunden 
find; denn eine folche wiederholte Parabelnanführung ift in 
der rabbinifchen Didascalie etwas fehr Gewöhnliches. Vergleichen 
wir nun Diefe Reden mit den antipharifäifchen namentlich bei 
Matthäus, fo müfjen wir fagen, daß Sohannes die legtern nicht 
hat mit aufnehmen wollen, weil jene das Verhaͤltniß weit mehr 
in feinem Innern trafen. Die Vorwürfe, welche Chriftus bei 
Matthäus den Pharifaern macht, mußten zwar einen bedeutenden . 
Eindruck auf das Volk machen; aber das Verhaͤltniß zwifchen Chri- 
ſtus und den Phariſaͤern haͤtte doch daſſelbe ſein muͤſſen, wenn auch 
21* 


324 Warum Sohannes Manches erzählt und Manches nicht. 


die Pharifaer die Gefeke, welche fie dem Volke auflegten, felbft 
eben fo genau befolgt hätten. Die Aeußerungen Chrifti bei Mat- 
thäus find gnomifch, fententiös, Fonnten alfo leicht von Allen 
behalten werden; aber fie treffen nicht fo den Gegenſatz des 
Princips, wie die bei Sohannes, die mehr fymbolifch find und 
auf den innern Grund gehn, aber nicht fo faßlich find. Jedes 
bat, unbefangen angefehn, feine natürliche Stellung. In den 
aggregirenden Evangelien Fonnten folhe Nedemaffen, wie wir fie 
dort finden, nicht fehlen, es müßten denn Chrifti Neden den 
Eindruck verfehlt haben, wodurch fie in Vieler Mund und in die 
evangeliftifche Ueberlieferung Famen. Dagegen konnten die Reden 
bei Sohannes auf die, welche Chriftum nur einmal oder zuweilen 
hörten, nur einen momentanen Eindrud mahen, und nur von 
denen, die in vertrautem Berhältniffe zu ihm ftanden, in ihrem 
Zufammenhang aufgefaßt werden. 

Die Meinung, daß Iohannes habe die andern Evangelien 
ergänzen wollen, ftüßt fich theild auf die Zeit, in der er fich be- 
wegt, theils darauf, daß er manches, was er hätte erzählen müf- 
fen, darum nicht erzähle, weil er es als bekannt vorausfeße, theils 
darauf, daß er manches Ungenaue in den übrigen Evangelien 
berichtige. Der erfte Punct ift fhon oben widerlegt. Was 
den zweiten betrifft, fo muß man unterfcheiden, ob Sohannes, 
wenn er Etwas nicht erzählt, es aus der mündlichen evangelifti- 
fchen MWeberlieferung oder aus den drei andern Evangelien als 
befannt vorausfeßt. Das Lebtere müßte befonders nachgewiefen 
werden, nemlich es müßte etwas fein, was nicht allgemein in der 
mündlichen Ueberlieferung auch fein Eünnte, fondern den drei Evan- 
‚gelien eigenthümlich wäre. Ob aber Sohannes Etwas hätte er- 
zählen müffen, wenn er es nicht als befannt vorausgefest hätte, 
fommt ganz auf den Standpunct des Berfaffers an, was er zu 
erzählen für nothwendig hielt. Man fagt, Sohannes erzähle das 
Wunder zu Cana und vom Sohne des Baorkırog, weil die ans 
dern Evangelien diefe Begebenheiten nicht haben; aber er thut es 
offenbar, weil fie auf der Rüdkehr des Erlöfers von Serufalem 


Ob Sohanmes die andern Evv. berichtige. 325 


nach Galiläa gefchahen, und von einem befondern Seitenblide auf 
die andern Evangelien ift Feine Spur. Die andern Gefchichten 
werden um der Neden willen erzählt oder find pragmatifhe Mo— 
mente für das Ganze. Man fieht übrigens aus der Art, wie So- 
hannes erzählt, daß Chriftus viele Zeichen gethan, und daß Diele 
um derfelben willen an ihn geglaubt ), daß ed gar nicht feine 
Abficht war, Wunder um ihrer felbft willen zu erzählen, da er fie 
als befannt vorausfeßt, fondern daß er fie nur einmifcht, wo fein 
Pan eine folhe Aufführung nöthig macht. Auch fieht man gar 
nicht, daß gerade unfre drei Evangelien erganzt würden; denn 
da Cana?) fonft nicht als Aufenthaltsort Ehrifti vorfommt, fo 
fönnten jene beiden Erzählungen auch außerhalb der evangelifti= 
ſchen Ueberlieferung überhaupt gelegen haben. Diefe Rubrik zeigt 
ſich alfo, fo wie man die Sache genauer betrachtet, ziemlich leer. — 
as den dritten Punck betrifft, fo hätte Sohannes, wenn er die 
andern Evangelien berichtigen gewollt, nody manches zu berich— 
tigen gehabt, was er unberichtigt läßt. Man führt Joh. 3, 24. 
als eine Berichtigung des Matthäus an, welcher die Gefangen 
nehmung des Zäufers zu früh feßt. Aber dies Fommt gar nicht 
bei einem Factum vor, was Matthäus auch hat, denn diefer erzählt 
Nichts davon, daß Chriftus und feine Sünger nach der Gefan- 
gennehmung des Täufer getauft hätten). Eher ift es fo zu 
erklären, daß die Gefangennahme bald darauf wirklich gefchah, und 
alfo Sohannes das Zeitverhaltnig ausprüdlich beftimmen. wollte. 
Eben fo wenig kann Soh.11,2. auf Matth. 26, 7. bezogen wer 
den, denn die Berichtigung wäre weit beffer bei der Erzählung 
felbft erfolgt. Hier anticipirt Sohannes nur diefen Umfland, in- 
dem er die Sache aus der Ueberlieferung als bekannt vorausfegt, 
die auch wegen der Vorherfagung Chrifti gewiß allgemein bekannt 
war. Wollte Johannes mit diefer Notiz den Matthäus berichtigen, 
fo hätte er irgend eine Andeutung von dem ganzen Berhältnig 
der Familie ded Lazarus zu Chriftus geben müffen. — Dagegen 


1) Joh. 2, 23. 2) Joh. 2,1. 4, 46. 3) Matth. 4, 12. 


36°  Rester Aufenthalt CHrifti in Jeruſalem nach Johannes. 


giebt es manche andere Stellen, wo er wohl Urfache gehabt hätte, 
zu berichtigen, wenn er daS gewollt hätte, 3. B. bei der GSpei- 
fungegefchichte wäre es allerdings darauf angefommen, zu berich- 
tigen oder auch die Möglichfeit der Uebereinftimmung zu zeigen. 
Dergleichen kommt aber nicht vor. In der Folge finden ſich noch 
mehr folche Beifpiele. Man fieht daraus, daß Sohannes die drei 
Evangelien in ihrer jegigen Geftalt nicht gefannt hat. 


8. 82. 


Wir wollen nun weiter gehn zu dem Abſchnitte des Johan— 
nes, wo die eigentlich pragmatiſche Behandlung aufhoͤrt, d. h. 
wo die Abſichten der Gegner Chriſti zur Reife gediehn ſind und 
ihre Ausführung anfängt, da, wo Chriſtus zum letzten Male nach 
Serufalem fommt. Hier beginnt eine bedeutende Reihe von Res 
den Ghrifti bis zu feiner Gefangennehmung, worin das Apologes 
tifche dDominirt, indem diefe Reden Selbfidarftellungen Chrifti find 
mit Hindeuiung auf das, was nach feinem Tode gefchehn werde, 
immer ausgehend von der Meberzeugung, daß jet die Gataftrophe 
perfönlich für ihn eintreten müffe. 

Das Ganze fängt an mit einer fortwährenden Verherrlihung 
Chrifti auch äußerlich, fo daß der Eindrud, den Chrijtus auf die 
Einzelnen und die Maffe ausübt, und die Art, wie die Gegen 
parthei gegen ihn zu Werke geht, recht ſtark gegen einander treten. 
So die Salbung, verbunden mit der beftimmten Vorherfagung 
- feines Todes, dann die Verherrlichung durd die Mafje beim Ein— 
zuge in Serufalem, dann die Art, wie die Griechen ihn auffuchen, 
ein fortlaufendes Bild der Glorie, aber überall mit der Gewißheit 
des Todes durchzogen, fchließend mit noch einem lauten kate— 
gorifchen Ausfprechen feiner Beftimmung und der Aufforderung, 
an ihn zu glauben ).— Nun erwähnt Sohannes Nichts von 
dem Scheiven aus dem Tempel und den Neden über Zerftörung 
Jeruſalems und Wiederfunft Chrifti, die in den andern Evangelien 


1) 3op. 12, 44, 50. 


Regler Aufenthalt Chrifti in Serufalem nad Sohannes. 327 


ſich finden, Wenn wir die Maffen von Reden, die wir bei Mat- 
thäus feit der Ankunft Chrifti in Serufalem finden, zufammennehmen 
und bie, welche Sohannes hat: fo will ich zwar nicht behaupten, daß 
e3 nicht denkbar fei, daß Chriftus alles dies in dieſen wenigen 
Tagen gefprochen habe; aber vergleiht man die Richtung der 
Reden und die Stimmung in beiden Maffen, fo hat man Mühe, 
fich das in folcher Continuität zu denken. Aber wenn daraus ein 
Beweis follte genommen werden, daß bie Reden bei Sohannes nicht 
ächt feien, weil fie auf folche Weife von jenen andern abweichen: fo 
weife ich nur auf die unläugbare Thatſache zurück, daß die drei andern 
Evangelien Nichts von einem mehrmaligen Aufenthalte in Jeru— 
falem wiffen, daß fie alfo alles, was fie von dort erfahren haben, 
in dieſe Ießte Zeit zufammendrängen. Aber dabei ift auch fehr 
möglich, daß Sohannes Vieles von dem, was Chriftus in diefer 
Zeit gefprochen, hier gar nicht. hat aufnehmen wollen, weil er ſich 
in diefer Ießten Zeit mehr auf das innere Leben Chrifti, fein Ver— 
hältniß zu den Süngern, und auf das, was unmittelbar zum Ges 
fammtverlauf gehört, befchränfen wollte. — Nun folgt die große 
Schwierigkeit, Daß Sohannes da, wo er von einem Mahle Ehrifti mit 
feinen Juͤngern fpricht, welches fich nach dem ganzen Zufammen- 
hange als daS Ießfe zu erkennen giebt, doch weder das Abendmahl _ 
noc) das Ofterlamm erwähnt, fondern ftatt deffen das Fußwafchen. 
Dabei iſt doch die Ankündigung des Verraths des Judas da, 
welche die andern Evangeliften beim Abendmahl als ein Haupt— 
moment erzählen. Hier ift die Frage fehr an ihrer Stelle, ob i 
nicht Sohannes hier die Einfeßung des Abendmahls hätte erwäh- - 
nen müffen, wenn er fie nicht als bekannt vorausgefeßt hätte. 
An und für fih ift möglich, daß Sohannes nicht denfelben Werth 
auf diefe Handlung Chrifti gelegt hätte; aber im Zufammenhange 
der Thatſachen ift dies nicht zu denken, da aus den paulinifchen 
Briefen hervorgeht, Daß gleich bei der Errichtung der erſten Ge— 
meinden auf diefe Zhatfache gebaut wurde, und das Abendmahl 
ein Inſtitut in allen chriftlichen Gemeinden geworden war. . Da ift 
nun nicht zu glauben, daß Sohannes, wenn er auch einen gerin= 


328 Das Teste Mahl bei Johannes. 


gern Werth darauf gelegt hätte, durch fein bloßes Stillſchweigen 
Etwas gegen dieſes Inſtitut habe fagen wollen. Aber eben weil 
das Abendmahl ein herrfchendes Inſtitut in der chriftlichen Kirche 
war, konnte er es übergehn und vorausfeßen, daß der Urfprung 
deffelben allgemein befannt war. Dies ift der Punct, wovon wir 
ausgehn müffen; denn wenn er die andern Evangelien vor fich 
gehabt und fie hätte berichtigen wollen, fo hätte er gerade hier fein 
VBerhältnig zu ihnen erwähnen und darüber reden müffen, wie 
die Einfeßung des Abendmahls fih zum Fußwaſchen, und dies 
fih zum Dftermahl verhielt. Aber fo, da er Fein Wort darüber 
jagt, fondern den Widerfpruch gerade recht grell hervorzuheben 
Scheint, indem bald darauf folgt, daß die Priefter noch nicht das 
Ofterlamm gegeffen ?), fo folgt daraus, daß er die andern Evan- 
gelien nicht gekannt hat. Will man aber nun fagen, diefe ficht- 
baren Abweichungen feien ein Zeichen der Unächtheit de Evan— 
geliums, fo muß ich fagen: wenn ich mir denken foll, daß ein 
Späterer, um feine Anfichten von Chriftus in Umlauf zu bringen, 
ein ſolches Evangelium fehreiben und dem Apoftel Sohannes un- 
ferfchieben wollte — denn daß der Verfaffer für einen Augenzeu= 
gen und Theilnehmer gehalten fein will, ift unläugbar — fo würde 
er fich ja gehütet haben, in einen folchen Widerfpruch zu gerathen; 
und gefeßt, der Unterfchiebende hätte die Evangelien auch nicht 
gekannt, fo waren Doch gerade diefe Elemente in der evangelifti- 
ſchen Meberlieferung fo verbreitet, daß er fich hätte Feine folche Ab— 
weichungen erlauben koͤnnen. Diefe ganze Darftellung aber, das 
Fußwaſchen als ein fombolifcher Unterricht, die Ankündigung des 
Verraths, gleihfam die Ausfchließung des Sudas aus der apofto: 
lifchen Gemeinfchaft in tiefer, angemeffener Gemüthäbewegung, die 
Art der Auömittelung des Verraͤthers, alles dies beurfundet fich 
deutlich als die Erzählung eines Augenzeugen; ebenfo wie bie 
Gefhichte der Speifung und des Blindgebornen u. f. w. 

Es folgen Reden Chrifti, feine Warnung an Petrus ?), feine 


1) 30). 18, 28, 2) Joh. 13, 38. 


Leidensgeſchichte bei Johannes. 329 


Ermahnung zum Gleichmuth, dann die Verkuͤndigung des Geiſtes, 
und was ſich daran knuͤpft. Gelegentlich wird geſagt, daß ſie 
aufſtehn , und dann ſchließt ſich eine neue Rede Chriſti an 
ohne alle Anknuͤpfung, beginnend mit dem Bilde des Weinſtocks; 
ebenſo einfach fuͤgt ſich das Gebet Chriſti daran, und am Ende 
wird das Hinausgehn aus der Stadt erwaͤhnt?). Dieſer Schluß 
bezeichnet deutlich diefe Reden als in unmittelbarer Folge gehalten. 
Hier muß alfo die apoftolifche Auffafjung und Erinnerung befon- 
derd im Anfpruc genommen werden. - Und Alles trägt auch fo 
fehr den Character der Erzählung eines Augenzeugen; das Auf: 
ftehn vom Mahle, das fich Entfernen von Gebäuden, wo das Bild 
von den Neben aus der unmittelbaren Umgebung hergenommen 
zu fein fcheint, indem Chriftus zwifchen den Weinbergen herging, 
Alles hat fo fehr das Gepräge der Unmittelbarfeit, daß jeder 
Gedanfe an etwas fpäter Gemachted ganz verfchmwindet. 

Sn der Leidensgefhichte, wo die Gefangennehmung 
als der eigentliche Anfang der Cataſtrophe dargeftellt wird, ift ein 
Widerſpruch in der Art, wie Sohannes und wie die andern Evans 
geliften den Zuſtand Chrifti darftelen. Bei Sohannes nemlic) 
fommt Fein Moment vor, wo ihn die EHarfte Befonnenheit und 
Ruhe mit der vollkommenen Gewißheit feines Zodes auch nur 
einen Augenblick verlaffen hätte, wogegen in den andern Evan- 
gelien eine dem widerfprechende Gemuthsftimmung beim Gebete 
in Gethfemane dargeftellt wird. Kannte Sohannes dies nur als 
einzelne Erzählung, fo konnte er fich nicht verpflichtet halten, Etwas 
dagegen zu fagen; aber als durch zufammenhängende Gefchicht- 
fchreibung befeftigt hätte er es kaum konnen unberüdfichtigt laffen. 
‚Sollte man dagegen denken, daß ein fpäterer Berfaffer -diefen Je— 
fus, fo wie er bei Sohannes ift, habe erdichten wollen, fo hätte 
er gar Feine Notiz von der evangeliftifchen Weberlieferung haben 
müffen, wenn er gerade im Widerfpruch damit erzählte. — Es 
jcheint, ald wenn die Leidensgefchichte damals noch nicht als Ein 


1) Joh. 14, 31. 2) Cap. 18,1. 


330 Auferſtehungsgeſchichte bei Johannes. 


heit in der evangeliſtiſchen Ueberlieferung vorgetragen wurde, ſon— 
dern nur vereinzelte Erzaͤhlungen aus derſelben. Davon finden 
wir noch eine andre Spur. Die andern Evangelien wiſſen Nichts 
von Hannas; ſie denken ſich die Verlaͤugnung Petri und das Ver— 
hoͤr Chriſti bei Caiphas. Johannes aber erzaͤhlt ganz einfach, daß 
die Verlaͤugnung bei Hannas vorgefallen, und wie Chriſtus dort— 
hin gekommen, ohne auch nur im mindeſten der Confuſion zu 
erwaͤhnen, die bei den Andern hier herrſcht. Das Verhoͤr bei 
Caiphas, was aber auch eins der Hauptſtuͤcke der Ueberlieferung 
war, ſetzt er freilich als bekannt voraus, und das &yovom ovv 
c. 18, 28. ſcheint fich ordentlich auf diefe befannte Weberlieferung 
zu beziehen. Aber daß er es ausgelaffen, hat auch noch den Grund, 
daß er nicht felbft, dabei gewefen, und er erzählt hier nur das, 
was er felbft gefehn. Hätte er die andern Evangelien gekannt, fo 
hätte er eine Andeutung geben müffen, wie eine VBerwechfelung 
beider Kocalitäten bei ihnen ftattfand. 

Gehn wir zu der Auferſtehungsgeſchichte über, fo hat 
Sohannes das Eigene, daß er fagt, man habe wegen der Nähe 
des Sabbatb5 den Leichnam in ein Grabmal nahe bei Golgatha 
gebraht N). Das lautet fo, ald ob er nur interimiflifch dahin ge— 
bracht, und dies nicht daS Grab wäre, welches urfprünglich von 
Sofeph von Arimathia für Chriftum beftimmt war; daraus ließe 
fih ein Verdacht fchöpfen, daß Joſeph felbft nach dem Sabbath 
den Leichnam von da hätte wegnehmen Fünnen, und daß deshalb 
das Grab fei Teer gefunden. Bergleicht man dies mit dem, was 
Matthäus erzählt, daß fich unter den Juden das Gerücht vers 
breitet habe, die Sünger hätten den Leichnam Chrifti geftohlen, fo 
erwartet man darüber, hätte Sohannes das Evangelium Matthai 
gekannt, eine Andeutung. Aber aus dem weitern Verfolg der 
Gefhichte fieht man, daß der Verdacht ungegründet if. Nun 
find hier wieder die Erzählungen von der. Art, daß fie deutlich 
die Berichte fo darfielen, wie die Augenzeugen fie mußten gege— 


1) Joh. 19, 41. 22. 


Das letzte Capitel des Johannes. 331 


ben haben, und zum Theil die unmittelbare perfünliche Sheilnahme 
befunden, Am Schluß von Gap. 20. fieht man, wie ed dem 
Sohannes nicht auf eine Menge von Einzelnheiten, wodurd Doc) 
immer nur daffelbe wiederholt würde, angekommen ift, fondern. 
auf den Eindrud des ganzen Lebens Chrifti. Er kann alfo und 
wird auch wohl noch viel mehr gewußt haben, aber ohne beftimm: 
ten Trieb, e8 zu erzählen. 


Das letzte Capitel des Evangeliums it vielfach angefochten 
worden, und man Fann fich dem wohl ſchwerlich entziehn, daß 
e3 ein fpäterer Nachtrag ift, denn das vorige Gapitel enthält ei- 
nen förmlichen Schluß. Der eigentliche Inhalt des lebten Capi— 
tels ift die Abweifung eines unter den Chriften verbreiteten Ge— 
rüchts, daß Sohannes nicht fterben, fondern die Wiederkunft 
Ghrifti erleben werde; fo fcheint es alfo gegen das Ende des lan 
gen Lebens des Sohannes hinzugefügt zu fein. Aber daß es, wenn 
auch nicht unmittelbar aus der Feder des Sohannes gefloffen, doch 
aus feiner mündlichen Erzählung gefommen, daran ift wegen des 
ganz ähnlichen Characters diefer Erzählung mit den andern im 
Evangelium nicht zu zweifeln, Aber ich finde auch Feine Urfache, 
das Erftere nicht anzunehmen. Nur die beiden lebten Verſe (v. 
24.25), die eine Art von Sanction der ganzen Schrift enthalten, 
möchten nicht dem Sohannes zugehören, fondern wahrfcheinlic) 
den Borftehern der Gemeinde, bei der Sohannes zuerft fein Evan- 
gelium nieberlegte. Sohannes felbft fah es nur als Nachfchrift 
an und brauchte Feinen neuen Schluß zu machen. 


Mo nun dies Evangelium zuerft erfchien und wann? das 
wiffen wir eben fo wenig, wie bei den andern, nur fo viel ift ge- 
wiß, daß Sohannes die andern nicht vor ſich gehabt. ES ift ſchon 
ein bedeutender Fortfchritt, wenn ſich bis zum höchften Grade 
wahrfcheinlih machen läßt, daß das Sohannesevangelium älter ift, 
al3 die andern drei in ihrer jetzigen Geftalt, indem es ſich nir— 
gends auf fie bezieht, fondern hoͤchſtens auf einzelne durch Die 
Ueberlieferung verbreitete Erzählungen. | 


392 Werth und Zweck des johann. Goangeliums, 


§. 83. 

So wie man nun das allgemeine Verhaͤltniß und den ganz 
verſchiedenen Typus und die verſchiedene Tendenz des Sohannes- 
evangeliums und der drei uͤbrigen ins Auge faßt, ſo ſchwindet 
der Nero aller Zweifelsgruͤnde gegen die Aechtheit des erſteren. 
Wir koͤnnen dann nicht von der Vorausſetzung ausgehn, daß die 
drei erften Evangelien eine vollfommen zufammenhängende Gefchichte 
enthalten, fondern fie find aus einzelnen Erzählungen zufammen= 
gefeßt, welche größtentheils von Solchen herrühren, die nicht zum 
engften Kreife der Sünger Chrifti gehörten. Das Evangelium des 
Sohannes ift dagegen das Nefultat der apoftolifchen Auffaffung. 
Und e5 ift Faum zu bezweifeln, daß Sefus, fo wie Sohannes ihn 
Dargeftellt hat, auch das Fann gefagt und gethan haben, was ihn 
die andern Evangelien fagen und thun Iaffen, wenngleih man 
nicht fagen Fann, daß aus dem Bilde, was uns die andern Evangelien 
geben, unmittelbar das durch Sohannes gegebene fich bilden laffe. 
Dies gebt aber ganz natürlich aus der Art hervor, wie die an— 
dern Evangelien zu ihren Erzählungen gekommen find. 

Es ift dann auch gar nicht nöthig, eine befondre Abficht vem 
Evangelium des Johannes zum Grunde zu legen. Denn wenn 
er Nichts wollte, als feine Auffaflung Chrifti, wie fie auf dem 
gefchichtlichen Chriftus ruhte, mittheilen, fo braucht man weder 
auf irgend eine dDogmatifche Tendenz noch auf eine Beziehung auf 
andere Schriften zurüczugehn. Was ich vorher von der apolo= 
getifchen Tendenz fagte, ift daffelbe; denn wenn er feine Anfchau- 
ung von Chrifto wiedergeben wollte, fo mußte er au) den Eine 
druck wiedergeben und die Art, wie er dazu gefommen ). Daß 
nun unfre BVorftellung von Chrifti Leben und Wirfen eine fehr 
unvollftändige fein würde, wenn wir. das Sohannesevangelium 
nicht hatten, wird Niemand bezweifeln, und daß es mit zu dem 
Bedeutendften in der. göttlichen Providenz gehört, daß es geſchrie— 
ben und aufbehalten worden, ift nicht zu läugnen. Damit hängt 


1) Vergl. Joh. 20, 31. 


Einzelne Zweifeldgründe gegen Joh. — Der Prolog. 395 
aber zufammen, daß wir wenig von einer welthiftorifchen auf die 
fchnelle Verbreitung des Chriſtenthums gerichteten Thaͤtigkeit des 
Sohannes wiffen. Es gehörte ein ftilleres, weniger bewegtes Le— 
ben dazu, um die Erinnerung an diefe Begebenheiten fo zu pfle— 
gen, daß fie nach einer ziemlich langen Zeit fo freu wiedergege— 
ben werden Fonnten. 

Sch kann indeg nicht umhin, wenngleich ich überzeugt bin, 
daß die richtige Stellung die Zweifelsgründe ganz befeitigt hat, 
doch noch über einzelne, die vorgebracht find, Etwas zu fagen. 

Das Erfte, was ich mir aufgefpart habe, ift der Eingang 
des Evangelium. Da kann man nun freilich fagen: Jo— 
hannes war ein galiläifcher Fifcher, hatte Feine gelehrte Bildung 
genoffen, war nur, wie jeder jüdifche Knabe damals, unterrichtet. 
Sn diefem Eingange will man nun Spuren finden von einer frem— 
den Art zu philofophiren, entweder aus einem orientalifchen, aleran- 
drinifchen, nicht=judifchen Urfprung oder aus dem, was nur in 
den höhern jüdifchen Schulen mitgetheilt wurde. Nun fagt man 
weiter, diefe Vhilofopheme über die eigenthümliche Perfünlichkeit 
des Meffias feien die Leitung der ganzen Darftellung Chrifti, und 
mehrere Reden Chrifti bei Sohannes fiimmten mehr mit der eig- 
nen Weisheit des Sohannes zufammen, al$ mit den andern Evan- 
gelien, und daraus fei zu fchließen, daß fie mehr dem Johannes, 
als Chrifto angehören. Nun will ich gern geftehn, daß, wenn in diefem 
Eingange Etwas wäre, wovon ich glauben müßte, Sohannes koͤnne 
es nicht aus dem Umgange mit Chrifto befommen haben, fondern e3 
hätte einen andern Urfprung, ich felbft bedenklich werden würde, ob die— 
fer Eingang ihm angehören koͤnne. Man könnte dann immer noch fich 
mancherlei Hypothefen offen laſſen; entweder, daß Sohannes fpa= 
ter fich anderwärts Kenntniffe erworben habe, die ihn in den 
Stand festen, vor die eigentliche Erzählung diefen Eingang als 
fein eigenthümliches Glaubensbefenntniß zu fegen, in Ausdrüden, 
die er erft fpäter fich angeeignet, oder daß der Eingang, wie der 
Schluß, von einer fremden Hand fei. Aber ich glaube, daß we— 
der das Eine noch das Andre nöthig if. Mir fcheint indeg, man 


334 Ueber den Prolog des Johannes. 


kommt nicht zu einer richtigen Anficht über diefen Eingang, wenn 
man von porn anfängt; fondern es ift beffer, wenn man von hin- 
ten anfängt dort, wo er fich in die folgende Darftellung verliert. 
Nehmen wir den Sat: „Chriftus Fam in fein Eigenthum, und 
die Seinigen nahmen ihn nicht auf” fo ift das ganz einfach und 
verftändlih. Wenn nun kurz vorher gefagt wird, Chriftus fei das 
Licht, und das Licht habe in der Finfterniß gefchienen, fo ift das 
ein ganz natürlicher bildlicher Ausdruf; und wenn wir finden, 
daß Chriftus in Reden bei Sohannes fich felbit das Licht der Welt 
nennt, fo fehe ich nicht ein, warum diefe Neden Chrifti von Jo— 
hannese vft follen gemacht fein nad dem Eingange, und warum 
diefe Selbſtdarſtellung Chrifti nicht vielmehr umgekehrt Einfluß 
auf den Eingang gehabt haben fol. Wenn wir ferner in den 
Neden Chrifti fehn, Daß er felbfi feine Worte Geift und Leben 
nennt , und daß feine Sünger feine belebende Kraft in feinen 
Worten finden, und wenn wir fehen, wie Chriftus nicht nur 
bei Sohannes , fondern auch in den andern Evangelien fein Ver— 
hältnig zum Vater darftellt: fo ift doch wohl am natürlichfien, 
daß wir fagen: dies Verhältniß hat fich Fund gegeben in den Wor- 
ten Chrifti, und in feinem Wort manifeftirt ſich die göttliche Of— 
fenbarung, die in ihm war. Aber nun ift die Rede von diefem 
Aoyos, ehe er 0uoE geworben; man fünnfe fagen, 6 Aoyos odgs 
2yevero fei die natürliche kuͤrzeſte Darjtellung davon, daß Gott im 
menfchlichen Leben Chrifti fih durch das Wort offenbart: hätte; 
aber nun ift vor diefem von einem Sein des Äoyog und von der 
Identitaͤt deffelben mit Gott die Nede. Fragen wir alfo, woher 
Sohannes dies habe, ob es eine gnoftifhe Emanationstheorie fei, 
fo hat e8 davon doch noch gar Feine eigentliche Merkmale. Will 
man es ein Acht jüdifches Philofophem nennen, was fich gebildet, 
feitdem die meffianifche Sdee die Form angenommen, daß der Meſ— 
ſias ein höheres Weſen fei, welche auf die Erde berabfommen 
werde: fo ift daS in der That etwas fehr Zweideutiges, ob das fo 


1) Joh. 6, 63. 68, 5, 24. 12, 48. al. 


⸗ 


Ueber den Prolog des Johanues. 339 


gewefen, und erklärt wird hierin doch Nichts aus einer andern 
Reihe von Gedanken und Philofophemen. Dagegen find allerdings 
in den Xeußerungen Chrifti Beranlaffungen genug zu folchen Bor- 
ftellungen; wenn Chriftus von einer do&w fprach, die er beim 
Bater hatte, fo Fonnte dies leicht fo ausgelegt werden und zu 
folchen Vorſtellungen Veranlaffung geben. — Nun aber bietet fich 
noc) eine andere Anficht dar. Es wird nemlid) die ganze Erlö- 
fung durch Chriftus als eine neue geiftige Schöpfung dargeſtellt; 
dies geht durch daS ganze neue Veftament hindurch und wird von 
Johannes, indem er die zdors nal aAnFeıan durch Chriſtus dem 
Geſetze durch Mofes gegenüberftellt, ganz beſtimmt ausgefprochen. 
Menn man nun fagt: er wollte hier nichts Andres, als diefe neue 
Schöpfung nicht als etwas Spätere, fondern ald etwas ebenfo 
Uranfängliches, wie die erfte Schöpfung, darftellen: fo ift das ja 
die ganz richtige Tendenz, in der eigentlich göttlichen Wirkſam— 
feit alles Zeitliche auszufchliegen, und da ift alfo nichts Andres, 
als der göttliche Rathſchluß der Erlöfung in dem göttlichen Wefen 
felbft gegründet, und der Gehalt des von Chrifto ausgehenden hoͤ— 
hern Lebens eben fo identifch mit dem göttlichen, wie im Hebräer- 
brief. Bergleichen wir diefen Typus des Eingangs des Sohannes 
mit dem Anfange des Hebräerbriefs und auf der andern Geite 
mit dem erften Anfange der Schöpfungsgefchichte: fo Tann man 
fih aufs Earfte denken, wie rein auf dem Grunde einzelner Aeu— 
ßerungen Chrifti diefe Darftellung hat entftehn koͤnnen, ohne daß 
man zu irgend einer fremden Philofophie oder juͤdiſchen Geheim— 
Iehre feine Zuflucht nehmen müßte; und fo wird Elar, wie Diefer 
Eingang das Product der Neden Chrifti ift, und daß nicht um: 
gekehrt diefe Reden Chrifti das Product des Sohannes find, weil 
diefer Eingang von ihm ift). " 
1) Erfi Entw. Wil man von biefer Hypotheſe (eines fremden Nrfprungs 

der Gedanfen im Eingang) ausgehn und wie Dretfchneider den erften 

Brief und das Evangelium demfelben Berfaffer zufihreiben, fo hätte 

doch in einer ganz freien Gedanfenverbindung diefes fremde Element 

noch ſtärker müffen zum Vorſchein kommen. So viel Tann man zuger 


396 Geogr. u. hiſtor. Schwierigkeiten bei Johaunes. 


Andre Einwendungen gegen die Aechtheit des Johannesevan— 
geliums gehn von geographiſchen und hiſtoriſchen Ein— 
zelnheiten aus. Fuͤr etwas ganz Unbedeutendes halte ich, daß 
bei Johannes Ortsnamen ſich finden, die ſonſt nicht vorkommen, 
jo Ainon, Sychar, Ephraim 1). Daß fie bei ven andern Evan- 
geliften nicht find, kann nicht auffallen, weil diefe nur Diejenigen 
Orte erwähnen, wo Jeſus oft war; Sofephus aber hat ja gar 
nicht eine Topographie vom jüdifchen Lande geben wollen, fondern 
nur die Orte angeführt, wo etwas Merkwürdiges vorgefallen ift. 

Sndem man davon ausgeht, Sychar fei dafjelbe, wie Sichem, 
fo fagt man, es gebe Feinen Dialect, wo fo umgewandelt würde. 
Aber die Borausfegung ift ſchon ganz zweifelhaft. Ebenfo wenn 
man fagt, die Samariterinn werde genannt &4 ziie Zupıwoeiag, 
die Stadt Samaria habe aber damals nicht mehr fo geheißen: fo 
ift fhon die Vorausſetzung falſch, daß es bedeuten foll, die Frau 
fei aus der Stadt Samaria, denn da die Frau in der Stadt 
hernach nicht mehr vorfommt, und es alfo nicht conflirt, daß fie 
aus der Stadt felbft gewefen fei, aus der fie zu einem yuolov 
Fam, fo Fonnte fie nicht anders bezeichnet werden, als 24 zyg Ia- 
tagsiag, ohne daß die Stadt, die nicht mehr Samaria hieß, mit 
Sychar verwechfelt zu fein braucht. — Bom Teich Beihesda, 
fagt man, habe doch Sofephus Etwas erwähnen müffen, wenn 
eine ſolche Heilanftalt in der Nähe von Serufalem gewefen wäre, 
Aber auch dazu war bei ihm feine Veranlaffung. — Denft man 
fich diefe Angaben bei einem Schriftfteller, der fein Evangelium 
dem Sohannes hat unterfchieben wollen, fo läßt fich viel weniger 
denken, wie der Verfaffer darauf gefommen, Namen zu erfinden, 
die nicht eriftirten; und erfand er fie nicht, fondern nahm fie an— 


ben, müßte etwas vorausgefezt werden, was Johannes weder aug fei- 
ner galiläifchen Umgebung noch von Chrifto hätte haben können, fo 
fonnte nicht der Apoſtel Berfaffer fein; aber Die Vorausfezung ift nicht 
anwendbar. 

1) 30b. 3,23. 4,5. 11, 54. 


Hiſtoriſche Schwierigkeiten bei Schannes. 337 


derömoher, fo kommt diefe Vorausſetzung ebenfo dem Sohannes 
zu Gute. Diefe Einwendungen find alfo ganz grundlos, 

Etwas bedeutender find die hiftorifchen Bedenklichkeiten, 
und e$ find wirklich ein paar Puncte da, die und irre machen 
koͤnnten. Erftlich nemlich , daß Sohannes die Gegner Chrifti im— 
mer oi ’Jovdaioı nennt. Man fagt, wenn der Verfaſſer felbit von 
Geburt ein Jude gewefen, fo würde er nicht diefen Namen als 
Bezeichnung der Gegner gebraucht haben. Aber wenn claffifche 
Schriftfteler aus Athen nicht bloß das Volk "AImveioı nennen, 


fondern, wenn fie felbft gerade zu einer unterdrüdten Parthei ges - 


hören, auch die Oberften und Herrfchenden fo bezeichnen: fo fehe 
ih nicht ein, warum nicht Sohannes ebenfo foll gefprochen haben. 
Die conftituirende Mafje des Volks, das Volk in der euu)noie, 
wurde immer oi ’A&dnvaioı genannt; ebenfo bezeichnet oi ’Jovdaior 
die, welche auf irgend eine Weife den Zon angaben, alfo haupt- 
fachlich die Oberften und Phariſaͤer. As Gegenfaß gegen bie 
"Iovdeio: hat ſich Sohannes einerfeitö die uadyrai gedacht, andrer= 
feitö Die TaAıhaioı, bei denen nicht diefelben Einflüfje flattfanden, 
und die nicht unter derfelben Obrigkeit waren. Daß die Jünger 
größtentheils felbft Galilder waren und in Serufalem fo genannt 
wurden, will ich gar nicht einmal in Rechnung bringen. 

Eine andere Schwierigkeit ift, auch in Bezug auf die Ver— | 
gleihung des Sohannes mit den andern Evangeliften, daß er 
mehr als einmal von der &ogzn fpricht, zu der Jeſus gegangen, 
ohne nähere Beftimmung, ob es das Dfterfeft oder ein andres ge— 
wefen . Nun fagt man, wäre der Verfaffer felbft des jüdifchen 
Tempeldienftes Fundig gewefen, fo würde er fich nicht dieſes un— 
beftimmten Ausdruds, fondern des beftimmten bedient haben. Aber 
Sohannes gebraucht doch auch die eigentlichen Namen der Felte, 
10070, onmvonnyia?); alfo kann ihm die Bekanntſchaft damit 
nicht gefehlt haben. Aber wenn er doch in einer Gegend, wo Das 
Hellenifche das Dominirende war, und für nichtjüdifche Leſer fchrieb, 


1) 30h. 4, 45. 5, 1. 2) Cap. 2, 23. 7, 2. 
Einl. ins R. T. 22 | 


338 Hiſtoriſche Schwierigkeiten bei Johanues. 


fo ift ihm nicht zu verdenken, daß er ein Feft, das nicht gerade 
Dftern war, unbeftimmt als £oorı bezeichnet !); man müßte im 
Gegentheil einen befondern Grund auffinden, warum er den be= 
ftimmten Namen eines Feftes anführt. — Soh. 7, 37. 38. ver= 
mißt man bei der Anfpielung auf einen jüdifchen Feſtgebrauch 
eine nähere Bezeichnung deffelben; aber gewiß war es dem Jo— 
hannes nur zu weitläuftig, für die Hellenen den Ausſpruch Chrift 
durch eine ausführliche Befchreibung der Feftgebräuche zu erörtern. 
Es liegt wieder fo, daß gerade ein unterfchiebender Schriftfteller 
fo nicht gefchrieben haben würde. 

Noch wird ein Umftand hervorgehoben, der eine unrichtige 
Borftelung des Verfaſſers anzudeuten feheint, die er nicht hätte 
haben Eünnen, wenn er der Apoftel Sohannes gewefen, nemlich, 
daß er fagt, Caiphas fei des Jahres Hoherpriefter gewefen ?). 
Nun war das Amt des Hohenpriefters ein lebenstängliches und ging 
immer nach der Primogenitur in der Familie des Aaron weiter. 
Da fcheint jener Ausdrud die Meinung vorauszufeken, daß der 
Hohepriefter jährlich gewählt würde. Aber wir müffen bedenken, 
daß die Römer die größte Willfür in der Beſetzung diefer Stelle 
ausübten; fie festen bald ein, bald ab, nur blieben fie bei der 
hohenpriefterlichen Familie. Daraus nun, daß Sohannes erzählt, 
daß Sefus auch zu Hannas geführt wurde, der früher Hoherprie- 
fier gewefen war, ift zu ſchließen, daß eine gewifje Unficherheit 
herefchte, und Sohannes hob nur hervor, daß Gaiphas in dem 
Sahre ſchon oder noch Hoherpriefter gewefen. MWillkürlich ift, 
in jenen Ausdrud die VBorftellung von einem jährlichen Wechfel 
hineinzulegen, welcher gar nicht in der Analogie jüdifcher Verfaſ— 
fung war; auch ift nicht nachzumweifen, woher fie ein Alerandriner 
haben Fonnte. 

Nun aber, denke ih, man muß auch gerecht fein und die— 
jenigen Umftände anführen, die ganz unerklärlich find, wenn nicht 
der Apoftel Sohannes der Berfafler ift. Sohannes ift der Einzige, 


1.930089, 1; 2) Cap. 18, 13, 


Beweiſe für die Wechtheit des Ev. Joh. 339 


welcher erwähnt, daß die Sünger ſchon zu Lebzeiten Chrifti getauft 
haben, was zweimal vorfommt, zuerft: Sohannes habe noch ge= 
tauft und Chriftus auch, hernach  berichtigend : Chriſtus habe 
nicht felbft getauft, fondern feine Jünger Y. Bei den andern Evan- 
geliften findet fich dergleichen gar nicht, fondern da ſteht erſt am 
Ende, daß Chriftus den Auftrag 'giebt, in’ feinem Namen zu tau— 
fen. Das war alfo in der evangeliftifchen Ueberlieferung: die herr: 
fhende Vorſtellung. Wer hätte nun wohl gegen dieſelbe auf die 
Idee fommen follen, daß die Jünger fehon während des Lebens 
Chrifti getauft? Wenn noch Etwas daraus gefolgert würde, fo 
ließe es fich noch. eher erklären; aber das ift gar nicht" der Fall, 
es wird beide Male nur ganz gelegentlich erwähnt. Nur wenn 
es wirklich fo gewefen war, Eonnte der Verfaſſer ed erzählen. 
Der Umftand, der für mich ſchon ganz allein den Gedanfen 
an eine Unterfchiebung entfernen würde, ift, daß eine Anficht über 
den Aufenthalt Chrifti durch) das ganze Evangelium des Johannes 
hindurchgeht, die ganz abweicht von der in den andern drei Evans 
gelien, welche doch ein Nefultat der Ueberlieferung war. In die— 
fen nemlich wird Galilaͤa als der eigentliche Lebenskreis Chrifti 
gedacht, nur als Ausnahmen erfcheinen jene Reife nach Ierufalem 
am Ende feines Lebens und vorher einige Eleine Abftecher, die er 
macht. Bei Sohannes- dagegen wird Sefus von feinen Süngern 
zuerft in Zudaa gefunden, wo Sohannes tauftz von da geht er 
nach Galiläa zur Hochzeit in Cana, darauf nach Gapernaum, 
dann gleich wieder nach Serufalem zum Feft; dann wollte er nicht 
in Judaͤa bleiben, weil ihm die Pharifäer feindlich waren, fondern 
ging nach Galiläa. Da war alfo die Vorausſetzung, als fei es 
natürlich gewefen, daß er in Zudaa geblieben wäre, und es ver— 
fchwindet ganz der Schein von einem habituellen Aufenthalte in 
Salilaa. Der Widerfpruch mit den andern Evangelien hebt fich 
dabei, wenn man diefe in ihre einzelnen Beftandtheile aufloͤſ't. 
Wenn man fich aber das Sohannesevangelium in fpäterer Beit 


1) S0h. 3, 22. 26. und 4, 1.2, 
22% 


340 Ort und Zeit der Abfaſſung des joh. Evang. 


aus einer gewiffen Abficht untergefchoben denkt, fo begreift man 
nicht, wie der Verfafler dazu gefommen , fo von der evangelifti= 
ſchen Ueberlieferung abzuweichen und die Anſicht aufzuſtellen, daß 
Chriſtus nach Galiläa. aus beſondern Gründen gegangen, aber dort 
nicht: einheimiſch zu denken ſei. Nun geht zwar aus den fpätern 
Erzählungen hervor, daß man in Jeruſalem Chriftum als einen 
Galiläer anfah; aber das war nur eine. Meinung, die darin ihren 
Grund hatte, daß er mehrere Mal aus, Galilda nach Serufalem 
Fam und. dahin zurüdging, und daß er von Galiläern umgeben 
war. Wie aber ein Späterer eine Anficht: follte aufgeftellt haben, 
die mit der allgemeinen einen ſcheinbaren Widerfpruch bildet, läßt 
ſich garnicht denken. | 

Es ift alfo recht gut, daß diefe Sache einmal zur Sprache 
gebracht ift, und alle Zweifelögründe gegen das Sohannesevangelium 
zufammengeftellt find, und fo fcheint es auch Bretfchneider ge— 
meint zu haben, der feine Hypotheſe fpäter fo gut wie zuruͤckge— 
nommen hat. Aber daß unter diefen Einzelnheiten irgend Etwas 
von folcher Erheblichkeit fei, Daß man gegen den Zotaleindrud 
des Ganzen die Aechtheit bezweifeln müßte, wird wohl Niemand 
mehr meinen. 


»$..84. 


Alle Unterfuchungen über Ort und Zeit der Abfaffung 
des Covangeliums Johannis find afficirt theils von der fehr 
zweifelhaften Identität des Verfaſſers mit dem der Apocalypfe, 
theild von der vorausgefesten Priorität der andern drei Evange— 
lien. In legterer Hinficht müfjen wir aus dem Bisherigen fchlie= 
Ben, Sohannes habe fein Evangelium wenn nicht früher gefchrieben, 
als die andern zufammengeftellt find, fo doch wenigfiens .ehe er 
eine Notiz von denfelben hatte; 

Es ift die allgemeine Weberlieferung, daß Sohannes ein fehr 
hohes Alter erreicht und den größten Theil feines Lebens in Ephe— 
ſus zugebracht habe. Sedoch kann er erfi nach der Zeit des Pau— 
lus dorthin gekommen fein, denn fonft hätte doch Paulus, wie 


Zeugniffe über Ort u. Zeit der Abfaffung des job. Ev. 34 


er zu Milet von den Xelteften aus Ephefus Abſchied nahm, des 
Johannes erwähnen müffen. Ob nun Sohannes zwifchen feinem 
Aufenthalte in Serufalem und dem in Ephefus noch anderswo ge- 
wefen , darüber wiffen wir gar Nichts. Nur das ift gewiß, daß 
fein Evangelium mehr für nichtjüdifche Leſer berechnet iſt; alfo, 
da wir von einer großen Miffionsthätigkeit-und vielen Reifen des 
Sohannes Nichts willen, fo würde nach den Datis, die wir haben, 
wohl wahrfcheinlich fein, daß es eher in Ephefus, als in Serufa= 
(em, oder wenigftens in hellenifchen Gegenden, nicht in paläftini- 
ſchen und aramäifchen gefchrieben ift. 

Was die urfprünglihen Zeugniffe für die Geltung und 
Verbreitung dieſes Evangeliums betrifft I), fo iſt da auch nur ſehr 
wenig, was auf den Urfprung und die Zeit der Abfaffung fchlie- 
Gen läßt. Mit beftimmten Zeugniffen, wann es befannt gewor= 
den, find wir nicht beffer daran, ald bei den andern Evangelien. 
Die Spuren von Gitationen, die man bei Ignatius und Barna— 
bas hat finden wollen, find doch fehr unficher. Erft bei Theophi— 
lus von Antiochien und bei Srenäus finden fich beftimmte Anfüh: 
rungen. Seit der Zeit aber wird das Evangelium des Sohannes 
überall ald owuoAoyovuevov und in der jetigen Ordnung und 
Berbindung mit den andern drei aufgeführt. Daß diefe Ordnung 
eine chronologifche fei, wie Hug behauptet, würde eine critifche 
Unterfuchung vorausfegen, welche in jenen Zeiten nicht anzuneh- 
men ift. Das Wahrfcheinlichfte ift, daß die Ordnung aus der 
Folge entſtanden iſt, in welcher die Gemeinden, deren Verzeichniſſe 
am meiſten den uͤbrigen zum Grunde lagen, in den Beſitz der 
Evangelien gekommen ſind. Seit Origenes finden wir immer die 
Tetras und nicht ein Evangelium allein fruͤher oder ſpaͤter, als 
die andern. Von Papias koͤnnte man behaupten, daß er das 
Johannesevangelium nicht gekannt, ſondern nur die andern drei, 
denn Euſebius ſagt von ihm nur, daß er Zeugniſſe aus dem er— 
ſten Briefe des Johannes gebrauche, aber erwaͤhnt des Evange— 


1) Siehe De Wette $. 109. 





342 Ueberficht der verfchied. Bedeutungen des zard ind. Ueberſchriften. 


liums nicht. Allein daraus Taßt fi jenes doch noch nicht 
Schließen. | 

Mir -müffen hierbei noch einmal auf die Ueberfchriften ber 
Evangelien zurücdfommen. Im Allgemeinen betrachtet weiſ't die 
Formel svayyehıov zara rc. ſchon auf eine Mehrheit zurüd, in— 
dem das Hauptwort daſſelbe bleibt, und der beigefügte Name 
den Unterfchied angiebt. Dennoch Fann man daraus noch nicht 
mit Sicherheit fchließen, daß dieſe Ueberfchriften erft entftanden 
find, als die vier Bücher-fo zufammengefaßt wurden; denn wir 
finden fie auch außerhalb der Tetras. Wir muͤſſen fie alfo ein- 
zen erklären, und das zer« bedeutet nicht immer dafjelbe. Bei 
Matthäus ift es am meiften in feiner eigentlichen Bedeutung, 
secundum, und bezieht fih auf die urfprünglidhe deazekıg des 
Apoftels. Sn nura "Eßowlovg bezeichnet es das unfer einer 
Glaffe von Gemeinden herrfchende dnnournnovsvue. Bei Lucas 
ift ein ähnliches Verhältniß, wie bei Matthäus, wenigftens möglich, 
da das große Mittelftüd Cap. 9—18 ein fonft nicht fo vorfom- 
mendes ift; wenn nun diefes von einem Lucas wäre, fo Fönnte 
ein andrer Verfaffer fein an den Zheophilus gerichtefes Evange— 
lium felbft als zara Aovaav bezeichnen. Bei Marcus Fann es, 
wenn wir an die Notiz des Papias denken, daS bedeuten, was 
nach den Aufzeichnungen des Marcus zufammengeftellt ift; wenn 
man aber der Hypothefe Griesbach's folgt, fo würde es eine von 
Marcus ausgehende Bearbeitung von fehon Vorhandenem fein. 
Es kann aber auch bei allen drei gleichmäßig bedeuten, daß es 
ein von dem Einen fo, von dem Andern anders aus der frag= 
mentarifchen Ueberlieferung zufammengetragenes Ganze fei. Aber 
bei Sohannes war in Feiner von bdiefen Bedeutungen zu einer 
folhen Bezeihnung Veranlaffung, und es wäre unerklärlich, wie 
das Buch diefelbe follte unabhängig und von vorn herein erhals 
ten haben, ohne daß ſchon auf eine Mehrheit von Evangelien 
Nücdficht genommen worden. Aber wenn ed mit den drei andern, 
bei denen diefe Bezeichnung urfprünglich fein Fonnte, zufammenges 
fchrieben wurde: fo war natürlich, daß diefelbe nun auch auf dieſes 


Folgerungen aus dem fpätern Hinzufügen des 21. Cap, 343 


Evangelium überging; denn die reine Bezeichnung des eigentlichen _ 
Derfaffers durch zara hat fonft feinen Grund. 

Da das Evangelium urfprünglih mit Cap. 20. gefchloffen 
war, in fpäterer Zeit aber fich irgend eine Veranlaſſung ergab, 
die einzelne Erzählung des 2lften Capiteld noch hinzuzufügen: fo 
muß man fchließen, daß in der Zwifchenzeit das Evangelium noch 
nicht verbreitet war, denn fonft würden fi wohl noch Eremplare 
ohne Cap. 21. bis zu der Zeit erhalten haben, wo man dergleichen 
Betrachtungen anftellte. Aber dergleichen eriftiren nicht und auch 
feine Notiz davon, woraus ich fchließe, daß das Evangelium bis 
dahin nur in dem einen Eremplare, worin Johannes es ſchreiben 
ließ, vorhanden war. Die lebten beiden Berfe von Cap. 21., 
worin noch das Zeugniß hinzugefügt wird, dag man wiſſe, daß 
Sohannes die Wahrheit geredet habe, Fünnen nicht von ihm felbft 
fein; auch wird man fehwerlich glauben Fünnen, daß dies noch 
zu Lebzeiten des Sohannes gefchrieben fei, daß gleichfam unter 
feinen Augen die Vorfieher der Gemeinde, die im erften Befike 
des Evangeliums war, ihm follten ein folches Zeugniß ausgeftellt 
haben. Wenn aber erft nach feinem ode fein Evangelium zur 
Bervielfältigung gekommen ift, fo kann ich mir fehr gut denken, 
daß für Andere dies hinzugefügt wurde. Nun aber folgt noch 
ein Satz (v. 25.) in der erfien Perfon des GSingulars, der mit 
dem Zeugniß nicht zufammenhängt und nicht gut anders, als von 
Sohannes feldft herrühren kann. Alles dies zufammengenommen 
kann man fich alfo die Sache nur fo denken: Sohannes bat ein 
fehr hohes Alter erreicht (bis zur Regierung des Trajan). Bei 
den zu dieſer Zeit ſehr verbreiteten chiliaſtiſchen Vorſtellungen 
konnte fich jene Meinung, daß Johannes leben würde, bis Chri- 
ſtus wiederfäme, nach jenem Ausfpruche Chrifti wieder erneuert 
haben und dem Sohannes zu Ohren gekommen fein. Dies ver: 
anlaßte ihn, diefe Gefchichte genauer und der Wahrheit angemef- 
fener zu erzählen. Da Eonnte man ihn leicht fragen, warum er 
fie nicht gleich in das Evangelium aufgenommen habe, da das 
Ganze ein Abfchnitt ift, den man wohl nicht gern miffen würde, 


344 Folgerungen aus dem fpätern Hinzufügen des 21. Gap. 


meil er zeigt, wie Chriftus den Petrus gleichfam wieder einführt. 
Für Sohannes aber mußte er wohl nicht fo wichtig fein, da er 
ihn Anfangs übergangen hat. Nun aber erzählt er ihn zur Wi- 
derlegung jenes Geruͤchts und fügt noch zulest hinzu, daß er 
noch viel Mehr hätte anführen Fünnen, aber Alles zufammen ge- 
nommen würde viel zu viel geworden fein. Das Zeugniß ift 
wahrſcheinlich an einen falfchen Ort gefommenz es mag urfprüngs 
lich nur ein marginale gewefen fein und hat fi dann in feine 
jesige Stelle bineingefchoben, wo e3 fich gut anpaßte. Das 
Evangelium muß alfo an feinem urfprünglichen Orte bis zum 
Tode des Sohannes geblieben fein, ohne fich weiter zu verbreiten. 
Es iſt auch Feine Urfache, anzunehmen, daß die andern Evangelien 
viel früher vorhanden gewefen. Dies führt alfo auf die Zeit, wo 
fie von verfchiedenen Drten aus zu gleicher Zeit ins Publicum 
kamen und fo die gleichen Leberfchriften erhielten. Wenn dagegen 
das Evangelium des Sohannes von Anfang an bei feiner Abfaf- 
fung eine Weberfchrift befommen hätte, in welcher der Name des 
Sohannes genannt gewefen, fo wäre mir wahrfcheinlicher,, daß 
jenes Zeugniß wäre anders ausgedrüdt worden, denn dann hätte 
der Lefer fchon gewußt, daß das ganze Bud von Sohannes herrührte. 


Drittes Gapitel. 
Die Apoſtelgeſchichte. 


$. 85. 


65 if fchon erwähnt, daß, ungeachtet die Apoftelge: 
fhichte ihrem Eingange nach nicht ein Buch für ſich, fondern 
der devzeoog Aoyos zum Lucasevangelium und an denfelben 
Theophilus gerichtet ift, beide Theile doch fehon von Anfang an 
aus einander geriffen find, da fie in ven Handfchriften, fo viel ich 
weiß, nirgends zufammen erfcheinen und eben fo wenig in irgend 
einem Canon. Man fieht daraus, wie wenig man bei der Samm— 
lung der neuteftamentlichen Schriften auf eine litterarifche Weiſe 
zu Werke gegangen ift, und wie überall die Firchlihe Rüdficht 


Trennung der Apoftelgefhichte vom Evangelium Luck, 345 


die vorherrfchende war, nach welcher die vier Evangelien zuſam— 
mengehörten. Wenn aber beide Schriften von Anfang an zu: 
gleich abgefchrieben wären, fo wäre doch am natürlichften gewefen, 
das Evangelium Luca in der Tetras zuleßt zu ftellen, fo daß 
man den devreoog Acyog unmittelbar daran gefügt hätte. Des: 
halb möchte ich fchließen, daß das Evangelium von Anfang an 
für fich abgefchrieben und verbreitet wurde, und zwar, ehe die 
Apoftelgefhichte publicirt war, woraus aber nicht folgt, daß ein 
bedeutender Zwifchenraum zmwifchen der Abfafjung des einen und 
des andern Buchs gewefen. Daß überhaupt die hriftlihen Buͤ— 
cher urfprünglich auf folche Weiſe publicirt find, wie andre Bücher, 
nemlich durch Menfchen, die fih aus der Vervielfältigung von 
Schriften ein Gewerbe machten, ift nicht wahrfcheinlich, da die 
Ghriften immer eine eng unter fich abgefchloffene Gemeinfchaft 
waren, und diefe Schriften Andere nicht interefjirten; fie find 
vielmehr in irgend einer chriftlihen Gemeinde niedergelegt und. 
haben fich von hieraus durch den Zufammenhang mit andern Ge- 
meinden verbreitet. — Da beide Schriften an denfelben Theophi— 
[us gerichtet find, fo müflen fie ihm doch auch wohl zuerft zu— 
geſchickt ſein. Nun koͤnnen beide Theile kurz nach einander ihm 
zugefommen, und dennoch kann das Evangelium einzeln abgefchrie= 
ben fein, weil es ein allgemeineres Intereſſe, als die Acta, hatte. 
Damit flimmt überein, daß Chryfoftomus (hom.I.in Act. Ap.) 
fagt, dieſes Buch fei Vielen ganz unbekannt, fowohl an fih, als 
auch, wer der Berfaffer fei. Nun finden mir e8 aber doch in 
allen BVerzeichniffen der canonifchen Bücher, es mußte alfo in den 
Gemeinden, welche folhe Sammlungen hatten, vorhanden fein, 
und zu diefen gehörten die, mit denen es Chryfoftomus urfprüng- 
lich zu thun hatte, Antiochien und Conftantinopel, auch. Aber 
es mochte den Ehriften nicht fo durch öffentliches Vorlefen befannt 
fein, man ſieht alfo, daß nicht hiftorifcher Sinn genug war, um 
gleiches Intereſſe für beide Schriften des Lucas zu ermeden. 
Daß aber der Verfaffer eine Zrennung derfelben nicht beabfich- 
tigte, fieht man aus dem Eingange der Acta deutlich, obwohl es 


346  Gemeinfchaftliher Character der Acta und des Ev. Luc. 


natuͤrlich war, daß er hier ein zweites Buch anfing. Sind aber 
beide ſo im Sinn und Willen des Verfaſſers Eins geweſen, ſo 
folgt, daß man auch die Frage nach der eigentlichen Abſicht, aus 
welcher die Apoſtelgeſchichte geſchrieben iſt, nicht ſo behandeln darf, 
als wenn ſie eine beſondere Schrift geweſen waͤre; ſondern es 
muß auch die Abſicht fuͤr beide eine und dieſelbe geweſen ſein, 
nemlich eine zuſammenhaͤngende Rechenſchaft de rebus christianis 
zu geben. Man Fanıı nur fragen, wie es zugegangen iſt, Daß ber 
Verfaffer gerade diefe Materialien aufgenommen hat und andere 
nicht; aber man verwidelt fih in eine falfhe Anficht, wenn man 
nicht von der Einheit der Abzweckung beider Schriften ausgeht, wel= 
chen Fehler die meiften Gritifer bei diefem Buche begangen haben. 

Es frägt fich hier alfo, ob der Anfang des! Evangeliums für 
einen gemeinfchaftlichen Eingang zu beiden Schriften zu halten iſt !). 
Der Anfang ver Apoftelgefchichte nemlih geht auf das Evange— 
lium zurüd und fagt, wovon dies gehandelt habe; dann aber 
knuͤpft fich gleich die Erzählung von der Himmelfahrt an, und 
was man erwartete, nemlich daß die eigentliche Tendenz des zweis 
ten Aoyog angegeben werde, wird dadurch unterbrochen und er— 
feheint auch nachher nicht. Wenn wir nun eben deswegen auf 
das Evangelium zurüdgehn, fo beginnt dies damit, daß ſchon 
Biele unternommen hätten, eine ordentliche Erzählung von den 
„unter uns” vorgegangenen Begebenheiten aufzuftellen, welche 
auch er nach genauer Erforfchung in gehöriger Ordnung auffchreis 
ben wolle. Diefer ganz allgemeine Ausdruf regt Tuv neniy- 
COpOOMMWCCqGV &v Yuiv noayuarov geht keineswegs allein auf bie 
Gefchichte Chrifti, fondern auch auf das nach der Himmelfahrt im 
Kreife der Sünger Gefchehene. So könnte man alfo wohl fchließen, 
daß die Acta mit dem Evangelium von derfelben Art feien, daß der 
Berfaffer frühere Nachrichten von Augenzeugen vor fih gebabt und 
genaue Nachforfchungen angeftellt habe. Auch das Erſte, daß 
Biele fhon verfucht, dies darzuftellen, koͤnnte ebenfowohl auf ben 


1) Siehe oben Seite 88, 


Gemeinſchaftlicher Character der Acta und des Ev. Luc. 347 


Inhalt der Acta, als des Evangeliums gehn; und wir finden 
allerdings unter den fpäter für unaͤcht erklärten Schriften folche, 
die Aehnlichkeit mit der Apoftelgefchichte haben, 3. B. die Acta 
Petri, die uns bier fehr willlommen fein müßten, wenn fie nut 
nicht ganz apoeryphifch gewefen wären. 

Die Unterfuhung über dieſen Gegenftand ift noch nicht bis 
auf den Punct zurückgegangen, der zuerfi in Ordnung gebracht 
werden muß. Man hat lange alle Evangelien als gleichartig 
angefehn, und die Unterfcheidung, daß die drei erfien aus einzel- 
nen Erzählungen entftanden find, und nur das des Sohannes bie 
urfprünglihe Darftellung eines Augenzeugen ift, ift erſt eine Frucht 
fpäterer Unterfuchung und auch jest nicht allgemein angenommen. 
Aber felbft diejenigen, welche dies anerkennen, meinen, es verfiche 
fih von felbft, daß die Apoftelgefhichte eine zufammenhängende, 
fortlaufend felbfigearbeitete Scription ſei. Aber nur aus der 
Gewohnheit ift man auf diefe Meinung gekommen; und es ift 
allerdings dies die natürliche Vorausſetzung bei jeder Schrift, und 
man muß erft befondere Gründe haben, davon abzugehn. Aber 
wenn wir fhon bei vem Evangelium ſolche Gründe hatten, fo ift 
unnatürlich, daß von zwei zufammenhängenden Schriften, die ein 
Ganzes fein follen, die zweite ein Original darftellen fol, wäh: 
rend die erfte eine Zufammenfekung von andern fchon vorhande— 
nen Erzählungen iſt. Der Verfaſſer würde dann doch beide Theile 
mehr gefondert haben, und während er fi im erften auf bie 
Veberlieferung der Augenzeugen beruft, müßte er im zweiten erwäh- 
nen, daß hier fein eigned Werk fei, und Selbfterlebtes erzählt werde. 

Hier ift alfo eine neue Unterfuchung anzuftellen, und dieſe 
knuͤpft fich fogleih an den Namen des VBerfaffers an. In 
drei paulinifchen Briefen, Goloff., Philem., 2. Zim., wird ein Lu⸗ 
cas unter den Begleitern des Paulus genannt. Nun wird 
an mehreren Stellen der Apoftelgefchichte in der erften Perfon des 
Plural gefprochen, fo daß man fieht, der Erzähler muß dabei ge= 
wefen fein. Da nun die Apoftelgefchichte doch den Namen des 
Lucas führt, fo ift wohl fehr natürlich, anzunehmen, daß der Ber: 


348 Ueber den Verfaſſer der Apoftelgeichichte. 


faffer jener Lucas, der Begleiter des Apofteld, gewefen fei. Mei: 
nes Erachtens aber liegt die Sache fo: wenn vorher fchon aus: 
gemacht wäre, daß die Apoftelgefchichte ein Driginalwerk ift, 
fo würde ich zugeben, daß der Begleiter des Paulus der Ver— 
faffer if. Aber wenn dies nicht ausgemacht ift, fondern der Ber: 
faffer nad) der Analogie des Evangeliums vorgefundene Materia- 
lien zufammengeftelt und verbunden hat: fo beweif’t jener Umftand 
weiter Nichts, ald daß einige Materialien von der Art find, daß 
ihr Verfaſſer als Augenzeuge erzählt, andere aber nicht fo. Da 
müffen wir alfo zufehn, wie es um dies Merkmal fteht. 

Mir wollen einmal annehmen, der Verfaffer, welcher im Ein: 
gange an Theophilus fehreibt, wäre der Begleiter des Paulus und 
redete in der erfien Perfon des Plurals da, wo er dabei gewefen, 
und fonft nicht. Aber da müßte dies doch mehr von einander 
gefchieden fein, er müßte gefagt haben: Hier Fam ich dazu, und 
nun ging ich weg. Die erfte Perfon des Plural Fommt zuerft 
vor Act. 16, 10. Es war vorher erzählt worden, wie Paulus, 
nachdem er ſich von Barnabas getrennt, mit Silas nah Syrien 
und Gilicien gegangen war; wie fie nach Derbe und Lyfira Famen, 
von dort den Zimotheus mitnahmen und die früher geftifteten 
Gemeinden durchzogen, darauf aber nach) Troas gingen, wo Pau— 
lus durch ‚ein Gefiht zur Keife nah Macedonien aufgefordert 
wurde. Alles dies wird noch in der dritten Perfon erzählt, aber 
auf einmal heißt es: wie Paulus aber dies Geficht gefehn, ge— 
dachten wir fogleich, nach Macedonien zu reifen. Nun fagt man, 
Lucas fei damals in Troas gewefen und habe fich hier zu Paulus 
gewandt; aber vorher hatte er ausführlich erzählt, wie Timotheus 
zu Paulus gekommen war, und von fich felbft follte ev gar nicht 
fagen, wie er zu ihm geftoßen, fondern-er hätte fi durch die 
erfte Perfon gleichfam eingefhwärzt? Daß in Troas ſchon Chri— 
ften gewefen, ift nicht wahrfcheinlich, und daß, wenn Lucas eben 
erft befehrt war, Paulus ihn gleich für feine Intereſſen brauchen 
fonnte, noch weniger. Nun aber verfehwindet die erfte Perfon 
eben fo unmerflich wieder. Sie fommen nad) Philippi, was noch 


4 


Ueber den Verfaſſer der Apoftelgefchichte. 349 


in der erften Perfon erzählt wird, hier aber werden Paulus. und 
Silas vor die Archonten gebracht und ins Gefängniß geworfen. 
Dabei tritt die dritte Perfon wieder ein und bleibt von nun an, 
nachdem fie wieder Iosgelaffen find und weiter ziehn. Da fagt 
man, Lucas fei nicht mit ins Gefängniß geworfen und fei, als 
Paulus wegzog, in Philippi geblieben, aber auffallend ift doch, 
daß fein Zurücbleiben fo wenig wie fein Kommen erwähnt wird, 
Die Erzählung geht nun in der dritten Perfon fort bis Cap. 20, 
5., wo Paulus wieder nad Philippi kommt und von dort nad) 
Aſien reifet. Hier werden feine Begleiter genannt, und es heißt 
unmittelbar darauf: Diefe ‚gingen voran und erwarteten und in 
Troas; wir aber fchifften nach dem Dfterfefte von Philippi aus. 
Man ergänzt dies nun fo: Lucas fei fo lange in Philippi geblie— 
ben, und Paulus habe ihn bei feiner Ruͤckkehr wieder von dort 
mitgenommen. Aus Philippi aber kann Lucas nicht gebirtig 
gewefen fein, denn das Chriftenthbum wurde erft von Paulus nach 
Europa gebraht; Lucas müßte alfo dort etwa als Vorſtand der 
Gemeinde zurücgelaffen fein; wie aber Paulus auf der Reife 
von Troas bis dahin ihn fo fchnell dazu vorbereiten Fonnte, und 
wie Paulus einen Grund hatte, ihn jeßt, wo er fihon eine große 
Begleitung hatte, wieder mitzunehmen, fehe ich nicht ein, und es 
erfcheint das Zufammentreffen der erften Perfon mit Philippi als 
etwas. Zufälliges. Der Gebrauch der erften Perfon geht nun 
fort, bis er fich bei der Ankunft Pauli in Serufalem verliert, Act- 
21, 18. Da ift dies natürlich, denn hier war der Zufammenhang 
der Einzelnen nicht mehr fo genau. Zuletzt kommt die erfte 
Perfon bei der Abreife des Apoftel3 von Caͤſarea nach Stalien 
wieder, aber auch hier ganz plößlich und ohne Nennung eines Na— 
mens, der ihren Gebraudy erklärt. Sie bleibt nun durch den 
ganzen Keifebericht, Cap. 27, 1—28, 16. 

Ich Tann alfo aus diefem Eintreten und Verſchwinden der 
‚erften Perfon nichts Andres Ichließen, als, daß ſolche Erzählungen 
in den Actis find, bei denen Semand in der erften Perfon, und 
andre, bei denen Semand in der dritten erzählt. Dies ift in 


3950 Ueber den Verfaſſer der Apoftelgefchichte, 


der Zufammenfiellung des Ganzen weder genau gefchieden, noch 
genau abgeglättet, fo daß, wenn der urfprüngliche Erzähler in 
der erften Perfon gefprochen, dies, da die Erzählung mit den frü- 
bern in Einklang gebracht werden mußte, nicht fogleich zum Vor— 
fchein fommt. Denn nur in dem lebten Stüde, was offenbar ein 
zufammenhängender Neifebericht eines der Gefährten des Paulus 
ift, fängt damit etwas Neues anz in den andern beiden tritt die 
erfte Perfon mitten in dad Ganze hinein. Seiner felbft erwähnt 
Lucas weder jemald in der erften noch in der dritten Perfon. Nun 
kann man fich das leicht auch bei Erzählungen von Augenzeugen 
denken, daß der Eine fich felbft mehr mit einfchließt, der Andre 
aber nicht. Wenn es alfo noch fonft Indicationen gäbe, welche 
die Wahrfcheinlichkeit, die fehon in der Einheit mit dem Evange- 
lium liegt, beftätigten, daß die Apoftelgefchichte auch aus fehon 
beftehenden Materialien zufammengetragen fei: fo würde jener 
Gebrauch der erften Perfon fich Leicht hineinfügen und diefe Wahr: 
ſcheinlichkeit beftärfen. 

Nun find aber noch mehrere Umftände in den Actis, welche 
eine folche VBermuthung der Zufammenfeßung aus einzelnen Er— 
zählungen im höchften Grade befürdern. Dahin gehört befonders, 
daß die Belehrungsgefchichte Pauli nicht weniger als dreimal vor— 
kommt, einmal an ihrem eigentlichen Orte c. 9., dann erzählt. 
Paulus fie, als er in Serufalem zum Bolfe fpriht c. 22., und 
dann erzählt er fie noch einmal vor Agrippa c.26. Da ift doc 
wohl gar nicht wahrfcheinlich, daß Semand, der eine zufammen= 
hängende Gefchichtfehreibung giebt, daffelbe Factum dreimal erzaͤh⸗ 
len ſollte. Er haͤtte ja viel leichter nachher blos ſagen koͤnnen, 
Paulus habe nun ſeine Geſchichte erzaͤhlt. Aber wenn man denkt, 
daß dieſe Erzaͤhlungen zuerſt einzeln vorhanden geweſen, ſo iſt 
natürlich, daß der Verfaſſer fie, wie er fie vorfand, ganz wieder: 
gab. Ebenfo ift es mit der Bifion des Petrus, die zweimal er= 
zahlt wird c. 10. und 11., und noch dazu geſchieht dies ſo kurz 
nach einander. 


Anzeichen, daß d. Apoftelgefch. aus einzelnen Erzählungen zuf. gefestift. 351 


| 8. 86. / 

Es kommt nun darauf an, ob es in der Apoftelgefchichte folche 
Stellen giebt, aus denen fich mit überwiegender Wahrfcheinlichkeit 
nachweifen läßt, daß einzelne Erzählungen von den frühern Nichts 
wiffen, fich) einander ignoriren, oder umgekehrt, ob fich folche 
Stellen finden, die auf eine das Ganze umfaffende Anlage hin— 
weifen. Gäbe es Stellen von beider Art, fo wäre nur möglich, 
nach der überwiegenden Wahrfcheinlichfeit zu urtheilen, und da 
würde der Eine fo, der Andre anders entfcheiden, 

Schon die erwähnte Wiederholung derfelben Sache an ver- 
fchiedenen Stellen, ohne daß eine nochmalige Erzählung für uͤber— 
flüfjig angefehn, oder auf die frühere verwiefen würde, fpricht mehr 
für ein Sufammenfafjen des Einzelnen, als für eine Darftellung 
aus einem Stüd. Wenn aber noch dazu fommt, daß die ver- 
fchiedenen Erzählungen von derfelben Begebenheitnicht recht uͤber— 
einzuftimmen fcheinen, fo wird die Wahrfcheinlichfeit noch größer, 
daß fie unabhängig von einander entftanden find ohne einen Ver— 
fuch, fie auszugleichen. In der legten Relation des Paulus von 
feiner Befehrung, vor Agrippa, hat er offenbar das Intereſſe, 
nur kurz zufammenfaffend die Hauptpuncte zu berichten, fo daß 
fich fehr gut denken läßt, daß er Späteres mit hinzugenommen 
hat. Da fommt, nachdem vorher nur von einer Stimme die 
Rede gewefen war, zugleich vor, Chriftus fei ihm erfchienen 
und habe ihm gleich damals den Auftrag für die Heiden gegeben 
(Act. 96, 16. 17.). Im der erften Erzählung dagegen c. 9. fteht 
Nichts hiervon, fondern Paulus befommt bloß die Anweifung, in 
die Stadt zu gehn, wo ihm Ananias fagt, was er thun fol, aber 
da offenbart Chriftus nur dem Ananias (B. 15.), daß Paulus 
feinen Namen zu den Heiden bringen würde, Ananiad aber wie= 
derholt dies dem Paulus nicht. In dem mittlern Bericht c. 22. 
erzählt Paulus, wie c. 9., feßt aber hinzu, hernach fei Chriftus 
ihm in Serufalem erfchienen und habe ihn unter die Heiden ge- 
fandt, weil die Suden fein Zeugniß nicht annehmen würden (8. 
18. 21.). Man fieht offenbar, daß Paulus in feiner Rede: vor 


352 Anzeichen, daß d. Apoſtelgeſch. aus einzelnen Erzählungen zuf. geſetzt ift. 


Agrippa das Frühere und Spätere zufammengefaßt hat, um nicht 
zu weitläuftig. zu erzählen. Wäre aber das Ganze. eine zufammen- 
hängende Darftellung, fo hätten diefe Momente müffen getrennt 
fein, oder erflärt werden, daß diefer Widerſpruch fich aufhebe. 

Eigentlich müßten wir nun die Apoftelgefchichte an allen 
Stellen durchgehn, um zu erkennen, wo ein neuer Abfchnitt zu 
beginnen Scheint. Doch führt und dies zu weit und würde 
mehr in die Erklärung diefer Schrift gehören. Ich will mich da— 
her nur auf einige Hauptpuncte befchränfen. 

In Gap. 2., wo die Erzählung vom Pfingfifeft die Haupt: 
fache ift, wird die Nede des Petrus angeführt, aber zuleßt mehr 
der Inhalt nur extrahirt, und die Wirkung berichtet, daß ein Theil 
der Zuhörer fich taufen ließ. Dann folgt eine allgemeine Rela— 
tion, die fih auf den ganzen Zuftand der Chriften bezieht (8. 42.), 
daß fie feft an der Lehre der Apoftel hielten und in der Gemein- 
fchaft blieben.‘ Dann ift von dem Eindrude auf dad Volk die 
Rede (B.43.), es feien viele Zeichen und Wunder gefhehn; dann 
"wird befchrieben, wie es mit den aͤußern Dingen in der Gemeinde 
gehalten fei, Gütergemeinfhaft u.f.w. Wenn wir uns dies als 
Beftandtheil einer fortlaufenden Darftellung denfen follen, fo wird 
hier ein ganz unbeflimmter Zeitraum in ein allgemeines Bild zu= 
fammengefaßt; da müßte dad Folgende fich fo verhalten, daß ent⸗ 
weder Einzelnes als Beſtaͤtigung dieſer allgemeinen Beſchreibung 
hervorgehoben wuͤrde, oder daß das Folgende jenſeits dieſes im 
Allgemeinen geſchilderten Zeitraums laͤge. Dies iſt aber nicht der 
Fall, ſondern es folgt ein ganz einzelnes Wunder aus derſelben 
Zeit, und dem ſchließt ſich die Erzaͤhlung von dem an, was von 
Seiten der Hohenprieſter gegen die erſten Chriſten geſchah; das 
tritt alſo in den erſten Zuſtand hinein, aber ohne mit dem Vori— 
gen in irgend eine Verbindung geſetzt zu werden. So erſcheint dies 
als eine fuͤr ſich beſtehende Erzaͤhlung; daß aber jene fruͤhere mit 
einer allgemeinen Beſchreibung ſchloß, iſt bei ſolchen vereinzelten 
Erzählungen ſehr natürlich. Nun finden wir Cap. 4, 32 ff. eine 
ganz ähnliche allgemeine Befchreibung, wie am Ende des zweiten 


Anzeichen, daß d. Apoftelgefch. aus einzelnen Erzählungen zuſ. gefeßt ift. 353 


Gapitels. Da fteht noch einmal, die Menge der Gläubigen fei 
einmüthig, Alles -unter ihnen gemeinfam gewefen, die Apoftel hät: 
ten mit großer Kraft gezeugt und großes Wohlgefallen erregt. 
Dann wird in einem befondern Falle wiederholt, wie die Beguͤ— 
terten ihre Grundftüde verkauft und das Geld den Apofteln zu 
Füßen gelegt, woran fich die Erzählung von Ananias anfchließt. 
Man Sieht, die allgemeine Darftellung ift eine Wiederholung der 
vorigen, ohne daß darauf zurückgewiefen wäre; fie weiß davon gar 
Nichts, ift aber ein natürlicher Anhang an eine einzelne Erzählung. 

Am Anfang von Cap. 6., wo die Erzählung von Steph a— 
nus eingeleitet wird, ift die Wahl der Diaconen befchrieben, nach— 
dem das Vorige auch mit einer allgemeinen Darftellung gefchlof- 
fen war, die aber weit Fürzer ift, als die früheren, und nur das 
fortdauernde Beſtehn der Gefellfchaft anzeigt. Es wird nun der 
Verdacht der Helleniften erwähnt, daß ihre Wittwen bei der täge 
lichen Unterftügung überfehn würden. Vergleicht man damit die 
vorige Darftelung, fo wird es zweifelhaft, ob der Zufland einer 
allgemeinen Gütergemeinfchaft noch fortgedauert hat, denn dann 
wäre nicht bloß den Wittwen, fondern Sedem nach feinem Be— 
dürfniffe zugetheilt worden. Diefe Stelle weit alfo mehr auf 
einen andern Zuftand hin, wo allerdings auch Jeder nach feinem 
Vermögen zur Unterftühung der Dürftigen beitrug, aber ohne fich 
die eigne Difpofition über feine Güter nehmen zu laſſen; und in 
der That Fonnte die Gütergemeinfchaft auch nicht lange beftehn. 
Aber doch ift Feine Spur von Erwähnung einer folchen Veraͤnde— 
rung; da fieht man alfo auch, daß diefe fpätere Erzählung von 
der frühern Nichts wußte, und daß der Zufammenfteller an eine 
Ausgleihung nicht dachte. 

Uchnliches finden wir auch im Antiochenifchen Zeitraum. 
Gap. 12, 25. wird erzählt, Paulus und Barnabas feien aus Je— 
rufalem zuruͤckgekehrt, nachdem fie ihren Auftrag dort erfüllt und 
den Sohannes Marcus mitgebracht hätten. Darauf fangt fogleich 
Gap. 13, 1. fo an: Es waren aber in Antiochien bei der dort 
befiehenden Gemeinde Propheten und Lehrer, Barnabas und Si— 


Einl, ins N. T. 23 


354 Anzeichen, daß d. Apoftelgefch. aus einzelnen Erzählungen zuf. geſetzt iſt. 


meon, Niger und Lucius von Cyrene und Manaen und Saulus. 
Natürlich hätten wir erwartet, daß Barnabas und Saulus nicht 
getrennt unter den Uebrigen aufgeführt würden, fondern, da fie 
eben zufammen genannt waren, daß nun etwa gefchrieben wäre: 
Außer Barnabas und Saulus waren dort noch die und die. Es 
ift alfo vollig unmöglich, daß Dies fo follte hinter einander ge= 
fchrieben fein; wenn dagegen bier eine neue Erzählung, von der 
Ausfendung des Barnabas und Saulus, anfängt, fo ift Alles ganz 
natürlich 2). 

Sehr entfcheidend in diefer Hinficht find auch die ephefinifchen 
Gefchichten. Da lefen wir Gap. 18, 18 ff., daß Paulus fich von 
Corinth nah Syrien eingefchifft habe, nach Ephefus gekommen 
fei und dort in der Synagoge gelehrt habe. Man habe ihn ge- 
beten, länger zu bleiben, aber er habe zum Feft in Serufalem fein 
wollen, jedoch verfprochen, wiederzufommen, So fei er abgereif’t, 
habe aber Aquilas und Priscila zurüdgelaffen, welche dort den 
Apollos kennen gelernt und zum Chriften gemacht. Nun heißt es 
Gap. 19, 1. auf einmal, nachdem Paulus die höher gelegenen Ge— 
genden bejucht, fei er nach Ephefus gefommen, aber es wird nicht 
gefagt, daß er wieder dahin gekommen fei. Nun folgt die Er— 
zählung von den Sohannesjüngern, die vom heiligen Geift noch 
Nichts wiffen und von Paulus eis To Ovora Tod »voiov In000 
getauft werden, worauf er drei Monate lang in der Synagoge 
lehrt. Nun ift doch auffallend, daß diefe Erzählung von der vo— 
rigen gar Nichts weiß. Es mußte doch der frühere Aufenthalt 
Pauli eine Wirkung für das Chriftentbum in Ephefus gehabt ha= 
ben, woran er bei feiner zweiten Anweſenheit anfnüpfen Fonnte. 
Es läßt ſich alfo dies nur dadurch erklären, daß die vorige Er- 


1) Erf. Entw. Auch 15, 36 iſt zera Tıvas nusons rein für ſich anfan- 
gend, nicht auf ducrgıßov bezogen. Daß in der folgenden Erzählung die 
erſte Perfon auffolche Weife eintritt, erffärt fich auch am Leichteften hieraus. 
Timotheus oder wer fonft hatte in der erften Perfon gefchrieben, welches J 
anfänglich der Zuſammenreiher übertragen hatte, hernach aber doch bei 
dem blieb, was er in feiner Schrift fand. 





Scheinb. Spuren einer zuf. hängenden Geſchichtsſchreibung in d. Actis. 355 


zählung abgebrochen ift, und nun eine zweite davon unabhängige, 
die auch von dem Aufenthalte Pauli in Ephefus fpricht, beginnt. 
Offenbar war die Begebenheit mit den Sohannesjüngern bei feiner 
erften Anmefenheit gefchehn, denn bei der zweiten waren ja ſchon 
Ehriften dort. — Nun glaube ih, man braucht nur Diefe wenigen 
Puncte fich recht zu vergegenwärtigen, um fich zu überzeugen, 
daß die Acta nur aus einzelnen Erzählungen zufammengefest fein 
fönnen, und ed müßten ſchon fehr ſtarke Indicien für das Gegen- 
theil da fein, um dies Urtheil wanfend zu machen. 

Auf der andern Seite nemlich finden wir nur eine Stelle, 


die den Keim einer Neihe von weiter folgenden Darftellungen in 


fich ſchließt und alfo für eine hiftorifche Gompofition fprechen würde. 
Es wird nemlich bei der Steinigung des Stephanus erzählt (c. 7, 
58.), daß die Zeugen ihre Kleider zu den Füßen eines Juͤng— 
lings, Namens Saulus, niedergelegt hätten, als fie den Stepha- 
nus fteinigten. Dies ift die erfte Erwähnung des Paulus. Dar: 
auf wird (c. 8, 1—3.) gefagt, Saulus habe Wohlgefallen an 
dem Zode des Stephanus gehabt und fei in der nun ausbrechen- 
den DBerfolgung der Chriften, bei der fich alle zerftreut und nur 
die Apoftel in Serufalem geblieben, fehr thätig gewefen. Nun folgt 
die durch diefe Zerſtreuung der Chriften veranlaßte weitere Ausbrei- 
tung des Chriftentbums und namentlich die Wirkfamfeit des Phi- 
lippus in Samarien, und erft c, 9, 1 ff. wird weiter von Sau— 
lus erzählt, wie er mit Vollmacht zur Verfolgung der Chriften 
nad) Damascus gezogen, aber unterwegs befehrt fei. Dies fieht 
alfo aus, wie eine hiftorifche Anlage, wo das Frühere von Sau— 
lus gefagt war, um das Spätere zu begründen. Aber betrachten 
wir die Sache genauer, fo bezieht fih c. 8, 1—3. fowohl auf 
Philippus und die weitere Ausbreitung des Evangeliums, als 
auf Paulus, und die einzelnen Angaben find in diefer Beziehung 
als Einleitung zum Folgenden im höchften Grade unvollftändig. 
Mas am meiften den Schein einer hiftorifhen Compofition 
giebt, ift, daß das Ganze fi) um zwei Gentralpuncte zu drehen 
ſcheint, welche das Pfingfifeft und die Steinigung des Stephanus 


253 * 


356 Scheinb. Spuren einer zuf. hängenden Geſchichtsſchreibung ind. Actis. 


bilden. Dies gilt jedoch nur für den erfien Theil, ehe die Mif- 
fionsreifen Pauli beginnen, und man koͤnnte fagen, daß im erften 
Theil Serufalem der Mittelpunct ift, im zweiten aber Antiochien. 
Aber wenn man die Sache genauer betrachtet, fo vermißt man 
nicht etwa bloß eine Fünftlerifche (denn davon ift nicht die Nede), 
fondern auch eine fchlichte fich felbft bewußte hiltorifche Zufammene 
ftelung, und man findet nur halbe Erwähnungen, die immer Als 
Yerlei al3 bekannt vorausfegen und nur Einzelnes hervorheben. So 
wird zuerft erwähnt, wie die 11 Juͤnger, die namentlich genannt 
werden, zufammengehalten haben, und wie der zwölfte an der 
Stelle des Judas gewählt wird. Dann folgt das Pfingfifeft, wo 
eine Menge hinzufommt, dann die Einführung der Gütergemein- 
Schaft, die aber gar nicht fo beftimmt befchrieben wird, daß, wer 
der Sache fremd ift, fie genau verftehn kann. Daß fie wieder 
aufgehoben wurde, wird gar nicht gefagt, fondern wir fehn es 
nur aus dem Streit der Helleniften und Hebräer wegen der Witt- 
wen. Wenn alfo offenbar diefe Erzählung ‚von der Gütergemein- 
haft nur auf einzelne Begebenheiten, die Gefchichte des Ananias 
und der 7 Diaconen bezogen wird: fo fieht man, wie ein fortlaus 
fender Zufammenhang gar nicht beabfichtigt, fondern nur ein 
Anrouvyuovevpo an das andre gereiht wird. — Wenn wir den 
zweiten Genfralpunct betrachten, den Tod des Stephanus und Die 
damit verbundene Zerftreuung der Chriften, fo ergiebt fich in der 
Folge, daß dadurch zuerft das Chriftenthum nah Samarien, Sy— 
vien und weiter gebracht wurde. : Wenn nun aber daS da, wo 
die Sache zuerft vorgetragen wird, ordentlich eingeleitet werden 
fonte, fo hätte e3 auf ganz andre Weife gefchehn müffen. Die 
c.11, 19. erwähnten Gegenden hätten müffen ſchon in c. 8, 1—4. 
aufgenommen werden. Ebenfo wird nach der Erzählung von der 
Belehrung des Paulus c. 9, 31. gefagt, daß die Gemeinden in 
Judaͤa, Salilda und Samaria nun Ruhe gehabt hätten; aber von 
der Entftehung von Gemeinden in Galiläa war noc gar nicht 
die Rede gewefen, fondern nur Judaͤa und Samaria war c. 8,1. 
genannt. Nach c. 13, 4. kommen Barnabas und Paulus nad) 


Scheinb. Spuren einer zuf. hängenden Geſchichtsſchreibung in d, Actis. 357 


Cypern, und da ift Feine Spur davon, daß bier fhon früher 
Chriften gemwefen waren, was doch c. 11, 19. berichtet war; es 
weiß alfo die fpätere Gefchichte von der frühern Nichts. Daffelbe 
findet fih, wo «.15, 39. noch einmal Cypern erwähnt wird. Ebenfo 
ift merfwürdig, wie c. 8, 40. erzählt wird, dag Philippus nad) 
Gäfaren gefommen fei, und nachher c. 10, 1 ff., daß Petrus von 
Joppe nad) Cäfarea zum Cornelius gegangen fei. Wenn Philip: 
pus vorher das Evangelium verfündigt hatte, fo mußte er es auch) 
in Gäfaren gethan haben; da Fonnte alfo Cornelius fich leichter an 
Philippus wenden, der in derfelben Stadt war. Da muß man 
alfo doch nothwendig annehmen, daß die Erwähnung von der Reife 
des Philippus nach Gäfarea eine Anticipation ift; und das würde 
felbft in einer zufammenhängenden Darftellung nicht auffallen. Aber 
wenn nachher die Erzählung wieder auf Cäfarea kommt, fo mußte 
gejagt werden, daß Philippus Damals noch nicht dort war. 

Detrachten wir noch einmal die Sache mehr im Großen, fo 
koͤnnen, wie wir gefagt haben, Serufalem und Antiochien als Mit: 
telpuncte des Ganzen erfcheinen; an Serufalem Enüpfen ſich dann 
jene beiden Momente, das Pfingftfeft als Keim der innern Orgas 
nifation und der Tod des Stephanus als Beranlaffung der äußern 
Verbreitung; an Antiochien fehliegen fich die Miffiongreifen des 
Paulus an, der jedesmal dorthin zurückkehrt. Aber diefer Schein 
von Drganifation verfehwindet wieder bei näherer Betrachtung. 
Sm legten Theile muß man diefe Einheit erft mühfam herausfu- 
hen, denn nur ganz beiläufig wird erzählt, daß Paulus wieder 
nach Antiochien zurücdgekehrt fei. Ferner wird gefagt, daß Wauz 
lus hernach wieder nach Serufalem gefommen fei; da wäre doch 
natürlich gewefen, daß die Begebenheiten in Serufalem während 
diefes ganzen Zeitraums nachgeholt würden, da dies früher der 
Hauptpunct der Gefchichte gewefen war. 

Die critifhen Behandler diefes Gegenftandes werden von de: 
nen, welche um jeden Preis die beftehende Anficht vertheidigen 
wollen, ermahnt, doch diefe Schriften nicht nach der Weife unfe- 
rer Eunftgerechten Gefchichtfcehreibung zu beurtheilen. Das ift bil- 


355 Compofition der Apoftelgefchichte. 


lig; es fol aber auch nur vorausgefeßt werden, daß das Gedaͤcht— 
niß mit der Erzählung im Verhaͤltniß fteht, und daß der, deffen 
Gedächtniß den Gegenftand nicht umfaßt, ihn auch eben nur vereinzelt 
und nicht zufammenhangend vortragen wird, und daß, was als ein 
Moment erzählt wird, auch Zufammengehöriges zufammenftellt. 
Nun aber bleibt von jenem Schein einer Organifation doc) 
etwas Wahres übrig, was man fich nicht verbergen kann, nemlich, 
Daß der erfte Theil der Apoftelgefchichte aus folchen Elementen be— 
fteht, die in Serufalem urfprünglich mußten entftanden fein und 
auch nur von dort aus Fonnten gefammelt werden; die Erzählun- 
gen von Apofteln und Schülern verfelben bilden den zweiten Theil. 
Denken wir uns am Ende des apoftolifchen Zeitalters Semanden, 
der ein Intereſſe hat, Nachrichten über die erfte Verbreitung des 
Chriſtenthums zu fammeln, und Gelegenheit, von der erften chrift- 
lichen Generation in Serufalem Nachrichten einzuziehn: fo Fonnte 
ein Solcher leicht im Stande fein, folhe Nachrichten zu erhalten, 
wie fie der erfte Theil der Acta umfaßt. Ebenſo wenn Semand 
Gelegenheit hatte, Nachrichten von den Apofteln zu befommen, 
fo würde er die Data erhalten haben, die den zweiten Theil aus: 
machen. Auf diefe Weife kann dieſe Zufammenftellung entftanden 
fein. Sehn wir von diefem Gefichtöpuncte die Stelle c. 8, 1—4. 
noch einmal an, welche am meiften dad Anfehn hat, einen grö- 
ern Abfchnitt zu verfnüpfen, fo ftellt ſich die Sache fehr Teicht 
fo dar, daß dies nur ein folcher Uebergang ift, den derjenige ge= 
macht hat, der die Erzählungen an einander reiht, aber daß er. 
nur an das zunächft Liegende gedacht hat. Denn er hätte ja eben 
fo gut auch die galiläifchen, fyrifchen und cypriſchen Gemeinden 
erwähnen koͤnnen, aber das gefchieht nicht, weil es nicht zur. als 
Iernächften Fortfchreitung gehört. Es kommt erſt vor bei der Ge: 
fhichte von Antiochien im Zufammenhange damit, daß der Name 
der Ehriften dort aufgefommen ift, und daß die Reife des Bars 
nabas und Paulus nach Syrien erwähnt wird. So heißt es denn, 
nachdem c.7. der Tod des Stephanus erzählt ift: „Saulus hatte 
feine Freude an feinem Tode, und es entftand eine große Verfol— 


Nicht immer erzählt in der Apoſtelgeſch. ein Augenzeuge. 339 
gung der Gemeinde, und Alle zerfireuten ſich über Judaͤg und 
Samaria, dem Stephanus aber veranftalteten fromme Leute ein 
anftändiges Begraͤbniß, Saulus aber verwüftete die Gemeinde; 
die fich aber zerftreut hatten, verfündigten das Evangelium, und 
fo Fam Philippus nach Samarien.” Da ift, was von Stephanus 
gefagt wird, nicht zufammengeftellt, fein Leichenbegängniß nicht, 
wie natürlich gewefen wäre, gleich nach feinem Tode angeführt; 
was den Paulus betrifft, ſteht auch nicht zufammen. Wenn ich 
mir denken foll, daß dies ein abfichtlich hingeftellter Gentralpunct. 
fei, von dem aus fich das Spätere entwidle, jo kann ich mit 
nicht vorftellen, wie Semand fo hat fehreiben koͤnnen; aber als 
Berfnüpfung des nachft Vorhergehenden und Folgenden paßt es 
ganz und gar. Gehn wir weiter, fo wird erwähnt, daß Saulus 
fih Briefe nach Damascus geben ließ, um auch dort die Ehriflen 
zu verfolgen; aber es ift gar nicht die Rede davon gewefen, wie 
diefe Chriften nach Damascus gefommen find. Diefe Erzählung 
fteht alfo ganz vereinzelt da. Bei allen diefen Indicien, die ich 
noch lange nicht erfchöpft habe, bleibt Faum eine andre Anſicht 
von der Apoftelgefchichte übrig, als daß fie aus vereinzelten Er- 
zählungen zufammengeftellt fei. 

An jener Stelle fieht man auch, daß hier nicht die Relation 
eines Augenzeugen if. Es wird bei jener Verfolgung gejagt, daß 
die Apoftel in Serufalem geblieben wären. Aber wenn man be= 
denkt, wie man fich bei einer Verfolgung immer vorzüglich an Die 
Haͤupter hält, jo muß man es höchft unwahrfcheinlicy finden, daß 
die Apoftel unangefochten dort geblieben find. Wenn aber nad)= 
her erzählt wird, daß Philippus nach Samaria gefommen, und 
wie die Apoftel ihm aus Serufalem den Petrus und Sohannes 
nachgefhikt haben, fo fehn wir, wie der Anordner, um diefe 
Abfendung mit der vorher erzählten Zerftreuung zu verknüpfen, 
mag gedacht haben, die Apoftel feien in Serufalem geblieben. Aber 
entweder ift die Verfolgung nicht fo allgemein gewefen, wie fie 
dargeftellt wird, oder die Apoftel haben fich auch auf eine Zeit 
entfernen müffen, zumal wahrend Saulus fo eifrig die Chriften 


360 Entſtehung der einzelnen Erzählungen in der Apoftelgejchichte, 


aufjuchte. Dies find alfo nur anfnüpfende Momente für die naͤch— 
ſten Erzählungen, aber nicht aus unmittelbarer Anfchauung her= 
vorgegangen. ? 


§. 87. 


Stellen wir uns alfo die Sache von diefer Borausfeßung aus 
vor, fo fragt fih nun, wenn man fich eine Ueberzeugung von der 
Sicherheit diefer Nachrichten erwerben will, wie diefe einzelnen 
Nachrichten und Aufzeichnungen entftanden find, und welche Zen- 
denz bei ihrer Zufammenftelung gewaltet hat. Da müflen wir 
zunächft fagen, daß allerdings eine große Differenz ift zwifchen dem, 
was bier, und dem, was in den Evangelien behandelt wird. Die 
evangelifüifche Ueberlieferung als nothwendige Ergänzung der apo- 
folifhen Verkündigung befchränfte fich nur auf die Zeit des Lebens 
Chrifti, aber gewiß find nie folche einzelne Erzählungen von der 
Geſchichte der Apoftel öffentlich vorgetragen, denn dieſe ftand in 
feiner unmittelbaren Verbindung mit dem Glauben. Es kann 
alfo bier nur der hiftorifche Sinn das hinlängliche Intereſſe er- 
wedt haben; ein folcher offenbart fich aber bei dem Verfaſſer der 
Apoftelgefohichte. Er hat fih alfo diefe Nachrichten zu ver: 
Ihaffen gewußt, und da wäre ihm das fehr förderlich, wenn er 
Begleiter des Paulus gewefen wäre. Da aber die Acta nach dem 
Evangelium gefchrieben find, und diefes, wenn-es fo früh gewe— 
fen wäre, als daS erſte und von einem Begleiter des Paulus ver- 
faßte zu einer ganz andern, ausfchlieglichen Auctorität gefommen 
fein würde, fo wird es durchaus zweifelhaft, daß die Acta von 
einem Begleiter des Apoſtels herrühren, und wir fommen zu dem 
Schluß, daß nur die Materialien von einem folchen aus diefer 
Zeit find, der Verfaſſer felbft aber fpäter war. Wenn nun der 
Eingang zum Evangelium fagt, dag ſchon Mehrere eine Erzählung 
Ep TOV NENANOOPOENUEVWV- Ev Yuiv noayuezav verſucht ha= 
ben, und es im Eingang zur Apoftelgefehichte heißt, daß der 
nonrog Aoyos das umfaßte, was Sefus felbft gethan und geredet 

hat: fo wird der deursoog Aoyog das von jenen rerrAyE0Y007- 


Quellen der, Apoftelgefchichte, | 361 


gıevav 2v yuiv noayuarov enthalten, was nach der Himmel: 
fahrt gefchah, und man wird nicht anders Fünnen, ald das nol- 
Roi Zrneyeioyoav, was von dem Ganzen Diefer oryudrwav. ges 
fagt wird, auch auf den zweiten Theil, den Snhalt der Acta, bes 
ziehn. Sonach läßt ſich denken, daß der Verfaſſer die Apoftel- 
gefchichte aus früher ſchon gefammelten fchriftlihen Nachrichten 
zufammengeftellt hat. Dennoch aber Fann ich nicht glauben, daß 
er folche Bücher, wie die Acta Petri u. dgl., vor fich gehabt habe. 
Denn einmal find diefe nachher für unaͤcht erklärt worden, was 
fi nicht auf den Verfaffer, fondern auf den Inhalt derfelben be= 
ziehn kann; darnach müßte alfo unfre Apoftelgefchichte, wenn 
fie daraus gefchöpft hätte, auch für verwerflich erklärt worden fein. 
Zweitens wird dieſes Buch doch vorzüglich von Petrus gehandelt 
haben und meiter im Leben defjelben gegangen fein, als unfere 
Apoftelgefchichte ; der Verfaſſer der Ießtern alfo würde, wenn er 
jenes Buch gekannt, mehr von Petrus erzählt haben, als er doch 
thut. Die noasers Ileroov koͤnnen alfo nicht zu den Quellen 
unſers Verfaſſers gehört haben. 

Biele der einzelnen Auffäse in den Actis beziehn firh auf die 
Gründung einzelner Gemeinden und dad, was wefentlich damit 
zufammenhängt. 1. Die erften Aufſaͤtze handeln durchaus von der 
Entftehung und Drganifation der Gemeinde zu Serufalem. Da 
dies die natürliche Metropolis aller Gemeinden in Palaͤſtina wurde, 
fo gehören zu diefen Nachrichten auch die von der Verbreitung des 
Chriſtenthums in Paläftina, denn die Nachrichten über Samaria famen 
von Philippus nach Serufalem, und von hieraus wurden Petrus 
und Sohannes dahin geſchickt. 2. Hernach ift die Gründung der 
Gemeinde von Antiochien die Hauptfache. 3. Bei den paulinifchen 
Begebenheiten finden wir ein paar ganz eigentliche Neifeberichte, 
wo die Stiftung von vielen Gemeinden berichtet wird, zuerft bei 
der gemeinfchaftlichen Reife des Paulus und Barnabas, dann bei 
der des Paulus allein, wo er nach Europa übergeht. Da liegen 
die Gemeinden von Philippi und Theffalonich fo zufammen, daß 
ihre Gründung natürlich in einem Zufammenhange bargeftellt 


362 Gemeindenrfunden in der Apoftelgefhichte. 


werden mußte. Dann wird erzählt, daß Paulus fich in Gorinth 
14 Sahr aufgehalten, aber der Bericht betrachtet nur die eigent- 
liche Entftehung diefer Gemeinde, denn von dem, was Paulus 
in den 14 Sahren gethan, wird Nichts gefagt, nur was feine 
Abreife verurfachte, wird erzählt, was alfo zum Neifebericht gehört. 
Paulus kommt nun nach Epheſus; aber dies iſt nur Reiſebericht, 
denn er ſtiftet dort auf dieſer kurzen Durchreiſe keine Gemeinde. 
Aber bei ſeinem zweiten dortigen Aufenthalte iſt die eigentliche 
Nachricht von der Gruͤndung einer ſolchen, und es wird uͤber die 
Entſtehung derſelben ausfuͤhrliche Rechenſchaft gegeben. Dann 
aber folgt wieder ein Reiſebericht, und ſo wechſeln dieſe beiden 
Elemente. 

Wenn wir nun hier noch auf mancherlei einzelne Umſtaͤnde 
Ruͤckſicht nehmen, zunaͤchſt, wie in den Berichten uͤber die erſten 
Vorgaͤnge in Jeruſalem nach der Himmelfahrt Zahlen vorkommen, 
was darauf hindeutet, daß man die Zuſammenkuͤnfte der Chriſten 
in eine gewiſſe aͤußere Ordnung mit Verzeichniſſen, wie bei den 
Synagogen, gebracht: ſo gewinnt es das Anſehn, daß hier kleine 
Schriften zum Grunde gelegen, die ein Gemeinbeſitz der Gemein— 
den geweſen ſind und die noͤthigen Data fuͤr die weitere Fortfuͤh— 
rung der kirchlichen Angelegenheiten enthalten haben. Spaͤterhin 
koͤnnen ſolche Criterien nicht mehr angewendet werden. Bei An— 
tiochien wird allerdings ein beſonderer Umſtand angegeben, der fuͤr 
die dortige Gemeinde von vorzuͤglichem Intereſſe ſein mußte, nem— 
lich, daß hier der Name Xorozıavoi aufgekommen ſei. So kom— 
men auch ſpaͤter Verhandlungen vor, die ſich ganz beſonders auf 
die Gemeinde von Antiochien beziehn, uͤber die Geſellſchaftlichkeit 
von Juden- und Heidenchriſten. Man ſieht aus den Briefen des 
Paulus, daß dieſer von den hier daruͤber gegebenen Regeln ander— 
waͤrts keinen Gebrauch gemacht und noch freier gehandelt hat; er 
hat dieſe alſo nur als durch und fuͤr die Noth entſtanden, nicht 
aber als allgemeine Kirchengeſetze angeſehn. So ſcheint es alſo, 
als ob die Nachrichten uͤber dieſe Verhandlungen aus den oͤffent- 
lichen Documenten der Gemeinde von Antiochien genommen find. 


Neifejournale in der Apoftelgefchichte. 36 


[>] 


Da waren Elemente, die gemeinschaftlich für Antiochien und Je— 
rufalem fein mußten, fo daß diefe beiden Quellen einander er- 
gänzen Eonnten. — Wer alfo Nachrichten diefer Art fammeln 
wollte, fand folhe Data bei den einzelnen Gemeinden; und es 
laßt fich. auch denken, daß es überall unter den Vorſtehern folche 
gegeben haben wird, die hiftorifchen Sinn genug hatten, um das, 
was den erften Urfprung der Gemeinden betraf, zur rechten Seit 
aufzufchreiben und niederzulegen. | 

Mas die andre Hauptform betrifft, fo ift der letzte Abfchnitt der 
Apoftelgefchichte ganz offenbar ein Keifejournal, welches unmittel- 
bar, nachdem die Neife vollbracht war, niedergefchrieben wurde, 
wo noch Alles im frifcheften Gedächtniffe war. Diefer Reifebericht 
fchließt aber fo, daß man fieht, der Verfaffer hat von dem weitern 
Berfolg der paulinifchen Begebenheiten Feine beftimmte Notiz ges 
habt. Es wird nur noch angeführt, daß Paulus noch zwei Sahre 
lang in Rom mit einer gewiffen Freiheit gelebt bat. Der Ver— 
faffer muß alfo bald nach der Ankunft deffelben in Rom fich von 
ihm getrennt und feinen Keifebericht anderswo deponirt haben. 

Wenn wir in der Apoftelgefhichte alfo paläftinifhe, forifche 
und Eleinafiatifche Auffäge zufammen haben, fo muß der Verfaſ— 
fer des Ganzen Gelegenheit gehabt haben, fich ſolche zu verfchaffen. 
Er muß entweder dort felbft geweſen fein, oder an einem Drte, 
wo er leicht dergleichen erhalten Eonnte. Swifchen den bier er- 
wähnten Hauptpuncten nun, Serufalem, Antiochien, Ephefus, Co: 
vinth war gewiß ein genauer Zuſammenhang; wer fich alfo darum 
bemühte, konnte gewiß folhe Nachrichten haben. Aber recht nach) 
einem folchen Beftreben fieht das Buch niht aus, da Feine 
Gleichmaͤßigkeit darin ift, denn es fehlen die fpätern paläftinifchen 
Nachrichten. 

Berweilen wir bei diefem letzten Puncte noch, fo müßte bei 
der gewöhnlichen Anficht die Apoftelgefchichte vor dem jüdifchen 
Kriege gefchrieben fein; man fagt fogar, nothwendig zu der, Zeit, 
ald Paulus noch in Rom lebte. ES ift aber ein nichtiger Schluß, 
daß dad Buch fo früh gefchrieben fein müffe, weil Fein fpäteres 


364 Ob die Acta vor oder nach dem jüd. Kriege zufammengeftellt find. 


Datum darin vorfommt. Wollten wir dies annehmen, fo waren noch 
fo viele für das Chriftenthum wichtige Begebenheiten und Züge aus 
dem Leben der Apoftel zu erzählen, die vor dem jüdifchen Kriege 
leicht zu erfahren waren, daß fih ihr Fehlen gar nicht erklären 
läßt. Ganz anders ift es, wenn die Apoftelgefhichte nach dem 
jüdifchen Kriege entftanden if. Da war durch die Auflöfung als 
ler Berhältniffe und durch die partielle Verwuͤſtung Judaͤa ein 
ſehr ungünftiges Terrain für weitere Forfchung. Aber die fruͤhern 
Begebenheiten, wie die Gründung der erſten Gemeinde in Jeru— 
falem, hatten fo allgemeines Intereſſe, daß die Nachrichten davon 
ſchon vorher müfjen nach andern Gegenden gefommen fein; und 
deshalb erhielten fie fih, während die fpätern Nachrichten über 
diefe Gemeinde wohl für die paläftinifchen Chriften, nicht aber für 
andere daffelbe Sntereffe hatten. So erklärt fich alfo der Umftand, 
daß die paläftinifhen Nachrichten fo bald abbrechen, und nur 
folche vorkommen, die mit der Gefchichte des Paulus zufammene 
hängen. 

Was die Neifeberichte betrifft, die den Apoſtel Paulus zum 
Gegenjtand haben, fo liegt in der Natur der Sache, daß in den 
vielen von ihm geftifteten Gemeinden, namentlich in denen, deren 
Mitglieder eine größere geiftige Bildung hatten, Manche fein muß- 
ten, die ein Verlangen hatten, genauere Notizen von feinen pers 
fönlichen Umftänden zu haben, daß alfo da leicht Feine Samm— 
lungen von Nachrichten aus feinem Leben entftehn Tonnten, welche 
der Berfaffer der Apoftelgefchihte im zweiten Theile derfelben be= 
nutzen konnte. Was für das Evangelium ihm die evangeliftifche 
Thätigkeit war, das war ihm hier der Zuftand der Gemeinden, 
welcher folche Nachrichten mit fich brachte. 

Es kommt hier noch ein intereffanter Punct zur Sprade. 
Das Evangelium hat einen beftimmfen Eingang, und die Apoftel- 
gefchichte auch, obwohl er hier nicht ausgeführt ift, fondern ſich 
in die Himmelfahrtsgefihichte verliert. Dagegen bat dad Evans 
gelium Eeinen beftimmten Schluß, fondern die Begebenheit ift 
nur etwas Schließendes für fich; nur daß ein Bufammenhalten 


Mangel eines Schluffes an der Apoſtelgeſchichte. 365 


der Sünger nach dem Tode Chrifti angedeutet wird, koͤnnte man 
als Schluß anfehn. Aber die Apoftelgefchichte hat nun gar Nichts 
dergleichen. Da entfteht alfo die Frage, ob man glauben Fann, 
daß das Werk wirklich von feinem Verfaffer vollendet fei. Sollte 
er nicht, wenn feine Nachrichten hier fchloffen, und er ſelbſt das 
Unbefriedigende diefes Schluffes fühlen mußte, noch einen guten 
Wunſch oder eine fonftige Anrede an Theophilus haben hinzufuͤ— 
gen müffen? Nimmt man aber mit mir an, daß das Buch viel 
fpäter gefchrieben ift, fo wäre doch natürlich gewefen, daß er an— 
gegeben, daß nur bis dahin ihn feine Quellen geführt. Wenn 
man alfo Schluß und Eingang mit einander vergleicht, fo kann 
man nicht anders, als annehmen, daß der Berfaffer fein Werk 
nicht vollendet hat, fondern nody Etwas hinzufügen wollte. Was 
ihn daran gehindert, ob der Tod oder ungünftige Umftände, wiſ— 
fen wir nicht. Nehmen wir das an, fo müffen wir auc den 
Berfaffer von dem Vorwurfe der Ungleichmäßigkeit im Einzelnen. 
und des Mangels an Abrundung des Ganzen freifprechen. 
Hierin liegt nun fehon Urfache genug, alle Fragen über ir 
gend einen befondern Zweck der Apoftelgefchichte abzumeifen. 
Einmal braucht man ja überhaupt einer gefchichtlichen Darftellung 
feinen befondern Zweck unterzulegen, da die Gefchichte ein Zweck 
für fih ift und Feines andern außer fi bedarf. Ueberall wo 
eine Klarheit des Bewußtſeins ift, daß Vergangenheit und Zus 
kunft fih auf einander beziehn, da ift auch eine Richtung auf bie 
Gefchichte. Nimmt man noch hinzu, daß das Chriftenthbum da— 
mals fchon bedeutend angefeindet wurde, und daß ed unter den 
Chriften felbft nicht an einer Neigung für das Wunderbare fehlte, 
welche leicht in die mündliche Ueberlieferung Falfches hineinbringk: 
fo mußte das SIntereffe für die Wahrheit der Thatfadhen 
im Zufammenhange der chriftlichen Dinge fehr lebendig bei denen 
geworden fein, die zu einer fchriftlichen Darftellung eine gewiſſe 
Befähigung hatten. — Man hat aber diefe Frage nad) dem Zweck 
der Apoftelgefchichte vorzüglich deshalb aufgeftelt, um fich bie 
Art und Weife ihrer Zufammenfekung zu erklären. Aber wir 


366 Zweck der Apoftelgefchichte, 


haben ſchon gefehn, daß dies nicht möglich ift; jede beflimmte Ant— 
wort würde in Bezug auf irgend einen Theil des Buchs zu kurz 
fommen. So wenn man fagt, der Zweck fei eine Apologie des 
paulinifchen Chriftenthbums, fo wäre der erſte Theil ganz unnüß 
und ald Eingang ganz unverhältnigmäßig groß. Und das, was 
von Paulus erzählt wird, hat gar nicht diefe Richtung. Andere 
haben gefagt, der Zweck fei, die wunderbare göttliche Mitwirkung 
zur Verbreitung de Evangeliums den Nachkommen zu berichten. 
Dann würde aber alles, was in das Gebiet des Natürlichen bei 
der Verbreitung des Evangeliums fällt, ein hors-d’oeuvre in der 
Apoftelgefhichte fein. Als Gefhichte der Miffionen von Serufalem. 
und Antiohien aus ift fie auch nicht vollftändig, und wir fehn 
in den paulinifchen Briefen manches, was gar nicht erwahnt ift. 
Solhe einzelnen Zwecke anzuführen, iſt alfo ‚ganz unhaltbar, . 
und man muß ficdh einzig und allein an das halten, was der Ver— 
faffer felbft im Eingange feines Buchs anführt, und alles Andere 
aus dem Standpuncte, den er hatte, erklären. 

Um nun unfer Refultat auf das Einfachfte zurüdzuführen, 
fo fommt es nur auf zwei Puncte an, um uns die ganze Erfchei- 
nung der Apoftelgefchichte, wie fie vor uns liegt, zu erklären: 
1. daß in den größten und am meiften entwidelten Gemeinden 
Nachrichten, welche ihre Entftehung und, was damit zufammenhing, 
betrafen, vorhanden gewefen und nach und nah in die Hände 
einzelner mehr gebildeter Gemeindeglieder übergegangen find; 2. 
daß in der Verwirrung des jüdifchen Krieges bei dem häufigen 
Berfehr der Gemeinde von Serufalem mit den Fleinafiatifchen auch 
folhe bierofolymitanifche Chriften, die fich in Beſitz von folchen 
paläftinifchen Nachrichten gefeßt hatten, nach Syrien und Kleinafien 
famen, fo daß leicht ein Einzelner, welcher dort lebte, eine Schrift, 
wie die Apoftelgefchichte, fehreiben EFonnte. Dazu kamen die Rei— 
feberichte, die zur Lebensgefchichte des Paulus gehören. — Daraus 
erklärt fich die Befchaffenheit der Materialien, das Ausbleiben der- 
felben von der einen und von der andern Seite, nemlich daß die 
Nachrichten über Serufalem nicht weiter gehn, ald bis zur erfien 


Reſultat über die Entſtehung der Acta. 367 


Verbreitung des Chriftenthums in Paläftina, daß die Gefchichte 
der Gemeinden nur bis zur Drganifation derfelben führt, und daß 
die Gefchichte mit dem aufhört, was wir eben davon haben, ob= 
wohl dieAbfaffung vieleicht Y, Sahrhundert fpäter gefchah, als der 
darin bemerkte Termin ift?). 

Sh will hier noch eine beiläufige Bemerkung einfchalten. 
Sh bin aus andern Gründen Fein VBertheidiger der Anficht vor 
einer zweiten Gefangenfchaft des Paulus in Rom. Wenn man 
nun die Abfaffung der Apoftelgefchichte nach der Zerftörung Jeru— 
falem5 feßt, fo wird es defto unmwahrfcheinlicher, daß Paulus von 
Kom aus noch einmal in die öffentliche Wirkfamkeit hinausgetreten 
fei und das Evangelium verfündigt habe. Dies ift aber nicht ein 
Grund, warum id die Apoftelgefchihte fo ſpaͤt feße, fondern ich 
thue es darum, weil das Evangelium des Lucas fchon zum Theil 
befannt gewefen fein muß, als die Apoftelgefchichte erſchien. 


$. 88. 


Bei der genauen Beziehung der Apoftelgefchichte zu den 
paulinifchen Briefen entfteht die Frage, ob der Verfaſſer der er— 


1) Erf. Entw. Es bleibt hier die Möglichkeit, daß der Verf. alles 
ſchon einzeln fehriftlich gefunden hat, auch die, daß er alles felbft erſt 
einzeln zufammengetragen hat, und. alle, welche dazwiſchen Liegen. Daß 
er nicht alles erft felbft zufammengetragen hat, wird wahrſcheinlich aus 
den Zahlangaben, die ſich 1, 15. und 2, 41. finden. Denn wenn biefe 
in feiner Wißbegierde ihren Grund gehabt hätten und alles von ihm 
erft aufgezeichnet worden wäre, würden fie fi) wol 6,1. 11,21. u. ſ. w. 
auch bei der Stiftung andrer einzelner Gemeinden nach Jangerem Auf- 
enthalt finden. Cine gewiffe Gleichheit ver Sprache und der Ma— 
nier, die man zugeben kann als durch das ganze durchgehend, ftreitet 
nicht gegen unfere Annahmen. Se mehr er felbft zuerft ſchriftlich auf- 
gezeichnet hat, defto natürlicher, aber auch in dem andern Falle wird 
er nicht wörtlich abgefchrieben Haben, und wiederkehrende Formeln bei 
Anknüpfung und Schluß ꝛc. würden nur zu erwarten fein, fo au) ein- 
zelne Lieblingswörter, zu deren öfterer Wiederholung der Gegenftand 
Veranlaſſung giebt. 


* 


368 Verhältniß der Apoftelgefhichte zu den pauliniſchen Briefen. 


ftern die Ießtern gekannt hat oder nicht. Nimmt man an, daß 


er einer der Begleiter des Paulus gewefen fei, welche diefer fo= 
wohl .in feiner Nähe ald zu Sendungen gebrauchte, und daß er 
zu der Zeit, wo die Erzählung im Buche endigt, gefchrieben habe: 
fo ift kaum zu begreifen, wie er nicht follte die" Briefe gefannt 


oder wenigftens eine Notiz von ihnen gehabt haben; denn bei 


einer vertrauten Umgebung des Apoftel3 muß man doch auch eine 
gemeinfchaftlihe Kenntniß der Briefe vorausfegen. Nun finden 
fi in den GCorintherbriefen Andeutungen von denfelben Reifen, 
welche die Apoftelgefchichte befchreibt, mit Aenderungen, die Paulus 
in feinem Plane gemacht. Wenn nun Semand, der diefes alles 
kannte, die Apoftelgefchichte gefchrieben oder überarbeitet hätte, 
fo wäre eine ſolche Enthaltfamfeit, daß er nicht bier und da 
Erklärungen und Andeutungen über die Verhältniffe in den Brie- 
fen eingeftreut hätte, ſchwer zu erklären, da es vielfältige Gele— 
genheit dazu gab. Außerdem aber giebt es auch fehwer zu loͤ— 
fende Widerfprüche zwilchen den Relationen der Acta und der 
paulinifchen Briefe. So jtreitet die Angabe im Oalaterbrief, daß 
Paulus nad) feiner Bekehrung von Damascus nicht nach Seru= 
falem gegangen, fondern nach Arabien und von dort nad) Da— 
mascus zuruͤck und erft drei Sahre fpäter nad) Jeruſalem gereif’t 
fei und dort außer Petrus und Jacobus feinen Apoftel gefehn 
habe, mit dem, was die Apoſtelgeſchichte hierüber berichtet. Die— 
fer Widerfpruch giebt auf der einen Seite einen Beweis von 
der hiftorifchen Aechtheit der Acta, fofern er zeigt, daß fie nicht 
mit Beziehung auf die paulinifchen Briefe gefchrieben find; auf 


= 


der andern Seite aber müßte, wenn der Verfaſſer ein Begleiter 


des Paulus gewefen, doch auffallen, daß er fich von ihm über dieſe 


Puncte nicht genauern Auffhluß geholt. Denkt man fich aber 


einen fpätern Verfaffer, der früher vorhandene Erzählungen zu: 


fammengeftellt hat, fo erklärt ſich Alles leicht, und man fieht, daß 


die Act. 9, 25. berichtete Flucht das Ende der damascenifhen 


Erzählung ausmacht, während v. 26. ein neuer Abfchnitt, die erſte 
Befanntihaft Pauli mit den Apoſteln, beginnt, ſo daß dies 


Widerſpruch zwifchen dem Galaterbrief und der Apoftelgefhichte. 369 


der Zeit nach gar nicht zufammen zu gehören braucht, denn das 
Participium, womit diefe Nachricht anfängt, beftimmt gar Feine 
Zeit. Der dies erzählt hat, hatte gar Feine Veranlaffung, zu bes 
richten, daß Paulus vorher erft in Arabien gewefen war, oder er 
hat nur gewußt, daß er aus Damascus Fam, und jo wurden die 
beiden Aufenthalte dafelbft mit einander vermifcht. — Ein andrer 
Umftand, wodurd viele Verwirrung angerichtet wird, ift in dem— 
felben Briefe, Gal. 2, 1. Nach der Erzählung der eben erwähn- 
ten Reife nach Serufalem fährt Paulus fort: Späterhin bin ich 
nach 14 Sahren wieder nach Serufalem gefommen mit Barnabas, 
und zwar zara anorarvıpır. Die weitern Beflimmungen dies 
fer Neife find ganz diefelben, wie bei der Act. 15. erzählten, nem: 
lich, daß fie durch die Streitigkeiten in Antiochien über die Ber: 
pflichfung der Heidenchriften zum mofaifchen Gefe& veranlaßt war. 
Sn der Apoftelgefchichte wird aber fehon vorher Cap.11, 30. 12, 
25. eine ganz andere Reife des Paulus und Barnabas nach Je— 
rufalem erzählt, welche alfo der Reihenfolge wegen mit der Gal. 
2, 1. erwähnten zufammenfallen müffte. Zur Löfung diefer 
Schwierigkeit haben Einige die Lesart ändern wollen, Andere ha- 
ben e3 auf andre Weife verfucht. Aber fie Loft fi) ganz von 
felbft, wenn man ſich die. Acta fo entftanden denkt, wie wir es 
gethan. Cap. 11, 19 ff. wird erzählt, wie Barnabas nach Antio- 
chien zu der neu entitandenen Gemeinde gefandt wird, und wie er 
den Paulus aus Tarſus dahin holt. Diefer Theil der Erzählung 
ftimmt fehr gut mit Sal. 1, 21., wornah Paulus nach Cilicien 
ging, wo Zarfus lag. Dort hat ihn alfo Barnabas gefunden. 
Nun aber heißt es Act. 11, 27 ff. weiter, daß wegen einer vor— 
herverfündigten Hungersnoth unter Claudius die Chriften in An- 
tiochien ihren Brüdern in Serufalem durch Paulus und Barna— 
bad Unterflüßungen zugefandt. Diefe Erzählung aber kommt im 
Galaterbrief nicht vor. Act. 12. folgt nun die Hinrichtung des 
Sacobus und der Tod des Herodes, wornach das Cvangelium 
ji) wieder ruhig weiter ausbreitete; v. 25. heißt e5 dann, Bar— 
nabad und Saulus feien aus Serufalem zurüdgefehrt, nachdem 


Einl. ing N. T. 24 


370 Widerſpruch zwiſchen dem Galaterbrief und der Apoftelgeichichte. 


fie ihren Auftrag ausgerichtet und den Sohannes Marcus mit 
fih genommen hätten. Cap. 13. fängt darauf fo an, daß die in 
Antiochien fich aufhaltenden Lehrer genannt werden; dann folgt 
die Miffionsreife des Paulus und Barnabas, und darauf folgen die 
Streitigfeiten in Antiochien c. 15., weßwegen Beide wieder nad) 
Serufalem gehn. Betrachten wir dies ald aus einzelnen Erzaͤh— 
lungen entftanden, fo erklärt fich diefe doppelte Reife ganz natuͤr— 
lich. Da die Weifjagung c. 11, 27. auf etwas Künftiges- geht, 
und die Steuer doch ſchwerlich vor der Hungersnoth wird hin 
gefchieft fein, fo fieht man, wie 11, 30. auch nur eine Anti— 
cipation von etwas Kiünftigem if. Die Sudenchriften 15, 1. 
koͤnnen alfo in der Zwifchenzeit nach Antiochien gekommen fein, 
fo daß 11, 30. diefelbe Neife wäre, wie 15, 2.; nur daß, wenn 
der Verfaſſer dies felbft zufammenhängend gefchrieben hätte, er 
bei 15, 2. Bezug auf 11, 30. genommen, befonders aber 12,25. 
gar nicht gefehrieben haben würde. Es entfland 12,25. nur durd 
das Mißverftändnig des Sufammenftellers, der durch hierofolymi- 
tanifche Erzählungen verleitet Paulus und Barnabas in Serufalem 
dachte und deshalb, als er die antiochenifche Geſchichte wieder an: 
fing, fie erft wieder nach Antiochien zuruͤckfuͤhren zu müffen glaubte. 
So entftand eine fcheinbare Neife, die gar nicht eriftirt hat; denn 
wenn man 11, 30. und 12, 25. mit dem bierofolymitanifchen 
Snhalte des 12ten Gapitels vergleicht, fo fiehbt man, daß Paulus 
und Barnabas weder während der Zeit Etwas in Serufalem 
gethan haben, noch ſchon früher weggereif’t fein koͤnnen. Nur 
wenn man eine Aneinanderreihung von fihon vorhandenen fich 
nicht auf einander beziehenden Erzählungen annimmt, kann man 
diefen Widerfpruch los werden. 

"Daß nun außerdem nicht alles, was in den Briefen vor: 
fommt, in der Apoftelgefchichte kann nachgewiefen werden, beweil’t 
nur um fo deutlicher, daß fie nicht mit Bezug auf die Briefe 
gemacht iſt H. 


1) Erſt. Ent w. Widerſprüche ſollen fein gegen Joſephus in der Rede J 


‚Ueber die Reden in der Apoftelgefchichte, 371 


$. 89. 

Ein anderer Punct, über den. ich noch Etwas fagen muß, 
ijt Die Befhaffenheit der Reden, die in der Apoftelge- 
fchichte vorkommen und von verfchiedenen Perfonen find, von Pe— 
trus, Stephanus und Paulus. Eichhorn, von dem Gefichtö- 
puncte ausgehend, dies Buch fei eine zufammenhängende Origi— 
nalgefchichtfchreibung , hat auch die Einführung von Neden in 
eine Analogie mit der Methode der griechifchen und römifchen 
Gefhichtfchreiber bringen wollen und gefragt, wie Lucas zu die— 
fen Reden gefommen fein follte, die doch alle unter Umftänden 
gehalten feien, wo Keiner fie nachfchreiben konnte, aber an fol- 
chen Stellen finden, wo Reden vorkommen müßten, und alle 
denfelben Stil an fich trügen, wie die übrige Gefchichtfchreibung. 
Deshalb kommt er auf die Annahme, daß Lucas diefe Reden felbft 
gemacht, indem er fih in die Stelle der Perfonen, die fie gehals 
ten, verfeßt habe. Dabei unterfcheidet er. verfchiedene Claſſen 
von Reden und meint, aus jeder fei nur ein Eremplar vorhan= 
den, woraus fich zugleich erkläre, vaß an manchen Stellen, wo 
man eine erwarte, Feine vorfomme. Wenn nun dies gegründet 
wäre, fo erhielte dadurch die Anficht eine große Unterftügung, daß 
hier eine zufammenhängende Gefchichtfchreibung fei, obgleich fie 
immer damit noch nicht bewiefen wäre, denn der Zufammenfteller 
Eonnte in feinen Erzählungen den Ort der Reden und ihren Haupt- 


Gamaliels die Anführung des Theudas, den Joſephus weit fpäter fezt 
unter Cuspius Fadus gleichzeitig mit den Söhnen des Judas 
Galiläus und dem Tode des Herodes Agrippa, Erſtlich iſt 

. aber noch ein doppelter Theudas möglich; dann aber kann auch wol 
der Aufzeichner der Rede eine Verwechslung gemacht haben. Daß hier 

" Sudas Sal. nah dem Theudas gefezt wird, beweift augenfchein- 
lich, daß ein früherer als jener Theudas im Sinn gewefen if. 
Weniger bedeutet die Differenz beim Tode des Herodes. Joſephus 
erwähnt nicht der Tyrier und Sidonier und läßt ihn an Kolik ſterben. 
Aber 0xwAnz0Rowros iſt wol nur eine falſche Auslegung dieſer Krankheit. 
Im allgemeinen ftimmt die Apoftelgefehichte mit Joſephus Angaben von 
deu Zmırgonoss und Hohenprieftern überein. 


24* 


372 Ueber die Neden in der Apoftelgefchichte. 


inhalt angegeben finden und fie nur ausführen. Allein die Sache 
it an ſich nicht ſehr wahrſcheinlich, denn wer das gethan haͤtte, 
der wuͤrde auch ſonſt mehr Zuthat hineingebracht haben, ſchwer— 
lich aber dieſelbe Sache, die ſchon erzaͤhlt war, noch einmal und 
ſogar verſchieden in Reden vorbringen. 

Gleich die erſte Rede in der Apoſtelgeſchichte c. 1, 16—22., 
worin Petrus den Vorfchlag einer neuen Apoftelmahl macht, giebt 
der Eichhorn'ſchen Hypotheſe einen gewiſſen Schein. Denn da— 
mals konnte doch Petrus nicht ſagen, wie es v. 19. heißt, daß 
das von dem Gelde, das Judas den Hohenprieſtern zuruͤckgegeben, 
gekaufte Grundſtuͤck in der Sprache der Juden den Namen "Axer- 
dana, Blutader, erhalten habe; denn Petrus Fonnte doch nicht 
von der Sprache, in der er felbft redet, als von einer fremden in 
der dritten Perſon fprechen. Allein v.18 und 19. erfcheint offene 
bar ald eine Parenthefe, Die gar nicht in den Zufammenhang 
gehört und alfo wohl ein fpäterer Zufak fein Fann, woraus für 
das Alter der ganzen Nede Nichts folgt. ES fchließt fich nemlich 
v.20. unmittelbar an v.17. an, indem erft hier die Stelle, welche 
v. 16. erwähnt war, angeführt wird, fo daß die dazwifchen lie: 
gende Erzählung. parenthetifch ifl. Aber es folgt auch nicht einmal 
daß alles dieſes parenthetifch iftz Petrus mochte vielleicht felbft 
in einem Zwifchenfage Furz auf das Ende des Judas hingedeutet 
haben, fo daß nur, was den Namen des Aders betrifft, fpäter 
binzugefeßt ward. Diefe Stelle Tann alfo Nichts beweifen. 

Eine andere Stelle, die auch einen folchen Schein hat, if 
da, wo Petrus und Sohannes nach ihrer Verantwortung vor 
dem hohen Rath zu den Shrigen zurüdfehren, und dieſe c. 4, 
24-30. zu einer Art von hymniſchem Gebet ihre Stimmen erhe- 
ben. Wenn da fteht, fie hätten einmüthig fo gefprochen, fo 
kann dies nicht buchitäblich verftanden werden, man müßte denn 
ein ähnliches Wunder, wie bei den 70 Dollmetfchern, annehmen, ' 
Aber ich glaube doch nicht, daß dies ein fpäterer Zuſatz vom 
Verfaſſer felbft fei, fondern es ift ganz Elar ein Ausprud dafür, 
daß Einer das Wort führte, und die Andern denfelben Sinn und 


i 


Ueber die Reden in des Apoftelgefchichte, 373 


diefelben Gedanken hatten. Man kann alfo fchwerlich hierauf einen 
großen Accent legen. i 

Nun entfteht freilich die Frage, wie der Verfaſſer überhaupt 
zu diefen Reden gefommen ift, da doch nicht zu denken ift, daß 
fie, während fie gehalten wurden, nachgefchrieben oder gleich dar— 
auf aufgezeichnet wurden, denn fie hängen mit den Begebenheiten- 
genau zufammen, und diefe find von der Art, daß an ein baldige 
Nieverfchreiben kaum gedacht werden kann. Betrachten wir 5. B. 
die Gefchichte des Pfingfitages und verfegen uns in die Stelle 
der damaligen Ghriften, bei denen dadurch ein erftaunlich reges 
Leben hervorgebracht werden mußte, fo konnte gewiß Keiner in 
den eriten Sagen daran denken, die Rede des Petrus ſich aufzu— 
ſchreiben. Ebenfo ift es mit der Nede des Petrus im Haufe 
des Cornelius, von der man auch nicht behaupten kann, daß wir 
fie vollftändig fo haben, wie fie gehalten ift, denn daß durch das 
Herabfommen des heiligen Geiftes auf die Zuhörer die Beweis- 
führung aus den Propheten in der Mitte abgefchnitten fei, iſt 
höchft unwahrfcheinlih. Aber man braucht auch nicht, wenn es 
heißt, indem er fo redete, fei das gefchehn, dies fo buchftäblih zu 
nehmen, fondern es ift die allgemeine Formel dafür, daß Petrus 
noch in der Rede begriffen war, ald es geſchah. ES Fnüpft ſich 
hieran die allgemeine Bemerfung, daß die meiften diefer Reden 
den Character haben, daß fie nur bis -auf einen gewiffen Punct 
mitgetheilt werden und dann mit einer folchen Formel, wie Das 
Ende der eben erwähnten, abbrechen. Davon giebt eö allerdings 
ein paar Ausnahmen, wie bei der Rede des Stephanus, welche 
die Sache bis zu einem gewiffen Ende führt, denn ver Vorwurf, 
welhen Stephanus zuletzt dem Volke macht (7,51—53.), bringt 
die Juden in Wuth, und nun ſieht Stephanus, was ihm bevor- 
fteht, und bricht in die Worte aus: Siehe ich fehe den Himmel 
offen u.f.w., und wird gefteinigt. Dagegen mag in diefer Rede 
manches Mittlere ausgelaffen fein. Ebenfo hat die Rede Act.15, 
16—41., welche Paulus zu Antiochien in Pifidien hielt, ihren fürm= 
lichen Anfang und nach der gefchichtlichen Ausführung ihren Schluß 


374 Ueber die Reden in der Apoftelgefchichte. 


in der Ermahnung, die göttlichen Warnungen zu Herzen zu neh— 
men‘). Sie hat aber das Befondere, daß chronologifche Anga— 
ben darin find, die nicht mit dem alten Teftament übereinflimmen, 
weder nach dem hebraͤiſchen noch nach dem griechifchen Text. 
Pie es fi) nun auch damit ‚erhalte, fo würde doch Jemand 
der diefe Reden bloß eingelegt hätte, fie in genauer Uebereinſtim— 
mung mit dem alten Zeftament gemacht haben. — Die Rede des 
Paulus in Athen c. 17, 22—31. ift offenbar nur ihrem Anfange 
“nach ausführlich gegeben, während daS Uebrige zufammengezogen 
ift, denn die Erſcheinung Chrifti ift nur angedeutet und fo- 
gleich feine Auferweckung erwähnt, fo daß man dies nicht für 
eine ausführliche Darlegung, fondern nur für einen Auszug hal— 
ten kann. Hätte Semand diefes nur eingelegt, fo würde er es 
fo nicht gemacht, fondern die Hauptfache mehr hervorgehoben ha= 
ben; denke ich mir aber, daß es mit der Nelation zugleich als 
Auszug gemacht wurde, um die Gefchichte bis auf diefen Punct 
zu bringen, fo war jenes nicht noͤthig. — Hernach iſt noch der 
merkwürdige Umftand, daß die beiden ähnlichen Neden des Pau— 
lus vor dem Volk in Serufalem und vor Agrippa in der Erzäh- 
lung feiner Bekehrung weder unter fih noch mit der frühern 
geſchichtlichen Nelation fo übereinftimmen, daß die Angaben ganz 
in einander aufgelöft werden Tünnen. Wenn der Berfaffer der 
Acta fie felbft gemacht hätte, fo würde er fich wohl gehütet haben, 
Solche Widerfprüche hineinzubringen, wogegen fich  diefe bei der 
Annahme verfehiedener Quellen leicht erklären laſſen. 

Nun fagt man aber noch, diefe Reden feien im Ton einander 
fo ähnlich, die Sndividualität der Nedenden trete fo wenig hervor, 
daß man fie deshalb als das Werk eines Einzigen anfehn müffe. 
Dies kann ich jedoch nicht finden, und ich will nur ein paar 
Puncte anführen, bei denen man entweder dem Schriftfteller eine 
Kunftfertigkeit zugeftehn, die man doch von andern Puncten aus 
immer wieder läugnen wird, oder die Reden für urfprünglid von 





I) Erf, Entw. Ob nicht die vielen Tage v. 31. eine Quelle der 40 find. 


Ueber die Reden in der Apoftelgefchichte. 375 


den verfchiedenen Perfonen gehalten erklären muß. Die Rede des 
Stephanus und die des Paulus zu Antiochien in Pifidien haben 
beide denfelben Gegenftand, nemlid die frühere Gefchichte des 
jüdifchen Volks, fo daß man fie als fich gegenfeitig ergänzend ans 
fehn Fünnte. Aber genau betrachtet, ift das nicht fo. Stephanus 
hat die beftimmte Zendenz, immer hervorzuheben, daß das Volk 
von Anfang an diejenigen, welche Gott ihm geſendet, verworfen 
und verfolgt habe, was denn auf Chriftum angewendet wird. 
Dies ift das eigentliche Biel der Nede, -weldhes ganz der Stim— 
mung entfpricht, in welcher er nach dem BZufammenhang der Ge— 
fhichte fein mußte, da er in den Synagogen die Meffianität Chrifti 
immer verfündigt hatte und von den Suden deshalb am meiften 
angefochten war. Und auch das Ende der Rede ift fo naturge— 
mäß, daß ein Schriftfteller, der fie erdacht hätte, ein hoͤchſt kuͤnſt— 
Terifches Zalent haben müßte. Dagegen hat die antiochenifche 
Rede des Paulus einen viel ruhigern Character; Paulus gebt 
auf die Schrift zuruͤck, um ſich als einen Schriftlundigen geltend 
zu machen, wogegen die genauen gefchichtlihen Notizen für den, 
welcher daS Ganze erdichtete, gar Feinen Werth Hatten. Jede 
Rede hat einen dem Ort und den Umftänden fo angemeffenen 
Character und ift fo fehr individualifirt, daß man dem Berfafler 
einen hohen Grad von hiftorifcher Kunft einräumen müßte, wenn 
er fie follte eingelegt haben. 

Wenn man auf die Eingänge und Ausgänge der Reden fieht, 
die bei einigen allein angegeben find, fo erkennt man, daß fie durch 
einzelne Nelationen überliefert find, gerade wie unfere Voraus: 
feßung war, aber gar nicht fo, daß fie gleich, nachdem fie gehal- 
ten, aufgefchrieben wären. Der Eingang prägt fih immer am 
leichteften dem Gedaͤchtniß ein, der weitere Berfolg fehwindet eher 
aus demfelben, das Ende dagegen Enüpft fich wieder an die That 
ſachen an und wird fo mit Denfelben aufbewahrt. Alfo gerade, 
wenn fie einzeln referirt wurden, mußten die Neden fo ausfehn, 
wie wir fie in der Apoftelgefhichte finden, und fo beftätigen fie 
wieder unfere Vorausfeßung. 


376 Spuren von Jneinanderarbeitung der Quellen in d. Apoſtelgeſch. 


$. 90. 

Das Wefentliche von meiner Anfiht über die Apoftelgefchichte 
findet fih auch in De Wette’s Einleitung, nur etwas unbe- 
fimmt gehalten. Ueber einige Puncte muß ich mich noch näher 
erklären. 

De Wette kommt darauf hinaus, daß Lucas wohl möge 
Ihriftlihe Quellen gehabt haben, aber er habe jie zu einem Gan— 
zen in einander gearbeitet, und es feien deutliche Zurüdweifungen 
auf frühere Stellen zu finden). Sn dem aber, wodurch De 
Wette dies nachweifen will, kommt auch manches vor, was auf 
die Unterfcheidung der einzelnen Erzählungen hindeutet. — Cap. 
11,.16. fei eine beflimmte Zurücdbeziehung auf cap. 1, 5., wo 
das Wort Chrifti, auf das Petrus in feiner Erzählung von der 
Taufe des Cornelius fich beruft, erzählt wird. Nun fagt De 
Mette im Allgemeinen, man Eönne nichts Andres als Aufzeich- 
nungen von Ohrenzeugen für freue Quellen der mitgetheilten 
Reden halten, was auch meine Anſicht if. Wenn aber hier in 
der Nede des Petrus eine Zuruͤckweiſung auf Früheres wäre, fo 
müßte dies eingefchaltet fein und alfo eine Ausnahme machen. 
Nun finden fich diefe Worte Chrifti nicht in den Evangelien 2), 
fondern nur im Anfange der Apoftelgefchichte, aber fo, daß fie 
faft noch in der indireeten Nede vorgetragen werden da, wo der 
Eingang der Acta ſich in die Erzählung der Himmelfahrt verliert, 
fo daß bei diefen Worten auf einmal die erfte Perſon in der Rede 
Ehrifti eintritt. Wenn ich alfo ein folches Hineinarbeiten anneh= 
men foll, fo möchte ich es lieber hier annehmen und fagen: weil 
Petrus in feiner Nede fich auf diefen Ausfpruch Chrifti berief, fo 
war es fehr natürlih, daß der Verfaffer diefe von Petrus ange— 
führten Worte in Cap. 1. mit eingefchaltet hat. Allerdings be= 
weit dies, daß er von vorn herein eine Ueberficht über feine 
1) Vergl. De Wette Einl. $. 115. in der 1ften Ausg. von 1826. 


2) Vergl. ähnliche Worte Zohannes des Täufers Matth. 3, 11. Marc 1, 
8. Luc. 3,16. 30h. 1, 38. 


Spuren von Sneinanderarbeitung der Quellen in d. Apoſtelgeſch. 377 


Materialien hatte, und in fofern ift diefe Stelle von Wichtigkeit. — 
Ebenfo findet De Wette in c. 11,19. eine Anfnüpfung an c. 8,1. 
Aber in diefer letzten Stelle it die Sache fo dargeftellt, wie fie 
aus dem hierofolymitanifchen Gefchichtspunct erfchien, während 
11, 19. von. Antiohien aus gemadt iftz da iſt alfo allerdings 
eine Anfnüpfung an daffelbe Factum, aber fo, daß man fieht, es 
ift eine andere Auslegung derfelben Erzählung. Denn auch von 
Antiochien aus wird gefagt, daß fich die zerfireuten Chriften nur 
an die Suden gewandt hätten; aber es wird hinzugefügt, daß 
einige Männer unter ihnen gewefen, die auch zu den Griechen 
redeten. Bon dem Erftern ift nun Nichts weiter gefagt, fondern 
der ganze Accent ift auf das Zweite gelegt; dies ſcheint alfo dafür 
zu fprechen, daß dies nur ein Auszug aus einem Ganzen ift, fo 
daß alfo der Verfafler feine Quellen nur auszugsweife gebraucht 
und ausgelafjen hätte, was ihm zu weitläuftig war. Daß aber De 
Wette in 11, 19. zugleich eine Vorbereitung auf cap.13., auf die 
Ausfendung des Paulus und Barnabas findet, fcheint mir doc 
feinen rechten Grund zu haben, denn es wird dort nur das Be- 
ftehen der Gemeinde vorausgefeßt, fo daß man eher einen Mangel 
an Sneinanderarbeitung daraus erfennen fünnte. — In der Rede 
des Paulus vor dem Volfe cap. 22. wird v. 20. fein Wohlge- 
fallen am ode des Stephanus erwähnt, und daß er die Kleider 
der Mörder aufbewahrt habe, was auch c. 7, 58. und 8, 1. er⸗ 
zahlt wird. Aber dies ſcheint mir wieder fich fo zu verhalten, 
daß der Verfaffer, als er die Erzählung vom Tode des Stepha- 
nus fchrieb, fhon jene Rede des Paulus hatte, und aus der leb- 
tern jene Stelle gleich in den hiftorifchen Zufammenhang der er- 
fiern brachte, wenn fie auch in der urfprünglichen Relation vom 
Tode des Stephanus fich nicht fand. 

De Wette jagt ferner, dies Sneinanderarbeiten gebe fich be— 
fonders an folchen Stellen, welche Ueberfichten und NRuhepuncte 
bilden, zu erfennen. Dies find aber immer gerade die Enden der 
einzelnen Erzählungen, wo ſich an das Einzelne eine allgemeine 
Ueberſicht anfnüpft, die dann vieles Folgende ſchon in fich enthält. 


378 Altteſtamentliche Citate in der Apoftelgefchichte. 


Daß nun dabei, wie 2, 42. und 4, 32., die ganze Gemeindeein: 
richtung fo dürftig behandelt ift im Vergleich mit den Erzahlun- 
gen von einzelnen Tagen, ließe fich bei einer zufammenhängenden 
Gefhichtfchreibung nicht rechtfertigen, wogegen es als ganz na= 
türlich erfcheint, wenn es eben nur Erzählungen von einzelnen 
Sagen waren, und das Andre nur ald Zufaß hinzugefügt wurde. 
— Ich will nun nicht alle einzelnen Puncte, die De Wette alö 
folche Zeichen anfieht, durchgehn. Manche find mehr Eingänge 
zu den folgenden Erzählungen, als Schlüffe zu den vorigen. Co 
c. 9, 31., wo man fieht, daß es nicht etwas vom Berfafjer Her: 
rührendes ift, weil er nicht die Gemeinden von Galiläa eingeführt 
hätte, und daß er auch nicht die Materialien fo zufammengefest 
hat, daß alle Spuren einer folchen Zufammenfeßung verſchwun— 
den wären; denn dann hätte er ja nur Galilaͤa flreichen Fünnen, 
weil er noch Nichts davon erwähnt hatte. 


Befonders noch hat man in Bezug darauf, daß alle Reden 
vom Verfaſſer herrühren follen, geltend gemacht, daß alle Citatio— 
nen aus dem A. ©. in der Apoſtelgeſchichte, die faft alle in den 
Reden fich finden, aus der Leberfesung der LXX. genommen find, 
felbft da, wo diefe fehr vom hebräifchen Texte abweicht. Dies 
ſcheint freilich ganz und gar auf einen helleniftifchen Auctor zu 
deuten. Nach unfrer Anficht des Buches werden wir fagen 
müffen, daß es überwiegend wahrfcheinlich ift, daß die hiero— 
folymitanifhen Nachrichten urfprünglich aramäifceh waren, und 
e5 fragt fih, wie dann der Zert der LXX. bhineingefommen 
ift. Allein wenn die Sache fich fo verhalten follte, wie ich zuletzt 
angedeutet habe, daß der Verfaſſer alle feine Nachrichten an ei- 
nem Drte, wie Antiochien, Ephefus oder Corinth Fonnte geſam— 
melt haben, wohin ſchon vor dem jüdifchen Kriege viele paläfti= 
nifche Chriften ausgewandert fein mögen, welche die hieroſolymi— 
tanifchen Nachrichten mitbringen Eonnten: fo erklärt fih, wie 
diefe Nachrichten fchon in folhem Zuftande, wie fie von helleni= 
jtifchen Chriften aufgefaßt und bearbeitet werden mußten, in Die 
Hände des Berfaffers der Acta gefommen find. Stephanus, aus 


Altteftamentliche Citate in der Apoftelgefchichte, 379 


defien Rede De Wette Stellen anführt, war felbft ein Hellenift; 
wie er gefprochen haben mag, wiſſen wir freilich nicht, doch war 
ihm der Gebrauch der LXX. gewiß der geläufigfte, und des— 
halb wird er die Stellen, felbft wenn er aramäifch fprach, fo ci= 
tirt haben, wie fie ihm geläufig waren. Unter den andern Stel- 
len, die abweichend vom hebräifchen Texte angeführt worden, ift 
eine in der antiochenifchen Rede des Paulus Act. 13, 41., wo eine 
prophetifche Stelle nur als Warnung gebraucht wird; da würde 
aber der afcetifche Gehalt der Stelle derfelbe fein, wenn fie aus 
dem Hebräifchen wäre angeführt worden. Noch eine andere ift die, 
welche dem Sacobus in den Mund gelegt wird im Streite der 
Juden- und Heidenchriften Act. 15, 16. 17. Allein auch diefe 
Citation ift nicht der Art, daß fie nach dem Hebräifchen gar nicht 
gepaßt hätte, denn za 2997 find doch auch dort. Doch da nad 
B. 2. auch Antiochener dabei gewefen find, fo ift auch gar nicht 
unmöglich, daß die Sache griechifch ift verhandelt worden, denn 
daß man in Serufalem des Griehifchen nicht ganz unfundig war, 
it gewiß. Jedenfalls ift nicht fehr zu verwundern, daß fich Die 
LXX. bier einfchleichen Fonnten, da die Erzählung gewiß von Anz 
tiochien ausgegangen war, wenn auch Sacobus nicht darnach citirt 
hat. — E35 berechtigt alfo diefer Umftand eher zu einer Vermu— 
thung über die Art, wie die Quellen felbft in die Hände des Ver— 
faffers gefommen find, als daß anzunehmen wäre, daß er alle 
Anführungen in denfelben nach den LXX. geändert hat. Es läßt 
fi) alfo daraus Nichts ſchließen, ald daß auch, in feinen Quellen 
der Gebrauch der LXX. vorherrfchend war. 


Biertes Capitel. 
Die katholiſchen Briefe, 


$. 9. 
. Die Frage nach Urfprung und Bedeutung der Benennung 
der Fatholifchen Briefe ift fhwierig, aber nicht unwichtig für 
die Geſchichte diefer Briefe, denn in dem Namen muß der Grund 


380 Ueber die Benennung der Tatholifhen Briefe. 


liegen, warum fie als gleichartig angefehn find. Wir finden fpa- 
terhin die Meinung ziemlich allgemein angenommen, daß zadFolı- 
za „an die ganze Kirche gerichtet” bedeutet im Gegenfaß gegen 
die an beflimmte Gemeinden oder einzelne Perfonen gerichteten. Aber - 
diefer Sinn will auf die meiften der fieben Briefe, die unter dies - 
Sem Namen jet zufammengefaßt werden, nicht pafien. Der des 
Sacobus ift an die zwölf jüdifchen Stämme, die in der Zerftreu- 
ung wohnen, adreffirt, er ift alfo gar nicht für die gefammte 
Chriftenheit, fondern nur für den jüdifchen Beftandtheil derfelben 
beftimmt. Sm erften Briefe des Petrus find beftimmte Gegenden 
Kleinafiend genannt, er ift alfo auch nicht an die ganze Ehriften- 
heit gerichtet. Der zweite Brief des Petrus hat freilich eine all- 
gemeine Zufchrift, aber Andeutungen innerhalb des Briefes ſelbſt 
flimmen dazu nicht. Der erfte Brief des Johannes hat gar Feine 
folhe Adreffe, und in fofern fehlt ihm der Character eines Briefes 
von vorn herein; der zweite des Sohannes hat eine zweideutige 
Adreffe, die buchitäblich genommen den Namen einer Frau enthält, 
den man freilich ſchon frühzeitig auf die Kirche gedeutet hat, was 
aber eine Spielerei ohne Sinn fein würde; der dritte ift ganz be— 
flimmt an eine Perfon, den Gajus, gerichtet. Nur der des Ju⸗ 
das hat wieder eine allgemeine Ueberſchrift an die Chriſten uͤber— 
haupt. Nun iſt aber gerade der zweite Brief des Petrus und der 
des Judas fruͤher ſehr beſtritten, ſo daß ſich nicht denken laͤßt, daß 
von ihnen die Bezeichnung aller andern hergenommen ſein ſollte. 
— Eine dieſer ſehr nahe ſtehende, aber faͤlſchlich mit ihr identifi— 
cirte Meinung iſt die des Decumenius, daß zadolızar Ernoro- 
Zei fo viel fei, wie Zyavnkıor, nemlich daß fie als Umlaufsfchrei= 
ben für einen gewiffen Kreis eingerichtet gewefen. Diefer Aus: 
druck fchließt eine beſtimmte Art von Publication in fih, z. B. 
der erſte Brief des Petrus Fonnte in allen Gemeinden der darin 
genannten Landfchaften publicirt werden, indem entweder Einer 
mit ihm herumreifte, oder indem eine Gemeinde ihn der andern 
ſchickte; fo kam er an feine Adreffe ohne Öffentliche Publication 
nach Art eines Buchs. Aber bei dem Sacobusbrief wäre diefe 


Ueber die Benennung der Fatholifchen Briefe. 3 


Art der Verbreitung unter die 12 Stämme in der duiaonog& gar 
nicht möglich gewefen; er mußte, wie ein Buch , öffentlich publis 
cirt werden und fo an feine Beftimmung fommen. Eben fo we: 
nig aber konnte der Brief des Judas anders ald öffentlich publi— 
cirt werden, und noch weniger der erfte des Sohannes, der. gar 
feine Adreffe hat; auf den zweiten und dritten des Sohannes paßt 
aber die Benennung Zynundıog gar nicht. — Es Fommt aber noch 
dazu, daß, wenn wir uns unter Fatholifchen Briefen folde Rund: 
Schreiben denken, wir unter den paulinifchen auch zwei oder drei 
haben, die eben fo ſehr diefen Namen verdienen, nemlich den Co: 
lofferbrief, bei dem der Auftrag gegeben tft, ihn nach Laodicea zu. 
ſchicken, den an die Salater, der für alle Gemeinden in diefer 
Provinz beftimmt war, und den zweiten an die Gorinther, ‚der für 
ganz Achaja gelten follte, was vielleicht auch vom erften anzu: 
nehmen ift. Aber niemals find diefe Briefe unter die zagolızaı 
gerechnet, und es ift alfo die Spentificirung diefes Namens mit 
eynvakıoı ganz unftatthaft. 

Um aber zu erfahren, was diefem Ausdrude denn eigentlich 
zum Grunde liegt, müffen wir fragen, unter welchen Umftänden 
er überhaupt vorfommt. Erſtlich dient er ald gemeinfame Ueber 
fchrift eines Theil der neuteftamentlichen Schriften. Wenn er 
nun nur bier vorfäme, fo wäre es ziemlich leicht, fi die Sache 
vorzuftellen, wie fie gewefen fein kann. Es ift nemlich befannt, 
daß die paulinifchen Briefe zuerft gefammelt worden find, und 
daß, wo die Gitationsformel 0 dnoorolog gebraucht wird, nur 
die paulinifchen Briefe gemeint find. Zugleich ift erwiefen, daß 
die Eatholifhen Briefe erft fpäter allgemein verbreitet und in den 
‚Canon aufgenommen wurden. Sie waren vorher wahrfcheinlich 
zerftreut vorhanden unter ihren befondern Ueberfchriften. Nun konnte 
man nicht von Petrus die zwei, von Sohannes die drei, von Ja— 
cobus und Sudas den einen jedesmal als eine eigne Abtheilung 
aufitellen, wie es mit den paulinifchen gefchehn war; man faßte 
fie. alfo gleich zufammen als wi Aoınaı Enıorolul nad0Aov, weß- 
wegen man fie mit abgekürztem Ausdrude Zuuozolai zadoiızur 


352 Ueber die Benennung der Eatholiichen Briefe. 
nannte. Diefe Anficht empfiehlt fih durch ihre Anfchaulichkeit 


fehr, fobald man fefthält, daß die paulinifche Sammlung ſchon 


beftand, ehe die andere befannt wurde; es kommt alfo bei diefer Be— 


nennung gar nicht auf die Befchaffenheit der Briefe an, und es 


erklärt fih, wie fo verfchiedenartige unter derfelben zufammenge- 
faßt wurden. De Wette verwirft- freilich diefe Meinung, weil 
fie nit vom Sprachgebrauch unterflüßt werde; aber zadodov ift 
ganz befannt, nur das Adjectiv zadodızog in diefem Sinne nicht, 
allein wir kennen den damaligen Sprahgebrauh überhaupt nicht 


P 7 u 


genug. Nur das ift gegen diefe Ableitung, daß darnach der Aus 


druck nur für die Sammlung paßt und für die einzelnen Briefe nur 
dann, wenn fehon diefe Sammlung feftftand, und man bezeichnen 
wollte, daß ein Brief ihr angehörte. Nun aber citirt Drigenes 
den Brief des Barnabas, der doch nicht im Canon fteht, als 
ZnıoroAn nadolınn. Allein diefe Stelle des Drigenes würde 
Nichts beweifen, denn der Brief des Barnabas hat früher im Ca— 
non geftanden, Aber es giebt eine andre Stelle bei Eufebius, 
welcher vom Dionyfius von Corinth fagt, er habe fih auch um 


andere Kirchen ein großes Verdienſt erworben durch die von ihm 


verfaßten Fatholifchen Briefe an die Gemeinden... Da ift alſo der 
Ausdrud ganz außerhalb des canonifchen Kreifes angewandt und 
fcheint an die ganze Chriftenheit gerichtete Schreiben zu bezeichnen. 


So wird auh vom Montaniften Themifon gefagt, er habe, in- 
dem er einen Fatholifchen Brief gefchrieben, Diejenigen verführen 
wollen, die beffern Glauben gehabt, als er. Er hatte alfo einen 


Brief an die orthodore Kirche gerichtet, der wahrfcheinlich eine Art 
Ayologie der montaniftifchen Lehre war. — Nun ift aber hier der 


Umftand fehr zu berüdjichtigen, daß ſchon Euſebius den eigentlis 


chen Urfprung und die Bedeutung des Namens nicht mehr gewußt 
zu haben feheint, denn wenn er von diefen Briefen redet, fo ge: 
ſchieht e3 faft gar nicht anders, al3 mit den Formeln ai ovoue- 
bouevaı nadolınai UNd ai Aeyousvar nadokızar, was mir ein 


ficheres Zeichen zu fein fcheint, daß er nicht mehr wußte, wie ſie 


zu dem Namen gekommen waren. Da ift alfo möglid, daß die— 





; Ueber die Benennung der Fatholiien Briefe. 383 


fer Ausdruck um einer oder der anderen Analogie willen fpäter 
auch auf andre Briefe übertragen wurde; denn hier flieht er in 
einem Sinne, der nur auf die Minderzahl unfrer Eatholifchen 
Briefe paffen würde. — Es  erfcheint mir alfo diefer Einwand 
nicht fo bedeutend, wie er Andern erfchienen ift, und es bleibt 
mir wahrfcheinlih, daß diefer Zitel mehr oder weniger Schriften 
in epiftolifcher Form im Gegenfaß gegen die unter dem Namen 
6 dnöoroAog verbreitete Sammlung zufammenfaffen follte }). 

Ich will nur noch eine Einwendung berühren, die man da= 
gegen machen fünnte, nemlich, warum denn der Hebräerbrief nicht 
mit unter die Fatholifchen gekommen ift, da er urfprünglich nicht 
in der Sammlung war, fondern nicht nur bei Marcion, fondern 
auch in andern Verzeichniffen fehlte, und da er feine innere Ueber- 
Schrift hat und, wie 1. Joh., ohne Briefform wie eine Abhand: 
lung beginnt. Aber die Sache verhält fih fo: Wo er canonifch 
geworden, da ift er als ein paulinifcher Brief canonifch geworden; 
indem man ihn aufnahm, ließ man die Einwendung, daß er nicht 
paulinifch fei, fallen. 

Die andern Arten, wie der Ausorud, Fatholifche Briefe, ge— 
braucht wird, erfcheinen mir immer als aus diefer urfprünglichen 
abgeleitet, nachdem die eigentliche Bedeutung ungewiß geworden, 
weil fich die Lradition vom Urfprung derfelben nicht erhalten hatte. 
Auch die Bedeutung von allgemein anerkannten apoflolifchen Brie- 
fen, welche Einige vorziehn,:ift ganz gegen die Sache, denn dieſe 
Briefe eben waren größtentheils fehr bezweifelt. 

Wie nun diefe Sammlung der Fatholifchen Briefe zu Stande 
gekommen ift, wo fie ihren Anfang genommen, von wo aus Diefe 
Briefe zuerft zur öffentlichen Kenntnig gelangt, und wie fie zuerft 
zufammengefaßt find, darüber fehlen uns alle Nachrichten, und 
wir koͤnnen daher gleich dazu übergehn, von den einzelnen Brie: 
fen für ſich zu handeln. 

In der Befshaffenheit der Eatholifchen Briefe finden wir gar 


1) Die hierbei berührten Gitate vergl. bei De Wette $, 165. 


354 Ungleihartigkeit der Eatholifchen Briefe. 


feinen Geſichtspunct, nach welchem fie zufammengefaßt find, außer 
daß man in die fehon feftftehende pauliniihe Sammlung Feine 
anderweitigen. Elemente hineinbringen Eonnte. Es ift faft feine 
Verwandtſchaft unter ihnen, weder ihrem localen Urſprunge nach, 
der gar nicht bekannt iſt, aber nach allen Ueberlieferungen kein 
gemeinſchaftlicher war, noch ihrer Tendenz nach, die eine ſolche 
gemeinſchaftliche Benennung haͤtte hervorrufen koͤnnen. Auch die 
Perſoͤnlichkeit ihrer Verfaſſer iſt es nicht, ſondern dieſe haͤtte weit 
eher einen Namen, wie anoorolızai, als zuFoAınai hervorbrin— 
gen können. — Wenn übrigens meine Anficht vorausfegt, daß fie 
fpäter befannt geworden find, als die paulinifchen Briefe, fo folgt 
daraus Nichts für die Zeit, in welcher fie abgefaßt find. Luͤcke 


fagt zwar, daß der allgemeine chronologifche Character der Fatho= 


lifchen Briefe ein nachpaulinifcher fei, aber nur für die Sammlung 
ift dies richtig, nicht für die einzelnen Briefe, 

Die Drdnung, nach welcher diefe Briefe aufgeführt werden, 
iſt nicht uͤberall dieſelbe, weder in den Handſchriften, noch in den 
canoniſchen Verzeichniſſen. Es iſt alſo auch kein Grund, ſich an 
die gewoͤhnliche Reihenfolge zu binden. Da nun die johanneiſchen 
Briefe ſich am naͤchſten an etwas Fruͤheres, das Evangelium des 
Johannes, anknuͤpfen, fo ſcheint es mir natürlich, mit ihnen an— 
zufangen. 


$. 9. 


Der erfie Brief des Sohannes ift von Anfang an in der 
Kirche anerkannt worden, die andern beiden dagegen find immer 
theilweife bezweifelt und auch nicht gleichzeitig mit 1. Soh., 1. Petr. 


und Sacob. in die Sammlung aufgenommen. Der Grund diefer | 


Differenz liegt im Inhalte nicht, auch fpricht Feine fletige Ueber: 
lieferung für den erften, und find feine beftimmte Ausfagen und 


Zeugniffe gegen die andern. Da man in jenen Zeiten eine tiefer 


| 


eingehende Critik nicht zu erwarten hat, fo muß man einen Grund 


auffuchen, der offen zu Tage liegt. Nun hat der erfte Brief gar 
feine Bezeichnung, der Verfaffer nennt ſich nicht, ſetzt fich alfo 


— 
— 


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Die drei johanneifchen Briefe, 385 


als befannt voraus. Die beiden andern haben die gewöhnliche 
Briefform, aber der Auctor bezeichnet fih nur als 6 ngsoßvre- 
009. Die eritifhe Empfindung, die jenem Unterfchiede zum Grunde 
lag, fcheint alfo die gemwefen zu fein, daß der Apoftel Sohannes 
fich eher ganz verfchwiegen haben würde, wie im Evangelium, als 
daß er fich mit ſolchem nichtapoftolifchen Namen angekündigt ha= 
ben folte. Dazu kommt, daß Papias einen andern Sohannes 
als feinen älteren Zeitgenoffen nennt, und da wird ed leicht, 
diefen mit 6 nosoßvregog zu identificiren. Dies ift wohl der 
nächte Grund, warum die beiden letzten Briefe nicht fo ald ouo- 
Moyougevar erfcheinen, wie der erfte. Aber Feineswegs will ich 
damit fagen, daß es auf diefem Unterfchiede der Bezeichnung be⸗ 
ruhe, daß man den erſten fuͤr johanneiſch gehalten, ſondern nur, 
daß deshalb die beiden andern weniger fuͤr aͤcht gegolten. 


$. 93. 


Woher nun die allgemeine Tradition entſtanden, daß der erſte 
Brief ein Werk des Apoſtels ſei, wiſſen wir nicht; es muͤſſen 
alſo wohl die erſten Abſchriften ſchon den Namen des Apoſtels ge— 
tragen haben. Haͤtten wir aber auch gar keine Nachrichten von 
dem Verfaſſer des Briefes, ſondern nur das Evangelium als das 
des Johannes, ſo wuͤrde es ſchon ohne alle Zeugniſſe einen hohen 
Grad von critiſcher Wahrſcheinlichkeit haben, daß dieſer Brief von 
demfelben Berfaffer fei, wie das Evangelium. Die ganze Sprache 
hat die entfchiedenfte Achnlichkeit, ſowohl formell al3 materiell, in 
Ausdruck, Conftruction, Sakbildung und Zufammenfügung. De 

Wette hat Alles zufammengeftellt,, fo daß dies wohl gar feinen 
Zweifel leidet. 

| Der Brief ıft dennoch in feiner iohantsifhen Aechtheit ange= 
fochten, von Lange in Roftod und hernach von Bretſchnei— 
der, der ihn in feine Gritif des Evangeliumd mit hineinzog. Als 
lein die Gründe, die gegen den Brief angeführt werden, find nicht 
‚der Rede werth, und es ift in demfelben Feine Spur von irgend 
etwas, das fpater fein müßte, als Johannes gefchrieben haben kann. 
Einl. ins N. T. 25 





386 Zweifel gegen die Wechtheit von 1. Joh. 


Die Warnungen vor dem Doketis mus, die offenbar vorkom— 
men (Gap. 4.), beweifen gar Nichts, denn diefer war im Suden- 
thum ſchon vorbereitet in der Schule, welche die meffianifche Lehre 
am meiften ausgebildet hatte. Es waren nemlich in den rabbini- 
fchen Schulen über die Theophanien im alten Teſtament Bedenk— 
lichkeiten entftanden, und um jeden Schein zu befeitigen, daß Gott 
etwas Körperliche haben Fünne, hatte man angenommen, daß 
dies immer der Meffias, nicht Gott felbft gewefen fei. Darin 
liegt die Vorſtellung von der Präeriftenz eines höhern zu einer be- 
ſtimmten Wirkſamkeit auf das menſchliche Geſchlecht auserſehenen 
geiſtigen Weſens. Aber dieſe Erſcheinungen hatten keine zuſam— 
menhaͤngende Dauer und ſchwebten in der Mitte zwiſchen Wirf- 
lichkeit und Schein; und daran ließ fich fehr leicht anknüpfen, daß 
das Leibliche, Sinnliche in der Erſcheinung Chrifti ebenfo zwifchen 
Wirklichkeit und Schein gefchwebt habe. Bekannt ift, daß fchon 
dem Cerinthus, einem jüngern Beitgenoffen des Johannes, Do: 
ketismus zugefchrieben wird. So kann alfo die Beziehung auf 
das Doketifche keineswegs ein Zeichen eines fpatern Urfprungs des 
Briefs fein. 

Fragen wir aber, wie diefe Schrift zu dem Titel eines Briefs 
fommt, da ihr die äußere Form eines folchen fehlt, fo bemerken 
wir eine Analogie mit dem Hebräerbrief, der auch ohne innere 
Ueberfchrift überall alS ZrrıoroRn, angefehn wurde. Bei 1. Sob. 
tritt wenigftens der innere Character eines Briefs, nemlich die | 
Anrede, beftimmt hervor, wodurch diefer hinreichend begründet ift. 
Wo aber eine folche Anrede ift, da denft man fich einen gewilfen 
Kreis, welchem fie gilt. Diefer läßt fich aber bei unferm Briefe 
gar nicht näher beflimmen, und es fehlen alle Indicien darüber. ' 
Das Einzige, was dabei auffällt, ift, daß die vorherrfchende Form 
der Anrede zeuvia ift, und es fragt fih, in welchem Sinne dies 
Wort zu nehmen ift. Paulus nennt diejenigen fo, welche er felbft 
zum Chriftenthum geführt hat, natürlich nicht in der großen Maſſe, 
fondern bei denen, die in einem vertrauferen Berhältniffe zu ihm 
fianden. Nun willen wir aber gar Nichts von der Lebensgeſchichte | 





* N 












Ueber Lefer und Abfaffungszeit von 1, Soh. 387 


und Wirkffamfeit des Johannes, und die uͤbereinſtimmenden Zra- 
ditionen haͤngen nur an zwei Puncten, nemlich daß er Anfangs 
lange Zeit uͤberwiegend in Jeruſalem, ſpaͤter in Epheſus gelebt 
habe. Das Letztere muß wohl in einer hiſtoriſchen Notiz ſeinen 
Urſprung gehabt haben, das Erſtere aber kann ſehr leicht darauf 
beruhn, daß Chriſtus beim Sterben ſeine Mutter dem Johannes 
empfahl, ungeachtet ſeine Bruͤder damals ſchon glaͤubig waren, da 
ſie in den Actis unmittelbar nach der Himmelfahrt in inniger Ge— 
meinſchaft mit den Apoſteln erſcheinen. Aus dieſer Thatſache iſt 
alſo wohl das als eine evangeliſtiſche Nachricht entſtanden, daß 
Johannes bis zum Tode der Maria in Jeruſalem geblieben ſei. 
Nun giebt es noch eine andere, aber ziemlich unſichere Notiz, die 
von ſeinem Exil in Patmos, die offenbar keinen andern Grund 
hat, als daß man davon ausging, daß die Apocalypſe ein Werk 
des Apoſtels ſei; aber da gar keine von der Angabe der Apoca— 
lypſe unabhaͤngige Notiz uͤber dies Exil vorhanden iſt, ſo muͤſſen 
wir ganz davon abſehn. — Wenn nun unſer Brief aus der pa— 
laͤſtiniſchen Zeit des Apoſtels waͤre, ſo wuͤrde natuͤrlich ſein, daß, 
wenn er ſich nicht an die ganze Chriſtenheit richtet, er uͤberwie— 
gend ſolche Chriſten, die aus dem Judenthum gekommen, im Auge 
habe; dagegen, wenn aus der epheſiſchen Zeit und beſonders fuͤr 
kleinaſiatiſche Leſer, daß er ſich an Heidenchriſten wende. Finden 
ſich alſo beſtimmte Charactere fuͤr das Eine oder das Andere, ſo 
wuͤrde dies daruͤber entſcheiden, ob er in Palaͤſtina, alſo fruͤher, 
oder in Epheſus, alſo ſpaͤter, geſchrieben iſt. Hieran ſchließt ſich, 
daß, wenn der Brief den entſchiedenen Character eines hoͤhern Le— 
bensalters haͤtte, dies fuͤr Epheſus ſprechen wuͤrde, das Umgekehrte 
fuͤr Palaͤſtina. Allein es iſt nun weder das Eine, noch das Andre 
mit Beſtimmtheit zu ſagen. De Wette erklärt ſich zwar ent— 
ſchieden dafuͤr, daß der Brief vorzuͤglich an Heidenchriſten gerichtet 
ſei, und allerdings folgt aus dem, was ich über den Doketismus 
/ gejagt habe, nicht, daß dabei nur an Sudenchriften zu denken fei, 
denn diefe Vorftellung war für die Heiden eben fo gut durch ihre 
Mythologie vorbereitet; aber der Hauptgrund der De Wette'ſchen 

25 * 


388 Ueber Leſer und Abfafjungszeit von 1. Joh. 


Anficht, nemlich Daß c. 5, 21. mit den Worten Teavia, Yvla- 
Eure ERVTOVS ano Tav Eeidwimv Heidendriften vor einem 
Nüdfalle gewarnt würden, da die Juden ſchon von felbft allem 
Gößendienft feind gewefen, fcheint mir doch nicht fo beweifend, und 
ich glaube nicht, daß diefer Ausdruck gerade die Farbe einer War: 
nung vor Rückfall hat. Allerdings hatte Sohannes Feine Urfache, 
geborene Suden vor Abgötterei zu warnen; aber es ift auch von 
einem Ruͤckfall in früheren Glauben Feine Rede, und es bleibt 
mir daher das Wahrfcheinlichfte und Natürlichfte, das Ganze nicht 
buchſtaͤblich, fondern bildlich zu nehmen, und dann fallt alle In— 
dication darin weg. — Was das Andre betrifft, fo kann man fa- 
gen, daß der Brief eher den Character eines höhern Lebensalters 
an fich trägt, als den eines Fräftigen Alters. Denn er hat eine 
gewiffe Breite, eine Neigung, auf daffelbe zurüdzufommen, feinen 
ftrengen Zufammenhang. Das ift freilih eine Art und Weife, vie 

man im höhern Alter häufig findet, auch bei Solchen, die früher 

einen concifern Stil hatten. Aber darüber läßt fich doch nur dann 

Etwa fagen, wenn man Schriften aus der frühern Zeit deffelben 

Berfaffers au hat. Nun haben wir hier nur das Evangelium, 

womit wir ben Brief vergleichen Tonnen; dabei tritt aber das 

Merkwuͤrdige ein, daß es eine häufig aufgeftelte Meinung ift, der 

Iehtere gehöre unmittelbar mit dem erfieren zufammen und fei 

nur willfürlich von ihm getrennt, da er den Schluß deffelben-bils 

den follte, während Andere ihn als Publicationsfchreiben des Evan 
geliums angefehn haben. Darnach würde alfo Beides gleichzeitig 
gefchrieben fein, und auf foldhe Differenzen Nicht5 gegeben werden 
koͤnnen. Ueberhaupt haben wir fo wenig pofitive Nachrichten 
über den Apoftel, daß wir von diefer comparativen Geite wenig” 
fagen-Fünnen. Aus dem Briefe felbft geht allerdings hervor, daß der ’ 
Berfaffer fih in Hinficht des Alters über feine Leſer ftellt, indem 
er die Süngern und Xelteren ohne weitere Differenz anredet; und ' 
überhaupt flößt er ein gewiſſes Gefühl ein, das auf ihn als einen 
ältern Mann fehliegen läßt. — Es ift übrigens mit diefer Frage 
eine fonderbare Sache, denn außerhalb Palaͤſtina's waren überall 7 
















Ueber die brieflihe Form von 1. Joh. 389 


Suden= und Heidenchriften gemifcht; da Fünnen alfo entweder nur 
fireitige Berhältniffe zwifchen beiden, oder ein beflimmtes Ueber- 
gewicht des einen Theils dem apoftolifchen Schreiben einen be— 
ftimmten Character geben. Aber je mehr wir uns den Brief aus 
dem höhern Lebensalter des Sohannes denken, deflo mehr muß 
fchon eine zweite Generation dagewefen fein, wo diefer Unterfchied 
mehr verfchwand. 

Die Frage, ob der Auffag ein Brief fein fol, oder nicht, 
muß noch näher beflimmt werden. Michaelis fagt, er fei nicht 
mehr ein Brief, als Wolf's Anfangsgründe der Mathematif, wo 
der Lefer auch angeredet werde. Aber da ift der Imperativ rein 
zufällig, und es koͤnnte 3. B. ftatt „ziehe die Linie” auch heißen: 
„man ziehe die Linie”. Aber bei 1. Joh. ift es doch fo, daß ein 
beftimmtes Berhältniß vorausgefeßt wird, und wir ein beflimmtes 
Publicum denken müffen, welches der Verfaffer vor Augen hatte, 
und mit dem er in perfünlicher Beziehung ftand. Dabei entfteht 
aber die Frage, ob es eine einzelne Gemeinde war, oder ein Kreis 
von Gemeinden. Geht man hierin noch weiter und fpricht von 
einem Schreiben an die ganze Chriftenheit, fo gebt die perfünliche 
Deziehung wieder verloren, und der Brief nähert fih dem gewoͤhn— 
lihen Buche. In der modernen Kifteratur erfcheint oft ein Buch 
in Briefform, aber. ed geht wie jedes andere Buch in die Welt. 
Ein folcher apoftolifcher Brief an die ganze Chriftenheit Fonnte 
auch nicht anders publicirt werden, als durch üfteres Abfchreiben 
im Buchhandel. Denken wir uns aber eine Publication für einen 
beftimmten Kreis von Gemeinden, fo muß fie auf andere Weife 
gefchehn, wenn der Zwed erreicht werden foll. Entweder. der 
Kreis ift im Briefe felbft angegeben, wie im Galaterbriefe, 
in 2. Cor. und 1. Petr., oder e3 ift Nichts darüber angegeben, 
und der Brief macht feinen Turnus durch einen Cinzelnen, der 
ihn von einer Gemeinde zur andern weiter fördert, wie etwa der 
an die Ephefer. So müßten wir uns die-Sache Auch beim er— 
ften Briefe des Sohannes denken; aber dabei müßte der Ueber- 
bringer namhaft gemacht und empfohlen fein. Daher ift es alfo 


390 Ueber Verbindung des 1. Briefs Soh. mit dem Evangelium. 


wahrfcheinlicher, daß dieſer Brief an irgend eine einzelne Gemeinde 
gefchrieben ift. 

Gegen die Verbindung des Briefes mit dem Evangeliunt, 
fo daß er den paränetifchen oder polemifchen Theil deffelben bil: 
defe, fpricht fchon der zweifahe Schluß des Evangeliumd, denn 


‚ der Brief müßte dann doch in einer Reihe mit dem legtern ges 


fhrieben fein. Er müßte auch fpäter verfaßt fein, als das nach— 
fraglich hinzugefügte Ilfte Gapitel, worin das letzte Zeugniß von 
fremder Hand if. Wie diefes nun follte hineingefommen fein, 


wenn der Brief erft fpäter von dem Evangelium getrennt wäre, - 


laßt fi nicht begreifen. Sehen wir aber von diefem Zeugniffe 
ganz ab und nehmen c. 2i, 25. als Worte des Johannes, fo 
fchliegt fich der Brief auch nicht gehörig hier an. Nehmen wir 


aber an, jenes letzte Gapitel wäre erft hinzugefügt worden, nach 


dem der Brief, der früher gefchrieben wäre, fihon vom Evangelium 
losgeriffen gewefen, fo würde er an das Ende von Cap. 0. ſich 
anfchliegen müffen, worin allerdings auch eine Art von ermah— 
nender Anrede if. Dann müßte aber der Anfang des Briefs 
mit diefem Scluffe des Evangelium wegen ihrer AehnlichFeit 
ganz anders zufammengefloffen fein. — Andere haben umgekehrt 
den Brief al3 Einleitung des Evangeliums angefehn oder als Be— 
gleitungsfchreiben, womit diefes publicirt fei. Um die erfiere 
Anſicht zu prüfen, müffen wir uns den Schluß des Briefes mit 
dem Anfange des Evangeliums zufammendenfen; das giebt aber 
Fein andres Nefultat, als die entgegengefegte Verbindung. Es ift 
hier wieder eine gewiffe Verwandtfchaft, indem das Ende de3 
Briefs von dem Berhältniffe Sefu zu Gott und der göftlichen 
Mittheilung durch ihn handelt. Da hätte alfo ebenfo ein folches 
Zufammenfließen ftattfinden müffen. Was aber die Vorftellung ei— 


nes Publicationsfchreibens betrifft, fo Eommt außer etwa am Anfange 


und am Schluffe im ganzen weitern Verlaufe des Brief Feine 
Beziehung auf das Evangelium vor. Die VBerwandtfchaft aber 
müßte fich doch nicht bloß im Eingange und im Schluffe, fondern 
im Kern der Schrift ausfprechen. Man hat befonders im Aus: 


Inhalt und Gedankengang des 1, Briefs Joh. 391 


drude Aoyog eine Beziehung auf dad Evangelium finden wollen, 
aber im Eingange des Briefs ſteht diefer gar nicht in demfelben 
Sinne, wie im Evangelium, fondern bei Aoyog a7 Gays ift don 
der Hauptbegriff, und es heißt: die Lehre von dem Leben. Alſo 
ift die Theorie vom Aoyog hier gar nicht, und es wird v.2. von 
der Cor} alles das prädicirt, was im Evangelium vom Aoyog, aber 
doch nicht fo, daß der Ausdrud Cor an die Stelle von Aoyog ges 
freten wäre, denn e3 wird dies Leben als mittheilbar dargeftellt, 
aber nicht fo, als ob es unter der Form einer Perfon beim Vater 
gewefen. So verfhwindet alfo die genauere Beziehung auf das 
Evangelium, und was übrig bleibt, ift nur, daß der Brief eine 
weitere Auseinanderfegung derfelben Anfichten bringt, die Johan— 
nes in feinem Evangelium niebergelegt hat. Aber daraus läßt ſich 
nicht einmal ein genaueres Zeitverhältniß beider Schriften beſtim— 
men. Da die, welche Sohannes anredet, in einem perfönlichen 
Berhältniffe zu ihm zu ftehn feheinen, fo braucht man nur anzu= 
nehmen, daß fie feinen mündlichen Unterricht genoffen haben, und 
nur auf diefen, nicht auf das Evangelium, braucht der Brief 
fi zu beziehn. Wollte man alfo die Beziehung auf das Evans 
gelium fefthalten, fo müßte man eher Fein perfönliches Verhaͤltniß 
zu den Lefern vorausfeßen, fendern daß der Brief ganz im All: 
- gemeinen gefchrieben fei. 


$. 94. 

Diefe Fragen find aber nicht hinlänglich zu löfen, wenn wir 
nicht den Brief felbft genauer betrachten und zufehn, was eigent- 
lich die Hauptgedanfen darin find. Wenn Sohannes' in der Ein- 
leitung fagt: „wir verfündigen euch, was wir über die fon ans 
gefchaut und erfahren haben, um euch in diefelbe Gemeinfchaft 
mit dem Vater und feinem Sohne zu bringen, wie wir fie. haben, 
und dies fchreiben wir euch, damit eure Freude vollendet. werde‘, 
fo fehn wir offenbar, daß der ganze Brief eine paränetifche Rich— 
tung bat, aber ganz allgemein für den eigenthümlichen ‚Zuftand 
des Ehriften, nemlich die durch Ehriftus vermittelte. Gemeinschaft 


392 1. Joh. ald Abſchiedsbrief. 


mit Gott. Nun lauten diefe Worte fo, als ob der Brief an 
Solche gerichtet wäre, die erft zum Chriftenthum geführt werden 
follten; aber dagegen ftreitet der ganze fernere Inhalt des Briefs. 
Wir müffen daher das Präfens anayyeidorer im weitern Sinne 
als die fortlaufende Wirkfamfeit des Apoſtels bezeichnend . anfehn, 
die fchon begonnen ift, und der mit diefem Briefe gleichfam die 
Krone aufgefegt wird. So fcheint denn diefes Schreiben auf das 
Ende der Thätigfeit hinzumeifen, die der Verfaffer an feinen Le— 
fern geübt hat, und dies bringt uns auf den Begriff eines A b- 
ſchiedsbriefes. Nehmen wir nun folche Stellen dazu, wie c.2, 
1. 12. 15. und fogleich v. 14., fo fragen wir uns, was für eine 
fonderbare Art dies doch ift, daſſelbe im Präfens und Präte- 
ritum zu wiederholen, und da zu fagen: „ich fchreibe euch“, aber 
nicht, wa8? fondern warum? denn re kann man nicht anders 
als „weil” faffen, und was gefchrieben wird, ift erft das Folgende 
IM EYanare 70V x0009 etc. Man meint, daß Zyoaıwa auf 
einen frühern Brief hindeute; aber davon Fann ich mich gar 
nicht überzeugen, denn die genaue Wiederholung läßt dies nicht: 
zu, und der Aorift von yocpw fteht fehr häufig von demfel- 
ben Briefe, den man eben fchreibt, indem die Differenz veran— 
Schlagt wird, nach welcher der Empfänger ihn lieſ'ſt. — » Dies 
alles fcheint mir auch den Character eines Abfchieds zu haben, 
wobei es fo fehr gewöhnlich ift, daß man denfelben Ausdrud 
wiederholt. Es fragt fich aber, von wen und in welcher Bezie- 
hung man diefen Abfchied annehmen fol. Denkt man an die 
paläftinifche Zeit, fo war der Apoftel in Begriff, Palaͤſtina zu ver: 
laſſen; denkt man aber an die ephefifche Zeit, fo hat er in Erwar- 
fung feines baldigen Todes gefchrieben. Aber zur Entfcheidung 
zwifchen diefen beiden Zeiten fehlen alle Sndicien, Man hat zwar 
ein folhes c. 2, 18. finden wollen, indem man diefen Vers auf 
die Zerftörung Serufalems bezogen hat, weil Chriftus in feinen 
legten Neden immer feine Wiederfunft und die Zerſtoͤrung Jeruſa⸗ 
lems verbunden habe. Aber in wiefern wir dieſe Reden Chriſti 
in den drei erſten Evangelien auch dem Johannes aneignen koͤn— 


1. Joh. als Abſchiedsbrief. 393 


nen, iſt nicht ſo leicht zu entſcheiden. Wir ſehn aus ſeinem Evan— 
gelium, daß er von allem Judaiſiren, auch im entfernteſten Sinne, 
frei war, und weil zu der Zeit, als er an das Schreiben ſeines 
Evangeliums denken konnte, das Chriſtenthum weit mehr unter 
den Heiden, als unter den Juden, verbreitet war, fo vernachläffigt 
er alles, was eine beſtimmte Beziehung auf das Sudenthum hat. 
Alfo darf man diefen Ausdrud Zoyaıy woa 2ori nicht mit jüdi- 
chen Begebenheiten in Berbindung bringen; man fieht aber auch 
ganz deuflih, daß hier bloß von den Zerwürfniffen die Rede ift, 
die durch die judaifirenden und gnoftifirenden Chriften hervorge- 
bracht wurden, wovon damals fihon die Keime vorhanden waren. 
Die Vorftelung , daß diefer Brief eine Art von Abſchieds— 
fchreiben an einen Kreis von Chrijten fei, mit welchen Sohannes 
in einem nähern Lehrerverhältnig ſtand, beftätigt ſich wirklich, 
wenn man auf die Hauptgedanfen fiehbt und auf die Art, wie fie - 
dargeftellt find. Es find die Grundzüge eines practifchen Chri- 
ſtenthums, aber diefe find nicht jo dargeftellt, als ob fie dem Lefer 
etwas Neues wären. Der Satz c. 1, 8—2, 2. ift eigentlich der 
allgemeine Fundamentalfaß: das Bewußtfein der Sünde und alfo 
dad Bedürfniß der Erlöfung als Grundbedingung und die Hin- 
weifung auf Shriftum als das allgemeine Princip der Ausfühz 
nung. Damit ift aber immer fogleich das practifche Moment 
verbunden c. 2, 3 ff. Auf diefe Weife geht es durch den ganzen 
Brief hindurch, bald in Verweifung auf das, was die Chriften 
fchon empfangen haben, bald auf das, was ihnen obliegt, zu thun 
und zu bewähren. Die Art, wie fich der Verfaffer mit den ver: 
fchiedenen natürlichen Beftandtheilen der Gemeinde, der Altern und 
der jüngern Generation, familiarifirt, deutet doch ganz beftimmt 
auf ein näheres perfünliches VBerhältnig hin. Eine eigentliche 
Analyſe des Brief ift Ichwer zu geben, weil Feine flrenge Ord— 
nung darin herrfcht; aber dies ift Fein Beweis von Altersfchwäche 
des Verfaffers, fondern es ift nur die Weiſe eines ganz familiären 
Briefes. Allerdings aber ift überwiegend wahrfcheinlich, daß der 
Brief in die fpätere, Eleinafiatifche Zeit des Apoſtels gehört, vor: 


394 Wahrfcheinlich Eleinafintifche Abfaffung des 1. Briefs Joh. 


zuͤglich, weil die Verhältniffe der chriftlichen Kirche, auf welche _ 


angefpielt wird, der Zeit nach erft fpäter und der Localität nach 
eher unter hellenifchen Chriften in Kleinafien, als unter Juden— 
chriften in Paläftina, anzunehmen find. Allerdings giebt es auch 
manches, was auf das Gegentheil deuten koͤnnte; man hat gel: 
tend machen wollen, daS der Ausdrud 0 Xororos (2, 22. 5, 1.) 
mehr ein jüdifcher fei und fich auf mefjtanifche Vorftelungen be= 
ziehe; aber dies ift fehon dadurch, daß Sohannes felbft aus dem 
Sudenthum berfam, bedingt, und bedenken wir, daß ſchon in der 
erftien Gemeinde der Heidenchriften der Name Xororıavoi 
auffam, fo verliert diefer Einwurf feine Bedeutung ganz Nun 


habe ich fchon gefagt, daß die Stellen gegen den Dofetismus Fei- 


nesweg3 beftimmt auf Heidenchriften anfpielt, denn auch unter 
Judenchriſten waren dergleichen Sdeen ; aber wir haben doch Feine 
Notiz davon, daß ein folcher Dofetismus unter Sudenchriften in 
Palaͤſtina vorgekommen wäre. Zwar war Gerinth ein Judenchriſt, 
aber in Kleinafien; alfo weif’t auch dies auf diefe Localität hin. 

Ein andrer Ausdrud, © avriygrorog und fogar im Plural 
avziygroror, verbunden mit der Andeutung, diejenigen, welche fo 
bezeichnet werden, wären zwar aus der chriftlichen Gemeinde aus: 
gegangen, aber fie hätten derfelben eigentlich nicht angehört (2,19.), 
hat, wie er da ohne etwas Näheres hingeftellt ift, etwas fehr 
Raͤthſelhaftes. Aber halt man fich die einzelnen Elemente vor 
und vergleicht fie mit den nächften gefchichtlichen Erfcheinungen, 
fo muß es wahrfcheinlich werden, daß die erften Keime des Gno— 


ftifchen unter diefen Ausdrüden latitiren. Es ift ein alter Streit, y 


ob im N. T. Schon gnoftifche Erfcheinungen angedeutet find, und 
man hat es überwiegend verneint. Aber e3 Fommt darauf an, 
wie man es näher beftimmt, und man muß bei folchen hiftorifchen 
Fragen einen großen Unterfchied machen zwifchen der Erfihei- 
nung felbft und den Keimen derfelben, die immer ſchon fehr früh 
fich zeigen. Andeutungen von ganz ausgebildetem Gnofticismus 
finden wir freilich im N. T. nicht, aber feine Keime werden wirt: 
lich fchon erwähnt. Der Name Gnofticismus ift felbft fehr un: 


- 


- Anfpielungen in 1. Soh. auf Keime des Gnofticismus. 395 


beſtimmt. Man hat oft Anſichten damit bezeichnet, die in der 
That chriſtliche ſind, wenn auch abweichende, dann aber auch an— 
dere, die gar nicht chriſtlich ſind, ſondern nur Etwas aus dem 
Chriſtenthum aufgenommen haben. Wo das eigentlich Unterſchei— 
dende, die Aeonen- und Emanationslehre, iſt, da iſt gar nichts 
Chriſtliches, ſondern Chriſtus wird nur als Manifeſtation eines 
Aeon mit aufgenommen, und er wird nur als einzelnes Glied be— 
trachtet, waͤhrend das Chriſtenthum ihn ganz anders ſtellt. Wenn 
nun Johannes von Menſchen redet, die er als avziygıoros be— 
zeichnen Fann, und die von der chriftlichen Kirche ausgegangen 
find: fo müffen fie Mitglieder gewefen fein, aber fie muͤſſen nie— 
mals den eigentlich chriftlihen Geift in fich aufgenommen haben, 
da er fagt, daß fie im Grunde nie dazu gehört. (Parenthetifch 
will ich hier eine Anficht Luͤcke's erwähnen, daß Sohannes ganz 
beitimmt eine innere chriſtliche Gemeinſchaft und eine aͤußere un— 
terſcheide, wie ſichtbare und unſichtbare Kirche. Aber als Ar— 
gument zu dieſer Anſicht iſt dieſe Stelle doch zu vereinzelt. Es 
iſt zwar immer in den apoſtoliſchen Schriften eine große Abſtu— 
fung der Chriſten unter einander, aber nicht ein ſo beſtimmter 
Unterſchied.) Es laͤßt ſich aber ſehr gut denken, daß Einzelne, 
die in ſolchen gnoſtiſirenden Philoſophemen verſirten, (denn es war 
dies mehr philoſophiſch, als religioͤs, indem ſie die Entſtehung des 
endlichen Geiſtes aus dem abſoluten erklaͤren wollten), vom Chri— 
ftenthume angezogen wurden, weil fie durch den Polytheismus und 
das Sudenthum nicht befriedigt waren. Nachher aber zogen fie 
fich wieder davon zuruͤck. Daß nun foldhe Theorien, die dem fpä= 
tern Gnoſticismus zum Grunde lagen, im Zufammenhange mit 
orientalifchen Sdeen damals vorhanden gewefen, ift nicht zu bes 
zweifeln; und die Art, wie hier davon gefprochen wird, begünftigt 
die Meinung fehr, daß Johannes vergleichen im Sinne gehabt 
hat. Auch die Art, wie das wirflihe Menfchwerden Chrifti 
und zugleich fein Verhältniß zu Gott als viog Tod Ysov als das 
Unterfcheidungszeichen zwifchen den Chriften und diefen Antichriften 
bemerkbar gemacht wird, deutet eher auf eine Anfpielung an das 


396 Verhältniß von 1. Joh. zum Evang. Soh. 


Gnofifhe, als auf irgend etwas Anderes. Darnach ift denn 
ſchwerlich eine andre Localität, al3 eine Eleinafiatifche denkbar, und 
wenn wir beachten, daß Ephefus ein Hauptort für die Commu— 
nication des öftlichen Afiend mit diefen Ländertheilen war, fo ift 
es wohl fehr möglih, daß dergleichen von Oſten her hier einge: 
drungen war. 

Einen andern Punct giebt es noch, der allerdings mehr anti- 
judifch zu fein fcheint, indem Johannes fagt, daß die aueoriw 
die eigentliche avorie ift (3, 4.). Man fieht daraus, daß An- 
fichten von andern Arten der «rose, die nicht mit der auaorie 
zufammenhingen, dagewefen fein müffen. Da denkt man leicht 
an das aͤußere Nitual des jüdischen Geſetzes. Aber es gab Feine 
chriftliche Gemeinde in Kleinafien, zumal in Hauptftädten, die nicht 
auch jüdifche Elemente gehabt hätte; daß vergleichen vorkommt, 
darf uns alfo in Bezug auf die Pocalität nicht irre machen. 

Faſſen wir nun den Brief fo auf, fo find wir auch gar nicht 
mehr in Verlegenheit über fein Berhältniß zum Evangelium. Die 
Anklänge an dad Evangelium erklären fich daraus, daß die Dar- 
ftellungsweife dort die des Sohannes war, und daß er hier einen 
Auszug von feiner Lehre gab. Es ift etwas ganz Anderes, zu 
fagen, Sohannes habe in die Reden Ehrifti im Evangelium feine 
eignen Anfichten verwebt. Das würde ich nie behaupten, denn 
welche anderen Anfichten follte er gehabt haben, als die er durch 
die Mittheilung Chrifti erhalten? Aber wer follte fich wohl ein- 
bilden, daß die Reden Chrifti buchftäblich wiedergegeben find? 
Das ift Schon deshalb nicht möglich, weil Chriftus wird aramaifch 
gefprochen haben, und es doch Feine buchftäbliche Ueberſetzung 
if. Daher ift es ganz natürlich, daß die Reden Chrifti bei Jo— 
hannes eine individuelle Färbung haben; und diefe findet man 
im Briefe wieder, woraus die Identität des Verfaſſers hervortrift. 
Meiter aber folgt Nichts, es müßte fonft viel beininmniene — 
hung genommen ſein. 

Man koͤnnte noch einen Punct geltend machen wollen, um 
die Zeit des Briefes einigermaßen zu beftimmen, aber es ift auch 





Nichterwähnung von 1. Joh. bei Polycarp. Zeugnißdes Papias. 397 


damit eine mißlihe Sache. Es ift befannt, daß Polycarp ein 
Schüler des Sohannes war; von ihm haben wir noch einen Brief 
an die Gemeinde zu Philippi, worin viele Anfpielungen auf Stel- 


* Ten aus paulinifchen Briefen find, aber nur an einer einzigen 


Stelle ein fehr entfernter Anklang an unfern johanneifchen Brief 
fo, daß es eher eine Reminifcenz aus den Lehrvorträgen des Apo— 
ſtels zu fein fcheint. Daraus fönnte man fihließen, daß unfer 
Brief fpäter gefchrieben wäre, als Polycarp Schüler des Johan— 
nes gewefen, alfo nachdem er Zsioxonog der Gemeinde zu Smyrna 
geworden. Aber dies ift etwas viel zu Weites, ald daß ich irgend 
darauf bauen koͤnnte, und überdies ift es gar nicht ausgemacht, 
daß der Brief des Polycarp acht ift, denn eben daß er fo viele 
paulinifche Anfpielungen hat und weniger den johanneifchen Typus, 
fünnte einen Zweifel erregen, den man nur dadurd heben Fünnte, 
daß man fagt, Polycarp habe an eine paulinifche Gemeinde ge— 
jchrieben und deshalb fich in diefen Typus hineinverfeht. Oder 
man müßte eben jene Anfpielung auf 1. Soh. als beftimmt anfehn Y. 

Der Erfte, der den Brief befiimmt muß angeführt haben, ift 
Papias, von dem Eufebius fagt, daß er Zeugniffe (alfo nach Eu— 
febius ausdrüdlich angeführte Stellen) aus dem erften Briefe des 
Sohannes gebraucht habe. Da Eufebius gerade wenig diefer 
Art von Papias fagt, fo Scheint zu folgen, daß diefer Brief in 


jenen Gegenden zeitiger befannt geworden, als andere neutefta- 


mentlihe Schriften. 


$. 9. 


Die beiden lesten johanneiſchen Briefe unterfcheis 
den fich von dem erften Außerlich dadurch ganz beftimmt, daß fie 
die Außere Briefform an fich tragen, die Bezeichnung des Verfaſ— 
ſers und deſſen, an den der Brief gerichtet ift. Der Berfaffer 


1) Polycarp. ad Philipp. c. 7. Hüs yay ög &v u) önoAoyj Imvoov Xgı- 
oriov oapai Eimhudivas, ayriygıorög Zorw; cf. 1. Joh. 4, 3. vergl. 


De Wette $. 177. 


398 Der 2te und Ste Brief des Johannes. 


nennt ſich 6 nesoßvreoog; da nun Papias unter denen, die er 
über die Lehre der Apoftel befragt hat, auch einen mosoßvrsgog 
’Ioaryys anführt, und da diefe Briefe von Anfang an in Hin— 
ficht ihres apoftolifchen Urfprungs bezweifelt find, diefer alfo nicht 


hat biftorifch nachgewiefen werden konnen: fo liegt die Bermuthung ı 


nahe, daß der Name des Johannes in der Heberfchrift jenem zwei— 
ten Sohannes angehört habe, welche Vermuthung Eufebius von 
der Apocalypfe geradezu ausfpricht. Beide Briefe find an einzelne 
Perſonen gerichtet, der erſte an eine Frau, die nicht genannt, ſon— 
dern bloß als ZuAenın nvola, auserwählte Herrinn oder Frau, be- 
zeichnet wird, denn daß avora ein Eigenname fein follte, dafür 
giebt es Feine Analogie. Noch weniger aber ift anzunehmen, daß 
dies „die Kirche’ bedeuten folle, denn wenn nachher von den Kin— 
dern und der Schwefter der zvora gefprochen wird, fo müßte es 
doch eine beftimmte Kirche fein; das wäre aber eine wunderliche 
Spielerei, die gar nicht für den Zweck paßte. 

Sn welchem Sinne aber Sohannes ſich wohl 6 mosoßvregog 
fchlechthin habe nennen Fünnen, ift fehwer zu fagen. Wenn irgend 
ein Anderer, der in einer Gemeinde Presbyter war, an eine dies 
fer Gemeinde angehörige Perſon ſchrieb, fo laßt es ſich allenfalls 
denfen, daß er fich ohne Namen mit diefem Amtstitel ‘bezeichnete; 
daß aber ein Apoftel für fich den Namen eines fpeciellen Amtes 
wählen follte, hat eine große Unwahrfcheinlichkeit. Andre nehmen 
dies Wort hier ald Bezeichnung des Alters, aber diefer Gebraud) 
des aus dem Hebräifchen genommenen Amtsnamens ift doch ganz 
ungewiß. | 

Mas die Firchliche Auctorität diefer Briefe betrifft, fo find 
‚die Zweifel gegen fie das Aeltefte, was wir von ihnen wifjen. Dies 
jest den Anfpruch voraus, daß fie für johanneifch ausgegeben find; 
aber allgemein find fie erft nach Hieronymus aufgenommen. In 
der älteften fyrifchen Ueberfeßung ftanden fie nicht; Origenes führt 
fie alö bezweifelt an, ohne ein Wort zu ihrer Vertheidigung zu 
fagen, fo daß er fie wohl auch nicht anerkannt hat. Dionyfius 


von Werandrien hat fie hernach angenommen; aber dies ift auch 


Zweifel gegen 2. und 3, Joh. 399 


fein reines Urtheil, weil er fie gebraucht, um aus ihnen Beweiſe 
‚gegen die Apocalypfe zu nehmen. Sie haben fich demnach ohne 
fichere Auctorität nur almählig in den Canon eingefchlichen, und 
die Zweifel gegen ihre Aechtheit find nur ſchwer zu überwinden. 

Sieht man auf die innern Merkmale, fo fcheint der 2te Jo— 
hannesbrief aus einzelnen Ausfprüchen des erften zufammengefeßt, 
wozu freilich zum Theil gerade die fchwierigften Sachen genommen 
find. Nur V. 8. ift eigen, aber auch nicht fehr dem Uebrigen 
angemeffen ausgedrüdt. Dazu Fommt noch eine Negel, welde 
man kaum dem Apoftel Sohannes zufchreiben kann, in V. 10. und 
11., eine Unduldfamkeit, die gegen alle neuteflamentliche Analogie 
if. Der dritte Brief hat eine Gräcität, die hinter der des erften 
fehr zurücdbleibt; fo B. 4. das ueıtoregog. Allerdings werden 
bier gewiffe perfünliche Verhältnifje berührt, jedoch auf eine Weife, 
dag man fie fich fcehwerlich recht denken kann, aber fo, daß man 
eine Art von Smitation von Relationen findet, die in den pauli- 
nifhen Briefen vorfommen. Der VBerfaffer Elagt über einen ge— 
wiffen Diotrephes in einer ungenannten Gemeinde, als einen ge- 
Aoneorsvwv, von dem gefagt wird: ovx anodeyeraı yuag. Bon 
dergleichen finden wir wohl Spuren in den paulinifchen Briefen, 
aber das hängt damit zufammen, daß paläftinifche Chriften von 
fireng judaifirender Denkungsart ihn, als eigentlich nicht zu den 
Zwölf gehörig, nicht anerkennen wollten. Aber bei Johannes fällt 
ein folcher Vorwand ganz weg, und es ift unbegreiflich, daß im 
apoftolifchen Zeitalter in einer chriftlichen Gemeinde ein Apoftel 
nicht anerfannt worden wäre. Wie Paulus in folchen Fällen auf 
feine perfönliche Ankunft verweif’t, mit welcher alle Zweifel ſchwin— 
den würden, fo bier V. 10. Ferner febt das &% rs Eurinolag 
enßaklsıv eine officielle Auctorität des Diotrephes voraus, was 
aber nicht dem Yulorzowrevwv entfpricht, wornach er Feine folche 
zu haben ſcheint. Als von einem Gegenftüde ift von einem De: 
metrius die Rede, der allgemein ein gutes Zeugniß habe. Aber 
irgend ein Auftrag ift gar nicht vorhanden, obgleich man doch an 
ein Mitglied vderfelben Gemeinde denken muß, mit welchem der 


400 Der erfle Brief Petri. 


Berfaffer in befonderer Beziehung fteht. So will alfo Fein Bild 
eines richtigen Verhältniffes fich geftalten, welches der Brief im 
Auge haben koͤnnte, und wir müffen ihn in Verdacht haben, daß 
er ein durch nicht geſchickte Nachbildung andrer Stellen gefertigtes 
bloßes Machwerk fein Eönnte. 

Wir müffen alfo bei diefen beiden Briefen auf den Begriff , 
des Deuterocanonifchen zuräcgehn, und koͤnnen folchen Aeußerun= 
gen, wie 2. Joh. 10. 11., für die chriftliche Sittenlehre Fein 
canonifches Anfehn einräumen. Dies ift auch nie gefchehn, "und 
es ſcheint, als ob prackifch daS Urtheil gegen diefen Brief in der 
Kirche die Oberhand behalten hätte. 


$. 96. 

Die VBerhältniffe der beiden petrinifchen Briefe find fo 
verfchieden, daß jeder für fich befonders betrachtet werden muß. 

Der erfte Brief des Petrus giebt fich durch die innere 
Ueberfchrift .ald einen wirklichen Brief zu erfennen , aber wir fin- 
den fogleich in diefer Ueberfchrift manches Bedenkliche. Sie lau: 
tet: Petrus, ein Apoftel Sefu Chrifti, den Auserwaͤhlten, welche 
in die Herftreuung zugewandert find, in Pontus, Galatien, Cap— 
pabocien, Afien und Bithynien. Die Zulsxrol müffen offenbar 
Chriften fein. Zraonoo« fommt vor für alle Glieder des jüdifchen 
Volks außerhalb Paläftina’s, die in verfchiedene Gegenden aus 
Palaͤſtina ausgewandert find, was jedoch fihon vor mehreren Ge: 
nerationen gefchehn fein Fann. "Znudrueiv fteht von einem Auf- 
enthalt an einem Dite, wo man nicht einheimifch ift; das neo« 
müßte alfo genau genommen auf eine fpätere Ginwanderung ne: 
ben einer frühern gehn; allein dies iſt doch nicht ficher, denn eben 
jo gut Kann fih ega auf die urfprünglichen Bewohner jener 
Gegenden beziehn, zu denen die nagenzidyuo: eingewanderk find. 
Bei diefer, freilih ungenauern, Bedeutung müffen wir ftehn blei: 
ben. Nur wiffen wir von der Chriftianifirung der hier genannten 
Landfchaften wenig. Daß Galatien und Ajien (im engern Sinn) 
zu den paulinifchen Provinzen gehörte, fagen die Acta und die 


Schwierigkeit der Adreffe von 1. Petr. 401 


paulin. Briefe. Bon Pontus wiffen wir nur, daß zur Zeit des 
Marcion die herrfchende Geſinnung hier ganz antijüdifch war. 
Aus dem Galaterbriefe geht hervor, daß die meiften der galatifchen 
Chriften urfprünglih Heiden gemwefen waren, und daß ſie erſt ge: 
gen die Verordnung des Paulus fich verleiten ließen, das Juden— 
thum neben dem Chriftenthum anzunehmen; man kann alſo nicht 
ſagen, daß bier die Judenchriften den Hauptkoͤrper der Gemeinde 
bildeten, Daſſelbe gilt von Aſia. — Wie follte.ed nun möglich 
gewefen fein, einen Brief an Ehriften von jüdifcher Abftammung 
in diefen Gegenden zu richten? Der Brief könnte nur durch Je— 
mand, ber: diefe Gegenden bereifen: wollte, an feine Adrefje ge: 
fommen fein; aber wenn’ .diefer den Auftrag gehabt hätte, die 
Sudenchriften befonders zufammenzurufen und ihnen den Brief 
vorzulefen, fo würde dies den:Keim zu einer Spaltung: gegeben 
haben, die eines Apoftels Abficht nicht fein Fonnte. "Nehmen wir 
aber an, der Brief fei nach Art eines Buches publicirt, fo ließe 
ſich wohl denken, daß er befonders an Sudenchriften gerichtet wäre; 
aber dann ift nicht einzufehn, welchen Grund die Befchränkung 
auf beftimmte Gegenden hat, da diefelben Verhältniffe auch in 
andern aſiatiſchen und europaͤiſchen Gemeinden ſtattfanden. Bei 
der allgemeinen Publication verliert eine ſolche Beſchraͤnkung ihren 
ganzen Zweck, und wir müßten ſehr complicirte ſpecielle Verhält: 
niſſe jener Gegenden annehmen, die im Briefe ſelbſt beruͤhrt wuͤr— 
den, was aber gar nicht der Fall iſt. — Nun finden wir auch 
im Briefe ſelbſt vieles, was eben ſo gut auf Heiden-, als auf 
Judenchriſten ſich bezieht, und ſein Inhalt macht einen andern 
Eindruck, als feine Ueberfchrift 2). Wil man daher die Urſpruͤng— 
lichkeit des Briefs dennoch vertheidigen, fo muß man annehmen, 
daß die Ausdrüde magenidmuor und: EuAentol denonogag unge: 


) Erf. Entw. Es Hingt zwar Cap. 1, 10. 11. einigermaßen, als ob 
auf Judenthum zurüsfgegangen werden follte; aber gleich V. 18. vgl. 
er V. 21. deutet vielmehr auf Heidenchriſten, und noch beftimmter 2, 10, 
was Petrus nie hätte von geborenen Juden fagen können, und 4, 3. 


Ein. ins NT. 26 





402 Schwierigkeit der Adreſſe von 1. Petr. 


nau find und nicht nur die Sudenchriften, fondern die chriftlichen 
Gemeinden überhaupt bezeichnen follen. Und es läßt ſich auch 
aus dem Gefihtspunct des. Petrus wohl erklären, wie er dazu 
gekommen ift, Die Gemeinden fo zu bezeichnen, daß dadurch über: 
wiegend der juͤdiſche Theil derfelben getroffen wird. Im Allge— 
meinen war immer die Verbreitung des Chriftenthums: dem Ju— 
denthume nachgegangen, und die Prari war, daß fich die. Ver— 
fündiger zunachft-an die Juden wendeten, und es konnte fich da= 
her: leicht Semand das Bild von außerpaläftinifchen Gemeinden fo 
machen, : daß die Sudenchriften. den urfprünglichen Kern bildeten. 
Nehmen wir dazu, daß Petrus. Yange in Paläftina und folchen 
Ländern gelebt hatte, in denen das nationaljuͤdiſche Element wirk— 
lich das Uebergewicht in den chriftlichen Gemeinden hatte, und Die 
Heidenchriften nur als hinzugekommen angefehn wurden: fo kann 
man fich; gerade von ihm jenes VBerhältniß der Zufchrift: noch am 
erften erklären, Die Ueberfchrift müßte darnach fo erklärt werden: 
„ven Auserwählten d. h. fammtlichen Chriften, die fich angefiedelt 
haben, nemlich als chriftliche Gemeinde”, ſofern diefe doch — 
lich in der Synagoge entſtanden iſt. 

Eichhorn hat behauptet, daß dieſer Brief nicht von Petrus 
geſchrieben ſein koͤnne, ſondern nur von einem Schuͤler des Pau— 
lus, weil er Zeichen der pauliniſchen Schule an ſich trage. Zur 
Beurtheilung diefer Behauptung muß ich einige allgemeine Be: 
trachtungen voranfchiden. Es ift eine nothwendige, aber: fchwie- 
ige Aufgabe, in.einer Negion, wie diefe, zu unterjcheiden „ was 
einer einzelnen. Perfon angehört, und was einen gemeinfamen 
Typus trägt, d. b. mas gerade beflimmt paulinifch: ift, und was 
feinen Grund nur in dem Uebergegangenfein. des Chriftenthbums 
in die außerjüdifchen-Elemente hat. Eine Analogie hierzu: bietet 
auch die focratifhe Schule dar. Man fchrieb in ihr, was der 
Sthule angehört, zwei einzelnen Perfonen, welche in ihr einen 
überwiegenden Credit hatten, zu und nannte, was einen gewiflen 
Typus hatte, platonifch oder. renophontifh. Wil man ſo die 
Sndividualitäten möglichft unterfcheiden, fo Fann man leicht nad 





Zweifel gegen die Aechtheit von 1. Petr. 403 


beiden Seiten hin fehlen, und es ift wünfchenswerth, daß man 
nicht bloß an. innere Merkmale gewiefen fei, fondern daß auch 
außere Zeugniffe hinzukommen. Bedenken wir, wie viel Antheil 
Paulus an der Verbreitung des Chriftenthbums in tberwiegend 
hellenifchen Gegenden hatte, wie feine Briefe wahrfcheinlich das 
erfte fchriftliche: Griechiſch chriftlihen Inhalts waren, wie ſich aus 
dem von ihm. geftifteten Gemeinden immer mehrere bildeten : fo 
müffen wir wohl annehmen, daß er einen großen Einfluß auf die 
Bildung der griechifchen Sprache für chriftliche Gegenftände hatte, 
und daß diejenigen, die nachher in feine Fußſtapfen traten, von 
dem Idiom, was fich auf diefe Weiſe bildete, fich ſchwerlich weit 
entfernen Eonnten ; es Fam nur darauf an, wie weit der Ideenkreis 
verwandt war. Allerdings laffen ſich zwifchen Paulus und So: 
hannes gewifje Differenzen aufftellen, aber fie liegen nur in der 
verfchiedenen Art, die Gegenftände zu behandeln; Iericalifche Ele: 
mente find es nicht. Man muß alfo fehr vorfichtig fein, zu be— 
fiimmen, was der Sprache wegen für eim Product der pauliniz 
fhen Schule gehalten werdenmuß. 

Nun hat man mehrere Stellen im erften Briefe Petri aufge- 
funden, welche Aehnlichkeit mit Stellen aus verfchiedenen yaulini- 
ſchen Briefen haben. Daraus hat man ſchließen wollen, der Ber- 
faſſer müffe ſchon die Sammlung der paulinifchen Briefe vor fi 
‚gehabt haben. Andere find vorfichtiger gewefen und haben gefagt, 
es fei wohl moͤglich, daß diefe Anklänge aus einer Bekanntſchaft 
mit den mündlichen Vorträgen des Paulus herrühren. Daraus 
bat Eichhorn die Hppothefe gebildet, daß Petrus nur habe bie. 
Haupfmaterialien zum Briefe gegeben, und dag Marcus, den bie 
alten Kirchenfchriftfiellee als Eoumvevrys des Petrus bezeichnen, 
(der aber früher ein Schüler des Paulus gewefen fei, ihn ge— 
fchrieben habe. De Wette hat das Verzeichnig der Neminifcen- 
zen vermehrt und ift genauer darin, findet jedoch jene Hypotheſe 
gekünftelt. Und man kann auch wohl noch mehrere Ginwürfe da- 
Igegen machen. ‚Man Fann gar nicht behaupten, dag Marcus eine 
längere Gewohnheit gehabt, paulinifche Vorträge zu hören; wir 

26 *. 





404 Zweifel gegen die Wechtheit von 1. Petr. 


wiffen nur, daß er. die erfie Reife des Paulus mit Barnabas mit: 
machte und ein näheres Verhältniß zu Barnabad, ald zu Pau— 
lus, hatte, weßhalb er fich eher nach jenem, als nach diefem, ges 
bildet haben müßte). Auf der andern Seite aber muß man ſich 
fragen, wie Petrus zu einer Fertigkeit im Gebrauch der griechi- 
fchen Sprache gekommen ift. Was wir von ihm’ aus der neute— 


ftamentlihen Gefchichtsfchreibung willen, führt uns gar nicht dar— 


auf. Zwar erfahren wir, daß er auf kurze Zeit wenigftens nad) 
Antiochien gekommen ift?), aber es ift nicht wahrfcheinlih, daß 
er dort oder in andern hellenifchen Gegenden ſich lange aufgehal- 
ten habe. Daher hat ein Brief des Petrus in griechifeher Sprache 
etwas Auffallendes, und wenn irgendwo die Bermuthung von 


einem aramaäifchen Driginal einer neutejtamentlihen Schrift gelten 
Eönnte, fo wäre es beiden Fatholifchen Briefen, von deren Ber- 


faffern wir den paläftinifchen Urfprung und Aufenthalt wiffen. Wer 
alfo urſpruͤnglich aramaifch Gefprochenes in das Griechiſche zu 
uͤbertragen hatte, konnte um ſo weniger ſich von der pauliniſchen 
Sprache entfernt halten. Dies wurde ſehr dadurch erleichtert, daß 
die Gedanken in unſerm Briefe ſo allgemein gehalten ſind und ſo 


wenig eigenthuͤmliche Faͤrbung haben 3); bei fo. allgemeinen moras 


lifchen Ermahnungen nahm.man feine anderen Ausdrüde, als folche, 


welche im chriftlichen Leben gangbar geworden waren, und hiers 
bei war der paulinifche Typus der herrſchende. Wenn man alfo | 
von Marcus ganz abftrahirt, fo ließe fih, wenn fi) Petrus zur 
griechifchen Abfaffung feines Briefes eines Andern bediente, eine 





— 





Analogie mit der Sprache des Paulus ſchon in voraus vermuthen. 


1) Acı. 12, 25. 13, 13. 15, 37—39, vergl. jedoch 2. Tim. 4, 11. 
2) Sal. 2, 11. 


3) Erfi. Entw. Die Afgemeinheit des Inhalts ſcheint mir feine erheb- 


liche Einwendung. Da Petrus dort befondere Berhältniffe hatte und 
Einer aus feiner Nähe die Gegenden bereifen wollte, fo konnte er wol 


die Abficht Haben, jenen Gemeinen etwas freundliches Durch einen apo= 
ftofifchen Zufpruch zu erweiſen; dann mußte er fir) ‚aber im Allgemeinen | 


halten. * 


Zweifel gegen bie Wechtheit von 1 Petr. 405 


Aber gefeßt nun, Petrus habe zum Gebraudy der Berhand: 
lungen in griechifchen ‘Gemeinden fich -felbft das Griechifche ange: 
eignet, mas doch nicht unwahrfcheinlich ift und nothwendig, "wenn 
an der Zradition etwas Wahres ift, daß er in Nom gewefen: fo 
muͤſſen wir zufehn, von welcher Art die Anklänge an die paulis 
niſche Sprache find. Es find zunächft die eigenthuͤmlich chriftlichen 
-Zermini, z. Bi nalew, #Ayoovolia. Schreibt man diefe det 
paulinifchen Schule zu, fo möchte ich umgekehrt fagen, fie finden 
fich bei Paulus, weil diefe Gegenftände ihrer Natur nach fo aus— 
gedrüdt werden mußten. Da die ,‚Nede’’ die einzige Form. war, 
in der das Chriſtenthum fich verbreiten konnte, fo ift der Ausdruck 
„eufen, berufen’ der einzige, der ſich natürlich darbieten mußte. 
Ebenfo wenn immer eine gewiffe Vergleichung des alten und neuen 
Bundes ftattfand; und der alte erſt durch Vertheilung des Landes, 
wodurd Seber feinen x#A7005 erhielt, feine Haltung befam, fo 
mußte gerade vom jüdifchen Standpunct fich der Begriff #I700- 
vonie bilden. "Andere Stellen find folche, wo aus dem gemeinen 
Leben der Ausdrud genommen ift; wenn z. B. vr7psıw und yor- 
yooeiv zufammengeftellt wird 4), fo ift das eine fo allgemeine, 
natürliche Verbindung, daß man dies: auch nicht etwas eigenthuͤm⸗ 
lich Paulinifches nennen’ kann. Es giebt eine ganze Elafje folcher 
gnomifcher Ausfprüche, die auch bei Paulus gar nicht ihm eigene 
thuͤmlich find, fondern Anklänge aus dem alten Zeftament, befon- 
ders aus den Pfalmen und en ober aus der evan⸗ 
geliſtiſchen Ueberlieferung. 

Geht man davon aus, daß der Sarfaffer ı von 1. Sehr die 
paulinifchen Briefe gekannt haben müffe, namentlich folche, die 
Daulus nur aus Rom gefchrieben haben Fonnte, und nimmt man 
die zweite Gefangenfchaft des Paulus nicht an, aber die Richtig: 
keit der Firchlichen Zradition von der Anmefenheit des Petrus in 
„Rom: fo ift nicht möglih,, daß Petrus diefen Brief gefchrieben 
haben Tann, denn er Eonnte dann die paulinifchen Briefe nicht 


1) 1. Petr. 5, 8. vergl. 1. Theſſ. 5, 6. 


406 Gründe für die Wechtheit von. 1. Petr. 


vorher. in feine Hande bekommen. Aber zu diefer Vorausfetzung 
ift auch Fein rechter, Grund. Bedenken: wir alſo, daß der Brief 


von Anfang an für Acht gehalten, allgemein in feiner canonifchen 
Dignität-anerfannt und dem Apoftel Petrus zugefchrieben wurde, 
und daß ſchon bei Polycarp eine Stelle aus demfelben ganz ge: 


nau vorkommt: fo ift Fein Grund, ihn für fpätern Urfprungs und | 


unaͤcht zu erklären. 40 Petr: 1,8. wird von Polycarp, obwohl er 
den Auctor nicht angiebt, doc fo genau von vorn herein und in 
ganz fpeciellen Wendungen copirt 2), daß man gar nicht zweifeln 
Fann, daß es ein Citat der petrinifchen Stelle ift. : Es giebt zwar 


auch Bedenken gegem die Aechtheit des Briefes des Polycarp, aber | 
fie find nicht von großer. Bedeutung. Polycarp aber würde dieſe 
Stelle nicht angeführt. haben, wenn er den, Brief nicht für Acht 
gehalten haͤtte. Nah Euſebius hat auch Papias Stellen. aus | 


demfelben. V 


Wenn wir uns aber den Brief genau vergegenwaͤrtigen, ſo | 


möchte ich mich auch dagegen erklären, dag Petrus ihn nicht felbft 





‚gefchrieben, fondern durch einen Andern habe fchreiben laffen. Denn 


dazu müßten wir und doch Jemanden ausfuchen, welcher der Sprache 


reht mächtig. war, und es fehlte auch den Apofteln nie an ſolchen 
Begleitern , die zum Öffentlichen Vortrage geſchickt waren. Hätte 


nun Petrus einem Solchen die Materialien gegeben und ihn mit 
einer'gewiffen Freiheit ſie niederfchreiben laſſen, fo hätte man etwas 
Beſſeres erwarten koͤnnen. Aber der Brief macht den Eindrud, 


daß der Verfaffer ſich etwas fchwerfälig in der Sprache bewegt, 


was auch auf die Entwidlung: der Gedanken zuruͤckwirkt. Dies 
erklärt fich viel natürlicher, wenn, Petrus ihn felbft gefchrieben hat. 

Die Stelle c. 3, 192%, daß Chriſtus den Geiftern im Ges 
faͤngniſſe gepredigt habe, iſt nach meinem, Urtheile ganz gegen bie 
Annahme, daß der Brief von einem Spätern untergefchoben fei, 
der fih in die Lage des Apoſtels verfeßt habe, Wenn Jemand 


:1) Polycarp.ad Phil.4. zis 6» oVx lWdörres miorawere, nıovevovreg dt ayul- 
Aıa0IE gap averduintw nal dedokuauirn. 


Gründe für die Aechtheit von 1. Pelr: 407 


einen Brief unterfchiebt, den er für apoftolifh angefehn haben 
will, fo kann ich mir nicht denken, daß: er fich auf einen fo fchlüpf: 
rigen Boden begeben haben ſollte; denn hier ift offenbar" etwas, 
was gar nicht in die gemeinfame öffentliche Lehre der Chriften 
übergegangen war, und was und noch immer ald etwas Fremdes 
in den neuteftamentlihen Vorftellungen erſcheint. Jeder, der eine 
folche Unterſchiebung verfucht, hütet fich ſchon inftinetmäßig vor 
allem, was zu einer tiefern Unterfuchung veranlaffen‘ kann, und 
hält fich auf dem allgemeinen, wohlbefannten Gebiet. Jede ab- 
. weichende Borftellung müßte Fragen veranlaffen, ‚woher fie fommt, 
und das ift einem folchen Unternehmen ungünftig.” 
| Ein andrer Verdachtsgrund, den man gegen unſern Brief 
geltend gemacht hat, iſt, daß in demſelben ein Zuſtand von Ver— 
folgung als eingetreten oder unmittelbar bevorſtehend dargeſtellt wird, 
namentlich, daß die Chriſten unter allerlei falſchen Vorwaͤnden ver- 
folgt würden, c. 4, 12—16. Man ſagt, dies habe den eigen- 
thümlichen Character der Berfolgungen, zu denen Nero das Signal 
gegeben, und beruft fich dabei auf eine Stelle des" Tacitus, die 
aber gerade das Gegentheil beweiß’t ;; indem fie zeigt, wie fchon 
früher die ‚Chriften in Verdacht von allerlei Verbrechen‘ waren }). 
Da in allen dieſen Gegenden, wo Heiden- und Judenchriften ge= 
mifcht waren, die Berfolgungen, wie: wir aus den Actis willen, 
von den Juden ausgingen, ſo mußten diefe nach falfchen Vor— 
wänden ſuchen; dagegen waren, nachdem Nero's Verfolgung an: 
gegangen war, ſolche Vorwaͤnde gar nicht nöthig ; ſondern da 
wurden fie offen ws Xozoriavoi verfolgt wegen des Haffes der 
Römer gegen fie. Wenn man alfo auch gelten läßt, daß Petrus 
zur Zeit des Nero in Rom mit dem Paulus hingerichtet ift, was 
ich hier nicht unterfuchen will, obwohl ich es für ganz unbegrün- 
det halte: fo Fann man deshalb doch nicht fagen, daß diefer Brief 


— 


1) Tacit. ann. XV. 44. Ergo abolendo rumori Nero subdidit reos et 
quaesilissimis poenis adfecit, quos per flagitia invisos vulgus 
Christianos appellabat. | 


408 Gründe für die Aechtheit von 1. Petr. 


nicht von dem Apoftel gefchrieben fein Fünne. Man Bann einen 
ſolchen Zuſtand, wie er hier beſchrieben wird, fehr gut au vor 
der neronifchen Verfolgung denken; ja dieſe leßtere wäre wohl gar 
nicht zu Stande gefommen, wenn nicht: ein folcher Zuftand vor 
hergegangen wäre. So verfehwinden alfo bei — Betrach⸗ 
tung die Einwaͤnde immer mehr. 

Es bleibt nur übrig, daß man fagt, es ſei nicht recht zu er= 
Elären, wie Petrus dazu gekommen fein follte, einen Brief an 
Chriften zu richten, die doch mwahrfcheinlic) in die Provinzen des 
Paulus gehörten, und wohin wenigftend das Chriftenthum aus 
den von Paulus geftifteten Gemeinden gefommen war, da’ doch 
diefer die Regel aufgeftellt hatte, daß er fich nicht in»foldhe Ne= 
gionen eindränge, welche fchon andern RE des Chriſten⸗ 
thums angehörten. 

Gerade die auch) von Polycarp angeführte Stelle c.1,8. ent⸗ 
halt für mich einen deutlichen Beweis, daß der Brief wenigftens 
von einem unmittelbaren Schüler Ehrifti herrührt. Denn wie 
Fonnte Jemand, der Chriftum. felbft nicht gefehn hatte, ed an 
Andern befonders hervorheben, daß fie an ihn glaubten, ohne ihn 
gefehn zu haben? Dies feßt voraus, daß der Schreiber ihn geſehn. 

Wo Petrus gemwefen, als erden: Brief gefchrieben,  conftirt 
gar nicht; denn die Stelle, woraus man gefehloffen hat, er fei 
in Babylon gefchrieben , fcheint gerade. dagegen zu fprechen (c. 3, 
15). Denn wäre Petrus felbft dort gewefen, fo würde er nicht 
gefagt haben: „es grüßt euch die Miterwählte in Babylon’, ſon— 
dern: „meine Miterwählte (meine Frau oder die Gemeinde) 
bier.” Eben fo wenig kann man auf bie Zeit der neronifchen 
Berfolgung fchließen. 


8. 97. 

Mit dem zweiten Briefe des Petrus verhält es ſich 
ebenfo, wie mit dem zweiten und dritten des Sohannes ; denn er ift, 
fobald er befannt geworden, bezweifelt, und alle ältern Kirchen- 
jehriftfieller reden von ibm, als von einer verbächtigen Schrift. 


> 


Der 2te Brief Petri. Alter Zweifel gegen ſeine Aechtheit. 409 


Hieronymus druͤckt ſich an verſchiedenen Stellen verſchieden 
daruͤber aus 1); einmal erklaͤrt er die Verſchiedenheit der Sprache 
und des Stils daraus, daß Petrus bei dem zweiten Briefe einen 
andern Eoumvevrns gehabt habe, als bei dem erften; an: einer 
andern «Stelle aber fagt er, daß der Brief deswegen von den Mei- 
ften für unächt gehalten werde.  Ebenfo ſetzt ihn Eufebius unter 
die bezweifelten. Nun ift aber zwiſchen 2. Petr. und 2. und 3. Joh. 
ein großer Unterfchied, indem bei erfterm in der innern Leberfchrift 
der Apoftel Petrus als Verfaffer genannt wird. Dies muß be— 
fonders hervorgehoben werden, um anfchaulih zu machen, wie 
diefe Gegenftände damals behandelt wurden. Den: Berfaffern der 
leßten Sohannesbriefe ift Fein Vorwurf zu machen, weil fie fich nicht 
für den Apoftel ausgegeben haben; aber bei 2. Petr. hat der Ver: 
faffer, wenn er nicht der Apoftel war, ein falsum begangen. Den— 
noch haben die Firchlichen: Schriftfteller diefen Falfator und jene 
unfchuldigen Berfaffer immer in eine Neihe geſtellt, fo daß ihre 
Briefe gleichmäßig in den Canon gekommen find. Man fieht alfo, 
daß man. ed damals mit einer Handlung, wie diefe ift, nicht fo 
genau genommen hat. Meine Meinung über 1. Zimoth. ift von 
Manchen deshalb beſonders angefochten, weil der Berfaffer darnach 
ein Lügner wäre; und daß ich gefagt, daß diefer Brief dennoch 
canonifch bleibe, haben mir Viele erftaunlich übel.genommen, ohne 
doch an diefen ganz fchlagend aͤhnlichen Fall zu denken. 

Nun aber tritt bei unſerm Briefe noch ein ‚ganz beſonderer 
Umfland ein, nemlich die auffallende Uebereinftimmung zwifchen 
feinem zweiten und dritten Gapitel und dem Briefe des Judas. 
Man hat fierauf. fehr verfchiedene Weife erklärt; das Natürlichfte 
ift, zu glauben, der eine Schriftfteller habe aus dem andern ge- 
nommen. Aber da theilen fich die Meinungen, ob Sudas aus dem 
Briefe des Petrus genommen, oder umgekehrt. Wir fehn daraus, 
wie ſchwankend die Principien zu folchen critifchen Urtheilen find. 
Es koͤmmt darauf an, woran man. den urfprünglichen und den 


1) Bei De Wette $. 176. 


410 Berhältniß won! 2. Petr. zum Briefe Judä— 


entlehnenden Verfaſſer erkennen kann; und man muß dabei die 
verſchiedenen Geſichtspuncte richtig gegen einander abſchaͤtzen. Die 
Kuͤrze und Ausfuͤhrlichkeit iſt meiner Meinung nach ein voͤllig in— 
differenter Punct; der Entlehnende kann eben ſo gut erweitern, 
wie epitomiren. Es koͤmmt vorzuͤglich darauf an, "daß man die 
urſpruͤngliche Anlage erkennt. Nun iſt klar, daß eigne Gedanken 
ceteris paribus klarer ausgedruͤckt werden, in größerer Beziehung 
auf einander und in genauerer Zufammengehörigkeit erfcheinen, als 
folche, die man fich angeeignet hat. Dies ift alfo der Hauptpunet, 
woran man das Urfprüngliche erkennen muß. Ein Beifpiel aus 
unferm Briefe im Vergleich mit. dem des Judas ift Cap. 2,9—12. 
vergl... Jud. 5-10. Hier: ift-Petrus ganz dunkel, indem er den 
einzelnen Fall weggelaffen hat, der das Ganze Elar gemacht hätte. 
Da fieht man alfo, der Verfaſſer hat aus Judas geſchoͤpft und 
bat durch ungeſchicktes Epitomiren die Stelle verdunkelt. Dies 
gilt aber nicht nur von Einzelnheiten, fondern vom Öanzen. Bei 
Sudas wird: von dem Eindringen folcher Menfchen in die Gemeinde 
geredet, die fittenlofe Grundfäge haben und verbreiten ; bei Petrus 
aber wird dies zweifelhaft gehalten, und bald auf  unmoralifche 
Menfchen,, bald auf Irrlehrer bezogen. Da hat alfo:Sudas den 
Vorzug der Klarheit in der ganzen Anlage %). — Außerdem find 
aber noch zwei andere Meinungen aufgefommen, zuerft, daß beide 
Schriftfteller aus einer gemeinfchaftlichen uns unbekannten Schrift 
gefchöpft.haben, und allerdings find die Differenzen: bedeutend ge— 
nug, um eine folche Erklärung möglich zu machen. Aber: es fchwebt 
bier die bloße Möglichkeit in der Luft, da gar Fein Indicium 
| weiter dafür vorhanden ift, und es ift Nichts da, was fih nicht . 
auch. anders erklären läßt; fo iſt alfo diefe Hypothefe ganz nußlos. 
Der zweite Brief Petri hat.einen andern Haupfgefichtspunck, als 
der des Sudasz es muß alſo dad, was er aus diefem aufnimmt, 


1) Erf. Entw. Im Judas ift mehr Eonfiftenz. Den Ausfchlag aber giebt 
die rauhere Sprache im Judas, die gewiß Feiner würde erfünftelt haben, 
der eine mildere vor ſich hatte, fondern umgekehrt. 


Ullmanns Hypotheſe über 2: Petr. 411 


bei ihm anderd werden... Einesandre Meinung ift dievon Augufti 
in. feiner. Erklärung der Fatholifhen Briefe, daß die beiden Ver— 
faffer fich vorher verabredet hätten. : Dies ift der vorigen Annahme 
ganz analog, denn das Gemeinfchaftliche wäre dann das Mind: 
lihe, das vorher aufgeſtellte Thema, welches: Beide (ausführen 
wollten. Aber fo ftehn: die Briefe gar nicht, daß man ein folches 
Thema finden Fönnte, es find vielmehr Einzelnheiten, nicht ein 
Hauptgedanfe, der durch das Ganze hindurchginge, was beiden 
Briefen gemeinfam- ift, denn eigentlich hat jeder ein befonderes 
Thema für fih. Wenn man 2. Petr. ganz lieft, fo findet man, 
daß, was der Verfaffer gegen’ gewiffe Menfchen tadelnd ausführt, 
wobei er fie wie die alten falfchen Propheten: des judifchen Volks 
als falfche Lehrer befchreibt, auf die Zukunft: geht, alſo einen 
theoretifhen Gefichtspunct hat, wovon Judas Nichts zeigt ,- bei 
welchem nur der Mißbrauch der göttlichen Gnade zum Vorſchub 
der Sinnlichkeit der. Hauptpunet iſt. Bei Petrus find e3 wevdo- 
Ödıdaonakoı, welche nicht an die bevorftehendernaoovola XoroTov 
glauben, und es ift genau genommen! die Tendenz des ganzen 
Driefs, gegen Diefe zu warnen. . Bei Judas find es Unfittliche, welche 
fich in die Gemeinde eingefchlichen haben, und, wie Paulus fagt, die 
2evdeoia: in eine ayoggın 77 000xl verwandeln (Zud. 4.). Eine 
Verabredung kann alfo nit zum: Grunde gelegem haben: 

Eine befonders fcharfjinnige Auskunft hat Ullmann getrof- 
fen ?). - Genau betrachtet hänge der Me Brief Petri gar nicht zus 
ſammen, es fei Feine Einheit: darin, fo daß fchwerlich zu ‚glauben, 
daß er von einem Berfaffer herrühre. Nun fei ein Grund, das 
erfte ‚Capitel dem Apoſtel Petrus abzufprechen; es fei aber ein 
Sragment, dem der Schluß: fehlt; da habe ein ſpaͤterer Verfaſſer 
c. 2. und 3. daran gehängt und nach dem Briefe Judaͤ gemacht: 
— Allein gegen diefe Hypothefe ſprechen ſowohl aͤußere, als innere 
Gründe. Man kann zwar eine Differenz der Schreibart zwifchen 
dem erften Capitel und den folgenden nicht laͤugnen, aber fie erklärt 


1) Ullmann d. 2, Br, Petr. keit. unterfucht. 1821. 


412 - Zeichen" der Unächtheit von 2; Petr. 


ſich daraus, daß Der. Verfaſſer im.erften Gapitel frei ſchrieb, wo— 
gegen: er ſich nachher an den Brief Juda band. Die Haupften: 
denz des Brief aber, vor Denen, welche über die Verzögerung 
der. maoovole Korovov ſpotteten, zu warnen und zu ermahnen, 
den Auffehubsials. eine. göttliche Veranftaltung, fich defto mehr durch 
chriſtliche Tugenden vorzubereiten, vanzufehn, ift fchon im erften 
Capitel angedeutet, indem es mit Ermahnung zu chriftlichen Zus 
genden beginnt und Ve16. fchon die Parufie erwahnt. So Fehrt 
das Ende zum Anfang zurüd, was bei jener Hypotheſe zu Fünft- 
lich wäre, wogegen diefe Art der Wiederaufnahme ganz natürlich iſt, 
wenn man es als ein Ganzes anſieht. | 

Alsdann aber hat es Mancherlei gegen fich, das Ganze für 
pettinifch zu halten. Eine Stelle freilich kommt jet nicht mehr 
in. Betracht, welche: fonft als ein. Zeichen der Unächtheit gegolten 
bat, c. 3, 2, wo der Berfafler fi) mit dem Ausdrud zwv dno- 
0T0mv Fun: ſelbſt aus den Apoſteln ganz ausfchließt, denn mit 
echt ſagt Eichhorn, daß 7uav in diefer Stellung nicht Appofi- 
tion zu anooroAwv fein kann; aber nun ift dies nur die Lesart 
der latiniſirenden Codices, während. die rein griechifchen „vuwv 
leſen, was alfo die: bezeichnet, welche den Leſern zuerft das Chri— 
ſtenthum verkündigt haben. Aber wenn der Verfaffer ſich c.3, 16. 
eine Kenntniß aller: paulinifchen Briefe zufchreibt, fo Elingt dies 
offenbar fchon nach einer Sammlung ; denn fonft Eünnte er nicht 
von allen ohne Unterfchied reden. Noch mehr deutet we’ zul zug 
Aoınag yoapas auf eine fpätere Zeitz denn wenn. wir died auch 
von den altteftamentlichen Schriften verftehn wollen, ſo würden 
Doch Die Briefe des Paulus diefen gleichgeftellt, ‘wovon erſt 
in einer fpätern Praxis die Rede fein konnte, als auch‘ neutefta- 
mentlihe Schriften in den Gemeinden vorgelefen wurden. Dies 
laͤßt alſo durchaus) auf eine Zeit Schließen, wo es wenigftens ſchon 
die Sammlung oͤ amoozoAog gab, und wo dieſe in den Gemein— 
den der eigentlich paulinifchen Provinzen, wohin der Brief gerich- 
tet ift, gelefen wurde. Iſt er nun aus einem Stüd, obwohl 
er in einem Abfchnitte dem des Judas nachgebildet ift, fo muß er 


Zeichen der Unächtheit von 2. Petr. 413 


fpäter fein. Das Schwierige, was allerdings zu einer Hypothefe, 
wie die Ullmann’fche, Anlaß geben Fann, nemlich eine gewiſſe 
Disharmonie, die vorzüglich ‚in. dem Abfchnitt aus dem Briefe 
Suda ihren Siß hat, erklaͤrt ſich daraus hinlänglih. Wo diefe 
Beziehung aufhört und die eigentliche Tendenz des Briefes hervor- 
tritt‘, findet fich Feine Differenz mit dem erſten Gapitel mehr, " 
dag man Feine Urfache hat, den Brief zu theilen. 


Noch ein paar Stellen des Briefs wären ſehr merkwuͤrdig, 
wenn man ihn für petriniſch halten wollte. Gap. 1, 17 ff. finden 
wir eine beftimmte Beziehung auf die Verflärungsgefhichte, aber 
von dort aus findet fich ein höchft erfünftelter Uebergang, um auf 
den Vergleich mit den Propheten der Suden zu Eommen, fo daf 
man dadurch gleich das Gefühl der Urfprünglichkeit verliert. Wenn 
diefe Stelle petriniſch wäre, fo gäbe fie ein Zeugniß für die Ge- 
Ichichte unfrer fynoptifchen Evangelien; aber fie ſcheint vielmehr 
aus der evangeliſtiſchen Ueberlieferung erft entnommen zu fein, um 
den Petrus dadurch noch mehr zu charackerifiren. Nun kommt 
auch noch eine Stelle vor, c. 1, 14., welche eine Anfpielung auf 
das Evangelium des Sohannes (ec. 21, 18. 19.) enthält. Wenn 
dies von Petrus wäre, fo müßte es wenigftens in feinem höhern 
Alter gefchrieben fein; deffenungeachtet glaubt Ullmann, daß das 
ächte erfte Gapitel früher gefchrieben fei, ald der erfte Brief, weil 
darin noch nicht von den Verfolgungen Die Rede if. Aber dies 
laßt fich wohl nicht vertheidigen. . Bielmehr die und da3 Vorige 
zufammengenommen dient mit zur Beftätigung der Unächtheit des 
Briefes y. Wir haben aber auch Feine Urfahe, ihn anders zu 
fiellen, als ihn die alte Kirche geftellt hat, und müffen ihn als 
deuterocanonifhe Schrift im Canon laffen. 


1) Erfi. Ent w. Die Berufung auf den erften Brief 3, 1. ift auch ver— 
dächtig, da ja die Adreſſe eine ganz andere if. (2. Petr, 2, 4 f. iſt 
noch im beſondern Widerſpruch mit 1. Petr. 3, 19 * 4 


414 Der Brief des Sudas, 


$. 98. 

"Der Brief des Zudas hat eine innere ueberſchuft, und 
der — bezeichnet ſich als einen Knecht Jeſu Chriſti und ei— 
nen Bruder des Jacobus und ſchreibt an alle Chriſten. Die aͤl— 
teren Kirchenſchriftſteller nennen ihn groͤßtentheils einen Apoſtel, 
ſo Origenes, welcher jedoch an einer andern Stelle zweifelhaft uͤber 
den Brief ſpricht, und Tertulliean. Nun kommt aber ein Judas 
unter den Apoſteln weder bei Matthaͤus noch Marcus vor, wohl 
aber bei Lucas in beiden Verzeichniſſen Act. 1. und Luc. 6., wo 
er ihn "Jovdes "Ianwßov nennt. Diefen Genitiv bat man auf 
feinen Bruder bezogen, ‚aber dies ift doch eine Eünftliche Erklärung, 
da ein folcher Genitiv immer den Water andeutet; überdies fellt 
Lucas in jenen Berzeichniffen die bekannten Brüderpaare zufammen, 
aber den Judas nicht zum Sacobus Alphäi, fo daß wir Feine 
Urfache haben, ihn für einen Bruder deffelben zu halten. Wenn 
alſo diejenigen Recht haben, welche den Brief einem Apoſtel zu— 
ſchreiben, ſo muͤßte Judas zugleich einen Bruder Jacobus und 
einen Vater Jacobus gehabt haben. Nun kommt aber Matth. 
13, 55. und Marc. 6, 3. noch ein Judas vor und ein Jacobus 
unter denen, die als Bruͤder Chriſti aufgefuͤhrt werden. Auf die 
bekannte Streitſache, wie es mit dieſer Bruͤderſchaft ſteht, will 
ich mich hier nicht einlaſſen, aber daß dieſe beiden einerlei waͤren 
mit Judas Jacobi und Jacobus Alphaͤi, iſt nicht anzunehmen. 
Wenn nun der Brief von dem Bruder Jeſu waͤre, ſo haͤtte er 
nur aus Beſcheidenheit ſich nicht Bruder, ſondern Knecht Jeſu 
genannt. Dies waͤre freilich eine ſehr gute Erklaͤrung, wenn man 
nur eine ſichere Tradition haͤtte, daß der Brief von — Ju⸗ 
das iſt. 

Dieſer Brief gehoͤrt auch zu denen, welche erſt ſpaͤter in den 
Canon gekommen ſind; er fehlt in der ſyriſchen Ueberſetzung und 
iſt immer unter den EvTiheyonevorg gewefen, bis er im 4. Jahrh. 
allgemein angenommen wurde. Hieronymus giebt als Grund, 
warum er von Bielen verworfen werde, feine Berufung auf das 
apoerpphifche Buch des Enoch an (Sud. 14.). Wenn dies, was 


Der Brief des Judas. 415 


Hieronymus’ berichtet, eine Thatſache ift, fo zeigt dies wenigfteng, 
daß Feine andere fichere Ueberlieferung vorhanden‘ geweſen, daß 
der Brief apoftolifch fei. Es findet ſich aber außer dieſer Beru- 
fung auf Enoch noch eine andere auf den Streit des Engels Mir 
chael mit dem Teufel über den Leichnam des Mofes (B.9.), wos 
von wir aus Origenes wiffen, daß es in einem Buche Ascensio 
Moysi vorgefommen ift. Drigenes hat Beides verbunden, den 
Brief fürapoftolifch gehalten und. doch die Ge — ein ik 
erpphifches Buch angenommen. | 


De Wette ift der Meinung, der Drief maſe vor der Ber: 
ftörung Jeruſalems gefchrieben fein, denn da hier mehrere Straf: 
gerichte erwähnt würden (®. 5—7.), fo hätte, wenn Jeruſalem 
ſchon zerſtoͤrt geweſen, dies nicht fehlen dürfen). Allein mit die⸗ 
fem Argumenfum ex silentio ift e$ immer eine mißliche Sache. 
Es kann fein, daß die Zerſtoͤrung Jeruſalems ſchon lange geweſen 
war, und daß der Verfaſſer dieſelbe doch nicht mit dem Untergange 
von Sodom und Gomorrha zuſammenſtellen wollte, um nicht ein 
allgemeines Verdammungsurtheil uͤber die Juden auszuſprechen. 
Er wollte nicht irgend Etwas aus Willkuͤr zu den goͤttlichen Straf- 
gerichten reinen, was nicht‘ im U T. ald ein ſolches bezeich⸗ 
net war. 

Der Verfaſſer unterſcheidet ſich übrigens aufs beſtimmteſte 
von den Apoſteln V. 17., und, wie mir ſcheint, nicht bloß von 
ihnen ſelbſt, ſondern auch von ihrer Zeit. Denn er ſagt, die 
Apoſtel hätten verkuͤndigt, daß 2v 2oyara yoovw Spoͤtter fommen 
werden, und im Anfange des Briefes hat er gefagt, daß diefe da 
feien. Dennoch aber’ darf man auf die ganz willfürliche Hypothefe 
des Grotius feinen Werth legen, daß ein Bifchof von Serufa- 
lem, der funfzehnte in der Reihe, welcher Judas geheißen, den 
Brief gefchrieben habe, weßhalb Grotius die Worte adsApog de 
"Iernßov ausläßt. Dies ift ein "bloßer Einfall; aber daß ver 


1) In der erſten Ausgabe der Einl.; vergl. dagegen die Ate. $. 183, 


416 Der Brief des Judas. 


Brief nicht in das apoſtoliſche Zeitalter gehört, koͤnnen wir mit 


Beftimmtheit fagen. | 
Wenn alſo der Berfaffer ſich elbſt weder als Apoſtel noch 


als Zeitgenoſſen der Apoſtel bezeichnet, ſo gewinnt die Meinung, 


welche Clemens von Alexandrien vortraͤgt, mit einer kleinen Ver— 


aͤnderung ſehr viel Wahrſcheinlichkeit. Er vermuthet, daß der Brief 
prophetiſch gegen die Carpocratianer gerichtet ſei, welche die Zucht— 
loſigkeit in Schuß genommen. haben follen; nur möchte: ich das 
Prophetiſche dabei löfchen und nicht die ausgebildete Secte meinen, 
fondern die erften Keime derfelben. Dann ftellt fih der Brief 
ziemlich in. diefelbe Neihe mit den pfeudojohanneifchen, welde 
wahrfcheinlich einen Schüler des Apofteld zum BVerfaffer haben und 
in diefelbe Zeit mit unferm Briefe fallen koͤnnen. 


Ein Brief, wie diefer,; mit einer: ganz unbeflimmten Adreffe, 


kann wohl nicht. anders, als auf dem gewöhnlichen Wege der 
Yublication anderer Bücher in Umlauf gekommen fein; aber dazu 
fcheint er zu Elein und unbedeutend. Wir müffen uns alfo einen 
fubjestiven fehr ſtarken Beweggrund. zu feiner Abfafjung und dann 
auch. eine eigenthümliche Methode denken, um. ein folches einzelnes 
Blatt öffentlich bekannt werden zu: laffen, ohne daß es unterging. 
Da läßt fich fehmwerlich etwas Anderes denken, als ein Deponiren 
bei einer. chriftlichen Gemeinde mit der Anweiſung, es fo weit 
befannt zu. machen, al3 e5 von diefem Puncte aus möglich war. 


Daß die Schrift defjenungeachtet die Form eines Briefes hat, ſcheint 


auf diefe Weiſe gar nicht gehörig begründet, und: da kann man es 
wohl eine Nachahmung der pauliniſchen Briefe nennen, aber nur 
ganz im Allgemeinen. Nun konnte aber der Zweck nur durch 
irgend eine Gemeinde erreicht werden, die den Character einer 
Metropolis hatte, wo das Kirchliche dem Induſtriellen folgte. 
Weiter aber kommen wir nicht, und es giebt keine Andeutung 
daruͤber, wo der Brief koͤnnte entſtanden ſein. Die Anfuͤhrung 
von apocryphiſchen Schriften deutet darauf, daß der Verfaſſer in 
einer Gegend gelebt haben muß, wo dieſe bekannt waren. Aber 
wir wiſſen aus unſern Kenntniſſen uͤber das Buch Enoch und die 


Der Brief Sacobi, Alte Zeugniffe darüber. 417 


Ascensio Mosis gar nicht3 Näheres darüber. Wir würden ſchwan—⸗ 
fen zwifchen Syrien, Paläftina und Egypten, welches die u 
find, oe wir Rüdficht zu nehmen: hätten. 


$..9. 

Der Brief des Jacobus iſt gewöhnlich als der —* un⸗ 
ter den katholiſchen angefuͤhrt worden, ſo von Euſebius (h. e. II. 
23.) ), der aber zugleich bemerkt, daß der Brief fuͤr unaͤcht ge— 
halten und von vielen: der Alten gar nicht erwähnt worden fei. 
Unter diefen fand wohl Papias oben an, von dem Eufebius fagt, 
daß er Zeugniffe aus 1. Soh. und 1. Petr, gebrauchte, und von 
dem er es gewiß nicht verfchwiegen haben würde, wenn er. auch 
den Sacobusbrief angeführt hätte. - Auch noch ſpaͤter findet fich 
etwas, was feiner Authentie gar nicht günftig ift: Hieronymus 
(de vir. illustr. 2.) ſchreibt ihn dem aus der Apoftelgefchichte be— 
Fannten Sacobus zu, den er mit Sacobus Alphäi für einerlei hält, 
feßt aber hinzu, daß Einige ihn für nicht von dieſem, fondern 
von einem Andern in deffen Namen verfaßt hielten, ungeachtet er 
canonifche Geltung erhalten habe. Hieronymus hatte die Beftim- 
mung des lateinifhen Canons in Händen; dennoch trägt er Fein 
Bedenken, diefen Brief, deffen Unächtheit er nicht unwahrſchein⸗ 
lich findet, darin zu laſſen. 

Bei der Frage nach dem Verfaſſer des Briefes müffen wit 
zunächft eine Revifion über die neuteftamentlichen Männer des Na— 
mens Sacobus halten. Da haben wir den Apoftel Sacobus, Bru— 
der des Sohannes und Sohn des Zebedäus, dann den andern 
Apoftel Sacobus, Sohn des Alphaͤus, ferner einen Sacobus, der 
Matth. 13, 55. und Marc. 6,3. unter den Brüdern Jeſu erwähnt 


- wird zugleich mit Joſes, Simon und Judas. ES frägt fih, ob 


das drei oder zwei Jacobi find. Außerdem erfcheint in der Apo— 
ftelgefchichte ein Sacobus unter denen, die zu Serufalem das Wort 
führen, ald Paulus wegen des in Antiochien entftandenen Streits 


1) Siehe oben ©. 43. 
Einl. ins N. T. 27 


418 Ueber den’ Verfaſſer des Sacobusbriefs: 


dorthin: kommt, Act. 15, 13.5 und feiner Meinung tritt die Ver— 
fammlung fogleich bei. Nun ift eine alte Nachricht, daß ein Ja— 
cobus von den Apofteln zum Zruioxzonos von Serufalem ordinirt 
worden fei und an der Spike der Gemeinde geftanden habe, bis er 
unter Nero hingerichtet fei, was auch Sofephus erwähnt. Kerner 
fagt Paulus Sal. 1, 19., wie er nach feiner Bekehrung zum er: 
fien Male nach Serufalem gekommen fei, um Petrus zu fehn: Ere- 
009 dE Tüv anoorölwv oVUx sldov, el 17 ’Teuwßov vov adeh- 
g69 TOV zugiov. Nun wiffen wir, daß ei un nicht immer fireng 
genommen wird, und darnach ift nicht nothwendig, daß dieſer 
Bruder des: Heren ein Apoftel gewefen iſt; fonft würde es Jaco— 
bus Alphaͤi fein, der aber nicht Chrifti Bruder, fondern fein Vet: 
ter wäre. In jener Stelle des: Matthäus ift aber von eigentli- 
chen Brüdern des Erloͤſers die Rede, denn fie werden unmittele 
bar hinter feiner Mutter genannt. Deshalb fchreibt Herder die- 
fen Brief und den des Judas zweien Brüdern Chrifti zu. Es ift 
aber noch, ungewiß, ob der als Verfaſſer des Briefes genannte 
Sacobus ſich gerade unter den im neuen Teſtamente erwähnten 
findet. | \ | 
Sn der Ueberfchrift ."Zaswßos, Heov zei zvolov ’In00V 
Xororov dovrog liegt gar Fein Indicium, woraus Etwas zu ent- 
nehmen if. Hieronymus nennt den Berfaffer den Bifchof von 
Serufalem Jacobus cognomento Justus, qui appellatur frater Do- 
mini, und man fieht, daß er Eeinen von den vier wirflichen Brü- 
dern meint, denn appellatur deutet auf einen ddeAgog im weitern 
Sinne; in wiefern. aber diefe Nachricht auf Zeugniffen beruht 
oder nicht, conflirt gar nicht. Es find auch noch Spuren vor: 
handen (in der Stala und Pefchito), daß man früher diefen Brief 
dem Sacobus, Sohn des Zebedäus, zufchrieb. Diefe Meinung 
hat nicht viel für fih, aber daraus, daß fie aufgefommen war, 
fieht man doch, daß es Feine beftimmte hiftorifche Notiz darüber 
gab, fo daß das Eine wie das Andre nur eine Meinung zu fein 
fheint. AS nach der Angabe der Acta Sacobus Zebedäi durch 
Herodes Agrippa hingerichtet ward (Act. 12, 2.), gab es in Se- 





Ueber die Lejer des Sacobuöbriefs. 419 


rufalem noch Feine Nachricht von dem Erfolge der Verkündigung 
des Paulus und Barnabas, und e5 Scheint damals noch Fein fol- 
cher Zuftand der Chriſten geweſen zu fein, wie er in unferm Briefe 
dargeftellt wird, und wenn Sac. 2, 7. eine leife Anfpielung auf 
den Beinamen Xosorıavoi enthalten ift, fo fonnte man diefen in 
Serufalem erft Eennen, nachdem er von Antiochien aus eine ges 
wiffe Verbreitung erhalten hatte. Das alles fcheint eine. fpätere 
Zeit zu verrathen, ald die, in welcher Sacobus Zebedaͤi lebte. 
Wenn wir alfo mit einer gewiffen Beftimmtheit laͤugnen Fünnen, 
daß der Brief von diefem fei, fo ift dies das Einzige, was ſich 
über den Verfaſſer deffelben mit einiger Sicherheit fagen läßt. 
Wenn man fragt, an wen der Brief gerichtet ift, fo findet 
fi hier etwas ganz Meberrafchendes in der innern Ueberfchrift, 
nemlih: an die zwölf Stämme in der Zerftreuung, d. h. an alle 
Suden außerhalb Palaͤſtina's. Sonach fcheint ed, daß der Brief 
ebenfowohl an die ungläubigen, wie an die gläubigen Suden ges 
richtet ift. So haben es auch Einige genommen, und im erften 
Gapitel erfcheint auch Feine nähere Beftimmung, aber Gap. 2, 1. 
heißt es: „Meine Brüder, verbindet mit dem Glauben an uns 
fern Herrn Sefus Chriftus Fein Anfehn der Perfon”, und da ift 
nachher die Rede von den Berfammlungen der Chriften und von 
der großen Differenz der Stände umd des Vermögens in denfelben, _ 
was auf die erften Zuftande, wo Alles fo fehr noch eine Analogie 
mit der Gütergemeinfchaft hatte, nicht zu paſſen ſcheint. Alfo an 
Chriften ift der Brief doch nur gerichtet, aber nicht an andere, als 
Sudendriften. Daraus geht zugleich hervor, daß er nicht als ein 
eigentlicher Brief an beftimmte Gemeinden mit befonderer Adreffe 
gefchict ift, denn nirgends hätten die jüdifchen Chriften auf eine 
befondere Weiſe verfammelt werden Eönnen, weil fie fich aus den 
Gemeinden nicht fcheiden ließen, ohne Spaltungen.zu veranlaffen. 
Dies hätte auch nur zu einer gewiffen Zeit geſchehn Fünnen, denn 
fpäter, wo alle Differenz zwifchen Suden= und Heidenchriften auf: 
gehoben war, und die Chriften fich immer mehr von den Juden 
fonderten, wäre gar nicht auszumitteln geweſen, welche urfprüng- 
377 


420 Ueber die Zeit des Sacobuöbriefes. 


lich) Sudenchriften waren, und welche nicht. Diefe Schrift ift alfo 
wie ein Buch zum Leſen beftimmt, und die briefliche Form ift ein 
bloßer Schein; es fehlt ihr auch ein Ende, wie es Briefe zu ha= 
ben pflegen, Schlußformel, —. und Hervorheben von 
Einzelnheiten. 

Da nun der Brief für Chriften von jüdifcher Abftammung 
beftimmt ift, aber ganz allgemein, ohne allen Unterfchied des Orts, 
fo frägt fih, wie Jemand dazu fommen Fonnfe, eine Schrift nur 
für dieſe aufzuftellen zu einer Zeit, wo es überall ſchon viele 
Chriften gab, die zu diefen nicht gehörten. Wenn Etwas über 
ihr Verhältnig zu den Heidenchriften zu fagen war, fo Eonnte 
fehr gut eine Schrift an jeden Theil befonders gerichtet werben, 
nur nicht als ein Brief, der vorgetragen werden follte, fondern 
al3 eine öffentliche Schrift. Aber von dem Verhältniffe der Ju— 
denchriften zu den Heidenchriften ift in unferm Briefe Fein Wort 
gefagt,-und alles, was darin fteht, konnte eben fo gut den Hei: 
dencpriften gelten. Man hat deshalb verfchiedene Hypothefen über 
die erſten Lefer aufgeftellt. Nöffelt meint in feinen opusculis, 
er fei an den jüdifchen Theil der Gemeinde zu Antiochien gerich- 
tet, man müffe fich ihn fo früh, wie möglich, denken, und &v «7 
dinonoge ſei eine Anfpielung auf die Stifter der dortigen Ges 
meinde, welche Act. 11, 19. oi dinonwoevres ano Tg Hliwewg 
Tis ysvonevng ini Irspargp genannt werden. Eichhorn meint, 
der Brief fei an die Sudenchriften gerichtet, welche Paulus und 
Barnabas auf ihrer erften Miffionsreife befehrten; damals fei noch 
fein Streit zwifchen Juden- und Heidenchriften gewefen, welcher 
erft durch die Anmwefenheit des Petrus in Antiochien ausgebrochen 
fei: der Brief fei alfo zwifchen diefe erften Anfänge und die Be— 
rathungen in Serufalem zu feßen. Aber es müffen doch ſchon 
vorher Gontroverfen fattgefunden haben, und wenn Sacobus an 
diefen Berathungen zu Serufalem befondern Antheil hatte, fo muß 
um fo wunderbarer erfcheinen, daß von diefen Streitigfeiten Fein 
Wort vorkommt. Und wenn am Ende Paulus gar felbft der 
Träger des Briefs gewefen fein follte, wie follte es dann zugehn, 


m 


Ueber die Zeit des Jacobusbriefes. 421. 


daß er in demfelben gar nicht ae und dag von feinen per= 
fünlichen Verhältniffen Nichts angedeutet wird? Was aber die von 
Eichhorn angeführte Verabredung Gal. 2, 9. betrifft, daß Paulus 
und Barnabas den Heiden, Sacobus aber und Petrus dem Suden 


predigen follten, fo ift es eine ganz falfche Anficht der Sache, als 


ob darin ein Verbot gelegen habe, daß von Serufalem aus nicht 
auch zu Heidenchriften dürfte geredet werden. Dann hätten ja 
Paulus und Barnabas auch nicht in die judifchen Synagogen 
gehn dürfen, und die Spaltung wäre dann fehon auf den hoͤch— 
ftien Punct getrieben. Jene Verabredung machte fich. ganz von 
felbft: Antiochien wurde als die Mutterkirche für die helleniftifche 


Berbreitung des Chriftenthums, und Serufalem für die Mutterge- 


meinde der paläftinifchen Miffionen angefehn, und es war natuͤr⸗ 
lich, daß die, welche wegen der Opportunität an den Zempel- 
dienft gewöhnt und an das Gefek gebunden waren, nicht fo ge: 
eignet fein Fonnten, das Chriſtenthum unfer Hellenen zu verbrei= 
ten, wie die Chriften zu Antiochien. Der Brief ftimmt aber gar 
nicht mit den Berhältniffen überein, um aus jener Zeit fein zu 
fünnen; damals war das gute Vernehmen zwifchen Suden= und 
Heidenchriften fo fehr das Hauptintereffe, daß das gänzliche Nicht: 
erwähnen deſſelben dafür fpricht, daß der Brief fpäfer zu feßen 
ift, denn fo zeitig, daß von einem Berhältniffe zwifchen Sudens 
und Heidenchriften noch Nichts zu fagen war, Fonnte ein Brief 
an außerpaläftinifche Sudenchriften nicht gefchrieben werden. Pau: 
lus fand immer für nöthig, wieder auf dies Verhaͤltniß zurüdzus 
fommen. Sehen wir aber auf eine fpätere Zeit, fo war diejenige 
unmittelbar vor und nach der Zerftörung Serufalems allerdings 
eine Zeit, worin dergleichen Prätenfionen in Bezug auf das Ges 


| feß von felbft ein Ende haben mußten. Aber etwas Beftimmteres 


wiſſen wir nicht. 

Mas den In halt des Briefes betrifft, fo ift es ſchwer, eine 
ordentliche Ueberficht zu gewinnen. Schon Luther klagt darüber, 
daß der Verfaſſer Ein: ind Andre wirft, und wenn Eichhorn 
zum Lobe des Briefs fagt, daß die Uebergänge einfach und na- 


422 Inhalt des Sacobuöbriefs. 


türlich find, fo kann ich ihm nicht beiftimmen, da ich fie entwe- | 
der geziert und Fünftlich oder unbeholfen finde, Der erfte Haupt: 
gedanke, welcher eigentlich fchon c. 1, 9. anfängt, ift die Wars 
nung vor der nooonnolnwia. Dies fest voraus, daß Unterfchiede, 
worauf man viel Gewicht legte, in hohem Grade vorhanden ge— 
wefen find, daß es alfo unter den Chriften ſchon Leute von allen 
Ständen gegeben hat. Dies muß freilih in den helleniftifchen 
Gemeinden ziemlich bald der Fall gewefen fein, denn die antio- 
chenifche Gemeinde hätte nicht fo große Miffionsreifen veranftalten 
koͤnnen, wenn nicht reiche Mitglieder darunter waren. Aber wenn 
Sacobus in Serufalem aus fo großer Entfernung Ermahnungen 
über Dinge giebt, die er eigentlich nur aus eigner Anfhauung 
fennen lernen Fonnte, fo mußte er doch dergleichen auch in feiner 
Umgebung vor Augen gehabt haben. Ein zweiter Hauptpunct ift 
von.c. 2,14. an die Auseinanderfeßung des Verhältniffes zwifchen 
niorıs und Loya, wobei man fo oft gefragt hat, wie fich dies 
zu der paulinifchen Lehre verhalte. Es haben indeß ſchon Viele, 
befonders Eichhorn , aus einander gefebt, Daß man nicht zu vor— 
eilig aus diefer Stelle auf eine Kenntniß der paulinifchen Briefe 
fihließen darf. Es Fünnte auch bloß eine Kenntniß der Lehrweiſe 
des Paulus fein, Die er ja in Serufalem aus einander geſetzt 
hatte. Nun ift aber merkwürdig, daß bier gerade daffelbe Beifpiel 
für die Werke gebraucht wird, was Paulus für den Glauben an— 
wendete, nemlich daS des Abraham; ja es wird auch die Rahab 
als Beifpiel angeführt, was auch Hebr. 11, 31. vorfommt. Soll 
alfo wegen Abraham auf die paulinifchen Briefe recurrirt werden, 
fo muß wegen Rahab aufden Hebräerbrief recurrirt werden, unfer 
Brief würde alfo in eine fehr fpäte Zeit fallen. » Unter jüdifchen 
Lehrern war es jedoch fehr gewöhnlich, das Beifpiel der Rahab 
anzuführen, fo daß wir hierin alfo nicht eine Bezugnahme auf 
den Hebräerbrief fehn koͤnnen; den Abraham aber gebrauchte Pau 
lus nicht bloß ald Beifpiel, fondern er bezog feine ganze eigen- 
thümliche Lehrweife auf venfelben,, indem er auf ihn den eigent- 
lichen Bund des Volkes mit Gott zurücdführen wollte, während 


‘% 


Inhalt des Sacobusbriefs. 425 


er das Geſetz als zwifcheneingefommen betrachtete. So konnte 
alfo diefe Bezugnahme des Paulus auf Abraham leicht bekannt 
fein. — Wenn es nun im Briefe heißt: „der Glaube ohne Werfe 
ift todt“, fo ift dies daffelbe, wie wenn Paulus den Glauben als 
durch die Liebe thatig fest; und unfer Verfaffer verfteht unter den 
Werken nicht die gefeßlichen Werfe als vorgefchriebene, fondern 
die aus dem Glauben hervorgegangenen, und es find alfo eben 
die Werfe der Liebe. Der Begriff der wiorıc ift aber. ein andrer, 
als bei Paulus, da fie c. 2, 19. auch den Zeufeln zugefchrieben 
wird, während es bei Paulus das Vertrauen auf die göftliche 
Berheißung ift, und nie würde diefer gefagt haben, daß der Mo— 
notbeismus an fich der wahre Glaube fei. Wenn alfo eine genaue 
Beziehung auf die paulinifche Theorie hier wäre, fo müßte das 
Ganze anders geftellt fein. Das av nıozevsıg oTı 0 Deog eig 
gotıv , das Princip des Monotheismus, fteht wieder in genauem 
Berhältniffe damit, Daß die innere Ueberfchrift bloß das allgemein 
Monotheiftifche bezeichnet, nicht aber das Chriftliche. Hier fcheint 
alfo die Richtung gar nicht auf die paulinifche Lehrweife zu gehn, 
fondern auf das, was auch Paulus an den Suden: als folchen 
tadelt, nemlich daß fie glaubten, durch die ihnen anverfraute Er— 
kenntniß Gottes und des Gefehes gerecht werden zu Fünnen. So 
ließe fi) auch denken, dag Abraham und Rahab als flehende Be— 
weife hineingefommen find, Letztere, weil fie Heidinn: war , Erfte- 
rer wegen der Werke. So fiheint es alfo möglich, daß hier durch— 
aus gar Feine Notiz von der paulinifchen Theorie zum Grunde 
liegt, und dies würde allerdings wieder für eine fehr zeitige Ab- 
fafjung des Briefes fprechen, denn wenn der Verfaffer von der 
Selbftgenügfamkeit der Erfenntniß ohne die Ausübung reden wollte, 
ſo hätte er zu einer Zeit, wo die paulinifche. Theorie im Umlauf 
war und Wurzel gefaßt hatte, es nicht auf dieſe Weiſe thun 
fünnen, ohne letztere zu berüdfichtigen. Wäre aber. hiernach der 
. Brief früher, fo koͤnnte er nicht in die außerpaläftinifchen. Gegen 
den gerichtet fein, was doch in der Ueberfchrift zu Liegen fcheint. 
So fommt man alfo "dur die eine Indication immer zu einer 


424 Inhalt des Jacobusbriefs. 


andern Vermuthung, als durch die andere; und dies iſt dem 
Ganzen keineswegs guͤnſtig und kann leicht auf die Vermuthung 
bringen, daß es mit dem Briefe ſo geweſen, wie Hieronymus 
ſagt, ab. alio quodam sub nomine ejus edita asseritur. Nun iſt 
das gar nicht zu läugnen, was Luther über den Brief fagt, daß 
ihm die rechte evangelifche Art fehle. Es ift wirklich die Erwaͤh— 
nung im Anfange des 2. Gap. und fpäterhin der Bezug auf die 
Wiederkunft des Heren c. 5, 7. das einzige eigentlich Chriftliche, 
wogegen bie erfte Ermahnung und die Warnung vor noocnno- 
Ampio fehr gut von einem jüdifchen Oberften an die Synagoge 
ergehen konnte. Im zweiten Theile (c. 3,1. bis c. 4, 12.) iſt 


die Polemik gegen einen egoiftifchen Wetteifer der eigentliche Hauptz 


gedanke. Andere faffen dies freilich anders, aber wenn man nicht 
das Ganze in mehrere kleine Stüde zerreißen will, fo kann ich 
es nicht anders, al fo, anfehn. Dies ift ebenfalls nichts’ fpeciell 
Chriftliches. Nur im lebten Theile (c. 4, 13. bis c. 5, 12.) liegt 
allen Ermahnungen die Nüdficht auf die napovoie Tod xvolov 
zum Grunde. Dies ift offenbar die Vorſtellung eines Ehriften, aber 
es ift fo wenig, wie möglich, von dem eigenthümlich Chriftlichen 
darin, fo daß es den Character des noch nicht völligen Gefchie= 
denfeins des Judenthums vom Chriftentbum zu haben feheint. 
Zuletzt (c. 3, 13—20.) folgen noch einige befondere Ermahnungen 
ohne beftimmten Character, 

Es ift gar nicht Teicht, auf ein einfaches Nefultat zu fommen. 
Wollen wir, der ISndication des Namens folgend, die Schrift in 
die eigentlich canonifche Zeit der apoftolifhen Schriften feßen, fo 
muß fie, da fie an Nationaljuden gerichtet ift, in die frühefte Zeit 
fallen, als noch kein Verhältnig zwifchen Suden = und Heiden— 


Hriften ftattfand. Aber dann koͤnnen nicht Sudenchriften außerhalb 


Palaͤſtina's gemeint fein, denn diefe wurden nur zugleich mit Hei— 
den befehrt, und fo war von Anfang an jenes Verhältniß gegeben, 
worauf Jeder, der um diefe Zeit an Sudenchriften fchrieb, eingehn 
mußte. Da ſcheint mir alfo Nichts übrig zu bleiben, als entwe- 
ber anzunehmen, daß der Brief aus einer ganz fpäten Zeit fei, 


Beziehungd, Zuſchrift im Jacobusbrief auf paläftinifche Sudenchriften. 425 


oder ihm eine ganz andere Nichtung zu geben. Was kann zeis 
Öuden® gYvAais rar 2v 75 daonogg heißen? Es war dafür 
ein beftimmter Sprachgebrauch. Aber wie verhält es fich mit der 
Eintheilung der 12 Stämme zur Zeit Chrifli? Sie war feit der 
Nückehr aus dem Eril gar nicht mehr vorhanden, und wie die 
Suden, welche fich zerfireuten, ihre Stammdifferenz aufbewahrt 
haben follten, ift fehwer nachzumweifen. Aber wenn dies Bewußt: 
fein auch geblieben wäre, und die 12 Stämme ihre Nealität noch 
hatten: fo waren doch auch die, welche in Waläftina wohnten, 
unter einander zerftreut, denn der Begriff des Stammes Fnüpfte 
fih in der ganzen eigentlich biftorifchen Zeit der Suden an die 
Landeseintheilung. Nun war aber gar nicht möglich, daß bei der 
Ruͤckkehr aus der Gefangenfchaft diefe Eintheilung wieder geltend 
gemacht wurde, denn nur die Stämme, welche zum Königreich 
Suda gehörten, Eehrten in Maſſe zurüd, nicht die, welche zu 
Iſrael gehörten. So vertheilten fich diefe über das ganze Land, 
und wenn man alfo den Begriff der 12 Stämme genau fefthält, 
fo waren alle in der dıuomoog ; das Land war nicht in derfelben. 
Eintheilung geblieben, und die Abftammung dabei ganzlich vernach- 
laffigt worden. So bliebe es möglich, daß der Brief an palaͤſti— 
nifche Sudenchriften gerichtet ift und doch folche Ueberfchrift haben 
Fonnte. Wer eine folche Ueberfchrift wählte, müßte dabei bie 
Bergleichung der alten Zuftände im Sinne gehabt haben; davon 
verräth fich freilich im Briefe Nichts, indeß möglich bleibt es im— 
mer. Dann läßt ſich der Brief als ein folder denken, der von 
den Heidencdhriften gar Feine Notiz nimmt, aber die Entftehung 
und Verbreitung chriftlicher Gemeinfchaften im Auge hält. Alle 
Ermahnungen darin find recht wohl für einen folchen Zuftand ges 
eignet. Das bleibt allerdings wahr, daß, wenn man die Hin- 
weifung auf Chriſtum als die Quelle eines neuen höhern Lebens 
als die eigentlich evangelifche Art auffaßt, diefe dem Briefe fehlt, 
und wenn man dies alö die eigentliche Kraft einer hriftlihen Zus 
Iprache anerfennt, fo wird man auch nicht viel dagegen einzu: 
wenden haben, daß Luther ihn einen ftrohernen Brief nennt. Dies 


426 Sprace des Briefes Jacobi. 


deutet auf eine Auffaffung, aus welcher nachher das ebionitifche 
Shriftenthum Tann entftanden fein, und wenn ich den Brief 
in diefem Berhältniffe denke, fo wird er mir ein rechte$ Exempel 
davon, Aber dabei entfteht fogleich ein großer Zweifel. Nemlich 
von einem folchen Briefe eines Judenchriſten an feine paläftinifchen 
Stammgenoffen würde man erwarten, daß er aramäifch abgefaßt 
wäre. Die Verſuche aber, die man bei neuteftamentlichen Schrif- 
ten gemacht hat, Spuren der Uebertragung aus dem Aramäifchen 
nachzuweifen, gelingen bei diefem Briefe noch weniger, als bei 
den paulinifchen; auch die Structur ift nicht aramäifch. So 
fann man nicht umhin, den Brief für ein griechifches Original 
zu halten. Man darf aber nicht glauben, daß das Griechiſche in 
Palaͤſtina unbekannt war; es gab in Serufalem helleniftifche Syna= 
gogen, wo alfo natürlich die LXX. tractirt wurden, und in Ga— 
Iilia gab es viele nicht zum juͤdiſchen Volk gehörige Einwohner, 
und ebenfo in Perda und Decapolis. So würde eine aramäifche 
Schrift, welche für. diefen ganzen Umfang beftimmt war, nicht 
überall verftändlich gewefen fein; wogegen man wohl überall eine 
gewiffe Kenntniß des Griechifchen vorausfegen konnte. 

Eichhorn fchreibt dem Verfaſſer eine gewiffe Gewandtheit im 
Griechiſchen zu; aber dem Fann ich gar nicht beiftimmen. Paulus 
befit eine weit größere Gewandtheit, und wenn man dem Jo— 
bannes auch eine folche nicht eben beimefjen Fann, fo fließt ihm 
die Sprache doch wenigftens natürlid. Bei Jacobus dagegen ift 
eine fo große Künftlichfeit, welcher doch Feine Abfichtlichkeit zum 
Grunde liegen kann, daß man fieht, daß dem Verfaſſer die Sprache 
fremd if. Es ift faum der Mühe werth, Einzelnes dieferhalb 
hberauszuheben, denn ich glaube, daß Jeder dieſen Eindruck be— 
fommen wird, der den Brief unbefangen lieft. Doch will ich ein 
paar Beifpiele anführen, um zu zeigen, was ich bei diefem Urtheile 
im Auge habe. Gap. 1,2. ift orav srergwogoig megrneorre Nor- 
zilors ein unbeholfener Ausdrud, denn srorzilos paßt nicht zu 
srergaosıos und das Berbum auch eigentlich nicht, denn das Ei- 
genthümliche in Beidem kommt nicht zur Geltung, und nur bei 


Auffallende Behandlungsart der Gegenftände im Sacobuöbriefe. 497 


einer gewiffen Dürftigkeit des Gedaͤchtniſſes in einer Sprache läßt 
fich eine folche Anwendung unpaflender Ausdrücke denken. Cap. 1, 
17. ift nao@Adayy ein gewöhnlicher Ausdrud für das Uebergehn 
aus dem Hellen in das Dunkle; aber roonyg anooxiaoıe, eine 
Spur (fo erklären wenigftens die Lericographen das Wort) von 
Wendung, ift daffelbe wie nagaidayy und ein höchit gefünftelter 
Ausdrud, weil anooniaore, was hier eine andere Bedeutung 
hat, wieder in dad Gebiet von Schatten und Licht fällt. Ebenſo 
ift V. 18. amexvnosv vom Geborenwerden aus dem Wort der 
Wahrheit fehr unbeholfen, da es mehr an das Schwangerfein er: 
innert und fich weniger zum uneigentlichen Gebrauche eignet, als 
ainceıw. So würde alfo der Character der Sprache fehr zu jener 
Vorausſetzung paffen. Es wird alfo noch mehr wahrfcheinlich, daß 
der Brief aus der erften Zeit des Chriftenthums ift, aber daß bei. 
dem Verfaffer mehr die Auffaflung vorwaltete, aus welcher nach— 
her das Ebionitifche entftand, fo daß ihm der jüdische Monotheis- 
mus die Hauptfache war, und das Chriftentbum nur die voll 

fommenfte Ausbildung defjelben. Dann aber Fann man fich fchwer 
denken, daß dieſer Sacobus derfelbe gewefen, der unmittelbarer 
Schüler Chrifti und Apoftel war, auch nicht der, welcher nachher 
Biſchof von Serufalem ward und fo fehr für die ker des 
Chriſtenthums unter den Heiden war. 

Sehen wir wieder auf den Inhalt des Briefs und die Be— 
handlungsweife der. Gegenftände, fo machen diefe denfelben Ein— 
drud, wie die Sprache. Manches ift darin, was durchaus einen 
aͤußerlichen, wunderlichen Typus hat ohne einen innern Gehalt 
und eigentliche Kraft. Cap. 4, 13—15. fieht man offenbar Einen, 
der an Juden fchreibt; da lauft das Ganze darauf hinaus, daß 
in den. gewöhnlichen Dingen die VBergänglichkeit des irdifchen Le— 
bens und die Abhängigkeit von Gott ihnen nicht fo gegenwärtig 
ift, daß fie es ausfprächen. Aber dies Bewußtfein Fann man 
wohl haben, ohne es auszufprechen, weil es fich von felbft ver- 
fteht; jene Worte find alfo inhaltslos. Vieles ift Wortſchwall, fo 
Gap. 5,1—6., wo den Reichen folche Vorwürfe gemacht werden, 


428 Hypothefe,daß ein Späterer im Namen d. Sacobus d. Brief gefchrieb. hat. 


die man doch Chriften nicht eigentlich follte zu machen brauchen ; 
dabei kommt der VBerfaffer auf das Innere, die Sinnesänderung, 
gar nicht. In der befannten Diatribe über die Zunge c. 3,1 ff. 
ift der Wortfchwall und die mangelhafte Anknüpfung befonders 
auffallend. Die Bilder find gar nicht recht paflend, und es iſt 
erfiaunlich wenig Zufammenhang. — Wenn man nun dies, was 
ziemlich durch den Brief hindurchgeht, betrachtet, fo feheint es mit 
ihm überhaupt eine andere Bewandiniß zu haben, man müßte 
denn die ungewöhnliche Behandlung mit auf die Unbeholfenheit 
in der Sprache fchieben. Es entfteht die Anficht, daß der Brief 
ein fpateres Product und eigentliches Machwerk ift, d. h. ohne 
zugleich eine That zu fein, und ohne daß der Verfaffer fich ein 
beftimmtes Publicum gedacht hat. 

So: haben wir zwei Hypothefen über den Brief, die fich ent- 
gegenftehn und beide Vieles für fi) haben, die eine, wenn man 
von den aͤußern Indicien ausgeht und das betrachtet, was im 
Briefe nicht behandelt ift, die andere, wenn man auf das fieht, 
. was im Briefe wirklich behandelt wird, und darauf, wie der Zu- 
fammenhang im’ Ganzen iſt. Es frägt fih, ob es nicht etwas 
Drittes. giebt, worin ſich Beides vereinigen läßt; und das iſt al: 
lerdings der Fall, wenn man ſich eine Beziehung des Einen auf 
das Andere denft und bei der Stelle des Hieronymus ftehn bleibt, 
daß. Einer den Brief im Namen eines Andern edirt habe. Dahin 
gehören alle: die Fälle von zweifelhaft gemachten Briefen in une 
ſerm neuen Zeftament: wenn der zweite Brief Petri nicht von 
Petrus ift, fo hat ihn ein Anderer in feinem Namen edirt, und 
ebenfo, wenn die drei Paftoralbriefe nicht von Paulus find. Beim 
erftien Briefe an Timotheus habe ich mir das fo erklärt. daß der 
Verfaffer fich bewußt gewefen ift, fich lauter paulinifche Gedanken 
angeeignet zu haben, und deshalb ihm den Namen des Paulus 
nach damaliger Methode vorgefest hat. Wenn wir uns nun den: 
fen, daß Semand unfern Brief im Namen des paläftinifchen Apo— 
ſtels Jacobus gefchrieben und Erinnerungen aus feinen Vorträgen 
nicht auf die glüdlichfte Weife und in einer Sprache zuſammen— 


Ueberficht der canoniſchen Dignität der 7 Tath. Briefe, 429 


geftelt hat, die ihm felbft nicht geläufig war: jo erklärt fich da- 
durch Alles auf eine Weife, welche zugleich durch die ältejte pa— 
triftifche Angabe unterftüßt wird, und dies ift die Annahme, bei 
der ich am liebften ftehn bleibe, um die er und Abfaffung 
diefes Briefs zu erflären. 


$. 100. 


Penn wir nun eine Zufammenftellung machen, wie fi) die 
fieben Fatholifchen Briefe zu ihrem canonifchen Anfehn verhalten, 
fo würde die Sache fo zu ſtehn kommen, daß 1. Soh. und 1. Petr. 
am meiften Wahrfcheinlichfeit für fich haben, den Apofteln anzu— 
«gehören, denen fie zugefchrieben werden, und zwar 1. Soh. noch 
mehr, als 1. Petr.; dagegen 2. Soh., Sud. und Sacob. find wohl 
niht apoftolifche Briefe, aber man kann ihnen nicht abfprechen, 
“ eigens erlaffene Briefe zu fein, die fich auf Abweichungen und Un— 
ordnungen in der Kirche beziehn. 2. Petr. und 3. Soh. feheinen 
am. wenigften etwas Aechtes an fich zu haben; 3. Soh. macht zwar 
Feinen Anfpruch, dem Apoftel anzugehören, ftellt fich aber wie 
2. Soh. und ift ein mehr rhetorifch als practifch entftandenes Pro— 
duct. Daffelbe muß von 2. Petr. gefagt werden, befonders in 
Beziehung auf Sud. — Gehn wir darauf zurüd, daß 1. Joh. 
und 1. Petr. allein das ältefte Zeugniß, das wir kennen, für fich 
haben, daS des Papias, fo find Diefe allein als protocanonifch 
anzufehn. Der Sacobusbrief ift zwar zeitig in den Canon ge= 
fommen (fhon in der Vefchito), da er aber immer ftreitig gewe- 
fen ift, fo ftellt er fich mehr zu den zweiten, als zu den erften. 
Wenn fein Snhalt aus den Vorträgen eines apoftolifchen Sacobus 
genommen, die Zufammenfeßung aber eine fpätere ift, fo behält 
fein Inhalt den Anſpruch, einer apoftolifhen Zeit anzugehören, 
die Schrift felbft aber Fann dem 1. Soh. und 1. Petr. nicht gleich- 
geftellt werden. 

Nehmen wir aber einmal alle Fatholifchen Briefe zufammen 
und fragen nach ihrer canonifchen Dignität, wenn wir fie als 
eine eigne Abtheilung neuteftamentliher Schriften betrachten, fo 


430 Eigenthümliche Lehren der Kath. Briefe. 


enthalten fie wenig Eigenthümliches, das fo in das Weſen ber 
hriftlichen Lehre hineingehörte, daß uns ohne diefe Briefe ein ur- 
fprüngliches Document dafür fehlen würde. Sie erfcheinen alfo 
gewiffermaßen: als entbehrlich. Dabei haben fie aber alle etwas 
an fich, wovon man, wenn man ed auch al3 canonifch annimmt, 
doch Eeinen Gebrauch machen kann. Dies gilt fogar von den 
beiden Briefen, die wir obenan ftellen. So hat 1. Joh. den 
Begriff einer Sünde zum Tode, was ein Punct für die chrift- 
liche Moral: wäre als Parallele zu der Stelle von der Sünde wi- 
der den heiligen Geift. Aber wir Eönnen diefe Stelle in der chrift- 
lichen Lehre nicht anwenden, da der Begriff gar nicht beftimmt 
ift, und die Auslegung alfo immer nur willkürlich fein würde. 
Angenommen, diefe Stelle bezöge fich auf einen mündlichen Unter: 
richt zurüd, wie es wahrfcheinlich ift, fo find wir nicht im Stande, 
diefe Aeußerung fo zu benugen, wie die urfprünglichen Leſer, da 
jener. uns fehlt. — Der erfte Brief Petri hat die befannte Stelle 
von der Predigt an die Geifter im Gefängnißg, woraus man 
ein Dogma zu machen gefucht hat, fofern im apoftolifhen Sym— 
bolum die Stelle von der Niederfahrt Chrifti zur Hölle fich dar— 
auf fiüßt, obwohl es noch zweifelhaft ift, ob e3 neben dem sepul- 
tus nicht doppelter Ausdrud für daffelbe ift, da es in den älteften 
Formen diefes Bekenntniffes fehlt, Aber immer wäre es doch nicht 
ein eigentlicher Lehrfaß, fondern ein Punct in der geheimnißvol- 
len, verborgenen Gefchichte Ehrifti zwifchen feinem Tode und fei- 
ner Auferftehung. Aber fo wie diefe Vorftelung dort ausgeführt 
ift, läßt fie fich durchaus nicht firiren. — Aehnlich ift Sar. 5, 14. 
15. die Stelle von dem Gebet und der Salbung der Kran: 
fen. Wenn man fagt, daß daraus die römifche Kirche ihr Sa— 
crament der lehten Delung gemacht hat, fo wäre das doch mit 
dem ganzen Zufammenhang der Stelle im Widerfpruch, denn hier 
ift es ein Heilmittel, während die letzte Delung in der Fatholi= 
fhen Kirche ein Sterbefacrament ift. Alfo ift dies doch auch et— 
was, was wir lediglich jener Zeit zurüdgeben müfjen und nicht 
als eine allgemeine Vorſchrift anfehn Eünnen. 


Begriff des Canons überhaupt. 431 


Menn wir alfo fagen müffen, unentbehrliche Stüßen für die 
ehriftliche Lehre und Ausfprüche, wodurch andere chriftliche Lehr: 
ftüde in ein beftimmtes Licht gefeßt werden, haben’ wir in diefen 
Briefen. nicht, und dazu haben fie alle etwas, was aus dem Ge— 
meingebiet der chrifilichen Lehre herausgeht, fo folgt, daß fich nicht 
behaupten läßt, daß es ein großer Schaden gewefen wäre, wenn 
diefe ganze Abtheilung in unferm Ganon fehlte. Daraus will ich 
- aber weiter gar. Nichts fchließen, als daß der Begriff des Canons 
biftorifch aufzufaffen und nicht aus der Nothmwendigfeit des In— 
balts entftanden if. Von Zürüdweifen einzelner Schriften aus 
dem Canon ift daher gar nicht die Rede. 

Die große Genauigkeit, mit‘ welcher Eufebius überall, wo 
er von Schriften älterer Zeit fpricht, fi bemüht, nachzuweiſen, 
aus weldhen Schriften die älteren Lehrer Zeugniffe genommen 
haben, ift alö eine Gefinnung der älteren Kirche der Grund der 
Unterfcheidung, die man zwifchen Proto- und Deuterocanonifchem 
gemacht hat. Auch in neuerer Zeit hat man die Regel aufgeftellt, 
aus deuterocanonifchen Schriften Feine Glaubensartifel zu begrün- 
den, welche nicht auch in den profocanonifchen Schriften enthalten 
find. Dies ift eigentlich daffelbe, was ich gefagt, daß fie feinen 
eigenthuͤmlichen canonifchen Werth haben, infofern man ihnen Feine 
normale Dignität beilegt. 


Fuͤnftes Gapitel, 
Der Hebräerbrief, 


$. 101. 

Den Brief an die Hebräer habe ich nicht gleich nad) 
den paulinifchen, fondern erft hierher geftellt, weil er in Beziehung 
auf den Canon in einem gewiffen Berhältniffe zur Apocalypfe fteht. 
Denn wenn die fatholifchen Briefe größtentheils als deuferocano- 
nifch angefehn werden, fo dürfte man diefe beiden Schriften gleich- 
fam hemicanonifch nennen, da jede von ihnen durch die andere 
canoniſch geworden iſt. Da die lateinifche Kirche den Hebräerbrief 


432 Verhältniß des Hebräerbriefs zum Canon. 


nicht annahm, die griechifche aber die Apocalypſe nicht, fo brachte 
Hieronymus den Hebräerbrief in den lateinifchen Canon, während 
ziemlich um diefelbe Zeit die Aporalypfe in den griechiſchen auf- 
genommen ward, ohne daß dadurch der Zweifel aufhörte, ob er- 
fterer dem Paulus, letztere dem Johannes angehüre. Die. neues 
ven Gritifer haben dies. freilich nicht fo anerkannt und oft: die 
Aeußerungen, welche Zweifel gegen die Apocalypfe vorbrachten, nicht 
gehörig gewürdigt, und ebenfo fcheint man zu voreilig aus der 
Aufnahme des Hebräerbriefd in den Canon auf die Anerkennung 
feines paulinifchen Urfprungs gefchloffen zu haben. Wir finden 
auch in der griechifchen Kirche bei Clemens von Alerandrien und 
Drigenes beftimmte Zweifel, ob der Hebräerbrief von Paulus fei, 
aber keineswegs ift derfelbe deswegen nicht in der Kirche gebraucht 
worden. 

Bis jet herrfchen über diefen Brief in Beziehung auf faft 
alle Puncte, welche die neuteftamentliche Critik zu behandeln hat, 
entgegengefekte Meinungen. Die Fragen, von wen, an wen, in 
welcher Grundfprache und wann er gefchrieben ift, find immer 
noch flreitig. | | 

Um nun zu fehn, wie die Sache fteht, wollen wir zuerft 
nad) der Eirchlichen Anerkennung fragen, d. h. nach dem Urtheil 
und der Ueberlieferung der altern Zeit, wobei man immer unter- 
ſcheiden muß, was auf irgend einem Zeugniffe beruhn will und 
alfo Weberlieferung ift, und was eigentlich Urtheil if. Da fcheint 
mir nun die Sache fo zu liegen, daß auch das Xeltefte darüber 
nur Urtheil if, und das Einzige in allen Stellen über den Brief, 
was als Ueberlieferung auftritt, ift bei Tertullian (de pudicit. 
c. 20.), alfo weder fehr alt, noch in einer Gegend, die fhon in 
der frühern Zeit in den größern allgemeinen Firchlichen Verkehr 
gehört hätte. Es heißt: extat et Barnabae titulus ad Hebraeos, 
und utique receptior apud ecclesias epistola Barnabae illo apo- 
crypho Pastore. Das Erfte ift Ueberlieferung, das Zweite Ur- 
teil, denn der Paftor des Hermas war auch früher im Canon, - 
alfo ift diefe Vergleihung zu Gunften unfers Briefs Urtheil Zer- 


Kirchliche Zeugniffe über den Hebräerbrief. 433 


fulliand. Aber wir dürfen gar nicht daraus folgern, daß die 
- Ueberlieferung eine urfprüngliche war, fondern wir müffen nur 
fagen: das Urtheil, daß diefe Schrift dem Barnabas angehöre, 
war im SKreife des Zertullian fo weit verbreitet, daß es ihm als 
Veberlieferung erfchien. 

Die Schrift felbft giebt Feinen Verfaffer an; fie beginnt ohne 
die Formel, womit Briefe anzufangen pflegen, und hat zwar den 
Schluß eines Briefes mit Grüßen und Segenswünfchen, wie die 
- paulinifchen, aber ohne auch hier den VBerfaffer zu nennen. Wo— 
her ift es nun gefommen, daß der Brief fpäterhin lange Zeit für 
paulinifh gehalten ift? Wenn wir fehr zeitig ſchon Zweifel 
an ſolchem Urfprunge finden, fo folgt daraus doch, daß vorher 
Ihon behauptet worden war, daß er paulinifch ſei. Woher fi 
aber dieſe Behauptung fehreibt, wiffen wir gar nicht. Wenn aber 
Drigenes (bei Euseb. h. e. VI, 25.) fagt, der Brief koͤnne 
der Sprache nach nicht von Paulus fein, fondern diefer müfje ſich 
auf irgend eine Weife eines Andern bei der Schreibung deſſelben 
bedient haben: fo folgt daraus, daß, wenn eine irgend fichere 
Ueberlieferung dagewefen wäre, ein Zweifel aus folhen Gründen 
in der damaligen Zeit nicht entflanden fein würde. Allerdings 
läugnet Drigenes nicht ganz den paulinifchen Urfprung, denn er 
fagt, die Gedanken feien paulinifch, aber er behauptet auch Nichts 
"weiter, als einen ſolchen Lehrtypus, alfo daß der Brief aus der 
paulinifchen Schule fei. Bei einer fichern Ueberlieferung würde 
fi der Zweifel nicht fo weit hinausgewagt haben. Gelbft Hie- 
ronymus, ungeachtet er dem Briefe den canonifchen Platz vin- 
dicirt, fagt „Paulus, oder wer fonft diefen Brief gefchrieben ha— 
ben mag”, ferner: „wenn Semand diefen Brief gelten laffen will“, 
und, es fei ungewiß, wer ihn gefchrieben, Einige fagten, Bars 
nabas, Einige, Lucas, Andere, Clemens von Rom. Da ift alfo 
nicht3 Anderes, als die Anerkennung der Schule und dad Abwei- 
fen der Perfon des Paulus. - Photius fagt (bibl. cod. 232.), 
Hippolytus und Srenäaus hätten geläugnet, daß der Brief 
paulinifch fe. — Die Zweifel feßen alfo zwar eine Behauptung 
Einl. ins N. T. | 25 


434 Kirhliche Zeugniſſe iiber den Hebräerbrief. 


voraus, doch nur fo, daß diefe ein Urtheil if. Nun: ift aber 
auch wahr, daß Die Zweifel in fpäterer Zeit wachfen, denn wenn 
wir die alerandrinifche Neihe betrachten, fo fagt Clemens (bei 
Euseb. h. e. VI. 14.), Paulus habe den Brief hebraifch gefchrie- 
ben, und Lucas ihn ins Griechifche überfeßt, während. Origenes 
nur die Gedanken al5 paulinifch anerkennt. Dies beweift aber 
eben nur, daß die Behaupfung des paulinifchen Urfprungs fich 
nicht hat weiter geltend machen. fünnen. 

Wir müffen alfo fuchen, aus innern Gründen zu erforfihen, 
wie die Meinung, daß der Brief von Paulus fei, urfprünglich 
entftanden ift, wenn der Verfaffer fih nicht zu erkennen giebt, 
und eine Ueberlieferung daruber nicht Dagemefen ift. Keineswegs 
‚aber darf die von Tertullian angeführte Meinung, daß Barnabas 
der Berfaffer fei, fo gering angefchlagen werden, wie von Bleef, 
als fei fie doch nur im proconfularifchen Africa verbreitet geweſen 
oder gar nur eine Vermuthung Zertulians. Vielmehr ift fein 
Ausdruck fo beiläufig und fo beftimmt, daß man nicht glauben 
kann, er habe einen Widerfpruch dagegen zu befürchten gehabt ; 
alfo muß er diefe Meinung doch für die allgemein angenommene 
gehalten haben, auch kann fie wohl nicht auf das proconfularifche 
Africa befchränkt gewefen fein, da der Zufammenhang diefer Kirche 
mit den andern lateinifchen zu groß war. Man muß alfo Diele 
beiden Meinungen als die älteften einander gegenüberftellen ; die 
andere, daß Paulus der Verfaſſer fei, war namentlich in der grie= 
chifchen Kirche allgemein. Mit der lektern hängen auch die An— 
fichten über Lucas und Clemens Romanus zufammen, denn fie 
gehn davon aus, daß Paulus den Brief habe durch einen Andern 
fchreiben oder überfegen laſſen. Nun freilih als auf einer ges 
fchichtlichen Weberlieferung ruhend kann man die eine Meinung, 
fo wenig anfehn, wie die andere; wir Eünnen aljo nur fragen, 
was aus der Befchaffenheit des Briefes felbft hervorgeht. Die 
Frage aber, von wem der Brief fei, haͤngt fo genau mit den an— 
dern zufammen, an wen und aus welcher Zeit er fei, daß wir 
diefe nicht von einander trennen dürfen. 


An wen der Hebräerbrief gerichtet fei. 435 


$. 102. Ä 

Es fraͤgt fich alfo zunächft, wer die in der Außern Ueberfchrift 
genannten ‘Zßocios find. Das Wort kommt im engern und 
weitern Sinne vor; urfprünglic) war es Volksname, und daher 
fonnten alle Nachkommen Abrahams jo genannt werden. Aber 
damals wurden Helleniften und Hebräer unterfchieden, obgleich in 
anderm Sinn "Efocior auh die Helleniften bezeichnen Tonnte, 
wenn es dem "Ziiinves gegenüberftand; fo nennt ſich Paulus 
einen “Eßovios 2: "Eßoaiwv, um feine Acht jüdifche Abftammung 
zu bezeichnen, obgleih er wahrſcheinlich ein Helleniſt aus Cili— 
cien war. So ſehen wir alfo ſchon in der Ueberfchrift eine Une 
gewißheit. Sie kann entweder alle Sudenchriften, oder Juden— 
chriften, die nicht Helleniften, fondern in Palaͤſtina waren, be- 


zeichnen. Beide Meinungen haben ihre Vertheidiger gefunden. 


N 


Denken wir uns aber eine Schrift an die Sudenchriften überhaupt 
gerichtet, jo fragt fich, wie ein folches Publicum in Anſpruch 
genommen werden Fonnte. Nur auf dem Wege der gewöhnlichen 
Nublication eines Buchs; dann ift es aber Fein Brief. Wir 
fommen alfo auf die Frage, wie es um das Briefliche in diefer 
Schrift ſteht. Sie fängt an, wie eine Abhandlung , aber der 
briefliche Schluß ift da. Wie verhält fih nun dies Ende zu je= 
nem Anfange? Darüber find auch verfchiedene Meinungen; man 
fann fagen, das Brieflihe findet fich erfi in dem, was man einen 
Anhang zu der Schrift nennen kann, alfo von V. 17. oder V. 18. 
des legten Gapiteld5 an, wo die Anrede in einzelnen Borfchriften 
und Wünfchen conftant fortgeht; da ift eine Art von Schluß fchon 
V. 21., nach welchem noch ein Zufaß folgt. Nach einer andern 
Anfiht aber kann man fagen, daß fich ſchon im Briefe felbft 
folche Anreden finden und Spuren, welche die Aehnlichkeit mit 
einem Briefe gar zu ftark an fich tragen; dies verftärft fich immer 
mehr und tritt alfo am Ende am unverfennbarften hervor. Beide 
Anfichten laſſen fich mit einander vermifchen; man kann fagen: 
der Verfaſſer hat fih unfere Schrift von Anfang an als einen 


Brief gedacht, d. b. er hat beftimmte Lefer im Auge gehabt, 


28.” 


436 Ueber die Form des Hebräerbriefs. 


denen diefe Schrift follte zugefertigt werben; er hat fich aber nicht 
an die gewöhnliche Form gebunden, weil der Inhalt etwas allge- 
mein Scheoretifches war; fo wie er aber diefe theoretifche Abhand— 
lung fchließt und das Paränetifche, was immer ſchon da war, 
mehr heraushebt, fo tritt die brieflihe Form befonders hervor. 
Man Fann aber auch fagen, der Verfaffer hat fich feine Schrift 
nur ald Abhandlung gedacht, welche für ein befiimmtes Publicum, 
doch ohne Iocale Einheit, gelten follte; nun aber kann fich ihm 
am Ende der Schrift eine Gelegenheit ergeben haben, feine Ab- 
handlung an einen beftimmten Ort zu fenden und beftimmten 
Derfonen, die mit zu feinem Publicum gehörten, etwas Befondes 
res zu fagen, und daher Fam erft zu Ende das. Briefliche hinein. 
Da wir nun Nichts haben, was der einen Anficht vor der andern 
den Ausfchlag geben Eönnte, fo Eommen wir noch gar nicht weiter. 

Der Hauptinhalt der Schrift ift eine Vergleihung de$ 
Chriftenthums mit dem Sudenthum von der Sdee des Sudenthums 
aus, nemlich von der Idee des Zempels als Sitzes der befondern 
Gegenwart Gottes für das auserwählte Volk und von der Idee 
des jüdischen Prieſterthums als Vermittlung zwifchen Volk und 
Gott. Durch diefe Vergleihung fol die VBorzüglichkeit des Chri— 
ftenthbums gezeigt werden, Nun geht der Verfaſſer in verfchiedes 
ner Beziehung dabei fehr ins Einzelne. Das Erfte ift eine zwie: 
fache Theorie der priefterlihen Würde, indem er die auf der Ab— 
ftammung beruhende Ievitifche und die aller Abftammung entbeh- 
rende des Melchifedek fich gegenüberftellt und diefe vom Verhaͤlt— 
niffe zu Abraham aus über jene erhebt. Dies ift ganz im Geifte 
der jüdifchen Dialectif und deutet auf einen Verfaſſer, der darin 
geübt ift, und auf ein Publicum, welches das goufiren und ver: 
ſtehn konnte. Das Zweite ift, daß der Verfaſſer auf das Einzelne 
der priefterlichen Verrichtungen eingeht, wie fie an eine beftimmte 
Localität gebunden waren, und diefe ganze Auseinanderfekung - 
hat allerdings den Character, daß der Tempeldienſt als noch be- 
ftehend dargeftellt wird, 3. B. wenn c. S, 4. gefagt wird, wenn 
wir Chriftum bloß auf der Erde betrachteten, fo Fünnfe er gar 


Inhalt des Hebräerbriefs, ; 437 


fein Prieſter fein, denn da beftehn die Prieſter in ihrem Geflecht 
nach den Borfohriften Mofis; Chrifti Aeırovoyia aber wird als 
- eine bimmlifche befchrieben; daffelbe wird in c. 9. gefagt. Dar— 
aus fcheint hervorzugehn, daß die Schrift abgefaßt iſt, ſo 
lange der Tempeldienft noch beftand, und als noch Feine über- 
wiegende Wahrfcheinlichkeit war, daß er aufhören würde, alfo vor 
dem Anfange des jüdifchen Krieges, denn deffen Ausgang konnte 
der Sachkundige wohl vorausfehn. Die ganze Auseinanderfesung 
konnte gar nicht gemacht werden, wenn diefe Einrichtungen, auf 
die ein fo hoher Werth gelegt wurde, fchon aufgehört hatten. 

Sehn wir nun von hieraus, als dem eigentlichen Centrum 
des Briefes, wieder nach den beiden Fragen über den Verfaſſer 
und die Lefer hin, fo müfjen wir in Beziehung auf jene beiden 
alten Meinungen fagen, daß fowohl Paulus als Barnabas recht 
gut das gefchrieben haben kann. Beide hatten diefe Bekanntſchaft 
mit dem jüdifchen Cultus: Paulus hatte diefe rabbinifche Schule 
gemacht und war in diefer Art der jüdifchen Beweisführung ges. 
übt; Barnabas war ein Kevit, zwar von Geburt ein Eyprier, 
alfo ein Hellenift, aber er hatte in Serufalem ein Grundftüd, das 
er bei der Gütergemeinfchaft verkaufte (Act. 4, 36.); als Levit 
mußte er diefe Kenntniß haben und aud einen hohen Werth auf 
das jüdifche Prieſterthum legen. Was die Lefer betrifft, fo hat 
man gefagt, man Tünne nicht bei allen Judenchriſten überhaupt 
ein folches Intereſſe am jüdifchen Tempeldienſt vorausſetzen, ſon— 
dern nur bei den paläftinifchen. Aber dies fcheint mir nicht rich— 
tig zu fein, denn daß damals fo viele helleniftifche. Suden in Se: 
rufalem wohnten, daß fie dort ihre eigne Synagoge hatten, kann 
doch nur im Intereſſe am Tempel, im Wunfche, am Dienft def- 
felben Zheil zu nehmen und in feiner Nähe zu fterben, feinen 
Grund haben. Wenn man dies nicht berüdfichtigt, Fommt man 
freilich leicht dahin, zu fagen, der Brief Fonne nur an paläftinifche 
Sudenchriften gerichtet fein, die den Zempeldienft vor Augen hat= 
ten. Eine beftimmte Entfcheidung läßt fich alfo daraus noch nicht 
geben. 


438 Stif und ganze Anlage des Hebräerbriefs. _ 


Nun fragt fih, was fich etwa aus andern Umftänden ent: 
nehmen laßt, entweder aus der ganzen Behandlungsweife, dem 
Stil, der Sprache, oder aus einzelnen Stellen. Stil nehme ih 
nicht im bloß grammatifchen Sinne, fondern alles, was nicht als 
Gedankenmittheilung, fondern ald Darftellungsmittel und Erläuterung 
darin ift, gehört nebft der Sprache dazu. Wie verhält fih nun 
dies zu Paulus? Die Argumentationsweife Fann, wie fchon ge= 
fagt ift, ihm eben fo gut zufommen, allerdings aber, wenn wir 
etwas mehr ins Einzelne gehn, fo müfjen wir mit dem Urtheil 
der Andern übereinftimmen, daß hier nicht der paulinifche Stil 
iſt De Wette hat ($. 161.) eine große Menge folcher fprach- 
lichen Bemerkungen aufgeführt, und dieſe Zufammenftellung  ift 
fehr gut. Er zeigt, wie ſolche Ausdrüde, die dem Paulus fehr 
geläufig find, im Briefe ganz fehlen, und dagegen Phrafen und 
Ausdrüde vorfommen, die in den paulinifchen Briefen fi gar 
nicht finden. Aber ich glaube, man Fann hierin noch weiter gehn 
und fagen, die ganze Vorftellung, daß Chriftus als Hoherpriefter 
dargeftellt wird, fei nicht in der Art und Weiſe des Apoftels. Sch 
will damit gar nicht behaupten, daß Ddiefer Gedanke ihm nicht 
hätte kommen koͤnnen; aber da in allen feinen Briefen doch aud) 
feine Tendenz ift, daS neue Teflament mit dem alten zu ver= 
gleichen, fo hätte auch dies fehr auf feinem Wege gelegen; aber 
er faßt die Sache immer von einer andern ©eite, ihm ift das 
Gefeß, nicht der Sempeldienft, die Hauptfache bei der Bergleichung, 
und er nimmt weit mehr die Richtung auf die geiſtige Kraft, als 
auf das Symbol. Der ganze Inhalt macht es daher nicht wahr= 


1) Erf. Entw. Daher au die griehifchen Kirchenväter, die den Brief 
als Paulinifch gelten Iaffen, doch davon ausgehn, Paulus habe ihn 
hebräiſch gefigrieben und das griedifche fei von einer andern Hand. 
Allein es müßte dann Feine Heberfezung fein, da das aramäifche fich 
einem folchen Periodenbau nicht fügt, fondern eine Umarbeitung und 
zwar, da der Periodenbau hier fehr in die Gedanfenftellung eingreift, 
eine folhe, daß der Mmarbeiter ihn auch ebenfogut könnte gefrhrieben 
haben. 


Nach innern Zeichen Tann weder Paulus noch Barnabas d. Verf. fein, 439 


fcheinlih , daß Paulus den Brief gefchrieben haben folltee Schon 
die Anlage hat etwas dem Apoftel ganz Fremded. Doc Fann 
ich nicht beiftimmen, wenn De Wette fagt, die Anficht über 
Gefeß und Glauben fei im Hebräerbrief anders, als bei Paulus. 
Sn diefer Hinficht ift wohl Fein folder Gegenfaß, daß der Brief 
nicht von Paulus oder einem feiner Schüler herrühren koͤnnte; 
dies flimmt auch mit dem, was Drigenes fagt, überein. Aller⸗ 
dings aber, wenn die Anficht des Paulus über das Judenthum 
diefen Weg eingefchlagen hätte, fo müßte fi eine Neigung dazu 
wohl auch in den andern paulinifchen Briefen zeigen, und deshalb 
kann diefer Brief niht gut von Paulus fein. — Daͤchte man 
dagegen an Barnabas als Berfafler, fo müßte es Seder natürlich 
finden, daß eine gewiffe Uebereinftimmung der Anfichten zwifchen 
ihm und Paulus gewefen fein muß, und dazu mußte er als Le— 
vit befonderes Intereſſe am Zempeldienfi nehmen. Aber es find 
zwei Umftände dagegen. Es giebt noch jetzt einen Brief unter 
dem Namen des Barnabas, welcher feinem ganzen Inhalte nach 
mit dem Hebräerbriefe fehr übereinftimmt, aber doch auf einem ganz 
andern Wege dahin fommt. Der Berfaffer ift nemlich ein Vertheidiger 
der typifchen Erklärung aller jüdifchen Einrichtungen im Gegenfaß 
gegen die buchftäbliche und fieht diefe letztere als Grund des Ver— 
derbens des Judenthums an. Ganz anders im Hebräerbrief, wo 
vielmehr das Buchftäbliche als das Richtige angefehn wird, aber als 
ein Uebergang zum Chriftlichen, der für fich nicht genügt. Nun 
ift freilich der unter dem Namen des Barnabas vorhandene Brief 
noch beftritten, und man Fann das alfo nicht als eine völlige Ein- 
wendung anfehn und es nur fo ftellen: wenn diefer Brief von 
Barnabas ift, fo Fann der Hebräerbrief nicht von ihm herrühren. 
Mollte man aber jenen Brief des Barnabas für unächt erklären 
und dagegen den Hebräerbrief als von ihm verfaßt anfehn, fo ift 
ein anderer Umftand dabei wohl zu beachten, ven auch Bleek her- 
vorhebt. Wenn man nemlic das Verhältniß des Paulus zu Bar- 
nabas in der Apoftelgefchichte genau betrachtet, fo geht daraus 
hervor, Daß Paulus dem Barnabad im Gebrauch der Rede uͤber— 


440 Weder Paulus noch Barnabas kann Verfaffer des Hehräerbriefs fein, 


legen gewefen ift, denn überall tritt Paulus ald der redende, thä- 
tige auf Y. Dagegen zeigt der Hebräerbrief eine weit -größere 
Gemwandtheit in der Sprache, als die paulinifchen Briefe. Nun 
kommt freilih daS wohl vor, daß Semand im mündlichen Spre- 
chen nicht fehr fertig ift und doch in der fehriftlichen Nede vor: 
züglih. Alſo ift auch dies Feine hinlängliche Ginwendung gegen 
die Abfaffung des Hebräerbriefs durch Barnabas. Nun aber ift 
auch im Briefe felbft eine Stelle, welche fehr beftimmt gegen 
Barnabas zu fprechen feheint, nemlih Gap. 2,3. Es ift of- 
fenbar, daß Keiner von den Zwölf das gefchrieben haben kann, 
aber eben fo wenig Paulus oder Barnabas, denn Ddiefe waren 
Eoetanen der Apoftel, und es war Feine Zeit zwifchen denen, die 
Shriftum gehört hatten, und jenen verfloffen. Auch hebt Paulus 
e5 immer beflimmt hervor, daß er fein Chriftenthbum nicht von 
den andern Apofteln habe; Barnabas aber war in Serufalem an— 
faffig, wo er als cyprifcher Levit wahrfcheinlich die Tempelgeſchaͤfte 
feiner Landsleute beforgte, und hat alfo wahrfcheinlich Chriftum 
felbft gehört; er gehörte zu den erften Mitgliedern der Gemeinde 
zu Serufalem. Wenn man aber aus jener Stelle hat fihließen 
wollen, daß diejenigen, an welche der Brief gerichtet war, nicht 
die Apoftel zu Lehrern gehabt haben Fönnen, fo folgt das Feines- 
wegs daraus, denn es kann ja die zweite Generation gewefen fein. 
Nur der Berfaffer felbft kann nicht Zeitgenoffe der Apoftel fein. 
So werden alfo die beiden älteften Meinungen über den Urſprung 
des Briefs befeitigt. . 


$. 103. 

Es fragt fich, ob fih nun noch irgend Etwas über den Berfaffer 
des Hebräerbriefs vermuthen läßt. Die Art, wie Lucas ?) und 
1) Bergl. Act. 14, 12. 
2) Erfi. Entw. Man Eann wohl fagen, wer die Eingänge des Lucas. 

geichrieben hat, könne möglichermweife des Stils wegen auch diefen Brief 
gefchrieben haben; aber das ift auch alles und pofitiveres läßt fich bei 
einer fo Heinen Probe nicht fagen, Aber es ift fein Grund vorhanden, 


Bermuthungen über den Berfaffer des Hebräerbriefs. 441 


‚Clemens ?) als Verfaffer angefehn werden, zeigt, daß diefe Mei- 
nung der, daß es Paulus fei, fo untergeordnet ift, daß von ihr 
nicht mehr die Rede fein Fann. Man hat gefagt, ein bedeutender 
Mann in der Kirche muß der Berfaffer auf jeden Fall gewefen 
fein nach dem Eindrude, den der Brief ganz natürlich macht, und 
da diefer vor dem jüdifchen Kriege gefchrieben fein muß, fo ift 
wahrfcheinlih, daß es ein Mann fei, von welchem die Apoftelge- 
ſchichte Spuren enthält. Aber einen Einzelnen beftimmt heraus: 
zuheben, ift doch ganz willfürlih. So haben Einige den Silas, 
Andere den Aquila genommen; von Zimotheus Fonnte nicht füge 
lich die Rede fein, weil er im Briefe felbft vorfommt. Aber was 
wir von dem Einen und dem Andern wiffen, enthält keinen ir— 
gend näheren Fingerzeig. Eine andere Meinung ift feit Luther 
aufgefommen, nemlich daß Apollos der Verfaſſer fei, welcher feit- 
dem Biele beigetreten find. Doch zuvor will ich noch einen Um— 
fand betrachten, wegen deſſen Bleek den Silas und Andere aus 
Serufalem als VBerfaffer abweifen will. Der Zempel wird nem- 
lich im Briefe fo befchrieben, wie ihn Salomo gebaut hatte; nun 
aber erzählt Sofephus, daß nach der erjten Zerfiörung des Tem— 
pel3 das Allerheiligfte leer war, weil Alles geraubt war; es müffe 
alſo, fagt Bleef, wer aus Serufalem war, den Zempel und 
den Gottesdienft genau Eennen, ein Solcher alfo Eönne das Al— 
lerheiligfte fo nicht befchrieben haben. Aber dies fcheint mir nicht 
fo zu fein. Erſtlich Fam es dem Berfaffer bloß darauf an, den 
Tempeldienſt in feiner Herrlichkeit darzuftellen und doch das Chri- 
ſtenthum darüber zu feßen; er Eonnte alfo, wenn er auch die 
Beranderung recht gut mußte, doch es überfehn, daß durch die 


dem Lucas eine ſolche Beſchäftigung mit dem Zudenthum zuzutrauen. 
Aber wenn er fih — mit Paulus in Serufalem — damit befchäftigt, 
fo würde er nicht etwas ing Allerheiligfte gefezt Haben, wag nicht mehr 
darin war. | 

1) Erf. Entw. Clemens Rom. hat in feinem Briefe Stellen, die dem 
Hbrbr. ähnlich find; allein fie find auch wahrſcheinlich demſelben ent- 
nommen und dag übrige ftellt Feine Aehnlichkeit dar. 


442 Ob der Hebr.br. an die Gemeinde zu Serufalem gerichtet fein könne. 


Schuld der ungünftigen Umftände nicht Alles mehr in derfelben 
Art war. Ferner aber ift auch ungewiß, ob das unter dem Volke 
fo befannt war, da das Allerheiligfte nicht betreten werden durfte. 
Sm Salmud finden wir zwar eine Tradition, daß die Bundeslade 
und daS Uebrige von Seremias gerettet fei und zur Zeit des Meſ— 
fias wieder zum Vorſchein Fommen follte; aber außer bei den 
Nabbinen braucht diefe Zradition nicht fo befannt gewefen zu 
fein }). : 

Ehe ich mich aber über die Hypothefe über Apollos näher 
erkläre, muß ich noch einmal auf die Frage zurüdgehn, wer die 
“EBoeioı gewefen find, oder wenn wir die Ueberfchrift als unächt 
anfehn, welche Xefer eigentlich angeredet werden. Denn es giebt 
auch Stellen, welche zu zeigen fcheinen, daß die Chriften in Se . 
rufalem nicht gemeint fein fünnen, befonders Gap. 12, 4.: Shr 
habt noch nicht bis aufs Blut widerfianden im Kampfe gegen die 
Sünde und habt doch fchon des Troſtes vergeffen, der euch als 
Söhne Gottes anfpricht. Da fagt man, diefe Stelle beweife, daß 
die Angeredeten noch Feine eigentlichen Verfolgungen erfahren, nod) 
feine Märtyrer unter fich hatten. Dagegen giebt es freilich andere 
Stellen (10, 32.), wo eben denfelben gefagt wird, fie wären 
ebenfalls fchon durch Allerlei hindurchgegangen, und theild hätten 
fie felbft Befchimpfungen erfahren, theil wären fie zorwwvoi dem 
rer gemwefen, denen folche widerfahren feien. Nun lehrt uns aller: 
dings die Apoftelgefchichte Nichts von blutigen VBerfolgungen in 
Serufalem, denn die vom Synedrium ausgehende (Act. 8, 1—3.) 
fonnte Feine blutige fein, da dieſes dazu das Necht nicht 
hatte, und daß Sacobus Zebedai durch Herodes hingerichtet 
wurde (Act. 12, 1.), fand nicht in Verbindung mit einer allge: 
meinen Berfolgung, und eben fo wenig die Abficht gegen 
Petrus. Es Fonnte alfo wohl den Chriften zu ‚Serufalem aud) 


1) Dagegen erftl. Entw. Da Silas von Jeruſalem aus, wahrfcheintich 
doch nicht als ein Fremder, nach Antiochien geſchickt wurde, fo wird er 
wol auch befier über ven Tempel unterrichtet gewefen fein. 


Hypothefen tiber die Leſer des Hebräerbriefs. | 443 


nachher gefagt werden: „Ihr habt noch nicht bis auf's Blut ge- 
Fampft”; fehr wohl aber paßt es für fie, daß es Hebr. 10, 32. 
heißt: „Erinnert euch der frühern Tage’, wenn damit die frühere 
Berfolgung des Synedriums gemeint if. Ich fehe alfo Feinen 
‚Grund, warum der Brief nicht an die Gemeinde in Serufalem 
gerichtet fein könnte. Sener Schein aber hat andere Hypothefen 
veranlaßt, die ich nur anführen will, die. aber Fünftlicy find und 
Nichts für fi) haben. Man muß allerdings davon ausgehen, daß 
die Ueberfchrift nicht unmittelbar zum Briefe gehört und vielleicht 
nicht urfprünglich ift, fondern erft fpäter Hinzugefommen, wie denn 
auch die Stala fie nicht hat. Aber es bleibt doch immer das, da 
die Schrift rein an Solche gerichtet ift, die Juden gewefen und 
als folhe zum Chriftenthum übergetreten find. Wenn man nun 
fagte, nach Paläftina koͤnne der Brief nicht beftimmt fein, weil 
dort ſchon blutige Verfolgung gewefen, fo hat man entweder die 
Sudencriften in Macedonien oder in Salatien als Leſer ange: 
nommen. Die Iebtere Meinung hängt mit der vom paulinifchen 
Urfprunge zufammen ; zugleich fei der Galaterbrief an die dortigen 
Heidenchriften gefandt. Aber eine folche Trennung der Suden= 
und Heidenchriften konnte dem Apoftel gar nicht in den Sinn 
kommen. Beides ift ganz willfürliche Hypotheſe. Eine andere 
Annahme, die mit der von der Abfafjung durch Apollos zufam= 
menhängt, ift, daß der Brief an die Sudenchriften in Alerandrien 
‚gerichtet fei. In dem alten Verzeichniffe bei Muratori fteht: fer- 
tur etiam ad Laudecenses, alia ad Alexandrinos, Pauli nomine 
fictae ad haeresem Marcionis; da fünnte man fagen, da man eis 
nen apocrpphifchen Brief an die Zaodicener hat, fo müffe der an 
die Alerandriner unfer Hebraerbrief fein. Wir wiffen nun gar 
Nichts von der Entftehung der Gemeinde zu Alerandrien. Apol- 
108 war ein alerandrinifcher Sude; wir finden ihn in Kleinafien, 
wo er zum Chriſtenthum bekehrt wird und fogleih anfängt, das 
Evangelium zu predigen (Act. 18, 24—28.); er kommt dann zu— 
nächft in Gorinth vor (Act. 19,1. 1. Cor. 1, 12.) und wird (it. 
3,13.) dem Zitus in Greta empfohlen. Nun kann man bie Mög: 


444 Hypothefen über die Lefer des Hebräerbriefs. 


lichfeit nicht Iaugnen, daß Apollo wohl fpäter eine Gemeinde 
in Alerandrien habe gründen und unfern Brief an fie richten 
fünnen. Der Einwand, daß man außerhalb Paläftina’3 nicht fo 
großes Intereſſe am Zempeldienft gehabt, paßt auf- die aleran- 
drinifchen Juden am wenigften, die fich einen eignen Tempel nach 
dem Mufter des falomonifchen gebaut hatten, worin fie alfo auch 
eine Bundeslade und andere Heiligthlimer nachgebildet haben koͤn— 
nen. Auf diefe Weife wäre auch jener Schwierigkeit abgeholfen, 
daß diefe Heiligthlimer im hierofolymitanifchen Tempel nicht vor- 
handen waren. — Es ift noch ein Umftand zu betrachten, wel: 
cher allerdings Bedenken dagegen erregt, daß der Brief an palaͤ— 
ftinifche Sudenchriften gerichtet fein Eünne. Seine ganze Structur 
iſt nemlich fo, daß, flatt daß man in paulinifchen Briefen einen 
theoretifchen und paranetifchen Theil unterfcheiden kann, hier bei 
jedem Abfchnitte das Paranetifche hervorgehoben wird, fo daß man 
fieht, dies ift die Hauptfache, und zwar fo, daß die Leſer vor 
Abfall, d. h. Rücktritt zum Sudenthbum, gewarnt werden. Nun 
giebt uns aber die Apoftelgefchichte gar Feine Indication Davon, 
daß. in diefem Zeitraum eine folche Neigung in Palaͤſtina vorhan— 
den geweſen ift. Seit den erfien Schritten gegen das Chriſten— 
thum, die mit der Steinigung des Stephanus zufammenhängen, 
findet fi nachher nur das einzige Factum, was wir nicht genau 
zu flellen wiffen, die Hinrichtung des Sacobus, aber es ift Feine 
Spur von allgemeiner Verfolgung, vielmehr wird angedeutet, daß 
die Gemeinden fich ruhig fortgebaut hätten. Nunift auch gewiß, 
daß die paläftinifchen Chriften am Tempeldienſte nach wie vor 
Theil genommen haben; alfo Eonnte von einem Rücktritt zum 
Judenthum nicht die Rede fein, da fie es nicht verlaffen hatten. 
US Paulus zum legten Male in Serufalem war, wurde ihm gar 
nicht zum Vorwurf gemacht, daß er ein Chrift war, fondern daß 
er den Tempel entheiligt hätte; der eigentliche Grund des Hafjes 
gegen ihn war aber, daß er die Gültigkeit des Gefeges außerhalb 
Paläftina’s beftritt. Es Liege fich alfo eine Neigung zum Abfall 
der Chriften hier gar nicht anders denken, als daß fie entweder 


Hypothefen uber Kefer und Verfaſſer des Hebräerbriefs. 445 


dahin Famen, zu glauben, daß Jeſus nicht der Meſſias fer, oder 
die ganze meffianifche Idee für eine falfche Auslegung zu halten, 
Das Lebtere wurde von vielen Juden angenommen; zu dem Er- 
fieren müßten wir eine befondere Veranlaſſung denken, die aber in 
einer Verfolgung nicht liegen Fonnte, fondern efwa nur im Zu— 
fammenhange mit der VBerheißung der Wiederkunft Chrifti, was 
fih aber fchwerlich eher denken ließe, als nach der Zerfiörung 
Serufalems, welche in den Neden Chrifti mit feiner Wieder- 
funft nahe zufammen gerüdt wurde, und nur bei ſolchen Chriften, 
bei welchen die Auffafjung der Aaoıdlsia Tod Hsov nicht geiftig 
war. Alles dies aber ſtreitet gegen die Phyſionomie des Briefes 
ſelbſt, und ſo hat es Schwierigkeit, ihn fuͤr palaͤſtiniſche Leſer 
beſtimmt zu denken. Wenn man ſich dagegen denkt, daß er an 
egyptiſche Judenchriſten gerichtet iſt, ſo ſteht die Sache anders, 
und jene Schwierigkeit hoͤrt auf. Aber freilich bleibt dies immer 
nur eine leere Vermuthung, denn wir wiſſen von den dortigen 
Gemeinden gar Nichts. Dazu kommt noch, daß wir zwar die 
aͤlteſten Zeugniſſe von dieſem Briefe bei alexandriniſchen Lehrern 
finden, aber nirgends die geringſte Spur, daß er an dieſe Ge— 
meinden beſonders gerichtet war, und das Stillſchweigen der alexan— 
driniſchen Lehrer darüber wäre unerklaͤrlich. Daher iſt auch dies 
nur eine nicht hinlänglich begründete Hypotheſe. | 

Denft man fih nun den Apollos als Berfaffer, aber das 
Publicum des Briefs als palaftinifch und die Zeit als vor der Zer— 
ftörung Serufalems, und denkt man fich, daß eine folche Neigung 
zum Abfall aus ungebuldiger Erwartung der Wiederfunft Ehrifti 
entftehn Fonnte: fo wäre ja wohl möglich, daß es einzelne Chriften 
mit folcher Neigung gegeben haben mag, nur nicht fo zahlreich, 
daß in den Actis Etwas davon hätte erwähnt werden müffen, und 
nicht in der Art, daß Paulus bei feiner Anmwefenheit davon Notiz 
befam, oder daß es im Widerfpruch mit der weitern Verbreitung 
des Chriſtenthums fand. Dabei ift aber noch ein Umftand zu 
bedenken. Wenn dies nemlich fo war zu einer Zeit, als noch 
mehrere Apoftel fich zu Serufalem aufbielten, wie konnte ein Ehrift 


446 Canoniſches Anfehn des Hebräerbriefs. ° 


von der zweiten Generation, wie Apollos, einen Beruf haben, an 
die paläftinifchen Chriften fich zu wenden, während dies die Sache 
der Apoftel gewefen wäre? da müßte man feine Zuflucht zu der 
Annahme nehmen, daß vielleicht Feiner der Apoftel mehr dagewe— 
fen, oder daß Apollos Verbindungen in Paläftina gehabt, vie 
ihn ganz wohl dazu berechtigen Fonnten, dort fo aufzutreten. 


§. 104. 


Es bleibt immer fo, daß man bei jeder Annahme über un— 
fern Brief, zu welcher man fich geneigt fühlt, auf viele Schwie— 
rigkeiten ftößt, zu deren Löfung es an Datis fehlt. Das kann 
aber dem Anſehn des Briefe felbft keinen Eintrag thun, denn 
der rein chriftliche Snhalt deffelben und fein Urfprung im apoſto— 
lifchen Zeitalter fteht defjen ungeachtet feft. Wenn nun auch der 
Verfaſſer Eein unmittelbarer Schüler Chrifti, fondern ein Apoftel 
in der zweiten Generation war, fo folgt daraus doch nicht, Daß 
wir den Brief als eine canonifche Schrift vom zweiten Range anfehn 
müßten. Denn denen des Lucas würde er immer gleichzuftellen 
fein, und den unbekannten Berfaflern der meiften Fatholifchen Briefe 
fommt fein höherer Rang zu. Der Hebräerbrief hat feine Stelle 
im neuen Teftamente mit eben fo vielem Rechte, wie alle die an= 
dern Schriften, welde — nachweislich von apoſtoliſchem Ur— 
ſprunge ſind. 

Deſſenungeachtet hat man viel an dem Anſehn dieſes Briefes 
gemaͤkelt, und er iſt namennich ſeit der Reformation oft herabgeſetzt 
worden. Die Art, wie Luther ihn in ſeiner Ueberſetzung in der Ordnung 
der Briefe mit den am meiſten bezweifelten der katholiſchen zuſammen— 
geſtellt, beweiſ't, daß, wenn er auch nicht dahin geſtimmt hat, dieſe 
als apocryphiſche Schriften anzuſehn, wie einige Theologen damals 
wollten, er ihn doch mit dieſen andern Briefen in den Hintergrund 
ſtellen wollte. Dies giebt zu der Frage Veranlaſſung, ob in der 
Lehre dieſes Briefes wohl etwas ſei, was das canoniſche Anſehn 
deſſelben verdaͤchtig machen koͤnnte. Geht man davon aus, daß 
er an palaͤſtiniſche Chriſten gerichtet iſt, und ſieht man es als eine 


Berhältniß des Hebr.br. zur ebionitifchen Richtung der palaft, Chriften. 447 


Thatſache an, daß diefe ſich mehr zum ebionitifchen oder nazaräi- 
chen Ehriftenthum hinneigten, obgleich es darin noch große Ab» 
ftufungen giebt: fo fragt fih, wie fich der Berfaffer, indem er 
fih ausfchlieglih an diefe wendete, hierzu geftellt hat. Man kann 
nicht fagen, daß eine ‚ausdrüdliche Polemik gegen diefe Anficht 
im Briefe vorfommt, aber eben fo wenig, daß er diefe Anficht 
theile. Es folgt Nichts weiter, ald daß er aus einer Zeit her: 
rührt, wo diefelbe ignorirt werden Eonnte, weil die Differenz fich 
noch nicht fo entwidelt hatte. Dies ſtimmt auch damit überein, 
dag man ihn vor den jüdifchen Krieg ſetzt. Wenn wir aber die 
Ehriftologie unſers Verfaſſers betrachten, fo geht er ja auf diefelbe 
Auslegung mefftanifcher Stellen des alten Teſtaments zurüd, wie 
wir fie bei den Apojteln finden. Er fehreibt Chrifto eine Dignität 
zu, die ihn über alle andern auch höhern Ordnungen geiftiger 
Weſen fest, und fo wüßte ich nicht, was man Nazaräifches, fich 
von der Dockrin der Apoftel Entfernendes in diefem Briefe finden 
wollte. Er fängt an mit der vollftändigftien Verherrlichung Chrifti, 
und wenn man fagt, die Art, wie er ihn mit den Engeln ver- 
gleicht, deufe auf eine untergeordnete Anficht von Chrifto, fo kann 
‚man das nur behaupten, wenn man von ganz unftatthaften Vor— 
ausfegungen, wie von einer ausgebildeten Zrinitätslehre oder einer 
ausgebildeten Lehre von zwei Nafuren in Chrifto zu jener Zeit, 
ausgehn wollte. Die Vergleihung ift auch gar nicht fo, daß fie, 
nach unfrer Weife ausgedrüdt, auf die Subftanz ginge, die ganz 
aus der Unterfuchung bleibt, fondern es handelt ſich nur von der 
Dignität der einen und der andern Wefen in dem Gebrauch, 
den Gott von ihnen zur Erlöfung der Menfchen macht, alfo. von 
ihrem VBerhältniffe als göttliche Organe für die owzyoia der Menfch= _ 
beit. Es gehört dies mit zur Verglgihung des alten und neuen 
Bundes, da es auch fonft vorkommt, daß die Engel bei der Ge— 
feßgebung Mofis thätig gewefen. — Ebenfo kann man nicht fa- 
gen, daß der Verfaſſer des Hebräerbriefs eine höhere Vorftelung 
von dem Werthe der mofaifchen Gefesgebung in Bezug auf das 
Seelenheil habe, ald Paulus; feine Darftelung wendet fih nur 


448 Lehre des Hebräerbriefs von den Lapsis. 


mehr nach einer andern Seite, aber feine Vorausſetzung ift die— 
felbe, wenn fie auch nicht fo heraustritt. Wenn Gap. 7, 11. 12. 
vom levitifchen Prieſterthum gefagt wird, daß eine zelsiworg durch 
daffelbe nicht möglich gewefen fei, fo hat auch das Gefeß eben fo 
gut feinen Theil daran, daß eine Teisiworg dadurch nicht gefchieht, 
und es deshalb verändert werden Fann und muß. Go ift eine 
Vebereinftimmung mit der paulinifchen Theorie im Nömerbriefe da, 
und man hat dies wohl erkannt, denn fonft hätte fich die Mei- 
nung, daß Paulus der eigentliche Urheber des Briefes fei, nicht 
fo verbreiten Tünnen. 

Es iſt noch ein andrer Punck zu betrachten, nemlich die Lehre, 
daß, wenn diejenigen, die dad Chriftenthbum angenommen hätten, 
von demfelben abfielen, es Fein Heil mehr für fie gäbe. Dies 
Scheint im Widerfpruch zu ſtehn mit der fpäter Eirchlich gewordes 
nen Lehre von den Lapsis. Cap. 6, 4. heißt es: ES ift unmög- 
lich, daß diejenigen, die einmal erleuchtet gewefen find und diefe 
Gaben gefojtet haben und des heiligen Geiftes theilhaftig gewor= 
den find, wenn fie abfallen, fich wieder zur ueravorw erneuern 
koͤnnten; und Cap. 10, 6: Wenn wir freiwillig wieder in die 
Sünde fallen, nachdem wir die Erfenntnig der Wahrheit empfan— 
gen hatten, fo ift Fein Opfer für die Sünde mehr übrig, fondern 
nur eine furchtbare Erwartung des Gerichts. Die Sache ift aber 
offenbar die: Indem der Verfaffer die beiden Deconomien durch 
Mofes und Chriftus vergleicht, fo ſagt er, eine dritte giebt es nicht; 
wer alfo die zweite verläßt und zur erften zuruͤckkehrt, natürlich 
mit der Weberzeugung, daß im Chriftenthum Feine göttliche Heils— 
ordnung ift, für den giebt es Feine dritte. Wenn alfo Semand 
zweifelte, daß in Chrifto die meffianifche Idee wirklich geworden 
war, und fih nur von der Perfon Chrifti entfernen, aber die 
meffianifche Idee beibehalten wollte, fo bleibt für diefen Fein an— 
dres Opfer, feine andre VBerfühnung übrig. Aber Feineswegs hat 
der Berfaffer damit fagen wollen, daß, wenn Semand in der 
Surchtfamkeit oder in der Betäubung des Schredens eine Hand— 
lung gegen feine Ueberzeugung begeht, für diefen eine Ruͤckkehr 


Die Apocalypfe. Ueber die Einheit derfelben. 449 


zum Chriſtenthum nicht möglich fein follte. Davon ift gar nicht 
die Rede. 

Wenn wir alfo nur den Brief im Großen und Ganzen be= 
frachten, und nicht, wie es bei diefer Schrift, die mehr einen 
rhetorifchen al3 dialectiſchen Character an ſich traͤgt, am wenigſten 
angemeſſen iſt, an den Worten kleben: ſo werden wir auch Nichts 
darin finden, was Keime in ſich enthielte, die dem, was in der 
Kirche geltende Lehre geworden, widerſtritten. 


Sechſtes Capitel. 
Die Apocalypſe. 


$. 105. 
Bei der Offenbarung Johannis beſchaͤftigen uns theils 
die Fragen der hoͤhern Critik nach der Einheit des Buchs in ſich 
und nach dem Auctor, theils die hiſtoriſche Frage nach der Art 
und Weiſe, wie ſich die Geltung des Buchs feſtgeſtellt hat. 
Ueber die Einheit der Apocalypſe hat das Bedeutendſte 
Bleek gefagt . Er ſtellt die Anſicht auf, daß das Buch aus 
zwei Haͤlften beſtehe, welche zu verſchiedener Zeit geſchrieben ſeien, 
die erſte vor der Zerſtoͤrung Jeruſalems wahrſcheinlich mit einem 
Schluſſe, welcher bei der Hinzufuͤgung des zweiten Theils weg: 
gefchnitten fei; denn es fei deutlich, Daß der erfte Theil die Zer— 
ftörung Serufalems ignorire, der zweite aber fie vorausſetze. Wenn 
diefe Facta richtig find, fo ift Elar, daß das Ganze nicht in einem 
Guffe zu denken if. Dann aber bleibt gleich die Möglichkeit, daß 
die Zufammenfchmelzung von einem Andern herrühre, als die Ab- 

fafjung, und daß letztere von Verfchiedenen fein kann. Sch bin 
weit entfernt, irgend eine Behauptung hierüber aufzuftellen ; allein 
ſo wie man daS al5 eine eregetifche Thatfache ſetzt, daß beide 
Hälften von verfchiedenen Vorausſetzungen ausgehn, fo ift gleich 





1) In der theologifchen Zeitfchrift, Herausgegeben von Schleiermacher, De 
Wette und Lüde, 2ter Theil. 1820, 


Einl. ins N. T. 29 


450 Alte Nachrichten über die Offenbarung Sohannis. 


eine Menge von Hypothefen möglih, und die Einheit des Ver— 
faffers bei der Duplieität der Vorausfegung muß erft bewiefen 
werden. Denn wenn der Schluß des erften Theils weggefchnit- 
ten ift, fo Eönnte auch der Anfang des andern Theil abgefchnit- 
fen fein, und dann ifl möglich, daß zwei Produckionen von ver- 
fehiedenen Auctoren auf diefe Weile Eins geworden find. Nun 
haben wir aber eine alte Nachricht, welche fich diefer ganzen 
Hypotheſe widerfeßt, aber von De Wette Damit abgefertigt wird, 
daß fie gegen Elare eregetifche Ergebniffe Nichts beweifen könne ?). 
Aber es fragt fich doch, wie es mit diefer Nachricht ftehe. | 

Um alfo, erft den Thatbeftand ficher zu ftellen, find befonders 
zwei Nachrichten zu betrachten. Andreas, Biſchof von Caͤſa— 
rea in Gappadocien, von dem wir noch einen Commentar über 
die Apocalypfe haben, fagt im Prodmium dazu, über die Inſpi— 
ration des Buchs fei nicht nöthig weitläuftig zu fein, denn die 
frühern Kirchenlehrer, Gregorius und Cyrill, und auch die Altern, 
Papias, Irenaͤus, Methodius und Hippolytus hätten den Cha- 
racter der Snfpiration beglaubigt. Dies hat nun an und für fich 
feinen großen Werth, da Andreas die Stelle des Papias nicht. 
felbft anführt, welcher an das Zeitalter der Apoftelfchüler anreichte 
und mehrere Schüler des Sohannes Fannte, Nun Eommt aber eine 
andere Nachricht dazu, womit ed eine ganz andere Bewandiniß 
hat. Irenaͤus (adv. haer. V. 30.) fagt vom Antichriſt, wenn 
e3 nöthig gewefen wäre, den Namen deffelben dem gegenwärtigen 
Menfchengefchlecht bekannt zu machen, fo würde dies wohl durd) 
denjenigen gefchehn fein, der die Apocalypfe gefehn habe, denn diefe 
fei nicht vor langer Zeit fchon gefehn, fondern faft im gegenwärtigen 
Zeitalter gegen dad Ende der Negierung des Domitianus. Wenn 
alfo Srenaus Kunde davon gehabt hat, daß die Apocalypfe in dieſe 
Zeit fällt, daß die Gefichte in dieſer Zeit gefehn und alfo erft 
hernach aufgefchrieben worden, fo wäre es nicht möglich, daß ein 
Theil des Buchs fchon vor der Zerftörung Jeruſalems gefchrieben 


1) De Wette Einl. ing N. T. $. 187, not. c. in der Aften Aufl. 


Ueber die eregetifchen Nefultate aus der Apocalypfe. 451 


fein koͤnnte. Man darf aber diefe Nachricht nicht fo leicht be- 
handeln. Irenaͤus war ein Schüler des Polycarp und wird ein 
Nresbyter defjelben genannt. Da nun Alles darauf hinaudgeht, 
die Apocalypfe in diefe Gegend zu verweifen, fo konnte Srenäus 
wohl Nachrichten darüber haben, ob die Apocalypfe fehon früher 
gefihrieben war. Und er fpricht darüber fo beftimmt, daß es gar 
nicht wie eine Bermuthung Elingt. 


$. 106. —J 

Nun aber fragt ſich, ob jene Anſicht uͤber eine fruͤhere Ab— 
faſſung wirklich ein ſicheres exregetiſches Ergebniß iſt. Und 
da moͤchte ich den Satz behaupten, daß es gar nicht moͤglich iſt, 
hier ſichere exegetiſche Ergebniſſe aufzuſtellen, d.h. fo, daß man die 
Bedeutung der Erfcheinungen mit Sicherheit angeben Eünnte, Da- 
bei kommt es nicht auf einzelne Stellen an, fondern darauf, daß 
man fieht, wie die Sachen im Allgemeinen dargeftellt find. 
Wir wollen zuerſt einmal fehn, wie der Verfaſſer fich oder 
fein Buch anfündigt. Er überfchreibt es ganz nach hebräifcher Weife, 
und zwar asondAvuıg 'Inoood Xororov, welche Gott ihm geges 
ben, um fie feinen Knechten zu zeigen, was gefhehn foll in der 
Kürze. Der Eingang verfpricht alfo Begebenheiten, welche bald 
gefhehn follen. Wenn man nun alle einzelnen Gefichte betrachtet, 
die nachher auf einander folgen, und fie als bedeutende Begeben- 
heiten anfieht, die nach einander fich ereignen follen (ohne noch) 
irgend weiter nach) dem Was? zu fragen): fo muß man fchon ge= 
ftehn, daß der gewöhnliche menfchlihe Maafftab von dem dei 
yevsodaı 29 Taysı dabei aufhört, und dadurch wird Alles unſi— 
cher, und man hat feinen Grund mehr, zu beftimmen, wann die 
Erfüllung der Begebenheiten angehn wird. Es bleibt alfo von 
vorn herein Nichts übrig, als zu fagen, hier ijt eine Mannigfal- 
tigkeit von Bildern, ohne daß jedes einzelne eine Begebenheit 
bedeutet, fo daß diefelben fo auf einander folgen folen, wie hier 
die Bilder. Da nun diefe Einleitung, wenn fie irgend etwas 
Reales zum Grunde legen fol, nicht zuläßt, daß man eine firenge 
2 


452 Conſtruction der Apocalypie. 


Suceeffion dabei annimmt, fo fehe ich nicht ein, wie man einen 
fo beftimmten Abfchnitt machen will, daß man fagt, der eine 
Theil feße die Zerftörung Serufalems voraus, der andere nicht. 
Die ganze Conftruction des Buchs Fann man fich fo denken: 
den erften heil bilden die Sendfchreiben an die fieben Gemein- 
den (c. 1—3.), den zweiten die Entwidelungen, die mit der Ent- 
fiegelung des Buchs zufammenhängen (c. 4—11.); alles Uebrige 
wollen wir als den dritten Zheil zufammenfaffen. Gewöhnlich fieht 
man, was ich als den erften Theil bezeichne, nur als eine Ein 
leitung an, aber dies fcheint mir ganz unrichfig zu fein, denn 
dann müßte in den Sendfchreiben eine Beziehung auf das Fol- 
gende Statt haben. Diefe glaubt man allerdings c. 1,3. zu 
finden ‚Selig ift der, welcher dies lieſ't, u. f. w., denn die Zeit 
drängt.” Dies hängt genau mit dem & zayeı zufammen und 
führt uns auf unmittelbar bevorftehende Dinge. Dann folgt: 
„Johannes den fieben Gemeinden in Afien.” Wenn dies nun fo 
zu verfiehn wäre, daß die fieben Gemeinden bie erften Leſer des 
Folgenden fein follen: fo müßten fie in den Sendfchreiben irgend 
wie darauf vermwiefen fein. Dies gefchieht aber gar nicht, fondern 
diefe Sendfchreiben ruhn auf einem Gefichte, welches befchrieben 
wird, und in welchem Sohannes den Auftrag erhält, dem ayye- 
Aos der einen Gemeinde dies, dem der andern jenes zu melden, 
Dies bezieht fich, wie es feheint, auf nahe bevorfiehende Dinge, 
aber eine Andeutung davon, daß fie fich die folgenden Geſichte 
aneignen follen, kommt nicht vor. Man muß aber die einzelnen 
Sendfchreiben unterfcheiden , die dem Sohannes aufgetragen wer— 
den, und die allgemeine Zufchrift mit dem fürmlichen epiftolifchen 
Eingange, ec. 1, 4 ff. Nun kommt ©. 7. die Ankündigung, daß 
Chriſtus im Begriff fei, zu kommen in den Wolfen, und daß 
jedes Auge ihn fehn werde; das fcheint alfo unmittelbar bevor- 
fiehend zu fein. Dann wird dem Sohannes aufgetragen, zu 
Schreiben (8. 11.). Da find alfo die fieben Sendfchreiben in Dies 
fem einen zufammengefaßt. In den Sendfchreiben felbft (c.2. u. 3.) 
fommt aber Feine Beziehung auf das Folgende vor, und wo die— 


Apocal. 4—11. 453 


felben zu Ende find, da ift nur ein Schluß des Ießten, mie ber 
Schluß der andern ift: „Mer Ohren hat, zuhören, der höre u. f. w.“ 
Nun folgt c. 4, 1.: „Nach diefem fahe ih u. f. mw.” und nun 
ift der ganze Zufammenhang zwifchen dem Folgenden und dem 
Vorigen nur der, daß gefagt wird: „die erfle Stimme, die ich 
gehört hatte wie eine Pofaune, fagt: Steige hier herauf, fo will 
ich dir zeigen, was nad diefem gefchehn fol.” Da fieht man 
wohl, wie man gleich mit der Zeitanficht in eine ganzliche Ver— 
legenheit fommt. Wenn man die Ueberfchrift als eine allgemeine 
betrachtet, fo fieht da3 00a dei yeveodaı &v vaysı als etwas ganz 
Allgemeines da und muß auf Alles gehn. Wenn man fie nur 
als Ueberfchrift zu den fieben Sendfchreiben betrachtet, fo kann 
man freilich fagen, das Folgende ift ein Späteres; aber dann er= 
foheint fie nicht mehr als eine allgemeine, und man wird unficher 
über den Zufammenhang zwifchen diefem und dem Folgenden. Da 
weiß ich alfo gar nicht, wie man von fichern eregefifchen Ergeb: 
niffen reden kann, die ſich auf irgend einen einzelnen Zeitpunct 
beziehn, da Schon der Zufammenhang des Einzelnen fo ungewiß ift. 

Nun möchte ich aber behaupten, daß in diefem zweiten Theile 
c. 4—11., der mit dem erften dadurch zufammenhängt, daß es 
diefelbe Stimme ift, ſich nicht$ findet, was eine beſtimmte Vor- 
ausfegung von dem Nochbeſtehen Serufalems enthält. Diefe be: 
ruht auf Auslegungen, die eben fo gut etwas ganz Anderes er- 
geben Fünnen. Es kommt freilich das juͤdiſche Volk in feinen 
zwölf Stämmen vor; aber in den zwoͤlf Stämmen war es nad) 
der Zerftörung Serufalems eben fo gut vorhanden, wie vor der— 
felben. Im ganzen zweiten Theil ift nichts, was berechtigen Fünnte, 
irgend eine beftimmte Auslegung zu machen. Da ift Einer, der 
auf dem Thron fißt und anzufehn ift, wie Saspis und Garniol. 
Vorher in den Sendfchreiben war die eigentlich handelnde Perſon 
Einer, der unter den fieben Leuchtern fand mit fieben Sternen 
in feiner Hand und einem Schwerdt in feinem Mund. Zwiſchen 
diefen Beiden ift keine Verbindung. Der auf dem Throne fißt, 
hat vier Soa um fi, die ſich aber gar nicht zu einem finnlichen 


454 Apocal. 4 —11. 


Bilde geftalten, denn wie fol man fich denken, daß fie 2v zoo 
und zvnAo des Thrones find? Dann kommt ec. 5. das Lamm 
vor, welches wieder 2v sıdow des Thrones und der Thiere if. 
Wenn Etwas aufgeftellt wird als ein Gefehenes, ſo muß es fich 
doch auffaffen laſſen, wie ein Bild, aber hier will fih Nichts 
dazu geflalten. Nun ift es hernach das Lamm, welches die fie- 
ben Siegel des Buchs zu Öffnen vermag. Denkt man ein ver: 
fiegeltes Bub, fo ift doch die Schrift die Hauptfache, und die 
Siegel find das Hinderniß, dazu zu gelangen. Bei jeder Löfung 
eines Siegels kommen Erfcheinungen, aber fo plößlich, daß Feine 
Deutung davon zu faflen if. Wenn nun alle fieben Siegel ges 
loͤſ't ſind, fo folte man denken, würde das Buch felbft zum Vor- 
Schein kommen, aber davon ift feine Spur, fondern es ift damit 
der ganze Abfchnitt zu Ende. Da fcheint mir, wenn Etwas weg— 
gefchnitten ift, nicht nur der Schluß, fondern die Hauptfache weg— 
gefchniften zu fein. ES ift alfo in der bildlichen Darftellung gar 
nicht fo viel Zufammenhang, daß man darauf irgend eine Theo- 
tie der Auslegung gründen Fann. Ebenfo ift es auch mit den 
einzelnen Sachen. Bei der Löfung jedes Siegels foll eins von 
den Shieren feine Stimme erheben, da es aber nur vier Thiere 
find, fo fehlt fchon beim fünften Siegel diefe Stimme. Solche 
Sneohärenzen, daß Parallelen angelegt werden, die hernach nicht 
gehalten. werden, gehn durch das ganze Buch; fo kann alfo von 
einem Elaren Ergebniß für die Bedeutung nicht die Nede fein, 
denn immer, wenn man auf etwas ftößt, das bedeutend zu fein 
ſcheint, fo findet fich hernach, daß der Verfaſſer es fallen gelaf- 
fen bat. 

Sene Anficht, daß die Apocalypfe aus zwei Haupttheilen be= 
fteht, von denen der erfte vor der Zerftörung Serufalems gefchrie= 
ben fei, der andere nachher, beruht vorzüglich auf zwei Stellen. 
Gap. 11. ift die Rede von der heiligen Stadt, und da heißt e8 V. 13., 
daß der zehnte Theil der Stadt einftürze, das Uebrige aber Gott 
die Ehre gebe und alfo gerettet: werde. Der Zufammenhang der 
Stelle ift aber folgender: E3 wird dem Berfaffer der Apocalypfe 


- 


Stellen, aus denen man auf d. Abfaffungszeit der Apocal. ſchließt. 455 


ein Rohr gegeben, um den Zempel und Altar zu meffen, und 
dabei wird ihm gefagt: „Den äußern’ Hof laß weg und miß ihn 
nicht, denn er ift den Heiden gegeben, und fie werden die Stadt 
betreten 42 Monate lang.” Darauf iſt die Nede von zwei Zeu— 
gen, welche 1260 Lage lang prophezeihen und dann von einem 
Thiere, das aus dem Abgrunde kommt, getödtet werden. Da 
heißt es V. 8.: „Ihre Leichname werden liegen auf der Straße 
der großen Stadt, welche geiflig Sodom und Egypten heißf, wo 
auch ihr Herr gefreuzigt ifl.” Sie werden aber nachher. in den 
Himmel aufgenommen werden, und ein Erdbeben wird ein Zehn— 
theil der Stadt vernichten. Hierbei find im Text die Tempora 
ganz wunderlich durch einander gemifcht, fo daß jede Zeitbeftim: 
mung ungewiß wird. Nun fchließt man, daß der Verfaſſer von 
der Zerſtoͤrung Serufalems Nichts gewußt hat, weil er fagt, daß 
nur der zehnte Theil untergeht. Aber wie kann denn die „heilige“ 
Stadt, und die Stadt, welche geiftig Sodom und Egypten ge= 
nannt wird, diefelbe fein? Und wie kann hier. eine wirkliche That: 
fache mitten unter lauter Bildern eintreten? Da fehe ich alfo 
Fein ficheres exegetiſches Ergebniß. — Mit der Stelle, wegen wel- 
cher der zweite Theil nach der Zerfiörung Serufalems gefchrieben 
- fein foll, hat es ganz diefelbe Bewandtniß, und es ift dabei eben 
fo wenig Sicherheit der Interpretation. E5 wird c. 13. von der 
Erſcheinung eines Thierd mit 7 Köpfen und 10 Hörnern geſpro— 
chen, und von dem einen Haupte heißt es (V. 3.), es fei tüdt- 
lich verwundet und werde nachher wieder heil. Dann heißt es 
c, 17, 8.: „das hier war und ift nicht und wird wieder aus 
dem Abgrund emporkommen.“ Nachher wird die Auslegung da= 
von gegeben, das Thier fei das Nömerthum, und die 7 Haͤupter 
7 Könige. Aus der Zahl derfelben V. 10. ſchließt man auf die 
Abfaſſungszeit dieſes Theils. Dabei bezieht man das toͤdtlich wunde 
Haupt auf Nero, nemlich auf feinen wirflihen Tod und auf das 
Factum, welches auch durch andere Schriftfieller bekannt ift, daß 
man glaubte, daß Nero nicht todt fei, fondern im Drient verbor= _ 
gen lebe und wiederfommen werde. Nun wäre alfo Nero einmal 


456 Mangelan Zufammenhang zwiſchen Cap, 11. u. 12. der Apocal, 


das eine Haupt, hernach aber das ganze Thier. Da fehe ich Feine 
Sicherheit der Interpretation, denn Diefe Deutungen haben zwar 
etwas Scheinbares, aber wenn man Etwas genau nimmt, fo 
entfiehn die größten Schwierigkeiten. Sch möchte alfo das Ver— 
dienft von Bleek's Arbeit haupffachlich darin ſetzen, daß er zeigt, 
man habe gar feinen Grund, fo viele einzelne Bifionen hiftorifch 
auf einzelne Begebenheiten zu deuten; aber er ift hierin noch nicht 
weit genug gegangen, fondern nimmt noch viel zu viel beftimmte 
Deutung an. Mlerdings hat es Etwas für fi), indem man ohne 
alle Deutung bloß bei der Aufeinanderfolge der Bifionen ftehn 
bleibt, zwifchen dem 11ten und 12ten Gapitel eine Lücke anzu— 
nehmen und einen Mangel an Zufammenhang. Das Vorige hat 
e5 ganz und gar mit Entfiegelung des Buchs zu thun. Mit der 
fiebenten Entfiegelung follte es nun aus fein, ausgenommen, wenn 
nun noch das Buch felbft kaͤme; aber bei der fiebenten Entfiege= 
lung werden die Erfoheinungen vervielfältigt, indem 7 Engel mit. 
Pofaunen auftreten, und bei jeder Pofaune wieder eine neue Er— 
fiheinung kommt. Bei der fiebenten Pofaune müßte nun das 
‚Ende fein, und das ift auch da, aber nicht fo, wie man es er= 
warten follte, denn es follte das dritte Wehe fommen, nachdem 
bei der 5ten und 6ten Pofaune das erfte und zweite gewefen war. 
Aber zwifchen die 6fe und 7te freten die zwei Zeugen, und die 
Tte bringt den Schluß, daß alle Neiche der Welt Chrifto uͤberge— 
ben find. Bleek vermißt das dritte Wehe und hat Necht darin, 
aber bei der fiebenten Pofaune ift doch auch ein fürmlidher Schluß, 
denn wenn Alles Chrifto übergeben ift, müßte doch dad Ganze 
zu Ende fein. Und dennoch folgte noch das, was von Gap. 12. 
an fteht. 

Es ift eine allgemeine Anficht bei der Erklärung der Apo— 
calypfe, daß fie mit der Vorſtellung von der Wiederkunft Chrifti 
zufammenhänge. Aber kann man eine Wiederfunft Chriſti erwar— 
ten, wenn aller Streit gefchlichtet, und alle Macht Chrifto über: 
geben ift? Da ift von Feiner perfönlichen Wiederkunft die Rede. 
So wie aber der zweite Theil beginnt, fo geht auch der Streit 


Wiederkunft Chrifti in der Apocalypſe. 457 


wieder an. Die erfte Erfcheinung ift da das gebärende Weib, vor 
dem der Drache fteht, um das Kind zu verfchlingen. Diefer kommt 
auf die Erde mit feiner ganzen Zerſtoͤrungsluſt. Da ift nun Al⸗ 
les auch Streit, bis es ſich zuletzt wieder ebenſo aufloͤſ't, wobei 
die letzte Stimme des Engels auf eine hoͤchſt unklare Weiſe in 
eine goͤttliche uͤbergeht. Da heißt es freilih: ’Zdov, Eoyores 
reyd, aber das ift nicht in Verbindung mit einer Viſion, fondern 
mit dem Auftrage, die Weiffagung befannt zu machen. So ift 
alfo die Vorftelung von der Wiederfunft Chrifti auch im zweiten 
Theile nicht ausgeführt. Es wird allerdings die zweite Stadt 
Gottes als vom Himmel herabfahrend befchrieben, aber von einem 
Herabfahren Chrifti ift nicht die Nede. Ich glaube, man geht 
bei der Erklärung viel zu viel von vorgefaßten Meinungen aus 
und bringt noch zu viel gefchichtliche Beziehung hinein, und noch 
Keiner hat die Tendenz des Buches fo ausgemittelt, daß die ein= 
zelnen Theile damit zufammenftimmten. Alfo die Hauptfache bleibt 
immer noch res integra. Dafjelbe gilt von der Zufammenfesung, 
da man gar nicht damit ausfommt, wenn man auf einander fol= 
gende Gefichte von auf einander folgenden Ereigniffen deuten will. 
Ehen fo wenig ift aber auch eine Zheilung in Hauptmaſſen ficher 
geſtellt. 

Es kommt hierbei auf folgende weſentliche Puncte an. Der 
Abſchnitt zu Ende von Cap. 11. ift etwas Unlaͤugbares, weil vom 
enifiegelten Buche nachher nicht mehr gefprochen wird. Ob aber 
das Folgende vom Anfange des 12ten Gapitel5 an, wo die For— 
mel: „ich fah ein großes Zeichen am Himmel“ öfter wiederholt 
wird, unter ſich genau zufammenhängt, ſcheint mir noch gar nicht 
enffchieden zu fein. Bleek erklärt ſich dafür, Grotius dagegen, 
und Lebterer hält es für einzelne Viſionen, die erſt ſpaͤter an ein— 
ander gefügt find. Allerdings kommen in fpäteren Viſionen zu— 
weilen diefelben Umftände wieder vor, wie in frühern; fo werden 
in den fieben Schreiben ſchon einige Dinge bezeichnet, die nach—— 
her befchrieben werden. Aber der Zufammenhang der ‚einzelnen 
Gefichte des letzten Theils unter fich ift Eeineswegs fo beflimmt, 


458 Einzelne unabhängige Stüde im Testen Xheilder Apocal. c. 12. ff. 


wie der Zuſammenhang der einzelnen mit der anfänglichen Viſion 
des erften Theil. Da kann alfo in gemiffem Sinne Grotius 
doch Necht haben, und ed würde die Beziehung der einzelnen 
Bifionen auf einander, auch wie fie Bleek gegeben hat, etwas fehr 
Willkuͤrliches. 

Der Hauptpunct, womit der zweite Theil anfoͤngt iſt das 
Weib, was gebaͤren ſoll. Sie wird vor dem Drachen in die Wuͤſte 
gerettet, und dieſer auf die Erde hinabgeſtoßen. Dies haben alle 
Erklaͤrer unter ſehr verſchiedenen Formen auf den Anfang des Chri— 
ſtenthums bezogen, z. B. das Weib auf die Gemeinde des alten 
Teſtaments als Mutter der chriſtlichen Kirche, und den Drachen 
auf den Satan, der von Anfang an die Entfaltung des goͤttlichen 
Reichs verfolge, oder das Kind auf den Meſſias und das Weib 
nicht gerade auf Maria, ſondern auf die alte Theocratie. Da find 
aber zwei Puncte, welche gegen beide Auslegungen zu flreiten 
foheinen, nemlih, daß vom Kinde gefagt wird (c. 12,5.), 88 fei 
beftimmt, die Völfer mit eifernem Scepter zu weiden, was dich 
überall das Sinnbild einer flrengen und harten Herrſchaft ift. 
Ferner wird vom Drachen gefagt (c. 12, 17.), er habe ſich, nach⸗ 
dem er auf die Erde geworfen fei, gegen die Uebrigen aus dam 
Samen des Weibes gewandt. Wer find diefe Uebrigen? Sf 
das Kind die hriftliche Kirche, fo find alle Ehriften ſchon darin 
mit eingefchloffen. Iſt es der Meffias, fo Eönnte man vielleicht 
fagen, die Uebrigen find die Chriften felbft, aber dann verliert 
das Bild doch wieder feine ganze Eonfiftenz, da die Ehriften dann 
von Ehrifto getrennt erfcheinen. Vom Ausgange diefes Streits 
des Drachen gegen die ganze chriftliche Kirche ift gar nicht die 
Rede. Das Gefiht briht ab, und es Fommt ein ganz anderes 
Thier, welches aus dem Meere herauffteigt (ec. 13, 1.). Da fieht 
man alfo, wie gleich vom Anfange an der Zufammenhang abge- 
brochen ift, und von der weitern Nachkommenfchaft des Weibes 
ift gar nicht mehr die Nede, man müßte denn die Fortfegung 
unter ganz andern Bildern erwarten. Es ift aber dabei gar feine 
Sicherheit fat eine Zufammengehorigkeit. 


4 


Beziehung auf römiſche Geſchichte in d. Apocal. 459 


Um die Sache noch von einer andern Seite anzufehn, fo 
möchte ich fragen: wo foll ich mir in der Zeit, im welcher die 
Apocalypfe entftanden fein muß (und das kann nicht fpäfer fein, 
al3 die Angabe des Irenaͤus), einen chriftlichen Seher denken, 
oder (mag es auch Fein Seher fein, fondern mag es nur eine 
von den alten Propheten entlehnte Darftellungsweife fein, um bie 
Entwicklung der hriftlichen Kirche zu bezeichnen,) wo foll ich mir 
einen Chriften denken, der mit folcher Genauigkeit fi) in die rö- 
mifche Gefchichte vertiefte (fei es Die vergangene oder die zufünf- 
tige), und fie zu einem fo bedeutenden Gegenftande für die Chri— 
ften machte? Denn welches Intereſſe hatte aller MWechfel im rö- 
mifchen Reich für die Chriften, daß ihre Aufmerkfamfeit auf deren 
Entwicklung gerichtet wire? Wenn man fagt, die Thiere im 
zweiten Theil bedeuten das Nömerthum und damit auch das Hei: 
denthbum als von diefem getragen, fo ift allerding5 wahr, daß 
Heidentbum und Sudenthum beide von großem Intereffe für die 
Ghriften waren; aber das Detail der römischen Kaifergefchichte war 
für fie ganz gleichgültig. ES gab da nur die einzige Frage, an 
deren Beantwortung man damals noch gar nicht denken Fonnte, 
ob das Chriftenthum eine religio lieita werde. Aller Wechfel der 
Herrfchaften war den Chriften übrigens gleichgültig, weil ihr 
Schickſal davon nicht abhing, fondern von den einzelnen Befehls- 
habern in den Provinzen. Sch kann alfo nicht glauben, daß die 
Beziehung auf die Gefchichte der einzelnen römifchen Kaifer die 
richtige Direction ift, um der Erklärung des Buchs näher zu 
fommen. | 

Auf die Schwierigkeit in Betreff des Buches, das entfiegelt 
wird und doch nicht erfcheint, habe ich ſchon aufmerkffam gemacht. 
Es ift auch eine ganz willfürliche Meinung, daß es das Schick— 
ſalsbuch fei, denn alles, was davon erzählt wird, Tnüpft fich an 
die Siegel, nicht an das Bud. Es fommt nachher noch ein ans 
deres Buch) vor, nemlich dad Buch des Lebens Y), daß feine Ana— 
D Mor. 3, 5. 13, 8. 17, 8. 20, 12. 21, 27. 22, 19. dgl. Phil. 4, 3. 

u. 0.5 dagegen noch ein andres Buch Apoc. 10. 


460 Das Buch in der Apocalypfe. Die Thiergeftalten, Die Zahlen. 


logie in der jüdifchen Gemeindeverfaffung hat, da in ven Syna— 
gogen eine Rolle mit den Namen der Hausväter war. Weil aber 
das Buch des Lebens ohne allen Zufammenhang mit diefem ver: 
fiegelten vorfommt, fo hat man feinen Grund, es für das des 
Lebens zu halten. Kurz, man hat Feine Handhabe zur Erklärung 
des Buchs. — Ebenfo verhält es fich mit dem animalifchen Theile 
der Viſionen. Einige Thiergeftalten find feftftehend und Eommen 
wieder, nemlich die vier Thiere um den Thron und das Lamm. 
Nachher erfcheinen aber auch bloß vorübergehende Thiergeftalten, 
Schlangen, Roſſe, wunderbare Thiere mit fieben Köpfen. Zu 
einer gemeinfchaftlichen Bedeutung der Zhiergeftalt Ffommt man 
aber nicht; fie erfcheint im Zufammenhang mit dem Guten und 
dem Boͤſen ohne beſtimmte Abfonderung. Auch bier fpielen die 
Zahlen eine große Nolle, aber ganz verwirrend. Das Lamm hat 
7 Hörner und 7 Augen; die beiden Thiere c. 12. u. 13. haben 
7 Köpfe, aber 10 Hörner, die ſich gar nicht auf naturgemäße 
Weiſe vertheilen laſſen. Da liegt alfo die Hauptbedeutung gar 
nicht in der Geftalt, fondern in den Zahlen. Wenn nun aber 
das eine Thier 7 Kronen hat auf den 7 Köpfen, das andere aber 10 
' Kronen auf den 10 Hörnern, fo wird ein beftimmter Unterfchied 
gemacht, der zu fehr verfchiedenen Auslegungen Anlaß gegeben 
bat, aber zu Feiner hat man einen bejtimmten Grund. — Auch 
außerdem kommen viele Zahlen vor, aber fo, daß Gezähltes und 
Ungezähltes wunderbar durch einander geht. Da find vor dem 
Zhrone 12000 aus jedem Stamme, alfo 144000; dann ift wies 
der die Menge ungezählt, aber Beides gar nicht beftimmt gefchies 
den, fo daß auch die neueften Ausleger es für dafjelbe gehalten 
haben. Kurz, das Buch fcheint gar nicht auf eine fyftematifche 
Meife behandelt fein zu wollen. ES erfcheinen freilich gewiſſe 
Hauptzahlen vorzugsweife, 4, 7 und 12. Ebenfo auch Z auf 
prägnante Weife, denn wenn 34 Tage und 42 Monate genannt 
werden, fo muß man das auch auf die Siebenzahl zurücdführen. 
Sieben war aber eine folenne Zahl; was alfo hiermit zufammens 
gefegt ift, Fann Feine befondere Beftimmung haben, fo dag, wenn 


Anfang und Schluß der Apoenlypie. 461 


man auch in die Theorien von der Bedeutung der Zahlen, wie 
die Eabbatiftifche, eingehn wollte, damit doch Nichts würde anzu— 
fangen fein. — Nun giebt es einige Stellen in der Apocalypfe, 
wo Auslegungen vorfommen, 3.3. c. 17, 7—18. Xber diefe 
Auslegungen bilden gar Fein Ganzes, woraus fich ein Schluß auf 
das Uebrige machen ließe, fondern fie find ganz defachirt. Im 
zweiten Theile finden fich Stellen, wo der Verfaffer felbft heraus- 
fritt, 3. B. Cap. 13, 9. 10., wo eine Ermahnung ift, die aber 
ganz unverftändlich bleibt. Sie müßte entweder auf dad Folgende 
Bezug haben, oder das Frühere erklären; aber Beides ift nicht 
der Fall, denn man follte glauben, daß nach jener Ermahnung 
gleich das Gericht über die Thiere kommen würde. Aehnlich ift 
Gap. 13, 18. „wer Verſtand hat, fehäge die Zahl des Thiers, 
denn fie ift die Zahl eines Menfchen, 666.”, was fo vielfach ges 
deutet worden ift. Ebenfo fteht Gap. 14, 12. weder mit dem 
Borhergehenden, noch mit dem Folgenden in irgend einer Verbin— 
dung. Alfo felbft wo das Buch die Miene hat, fich verftändlich 
machen zu wollen, findet man nicht3, wovon man irgend einen 
fihern Gebrauch machen Fünnte. 

Sieht man noch auf eine andere Weife auf die Struckur des 
Buches, fo unterfcheidet fich Anfang und Ende von dem Uebrigen 
auf eigenthümliche Weiſe. Nemlich die perfünliche Beziehung auf 
Chriftum ift in der Einleitung und im Anfange des Briefs an die 
fieben Gemeinden befonders fichtbar, und tritt auch am Schluſſe 
wieder hervor. Aber in dem ganzen eigentlichen Körper des Buchs 
tritt dies ganz zurüd; ein gemüthlicher Character ift nur am Ans 
fange und am Ende. Aber da ift auch eine fonderbare Vermi— 
ſchung; es gehn Reden, welche ein Engel, der ſich als Mitknecht 
des Sohannes bezeichnet, halt, und Reden Chrifti fo in einander, 
daß man fie gar nicht fcheiden Fan. Da fpricht fih auch erft 
das Berlangen nach einer baldigen Wiederfunft Chrifti aus, von 
der vorher gar nicht die Nede ift. Ueberhaupt ift es ein fonder= 
bares Verhaͤltniß, daß Chriftus bald in fremden Geftalten vor- 
fommt, al$ ein Mann mit einem Schwerdte im Munde, als ein 


462 Zufammenfesung der Apocalypie aus verfchiedenen Bifionen. 


Reiter, als ein Lamm, und dag dazwifchen Chriftus erwähnt wird, 
als wäre er noch außerdem da, fo daß auch hier eine Verwirrung 
ift, die man nicht nach irgend einer Negel zu bemeiftern weiß. 
Statt der Wiederkunft Chrifti ift im zweiten Theile das neue Se= 
rufalem, dad vom Himmel herabfommt, und zwar im 2i1ten Ga= 
pitel zweimal, fo daß es an verfchiedenen Stellen gefehn wird. 
Da ift doch ſchwerlich zu glauben, daß dies fo zufammengehören 
kann. 

Wenn man dies alles erwaͤgt, ſo giebt es doch ſchwerlich ei— 
nen andern Schluͤſſel dazu, als daß hier eine Menge einzelner 
Viſionen zuſammengeſtellt iſt, die gar nicht urſpruͤnglich als Eins 
gedacht ſind, wobei nur das muß feſtgehalten werden, daß es ein 
beſtimmter Kreis von Bildern iſt, worin das Ganze gehalten wird, 
und daß die Beziehung ſelbſt bei der Identitaͤt der Bilder oft 
eine ganz andere iſt. Unter ſolchen Umſtaͤnden iſt es denn wohl 
ſehr ſchwierig, eine Antwort darauf zu geben, was der Sinn des 
Buchs ſei, und worauf die Geſichte deuten. Dazu kommt, daß 
was als wirkliche Rede unabhaͤngig von der Viſion vorkommt, 
zu allgemein iſt, um beſtimmte Winke zu geben; nur die Idee 
von großen Cataſtrophen, die entweder noch bevorſtehen oder 
uͤberſtanden ſind, bildet den Mittelpunct. Darum muß man ſich 
huͤten, gewiſſe einzelne Andeutungen dem ganzen Buche unterzu— 
legen, die ihren ausſchließlichen Ort nur an einer Stelle haben, 
z. B. in Cap. 20. von der doppelten Auferſtehung, wo der Ver— 
faſſer in der Viſion ſelbſt die zuerſt Erweckten 1000 Jahr herrſchen 
ſieht. Hier iſt offenbar der Chiliasmus ausgeſprochen, aber man 
kann nicht ſagen, daß er durch das ganze Buch geht. 

Da alſo das Ganze zu wenig Zuſammenhang hat, um als Eins 
gedacht werden zu koͤnnen, ſo fraͤgt es ſich, ob es vielleicht von 
Mehreren geſehn und von Einem erſt zuſammengeſtellt iſt. Dies 
waͤre aber eine ganz willkuͤrliche Annahme, denn der Name des 
Johannes ſteht zu Anfang und zu Ende. Es erſcheint alſo als Viſion 
eines Einzigen, nur zu verſchiedenen Zeiten und ohne Beziehung 
der einzelnen Geſichte auf einander. Dann wird aber die Aus= ' 


Form der Viſion in der Apocalypfe. 463 


legung eine ganz andere, denn man kann nun nicht nad) einer 
Einheit fragen, wenn die Gefichte aus ganz verfchiedener Zeit find, 
alfo vielleicht durch verfchiedene Ereigniffe motivirt. Die ganze 
Gefchichte der Auslegung des Buchs bezeugt, daß, wer auf die 
Einheit deſſelben ausgeht, immer zu neuen Willfürlichfeiten 
fommt. 

Dann fragt es fich noch, ob es wirklihe Bifionen find, d. h. 
ob der Berfaffer zu verfchiedenen Zeiten und von verfchiedenen 
Impulſen aus in einem eraltirten Zuſtande gewefen ift, worin 
ihm auch der Auftrag des Schreibens gelegen hat, oder ob das 
Geſicht nur eine poetifche Form ift, worin er feine Ahnung oder 
die Art, wie er von den Begebenheiten afficirt wurde, befchrieben 
hat. Beides ift behauptet worden, und Beides hat Manches für 
und Manches gegen fih. Daß das Sehen als ein wirklicher Zu— 
ftand dargeftellt wird, kommt nicht in Betracht, da es auch bei 
den Propheten felbft da vorfommt, wo man aufs beflimmtefte 
fiebt, daß es nur eine bloße Form if. So muß man alfo Die 
Berechtigung, feinen Gedanken eine folhe Form zu ertheilen, zu— 
geben. Aber wenn Semand ohne einen eraltirten Zuftand eine 
folhe Form wählt, fo muß er bei feinen Zefern eine gewiſſe Ber 
Fanntfchaft mit den Bildern, deren er fich bedient, vorausſetzen. 
Eine ſolche Bekanntſchaft derſelben koͤnnen wir aber gar nicht ab— 
laͤugnen, weil wir nicht wiſſen, in welchen Bilderkreiſen man da— 
mals fich bewegte, denn e5 gab noch mehr arzoxadvwers, die wir 
nicht mehr haben, aber die doch ahnlich gewefen fein müffen. Da 
müffen alfo die urfprünglichen Lefer mehr im Stande gewefen fein, 
diefe Bilder zu verfiehn und daraus die Auslegung zu finden. 
Wenn ich mir dagegen denke, der Verfaffer fei in einem eraltirten 
Gemüthözuftande gewefen, und diefer fei ihm etwas SHabituelles: 
fo wäre bie Erklärung doch nicht zu umgehn, wie der Verfaffer 
zu dieſen Bilder= und Speenkreifen gekommen ift. Aber wenn uns 
nun dazu auch das Material fehlt, fo folgt, daß auch bei diefer 
Anfiht von dem Buche die Erklärung eine Aufgabe ift, welche zu 
löfen nicht möglich if. 


464 Religiöfer Gehalt der Apocalypfe. 


—107 mh 

Unfere nächfte Frage ift nun, für wie groß der Verluſt an: 
zufehn fei, der dadurch entfteht, daß die Erklärung des Buchs mit 
fo unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden ift. Wir müffen dazu 
den eigentlih religiofen Gehalt defjelben betrachten. Sehn 
wir auf den Hauptkörper des Buchs, die Viſionen, welche doch 
bevorftehende Begebenheiten bedeuten follen, fo müfjen wir folgende 
Duncte berüdfichtigen. | 

1. Es ift faft überall darin von Verfolgungen der Chriften 
die Rede, aber eigentlich als von etwas Weberftandenem. Schon 
von vorn herein redet der Verfaffer feine Lefer fo an (V. 9.): 
„Sch, der ich euer Mitgenoffe in der Truͤbſal bin, war auf der 
Snfel Patmos um des Wort Gottes und des Zeugniffes Sefu 
Chriſti willen‘; woraus übrigens nicht hervorgeht, daß er in 
Patmos als Märtyrer war, fondern es kann auch in Geſchaͤften 
des Evangeliums gewefen fein. Dann wird in der Viſion die 
Standhaftigkeit (urzorovy) gerühmt; Cap. 2,10. ift freilich auch 
von bevorftehenden Leiden die Rede. Da ift ein Zuftand von 
überftandenen und noch bevorftehenden Zrübfalen, der faft dur) 
alle Sendfchreiben hindurchgeht. Sm Folgenden herrfcht aber durch— 
aus die Vorftellung von überflandenen Leiden vor, es werden die 
befchrieben, welche aus großer Trübfal gefommen find (c. 7,14.), 
und das Weib, das trunfen ift vom Blut der Heiligen (c. 17, 6.). 
Dies würde fehr gut zur Angabe des Srenaus pafjen, daß die 
Apocalypfe erfi am Ende der Negierung des Domitian gefehn fei. 
Die Plagen werden dann angefehn als Strafen der Heiden für 
diefe Verfolgungen. Eo geht es fort bis zum taufendjährigen 
Reiche, wo es fcheint, als gingen die 1000 Sahr vor den Augen 
des Verfaffers vorüber. So fieht man aus diefer ganzen Zeit bis 
zum Ende der age Nichts heraus als allgemeine Plagen, Die 
unter finnlichen Bildern dargeftellt werden, und wie follen wir 
diefen einen großen religiofen Werth beilegen? Welche einfeifige 
Gemuͤthsſtimmung feßt es voraus, wenn ein Chrift feinen Blid 
in die Zukunft wirft und darin Nichts als göttliche Strafen über 


Religiöfer Gehalt der Apoealypie. 465 


die Ungläubigen fieht! Bon den fegensreichen Folgen der Ver— 
breitung des Chriftenthums kommt Nichts zum VBorfchein. So ift 
es alfo gleichgültig, ob man die Gefichte verfteht, oder nicht; es 
ift nicht$ darin, was uns ein VBerftändniß über das eröffnete, was 
uns das Wichtigfte fein muß, die Vollendung des chriftlichen Le- 
bens und Glaubens. Diefer Kampf kommt nur vor nad) den 
göttlichen Fügungen, fofern fie gar nicht mit der menfchlichen 
Thätigkeit zufammenhängen. Da verfchwindet mir der Werth der 
Bifionen ganz und gar. 


2. Was uns außerdem übrig bleibt, ift die Einleitung, bie 
Sendfchreiben an fieben Gemeinden, dann einige in die Darftel- 
lung eingeftreute Ermahnungen und Hymnen und die Befchreibung 
des neuen Serufalemd. Diefe Stüde verfprechen allerdings mehr 
eigentlich religiöfen Gehalt. Die Einleitung hat es jedoch weni: 
ger mit den Sendfchreiben zu thun, als daß fie überwiegend auf 
die Viſionen aufmerffam macht; was apoftolifchem Zufpruche ähn- 
lich fieht, wird dadurch in den Hintergrund geftellt. Die Send: 
fchreiben enthalten theils Lob und Zadel, theils Ermahnung und 
Zufprud. Lob und Zadel ift aber fo allgemeinen Inhalts, und 
die Befchreibung deffen, was getadelt wird, oft fo dunkel, daß 
man mit der Auslegung nicht aufs Reine fommt, 3. B. bei der 
Lehre des Bileam. Wenn der Tadel dagegen verftändlich ift, fo 
betrifft er das Allgemeinfte, fo daß dies immer nur geringfügige 
Elemente für ein apoftolifches Sendfchreiben geben würde. Dabei 
gehn durch diefe Sendichreiben Spuren hindurch, die fehr beſtimmt 
einen judaifirenden Character an fich fragen. Es fommt c. 2, 9. 
eine ovvayoyn Tod Zaravov derer vor, die vorgeben, Juden zu 
fein, es aber nicht find. Da ift alfo hinter dem Vorgeben des 
Judenthums etwas dem Satan Angehoͤriges verſteckt; ſo waͤre der 
Tadel mehr im Intereſſe eines Juden, als eines Chriſten. Allein 
dies geht doch nicht ſo durch, daß das Intereſſe ein rein juͤdiſches 
waͤre, denn es iſt auch von einem Eingange der Heiden die Rede 
(c. 7, 9.), aber auch wieder, daß Chriſtus fie würde mit eiſernem 

Einl. ins N. T. 30 


466 Ueber den apoftolifchen Urfprung der Apocalypfe. 


Stabe weiden (c. 12, 5.), was doc) nicht auf eine rechte Gleich- 
heit mit den Suden im Gottesreiche geht. | 

Sehen wir darauf, wie die Perfon Chrifii in diefem Buche 
aufgefaßt wird, fo ift ſchwierig, zu irgend einer harmonifchen Vor— 
ſtellung darüber zu kommen, denn er tritt bildlich auf, wahrend 
auch wieder namentlich von ihm die Nede ift. Aber überwiegend 
erfcheint er als Vollſtrecker der göttlichen Strafen, als Diener der 
göttlichen Gerechtigkeit. 

Alles zufammengenommen müfjen wir fagen, daß nur ein 
geringer Nußen aus einer mit Sicherheit ausgemittelten Erklärung 
diefes Buchs zu ziehn fein würde. Es würde doch für chriftliche 
Meisheit oder für Leitung der Kirche Nichts daraus zu entnehmen 
fein, weil Alles auf folche göttliche Strafen zurüdfommt, welde 
außerhalb der chriftlichen Kirche ihren Urfprung nehmen; und das 
unmittelbar religiös Erregende ift fhon wegen des Zufammenhangs 
und wegen der großen Allgemeinheit, worin es gehalten ift, von 
einer fehr geringen Kraft. 


$. 108. 


Fragen wir nun, ob es wohl wahrfcheinlich ijt, daß dies Buch 
ein apoftolifches Product fei, fo fpricht ſchon die Betrachtung fei= 
nes Inhalts und feines chriftlihen Werthes fehr dagegen. Die 
Neigung zu folchen Productionen und die Nichtung, ſich damit zu 
beichäftigen, gebt mehr nach der Seite des Apocryphifchen, als 
des Ganonifchen bin. Nun hat es. mehrere Bücher unter dem Na— 
men dnonadvıpers gegeben, und die arzoxaAvwıg IIezoov hat ſich 
längere Zeit erhalten; nachher aber find fie alle verworfen, und 
die unfrige allein ift zu einer Stelle im Canon gelangt. Da müf- 
fen wir alfo fragen, wie es mit dem Aeußern, mit den Zeugnif- 
fen für die Aechtheit des Buches fteht. 

Hierbei müffen wir im voraus befeitigen, was nur ein Re— 
fultat aus dem Buche felbft ift, nemlich, daß der Verfaffer, der 
fih Sohannes nennt, fagt, er fei des Wortes Gottes wegen auf 
der Inſel Patmos gewefen, und daß wir in alten Kirchenfchrifte 


Zengniffe über den Verfaſſer der Apocalypſe. 467 


ftellern finden, daß der Apoftel Sohannes in fpäterer Zeit nach 
Patmos verbannt fei. Dffenbar ift jene Stelle die einzige nad)- 
weislihe Duelle diefer Nachricht, obgleich diefelbe ſchon auf einer 
willfürlichen Auslegung beruht. 

Mas alfo die Zeugniffe felbft betrifft, fo ift daS erfte das 
von Papias, welches bei Andreas von Gappadocien erwähnt 
wird 1). De Wette erklärt dies freilich für unzuverläffig, aber ich 
fehe nicht ein, warum. Schwerlich iſt wohl zu glauben, daß 
Andreas die Bücher des Papias felbft gefehn hat, aber er wird jie 
aus andern Quellen fennen gelernt haben. Aber das Zeugniß ift 
gar nicht fo, daß daraus hervorgeht, dag Papias den Apoitel So- 
hannes für den Berfaffer gehalten hat. Es iſt zwar befannt, 
daß, wenn in diefer Zeit gefagt wird, ein Buch fei Heomzvevoros, 
gemeiniglich damit auch gefagt ift, es fei apoftolifchen Urfprungs. 
Das ift aber bei folhen Bifionen eine ganz andere Sache, denn 
fie wurden immer ald übernatürlich. angefehn, und e3 wurde da- 
her gefragt, ob fie vom Böfen oder von Gott eingegeben waren. 
Wenn nun Papias das Lehtere von dieſem Buche ausfagt, fo 
folgt noch nicht, daß er es auch für apoftolifch häft. 

Der naͤchſte Zeuge ift Irenaͤus, bei dem wir aber fehr vor- 
fitig fein müffen, weil von dem griechifchen Text feiner Schrif- 
ten nur Fragmente übrig geblieben find, und wir außerdem nur die 
Iateinifche Ueberfeßung haben. Nun giebt es auch eine griechifche 
Stelle von ihm über die Apocalypfe, dann aber mehrere in der 
lateinifchen Ueberfesung, wo ihr Berfaffer als Joannes Domini 
discipulus angeführt wird. Aber in der griechifchen Stelle 2) ift 
gar Feine Angabe, daß Srenaus den Apoftel Sohannes für den 


15) Siehe oben ©. 450. 

2) Siehe oben ©. 450. Iren. adv. haer. V, 30. & yao :ds dvayandov 
To vür #00 xNQVTTEOFuL Tovvoun avrod, du Zueivov av 200297 Tvov 
»al ınv anozakvyıy Emguroros. Ovd: yap no moAlov zoovov Eugadn, 
alla 048dov Zni ung mjuerioag yeveüs, moos o welsı ıns doustiavov 
dguns. 


30 * 


468 Zeugniſſe über den Verfaſſer der Apocalypfe. 


Verfaſſer gehalten hat, und die Auctorität für die Verſchweigung 
des Namens des Antichrift3 würde doch weit größer gewefen fein, 
wenn er den Apoftel flatt deffen, „welcher die Apocalypfe geſehn 
bat”, genannt häfte. Hiergegen verſchwinden mir folche bloße 
Bezeichnungen, wie die in der lateinifchen Ueberſetzung, gänzlich, 
da die Ießtere nach der Vergleichung mit folchen Stellen, die wir 
auch griechifch haben, nichts weniger als wörtlich ift. Dazu kommt, 
daß die Apocalypfe in der Iateinifchen Kirche als apoftolifch aner- 
kannt war, weßhalb es dem Ueberfeßer nahe liegen Fonnte, die in 
der Tateinifchen Kirche gewöhnliche Bezeichnung hineinzufegen. Es 
ift mie alfo Höchft wahrfcheinlih, daß es des Srenaus Meinung 
nicht ift, daß der Apoftel Verfaffer der Apocalypfe fei. Irenaͤus 
war im genauer Befanntfchaft mit Schülern des Johannes und 
ift von Smyrna nach dem Abendlande gefommen. Es ift mir 
fogar nit unwahrſcheinlich, daß er die Apocalypſe zuerſt nach 
dem Abendlande gebracht hat, denn dies ift die erfte Spur davon, 
daß Fleinafiatifche Lehrer dorthin kamen, und die fieben Send— 
fchreiben weifen offenbar auf einen Fleinaftatifchen Urfprung hin. 

Tertullian fagt freilich auf das beftimmtefte: Apostolus 
Joannes in Apocalypsi, und dad müffen wir als ein Factum gels 
ten laffen, daß die Offenbarung in der lateinifchen Kirche für apo— 
ftolifch gehalten ift. Aber wie leicht in einer folchen Entfernung 
eine VBerwechfelung möglich war, wie wenig man wiffen Fonnte, 
daß der Name Sohannes damals fehr häufig war, mie alfo fehr 
gut diefe Meinung ohne allen pofitiven Grund bloß aus dem Na= 
men entftanden fein kann, werden wir nicht anders als wahrſchein— 
lich finden. 

Sn der griechifchen Kirche ift der erfte Zeuge für den apofto- 
lifchen Urfprung des Buchs Suftin, der im Dialogus cum Try- 
phone fagt: «avre rıs, a ovone ’Iwavvyg, eis Tuv anooTo- 
Aov Tod X010T0V, 2v anonaAvyer etc. Es ift freilich noch nicht 
gewiß, ob diefer Dialog von Zuftin ift, aber wenigftens iſt es ein 
ſehr altes Bud. Clemens von Alerandrien nennt auch 
die Apocalypfe eine arzoorosın) gan. Daffelbe fagt Drigenes 


Gegner ber Apocalypie. | 469. 


deutlicher an mehreren Stellen, z. B. &v 77 anonakvwper 6 ToV 
Zeßedaiov Incvrrg. 

Nun aber ift es doch fehr merkwürdig, daß ungeachtet Diefer 
ſtarken Zeugniffe fo berühmter Kirchenlehrer Hieronymus, den 
man doch in dergleichen Dingen für einen fehr unterrichteten Mann 
- halten muß, und der eher ein Intereſſe für als gegen die Apoca— 
lypſe hatte, fagt, daß diefelbe in der griechiſchen Kirche nicht an— 
erkannt werde. Es muß alfo die öffentlihe Meinung in der Kirche 
nicht durch dieſe Beugniffe beftimmt fein. Nun finden wir feit 
Drigened immer zunehmende entfchieden ausgefprochene Zweifel 
gegen die Xechtheit des Buchs mit der Richtung, es einem andern 
Berfaffer mit dem Namen Sohannes oder einem beflimmten An- 
dern zuzuschreiben. 

Der Hauptgegner der ——— iſt Dionyſius von 
Alexandrien, von welchem und Euſebius (h. e. VII. 25.) mit großem 
Fleiß Stellen mitgetheilt hat (bei De Wette $. 189.190.192.). Diefer 
in der That vorzüglich critifche Kirchenlehrer hebt nun ſchon die Puncte 
heraus, durch welche die gaͤnzliche VBerfchiedenheit zwifchen dem 
Evangelium und dem erften Briefe des Johannes einerfeits und | 
der Apocalypfe andrerfeitö deutlich gemacht wird. Nicht nur das 
weniger Bedeutende, daß der Verfaffer in der Apocalypfe fich nir- 
gends als den Apoftel bezeichnet, fondern auch der verfchiedene 
Character der Sprache und der Gedanken ift dort fo gut ins Licht 
geftellt, wie man nur es fpäter gethan hat. Nun fagt Dionyfius, 
daß fchon früher Zweifel gegen dies Buch aufgeführt feien, Die 
aber von anderer Art gewefen, indem fie mehr gegen einzelne 
Saͤtze deflelben gerichtet waren. Dionyfius felbit ift zwar auch 
ein Gegner des Chiliasmus, aber feine Zweifel find nicht daher, 
fondern philologifch begründet. Mehrere hatten die Apocalypfe 
dem Gerinth zugefchrieben, was fonderbar ift, da Cerinth nad) 
andern Nachrichten faft ein perjünlicher Gegner des Sohannes war. 
Gerinth war ein GChiliaft, und es ift merkwürdig, daß gerade fein 
Gegner Sohannes ein Buch gefchrieben haben foll, worin der Chi- 
liasmus vorgetragen wird. Diefen Zweifel hat fihon ein römifcher 


470 Verhältniß der Apocalypje zum Canon. 


Presbyter, Cajus, vorgebradt (Euseb, h. e. III. 28.). Anders 
ift es mit den Zweifeln der Aloger, die zugleich das Evangelium 
des Sohannes verwarfen. 

Sp wurde die Apocalypfe in der griechifhen Kirche nicht all- 
gemein angenommen, bis fie hier zu derfelben Zeit in den Canon 
Fam, wie der Hebräerbrief in der Iateinifchen Kirche. 


$. 109. 


Es ift wohl die Differenz zwifchen den beiden am meiften für 
johanneifch anerkannten Schriften, dem Evangelium und dem er- 
ffen Briefe, und der Apocalypfe fo groß, daß De Wette mit Recht 
jagt, es ſtehe in der neuteftamentlichen Critik Nichts fo feft, als 
daß dieſe drei Schriften nicht denfelben Verfaffer haben koͤnnen. 
Zugleich aber fcheint er doch die Möglichkeit zuzugeben, daß So: 
hannes nicht der Verfaſſer des Evangeliums ift, wenn die Apoca— 
Iypfe von ihm ift. Aber ich kann dies Buch af und für fich nicht 
für ein apoftolifches halten. Nun hat es mehrere Apocalypfen ge- 
geben, welche Apofteln zugefchrieben wurden, die aber alle, nach=. 
dem fie eine Zeitlang Intereſſe erregt, bei Seite geftellt find. Die 
unſrige Hat ihr günftiges Schiefal nicht dem Urtheil der Gegend 
zu verdanken, in der jie wahrfcheinlich entftanden ift, fondern der 
abendländifchen Kirche. Diefe Differenz des Ausgangs, wenn wir 
ihre Genefis betrachten, fpricht gar nicht dafür, daß es hinreichend 
begründet ift, fie für ander geartet zu halten, als jene verwor- 
fenen Apocalypfen, von denen wir freilich Nichts mehr wiffen, die 
aber gewiß von ähnlicher Form waren. Jetzt ift der Canon firirt, 
und es ift nicht möglich, ihn zu ändern, weil er ein gefchichtliches 
Factum if. Darum Fann nicht davon die Rede fein, die Apo- 
calypfe und andere bezweifelte Bücher vom Canon zu trennen, 
denn es würde ein gewaltfames und unhiftorifches Verfahren fein. 
Bei den angefochtenen apoftolifchen Briefen wäre es auch ungerecht, 
denn man darf auf fie den Begriff untergefchobener Bücher nicht 
anwenden, und fie enthalten nichts der apoftolifchen Lehre Wider— 
fprechendes. Mit der Apocalypfe hat es freilich gewiffermaßen eine 


* 


Ueber Johannes Presbyter ald Verfaſſer der Apocalypſe. ATI 


andere Bewandiniß, denn es halt fchwer, die darin vorkommende 
Borftellung von einem taufendjährigen Neiche Chrifti abzutrennen 
von finnlichen meffianifchen Erwartungen, was doch im neuen Te— 
ftament beftimmt gefondert wird. Aber der Character des Unter- 
gefchobenen kommt der Apocalypfe eben fo wenig zu, denn der 
Berfaffer will gar nicht für den Apoftel gehalten fein. 

Diejenigen in der griechifchen Kirche, welche ihre Aechtheit 
bezweifeln, nehmen einen andern Sohannes als Verfaffer der Apo- 
calypfe an, worunfer man auch Eufebius rechnen kann, von dem 
man mit Unrecht fagt, daß er fich ſchwankend über dieſelbe er- 
Eläre. Denn überall, wo er Gelegenheit hat, führt er Zweifel 
- gegen fie auf, und wo er fchwanfend fpricht, giebt er nur Die 
Ihwanfende Meinung des damaligen allgemeinen Urtheild an. Da, 
wo er vom Papias handelt (h.e. III. 39.), giebt er fich ausdruͤck— 
lich die Mühe, exegefivend zu beweifen, daß ed zwei Johannes 
gegeben habe, und fest hinzu, man koͤnne den zweiten für den 
Berfaffer der Apocalypfe halten, Wenn nun diefer andere Sohan= 
nes ein Schüler des Apoftels gewefen fein fol, fo kann ich mir 
auch nicht erklären, wie er dies Buch gefchrieben habe. Denn 
daß er in deffen Schule diefe Richtung befommen habe, fomohl 
überwiegend gern göttliche Strafen darzuftellen, als ein taufend? 
jähriges Neich zu denken, kann ich Faum glauben. Sch lege da= 
her hierauf Fein großes Gewicht, fondern fehe es nur als einen 
Verſuch an, ein anderes Individuum’ deffelben Namens anzugeben, 
was aber auf diefem Gebiete niemals die Pflicht des Gritikers 
fein Eann. 


$. 110. 

Ich will nun hier, eben weil man die Apocalypfe ald eine 

Art von Gränzpunct zwiſchen Ganonifchem und Apoeryphifchem 
anfehn kann, noch einmal die Bücher des neuen Teſtaments in 
Bezug auf den Begriff des Canons zufammenftellen, d. h. fofern 
fie die normale Darjtellung des Chriftenthbums enthalten müffen. 
Diefem Begriffe zufolge ift nach dem Auseinandergeſetzten Elar, 


472 Canoniſches Verhältniß aller neuteftamentlihen Schriften zu einander. 


daß ich der Apocalypfe nur einen geringen Werth beilegen kann; 
einzelne Ausfprüche, die wir in diefer Hinficht gebrauchen koͤnnen, 
giebt es in derfelben fehr wenig und erhalten diefen Character erft, 
wenn man fie aus dem Zufammenhang herausreißt. Nun fragt 
eö fih, ob es diefem Minimum gegenüber ein Maximum giebt, 
und ob wir eine Reihe anlegen Eönnen, wodurch fich der Werth 
der verfchiedenen Theile des neuen Teſtaments in eine Ordnung 
ftellt. Daraus, daß gefchichtlich der Canon urfprünglich aus den 
zwei Hauptbeflandtheilen, den Evangelien und den paulinifchen 
Briefen, beftand, und alles Uebrige erft fpäterer Zuwachs ift, 
folgt noch nicht, daß das Lebtere Deuterocanonifch fei, denn es 
konnte auch ein rein canonifches Buch erft fpäter befannt werden. 
Unter den Evangelien ift die Stellung des johanneifchen von der 
größten Wichtigkeit, denn wenn man die drei fpnoptifchen fich als 
die urfprünglichen denkt, fo gewinnen die Abweichungen des jo— 
banneifchen, namentlich der mehrmalige Aufenthalt Chrifti in Je— 
rufalem und die Uebergehung der Einfeßung des Abendmahls, eine 
befondere Färbung; und giebt man dabei die Möglichkeit zu, daß 
ein Apoftel ein Buch von fo vifionarem Snhalt fchreiben Eonnte, 
wie die Apocalypfe, fo eriftirt die Möglichkeit, daß das vierte 
Evangelium nicht von einem Apoftel ift. Für mich exiſtirt diefe 
Möglichkeit nicht, fondern ich Fann nicht anders, als das johan= 
neiſche Evangelium fchlechthin voranftellen; feine erftaunliche An= 
ſchaulichkeit, die ſich fo ſchwer nachahmen läßt, ift für mich ein 

hinlaͤnglicher Beweis; die Nichterwähnung des Abendmahls erkläre 
ich nicht daraus, daß Sohannes die andern Evangelium habe er= 
ganzen wollen, fondern daß er nicht erzählen wollte, was in Al: 
ler Munde war, oder er mag auch einen andern Grund gehabt 
haben, den wir nicht mehr angeben Fünnen. Wir ftellen alfo daS 
Evangelium des Sohannes oben an, worin auch liegt, daß er Fei- 
neswegs in den Neden Chrifti etwas Eignes hinzugethan hat, wenns 
gleich der Eingang von ihm herrührt, den man aber fehr gut er= 
flären Tann, ohne auf alerandrinifche Philofophie zurüdzugehn. 
— Fragen wir nun weiter, ob wir einen Unterfchied machen müf- 


Canoniſches Verhältnif aller neuteftamentlichen Schriften zu einander. 473 


fen zwifchen den Evangelien, die unmittelbar Worte Chrifti wie: 
dergeben, und den apoftolifchen Briefen, welche dergleichen nicht 
haben, fo glaube ich, daß wir nach unferm Begriffe des Canons 
diefen Unterfchied nicht machen Fünnen. Denn theils haben wir 
die Worte Chrifti doch auch nur aus der zweiten Hand, theils 
haben die Apoftel doch alles, was fie als chriftliche Ermahnung 
und Lehre vortragen, aus Chrifto gefchöpft, und wenn es auch 
nur aus feiner Rede gefolgert ift, fo ift es doch ein Reſultat des 
unmittelbaren perfünlichen Umgangs. Auf diefe Weife ftellen ſich 
beide Arten von Schriften gleich. — Nehmen wir nun die apoſto— 
liſchen Briefe fuͤr ſich und ſondern die pauliniſchen, weil ſie eine 
beſondere Maſſe von einem Berfaffer bilden, von den andern, 
die von verfchiedenen herrühren: fo werden wir nicht umhin koͤn— 
nen, zu fagen, daß ein ähnliches Verhaͤltniß zwifchen den pauli= 
nifchen Briefen und den andern Briefen ift, wie zwifchen dem 
_ johanneifchen Evangelium und den andern Evangelien. Diefe 
Aehnlichkeit bezieht fich auf die Einheit in den einen und die fich 
verschieden modificirenden Anfichten in den andern; denn es wäre 
doch unmöglich, aus den Fatholifchen Briefen ein Corpus der 
Doctrin zufammenzuftellen, wie man es aus den paulinifchen 
fehr gut fann. So finden wir alfo in: beiden Theilen des N. 8.5 
folche Differenzen, daß das Eine hier einen größern Werth hat, 
dad Andere dort. — Sondern wir nun hier wieder die bezweifel- 
ten Briefe aus, namentlich die auf gewiffe vifionäre und prophe— 
tifhe Elemente zurüdgehn, und nehmen fie mit der Apocalypfe 
zufammen, fo ftellen fich diefe in Bezug auf den canonifchen Cha: 
tacter den vorigen fehr untergeordnet, fo daß wir allerdings einen 
Unterfchied zwifhen proto= und deuterocanonifchen Schriften im 
neuen Zeftament zugeben. 


DIELELER Eher, 


Bon dem Fitterarifchen Zuſammenhange und 
den Quellen des neuen Teſtaments ). 


§. 111. 


Es bleibt uns nun noch eine fehr bedeutende Betrachtung 
übrig, nemlich die des neuen Zeflaments in feinem litterarifchen 
Zufammenhange al5 Theils ver damaligen Lifteratur und in Be 
ziehung auf den Einfluß, den diefe auf dafjelbe ausgeübt hat. 
Allein dies ift eine fo weitläuftige Betrachtung, daß darauf ein 
ganzer Curſus verwandt werden koͤnnte; ich will daher nur die 
allgemeinen. Gefichtöpuncte angeben. 

Wir Fönnen das neue Teſtament nicht anders anfehn, als 
der Nationalität nach als einen Theil der jüdifshen Litteratur. 
Die Berfaffer gehören alle diefem Volke an, wenn nicht urfprünglich, 
fo doch durch Adoption, und das Ganze verfirt in einem Ver: 
bältniffe, welchem ein Zuſammenhang von jüdifcher Denfungsart 
und jüdifchen Begriffen zum Grunde liegt. Allerdings koͤnnte 
man hierbei einen Unterfchied machen zwifchen den Xheilen des 
N. 5, welche auf paläftinifche Chriften, und denen, welche auf 
helleniftifche fich beziehen. Indeß würde fich dies nicht durchfuͤh— 
ven lafjen, indem es keinen befondern litterarifchen Zufammenhang 
für daS Lestere giebt. Allerdings koͤnnen hierüber getheilte Mei- 
nungen fein; aber es ift gewiß, daß für die helleniftifchen Suden 


— 


1) Siehe oben ©. 17. u. 31. 


Nationaler Character der neuteftamentlichen Schriften ald jüdiſcher. 475 


und die, welche ſich an das Juͤdiſche anſchloſſen, kein Zuſammen— 
bang deſſen, was ihnen als chriftlich geboten wurde, mit irgend 
einer andern, nicht jüdifchen, Litteratur flattfand. Wenn in pau— 
linifchen Reden und Briefen Citate aus griechifchen Schriftftelern 
vorkommen ‚fo beweifen diefe weder für feinen noch feiner Kefer 
Bufammenhang mit griechifcher Litteratur irgend Etwas 1). Es 
find Ausfprüche, die fprichwörtlich geworden waren, und es ift 
gar nicht entfchieden, ob Paulus gewußt hat, wem diefe halben 
Verſe angehörten, da er fie aus dem gemeinen Leben gekannt ha— 
ben mochte, ‘ 

Wenn wir nun dies feftftellen, fo entfteht die Frage, welchen 
Einfluß die gefammte Nationallitteratur auf das neue 
Teftament gehabt hat. Wir müffen hierbei die Materie und 
die Form unterfcheiden. 

Was die letztere betrifft, fo hat die Form der Lehrbriefe, 
die einen fo’ großen Theil des neuen Teſtaments ausmachen, Feine 
beftinnmte Analogie in jener Litteratur, fondern fie ift entſtanden 
durch die Art und Weife, wie fich die chriftliche Gefellfchaft bildete. 
Aehnlich verhält es fih mit den Evangelien. Sehn wir auf die, 
drei fonoptifchen, fo. ift das Gefchriebenfein etwas Secundäres, 
und das Urfprünglihe ift die mündliche Erzählung. — Anders 
iſt es, wenn wir auf die Form deſſen fehn, was die Schriften 
enthalten; da fommen wir in die Analogie des Volkslebens, aber 
die Analogie der Litteratur geht verloren. Die Art der Parabeln 
war in erfterem gewöhnlich, aber unabhängig von der letzteren. 

Sn Beziehung auf den Snhalt it diefe Frage noch fehr 
fireitig und fpielt auch in die Wartheianfichten in der Theologie 
hinein. Es fragt fich nemlich, in wiefern es mit dem chriftlichen 
Glauben zufammenhängt, daß wir alles, was chriftliche Lehre ift, 
als etwas wefentlih Neues von der Offenbarung Chrifti ableiten, 
_ oder in wiefern wir vorausfeßen müffen, daß Chriftus felbft und 

die nächften Verkuͤndiger des Chriftentbums und Verfaffer des 





1) Siehe oben ©. 123. 


476 Ueber den Einfluß jüdiſcher Bildung auf das urſprünglich Chriftliche. 


neuen Zeftaments fich felbft aus dem Gedanfenfreis der Zeitge⸗ 
noſſen gebildet haben. Dies iſt ein ſo weites Feld, daß es eine 
eigne Litteratur ausmacht, welche vorzüglich darauf ausgeht, Ana— 
logien zwifchen den neuteflamentlichen Schriften und den Apo- 
erpphen des alten Zeftaments und andern Schriften und der rab— 
biniſchen Literatur aufzuftellen. Die Aufgabe ift, den Zuſammen— 
bang zu fuchen zwifchen der urfprünglich chriftlichen Mittheilung 
in mündlicher Nede und fchriftlicher Abfaffung und den Gedanken 
und Meinungen, welche die Verkfündiger des Chriftenthums im 
Volksleben fanden, nebft dem, was wir als eigentliche Litteratur 
kennen. 


Es liegt nun eine Frage hierzwiſchen, die in den Vortraͤgen 
uͤber die Geſchichte Chriſti zu beantworten iſt, nemlich in wiefern 
Chriſtus in der Zeit ſeines Lebens, die uns groͤßtentheils un— 
bekannt iſt, ſich mit der Litteratur ſeines Volks beſchaͤftigt 
haben mag. 


Die Lage der Sachen iſt hierbei die. Was wir von juͤdiſcher 
Litteratur, die in jener Zeit gangbar war, wifjen, fcheidet fich in 
zwei fehr verfchiedene Zweige, in das Paläftinifche, wobei die 
aramäifche Sprache das Vehikel war, und in das Alerandrini- 
ſche, was ganz und gar hellenifirt war. Won helleniftifch jüdi- 
fcher Litteratur, die andermwärts urfprünglich war, ift uns fo 
gut wie gar Nicht3 befannt. Die jüdifch alerandrinifche Literatur 
wird für und vornehmlich und ausfchließlih durch Philo repräs 
fentirt. Und da ift ein einziger Punct im neuen Zeflament, der 
eine Leitung gegeben hat, um einen Bufammenhang mit Philo 
zu finden, nemlich die Lehre vom Aoyos im Evangelium des 
Johannes. Sch muß aber geftehn, daß ich niemals habe diefen 
Zufammenhang finden koͤnnen. Es iſt nicht nachzumweifen, daß die 
Schriften des Philo in Paläftina gangbar gewefen find, und eben 
fo wenig, dag Sohannes anderswo mit ihnen befannt geworden 
fei; und andrerfeitS glaube ich, daß man gar nicht nöthig hat, zu 
den alerandrinifchen Theorien feine Zuflucht zu nehmen, um das, 


Ueber den Einfluß jüdischer Bildnng aufdas ursprünglich Chriftliche, 477 


was fich bei Sohannes findet, zu erklären ?). Einen andern An- 
knuͤpfungspunct für Alerandrinifches im N. T. würden Ayollos 
und Barnabas geben, der Eine aus Alerandrien, der Andere aus 
Cypern. Aber wir wiffen von Beiden viel zu wenig, wie zeitig 
fie jene Gegenden verlaffen haben und in das jüpdifche Gebiet 
übergegangen find, als daß wir darauf Etwas bauen Fünnten. 
Es ift offenbar, daß Apollos fhon mit meffianifchen Ideen befannt 
war, ehe er zum Chriftentyum kam; dieſe waren aber, fo viel 
wir wiffen, in der alerandrinifchen Litteratur gar nicht gangbar. 

Wir müffen uns alfo rein auf das Paläftinifche beſchraͤnken. 
Da lag aber die Sache fo, daß alles, was Litteratur war, Sache 
der Schule war und im Kreife ver Schule blieb; und es ift aus 
dem N. T. nachzumeifen,, daß weder Ehrifius, noch feine eigent- 
lichen Schüler durch das Gebiet der Schule gegangen waren. Ob 
Chriſtus Befanntfchaft mit der nationalen Kitteratur hatte, Fünnen 
wir dahingeftellt fein laffen, aber das ift gewiß, daß er nicht in 
der gewöhnlihen Schule gebildet war. Allerdings aber lehrten 
die, welche die Schule durchgemacht hatten, auch öffentlich und 
brachten fo ihre Elemente in das öffentliche Leben, aber natürlich 
gab es damals, wie immer, einen Unterfchied zwifchen dem Po— 
pulären, was in daS allgemeine Verſtaͤndniß übergehn Fann, und 
dem Speculafiven, was darin feinen Ort findet. 

Menn wir nun die neuteftamentliyen Ideen befrachten, fo 
ift offenbar, daß Chriftus in feinen Neden Vieles anbringt, mas 
er nicht lehrt, fondern was er als befannt vorausfest, was 
er aber nicht aus dem alten Zeftament, der allgemeinen Bildungs: 
quelle, als befannt vorausfegen Eonnte, d. h. aus denjenigen 
heilen deflelben, mit denen Seder vertraut fein mußte. Denn 
offenbar fpricht Chriftus von der Auferftehung der Todten nicht 
fo, daß er fie lehrt, fondern er fest fie alS befannt voraus. Daf- 
felbe gilt von der damit verwandten VBorftelung vom Gericht. 
Das waren allgemeine Vorftellungen geworden, wir Fünnen nicht 


1) Siehe oben ©. 333— 335, 


478 Eigenthümlich chriftliche Vorſtellungen. 


einmal ſagen, durch die Litteratur, denn ſchon durch den Verkehr 
mit fremden Nationen in der Zerſtreuung wurden die Juden mit 
andern Vorſtellungen bekannt. Anders aber iſt, was ſeiner Natur 
nach ſpeculativ iſt und deshalb nicht ſo in das Volksleben uͤber— 
gehn konnte; davon muͤßte man erſt nachweiſen, daß es aus be— 
ſtimmten Quellen oder aus Lehrweiſen, die denſelben zum Grunde 
liegen, in das neue Teſtament uͤbergegangen iſt. Es iſt offenbar, 
daß alles, was die Frage nach der Fortdauer im Tode betrifft, 
uͤberall von dem Intereſſe iſt, daß es in das allgemeine Bewußt— 
ſein kommt, ſoweit es nicht ſpeculativ iſt. Offenbar giebt es eine 
Menge Vorſtellungen im N. T., die aus dem durch auslaͤndiſche 
Elemente erweiterten Volksleben her ſind, aber die gar nicht un— 
mittelbar aus der Litteratur abgeleitet zu werden brauchen. 
Fragen wir, wie die unmittelbar hriftliden Borftel- 
lungen aus dem Volksleben oder der National= Litteratur zu 
verftehn find, fo kommt es darauf an, was eigenthümlich chriftliche 
Borftelungen find. Nun ift offenbar, daß für etwas, was voll: 
fommen neu wäre, es auch gar feinen Anfnüpfungspunct gäbe. 
Alles abfolut Neue kann gar nicht mitgetheilt werden. Denn ein 
abfolut neuer Gedanke wäre nur Gedanke, fofern er ausgefprochen 
wird; er muß alfo fein Darftellungsmittel in der Sprache haben; 
alfo die Elemente müffen doch befannt fein, nur die Berfnüpfung 
it neu. Wenn wir uns alfo bier in das eigentliche Centrum der 
Sache ftellen, fo müffen wir bei der meffianifchen Vorſtel— 
lung anfangen. Es ift offenbar, daß diefe als befannt voraus— 
gefeßt wird, und dag Chriftus fie auf fih anwendet. Und indem 
die Lehre von feiner Perfon das Centrum des Eigenthümlichen in 
der chriftlichen Lehre ift, fo wäre die Frage zunaͤchſt die: ift die 
Art und Weife, wie Chrijftus die meffianifche Vorftelung auf fich 
anmwendet, in der jüdifchen Litteratur oder im jüdifchen Volksleben 
enthalten, und wie viel oder wie wenig ift davon fein Eigne3? 
Nun ift offenbar, daß die meffianifche Vorftelung urfprünglic 
politifch war, politifch in dem Sinn, wie man es bei einer Theo— 
cratie fagen Fanı. Da nemlich darin das Politifhe und Religiöfe 


Eigenthümlich chriſtliche Vorſtellungen. 479 


nicht getrennt wird, ſo laͤßt ſich ſchon eine große Verſchiedenheit 
denken, wie dieſe beiden Elemente mit einander verbunden ſind; 
und es finden ſich die Spuren ſolcher Differenz uͤberall in den 
Nationalſchriften, und ſo ging ſie auch in die Nationallehre uͤber, 
wobei es eine Parthei gab, welche dieſe Idee ganz aufhob, eben 
weil ſie das Politiſche allein hervorhob und das Religioͤſe im alten 
Hebraismus nicht anerkennen wollte. Dies war das Weſen des 
Sadducäismus. — Aber wenn man ſagt, die Idee von Chris 
ftus (von dem, was Chriftus fei), fei fchon vorher dageweſen, 
und Chriftus habe fih nur als das perfönliche Subject zu einer 
ebenfo ausgebildeten Vorftellung dargeboten: fo glaube ih, daß 
dies nirgends in der Nationallitteratur anzutreffen ifl. Herr Dr. 
Paulus hat dies vorzüglich fo dargeftellt, als ob der Meffias fchon 
vor Chrifti Zeit als ein perfönlich präeriftirendes Weſen, das 
nächfte neben Gott, gedacht wäre. Daß im Gebiet der Eitteratur 
Verbindung zwifchen fpeculativen Puncten und den melfianifchen 
Borftellungen vorgefommen, davon finden fich mancherlei Spuren, 
aber bei weitem find nicht alle, die man geltend gemacht, Acht. 
Das Speculative ift weit mehr auf dem alerandrinifchen Gebiete, 
wo es durch das Hellenifche angeregt war, als auf dem paläfti= 
nifchen; und das Erftere kann man gar nicht in Zufammenhang 
mit dem neuen Teſtament bringen y. Am wenigſten finde ich im 
Daniel die eigentliche Quelle davon. Es wird bei ihm das 
meſſianiſche Reich als die fünfte Weltmonarchie dargeſtellt (Dan. 7.), 
aber es kommt dabei der perſoͤnliche Meſſias gar nicht vor. Denn 
wenn die vier Monarchien unter dem Bilde von Thieren darge— 
ftellt werden, die fünfte aber unter dem eines Menfchen: fo müßte 
man alle Analogie aufheben, wenn man diefen Lesten als den 


1) Erf. Entw. Philo ift eigentlich nicht als in diefen Kreis unmittelbar 
gehörig zu adhibiren. — Die Perfonification des Aoyog ift bei ihm Fein 
Theorem, fondern ein hermeneutifches Hülfsmittel. 

Die Perfonification der oogie in Sap. Sal. hat keinen Einfluß auf 
das R. Teſt. geübt, 


480 Eigenthümlich Hriftliche Vorſtellungen. 


Stifter anſehn wollte, denn die Thiere ſtellten nicht die Stifter, 
ſondern den Character der Monarchien dar; ſo alſo auch der Menſch. 

Wenn man ferner die Theorie von der Verſoͤhnung, wie 
fie im N. T. vorkommt, als aus der jüdifchen Litteratur 
herrührend anfehn will, fo hat man dabei meiftens fpäteres Sü- 
difches, was erſt aus dem Chriftlichen entftanden ift, mit dem 
frübern verwechfelt. Es giebt hier ganz beftimmte Scheidungs- 
puncte. Der Meffias wurde immer als ein Neformator des Ge— 
feßes gedacht, aber nicht fo, daß er es ganz aufheben follte. Das 
Gefeb war aber beim Zufammenhang zwifchen Vergehungen und 
Opferungen nothwendig. Man hat zwar gefagt, es fei niemals 
jüdifche Theorie gewefen, daß für eigentlich moralifhe Sünden 
Opfer Fünnten Sühne fein; aber der Cultus Fonnte gar nicht 
gedacht werden, wenn nicht Opfer darin einen mwefentlichen Punct 
bildeten, Wenn der Meffias nun ein Neformator des Gefekes 
werden follte, fo hatte das den Sinn, daß das Gefek geiftiger 
gemacht, und das äußerlich Läftige abgefchafft werben folte. So 
wie nun aber der Tempel zerftört war, fo mußten die Juden 
felbft auf ein Subftitut für den vergangenen Tempel- und Opfer: 
dienft denken, und da wurden foldhe Theorien ausgedacht, wie, 
daß der Meſſias felbft das Opfer für ſich machen folte. Das ift 
die Borftellung von einem leidenden Meffias, von der man 
nicht den geringftien Grund hat anzunehmen, daß fie vor der 
Zerftörung des Tempels dageweſen fei, denn fie wäre die Oppo— 
fition gegen daS Gefeß ſelbſt geweſen. 

Daß die Vorftellung vom Reihe Gottes, welches fi 
von einem politifchen ganz fonderte und alfo rein das Innere zum 
Beftand hatte, irgendwo gewefen fein follte vor Chriftus, läßt 
fih gar nicht nachweifen. Dies wurde eben durch feine Perfon, 
durch die Aeußerung feines perfünlichen Selbfibewußtfeins darge: 
fielt, und zwar in der Form des Gegenfaßes, daß es nicht ein 
Reich von diefer Welt fei. Diefe Sonderung ift offenbar Die 
Seite des eigenthuͤmlich Chriftlichen, an welcher Fein Anfehiepunge 
punct war. 


Unabhängigkeit d. Chriſtenthums v. früher vorhandenen Vorſtellungen. 481 


Wenn man nun von dieſen Centralpuncten ausgeht, ſo kann 
die Unterſuchung nur den Gang nehmen, daß man fragt, ob wir 
aus dem N. T. ſelbſt, aus der Art, wie die Vorſtellungen aus— 
gefuͤhrt und mitgetheilt werden, wiſſen, in wiefern die Verfaſſer 
ſelbſt etwas Neues zu ſagen behaupten, oder in wiefern ſie das, 
was ſie ſagen, als etwas Bekanntes vorausſetzen, wobei man aber 
noch ſehr vorſichtig ſein muß, zu unterſcheiden, was ſie in ihren 
Schriften als bekannt aus ihrer mündlichen Lehre oder aus Volks— 
vorftellungen vorausfegen. Wenn 3. B. Paulus von Myfterien 
fpricht, fo nennt er fie bald dabei, bald nicht, jo daß doch feinen 
Lefern befannt fein mußte, was er meinte; da fieht man, daß er 
Darauf zurüdgeht, daß es vor der Zeit des Chriftenthums nicht 
befannt gewefen. Wäre es nun in der nationalen Litterafur ge= 
wefen, fo koͤnnte es Paulus nicht als Myſterium darftellen. Vom 
Gentrum des eigenthümlich Chriftlichen aus ift alle andere Ausführung 
entweder pofitive Entwidlung oder vergleichende Abweifung von 
frühern Borftellungen, und da muß man immer das Eine von 
dem Andern genau fondern. Sm Lebtern muß Bezug genommen 
werden auf bekannte Borftellungen. 

Sch glaube, wenn man diefe Methode fefthält, fo wird ſich 
zeigen, daß Feineswegs das Chriſtenthum nur aus einem andern 
Gebrauche entftanden fein kann, ver von ſchon früher vorhande: 
nen Borftellungen gemacht worden wäre. Wenn das Chriftenthum 
nicht den Grund feines eigenthümlichen Wefens in der Perfon 
Chriſti Hätte und alfo auch nicht von feiner Darftellung feiner felbft 
ausginge, fondern wenn e5 nur entflanden wäre, wie Biele es 
haben anfehn wollen, dur Nachdenken, Studium oder die nafür= 
liche Neinigung, welche andere VBorftellungen erfahren, wenn fie 
durch ein reineres Gemüth hindurchgeben: fo wäre es Nichts, 
als ein modiftcirtes Sudenthbum. Aber fo wird es auh im N. T. 
nicht vorgetragen. Keines auch der allergeiftigften und am meiften 
idealiftifchen Producte der jüdifchen Litteratur, wie fie in den Apo— 
erpphen erfcheinen, verläßt jemals den jüdifchen Particularismus, 
aber das Ehriftenthum hebt ihn felbft auf. Wenn man nun fagt, 

Einl. ins N. T. Si 


482 Unabhängigkeit d. Chriftenthums v. früher vorhandenen Vorſtellungen. 


das ſei etwas Spaͤteres und in Chriſto ſelbſt nicht geweſen, ſo 
laͤßt ſich das aus dem geſchichtlichen Zuſammenhang klar widerle— 
gen, weil ſeine Juͤnger gar nicht in eigner productiver Kraft er— 
ſcheinen. Haͤtte Paulus aus ſeiner ſpeculativen Bildung, und 
Johannes aus alexandriniſchen Philoſophemen Fremdartiges in die 
chriſtliche Lehre einbringen wollen, ſo waͤre es nicht moͤglich ge— 
weſen, daß die andern Apoſtel es aufgenommen haͤtten, und es 
waͤre nothwendig eine Spaltung entſtanden. Es folgt alſo, daß 
jenes ſchon in der urſpruͤnglichen Vorſtellung Chriſti von der Stif- 
tung einer ſolchen Gemeinſchaft gelegen habe. Darum iſt es 
auch rein von ihm ausgegangen und hat keinen Anknuͤpfungspunct 
in der juͤdiſchen Litteratur, Selbſt wenn man mehr zugiebt, als 
man geſchichtlicher Weiſe zugeben kann, und einen Einfluß alexan— 
driniſcher Weisheit annimmt, ſo wird es eben ſo wenig anders 
ſein. Denn in allem, was ſich dort findet, iſt doch der juͤdiſche 
Particularismus eben ſo ſtark ausgedruͤckt, wie in der juͤdiſchen 
Litteratur. Die Kraft, dies aufzugeben, konnte nicht in ihr ſelbſt 
liegen, ſondern nur in einem Andern. — Wenn man hiervon 
ausgeht, ſo wird ſich auch zeigen, auf welche Vorſtellungen von 
juͤdiſcher Art Bezug genommen wird, und was neu iſt, und man 
wird ſehen, daß diejenigen Meinungen, welche darauf ausgehn, 
das eigenthuͤmlich Chriſtliche zu verringern, indem ſie ihm einen 
fremden Urſprung unterſchieben, auch vor dem Forum der Critik 
nicht beſtehn. Wenn man den Stand dieſer Sache am kuͤrzeſten 
ſich deutlich machen will, ſo weiß ich nichts Beſſeres, als den 
Abſchnitt von der juͤdiſchen Theologie in De Wette's bibliſcher 
Theologie. | 





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