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Full text of "Geistige Strömungen der Gegenwart"

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BOOK     190.EU22G     1913    c.  1 
EUCKEN    #    GEISTIGE    STROEMUNGEh 
DERGEGENWART 


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Geistige  Strömungen 


Geistige  Strömungen  ^^- 
DER  Gegenwart 


VON 


RUDOLF  EUCKEN 


DER  GRUNDBEGRIFFE  DER  GEGENWART 

VIERTE  UMGEARBEITETE  AUFLAGE 

Neue  Ausgabe 


VERLAG  VON  VEIT&COMP.  IN  LEIPZIG 
1913 


Druck  von  Fr.  Richter,  O.  m.  b.  H.,  Leipzig. 


Vorwort  zur  dritten  Auflage 

-----  Die  dritte  Auflage  ist  gegen  die  zweite  noch  mehr  verändert 

S     als  diese  gegen  die  erste;  bildete  bei  ihr  die  geschichtliche  Dar- 
C:     legung  den  Grundstock,  den  die  sachliche  Erörterung  nur  um- 
säumte, so  ist  diese  in  der  zweiten  Auflage  weit  selbständiger 
geworden  und  hat  in  der  dritten  die  volle  Herrschaft  erlangt; 
das  Buch  ist  nun  vor  allem  ein  Ausdruck  einer  eigentümlichen 
ß    philosophischen  Gesamtüberzeugung   und  will  als  solcher  ge- 
4     würdigt  sein.    Das  mußte  auch  die  Darstellung  wesentlich  ver- 
j    ändern,  das  verlangte  namentlich  eine  präzisere  Anordnung  und 
Einteilung   des  Stoffes  bis   in  die  einzelnen  Abschnitte  hinein. 
j  Den  Grundgedanken  der  früheren  Behandlungen:  die  Ver- 

<5^  knüpfung  von  Historischem  und  Sachlichem  einerseits,  die  Zer- 
-V  legung  in  einzelne  Abschnitte  andererseits  glaubte  ich  dabei 
festhalten   zu   können.     Daß   das  Geschichtliche   mir  mehr  ist 


i 


als   ein   Gegenstand   gelehrter  Beschäftigung,   daß   es,  freilich 

f^   unter  bestimmten  Voraussetzungen,  zur  Erhöhung  der  eignen 

-J      Arbeit  kräftig  beizutragen  vermag,  dafür  kämpft  das  Buch  ebenso 

als  Ganzes  wie  in  besonderen  Erörterungen,  die  sich  hier  nicht 

vorwegnehmen  lassen.    Das  Ausgehen  von  einzelnen  Problemen 

aber  gewährte  den  Vorteil  greifbarer  Angriffspunkte,  von  denen 

l/l   sich    rasch    zu    irgendwelcher   Entscheidung    vordringen    ließ. 

Allerdings   verblieb   dabei   der  Mißstand,   daß  das  Ganze  der 

y    Überzeugung  nicht  als  solches  volle  Rechenschaft  geben  und 

-^    sich   in   einem  fortlaufenden  Zusammenhange   darlegen   kann. 


VI  Vorwort 

Dieser  Mangel  sei  bereitwillig  zugestanden,  er  ist  zu  eng  mit 
dieser  Behandlungsweise  verbunden,  als  daß  sich  ihm  hier  ab- 
helfen ließe.  Gewisse  Ergänzungen  bieten  in  dieser  Hinsicht 
meine  früheren  Bücher,  die  größte  Lücke  liegt  in  dem  Mangel 
einer  genügenden  erkenntnistheoretischen  Fundamentierung, 
mein  nächstes  Buch  wird  einer  prinzipiellen  Erörterung  dieses 
Problems  gewidmet  sein. 

Mehr  noch  als  die  Art  der  Behandlung  aber  ist  es  eine 
durchgehende  Grundüberzeugung,  welche  die  verschiedenen 
Auflagen  zusammenhält,  die  Überzeugung  von  der  Unsicherheit 
des  Bodens,  auf  dem  unser  ganzes  Kulturleben  und  mit  ihm 
auch  unsere  wissenschaftliche  Arbeit  steht,  die  Überzeugung, 
daß  dieses  Leben  nicht  nur  einzelne  Probleme  in  Hülle  und 
Fülle  enthalte,  sondern  daß  es  auch  als  Ganzes  einer  energischen 
Revision  und  einer  gründlichen  Erneuerung  bedürfe.  Am 
Streben  danach  aber  schien  mir  auch  die  Philosophie  sich  be- 
teiligen zu  müssen,  ja  sie  besonders  schien  hier  zu  eifriger 
Mitarbeit  berufen.  Das  brachte  mich  in  Gegensatz  zum  Haupt- 
zuge der  heutigen  deutschen  Philosophie,  der  seine  wissen- 
schaftliche Arbeit  unbeirrt  durch  jene  Fragen  und  Zweifel  ruhig 
fortführen  zu  können  meint.  Wie  viel  Wertvolles  diese  Arbeit, 
namentlich  in  der  genaueren  Durchbildung  der  einzelnen  Er- 
kenntnisgebiete, geleistet  hat  und  weiter  leistet,  das  sei  freudig 
und  dankbar  anerkannt.  Aber  zugleich  sei  auch  auf  dem  Rechte 
und  der  Notwendigkeit  jenes  allgemeineren  Problems  mit  aller 
Entschiedenheit  bestanden;  wir  werden  uns  in  der  Arbeit  dafür 
in  keiner  Weise  durch  die  Sorge  um  die  Stellung  anderer  dazu 
beirren  lassen,  sondern  lediglich  und  allein  der  inneren  Not- 
wendigkeit der  Sache  vertrauen. 

Aber  es  sprechen  neuerdings  auch  Zeichen  in  Hülle  und 
Fülle  dafür,  daß  weitere  Kreise  den  Problemen,  für  die  wir 
eintreten,  ihre  Teilnahme  zuwenden.  Die  inneren  Verwicklungen 
unserer  Kultur,   ja  unserer  gesamten   geistigen   Lage  werden 


Vorwort  VII 

immer  augenscheinlicher,  mehr  und  mehr  empfinden  wir  darin 
schwere  Unwahrheiten,  Phrasen,  wo  wir  Wirklichkeiten,  Steine, 
wo  wir  Brot  suchten.  Nun  steht  dabei  das  Glück  und  der 
Sinn  unseres  eignen  Daseins  auf  dem  Spiele;  so  erhebt  sich 
immer  dringender  das  Verlangen  nach  Klärung  wie  nach  Be- 
festigung, so  wird  auch  die  Philosophie  immer  zwingender 
zur  Arbeit  an  diesen  Lebensfragen  aufgerufen.  Neue  Wogen 
des  Lebens  steigen  auf,  neue  Stimmungen  ergreifen  die  Gemüter 
und  heißen  sie  neue  Ziele  suchen. 

Diese  inneren  Wandlungen  haben  auch  meinen  Büchern 
mehr  und  mehr  Freunde  zugeführt  und  mir  das  Bewußtsein 
eines  engen  geistigen  Kontaktes  mit  der  Zeit  gegeben,  das  ich 
früher  nicht  haben  konnte.  Mit  besonderer  Freude  begrüße 
ich  die  unerwartet  rasch  wachsende  Teilnahme  des  aufsteigenden 
jüngeren  Geschlechts;  möchte  solche  Teilnahme  auch  diesem 
Buche  zugute  kommen,  und  möchte  sie  namentlich  zu  einer 
Weiterführung  der  hier  bloß  entworfenen  und  sicherlich  oft 
sehr  unvollkommen  behandelten  Probleme  wirken.  Denn  was 
uns  gemeinsam  vorschwebt,  ist  schließlich  nichts  geringeres 
als  die  Idee  eines  neuen  Menschen  und  einer  neuen  Kultur; 
nur  ein  Zusammenschluß  der  Kräfte,  nur  eine  Überwindung 
alles  bloß  Individuellen,  nur  das  Entstehen  einer  durchgehenden 
Bewegung  kann  uns  bei  einer  so  gewaltigen  Frage  weiter- 
bringen. 

Jena,  im  Februar  1Q04. 

Rudolf  Eucken 


Vorwort  zur  vierten  Auflage 

Die  vierte  Auflage  ist  gegen  die  dritte  nicht  so  umge- 
wandelt worden  wie  diese  gegen  die  zweite,  immerhin  bringt 
sie  manche  Veränderung.  Mehrere  Abschnitte  sind  völlig  um- 
gearbeitet, einer  (über  den  Wert  des  Lebens)  neu  hinzugefügt 
worden;  durchgängig  aber  war  das  Bemühen,  die  Darstellung 
flüssiger,  den  Inhalt  gesättigter,  die  Hauptthesen  präziser  zu  ge- 
stalten, die  Probleme  der  Zeit  unmittelbarer  zu  erfassen,  mit 
dem  allen  das  Ganze  anschaulicher  und  eindringlicher  zu 
machen;  auch  wurden  diesmal  weit  mehr  die  Bewegungen  des 
Auslandes  in  die  Betrachtung  hineingezogen.  So  hoffe  ich;  daß 
die  neue  Auflage  als  Ganzes  einen  merklichen  Fortschritt  bringt. 

Jena,  Ende  August  1Q08. 

Rudolf  Eucken 


Inhaltsübersicht 


Einleitung.  Seite 

'Die  Zeitlage  und  unsere  Aufgabe  ihr  gegenüber 1 

A.  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

1.  Subjektiv -Objektiv. 

a)  Geschichtliches •  .  10 

b)  Das  19.  Jahrhundert 18 

c)  Die  positive  Behauptung. 

a.  Einführung 27 

ß.  Der  Grundbegriff  des  Geisteslebens 30 

Y.  Das  Verhältnis  des  Menschen  zum  Geistesleben    ....  33 

o.  Ergebnisse  für  den  Wahrheitsbegriff 35 

2.  Theoretisch  -  praktisch  (Intellektualismus -Voluntarismus). 

a)  Geschichtliches 37 

b)  Die  Behauptung  des  Voluntarismus 43 

c)  Der  Pragmatismus .  47 

d)  Die  eigene  Behauptung:  der  Aktivismus 51 

e)  Intellekt  und  Intellektualismus 52 

a.  Die  Überflutung  des  modernen  Lebens  durch  den  Intellek- 
tualismus    53 

ß.   Die  Begründung  des  Erkennens  im  Lebensprozesse  ...  56 

y.   Die  bewegende  Kraft  im  Wahrheitsstreben 59 

o.  Konsequenzen  für  die  Erkenntnisarbeit 63 

£.    Konsequenzen    für    die    Behandlung   der   Geschichte   der 

Philosophie 65 


Inhaltsübersicht 

3.  Idealismus- Realismus.  Seite 

a)  Die  Ausdrücke 68 

b)  Zum  Kampf  der  Lebensgestaltungen 70 

a.  Der  Realismus  des  19.  Jahrhunderts 72 

ß.  Die  Schranken  des  neuen  Realismus 74 

y.  Kritik  der  überkommenen  Formen  des  Idealismus     ...  76 

o.  Erörterung  des  Wirklichkeitsproblemes 79 

£.   Die  Forderungen  eines  neuen  Idealismus 81 

B.  Zum  Erkenntnisproblem. 

1.  Denken  und  Erfahrung  (Metaphysik). 

a)  Geschichtliches 84 

b)  Das  Recht  einer  selbständigen  Philosophie 93 

c)  Die  Wendung  zur  Metaphysik 104 

d)  Der  Gesamtanblick  der  menschlichen  Erkenntnisarbeit  .    .    .  111 

e)  Würdigung  des  Rationalismus  und  des  Empirismus.    ...  117 

2.  Mechanisch  -  organisch  (Teleologie). 

a)  Zur  Geschichte  der  Ausdrücke  und  Begriffe 126 

b)  Zur  Geschichte  des  Problems 130 

c)  Erwägungen  zum  Kampf  der  Gegenwart 

a.  Das  Problem  im  Gebiet  der  Philosophie 142 

ß.  Das  Problem  in  der  Naturwissenschaft 144 

y.  Das  Problem  auf  gesellschaftlichem  Gebiet 149 

3.  Gesetz. 

a)  Zur  Geschichte 154 

b)  Der  Kampf  um  das  Gesetz  in  der  Neuzeit 159 

C.  Zum  Weltproblem. 

1.  Monismus  und  Dualismus. 

a)  Zur  Geschichte  und  Kritik  der  Begriffe 170 

b)  Der  Monismus  der  Gegenwart 183 

2.  Entwicklung. 

a)  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks 192 

b)  Zur  Geschichte  des  Begriffs  und  Problems 193 

c)  Die  Verwicklungen  und  Schranken  der  bloßen  Entwicklungs- 
lehre       206 

d)  Forderungen  für  einen  neuen  Lebenstypus 221 

D.  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

1.  Kultur. 

a)  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks  und  Begriffs 228 


Inhaltsübersicht  XI 

b)  Kritische  Erwägung.  Seite 
a.  Das  Problem  des  Wesens  und  Wertes  der  Kultur     .    .    .  235 

ß.  Das  Problem  des  Inhalts  der  Kultur 237 

y.  Das  unsichere  Verhältnis  des  Menschen  zur  Kultur  .    .    .  240 

c)  Forderungen  für  ein  wahrhaftiges  Kulturleben. 

a.  Die  Notwendigkeit  einer  tieferen  Begründung 243 

ß.  Die  Notwendigkeit  einer  inneren  Weiterbildung  der  Kultur    247 

2.  Geschichte. 

a)  Zur  Entwicklung  des  Problems 253 

b)  Forderungen  und  Ausblicke 262 

Anhang:  zum  Begriff  des  Modernen 273 

3.  Gesellschaft  und  Individuum  (Sozialismus). 

a)  Das  Verhältnis  von  Gesellschaft  und  Individuum. 

a.  Geschichtliches 283 

ß.  Die  Probleme  der  Gegenwart. 

aa.  Die  Unzulänglichkeit  einer  bloßgesellschaftlichen  Kultur    292 
,  ßß.  Die  Unzulänglichkeit  einer  bloßen  Individualkultur     .    302 

ff.  Die    Notwendigkeit   einer   inneren    Überwindung    des 

Gegensatzes 312 

» 

b)  Die  sozialdemokratische  Bewegung 313 

4.  Probleme  der  Moral. 

a)  Die  unsichere  Stellung  der  Moral  in  der  Gegenwart     .    .     .    322 

b)  Moral  und  Metaphysik 324 

c)  Moral  und  Kunst  (ethische  und  ästhetische  Weltanschauung) 

a.  Die  Geschichte  des  Problems      329 

ß.  Die  Probleme  der  Gegenwart. 

aa.  Der  moderne  Ästhetizismus 336 

ßß.  Die  Stellung  der  Kunst  im  modernen  Leben  ....  339 

5.  Persönlichkeit  und  Charakter. 

a)  Persönlichkeit. 

a.  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks 343 

ß.  Zur  Geschichte  des  Begriffs 345 

y.  Untersuchung  des  Problems 348 

b)  Charakter. 

a.  Geschichtliches  zum  Ausdruck  und  Begriff 355 

ß.  Die  Lage  der  Zeit 358 

6.  Freiheit  des  Willens. 

a)  Einleitung 363 

b)  Erwägungen  zur  Behauptung  des  Determinismus      ....    366 


XII  Inhaltsübersicht 

E.  Letzte  Probleme.  Seite 

1.  Der  Wert  des  Lebens. 

a)  Einleitendes 376 

b)  Die  Verwicklung  der  Gegenwart 378 

2.  Das  Problem  der  Religion  (Immanenz  und  Transzendenz). 

a)  Zur  Geschichte  der  Ausdrücke 390 

b)  Die  Bewegung  der  Neuzeit  zur  Immanenz 392 

c)  Die  Verwicklungen  im  Begriffe  der  Immanenz 394 

d)  Das  Wiedererwachen  des  religiösen  Problems 396 

e)  Forderungen  für  die  gegenwärtige  Lage  der  Religion    .    .    .  398 

Schlußwort 404 

Sachregister 405 


Einleitung. 

Die  Zeitiage  und  unsere  Aufgabe  ihr  gegeniiber. 

VV /er  die  geistige  Lage  der  Zeit  überblickt  und  prüft,  der  wird 
• '^  vor  allem  eine  starke  Verworrenheit  und  eine  peinliche  Un- 
sicherheit über  das  Hauptziel  des  Strebens  empfinden;  überall  ein 
Auseinandergehen  der  Menschheit  in  Parteien,  oft  auch  ein  Ge- 
spaltensein des  Menschen  bei  sich  selbst.  Dieser  verworrene  und 
unsichere  Stand  mag  zunächst  als  eine  Wirkung  der  geschichtlichen 
Überlieferung  erscheinen.  Denn  von  der  Vergangenheit  her  um- 
fangen uns  verschiedenartige,  ja  einander  feindliche  Strömungen,  ein 
Erbe  und  eine  Last  aus  tausendjähriger  Arbeit;  nichts  unterscheidet 
die  moderne  Kultur  mehr  von  der  einfacheren  des  Altertums  als 
solches  Durchtränktsein  von  Gegensätzen.  Das  Mittelalter  überlieferte 
ein  Lebensganzes,  das  die  grundverschiedene  antike  und  altchrist- 
liche, künstlerische  und  religiöse,  weltfreudige  und  weltfeindliche 
Denkweise  weniger  gegenseitig  ausglich  als  geschickt  zusammenfügte. 
Diesem  Gefüge  setzte  die  Neuzeit  einen  neuen  Lebensdrang,  ein  Ver- 
langen nach  unbegrenzter  Entfaltung  der  Kraft  und  voller  Beherrschung 
der  Dinge  entgegen,  aber  die  nähere  Ausführung  dessen  entzweite 
das  Neue  alsbald  bei  sich  selbst:  einerseits  verlangte  das  Seelenleben 
mit  seinem  Denken,  andererseits  die  Natur  mit  ihrem  Mechanismus 
die  Herrschaft  über  Leben  und  Welt  (Intellektualismus  und  Naturalis- 
mus). Alle  solche  Gegensätze  läßt  das  19.  Jahrhundert  mit  seiner 
historischen  Bildung  und  seiner  grüblerischen  Reflexion  in  greller 
Deutlichkeit  sehen  und  mit  voller  Stärke  empfinden,  es  drängt  zwingend 
zu  einer  schärferen  Scheidung  der  verschlungenen  Gedankenmassen,  es 
verbietet  ihnen  immer  strenger  ein  friedliches  Zusammengehen.  Und 
wie  viel  hat  das  1 9.  Jahrhundert  bei  sich  selbst  erlebt,  wie  eingreifende 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  1 


2  Einleitung. 

Wandlungen  hat  es  durchgemacht,  deren  einzelne  Phasen  auch  bei 
äußerer  Zurückdrängung  uns  innerlich  nahe  bleiben  und  nach  wider- 
streitenden Richtungen  ziehen:  die  künstlerische  Geisteskultur  unserer 
klassischen  Literaturepoche,  ein  kraftvoller  und  selbstbewußter  Realis- 
mus, ein  Rückschlag  gegen  diesen  Realismus  in  einem  Subjektivismus 
seelischen  Fürsichseins,  schwebender  Stimmung!  Wie  viele  Gegen- 
sätze tragen  wir  aus  altem  und  neuem  Bestände  in  uns,  wie  viel 
haben  wir  zu  tun,  um  ihrer  innerlich  Herr  zu  werden! 

Um  diese  verschiedenartigen  Anregungen  zu  verarbeiten  und 
mit  einander  auszugleichen,  bedürfte  es  überlegener  geistiger  Kraft. 
Da  diese  fehlt,  so  erscheinen  alle  Mißstände,  welche  das  Be- 
wältigtwerden des  Menschen  von  seinen  eignen  Erlebnissen,  das 
Unterliegen  unter  die  Zerstreutheit  des  Daseins  herbeiführen  muß. 
Keine  festen  Ziele  beherrschen  das  Streben,  keine  einfachen  Ideen 
entwinden  sich  dem  Chaos  und  befreien  von  seinen  Wirren  und 
Zweifeln.  Vielmehr  bewältigen  uns  die  unmittelbaren  Eindrücke  und 
zerreiben  das  Leben  unter  ihren  Widersprüchen.  So  treiben  mr 
unsicher  auf  den  Wogen  der  Zeit  einher,  wehrlos  gegen  alles,  was 
uns  mit  starkem  Bewußtsein  und  kecker  Behauptung  naht,  wehrlos 
auch  gegen  die  eigenen  Einfälle  und  Leidenschaften,  ein  Spiel  von 
wechselnden  Lagen  und  Launen. 

Diese  Lage  wird  namentlich  dadurch  gespannt,  daß  die  Wand- 
lungen, die  wir  erfahren,  sich  schließlich  zu  Einer  Frage  verbinden 
und  uns  vor  ein  einziges  Entweder-Oder  stellen,  das  keine  Ver- 
schleierung duldet  und  eine  Entscheidung  des  ganzen  Menschen 
verlangt  Das  stille,  aber  unablässige  und  unwiderstehliche  Wirken 
der  modernen  Arbeit  hat  an  der  überkommenen  Lebensführung  nicht 
nur  alle  einzelnen  Punkte  verändert,  es  hat  sie  als  Ganzes  unter- 
graben und  unhaltbar  gemacht  Die  ältere  Denkweise  behandelte, 
offen  oder  versteckt,  gröber  oder  feiner,  sinnlicher  oder  geistiger, 
den  Menschen  als  das  Maß  und  den  Mittelpunkt  des  Alls,  verwandelte 
die  Wirklichkeit  in  ein  Reich  von  menschenartigen  Größen  und 
machte  das  Wohlergehen  des  Menschen  zum  Ziele  alles  Geschehens. 
Diesen  Anthropismus  hat  das  Ganze  der  modernen  Arbeit  gründlich 
zerstört;  nicht  nur  die  unermeßliche  Erweiterung  der  äußeren  Welt, 
auch  die  Aufdeckung  innerer  Notwendigkeiten  und  sachlicher  Zu- 
sammenhänge im  eigenen  Bereich  der  Menschheit,  ein  weites  Hinaus- 
wachsen des  geistigen  Schaffens  über  das  bloße  Subjekt  machen  jenes 
Sicheinspinnen  in  das  Menschliche  zu  einer  unerträglichen  Enge,  sie 


Einleitung.  3 

erwecken  zugleich  ein  glühendes  Verlangen  nach  einem  weiteren, 
freieren,  gehaltvolleren  Sein,  einen  starken  Durst  nach  einem  Leben 
mit  der  Unendlichkeit  und  der  Wahrheit  des  Alls.  Diese  Wand- 
lungen treten  immer  mehr  auch  in  das  Bewußtsein  der  Menschheit 
und  verlangen  stürmisch  ihr  Recht. 

Aber  aus  dem  Nein  entspringt  dabei  keineswegs  rasch  ein  Ja, 
und  der  Erschütterung  entspricht  nicht  eine  Befestigung.  Denn  die 
neue  Lage  eröffnet  zwei  Möglichkeiten,  die,  als  schroffe  Gegensätze, 
keinerlei  Ausgleichung  dulden.  Hat  jene  weltgeschichtliche  Bewegung 
gegeii  das  Beharren  beim  Bloßmenschlichen  den  Sinn,  daß  der  Mensch 
sich  als  ein  bloßes  Naturwesen  zu  verstehen  und  all  sein  Sinnen  und 
Tun  dem  Rahmen  der  Natur  einzufügen  habe?  Dann  wäre  alles 
unterscheidend  und  auszeichnend  Menschliche  als  ein  verderblicher 
Wahn  zu  entfernen,  alle  Größen  und  Güter  unseres  Lebens  hätten 
ihr  Gesetz  und  ihre  Gestalt  von  der  Natur  zu  empfangen.  Oder  besagt 
jene  Bewegung,  daß  innerhalb  des  Menschen  selbst  eine  neue  Weib 
eine  geistige  Welt  emporsteigt  und  ihn  wie  über  die  Natur  auch 
über  sich  selbst  hinaushebt?  Beginnt  mit  ihm  eine  neue  Stufe  der 
Wirklichkeit,  und  kann  sein  Seelenleben  sich  von  innen  her  zu  einer 
Welt  erweitern?  Dann  würde  zur  Hauptaufgabe  die  Ergreifung, 
Aneignung  und  Ausbildung  dieser  Welt,  dann  müßte  der  Mensch 
vor  allem  hier  sich  befestigen  und  all  sein  Sinnen  und  Streben 
nicht  sowohl  rückwärts  als  vorwärts  richten.  So  ist  der  Mensch 
entweder  weniger  oder  mehr,  als  er  sich  heute  einzuschätzen  pflegt; 
je  nach  der  Entscheidung  für  dieses  oder  jenes  muß  aber  das  Leben 
sich  vom  Größten  bis  zum  Kleinsten  verschieden  gestalten.  Aber 
so  unerläßlich  die  hier  gebotene  Entscheidung  ist,  jene  Schwäche  des 
Einheitsstrebens  läßt  die  Zeit  unsicher  zögern  und  schwanken,  nach 
wechselnden  Eindrücken  neigt  sie  bald  hieher  bald  dahin;  indem 
sie  im  Gesamturteil  das  eine  billigt,  will  sie  zugleich  von  dem  anderen 
nicht  lassen;  so  bejaht  sie  hier,  was  sie  dort  verneint,  so  setzt  sie  an 
keiner  Stelle  ihr  ganzes  Wollen  und  Wesen  ein.  Oft  genug  ist  diese 
Lage  geschildert  worden,  ihr  rascher  Wechsel  der  Strömungen  und 
Stimmungen,  ihr  Mangel  an  Logik,  wie  ihn  sowohl  die  Unempfind- 
lichkeit  auch  für  die  härtesten  Widersprüche  und  das  Ineinander- 
schieben verschiedenartigster  Gedankenmassen,  als  die  Schwäche  des 
Ausdenkens,  des  Verfolgens  der  Behauptungen  in  ihre  Voraussetzungen 
wie  ihre  Konsequenzen  zeigt.  In  allem  diesem  erscheint  ein  starkes 
Sinken   des  inneren   Lebensstandes,  ja  eine  innere  Verarmung  des 


Einleitung. 

Lebens,  das  aber  inmitten  staunenswerter  Fortschritte  an  seiner  Peri- 
pherie, inmitten  nie  gesehener,  nie  geahnter  Virtuosität  von  technischen 
Leistungen,  inmitten  überströmenden  Reichtums  an  äußeren  Erfolgen ! 

Augenscheinlich  befinden  wir  uns  in  einer  geistigen  Krise,  die 
uns  zu  übermannen  droht.  Aber  es  ist  diese  Krise  nicht  der  Bos- 
heit oder  der  Zweifelsucht  Einzelner,  sondern  sie  ist  dem  Ganzen 
der  weltgeschichtlichen  Lage  entsprungen.  Sollten  wir  nicht  hoffen 
dürfen,  daß  die  Notwendigkeit,  welche  eine  solche  Krise  erzeugte, 
uns  auch  irgendwelche  Mittel  und  Hülfen  gewährt,  die  über  sie 
hinausführen  könnten? 

In  Wahrheit  fehlt  es  nicht  an  Widerständen  und  Gegen- 
wirkungen gegen  jene  chaotische  Lage,  an  Versuchen,  ihr  eine  ein- 
heitliche Gestaltung  des  Lebens,  ein  einheitliches  Bild  der  Wirklich- 
keit entgegenzusetzen;  leider  bleiben  aber  diese  Versuche  meist  unter 
dem  Einfluß  dessen,  das  sie  überwinden  möchten.  Die  Zeit  des  selbst- 
bewußten Spezialismus,  den  die  Arbeit  an  der  endlosen  Breite  der 
Dinge  alle  Sorge  um  das  Ganze  vergessen  ließ,  hat  ihren  Gipfel 
hinter  sich.  Aber  das  Streben  zur  Einheit  gestaltet  sich  zunächst 
meist  so,  daß  die  einzelnen  Lebens-  und  Wissensgebiete  die  Sache 
an  sich  reißen  und  das  Bild  vom  Ganzen  nach  ihren  besonderen 
Eindrücken,  Erfahrungen,  Zwecken  entwerfen.  Mehr  als  es  sonst 
geschah,  erzeugen  sie  innerhalb  ihres  besonderen  Kreises  geschlossene 
Gedanken massen,  dringen  damit  kühnlich  über  die  Grenzen  jenes 
Kreises  hinaus  und  möchten  die  ganze  Wirklichkeit  meistern.  Ihre 
besonderen  Aufgaben  werden  vor  alle  übrigen  gestellt,  ihre  Begriffe, 
Maßstäbe,  Methoden  sollen  schlechtweg  gelten,  ihr  Gebiet  wird  ihnen 
zum  beherrschenden  Mittelpunkt  der  gesamten  Wirklichkeit.  So  bildet 
sich  die  Religion,  so  oft  auch  die  Kunst  ihre  eigene  Welt,  so  erzeugt 
die  soziale  Bewegung  ihre  besondere  Weltanschauung,  so  erweitern 
sich  auf  intellektuellem  Gebiet  namentlich  oft  die  Naturwissenschaften 
zu  einer  allumfassenden  Philosophie.  Das  tat  zunächst  die  Zoologie 
unter  dem  Einfluß  des  Darwinismus,  das  sehen  wir  jetzt  auch  von 
Physikern,  Physiologen  u.  s.  w.  unternommen.  Die  Kühnheit  des 
Weltgedankens  ist  jetzt  von  den  Philosophen  zu  den  Naturforschern 
gewandert,  und  es  fehlt  hier  nicht  an  kecken  Husarenritten  in  das 
Land  der  Wahrheit;  die  Verquickung  der  philosophischen  Behauptung 
mit  tüchtiger  Forschungsarbeit  läßt  dabei  manche  das  Ungeheuerliche 
des  Wagnisses  kaum  empfinden. 

So  entstehen  eigentümliche  Durchblicke,  Partialweltbilder,  deren 


Einleitung.  5 

sinnliche  Nähe  und  leichte  Faßlichkeit  die  Geister  gewinnt  und  ein 
gutes  Stück  mit  sich  fortreißt.  Jedoch  immer  nur  ein  Stück.  Denn 
schließlich  wird  die  Wahrheit  der  Dinge  Widerstand  leisten  und 
das  aufgedrängte,  viel  zu  knappe  Maß  zersprengen;  sie  wird  es  um 
so  eher,  als  jene  Bewegung  die  verschiedenen  Ansprüche  bald  zu- 
sammenstoßen und  sich  ihr  Recht  gegenseitig  bestreiten  läßt.  Nun 
wird  offenbar,  daß  sich  nicht  wohl  vom  Teil  zum  Ganzen  bauen 
läßt,  und  daß  die  Teilwahrheiten  mit  ihrer  Überspannung  zur  Ge- 
samtwahrheit sich  in  Irrung  verkehren.  Soweit  aber  jene  Partial- 
bewegungen  Macht  behaupten,  einander  hemmen  und  durchkreuzen, 
müssen  sie  die  Verwirrung,  die  sie  bekämpfen,  vielmehr  steigern; 
vielleicht  wirkt  heute  kaum  etwas  so  sehr  zur  Entzweiung  als  jenes 
unzulängliche  Streben  nach  Einheit.  Nie  war  so  viel  die  Rede  von 
Monismus  wie  heute,  und  nie  ging  die  Menschheit  so  weit  ausein- 
ander wie  heute. 

Aber  so  unzulänglich  jene  Versuche  sind,  sie  bleiben  wertvoll 
durch  ihre  Lehren.  Namentlich  zeigt  ihr  Scheitern  mit  voller  Klar- 
heit, daß  sich  nichts  von  den  einzelnen  Punkten  her  ausrichten  läßt, 
sondern  es  eine  der  Zerstreuung  überlegene  Einheit  zu  suchen  gilt; 
ohne  eine  Erhebung  über  das  Ganze  der  Zeitlage,  ohne  ein  Er- 
greifen neuer  Anfänge  gibt  es  keine  Hoffnung,  der  Krise  gewachsen 
zu  werden.  Aber  warum  sollte  jenes  unmöglich  sein?  Die  Ge- 
schichte ist  für  das  Innere  des  Lebens  kein  fortlaufender  Anstieg 
zur  Höhe;  da  wesenhaftes  Geistesleben  sich  in  der  Geschichte  nicht 
nur  entwickelt,  sondern  sich  auch  in  ihr  auslebt,  so  kommen  immer 
wieder  Zeiten,  wo  es  aus  der  Wirkung  im  menschlichen  Dasein  zu  sich 
selbst  zurückkehren  und  die  Wurzeln  seiner  Kraft  neu  beleben  muß. 
So  allein  kann  es  der  Zeit  überlegen  werden  und  dahin  wirken,  das 
Wahre  in  ihr  von  dem  Problematischen  zu  befreien,  das  uns  beirrt 
und  entzweit.  Eine  solche  Zeit  ist  einmal  wieder  gekommen,  es 
gilt  eine  Selbstbesinnung  auf  die  Grundlagen  unseres  Daseins,  auf 
unser  Grundverhältnis  zur  Welt,  es  gilt  eine  Berufung  von  der 
bloßen  Zeit  an  das  Ewige  in  der  Zeit,  vom  bloßen  Menschen  an 
die  überlegenen  Gewalten  und  Ordnungen,  die  aus  dem  Menschen 
mehr  als  ein  bloßes  Naturwesen  machen. 

Bei  solcher  Lage  hat  jeder,  der  den  Notstand  durchschaut,  nach 
dem  Maße  seines  Vermögens  für  jenes  Ziel  der  Vertiefung  des  Lebens 
und  der  Erneuerung  der  Kultur  zu  wirken.  Der  Weg,  den  unser  Werk 
dabei  einschlagen  soll,  wird  namentlich  durch  drei  Merkmale  bestimmt. 


Einleitung. 

1.  Unsern  nächsten  Vorwurf  sollen  die  der  Zeit  charakteristischen 
Hauptbewegungen,  die  geistigen  Strömungen,  bilden,  wie  es  in  Kürze 
heißen  mag.  Wir  sprechen  von  solchen  und  nicht  von  Begriffen 
oder  Ideen,  um  von  Anfang  an  die  Meinung  fernzuhalten,  als  ob 
es  sich  an  erster  Stelle  um  bloß  intellektuelle  Vorgänge  handle  und 
bei  diesen  die  Entscheidung  liege.  Mag  sich  äußerlich  der  Streit 
vorwiegend  auf  intellektuellem  Gebiet  abspielen,  dahinter  stehen 
Lebensbewegungen  aus  dem  Ganzen,  dahinter  steht  eine  eigentüm- 
liche Absteckung  der  Wirklichkeit,  eine  eigentümliche  Gestaltung 
des  Lebens;  inmitten  vielfachen  Streites  und  durch  verschiedene 
Probleme  hindurch  kann  bei  diesen  Voraussetzungen  der  Zeit  eine 
Gemeinschaft  walten;  so  ist  ihre  Heraushebung  besonders  geeignet, 
zu  einem  Gesamtbilde  der  Zeit  zu  verhelfen  und  das  Eigentümliche 
der  Zeit  klar  erkennen  zu  lassen.  Das  Ausgehen  von  der  Vielheit 
aber  hat  den  Vorteil,  uns  die  Behauptungen  und  Probleme  der  Zeit 
greifbarer  und  anschaulicher  zu  machen;  es  hat  den  weiteren  Vorteil, 
die  Erörterung  rasch  auf  einen  bestimmten  Punkt  zu  führen,  an 
dem  sachliche  Notwendigkeiten  hervorzubrechen  und  unserem 
Denken  Wege  zu  weisen  vermögen.  Die  Untersuchung  wird 
zeigen,  daß  wir  überall  auf  dieselben  Fragen  kommen,  ja  daß  ein 
und  dasselbe  Hauptproblem  durch  alle  Mannigfaltigkeit  wirkt,  auch 
wird  sie  zeigen,  daß,  wie  an  jeder  Stelle  um  das  Ganze  gekämpft 
wird,  so  die  Entscheidung  über  das  Ganze  in  alle  Verzweigung 
hineinreicht.  Der  eignen  Behauptung  darüber  dürfen  wir  uns  aber 
um  so  sicherer  fühlen,  je  mehr  die  Erfahrungen  und  Forderungen 
der  einzelnen  Punkte  zu  ihr  drängen  und  sie  als  die  einzige  Möglich- 
keit einer  glücklichen  Lösung  zeigen. 

2.  Was  wir  aber  näher  bei  den  einzelnen  Strömungen  ermitteln 
und  wonach  wir  sie  prüfen  wollen,  das  ist  der  von  ihnen  behauptete 
oder  doch  in  ihnen  enthaltene  Lebensprozeß;  namentlich  soll  uns 
die  Frage  beschäftigen,  ob  dieser  Lebensprozeß  ein  selbständiges 
Geistesleben  möglich  macht.  Ein  gewisser  Tatbestand  des  Geistes- 
lebens pflegt,  wenn  auch  oft  widerwillig,  von  jedem  anerkannt  zu 
werden;  wie  viel  aber  in  ihm  liegt,  und  was  er  über  die  nächste 
Erscheinung  hinaus  verlangt,  an  welche  Voraussetzungen  und  Be- 
dingungen er  geknüpft  ist,  das  bleibt  meist  in  völligem  Dunkel. 
Wie  sich  die  Bewegungen  der  Zeit  zu  diesem  Problem,  zum  Problem 
der  Möglichkeit  des  Geisteslebens,  stellen,  und  was  sie  dafür  leisten, 
darauf  sei  vornehmlich  das  Augenmerk  gerichtet.    So  soll  uns  nicht 


Einleitung^ 

die  Breite  der  Leistungen  festhalten,  sondern  wir  streben  rasch  zu 
dem  sie  durchwaltenden  Leben,  als  dem  letzten  Punkt,  der  erreich- 
bar ist  und  von  dem  aus  sich  unsere  Gedankenwelt  aufzubauen 
hat;  es  bringt  uns  solche  Wendung  zum  Lebensprozesse  wohl  am 
sichersten  an  den  Punkt,  wo  die  Probleme  dem  Einzelnen  zum  eignen 
Erlebnis  werden,  wo  er  am  ehesten  eigene  Erfahrungen  einsetzen 
und  am  wenigsten  eine  eigne  Entscheidung  ablehnen  kann. 

3.  Wo  der  Gehalt  der  Zeit  den  Ausgangs-  wie  den  Endpunkt 
bildet,  da  empfiehlt  sich  ein  Heranziehen  der  geschichtlichen  Be- 
trachtung zur  Unterstützung  der  philosophischen  Arbeit.  Jene  Be- 
trachtung helfe  zunächst  dazu,  die  geistige  Art  der  Gegenwart  durch 
Aufdeckung  ihres  Werdens  und  ihrer  Zusammenhänge  heller  zu 
beleuchten  und  deutlicher  abzugrenzen.  Für  die  Fassung  und 
Schätzung  dessen,  was  die  Zeit  beherrscht,  kann  es  nicht  gleichgiltig 
sein,  ob  wir  in  ihm  eine  Woge  des  bloßen  Augenblickes  oder 
einen  bleibenden  Lebensstrom  erkennen,  ob  das  heutige  Erlebnis 
schon  öfter  erlebt  wurde  und  einem  wiederkehrenden  Rhythmus  an- 
gehört, oder  ob  in  ihm  etwas  völlig  Neues  und  Eigenartiges  auf- 
steigt, auch  ob  es  mehr  eine  Wirkung  oder  eine  Gegenwirkung, 
mehr  einen  Vorstoß  oder  einen  Rückschlag  bedeutet.  Diese  ge- 
schichtliche Betrachtung  hat  bei  den  verschiedenen  Punkten  ver- 
schieden weit  in  die  Vergangenheit  zurückzugreifen.  Oft  wird  die 
Bewegung  in  ihren  Hauptphasen  durch  das  Ganze  der  europä- 
ischen Kulturentwicklung  zu  verfolgen  sein,  an  anderen  Stellen 
wird  die  nächstvorangehende  Epoche  zur  Aufklärung  der  Gegenwart 
genügen. 

Solche  hellere  Beleuchtung  des  Tatbestandes  an  der  Hand  der 
Geschichte  mag  eine  selbständige  Untersuchung  vorbereiten,  wenn 
anders  ein  Ding  in  seiner  Eigentümlichkeit  schärfer  sehen,  zugleich 
seine  Grenzen  deutlicher  sehen  und  ein  Problem  in  ihm  erkennen 
heißt  Aber  nicht  nur  die  Behauptung  der  Gegenwart,  auch  die 
geschichtlichen  Zusammenhänge,  ja  die  Geschichte  als  Ganzes  ver- 
wandeln sich  bei  Aufdeckung  des  in  ihnen  wirksamen  Lebenspro- 
zesses in  ein  Problem;  der  Lebensprozeß  mit  seiner  Bewegung  läßt 
sich  aus  dem  Chaos  der  Erscheinungen  nicht  wohl  heraussehen 
ohne  eine  Versetzung  aus  der  geschichtlichen  Betrachtung  in  eine 
zeitlose  und  unmittelbare,  ohne  ein  Aufnehmen  der  Frage  nach 
Seiner  Wahrheit  und  seinem  Rechte;  das  Ganze  läßt  sich  nicht 
durchleuchten,  ohne  daß  sich  ursprüngliche,  eigene,  letzte  Tatsachen 


Einleitung. 

von  den  übermittelten  scheiden.  Es  mag  sich  so  eine  Umkehrung, 
eine  Wendung  zu  einer  unmittelbaren  Betrachtung  und  Erörterung 
der  Sache  vollziehen;  erst  diese  Umkehrung  mit  ihrer  Verwandlung 
der  Geschichte  in  die  Entfaltung  eines  zeitlosen  Lebens  macht  es 
möglich,  den  Befund  des  Daseins  von  innen  her  zu  durchschauen, 
von  der  Erscheinung  zur  Tatsache,  vom  bloßen  Faktum  zur  be- 
gründenden Wahrheit  vorzudringen,  in  den  Bewegungen  der  Ge- 
schichte innere  Notwendigkeiten  und  durchgehende  Richtungen  zu 
erkennen,  ja  ihrem  Ganzen  irgendwelchen  Sinn  zu  entringen. 
Auf  Grund  solcher  Betrachtung  aus  bleibender  Wahrheit  läßt  sich 
erst  die  Bedeutung  der  einzelnen  Epochen  ermessen,  sowie  an  der 
Leistung  der  Gegenwart  eine  immanente  Kritik  üben.  Die  Be- 
hauptung der  Zeit  werde  an  dem  weltgeschichtlichen  Stande  der 
geistigen  Evolution  geprüft;  hat  die  Geschichte  schon  mehr  Gehalt 
und  Tiefe  erschlossen,  als  jene  Behauptung  in  sich  aufnehmen  kann, 
so  wird  das  Streben  notwendig  über  sie  hinausgetrieben,  auch  mag 
es  zugleich  eine  Anweisung  über  die  Richtung  empfangen,  in  der 
es  weiter  zu  suchen  hat.  Bei  solcher  Verflechtung  der  philosoph- 
ischen Arbeit  mit  der  weltgeschichttichen  Erfahrung  braucht  die 
Kritik  nicht  zurückschauend  und  reflektierend  zu  bleiben,  sie  kann 
produktiv  und  vordringend  werden,  sie  kann  die  Weiterbewegung, 
die  sie  fordert,  von  sich  aus  fördern. 

Eine  solche  Untersuchung  hat  darauf  vor  allem  ihr  Augenmerk 
zu  richten,  die  Selbstverständlichkeit  zu  zerstören,  mit  der  sich  die 
Bestrebungen  einer  Zeit  zu  geben  gewohnt  sind,  und  zugleich  von  dem 
Dogmatismus  zu  befreien,  der  jenen  anzuhaften  pflegt.  Die  erste 
Bedingung  dafür  bildet  ein  präziseres  Sehen  dessen,  was  die  Zeit 
unternimmt  und  erreicht,  präzise  sehen  heißt  hier  zugleich  den 
Umfang  der  Leistung  sehen,  und  das  allein  macht  es  möglich,  zu 
einem  Urteil  zu  gelangen,  das  selbständiger  und  kräftiger  Art  ist, 
ohne  ungerecht  zu  werden  und  Paradoxie  für  Unabhängigkeit  zu 
geben.  Darauf  vornehmlich  sei  also  das  Augenmerk  gerichtet,  in 
der  Mannigfaltigkeit  und  dem  scheinbaren  Durcheinander  der  Be- 
wegungen durchgehende  Züge,  einfache  Grundlinien  aufzudecken; 
von  hier  aus  am  ehesten  werden  wir  hoffen  dürfen,  den  Wahrheits- 
gehalt der  Zeit,  ihre  inneren  Notwendigkeiten  von  der  entstellenden 
Zutat  menschlicher  Irrung  und  Leidenschaft  zu  befreien,  zugleich 
aber  Anhaltspunkte  für  das  eigne  Streben  zu  gewinnen.  Die  Zeit 
zutreffend  beurteilen  kann  nur,  wer  sie  innerlich  mitzuerleben  ver- 


Einleitung.  9 

mag;  wer  sich  ihr  von  vornherein  krittelnd  und  nörgelnd  entgegen- 
stellt, dessen  Urteil  hat  keinen  Wert. 

Endlich  sei  noch  hinzugefügt,  daß,  wie  in  den  früheren  Auf- 
lagen des  Buches,  so  auch  in  dieser  die  Bezeichnungen  der  Haupt- 
begriffe sorgfältig  beachtet  werden  sollen.  Ihr  schwankender 
Gebrauch  verschuldet  zum  nicht  geringen  Teil  die  Verwirrung  der 
Gegenwart.  Indem  einmal  oft  bei  demselben  Ausdruck  laxere  und 
strengere  Fassungen  durcheinanderlaufen,  erschleichen  leicht  Be- 
hauptungen mehr  Sicherheit  und  mehr  Gehalt,  als  ihnen  in  Wahr- 
heit gebührt;  indem  ferner  nicht  selten  dasselbe  Wort  wesentlich 
verschiedene  Bedeutungen  hat,  verwirrt  sich  leicht  der  Anblick  der 
Sache  und  versteckt  sich  der  Punkt  der  Entscheidung.  Zu  allen 
Zeiten  decken  die  Ausdrücke  und  die  Begriffe  sich  nur  in  annähernder 
Weise,  heute  aber  gehen  sie  besonders  weit  auseinander.  Zur 
Bekämpfung  eines  solchen  Mißstandes  bedarf  es  auch  eines  Blickes 
auf  die  Geschichte  der  Ausdrücke;  so  sei  auch  dieser  ein  bescheidner 
Platz  gewährt. 


A.  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

1.  Subjektiv  -  Objektiv. 

a)  Geschichtliches. 

I  |as  Verhältnis  von  Subjekt  und  Objekt  steht  heute  im  Mittel- 
*— ^  punkte  der  Arbeit  und  des  Kampfes;  je  nach  dem  Vorwiegen 
des  einen  oder  des  anderen  gestalten  sich  die  Bilder  vom  Leben, 
die  Begriffe  von  der  Wirklichkeit,  die  Fassungen  der  Wahrheit  ver- 
schieden, geht  die  Hauptbewegung  des  Lebens  entweder  vom  Men- 
schen zur  Welt,  oder  von  der  Welt  zum  Menschen.  Wie  in  dies 
Problem  alle  übrigen  Probleme  einmünden,  so  trägt  sein  heutiger 
Stand  die  Wirkungen  der  gesamten  Geschichte  in  sich,  und  es 
müssen  bei  seiner  Behandlung  ihre  Hauptphasen  gegenwärtig  sein. 
In  diesen  Phasen  werden  wir  die  wichtigsten  Möglichkeiten  der 
Lösung  erkennen  und  zugleich  eine  durchgehende  Bewegung  ge- 
wahren, welche,  die  Arbeit  in  eine  gewisse  Richtung  drängt. 

Eigentümliche  Verwicklungen  der  Sache  verrät  schon  die  merk- 
würdige Geschichte  der  Ausdrücke  subjektiv  und  objektiv;  sie  haben 
im  Lauf  der  Jahrhunderte  ihre  Bedeutung  geradezu  vertauscht. 
Bei  Duns  Scotus  (f  1308),  der  zuerst  sie  als  Kunstausdrücke  ein- 
ander gegenüberstellte,  »/hieß  subjectivum  dasjenige,  was  sich  auf 
das  Subjekt  der  Urteile,  also  auf  die  konkreten  Gegenstände  des 
Denkens  bezieht;  hingegen  objectivum  jenes,  was  im  bloßen  obicere, 
d.  h.  im  Vorstelligmachen,  liegt  und  hiemit  auf  Rechnung  des  Vor- 
stellenden fällt"  (s.  Prantl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande, 
IIL  208).  In  diesem  Sinne  gehen  die  Ausdrücke  bei  den  Philo- 
sophen bis  in  das  17.  und  18.  Jahrhundert,  doch  bildet  das  Gegen- 
stück   des    gebräuchlicheren    objektive    öfter   formaliter    oder   auch 


Subjektiv  —  Objektiv.  U 

realiter.  1  Auch  zeigen  die  Ausläufer  der  Scholastik  bei  objectivus 
schon  ein  Schwanken,  das  die  Wendung  zum  neueren  Sprach- 
gebrauch vorbereitet.  2 

Die  völlige  Umkehrung  der  Bedeutung  erfolgte  aber  erst  beim 
Übergang  in  die  deutsche  Sprache,  und  zwar  innerhalb  der  Woffi- 
schen  Schule,  so  z.  B.  bei  A.  F.  Müller  (Einleitung  in  die  philo- 
sophische Wissenschaft,  1733),  Baumgarten  und  Gottsched.  Doch 
bleiben  die  Ausdrücke  (man  sagt  übrigens  «subjektivisch"  und  » ob- 
jektivisch") zunächst  an  die  Schule  gebunden,  so  erscheinen  sie 
z.  B.  noch  in  dem  Streit  zwischen  Lessing  und  Goetze  als  gelehrte 
Termini;  erst  die  Kantische  Philosophie  hat  sie  dem  allgemeinen 
Sprachgebrauch  zugeführt,  in  dem  sie  zu  Beginn  des  19.  Jahrhun- 
derts einen  breiten  Raum  erlangen.  Von  Deutschland  aus  ist  die 
neue  Bedeutung  zu  den  anderen  Völkern  gewandert  und  von  ihnen 
zunächst  oft  als  fremdartig  empfunden  worden. 

Der  heutige  Sprachgebrauch  ist,  so  deutlich  er  sich  vom 
mittelalterlichen  abhebt,  bei  sich  selbst  voll  Schwankung  und  Un- 
sicHerheit.  »Subjektiv  bezeichnet  zunächst  das,  was  der  bloßen 
Vorstellung  des  Individuums  angehört,  nicht  selten  aber  auch,  nament- 
ich  bei  Naturforschem,  alles  und  jedes,  was  das  denkende  und 
fühlende  Wesen  bei  sich  selbst  erlebt,  auch  wird  wohl  alle  Über- 
zeugung, die  den  unmittelbaren  Tatbestand  überschreitet,  subjektiv 
genannt  und  damit  für  eine  nachträgliche  Zutat  erklärt.  Tiefstes 
und  Flachstes  erscheinen  damit  als  gleichen  Rechtes.  »Objektiv 
leidet  namentlich  an  der  Zweideutigkeit,  daß  es  das  Gegenständliche 
bald  als  aller  seelischen  Betätigung  gegenüber,  bald  als  innerhalb 
ihrer  befindlich  bezeichnet.  Gegenständlich  wollte  Goethe,  gegen- 
ständlich will  auch  der  moderne  Naturalismus  sein. 


^  In  den  Erörterungen  zwischen  Descartes  und  Qassendi  findet  sich 
subjective  =  formaliter  in  se  ipsis,  objective  =:  idealiter  in  intellectu.  Bayle 
unterscheidet  (oeuv.  div.  1727,  III.  334a)  objectivement  dans  notre  esprit  und 
reellement  hors  de  notre  esprit,  und  noch  bei  Berkeley  heißt  es  (Ausgabe  von 
Fräser  II.  477):  „Natural  phaenomena  are  only  natural  appearances.  They 
are,  therefore,  such  as  we  see  and  perceive  them.  They  real  and  objective 
nature  are,  therefore,  the  same." 

'  So  heißt  es  z.  B.  in  Chauvins  lexicon  rationale  (1692)  unter  certitudo: 
objectiva  nonnullis  est  ipsa  necessitas  objecti,  seu  propositio  necessaria  objec- 
tiva.  AHis  autem  nihil  aliud  est  quam  denominatio  quae  sumitur  ab  actu 
intellectus  per  quem  objectum  repraesentatur.  Goclen  (lex.  philos.  1613) 
nimmt  ratio  objectiva  =  res  ipsa  quatenus  definitioni  respondet. 


12  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

In  der  Sache  handelt  es  sich  augenscheinHch  um  das  Verhältnis 
des  Menschen  und  seines  Gedankenkreises  zur  Welt,  der  er  angehört. 
Soweit  das  Denken  selbständig  wird,  stellt  es  sich  der  Welt  gegen- 
über, aber  zugleich  kann  es  nie  vergessen,  daß  es  zu  ihr  gehört 
und  sich  mit  ihr  unablässig  beschäftigen  muß;  so  entsteht  mit  der 
Scheidung  selbst  zugleich  ein  unabweisbares  Verlangen,  sie  irgend 
zu  überwinden,  das  Geschiedene  wieder  zusammenzubringen  und 
fest  zusammenzuhalten.  Diese  Aufgabe  aber  scheint  sich  immer  mehr 
zu  verwickeln,  je  mehr  wir  uns  mit  ihr  befassen.  Die  Verwick- 
lungen hat  schon  das  griechische  Altertum  stark  empfunden,  aber 
es  hat  sich  mit  ihnen  noch  leichter  abgefunden,  als  uns  Späteren 
möglich  ist.  Die  Lösung,  welche  die  Höhe  der  klassischen  Zeit 
versuchte,  ist  am  meisten  zu  geschichtlicher  Wirkung  gelangt;  was 
hier  die  leitenden  Denker,  ein  Plato  und  ein  Aristoteles,  an  Lehren 
entwickeln,  das  schöpft  vornehmlich  daraus  eine  Überzeugungskraft, 
daß  es  ein  Ganzes  der  Lebensführung  hinter  sich  hat.  Diese  alt- 
griechische Lebensführung  hat  ihre  Eigentümlichkeit  und  ihre  Stärke 
darin,  das  naive  Verhältnis  des  Menschen  zur  Natur  ohne  einen  schroffen 
Bruch  ins  Geistige  zu  heben  und  zugleich  zu  veredeln,  den  Menschen 
in  die  Welt  hineinzusehen,  aber  aus  der  Spiegelung  ihn  geläutert 
zu  sich  selbst  zurückzuführen.  Mensch  und  Welt,  Inneres  und 
Äußeres,  haben  die  anfängliche  Vermengung  überwunden,  aber  sie 
sind  noch  nicht  so  schroff  geschieden,  um  sich  nicht  durch  geistige 
Arbeit  rasch  wieder  zusammenzufinden.  Denn  beides  scheint  ein- 
ander wesensverwandt  und  innerlich  zugetan,  jedwedes  bedarf  zu 
seiner  eigenen  Vollendung  der  Ergänzung  durch  das  Gegenstück: 
die  von  innerem  Leben  erfüllte  Natur  erreicht  ihre  Höhe  in  der 
Aneignung  durch  den  Menschen;  was  aber  in  diesem  an  Kräften 
schlummert,  das  wird  erst  durch  die  Berührung  mit  der  Welt  zu 
vollem  Leben  geweckt.  In  der  Einigung,  wie  sie  Anschauung  und 
Liebe  bewirken,  gewinnt  das  Leben  die  Höhe  und  Seligkeit  geistigen 
Schaffens.  Eine  solche  Überzeugung  kann  unbedenklich  die  Wahr- 
heit als  eine  Übereinstimmung  unseres  Denkens  mit  dem  Gegenstande 
(adaequatio  intellectus  et  rei)  fassen. 

Diese  Fassung  genügt  aber  nur  für  einen  Stand  des  Lebens, 
wo  die  Natur  noch  seelischer  und  der  Mensch  noch  natürlicher 
schien,  wo  weder  jene  eine  volle  Selbständigkeit  in  eigentümlichen 
Kräften  und  Gesetzen  gewonnen,  noch  das  Innenleben  sich  zu  einer 
eignen  Welt  vertieft  hatte.     So  gewiß  jene  größere  Nähe  und  jene 


Subjektiv  —  Objektiv.  13 

fruchtbare  Wechselwirkung  beider  Seiten  eine  großgesinnte,  lebens- 
frohe, künstlerische  Kultur  hat  bilden  helfen,  jener  enge  Anschluß 
des  Geisteslebens  an  das  naive  Weltbild  war  für  die  Dauer  nicht 
zu  erhalten. 

So  hat  denn  schon  das  spätere  Altertum  in  der  Stoa  und  im 
Neuplatonismus  neue  Wege  versucht,  aber  stärker  als  diese  hat  auf 
die  Neuzeit  jene  ältere  Art  gewirkt,  da  sie  eine  nicht  unbedeutende 
Nachblüte  in  der  mittelaltedichen  Scholastik  fand  und  durch  diese 
unmittelbar  die  Neuzeit  berührte;  namentlich  in  Auseinandersetzung 
mit  ihr  hat  diese  ihre  Eigentümlichkeit  gefunden. 

Es  erscheint  aber  die  neue  Art  zunächst  in  einer  kräftigeren 
Entfaltung  des  Subjektes,  einer  trotzigen  Losreißung  von  der  Um- 
gebung, einem  kühnen  Versuch,  vom  Menschen  und  seinem  Denken 
her  die  Welt  zu  bilden  und  das  Leben  zu  gestalten,  statt  aus  der 
Welt  zu  empfangen  und  an  sie  Anschluß  zu  suchen.  Gewaltiger 
als  je  hat  die  Wissenschaft  den  Anblick  der  Dinge  verändert;  indem 
sie  alles  ausscheidet,  was  ihre  Prüfung  nicht  besteht,  das  Ver- 
bleibende aber  durchleuchtet  und  enger  verbindet,  wird  das  ganze 
Dasein  des  Menschen  in  das  Element  des  Gedankens  getaucht  und 
ins  Gedankenhafte,  Begriffliche,  Ideelle  gehoben.  Das  Innere  erkennt 
seine  Einheit  und  befestigt  sich  sicher  im  eigenen  Kreise,  die  Außen- 
welt weicht  davor  zurück,  sie  verliert  alles  innere  Leben,  indem  sie 
zur  räumlichen  Bewegung  keiner  Seele  mehr  zu  bedürfen  scheint, 
sie  verliert  alle  bunte  Farbe,  indem  die  ganze  Fülle  der  sinnlichen 
Eigenschaften  aus  einem  eigenen  Besitz  der  Dinge  zu  einem  bloßen 
Gewände  wird,  womit  sie  die  Seele  umkleidet.  So  wird  nunmehr 
die  Natur  als  ein  Reich  von  leblosen  Massen  und  Bewegungen  der 
Seele  innerlich  fremd;  die  Seele  aber,  als  auf  sich  selbst  gestellt 
und  mit  ihrer  Denkkraft  die  Unendlichkeit  bezwingend,  fühlt  sich 
ihr  weitaus  überlegen. 

Das  ist  ein  Hauptstück,  vielleicht  das  Hauptstück  des  Lebens 
der  Neuzeit,  nicht  aber  ist  es  das  Ganze  dieses  Lebens.  Denn 
unverkennbar  hat  die  Neuzeit  neben  dem  Drange  zur  Steigerung 
des  Subjektes  auch  den  entgegengesetzten  Zug,  aus  der  Kleinheit 
des  Menschen  heraus  zur  Größe  der  umgebenden  Welt  zu  flüchten, 
gegenüber  dem  wirren  Getriebe  und  der  dumpfen  Enge  des 
menschlichen  Kreises  ein  weiteres,  gehaltvolleres,  reineres  Leben 
aus  dem  unermeßlichen  All  zu  schöpfen.  So  ein  Trieb  zum  Objekt, 
ein  Streben,   sich  in  sein  Wesen  zu  versenken,  seinen  Gehalt  ohne 


14  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Trübung  in  sich  aufzunehmen.  Hier  wird  von  der  Mitteilung  der 
Dinge,  der  Erfahrung,  alles  Heil  erwartet;  der  Mensch  darf  seine 
Art  der  Welt  nicht  irgendwie  aufdrängen  wollen,  er  muß  sich  ihr 
dienstwillig  einfügen,  um  seinem  Leben  Wahrheit  zu  sichern.  Selbst 
die  Verstärkung  des  Subjekts  unterstützt  indirekt  diese  Wendung. 
Denn  indem  das  Subjekt  bei  kräftigerer  Konzentration  auf  sich 
selbst  alle  den  Dingen  geliehenen  Eigenschaften  von  ihnen  zurück- 
fordert und  damit  der  alten  Vermenschlichung  des  Weltbildes  ein 
Ende  bereitet,  kann  das  Objekt  seine  eigene  Natur  mit  voller  Rein- 
heit entfalten,  seine  Vielheit  enger  verbinden  und  fester  zu  einem 
Ganzen  verketten;  jetzt  erst,  nachdem  jener  trübende  Schleier  ge- 
fallen, erlangt  die  Natur  eine  volle  Autonomie  und  wird  sie  ein 
Reich  von  lückenlosen  Zusammenhängen  wie  unverbrüchlichen 
Gesetzen.  Das  alles  entwickelt  sich  zunächst  gegenüber  dem  Men- 
schen, aber  schließlich  muß  es  sich  zu  ihm  zurückwenden,  ihn  um- 
klammern, ihn  ganz  und  gar  sich  zu  unterwerfen  suchen.  Von 
hier  aus  erscheint  mehr  und  mehr  alles  Fürsichsein  des  Subjekts 
als  ein  leerer  Wahn,  und  es  wird  gefordert,  daß  das  Leben  sich 
den  Dingen  willig  anschmiege  und  lediglich  ihren  Geboten  folge. 
So  ein  engerer  Zusammenschluß  des  Menschen  mit  der  Umgebung, 
ein  neuer  Lebenstypus  unter  der  Herrschaft  des  Objekts. 

Demnach  ist  es  nicht  eine  einzige,  sondern  es  sind  zwei  Be- 
wegungen, die  durch  die  Neuzeit  gehen  und  auf  ihrem  Boden  ein 
gleiches  Recht  behaupten.  So  ist  sie  innerlich  bei  sich  selbst  ent- 
zweit, und  ihr  Leben  enthält  von  Haus  aus  eine  starke  Spannung 
und  Unruhe.  Diesen  Doppelcharakter  der  Neuzeit  werden  auch 
die  meisten  der  von  uns  behandelten  Probleme  erkennen  lassen. 
Solcher  Zwiespalt  stellt  der  geistigen  Arbeit  eine  schwere,  aber  un- 
abweisbare Aufgabe;  nicht  aus  der  unmittelbaren  Lage  heraus,  sondern 
nur  durch  ihre  Weiterbildung,  nur  durch  Aufdeckung  eines  neuen 
Grundgefüges  der  Wirklichkeit  läßt  sich  eine  überlegene  Einheit  und 
zugleich  eine  sichere  Wahrheit  erhoffen. 

Daher  war  es  kein  bloßer  Eigensinn  der  Spekulation,  es  war 
eine  innere  Notwendigkeit,  welche  große  Forscher  auf  neue  Bahnen 
trieb  und  sie  eine  vom  Denken  getragene  Wirklichkeit  dem  ersten 
Lebens-  und  Weltbilde  entgegenstellen  hieß.  Von  diesen  Versuchen 
sind  als  Ausdrücke  eines  neuen  Lebenstypus  besonders  wichtig  die 
von  Spinoza  und  Kant;  um  den  Gegensatz  zu  überwinden,  verstärkt 
jener  das  Objekt,   dieser  das  Subjekt,   jenem  dringt  das  Objekt  in 


Subjektiv  —  Objektiv.  15 

das  Subjekt,  diesem  das  Subjekt  in  das  Objekt  vor.  Spinoza  ver- 
bindet den  Menschen  und  die  Welt  durch  die  Aufdeckung  einer 
Weltkraft  im  Menschen  und  ihre  scharfe  Abhebung  von  aller  bloß- 
menschlichen Art;  diese  Weltkraft  ist  das  von  aller  Bindung  an  die 
sinnliche  Umgebung  befreite,  lediglich  auf  sich  selbst  gestellte  und 
von  seiner  eigenen  Notwendigkeit  getriebene  Denken,  wie  z.  B.  die 
Mathematik  es  zeigt,  das  Kleinmenschliche  dagegen  besteht  in  dem 
bloßsubjektiven  Fürsichsein  mit  seinen  Affekten  und  Zwecken.  Die 
Wendung  von  seiner  Enge  und  Befangenheit  zur  Klarheit  und 
Weite  des  Denkens  läßt  den  Menschen  ein  Weltleben  gewinnen; 
denn  wie  das  Denken  in  einem  auch  die  Dinge  tragenden  Allleben 
gegründet  ist,  so  erfaßt  es  in  seiner  Bewegung  zugleich  die  Wahr- 
heit der  Dinge  und  teilt  unmittelbar  ihre  Ewigkeit  und  Unendlich- 
keit Die  Seele  des  Lebens  und  die  Erlöserin  von  allen  Nöten 
wird  damit  die  Wissenschaft,  die  Wissenschaft,  die  sich  in  ihrer 
Vollendung  zu  religiöser  und  künstlerischer  Kontemplation  gestaltet. 
So  ,waren  es  auch  vor  allem  künstlerische  und  kontemplative  Naturen, 
welche  dieser  Lebenstypus  mit  seiner  herben  und  stillen  Größe 
anzog;  aber  weit  über  den  Kreis  der  Anhänger  hinaus  wirkte  diese 
Denkweise  durch  das  Scheiden  von  Kosmischem  und  Kleinmensch- 
lichem innerhalb  des  Menschen  selbst,  durch  die  energische  Be- 
kämpfung des  Anthropismus  des  Denkens  nicht  nur,  sondern  auch 
der  Gesinnung,  der  sich  im  Mittelalter  so  fest  eingenistet  hatte. 
Die  Kleinheit  des  gewöhnlichen  Glückverlangens  und  die  Enge  des 
landläufigen  Vorstellungskreises  kommen  jetzt  zu  deutlicher  Emp- 
findung; einmal  empfunden  und  als  unzulänglich  befunden,  können 
sie  die  alte  Selbstverständlichkeit  nun  und  nimmer  wieder  erlangen. 

Das  aber  bleibt  eine  Frage,  ob  unser  geistiges  Leben  gänzlich 
in  Denken  aufgeht,  ob  nicht  die  Wendung  vom  Schein  der  Sinne 
zur  Wahrheit  des  Denkens  selbst  eine  Tat  des  ganzen  Menschen 
verlangt,  die  jenseit  des  bloßen  Denkens  liegt.  Auch  die  Voraus- 
setzung dieser  Lösung:  das  Zusammenstimmen  unseres  Denkens  mit 
der  Welt  um  uns,  das  Umfangensein  beider  von  einem  einzigen 
Leben  des  Alls,  ist  keineswegs  zweifellos;  wo  aber  der  Weltcharakter 
unseres  Denkens  unsicher  wird,  da  ist  sofort  die  Wahrheit  des  ge- 
botenen Lebens  erschüttert. 

Dieses  Bedenken  wirkte  auch  Jbei  Kant,  als  er  einen  gerade 
entgegengesetzten  Weg  einschlug.  Denn  bei  ihm  weicht  die  Welt 
der  Dinge   in   eine   unzugängliche  Feme  zurück,   und  es  fällt  alle 


16  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Möglichkeit,  einer  Übereinstimmung  mit  ihnen  gewiß  zu  werden. 
Soll  also  irgendwelche  Wahrheit  für  uns  bestehen  bleiben,  so  ist 
sie  innerhalb  des  Subjektes  selbst,  nicht  in  einem  Verhältnis 
zum  Objekt  zu  suchen.  Das  bedeutet  ein  entschiedenes  Nein,  aber 
von  diesem  Nein  findet  sich  für  Kant  ein  Weg  zu  einem  Ja,  indem 
er  innerhalb  unseres  Lebenskreises  große  Gesamtleistungen  aufzeigt, 
vornehmlich  die  Bildung  einer  wissenschaftlichen  Erfahrung  und  die 
eines  Reichs  des  sittlichen  Handelns.  Was  immer  an  diesen  Leist- 
ungen von  geistiger  Art  ist,  das  wird  vom  Subjekt  geleistet;  so 
muß  es  auch  bei  sich  selbst  der  herkömmlichen  Fassung  entwachsen. 
Es  ist  nun  nicht  sowohl  Einzelpunkt,  individuelle  Existenz,  als 
geistige  Struktur,  geistiges  Gewebe;  was  es  von  sich-  und  seiner 
Tätigkeit  erfaßt,  gewinnt  damit  eine  Giltigkeit  für  alle  Einzelnen; 
so  entsteht  eine  neue  Art  von  Objektivität,^  ein  neuer  Begriff  der 
Wahrheit.  Sein  näherer  Inhalt  bestimmt  sich  nach  der  Beschaffen- 
heit und  der  Bedeutung  der  Tätigkeit,  er  ist  daher  grundverschieden 
bei  der  theoretischen  und  bei  der  praktischen  Vernunft.  Alle 
menschliche  Erkenntnis  bleibt  nach  Kant  an  eine  undurchsichtige 
Welt  gebunden;  die  Gedankenwelt,  die  wir  auf  ihre  Anregung  hin 
entwickeln,  gilt  nur  für  uns  selbst  und  unser  Vorstellen,  unser 
Weltbild  reicht  nicht  über  uns  hinaus,  nicht  nur  die  Formen  der 
sinnlichen  Anschauung,  auch  die  des  Denkens  sind  und  bleiben 
bloßmenschlicher  Art.  Anders  auf  praktischem  Gebiet.  Hier  erlangt 
das  Tun  des  Menschen  eine  volle  Ursprünglichkeit  und  vermag  es 
aus  sich  selbst  eine  Welt  zu  erzeugen;  hier,  wo  das  Unterscheidende 
in  der  Unterordnung  aller  menschlichen  Besonderheit  unter  allgemeine 
Normen  liegt,  ist  die  Wahrheit  nicht  bloßmenschlicher,  sondern  ab- 
soluter Art.  Der  Mensch  steht  hier  unmittelbar  in  den  tiefsten 
Gründen  der  Dinge,  als  moralisches  Wesen  wächst  das  Subjekt  bei 
sich    selbst   zum  Träger   einer  Welt.     So  wird  hier  die  Moral  zu 


'  Dieser  neue  Begriff  der  Objektivität  ist  freilich  voller  Verwicklung 
und  wurde  von  den  Gegnern  Kants  hart  angegriffen.  So  sagt  z.  B.  Plattner, 
Philosophische  Aphorismen  I,  §  6Q9  Anmerkung:  „Wenn  nun  aber  damit 
bewiesen  werden  soll,  daß  unsere  Erkenntnis  objektive  Giltigkeit  hat:  so  übt 
man  doch  fürwahr  an  dem  Worte  Objektiv  eine  Gewalttätigkeit  aus,  die 
bisher  in  dem  philosophischen  Sprachgebrauche  unerhört  war;  denn  man 
deutet  damit  gerade  den  entgegengesetzen  Begriff  Subjektiv  an.  Wirklich 
hat  sich  Herr  Schmid,  der  nie  von  seiner  Liebe  zur  Wahrheit  abweicht,  in 
der  Notwendigkeit  gesehen,  die  Kantische  Objektivität  subjektive  Objektivität 
zu  nennen.    Wörterb.,  Art.  Objektiv." 


Subjektiv  —  Objektiv.  17 

einem  selbständigem  Reich  und  zugleich  zum  Kern  des  Lebens,  die 
Erkenntnisarbeit  rückt  in  die  Peripherie  und  bekommt  zur  höchsten 
Aufgabe,  die  moralische  Welt  vor  Störungen  zu  bewahren.  Es 
entsteht  damit  ein  neuer  Typus  des  Lebens  in  vollem  Gegensatz 
zu  dem  Spinozas:  dort  die  Ruhe  der  Kontemplation,  hier  der  Auf- 
ruf zur  Aktivität;  dort  ein  Vordringen  zu  den  Grundlagen  einer 
vorhandenen  Welt,  hier  das  Schaffen  einer  neuen  Welt;  dort  die 
Ausgleichung  aller  Gegensätze  in  einer  allumfassenden  Einheit,  hier 
eine  Spaltung  der  Wirklichkeit  und  eine  Verschärfung  aller  Gegen- 
sätze. Beiden  ist  aber  das  Streben  gemeinsam,  unserem  Leben  irgend- 
wie einen  Weltcharakter  zu  geben,  den  Menschen  aus  sich  selbst 
herauszureißen  und  ihn  zu  neuen  Tiefen  zu  führen. 

Eine  Erörterung  des  Kantischen  Denk-  und  Lebenstypus  bleibe 
der  Betrachtung  der  Gegenwart  vorbehalten,  die  ihn  zu  neuem 
Leben  erweckt  hat.  Die  unmittelbaren  Nachfolger  nahmen,  als  Söhne 
einer  Zeit  von  kräftigem  und  freudigem  Lebensgefühl,  schweren  An- 
stoß- an  dem  Belassen  eines  Dinges  an  sich  und  der  Begrenzung 
menschlichen  Vermögens,  die  daraus  hervorgeht  Mit  dem  Ding  an 
sich  fiel  die  Scheidung  von  theoretischer  uud  praktischer  Vernunft, 
und  es  stand  nichts  mehr  im  Wege,  das  Leben  in  einen  einzigen 
Zusammenhang  zu  verwandeln.  So  wurde  denn  kühnen  Mutes 
unternommen,  alle  Wirklichkeit  aus  unserer  geistigen  Tätigkeit,  im 
besonderen  aus  dem  mit  innerer  Bewegung  ausgestatteten  Denken 
hervorzubringen.  Das  Denken,  so  hatte  schon  Plotin  gezeigt,  ver- 
mag im  eigenen  Kreise  den  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  zu 
überwinden,  indem  es  sich  gegen  sich  selbst  kehrt,  das  Denken  selbst 
zum  Vorwurf  des  Denkens  macht  Das  brauchte  nur  mit  voller 
Konsequenz  entwickelt,  vom  bloßen  Individuum  abgelöst  und  auf 
das  Ganze  der  weltgeschichtlichen  Arbeit  übertragen  zu  werden,  und 
es  entstand  das  Hegeische  System,  das  die  ganze  Wirklichkeit  in 
eine  Selbstentwicklung  des  Denkens  verwandelt,  die  Wahrheit  als 
ein  Selbstbewußtwerden  des  Geistes  versteht  und  den  Menschen 
an  dieser  absoluten  Wahrheit  vollauf  teilnehmen  läßt  Nur  muß  er 
alle  Eigenwilligkeit  eines  subjektiven  Meinens  aufgeben  und  allein 
den  Notwendigkeiten  des  Denkprozesses  folgen. 

Dies  Unternehmen  ergriff  nicht  nur  wie  ein  brausender  Sturm 
seine  eigne  Zeit,  es  hat  sich  mit  seinem  Flüssigmachen  aller  Größen 
und  seinem  Zusammenschweißen  aller  Mannigfaltigkeit  tief  in  den 
Bestand  des  Geisteslebens   eingegraben.     Aber  auch  ein  Rückschlag 

Eucken  ,  Orundbegriffe.    4.  Aufl.  2 


18  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

konnte  nicht  fehlen,  sobald  jener  kühne  Aufschwung  nachließ,  und 
das  Ausleben  selbst  die  Grenzen  des  Unternehmens  zur  Empfindung 
brachte.  Unabweisbar  wurde  nun  die  Frage,  ob  der  Prozeß  nicht 
über  sich  selbst  hinausweist,  da  er  als  geistiger  wieder  erlebt  sein 
will  und  es  dazu  eines  überlegenen  Punktes  bedarf;  unabweisbar 
die  andere,  ob  die  ausschließliche  Verwandlung  des  Lebens  in  Denken 
nicht  der  Wirklichkeit  allen  Inhalt  raubt  und  aus  ihr  ein  bloßes 
Gewebe  von  logischen  Formen  und  Formeln  macht;  unabweisbar 
endlich  die,  ob  hier  nicht  viel  zu  rasch  die  menschliche  Geistigkeit 
zur  absoluten  erhoben  ist,  —  Wie  immer  dem  sein  mag,  das  Ganze 
ist  weniger  durch  eine  wissenschaftliche  Gegenarbeit  überwunden 
als  durch  eine  tatsächliche  Wendung  des  Lebens  zurückgedrängt 
worden.  Damit  aber  betreten  wir  den  Boden,  der  dem  19.  Jahr- 
hundert eigentümlich  ist. 

b)  Das  19.  Jahrhundert. 

Das  1 9.  Jahrhundert  hat  das  Problem  und  den  Gegensatz  mehr 
zum  Bewußtsein  gebracht  als  irgendwelche  frühere  Zeit,  es  läßt  sie 
unmittelbarer  zur  Empfindung  wirken  und  sich  breiter  entfalten.  Für 
den  Versuch  einer  Überwindung  aber  hat  es  kaum  etwas  neues 
gebracht,  wie  schon  das  stete  Zurückgehen  auf  Kant  bekundet. 

Das  Problem  erfährt  zunächst  den  Einfluß  der  Wendung  von 
den  Zielen  der  inneren  Bildung  zur  Beherrschung  der  sichtbaren 
Welt  durch  Naturwissenschaft,  Technik  und  politisch-soziales  Wirken. 
Solche  Richtung  des  Lebens  heißt  den  Menschen  stets  den  engsten 
Anschluß  an  die  Dinge  suchen  und  nur  von  der  Bindung  seiner 
Kräfte  an  sie  eine  Realität  und  Wahrheit  erwarten,  während  ein 
davon  abgelöstes  Leben  zu  einem  bloßen  Schattenreich,  einer  leeren 
Einbildung  sinkt.  So  verlegt  das  Leben  seinen  Schwerpunkt  ins 
Objektive  und  findet  seinen  Kern  in  der  mit  den  Gegenständen  be- 
faßten und  durch  ihre  Natur  bedingten  Arbeit;  diese  Arbeit  vollzieht 
eine  Emanzipation  von  den  bloßen  Individuen,  entwickelt  bei  sich 
selbst  Zusammenhänge  ausgedehntester  Art  und  macht  mit  ihrem 
unaufhörlichen  Anschwellen  den  Menschen  mehr  und  mehr  zu  einem 
bloßen  Diener  und  Werkzeug.  So  zunächst  in  der  technischen 
Arbeit  mit  ihren  Fabriken,  so  mehr  und  mehr  auch  in  den  anderen 
Lebensgebieten.  Je  mehr  überall  das  Sinnen  und  Streben  sich  auf 
gemeinsame  und  sichtbare  Leistungen  richtet,  desto  nebensächlicher 


Subjektiv  —  Objektiv.  19 

wird,  was  in  der  Seele  des  Einzelnen  vorgeht,  desto  gleichgültiger 
erscheint  sein  Ergehen  und  Befinden,  desto  mehr  wird  das  Subjekt 
zu  einem  bloßen  Tropfen  am  Eimer,  zu  einer  Größe,  die  sich  ohne 
Schaden  zurückstellen  und  ausschalten  läßt.  Einen  wissenschaftlichen 
Ausdruck  findet  das  in  der  Theorie  des  Positivismus,  soweit  sie 
ihre  Grundsätze  folgerichtig  durchführt,  sie  nicht  mit  andersartigen 
Gedankenmassen  verquickt 

Dieser  Zug  überwiegt  noch  immer  im  Leben  der  Zeit.  Aber 
stärker  und  stärker  empfinden  wir  die  Grenzen  eines  solchen  Strebens, 
und  immer  deutlicher  steigt  das  Gefühl  der  Leere  auf;  bekundet  nicht 
schon  das  ein  Wiedererwachen  des  Subjekts  und  die  Unmöglich- 
keit eines  Verzichtes  auf  alle  innere  Befriedigung?  Ein  jäher  Um- 
schlag nach  dieser  Richtung  tritt  damit  nahe,  das  Subjekt  beginnt 
sich  in  seiner  Zuständlichkeit  als  das  Erste  und  Überlegene  an- 
zusehen, es  entwickelt  die  Neigung,  alle  Bindung  nach  außen  auf- 
zugeben, alles  Geschehen  nach  der  Wirkung  auf  das  eigne  Befinden 
zu  messen,  schließlich  das  Leben  möglichst  in  freischwebende  Stimmung 
zu  verwandeln.  So  geht  es  neuerdings  in  breiten  Wogen  durch  die 
Literatur,  das  künstlerische  Schaffen  und  auch  durch  das  gesellschaft- 
liche Zusammensein.  Aber  um  die  Seele  zu  befriedigen  und  den 
Gegner  zu  besiegen,  dazu  entbehrt  diese  Bewegung  viel  zu  sehr 
eines  Gehalts.  All  ihr  Aufrufen  der  individuellen  Kräfte  ergibt 
keineswegs  eine  zusammenhängende  Innenwelt  und  eine  gemeinsame 
Wahrheit;  schließlich  führt  dieser  Weg  in  dieselbe  Leere  zurück, 
von  der  er  befreien  wollte.  Als  wissenschaftlicher  Vertreter  dieses 
Subjektivismus  darf  am  ehesten  der  Psychologismus  gelten,  der  un- 
mittelbar von  der  Seele  des  Einzelnen  her  zu  einer  Gedankenwelt 
strebte.  Zeitweise  hat  dies  viele  überwältigend  fortgerissen,  aber  der 
Rückschlag  ist  rasch  gekommen  und  immer  deutlicher  wird  uns, 
daß  sich  von  dieser  schwankenden  Grundlage  aus  zu  einer  Wissen- 
schaft, zu  einem  Reich  der  Wahrheiten  nun  und  nimmer  gelangen 
läßt^  Auch  jenseit  der  Wissenschaften  erkennen  wir  mehr  und 
mehr  die  Schranken  des  Subjektivismus.  Aber  da  wir  zugleich 
zum  Objektivismus  im  geschilderten  Sinne  unmöglich  zurückkehren 
können,  so  verbleiben  wir  in  peinlichem  Zwiespalt,  und  es  drohen 


*  Die  durchschlagendste  Widerlegung  des  Psychologismus  enthalten  die 
Logischen  Untersuchungen  von  Husserl,  1900  und  1901;  im  besonderen  wird 
hier  überzeugend  erwiesen,  wie  tief  der  Psychologismus  auch  in  die  Ge- 
dankenwelt solcher  Forscher  eingedrungen  ist,  die  ihn  prinzipiell  verwerfen. 

2* 


20  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

sich  Arbeit  und  Seele  einander  immer  mehr  zu  verfeinden.  Ein 
solcher  Zerfall  des  Lebens  läßt  sich  unmöglich  als  endgültig  hin- 
nehmen, irgendwie  muß  die  Kluft  überwunden  werden. 

An  Bemühungen  darum  fehlt  es  nicht,  am  meisten  verbindet 
die  Geister  ein  Streben,  das  Subjekt  von  innen  her  so  zu  verstärken 
und  auszuweiten,  daß  damit  ein  neuer  Weltdurchblick  und  ein  neues 
Leben  gewonnen  wird.  Es  geschieht  das  aber  in  engem,  wenn  auch 
keineswegs  völligem  Anschluß  an  Kant.  Ein  derartiges  Streben  zeigt 
sowohl  die  Theologie  als  die  Philosophie,  es  gestaltet  sich  aber  hier 
und  dort  in  verschiedener  Weise.  In  der  Theologie  —  es  handelt 
sich  hier  namentlich  um  die  von  Ritschi  ausgehende  Bewegung  — 
wird  unternommen,  die  religiöse  Wahrheit  von  der  Unsicherheit  der 
Spekulation  und  der  Metaphysik  zu  befreien  und  ihr  im  innersten 
Wesen  der  Seele  einen  festen  Grund  zu  geben.  Vornehmlich  in 
der  Moral,  in  der  Ausbildung  der  sittlichen  Persönlichkeit,  scheint 
das  Geistesleben  ein  eignes  Reich  zu  erzeugen  und  sich  mit  ihm 
sicher  über  alles  andere  Dasein  hinauszuheben.  Nach  diesem  Ge- 
dankengange bedarf,  was  zur  geistigen  Selbstbehauptung  nötig  ist, 
keiner  Bestätigung  von  außen  her,  es  erweist  seine  Wahrheit  durch 
sein  eignes  Vermögen,  durch  die  Steigerung  des  ethisch-religiösen 
Lebens.  Die  nähere  Entwicklung  der  Gedankenwelt  wird  hier  vor- 
nehmlich durch  die  „Werturteile"  bestimmt,  die  jene  Beziehung  zum 
Kern  des  Lebens  vertreten  und  damit  aller  theoretischen  Beweis- 
führung überlegen  werden;  das  moralischreligiöse  Leben  entwirft 
nach  den  ihm  innewohnenden  Notwendigkeiten  ein  Ganzes  von 
Überzeugungen,  das  freilich  keine  Welterklärung  sein  will  und  seine 
Geltung  nur  in  steter  Zurückbeziehung  auf  die  Grundwahrheiten 
jenes  Lebens  hat. 

Dieses  Streben,  dessen  nähere  Durchführung  übrigens  recht 
verschiedene  Färbungen  hat,  ist  insofern  gewiß  in  gutem  Recht,  als 
es  die  letzten  Überzeugungen  des  Menschen  fester  und  unmittel- 
barer begründen  will,  als  das  durch  theoretische  Erwägungen  ge- 
schehen kann,  als  es  dem  Leben  in  höherem  Grade  einen  Tatcharakter 
verleiht.  Aber  die  nähere  Lösung  dieser  Aufgabe  ruft  manche  Be- 
denken hervor.  Als  Kern  des  Lebens  pflegt  hier  das  Gefühl  be- 
handelt und  von  ihm  aus  ein  Aufbau  versucht  zu  werden.  „Das 
Gefühl  ist  nun  einmal  die  geistige  Funktion,  in  welcher  das  Ich  bei 
sich  selbst  ist".  (Ritschi,  Christi.  Lehre  von  der  Rechtfertigung  und 
Versöhnung  III,   142).     Aber   läßt   in  Wahrheit   das   Gefühl   schon 


Subjektiv  -  Objektiv.  21 

ein  Beisichselbstsein  des  Lebens  erreichen?  Kann  das  Gefühl  nicht 
flach  und  leer  sein?  Es  erzeugt  doch  nicht  von  sich  aus  einen 
Inhalt,  sondern  es  gewinnt  ihn  nur  in  weiteren  Zusammenhängen 
des  Lebens.  Wie  das  Gefühl  in  stetem  Fluß  und  der  verschieden- 
artigsten Deutung  fähig  ist,  so  läßt  sich  von  ihm  aus  unmöglich 
dem  Leben  ein  Halt  wie  ein  Inhalt  geben.  Der  Versuch  eines 
Aufbaues  einer  Gedankenwelt  vom  Gefühl  und  damit  vom  Subjekt 
würde  sich  vom  bloßen  Subjektivismus  kaum  unterscheiden,  wenn 
sich  nicht  das  Gefühl  als  notwendig  und  der  von  ihm  bejahte  Inhalt 
als  der  natürlichen  Besonderheit  des  Menschen  überlegen  dartun 
ließe?  Wie  aber  sollte  das  von  der  bloßen  Tatsächlichkeit  des  Seelen- 
lebens her  geschehen  können?  Mag  ein  Gefühl  noch  so  unabweis- 
bar scheinen,  es  ist  das  zunächst  nur  für  das  besondere  Subjekt;  mag 
es  mit  einem  bestimmten  Inhalt  noch  so  verwachsen  scheinen,  diese 
Verbindung  besagt  mehr  als  der  unmittelbare  Eindruck  enthält,  sie 
ist  das  Ergebnis  einer  Deutung,  und  eine  solche  Deutung  kann  irre 
gehen.  So  leistet  die  Stärke  eines  Gefühls  nicht  die  mindeste  Ge- 
währ für  die  Wahrheit  des  aus  ihm  entwickelten  Gedankengehaltes. 
Das  bekundet  u.  a.  die  Vielheit  und  der  Streit  der  Religionen.  Jede 
von  ihnen  glaubt  ihres  Grundgefühles  mindestens  ebenso  sicher  zu 
sein  als  die  anderen,  und  doch  gelangen  sie  zu  grundverschiedenen 
Wahrheiten.  So  bedarf  es  notwendig  einer  höheren  Instanz,  um 
über  das  Recht  der  verschiedenen  Ansprüche  zu  entscheiden,  und 
diese  kann  nicht  das  Gefühl  sein.  Überhaupt  aber  läßt  sich  vom 
Menschen  aus  zu  einer  Wahrheit  nur  gelangen,  wenn  in  ihm  ein 
seiner  natürlichen  Besonderheit  überlegenes  Leben  durchbricht;  eine 
an  jene  Besonderheit  geknüpfte  Wahrheit  ist  keine  Wahrheit.  Schon 
das  bringt  es  mit  sich,  daß  der  Mensch  das  Problem  seines  Grund- 
verhältnisses zur  Wirklichkeit  nun  und  nimmer  aufgeben  oder  auch 
nur  zurückschieben  kann.  Dies  Problem  wird  ihm  nicht  erst  nach- 
träglich aufgedrängt,  es  gehört  von  vornherein  zu  seiner  geistigen 
Art  Das  Leben  eines  geistigen  Wesens  erschöpft  sich  einmal  nicht 
in  die  bloße  Zuständlichkeit,  es  umspannt  auch  das  Gegenständliche 
und  muß  sich  mit  ihm  auseinandersetzen,  es  muß  auf  einer  Über- 
windung jener  Spaltung  zwingend  bestehen,  während  ihm  die  Be- 
schränkung auf  die  bloße  Zuständlichkeit  zu  einer  unerträglichen 
Enge  wird. 

Was  hier  an  Verwicklung  vorliegt,  das  verdunkelt  und  vergißt 
sich  namentlich  deshalb  leicht,  weil  die  Regung  des  Gefühls  durch 


22  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

eine  geschichtlich  überlieferte  Gedankenwelt  ergänzt  zu  werden  pflegt, 
der  Halt  scheint  damit  fester  und  der  Inhalt  reicher  zu  werden.  In 
der  Tat  aber  ist  die  Wahrheit  der  geschichtlichen  Überlieferung  erst 
zu  erweisen,  und  das  kann  in  diesem  Zusammenhange  nur  vom 
Gefühl  her  geschehen;  ebenso  könnte  auch  nur  dieses  darüber 
entscheiden,  was  vom  Gehalt  jener  Überlieferung  als  wertvoll  zu 
gelten  hätte.  So  kommen  wir  hier  auf  Umwegen  immer  wieder  auf 
das  Gefühl  zurück  und  bleiben  an  seinen  Kreis  gebannt.  Je  mehr 
es  aber  auf  sich  selbst  gestellt  wird,  desto  weniger  Inhalt  gewährt  es, 
desto  mehr  droht  es  sich  in  einzelne  zerstreute  und  sinnlose  Vorgänge 
aufzulösen.  So  führt  dieser  Weg  mehr  in  die  Verwicklung  hinein  als  aus 
ihr  heraus.  Was  immer  aber  uns  von  der  hier  gebotenen  Gedanken- 
entwicklung trennt,  es  kann  uns  nicht  verhindern,  die  entschiedene 
Kräftigung  des  ethisch-religiösen  Lebens  anzuerkennen,  die  mit  jenem 
Streben  erreicht  ist;  nur  können  wir  die  wissenschaftliche  Fassung 
dessen  nicht  glücklich  finden. 

Wesentlich  anders  gestaltet  die  Sache  sich  auf  dem  Gebiet  der 
Philosophie,  wo  der  Begriff  des  Wertes^  den  Mittelpunkt  einer  be- 
deutenden und  fruchtbaren  Bewegung  bildet   Diese  Bewegung  vertritt 


^  Über  den  Begriff  und  die  Bedeutung  des  Wertes  ist  in  den  letzten 
Jahrzehnten  eine  ausgedehnte  Literatur  entstanden,  deren  Betrachtung  und 
Würdigung  hier  nicht  wohl  möglich  ist;  nur  das  Werk  Meinongs  „Psycho- 
logisch-ethische Untersuchungen  zur  Wert-Theorie",  1894,  möge  hier  angeführt 
sein.  Wünschenswert  wäre  eine  Gesamtgeschichte  des  Wertproblems  und 
Wertbegriffes;  hier  seien  nur  aus  Höffdings  Religionsphilosophie  folgende 
Stellen  hervorgehoben :  „Der  Philosophie  Kants  verdanken  wir  die  Selbständig- 
keit des  Wertproblems  dem  Erkenntnisproblem  gegenüber.  Er  lehrte  uns  die 
Schätzung  von  der  Erklärung  unterscheiden."  (S.  IL)  Femer  „Kant  redet  häufiger 
von  Zwecken  als  von  Werten.  Es  ist  aber  klar  (obschon  Kant  dies  weder 
in  seiner  Psychologie,  noch  in  seiner  Ethik  recht  beachtete),  daß  der  Begriff 
des  Zweckes  den  Begriff  des  Wertes  voraussetzt,  da  ich  zum  Zwecke  nur  das 
machen  kann,  dessen  Wert  ich  erfahren  habe.  Wenn  Kant  von  dem  , Reiche 
der  Zwecke'  im  Gegensatz  zur  kausalen  Naturordnung  redet,  so  meint  er 
hiermit  dasselbe,  was  spätere  Philosophen  ,das  Reich  der  Werte'  nannten. 
Der  Kantianer  Fries  geht  von  dem  Begriff  des  Wertes  aus  (System  der  Philo- 
sophie, Leipzig  1804;  §§  238,  255,  330.  —  Neue  Kritik  der  Vernunft.  Heidel- 
berg 1807.  III.  S.  14).  Vorzüglich  sind  es  aber  Herbart  und  Lotze,  die  dem 
Begriffe  des  Wertes  in  weiteren  Kreisen  Eingang  verschafften.  Nach  Lotze 
nahmen  der  Theolog  Albrecht  Ritschi  und  dessen  Schüler  denselben  auf." 
Über  den  Wertbegriff  bei  Fries  ist  neuerdings  eine  Schrift  von  Pöschmann 
erschienen.  Es  ist  aber  der  Begriff  mit  seinem  Problem  keineswegs  ausschließ- 
lich modern ;  er  tritt  hervor,  sobald  das  Subjekt  eine  größere  Selbständigkeit 


Subjektiv  -  Objektiv.  23 

als  Ganzes  angesehen  die  moderne  Denkweise  gegenüber  der  antiken, 
namentlich  sofern  diese  durch  Plato  bestimmt  ist.  Wo  den  Hauptgegen- 
satz der  Wirklichkeit  der  des  beharrenden  Seins  und  des  flüchtigen  Wer- 
dens bildet,  wie  bei  diesem,  da  liegt  es  nahe,  das  wesenhafte  Sein  zugleich 
als  das  Gute  und  Wertvolle  zu  fassen,  beide  Begriffe  möglichst  zusammen- 
zuschmelzen. Diesem  Gedankengange  kann  das  Gute  als  etwas  von  der 
Tätigkeit  Abgelöstes,  dem  Menschen  Gegenüberliegendes  erscheinen. 
Die  moderne  Denkweise  verficht  dagegen,  daß  von  einem  Guten  nur 
in  Beziehung  auf  ein  lebendtätiges  Wesen  die  Rede  sein  kann,  und 
daß  nur  nach  der  Bedeutung  für  dieses  sich  die  Schätzung  näher  be- 
stimmen läßt;  damit  empfahl  es  sich,  statt  von  Gütern  von  Werten  zu 
reden.  Dieser  Grundgedanke  kann  aber  sehr  verschiedene  Fassungen 
annehmen  und  hat  das  in  Wahrheit  getan.  Gilt  als  der  Träger  des 
Lebens  lediglich  das  empfindende  und  fühlende  Einzelsubjekt,  und 
wird  sich*  demnach  der  Wert  der  Geschehnisse  nach  der  Leistung 
für  dessen  Befinden  und  Behagen  bemessen,  wird  Lust  und  Unlust 
zum  entscheidenden  Maßstab  gemacht,  so  sieht  man  nicht,  wie  davon 
fruchtbare  Bewegungen  oder  gar  Erhöhungen  des  Lebens  ausgehen 
könnten.  Denn  die  Lust  schmiedet  den  Menschen  an  die  eigne  dunkle 
Zuständlichkeit,  sie  macht  das  Leben  innerlich  eng  bei  aller  Weite 
nach  außen,  sie  verwehrt  alle  innere  Erhöhung  des  Wesens,  alle 
unmittelbare  Freude  an  Menschen  und  Dingen,  alles  Aufnehmen  des 
Gegenstandes  in  den  Lebensprozeß.  Diesen  Mißstand  wird  nament- 
lich derjenige  schwer  nehmen,  der  in  dem  seelischen  Stande  des 
Menschen  große  Aufgaben  und  Verwicklungen  erkennt  Denn  eine 
solche  Lage  bringt  die  Forderung  eines  kräftigen  Emporklimmens, 
ja  einer  inneren  Umwälzung  mit  sich ;  diese  aber  sind  ausgeschlossen, 
wenn  das  Leben  starr  an  den  bloßen  Zustand  gebannt  bleibt. 

Unvergleichlich  viel  höher  steht  eine  andere  Art,  welche  die 
kritisch-idealistische  Denkweise  Kants  auf  den  Boden  der  Gegenwart 
versetzt  und  sie  den  Erfahrungen  der  Zeit  gemäß  weiterzuführen 
bestrebt  ist  ^   Hier  bildet  die  Tatsache  den  Ausgangspunkt,  daß  unser 


gewinnt.  So  zuerst  bei  den  Stoikern,  die  auch  einen  Terminus  (a^ia)  für  ihn 
bildeten.  Nikolaus  von  Kues,  der  erste  moderne  Deiiker,  nennt  Gott  den 
Wert  der  Werte  (valor  valorum). 

^  Einen  besonders  klaren  und  bedeutenden  Ausdruck  findet  diese  Be- 
wegung in  den  „Präludien"  Windelbands,  namentlich  in  den  Abschnitten 
„Was  ist  Philosophie?",  „Normen  und  Naturgesetze",  „Kritische  oder  gene- 
tische Methode". 


24  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Leben  und  Tun  nicht  in  eine  bloße  und  blinde  Tatsächlichkeit  des 
Geschehens  aufgeht,  sondern  daß  unsere  geistige  Art  uns  zu  steter 
Beurteilung  zwingt;  diese  Beurteilung  aber  erfolgt  nach  bestimmten 
Normen,  die  aller  Willkür  überlegen  und  auch  von  der  Verwirk- 
lichung beim  Menschen  unabhängig  sind.  In  diesen  Normen  werden 
Werte  ersichtlich,  die  jenseit  alles  bloßen  Nutzens,  jenseit  aller 
Lust  und  Unlust  liegen,  die  eine  innere  Erhöhung  des  Lebens 
vollziehen  und  für  sich  eine  Unbedingtheit  in  Anspruch  nehmen 
dürfen.  ^  So  erkennen  wir  hier  ein  bedeutendes  Streben,  dem  Leben  des 
Menschen  von  innen  her  einen  Halt  und  einen  Inhalt  zu  geben,  ihn 
durch  kritische  Selbstbesinnung  dem  Naturgetriebe  überlegen  zu 
machen,  ohne  ihn  in  die  Fährnisse  einer  spekulativen  Metaphysik 
zu  verwickeln,  zugleich  auch  der  Philosophie  eine  eigentümliche 
Aufgabe  abzustecken.  In  der  Tat  ist  nicht  zu  ersehen,  wie  auf  einem 
anderen  Wege  als  dem  der  Selbstbesinnung  und  der  Selbstvertiefung 
der  Mensch  die  durch  die  Verfeindung  von  Subjekt  und  Objekt 
drohende  Spaltung  des  Lebens  überwinden  könne. 

Was  uns  Bedenken  erregt,  ist  lediglich  dieses,  ob  man  an  der 
hier  gewiesenen  Stelle  abschließen  könne,  ob  nicht  die  Bewegung 
selbst  mit  innerer  Notwendigkeit  über  sie  hinaustreibe.  Verschiedene 
Fragen  mögen  sich  dabei  erheben.  Können  die  Werte  als  einzelne 
Erlebnisse  die  genügende  Sicherheit  erlangen,  wird  nicht  ihre  Ur- 
sprünglichkeit anfechtbar  sein,  so  lange  sie  ein  bloßes  Nebeneinander 
bilden,  sich  nicht  zur  Einheit  eines  Ganzen  zusammenfassen  ?  2  Wird 
ferner  die  in  den  Werten  eröffnete  höhere  Stufe  des  Lebens  gegen 
die  bestrickende  Macht  der  natürlichen  und  sozialen  Selbsterhaltung 
aufkommen  und  sich  durchsetzen  können,  wenn  sie  uns  nicht  ein 
neues  geistiges  Selbst  verschafft,  das  sich  in  den  Werten  wie  ent- 
faltet so  behauptet?  Dieses  aber  wird  schwerlich  ohne  eine  Um- 
kehrung der  vorgefundenen  Lage  möglich  sein,  und  das  führt  doch 


^  Diese  Überlegenheit  der  Werte  vertritt  namentlich  Münsterberg  in 
seiner  „Philosophie  der  Werte"  (1908)  mit  großer  Kraft  und  Wärme. 

"  Die  Notwendigkeit  einer  solchen  Verbindung  hebt  auch  Münsterberg 
nachdrücklich  hervor;  er  sagt  im  Vorwort  zu  seiner  „Philosophie  der  Werte": 
„Die  Gesamtheit  der  Werte  muß  grundsätzlich  geprüft  und  aus  einer  Grund- 
tat einheitlich  abgeleitet  werden.  Das,  was  unserem  Philosophieren  heute 
fehlt,  ist  ein  in  sich  geschlossenes  System  der  reinen  Werte;  erst  dann  kann 
die  Philosophie  auch  wieder  aufs  neue  zur  wirklichen  Lebensmacht  werden, 
wie  es  zu  lange  ausschließlich  die  Naturwissenschaft  gewesen  ist"  (VI). 


Subjektiv  —  Objektiv.  25 

wieder  zu  irgendwelcher  Metaphysik,  mag  sie  von  der  alten  noch 
so  verschieden  sein. 

So  erblicken  wir  in  der  Lehre  von  den  Werten  weniger  einen 
fertigen  Abschluß  als  eine  aussichtsreiche  Bewegung.  Über  die 
Philosophie  kommt  einstweilen  diese  Bewegung  wenig  hinaus,  und 
die  Menschheit  verbleibt  in  dem  peinlichen  Hin-  und  Herschwanken 
zwischen  Arbeit  und  Seele,  zwischen  der  Absorbierung  des  Subjekts 
durch  das  übermächtige  Objekt  und  der  Verflüchtigung  des  Objekts 
durch  die  Selbstherrlichkeit  des  Subjekts. 

Diese  Lage  mit  ihrer  Verwicklung  treibt  die  Frage  hervor,  ob 
nicht  die  ganze  Scheidung  von  Subjekt  und  Objekt,  ob  nicht  alle 
Anerkennung  eines  inneren  Bereiches  neben  der  Außenwelt  von 
Haus  aus  verfehlt  sei,  ob  nicht  bei  solcher  Fassung  das  Wahrheits- 
streben den  unlösbaren  Widerspruch  enthalte,  zugleich  scheiden  und 
verbinden,  auseinanderhalten  und  zusammenführen  zu  wollen.  Von 
entgegengesetzten  Ausgangspunkten  her  sind  neuerdings  Avenarius 
und  Mach  zu  dem  gleichen  Ergebnis  gekommen,  jene  Scheidung  als 
eine  unnütze  und  irreleitende  Verdoppelung  aufzugeben.  Die  Ver- 
setzung der  Empfindungen  in  ein  Inneres,  die  Introjektion,  erschien 
ebenso  verfehlt,  wie  die  Herausstellung  von  Bewußtseinsvorgängen 
nach  außen,  die  Projektion.  Statt  zweier  Welten  ergab  sich  damit 
eine  einzige,  und  es  verbot  sich  jedes  Hinausgehen  über  die  un- 
mittelbare Erfahrung  zu  jenseitigen  Dingen. ^  Diese  scharfsinnige 
Wendung  des  Problems,  deren  Streben  nach  Vereinfachung  einen 
sichtlichen  Eindruck  auf  die  Zeit  macht,  nach  ihrer  technischen  Seite 
zu   prüfen,    liegt   außerhalb   unserer   Aufgabe;    daß   sie   auf   ihrem 


^  Siehe  Mach,  Die  Analyse  der  Empfindungen.  2.  Aufl.  S.  206:  «Es 
gibt  keine  Kluft  zwischen  Psychischem  und  Physischem,  kein  Drinnen  und 
Draußen,  keine  Empfindung,  der  ein  äußeres,  von  ihr  verschiedenes  Ding 
entspräche.  Es  gibt  nur  einerlei  Elemente,  aus  welchen  sich  das  vermeintliche 
Drinnen  und  Draußen  zusammensetzt,  die  eben  nur,  je  nach  der  temporären 
Betrachtung,  drinnen  oder  draußen  sind.  —  Die  sinnliche  Welt  gehört  dem 
physischen  und  psychischen  Gebiet  zugleich  an."  S.  33:  »Ich  sehe  keinen 
Gegensatz  von  Psychischem  und  Physischem,  sondern  einfache  Identität  in 
bezug  auf  diese  Elemente."  Siehe  auch  Wlassak  (in  der  »Zukunft"  1902, 
Nr.  18,  S.  202):  »Kein  naiver  Mensch  findet  einen  Baum  irgendwie  als  Emp- 
findung in  seinem  Bewußtsein,  sondern  immer  nur  als  Bestandteil  seiner 
Umgebung.  Dies  gilt  auch  dann,  wenn  der  Baum  nicht  gesehen,  sondern 
nur  erinnert  wird;  auch  das  blasse  Gedankenbild  steht  in  keinem  anderen 
Verhältnis  zum  Beschauer  als  der  gesehene  Baum." 


26  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

nächsten  Gebiet  der  physiologisch-psychologischen  Wahrnehmungs- 
lehre scheinbar  abgeschlossene  Fragen  wieder  in  Fluß  bringt  und  den 
problematischen  Charakter  des  landläufigen  wissenschaftlichen  Natur- 
bildes aufdeckt,  ist  sicherlich  ein  Verdienst.  Der  Grundbehauptung 
aber  beizutreten  verbietet  uns  schon  die  Erwägung,  daß  unser  Ich 
in  Wirklichkeit  mehr  ist  als  ein  Strom  von  sinnlichen  Empfindungen, 
daß  schon  unser  Erkennen  ein  selbständiges  Verarbeiten  enthält, 
daß  namentlich  aber  jenseit  aller  intellektuellen  Vorgänge  sich  ein 
Innenleben  entwickelt,  das  gegenüber  aller  Mannigfaltigkeit  und 
durch  allen  Wechsel  und  Wandel  hindurch  eine  beharrende  Art 
erweist.^  Für  solche  Selbständigkeit  des  Inneren  spricht  auch  das 
Ganze  der  geschichtlichen  Bewegung;  denn  durch  alle  Arbeit  und 
Verwicklung  hindurch  hat  sich  der  Mensch  immer  weiter  von  der 
bloßen  Sinnlichkeit  entfernt,  immer  mehr  das  äußere  Begegnis  in 
ein  inneres  Erlebnis  verwandelt,  immer  mehr  Gegenwirkung  gegen 
die  zuströmende  Fülle  geübt.    Das  alles  ist  kein  bloß  intellektuelles 


^  Wenn  Mach  das  Ich  als  etwas  Unbeständiges  und  Unselbständiges 
behandelt,  so  liegt  das  zum  guten  Teil  an  einer  Vermengung  von  Bewußtsein 
des  Ich  und  lebendigem  Ich  selbst.  So  heißt  es  z.  B.  a.  a.  O.  S.  3:  »Die 
scheinbare  Beständigkeit  des  Ich  besteht  vorzüglich  nur  in  der  Kontinuität, 
in  der  langsamen  Änderung.  Die  vielen  Gedanken  und  Pläne  von  gestern, 
welche  heute  fortgesetzt  werden,  an  welche  die  Umgebung  im  Wachen  fort- 
während erinnert  (daher  das  Ich  im  Traume  sehr  verschwommen,  verdoppelt 
sein  oder  ganz  fehlen  kann),  die  kleinen  Gewohnheiten,  die  sich  unbewußt 
und  unwillkürlich  längere  Zeit  erhalten,  machen  den  Grundstock  des  Ich  aus. 
Größere  Verschiedenheiten  im  Ich  verschiedener  Menschen,  als  im  Laufe  der 
Jahre  in  einem  Menschen  eintreten,  kann  es  kaym  geben.  Wenn  ich  mich 
heute  meiner  frühen  Jugend  erinnere,  so  müßte  ich  den  Knaben  (einzelne 
wenige  Punkte  abgerechnet)  für  einen  anderen  halten,  wenn  nicht  die  Kette 
der  Erinnerung  vorläge."  S.  17:  „Man  wird  dann  auf  das  Ich,  welches  schon 
während  des  individuellen  Lebens  vielfach  variiert,  ja  im  Schlaf  und  bei  Ver- 
sunkenheit  in  eine  Anschauung,  in  einen  Gedanken,  gerade  in  den  glück- 
lichsten Augenblicken,  teilweise  oder  ganz  fehlen  kann,  nicht  mehr  den  hohen 
Wert  legen."  Aber  besteht  denn  nicht  mit  lebendiger  Kraft  eine  Einheit 
geistiger  Art  gegenüber  allen  Wandlungen  und  Verdunklungen  des  Bewußt- 
seins, und  wirkt  nicht  aus  solcher  Einheit  geistiger  Individualität  alles  vor- 
dringende wissenschaftliche  und  künstlerische  Schaffen,  entspringt  aus  ihr  nicht 
alle  durchgreifende  Leistung  auch  auf  praktischem  und  technischem  Gebiete? 
Diese  Erfahrungen  des  geistigen  Lebens  bestätigen  gegenüber  jener  Ver- 
flüchtigung des  Ich  vielmehr  die  Überzeugung  Goethes: 

„Und  keine  Zeit  und  keine  Macht  zerstückelt 
Geprägte  Form,  die  lebend  sich  entwickelt." 


Subjektiv  —  Objektiv.  27 

Phänomen,  kein  bloßer  Erklärungsversuch,  sondern  eine  Eröffnung 
reicher  Tatsächlichkeit,  der  nächsten  und  sichersten,  die  wir  kennen, 
die  allein  uns  die  sinnlichen  Eindrücke  denken  und  überdenken  lehrt. 
So  wenig  sich  eine  solche  Tatsächlichkeit  für  eine  bloße  Illusion 
erklären  und  das  Rad  der  Weltgeschichte  zurückdrehen  läßt,  so  gewiß 
behauptet  jene  Scheidung  zwischen  Subjekt  und  Objekt,  zwischen 
Innenwelt  und  Natur  eine  unabweisbare  Notwendigkeit. 


c)  Die  positive  Behauptung. 

a.  Einführung. 

In  welcher  Richtung  sollen  wir  nun  weiter  suchen?  Ist  die 
Scheidung  nicht  zurücknehmbar  und  führt  kein  Weg  von  der  einen 
Seite  zur  anderen,  so  bleibt  keine  andere  Möglichkeit,  als  den  Gegen- 
satz in  den  Lebensprozeß  selbst  aufzunehmen,  diesen  von  innen  her 
so  zu  erweitern,  daß  er  sich  nicht  erst  nachträglich  auf  eine  neben 
ihm  befindliche  Welt  bezieht,  sondern  daß  er  selbst  eine  Welt  enthält; 
innerhalb  des  Menschen  selbst  muß  das  Ganze  einer  Welt  zur 
Wirkung  kommen,  die  dem  Gegensatz  überlegen  ist,  und  diese  Welt 
muß  nicht  durch  die  Besonderheit  des  Punktes  hindurch,  sondern 
unmittelbar  uns  zugänglich  sein;  dann  und  nur  dann  kann  es  für 
den  Menschen  irgendwelche  Wahrheit  geben. 

Diese  Wendung  mag  beim  ersten  Anblick  auffallend  dünken, 
in  Wahrheit  fehlt  es  ihr  nicht  an  geschichtlichen  Anknüpfungen, 
die  nur  einer  Zusammenfassung  bedürfen,  um  in  dem  scheinbar 
Neuen  Altes  entdecken  zu  lassen.  Wie  kam  denn  die  Menschheit 
dazu,  die  Begriffe  des  Wahren  und  des  Guten  zu  bilden  und  sie  von 
der  bloßen  Tatsächlichkeit  und  Nützlichkeit  abzuheben,  wie  konnte 
sie  überhaupt  über  die  Meinungen  und  Neigungen  des  bloßen 
Menschen  irgend  hinausstreben?  Ein  merkwürdiges  Phänomen  ist 
hier  nicht  zu  verkennen.  Denn  mag  noch  so  viel  Streit  darüber 
sein,  was  als  wahr  urtd  als  gut  zu  gelten  habe,  vor  aller  Ungewißheit 
der  Antwort  steht  die  Tatsache  der  Frage,  und  diese  ist  unmittelbar 
etwas  Großes  und  Folgenreiches.  Denn  sie  enthält  eine  Durch- 
brechung des  bloßpunktuellen  Seins,  sie  bezeugt  eine  innere  Weite 
des  Wesens,  die  in  dem  scheinbar  Fremden  etwas  Eigenes  sieht  und 
sucht  Sicherlich  nämlich  kann  sich  der  Mensch  um  nichts  ernstlich 
kümmern  und  bekümmern,  was  nicht  irgendwie  zu  seinem  Leben 


28  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

und  Wesen  in  Beziehung  steht,  ja  schHeßlich  zu  ihm  gehört;  ein 
vöUiges  Jenseits  kann  ihn  nicht  im  mindesten  erregen.  Nun  geht 
beim  Wahren  und  Guten  das  Streben  auf  eine  Welt,  die  jenseit 
des  nächsten  Lebenskreises  liegt;  müssen  wir  dann  nicht  von  Haus 
aus  auch  an  einem  weiteren  Kreise  teilhaben,  muß  unser  Leben 
nicht  die  Welt  umspannen,  wenn  ihr  Inhalt  so  viel  Anziehung  auf 
uns  üben,  so  viel  Bewegung  in  uns  erzeugen  soll?  Freilich  muß 
sich  dann  der  Begriff  unseres  Selbst  verändern,  aber  die  Begriffe  haben 
den  Tatsachen  und  nicht  die  Tatsachen  den  Begriffen  zu  dienen,  warum 
sollten  wir  uns  also  gegen  eine  solche  Veränderung  sträuben? 

Eine  schwere  Frage  und  Aufgabe  bleibt  es  freilich,  jenem  Ge- 
danken einer  Weltnatur  des  Menschen  eine  präzisere  Fassung  zu 
geben,  aber  auch  dafür  haben  die  letzten  Jahrhunderte  auf  der  Höhe 
ihrer  Leistungen  deutlich  genug  einen  Weg  gezeigt.  Es  ist  ein 
Hauptstück  der  Größe  Kants,  von  der  bloß  psychologischen  Er- 
klärung die  Erforschung  der  Möglichkeit  geistiger  Inhalte  abzuheben, 
z.  B.  von  der  Frage,  wie  der  einzelne  Mensch  zum  Erkennen,  zur 
Moral  u.  s.  w.  kommt,  die  zu  unterscheiden,  welche  inneren  Be- 
dingungen das  Bestehen  von  Wissenschaft  und  Moral  hat.  So  wird 
sowohl  die  logische  als  die  ethische  Betrachtung  selbständig  gegen- 
über der  psychologischen.  Das  mag  zunächst  bloß  als  eine  neue 
Methode  erscheinen,  aber  diese  Methode  wäre  hinfällig  ohne  ein 
neues  Leben,  ein  Leben  jenseit  der  Einzelvorgänge  des  seelischen 
Daseins,  ein  Leben  aus  dem  Ganzen,  ein  Leben  mit  einem  Welt- 
charakter. Was  sich  aber  von-  solchem  Leben  nach  einzelnen  Rich- 
tungen entwickelt,  das  hat  keinen  festen  Grund  und  Halt,  wenn  es 
sich  nicht  zu  einem  Ganzen  zusammenfaßt  und  als  Erweisung  einer 
neuen  Stufe  anerkannt  wird,  die  nicht  unter,  sondern  über  dem 
Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  steht. 

In  anderer  Art  und  doch  zu  verwandtem  Ziele  wirkt  die  moderne 
Kunst  auf  der  Höhe  ihres  Schaffens.  Die  Objektivität  eines  Goethe 
wird  gefeiert,  er  selbst  begrüßte  es  mit  freudigem  Dank,  als  Heinroth 
sein  Denken  ein  gegenständliches  nannte.  Eine  solche  Gegenständ- 
lichkeit bedeutet  aber  keineswegs  eine  Unterdrückung  und  möglichste 
Aufsaugung  des  Subjekts  durch  das  Objekt,  ein  bloßes  Wieder- 
geben des  äußeren  Eindrucks  der  Dinge,  sondern  eine  Begegnung 
und  gegenseitige  Durchdringung  von  Objektivem  und  Subjektivem 
auf  dem  gemeinsamen  Boden  des  Innenlebens;  die  Dinge  empfangen 
dabei  selbst  eine  Seele  und  vermögen  ihre  eigene  Art  getreulich  mit- 


Subjektiv  —  Objektiv.  29 

zuteilen;  das  menschliche  Leben  aber  wird  von  der  anfänglichen 
Leere  zu  einem  Inhalt  geführt.  Hier  wird  nicht  eine  subjektive 
Stimmung  den  Dingen  aufgedrängt,  sondern  ihnen  ihr  eigenes  Leben 
und  Weben  abgelauscht  oder  abgerungen;  der  Dichter  „erscheint 
damit  wie  ein  Zauberer,  der  die  sonst  stummen  Wesen  zum  Sprechen 
bringt,  dem  sich  die  ganze  Unermeßlichkeit  der  Welt  seelisch  er- 
öffnet, der  alle  Mannigfaltigkeit  ihrer  eigenen  Natur  zuführt  und 
zugleich  das  Lebendige,  Wesentliche,  Wirksame  aus  den  Dingen  heraus- 
sieht" (s.  Lebensanschauungen  der  großen  Denker,  7.  Aufl.,  446). 
Goethe  nennt  das  eine  Synthese  von  Geist  und  Welt,  „die  von  der 
ewigen  Harmonie  des  Daseins  die  seligste  Versicherung  gibt«;  in 
Wahrheit  erfolgt  diese  Synthese  nicht  zwischen  der  Seele  und  der 
Außenwelt,  sondern  innerhalb  der  zu  einer  Innenwelt  erweiterten 
Seele,  zwischen  Seiten  und  Polen  ihres  Lebens.  So  bestehen  nicht 
bloß  zwei,  sondern  drei  Arten  künstlerischen  Schaffens:  dem  Gegen- 
satz einer  objektivistischen  und  einer  subjektivistischen  Behandlung 
stellt  sich  eine  überlegene  Art  entgegen,  die  wir  eine  souveräne 
nannten.  ^  Erst  diese  souveräne  Behandlung  dringt  sowohl  über  die 
seelenlose  Gegenständlichkeit,  als  über  die  formlose  Zuständlichkeit 
zu  einer  Eigenständlichkeit  vor,  bei  welcher  der  Lebensprozeß  eine 
Welt  nicht  nachträglich  sucht,  sondern  sie  aus  sich  selbst  entfaltet; 
damit  erst  gewinnt  er  einen  Inhalt,  nicht  als  Abbildung  eines  vor- 
handenen Daseins,  sondern  durch  schöpferische  Synthese  einer  neuen 
Welt.  Sollle,  was  so  in  der  Kunst  eine  unbestreitbare  Wirklichkeit 
hat,  nicht  auch  für  das  Ganze  des  Geisteslebens  gelten,  könnte  über- 
haupt die  Kunst  sich  darum  bemühen,  wenn  nicht  hinter  ihr  ein  Ganzes 
des  Geisteslebens  stünde?  So  sollten  wir  getrost  den  hier  gewiesenen 
Weg  verfolgen  und  ihn  mutig  zu  Ende  gehen,  mag  er  uns  noch 
so  weit  von  dem  üblichen  Welt-  und  Lebensbilde  entfernen.  Denn 
daran  ist  nicht  zu  zweifeln,  daß  nur  im  Widerspruch  damit  sich  eine 
Welt  von  innen  her  aufbauen  und  das  Leben  und  Wirken  eigen- 
tümlich gestalten  läßt.  Erwägen  wir  also,  wie  sich  1.  der  Grund- 
begriff des  Geisteslebens,  2.  das  Verhältnis  des  Menschen  zur 
Geistigkeit  und  zugleich  der  Anblick  des  geschichtlichen  Lebens, 
3.  das  Problem  der  Wahrheit  ausnimmt,  wenn  wir  jenen  Weg  be- 
treten und  damit  die  Voraussetzungen  dessen  entwickeln,  was  im 
Ergebnis  jeder  irgendwie  festhalten  muß. 


^  S.  „Wahrheitsgehalt  der  Religion".  2.  Aufl.,  S.  95. 


30  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 


ß.  Der  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Ein  Leben  geistiger  Art  gilt  als  das,  was  den  Menschen  aus- 
zeichnet und  über  die  Stufe  des  bloßen  Tieres  hinaushebt  So  muß 
es  wohl  mehr  sein  als  das  natürliche,  uns  mit  den  Tieren  gemein- 
same Seelenleben;  in  Wahrheit  zeigt  schon  eine  flüchtige  Betrachtung 
alsbald  einen  wesentlichen  Unterschied.  Das  Seelenleben  der  niederen 
Stufe  ist  nicht  mehr  als  eine  Begleiterscheinung  und  eine  Hülfe  des 
Naturprozesses;  alle  Entwicklung  von  Intelligenz  und  Geschicklich- 
keit bleibt  hier  ein  bloßes  Werkzeug  zur  Erhaltung  des  Individuums 
oder  der  Gattung;  als  solches  Werkzeug  gelangt  es  nicht  zu  einem 
inneren  Zusammenhange,  einem  sicheren  Beisichselbstsein,  einem 
eigentümlichen  Inhalt.  Dies  aber  ist  es,  was  die  Wendung  zur 
geistigen  Stufe  des  Lebens  bringt.  Hier  erscheint  ein  neuer  Lebens- 
prozeß: das  Innere,  bisher  eine  bescheidene  Zutat,  ein  Anhang  einer 
fremden  Welt,  will  jetzt  auf  sich  selber  stehen  und  eine  eigne 
Wirklichkeit  bilden.  Zu  einem  Ganzen  verbunden  wäre  demnach 
geistiges  Leben  selbständig  gewordene  und  zu  einem  Inhalt  gelangte 
Innerlichkeit;  die  sonst  in  eine  unermeßliche  Vielheit  zerstreute  und 
in  lauter  Abhängigkeitsverhältnisse  verstrickte  Wirklichkeit  erreicht 
hier  einen  inneren  Zusammenhang  und  ein  Leben,  das  allererst  ein 
Selbstleben  heißen  kann. 

Aber  aus  solcher  Behauptung  erwächst  sofort  eine  Frage.  Wird 
mit  jenem  Selbstleben  ein  Sonderreich  erstrebt,  das  neben  der  Wirk- 
lichkeit der  Dinge  liegt,  zufrieden  und  sicher  bei  sich  selbst,  oder 
verbleibt  auch  in  jener  Wendung  ein  Zusammenhang  mit  der  großen 
Welt?  Nur  dies  letztere  entspricht  dem  Befunde  des  Lebens.  Denn 
im  Streben  zu  sich  selbst  bleibt  das  Geistesleben  zugleich  mit  der 
großen  Welt  befaßt,  es  kann  sich  selbst  nicht  finden,  ohne  diese  an 
sich  zu  ziehen,  es  kann  nicht  ruhen  und  rasten,  bis  es  sie  vollauf 
überwunden  und  in  sich  aufgenommen  hat  Darum  ist  all  sein 
Gehalt  zugleich  eine  Behauptung,  die  Behauptung,  das  Letzte,  Ganze, 
Allumfassende,  der  Kern  der  gesamten  Wirklichkeit  zu  sein.  Dies 
aber  kann  es  nur  sein,  wenn  die  Weiterbildung,  die  es  an  den 
Drngen  durch  die  Aneignung  bewirkt,  diese  zur  Höhe  ihres  eigenen 
Wfesens  führt,  wenn  der  Gehalt  des  Geisteslebens  die  eigene  Wahr- 
heit der  Dinge  bedeutet  Das  Geistesleben  wird  in  sich  selbst  ein 
unerträglicher   Widerspruch,   wenn   es   neben    und    gegenüber   der 


Subjektiv  —  Objektiv.  31 

Welt,  nicht  innerhalb  ihrer  steht,  wenn  nicht  in  der  Wendung  zu 
ihm  sich  die  Wirklichkeit  selbst  vollendet. 

Die  Anerkennung  dessen  versetzt  unsere  Welt  in  Fluß  und 
verwandelt  sie  in  ein  Reich  von  aufsteigender  Bewegung.  Die  An- 
fangsstufe bildet  die  Natur,  aus  ihr  quillt  das  natürliche  Seelenleben 
auf.  Aber  dies  Leben  bildet  einen  durchgängigen  Widerspruch, 
indem  es  eine  gewisse  Innerlichkeit  entwickelt  und  sie  zugleich  durch 
die  völlige  Bindung  an  ein  Äußeres,  durch  die  Versagung  alles 
Selbstlebens  wieder  aufhebt  Diesen  Widerspruch  stellt  das  in  aller 
Stärke  des  Lebensaffektes  gehalt-  und  sinnlose  Getriebe  der  Tierwelt 
jedem  denkenden  Beobachter  eindringlich,  ja  erschütternd  vor  Augen. 
Erst  im  Geistesleben  beginnt  eine  Lösung  des  Widerspruches,  indem 
sich  nun  das  Leben  nicht  mehr  bloß  nach  außen  hin,  sondern  auch 
gegen  sich  selber  kehrt. 

Als  eine  solche  Stufe  des  Alls  kann  das  Geistesleben  nicht  eine 
bloße  Eigenschaft  einzelner  Punkte  sein  und  erst  nachträglich  aus 
einzelnen  Betätigungen  zu  einem  Ganzen  zusammenschießen,  es  muß 
vielmehr  von  Haus  aus  ein  Ganzes,  ein  selbständiges  und  sich  selbst 
angehöriges  Leben  sein.  Zu  einem  solchen  Ganzen  gehört  eine  wie 
aller  Mannigfaltigkeit  so  auch  dem  Gegensatz  von  Subjekt  und 
Objekt  überlegene  Einheit.  Dies  Ganze  entwickelt  sich  mittels  des 
Gegensatzes  von  Subjekt  und  Objekt,  von  Kraft  und  Gegenstand, 
aber  es  bleibt  ihm  überlegen  und  hält  beide  Seiten  auch  in  der 
Scheidung  zusammen,  auf  geistigem  Boden  kann  jede  einzelne  sich 
nur  zusammen  mit  der  anderen  entfalten  und  ihre  eigene  Höhe 
finden.  So  sind  hier  nicht  sowohl  die  beiden  Seiten  einander  ent- 
gegengesetzt, als  vielmehr  der  Stand  ihrer  Einigung,  der  Stand  der 
Volltätigkeit  dem  der  Spaltung,  dem  des  halbseitigen  und  zugleich 
leeren  Lebens.  Das  bloße  Subjekt  ist  vom  Geistesleben  aus  ange- 
sehen ebenso  etwas  äußerliches  wie  das  Objekt;  nicht  die  Beziehung 
der  einen  Seite  auf  die  andere,  sondern  nur  die  schöpferische 
Synthese  erzeugt  eine  Innerlichkeit  und  zugleich  eine  volle,  bei  sich 
selbst  befindliche  Wirklichkeit;  eine  solche  kann  nie  von  draußen 
dargeboten  werden. 

Es  hat  aber  solche  Überwindung  des  Gegensatzes  von  Subjekt 
und  Objekt  eine  unerläßliche  Bedingung  und  Voraussetzung:  die 
Betrachtung  darf  ihren  Ausgangspunkt  nicht  in  einem  gegebenen 
Sein,  sie  muß  ihn  im  Lebensprozeß  selber  nehmen.  Geschieht 
nämlich   jenes,    so    wird    entweder   die  Welt   oder  das  Subjekt  als 


32  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

etwas  für  sich  bestehendes  und  bei  sich  abgeschlossenes  festgelegt; 
dann  aber  läßt  sich  nie  vom  einen  zum  anderen  gelangen,  dann 
verbleiben  wir  immer  unter  der  Macht  des  Gegensatzes.  Im  Lebens- 
prozeß dagegen  kann  von  vornherein  das  eine  auf  das  andere  an- 
gewiesen sein,  und  die  Beschaffenheit  jeder  Seite  sich  nach  dem 
bemessen,  was  im  Ganzen  geschieht  und  erreicht  wird;  dann  ver- 
schwindet die  Starrheit  des  Gegensatzes,  dann  kann  der  Scheidung 
ein  Zusammenhang  überlegen  bleiben. 

Endlich  diene  zur  Aufhellung  und  Abgrenzung  dieser  Fassung 
des  Geisteslebens  noch  eine  Bemerkung  historischer  Art.  Die  Auf- 
klärung kannte  neben  dem  Mechanismus  der  Natur  keine  andere 
Wirklichkeit  als  das  Nebeneinander  einzelner  Seelen,  sie  sprach  nicht 
von  einer  Geisteswelt,  sondern  nur  von  einer  Geisterwelt.  Erst 
Kant  brachte  die  Wendung  in  Fluß,  welche  die  geistige  Arbeit  des 
19.  Jahrhunderts  beherrscht,  die  deutliche  Abhebung  eines  Geistes- 
lebens vom  bloßseelischen  Getriebe.  Denn  bei  ihm  erscheint  jenseit 
des  Unterschiedes  der  Individuen  eine  gemeinsame  geistige  Struktur, 
ein  Grundgewebe,  das  alle  geistige  Betätigung  beherrscht  und  ge- 
staltet. Aber  die  Sache  blieb  bei  ihm  insofern  noch  unvollendet, 
als  sich  weder  das  Neue  fest  genug  bei  sich  selbst  zusammenschloß, 
noch  eine  deutliche  Abgrenzung  des  Geistigen  erfolgte.  Die  speku- 
lativen Nachfolger  erhoben  das  Geistesleben  zur  vollen  Selbständig- 
keit, aber  zugleich  behandelten  sie  unbedenklich  das  menschliche 
Geistesleben  als  absolutes  Geistesleben  und  machten  jenes  zum  Er- 
zeuger aller  Wirklichkeit.  Das  konnten  sie  nicht  wohl  ohne  ein 
besonderes  Tun,  und  mehr  und  mehr  ward  dies  das  Denken,  für 
das  Ganze  des  Geisteslebens  einzusetzen;  daraus  entstand  nicht  nur 
ein  viel  zu  knappes,  auch  zu  anthropomorphes  Bild  der  Welt,  es 
drohte  sich  zugleich  alle  Wirklichkeit  in  einen  rastlosen  Prozeß  zu 
verflüchtigen.  Dementgegen  sei  entschieden  das  Geistesleben  über 
das  menschliche  Dasein  hinausgehoben:  der  Mensch  erzeugt  nicht 
das  Geistesleben,  sondern  er  gewinnt  teil  am  Geistesleben  und  da- 
mit an  einer  höheren  Stufe  der  Wirklichkeit.  Zugleich  erscheint 
das  Geistesleben  nicht  als  eine  besondere  Betätigung,  nicht  als  eine 
besondere  Seite  des  Lebens,  sondern  als  bei  sich  selbst  befindliches, 
wirklichkeitbildendes  Leben,  das  unser  menschliches  Tun  keineswegs 
ganz  erfüllt,  sondern  als  ein  hohes  Ziel  zu  ihm  wirkt. 


Subjektiv  —  Objektiv.  33 

y.  Das  Verhältnis  des  Menschen  zum  Geistesleben. 

Dieses  Selbständigwerden  des  Geisteslebens  mit  seiner  Abhebung 
vom  bloßen  Menschen  verwandelt  dessen  Verhältnis  zum  Geistes- 
leben aus  einer  scheinbar  selbstverständlichen  Tatsache  in  ein  schweres 
Problem.  Wie  kann  der  Mensch,  für  die  nächste  Betrachtung  ein 
verschwindender  Punkt,  am  Ganzen  einer  Welt,  einer  bei  sich  selbst 
befindlichen  Welt  teilhaben,  als  welche  sich  nunmehr  das  Geistes- 
leben darstellt?  Er  kann  es  sicherlich  nur,  wenn  von  vornherein 
das  Geistesleben  als  Möglichkeit  in  seinem  Wesen  angelegt,  er  ihm 
irgendwie  unmittelbar  verbunden  ist.  Das  Geistesleben  darf  ihm 
nicht  durch  die  Vermittlung  seiner  besonderen  Natur  zugeführt  und 
dabei  sich  selbst  entfremdet  werden,  es  muß  ihm  als  Ganzes  mit 
all  seiner  Unendlichkeit  irgend  gegenwärtig  sein,  es  muß  ihn  damit 
von  innen  her,  wenn  auch  zunächst  nur  der  Möglichkeit  nach,  zu 
einem  Weltleben  und  Weltwesen  erweitern.  Ohne  ein  solches  Inne- 
wohnen der  Geistigkeit  gibt  es  für  den  Menschen  keine  Hoffnung 
des  Weiterkommens;  würde  er  in  dem  Geistesleben  nicht  sein  echtes 
Selbst  ergreifen,  so  könnte  es  nie  eine  Macht  für  ihn  werden;  böte 
jenes  nicht  einen  unwandelbaren  Pol  und  hielte  es  nicht  mit  richten- 
der Kraft  allem  menschlichen  Unternehmen  Ziele  und  Maße  vor,  so 
wären  wir  dem  Wechsel  und  Wandel  der  Erscheinungen  wehrlos 
preisgegeben,  so  entfiele  für  uns  alle  Möglichkeit  einer  Wahrheit 
Nur  das  Geistesleben,  nicht  der  bloße  Mensch,  kann  eine  absolute 
Festigkeit  gewähren. 

Solches  Teilhaben  des  Menschen  am  Geistesleben  verändert  den 
Gesamtanblick  seines  Wesens.  Jenes  ist  nur  möglich  jenseit  des 
unmittelbaren  Daseins,  so  gewinnt  sein  Leben  einen  tieferen  geistigen 
Grund;  zugleich  scheidet  sich  von  der  empirisch-psychologischen 
Betrachtung,  welche  mit  den  unmittelbaren  Vorgängen  des  Seelen- 
lebens zu  tun  hat,  eine  noologische,  welche  sich  jene  geistige  Grund- 
lage mit  ihrer  Selbsttätigkeit  zum  Vorwurf  macht. 

Bei  solchem  zwiefachen  Anblick  erscheint  der  Mensch  in  sich 
selbst  als  ein  Gegensatz  und  ein  Problem.  Das  Geistesleben  ist 
bei  ihm  zugleich  eine  Tatsache  und  eine  Aufgabe,  unerschütterliche 
Ruhe  und  nie  befriedigtes  Streben,  innerster  Kern  und  fernes  Ziem- 
er selbst  aber  erscheint  zugleich  als  groß  in  der  Verbindung,  als 
klein  im  Abstände,  sein  Leben  wird  ein  unablässiges  Suchen  des 
eigenen  Wesens  und  wird  damit  erst  einer  wahrhaftigen  Geschichte 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  3 


34  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

fähig.  Denn  wie  i<önnte  eine  solche  entstehen,  wo  das  Streben 
lediglich  von  außen  abhängig  wäre,  nicht  von  innen  her  durch  ein 
festes  Ziel  gelenkt  und  gerichtet  würde? 

Auf  dem  Boden  der  menschlichen  Geschichte  überwindet  das 
Geistesleben  langsam  die  anfängliche  Zerstreutheit  und  Ohnmacht; 
es  geschieht  das,  indem  unter  besonders  günstigen  Umständen  eine 
Kernbildung  innerhalb  des  Lebensprozesses  erfolgt,  indem  Tätigkeits- 
komplexe geistiger  Art  zusammenschießen  und  sich  durchzusetzen 
suchen,  indem  schließlich  ein  charakteristisches  Lebenssystem,  der 
Aufbau  einer  geistigen  Wirklichkeit,  unternommen  wird.  Kein  deut- 
licheres Beispiel  gibt  es  davon  als  das  griechische  Schaffen,  wie  es 
mit  ausgeprägter  Art  Leben  und  Welt  umspannt.  Wie  eine  solche 
Synthese  eine  ausschließliche  Wahrheit  des  von  ihr  dargebotenen 
Lebensinhaltes  behauptet,  so  zerlegt  sie  das  Dasein  in  ein  Für  und  ein 
Wider,  sie  kann  nichts  dulden,  was  ihr  fremd  oder  feindlich  entgegen- 
steht. So  erwächst  Bewegung  und  Kampf,  diese  erschließen  Erfahr- 
ungen und  treiben  das  Leben  dadurch  weiter;  so  mögen  sich  neue 
Konzentrationen  vorbereiten,  die  ähnliche  Schicksale  haben,  so  mag 
durch  Werden  und  Vergehen  der  einzelnen  Phasen  der  Wahrheits- 
gehalt des  Ganzen  wachsen.  Das  freilich  nur,  wenn  alle  Bewegung 
von  einem  begründenden  und  richtenden  Geistesleben  umspannt 
wird,  während  sich  ohne  das  gegenüber  den  starren  Widerständen 
und  den  schweren  Hemmungen  der  menschlichen  Lage  nun  und 
nimmer  irgendwelche  Wahrheit  durchsetzen  könnte.  Damit  erscheint 
der  geschichtliche  Prozeß  als  eine  fortschreitende  Verinnerlichung 
nicht  subjektiver,  sondern  substantieller  Art;  es  muß  sich  damit  eine 
immer  größere  Entfernung  von  der  unmittelbaren  Lage  vollziehen, 
die  unter  dem  Gegensatz  steht  und  daher  einer  vollen  Innerlichkeit 
wie  einer  echten  Wirklichkeit  entbehrt. 

Innerhalb  dieser  Bewegung  findet  sich  auch  ein  Platz  für  den 
Gegensatz,  den  die  Ausdrücke  „subjektiv"  und  „objektiv"  recht  un- 
zulänglich bezeichnen.  Das  Geistesleben  ist  Selbstleben  und  Welt- 
leben zugleich,  ein  Selbst  entfaltet  sich  hier  zur  Welt  und  die  Welt 
gewinnt  ein  Selbst,  das  eine  gehört  zum  anderen.  Aber  solche  Zu- 
sammengehörigkeit verhindert  nicht,  daß  in  der  geschichtlichen  Be- 
wegung das  Leben  bald  mehr  zur  Konzentration,  bald  mehr  zur 
Expansion  geht;  dort  das  Streben  nach  Verinnerlichung  und  Ver- 
tiefung in  sich  selbst,  hier  das  nach  Weite  und  Sachlichkeit,  dort 
die  Gefahr  eines  Einströmens  bloß  menschlicher  Elemente,  hier  die 


Subjektiv  —  Objektiv.  35 

des  Vordringens  einer  seelenlosen  Welt;  vielleicht  besteht  ein  Rhyth- 
mus des  Geschehens,  der  bald  diesem,  bald  jenem  die  Führung 
gibt.  Aber  durch  alle  Wandlungen  hindurch  beharrt  das  Streben 
des  Geisteslebens  nach  einer  den  Gegensätzen  überlegenen  Einheit. 
Auch  bleibt  von  jenem  subjektiven  oder  objektiven  Zuge  innerhalb 
des  Geisteslebens  grundverschieden  ein  Subjektivismus  oder  Objek- 
tivismus gegenüber  dem  Geistesleben,  ein  Subjektivismus,  der  aus 
den  Zuständen  des  bloßen  Subjekts  eine  Welt  hervorspinnen  möchte, 
ein  Objektivismus,  der  eine  Wahrheit  glaubt  von  den  bloßen  Dingen 
her  durch  Austreibung  des  Geistes  erreichen  zu  können.  Das  eine 
wie  das  andere  muß  rasch  ins  Leere  sinken,  wenn  sie  nicht  ver- 
steckt aus  eben  dem  überlegenen  Geistesleben  schöpfen,  dessen  An- 
erkennung sie  ablehnen. 


S.   Ergebnisse  für  den  Wahrheitsbegriff. 

'  Was  an  Wandlungen  ersichtlich  wurde,  das  muß  sich  auch  auf 
den  Begriff  der  Wahrheit  erstrecken  und  ihn  eigentümlich  gestalten. 
Wahrheit  bedeutet  jetzt  nicht  mehr  die  Übereinstimmung  mit  einem 
draußen  befindlichen  Gegenstande,  sondern  ein  Aufsteigen  zu  einem 
Leben,  das  aller  menschlichen  Willkür  überlegen  ist,  und  das  den 
Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  durch  tätiges  Schaffen  umspannt. 
Es  handelt  sich  hier  um  eine  Verwandlung  des  Daseins  in  Selbst- 
tätigkeit, die  mit  ihrem  umbildenden  Wirken  von  aller  bloßen  Be- 
tätigung innerhalb  eines  gegebenen  Daseins  wesentlich  verschieden 
ist.  Dies  Wahrheitsstreben  hat  nichts  mit  einem  ruhenden  Sein  zu 
tun,  das  unabhängig  von  allem  Leben  bestünde,  vielmehr  liegt  die 
Wahrheit  innerhalb  des  Lebens,  und  sie  ist  nur  erreichbar  durch 
das  Leben.  Aber  das  Leben,  das  hier  in  Frage  steht,  ist  nicht  eine 
Sache  des  bloßen  Menschen,  sondern  in  ihm  gelangt  das  Ganze  der 
Wirklichkeit  zu  einem  Beisichselbstsein  und  zugleich  allererst  zu 
Inhalten  und  Werten,  die  Wahrheit  aber  ist  nicht  ein  bloßes  Mittel 
zur  Erhöhung  dieses  Lebens,  sondern  sie  gehört  zu  seinem  Wesen. 
Alle  intellektuelle  Wahrheit  prinzipieller  Art  ruht  schließlich  auf 
einer  gesamtgeistigen  Wahrheit,  aller  wesentliche  Fortschritt  der 
Wahrheitserkenntnis  auf  einer  Weiterbildung  des  Lebens.  So  ist 
der  Gewinn  der  Wahrheit  nicht  Sache  eines  einzigen  Augenblicks, 
sondern  nur  durch  den  Lauf  der  weltgeschichtlichen  Arbeit  mit  ihren 
Versuchen,  Erfahrungen,  Wandlungen  dringt  der  Mensch  allmählich 

3* 


36  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

zu  ihr  vor,  es  gibt  kaum  etwas  so  törichtes  als  der  Anspruch  philo- 
sophischer Systeme,  in  einem  gegebenen  Zeitpunkt  die  ganze  Fülle 
der  Wahrheit  erschöpfen  und  alle  Rätsel  lösen  zu  wollen.  Daß 
wir  so  im  Suchen  verbleiben  und  zugleich  unvermeidlich  im  Irren, 
das  kann  uns  in  keiner  Weise  erschrecken,  wenn  wir  der  Über- 
zeugung sind,  daß  alles  menschliche  Streben  eine  Welt  des  Geistes- 
lebens hinter  sich  hat,  die  sich  nur  durch  Freiheit  aneignen  läßt, 
die  aber  nicht  auf  unsere  Willkür  gestellt  ist. 


Theoretisch  -  praktisch. 

(Intellektualismus  —  Voluntarismus.) 

a)  Geschichtliches. 

I  |ie  Frage  des  Intellektualismus  und  Voluntarismus  steht  mit  der 
*-^  eben  behandelten  in  engstef  Verbindung,  es  wird  bei  ihr  nur 
direkter  ins  Seelische  gewandt,  was  uns  dort  als  Weltanblick  beschäftigte. 
Auch  hier  ein  Gegensatz  von  Lebenstypen,  auch  hier  eine  Bewegung 
der  Jahrtausende.  Nur  der  Unterschied,  daß  sich  hier  unsere  Zeit 
ihres  eigenen  Zieles  weit  sicherer  fühlt.  Denn  entschieden  überwiegt 
hier  das  Streben,  den  Schwerpunkt  des  Lebens  in  das  Wollen  zu 
verlegen  als  in  dasjenige,  was  allein  ihm  Wärme,  Kraft  und  Festigkeit 
geben  könne.  Wie  mag  es  kommen,  daß  eine  alte  Streitfrage  uns 
plötzlich  so  einig  findet?  Sehen  wir,  ob  die  Geschichte  zur  Auf- 
klärung dessen  einiges  beitragen  kann. 

Die  Ausdrücke  Intellektualismus  und  Voluntarismus  sind  mo- 
dernster Prägung;  jenes  taucht  in  den  philosophischen  Kämpfen  zu 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  auf,  es  findet  sich  z.  B.  in  Schellings 
Bruno  (s.  Werke  IV,  309),  als  Gegensatz  zu  Materialismus;  Voluntarismus 
ist  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  aufgekommen.'^  Dagegen  führen 
die  Ausdrücke  theoretisch  —  praktisch  bis  in  die  Blütezeit  der 
griechischen  Philosophie  zurück;  der  Gegensatz  der  theoretischen 
und  der  praktischen  Vernunft  erscheint  zuerst  bei  Aristoteles  (voG? 
^ewpTjTixd;  und  7rpaxTi>cd?).    Jene  hat  die  Aufgabe,  die  große  Welt 


^  Gebildet  ist  das  Wort  von  Tönnies,  der  darüber  in  der  Wiener  „Zeit" 
vom  23.  März  1901  folgendes  berichtet:  „Diese  Termini  (d.  h.  Voluntarismus 
und  voluntaristisch)  sind  zuerst  vom  Verfasser  dieses  Memoire  gebraucht 
worden  in  seiner  Abhandlung  »Zur  Entwicklungsgeschichte  Spinozas",  Viertel- 
jahrsschrift für  wissenschaftliche  Philosophie  1883.  Von  Paulsen,  der  sie  bald 
adoptierte,  hat  Wundt  sie  angenommen  und  durch  seine  Autorität  in  Umlauf 
gebracht.  Der  Begriff  der  „voluntaristischen"  Psychologie  ist  mehr  und  mehr 
zu  allgemeiner  Geltung  gelangt". 


38  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

mit  ihren  ewigen  Ordnungen  zu  erkennen,  die  praktische  Vernunft 
dagegen  befaßt  sich  mit  den  menschlichen  Dingen,  die  dem  Wechsel 
und  Wandel  unterliegen.  Sie  ist  nicht  bloß  Einzelerkenntnis  (An- 
wendung der  allgemeinen  Sätze  auf  den  einzelnen  Fall),  sondern  sie 
hat  auch  eigentümliche  Prinzipien,  aber  ihre  Gesamtleistung  wird 
der  theoretischen  Vernunft  entschieden  untergeordnet.  So  auch  in  der 
Gedankenwelt  und  dem  Sprachgebrauch  der  Scholastik;  wenn  Thomas 
von  Aquino  von  cognitio  practica  redet,  so  versteht  er  darunter  einfach 
eine  Erkenntnis,  die  sich  auf  das  Handeln  bezieht.  Für  die  Neuzeit 
hat  namentlich  Ch.  Wolff  die  Unterscheidung  von  theoretischer  und 
praktischer  Philosophie  in  Umlauf  gebracht  und  dabei  jener  den 
unbedingten  Vorrang  gegeben. ^  Wie  in  der  Einteilung  der  Philosophie 
so  folgt  ihm  auch  im  Sprachgebrauch  Kant,  in  der  Sache  aber  voll- 
zieht er  die  bekannte  Umwälzung  dahin,  daß  nunmehr  das  Praktische 
als  das,  »was  durch  Fi-eiheit  möglich  ist",  das  Übergewicht  gewinnt 
und  zugleich  einen  selbständigen  Gedankenkreis  hervorbringt.  «Die 
praktische  Vernunft  greift  bei  ihm  in  das  Gebiet  des  Theoretischen 
zurück,  indem  sie  Postulate  erzeugt,  also  theoretische  Voraussetzungen, 
welche  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zweifelhaft  waren"  (s.  Trendelen- 
burg, Logische  Untersuchungen,  3.  Aufl.  II,  457).  Da  nach  ihm 
nur  auf  diesem  Gebiet  die  Vernunft  eine  volle  Selbsttätigkeit  erreicht, 
so  ergeben  sich  von  hier  die  tiefsten  Einblicke  in  die  Wirklichkeit, 
und  es  eröffnet  sich  nirgend  anders  als  hier  dem  Menschen  eine 
absolute  Wahrheit.^  Von  Kant  ist  nur  ein  Schritt  zu  Fichtes  Lehre: 
»die  praktische  Vernunft  ist  die  Wurzel  aller  Vernunft".  So  wird 
einmal  das  Praktische  als  bloße  Anwendung  untergeordnet,  sodann 
aber  als  Quell  neuer  Wahrheiten  übergeordnet. 

Es   spiegelt   sich    aber    in    der  Geschichte    der  Ausdrücke    ein 


'  So  z.  B.  Logica  §  92 :  Palam  igitur  est,  philosophiam  practicam  uni- 
versam  ex  Metaphysica  principia  petere  debere.  §  93:  Metaphysica  philo- 
sophiam practicam  praecedere  debet. 

"  Die  Art,  wie  Kant  aus  der  praktischen  Vernunft  Überzeugungen  ab- 
leitet, ist  nicht  ohne  Bedenken  und  fand  manchen  Widerspruch.  So  sagt 
z.  B.  Harms  (Gesch.  der  Philosophie  seit  Kant  S.  247):  »Kant  nennt  die 
Ideen  Postulate  der  praktischen  Vernunft,  sie  sind  aber  gar  keine  Postulate 
der  praktischen,  sondern  sie  sind  Postulate  der  theoretischen  Vernunft  in  der 
Erkenntnis  der  praktischen,  der  handelnden  Vernunft  im  sittlichen  Leben  des 
Geistes.  Das  Wort  praktische  Vernunft  ist  bei  Kant  selbst  zweideutig;  denn 
einerseits  wird  darunter  verstanden  die  handelnde  Vernunft,  dann  aber  auch 
die  Erkenntnis  von  der  praktischen  Vernunft." 


Theoretisch  —  praktisch.  39 

fundamentaler  Gegensatz,  die  Frage,  ob  der  Welterkenntnis  oder  dem 
moralischen  Handeln,  —  denn  dies  vornehmlich  wird  unter  praktischer 
Vernunft  verstanden  — ,  die  Führung  unseres  Lebens  und  die  Leitung 
unserer  Überzeugungen  gebühre.  Die  Antwort  darauf  entscheidet 
zugleich  über  unsere  Stellung  zur  Wirklichkeit  und  damit  über  das 
Bild  der  Wirklichkeit  selbst.  Es  entstehen  zwei  widerstreitende  Lebens- 
typen, der  eine  vornehmlich  auf  Weite  und  Klarheit,  der  andere  auf 
Wärme  und  Kraft  bedacht,  der  eine  mehr  um  Gesetzlichkeit,  der 
andere  mehr  um  Freiheit  bemüht. 

Die  griechischen  Denker  erteilen  einmütig  den  Vorzug  dem 
Intellekt,  es  unterscheidet  sie  lediglich  die  schroffere  oder  maßvollere 
Ausführung  des  Grundgedankens.  Diese  Schätzung  des  Intellekts 
war  der  naturgemäße  Ausdruck  der  hier  vorhandenen  Überzeugung, 
daß  der  Mensch  einer  unwandelbaren  Weltordnung  angehöre,  die  ihn 
mit  sicherem  Dasein  und  herrlicher  Pracht  umfängt..  Nichts  Größeres 
gab  es  hier  zu  erstreben  als  die  Anschauung  eines  solchen  Kosmos 
mit  .ihrer  Befreiung  von  aller  Kleinheit  des  Alltages  und  allem  Wirrwarr 
der  menschlichen  Verhältnisse.  So  verficht  Aristoteles,  dieser  reinste 
Ausdruck  der  griechischen  Kultur,  die  unbedingte  Überlegenheit  des 
forschenden  Lebens  über  das  handelnde,  das  den  Menschen  mit 
veränderlichen  Dingen  befasse  und  ihn  von  seiner  Umgebung  ab- 
hängig mache.  Nur  soweit  die  Forschung  reicht,  soweit  reicht  nach 
ihm  echte  Glückseligkeit.  Auch  die  Wendung  zur  Moral,  welche 
die  Stoa  brachte,  bedeutet  nicht  sowohl  eine  Ablösung  des  Lebens 
vom  Denken,  als  ein  Aufnehmen  tätiger  Energie  in  das  Denken, 
eine  Steigerung  des  Denkens  zur  Denkhandlung.  Und  das  letzte 
Aufleuchten  des  griechischen  Geistes  in  Plotin  bringt  eine  Erhebung 
des  Denkens  zu  voller  Souveränität  und  weltschaffender  Größe;  im 
Untergange  selbst  steigert  das  Griechentum  das  Bekenntnis  zu  der 
Geisteskraft,  der  seine  Kulturarbeit  eine  unermeßliche  Weite  und 
eine  wunderbare  Klarheit  verdankt. 

Das  Christentum  mußte  nach  seiner  innersten  Natur  mit  jener 
Schätzung  brechen.  Denn  wo  sich  das  Hauptproblem  des  Lebens 
in  das  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  verlegt,  und  wo  mit  dem 
Erscheinen  neuer  Tiefen  auch  schwere  Verwicklungen,  ja  dunkle 
Abgründe  im  Menschenwesen  zur  Empfindung  kommen,  wo  es  dem- 
nach einen  Aufstieg  und  eine  Erneuerung  gilt,  da  muß  sich  das 
Streben  des  Menschen  von  der  Erkenntnis  der  Welt  auf  den  Stand 
seiner  Seele  und  weiterhin  auf  den  Aufbau  eines  neuen  Zusammen- 


40  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

hanges  der  Menschheit  richten.  Der  Intellektualismus  wird  damit  in 
der  Wurzel  gebrochen.  Aber  diese  innere  Wandlung  ist  in  der  Ge- 
staltung und  den  allgemeinen  Verhältnissen  wenig  zum  Ausdruck 
gekommen ;  was  die  Herzen  erfüllte,  fand  nicht  die  Kraft  zur  Schöpfung 
einer  entsprechenden  Gedankenwelt  Lediglich  bei  Augustin  erscheinen 
bemerkenswerte  Ansätze  dazu,  wie  er  denn  alle  Wirklichkeit  auf  Wollen 
zurückführt  (nihil  aliud  quam  voluntates)  und  in  seiner  Psychologie 
dem  Willen  als  der  die  Seele  einigenden  Kraft  die  leitende  Stellung 
gibt.  Aber  ein  durchgebildetes  Lebenssystem  und  eine  entsprechende 
Gedankenwelt  hat  auch  Augustin  daraus  nicht  entwickelt;  so  ist  die 
Gestaltung  des  Christentums  unter  einem  starken  Einfluß  derselben 
Denkweise  verblieben,  die  es  überwinden  wollte,  so  leidet  das  Christen- 
tum bis  zum  heutigen  Tage  an  einem  Zwiespalt  innerster  Gesinnung 
und  greifbarer  Ordnung.  Der  griechische  Intellektualismus  beherrscht 
auch  das  christliche  Dogma;  mögen  an  die  Stelle  der  Lehren  von 
der  Welt  Lehren  von  Gott  getreten  sein,  es  bleibt  dabei,  daß  die 
richtige  Erkenntnis  über  die  Wahrheit  und  den  Wert  des  Lebens 
entscheidet.  Auf  der  Höhe  der  Scholastik  wächst  noch  der  Einfluß 
des  griechischen  Intellektualismus,  ein  logisches  Räsonnement  dringt 
bis  in  die  letzten  Tiefen  der  christlichen  Gedankenwelt  vor.^  Es 
fehlt  nicht  an  Gegenwirkungen  zu  gunsten  des  Willens,  so  bei  Duns 
Scotus,2  dem  Nominalismus,  der  praktisch  gerichteten  Mystik;  die 
Reformation  bringt  diesen  Zug  zum  siegreichen  Durchbruch.  Luther 
bemüht  sich  mit  höchstem  Eifer,  das  Christentum  von  der  Macht 
des  griechischen  Intellektualismus  sowohl  aristotelischer  als  neu- 
platonischer Prägung  zu  befreien,  der,  wie  er  meint,  seinen  echten 
Tatbestand  verdunkelt  oder  verflüchtigt  hat;  Melanchthon  aber  nennt 
«das  Herz  mit  seinen  Affekten«  «den  wichtigsten  und  den  Haupt- 
teil des  Menschen".  Aber  bei  aller  Verstärkung  des  Willens  hat  auch 
der  Protestantismus  nicht  die  Kraft  gefunden,  den  innersten  Lebens- 
trieb in  ein  Lebenssystem  zu  verwandeln,  auch  er  hat  schließlich 
wieder  der  Macht  des  Intellektualismus  gehuldigt.    Denn  mochte  die 


^  Nur  äußerlich  angesehen  dient  im  Mittelalter  die  Philosophie  als  Magd 
der  Theologie,  innerlich  hat  damals  weit  mehr  die  Philosophie  der  Theologie 
ihren  Stempel  aufgedrückt, 

"  Er  sagt  z.  B.  (s.  Stöckl,  Philos.  d.  Mittelalt.  II,  S.  788):  Fides  non 
est  habitus  speculativus,  nee  credere  est  actus  speculativus,  nee  visio  sequens 
credere  est  visio  speculativa,  sed  practica.  Nata  est  enim  ista  visio  conformis 
fruitioni. 


Theoretisch — praktisch.  41 

Spekulation  für  die  Dauer  abgelehnt  werden,  ein  Wissen  anderer 
Art,  ein  Wissen  von  geschichtlichen  Daten,  aber  immerhin  ein  Wissen 
erschien  als  unerläßlich  zur  Rettung  der  Seele;  auch  der  Begriff  des 
Glaubens  erhielt  eine  stark  intellektualistische  Färbung,  die  neue 
Kirche  aber  wurde  vornehmlich  eine  Gemeinschaft  der  Lehre,  eine 
Schule  des  reinen  Wortes.  Es  entstand  eine  neue  Orthodoxie,  an 
Selbstgerechtigkeit  und  Unduldsamkeit  der  griechischen  voll  gewachsen. 

Die  Neuzeit  beginnt  mit  voller  und  freudiger  Ergreifung  der 
Denkarbeit;  das  Denken  ist  es,  von  dem  sie  eine  Befreiung  vom 
Druck  der  geschichtlichen  Überlieferung  hofft,  das  Denken,  das  eine 
Klärung  des  unerträglich  gewordenen  Chaos  verspricht,  das  Denken 
endlich,  welches  das  Gewebe  kleinmenschlicher  Interessen  zerreißt  und 
die  Unendlichkeit  des  Weltalls  eröffnet.  Gegenüber  der  griechischen 
Art  ist  das  Denken  aus  ruhigem  Anschauen  weit  mehr  rastlose  Arbeit, 
ja  stürmisches  Vordringen,  aus  Aneignung  einer  gegebenen  Welt  zum 
Aufbau  einer  neuen  geworden.  Eine  solche  beherrscht  die  Aufklärung 
vom,  Großen  bis  ins  Kleine,  sie  beherrscht  nicht  nur  ihre  spekulative 
Richtung  mit  der  Kühnheit  ihrer  Weltentwürfe,  sondern  auch  die 
empiristische  mit  ihrer  Richtung  auf  das  Menschenleben.  Denn  auch 
hier  wird  von  def  klaren  und  deutlichen  Erkenntnis  alles  Heil  er- 
wartet, es  ist  eine  andere  Art  des  Erkennens,  aber  es  ist  ein  Erkennen, 
das  den  Kern  der  Arbeit  bildet.^  Wie  jede  große  Bewegung,  so 
trug  freilich  auch  die  Aufklärung  in  sich  selbst  einen  Rückschlag: 
die  Steigerung  und  Überspannung  des  Erkennens  erzeugte  mit  Not- 
wendigkeit einen  Zweifel  an  seinem  Vermögen  gegenüber  der  Welt 
und  seiner  Herrschaft  über  den  Menschen.^  Aber  ein  bloßer  Rück- 
schlag hat  noch  nie  die  Herrschaft  über  die  Geister  gewonnen,  es 
bedurfte  positiver  Wandlungen,  um  die  Menschheit  in  eine  andere 
Bahn  zu  lenken. 

Solche  Wandlungen  erfolgten  auf  philosophischem  Boden  in  Kant; 
sowohl  sein  Nein  als  sein  Ja  hatten  bei  diesem  Problem  eine  unver- 


^  S.  z.  B.  Locke  zu  Beginn  seines  Essay:  Our  business  here  is  not  to 
know  all  things,  but  those  which  concem  our  conduct. 

^  So  z.  B.  bei  Pascal,  so  mehr  noch  bei  Bayle,  dem  bedeutendsten  Skep- 
tiker der  Aufklärung.  Er  sagt  z.  B.  oeuv.  div.  1727,  III,  89  b:  Ce  ne  sont 
pas  les  opinions  generales  de  l'esprit,  qui  nous  determinent  ä  agir  mais  les 
passions  presentes  du  coeur.  Wie  bei  Bayle  die  Moral  allein  dem  Leben  eine 
Festigkeit  verleiht,  so  sagt  auch  Friedrich  II.,  sein  getreuer  Schüler:  Les  sciences 
doivent  etre  considerees  comme  des  moyens  qui  nous  donnent  plus  de  capa- 
cite  pour  remplir  nos  devoirs  (s.  Zeller,  Fr.  d.  Gr.  als  Philosoph  S.  183). 


42  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

gleichlich  größere  Wucht  als  eine  andere  wissenschaftliche  Leistung 
je  zuvor.  Schärfer  und  gründlicher  als  je  wird  das  Vermögen  des 
bloßen  Erkennens  geprüft  und  werden  die  Bedingungen  seines  Ge- 
lingens ermittelt;  das  Ergebnis  ist  eine  schwere  Erschütterung,  aber 
diese  Erschütterung  wird  mehr  als  ausgeglichen  durch  die  Steigerung 
des  moralischen  Tuns  zu  einer  moralischen  Welt  und  die  Anerkennung 
dieser  Welt  als  des  Kernes  aller  Wirklichkeit.  Erst  mit  solcher  Um- 
wälzung erhielt  der  Intellektualismus  eine  ebenbürtige  Gegenwirkung, 
nun  erst  gelangte  ein  seit  Jahrtausenden  vorhandenes  Streben  zu 
wissenschaftlicher  Klärung  und  Durchbildung.  Wir  wissen,  daß  trotz- 
dem der  Intellektualismus  im  Panlogismus  Hegels  noch  einmal  sein 
Haupt  erhob,  so  kühn  erhob  wie  nur  je,  aber  wir  wissen  auch,  daß  nur 
ein  rasches  Hinwegeilen  über  Kant  dies  möglich  machte,  und  daß 
bald  ein  um  so  stärkerer  Rückschlag  kam.  Seitdem  geht  der  Haupt- 
zug der  Zeit  gegen  den  Intellektualismus.  Wir  gewahren  das  in  dem 
Einfluß  Schopenhauers  und  seiner  Willenslehre,  wir  gewahren  es  in 
der  Neigung  der  Religion  und  Theologie,  ihren  Schwerpunkt  in 
praktische  Aufgaben  und  Forderungen  zu  verlegen,  wir  gewahren 
es  in  dem  Zuge  des  gesamten  Lebens,  das  Grübeln  über  Weltprobleme 
hinter  die  praktisch -sozialen  Fragen  zurückzustellen,  die  sich  mit 
immer  größerer  Dringlichkeit  erheben.  Auf  dem  eigenen  Gebiet  der 
Wissenschaft  aber  wirkt  zu  gunsten  der  neuen  Überzeugung  nament- 
lich die  Psychologie,  indem  sie  die  beherrschende  Macht  der  Triebe 
und  Interessen  auch  über  das  Vorstellungsleben  aufdeckt,  ja  seine 
eigne  Bewegung  als  vom  Willen  geleitet  aufweisen  möchte. 

Solcher  Schätzung  des  Willens  entspricht  die  Neigung,  dem 
Überwiegen  des  Verstandes  alle  möglichen  Schäden  der  gegenwärtigen 
Lage  aufzubürden.  Die  Grundlage  unserer  geistigen  Existenz  und 
die  Hauptrichtung  unseres  Strebens  sind  unsicher  geworden:  das  ver- 
schuldet, so  heißt  es,  der  Intellekt,  der  alles  beweisen,  d.  h.  auf  Um- 
wegen ermitteln  möchte  und  damit  alles  unmittelbare  Leben  mit  seiner 
Gewißheit  verscheucht;  uns  umfängt  eine  unsägliche  Zersplitterung 
der  Meinungen  und  Schätzungen:  das  kommt,  so  sagt  man,  vom 
Vorwalten  der  Verstandesarbeit,  welche  die  Individuen  auf  ihre  eigene 
Reflexion  stellt  und  sie  damit  unvermeidlich  auseinandertreibt;  beklagt 
wird  ein  Mangel  an  Ehrfurcht  vor  göttlichen  und  heiligen  Dingen: 
das  liegt,  so  hören  wir,  an  einer  Überhebung  des  menschlichen  Selbst- 
bewußtseins, und  die  Haupttriebkraft  dabei  ist  der  Intellekt  mit  seinem 
Kraftgefühl  und  seinem  Wissensdünkel.    Trägt  demnach  der  Intellekt 


Theoretisch  —  praktisch.  43 

die  Hauptschuld  aller  Irrung,  so  läßt  die  Befreiung  von  seiner  Herr- 
schaft eine  Gesundung  des  gesamten  Lebens  erwarten.  Hat  der  heutige 
Voluntarismus  die  Kraft  zu  solcher  Befreiung? 

b)  Der  Voluntarismus. 

Der  Voluntarismus  ist  keine  Erscheinung  einfacher  Art,  die 
Hauptepochen  der  Geschichte  haben  ihn  ihrer  Hauptrichtung  gemäß 
verschieden  gestaltet,  jede  hat  ihren  besonderen  Voluntarismus.  — 
In  der  religiösen  Gedankenwelt  ging  die  Behauptung  dahin,  daß 
sowohl  die  Offenbarung  Gottes  als  ihre  Annahme  durch  den  Menschen 
eine  Sache  des  Willens  sei,  der  sich  nicht  weiter  ableiten  lasse. 
Darin  lag  eine  Betonung  der  Selbständigkeit,  Ursprünglichkeit  und 
reinen  Tatsächlichkeit  des  religiösen  Geschehens,  die  Abweisung  aller 
Versuche,  es  aus  weiteren  Zusammenhängen  verständlich  zu  machen. 
Zum  Ausdruck  bringt  den  Gegensatz  die  bekannte  Formel,  daß 
nach,  Thomas  von  Aquino  Gott  das  Gute  gebietet,  weil  es  gut  ist, 
nach  Duns  Scotus  das  Gute  gut  ist,  weil  Gott  es  gebietet.  Das 
Spezifische  der  Religion,  ihre  Unabhängigkeit  und  ihre  Unver- 
gleichlichkeit kam  bei  dieser  Denkweise  voll  zur  Geltung,  aber  zu- 
gleich entstand  die  Gefahr  einer  Ablösung  vom  übrigen  Leben, 
eines  Herausfallens  aus  allen  Zusammenhängen;  wie  es  hier  nicht 
2u  einer  vollen  geistigen  Durchdringung  und  Aneignung  des  Wahr- 
heitsgehaltes kam,  so  konnte  leicht  die  Tatsächlichkeit  in  starre  und 
äußerliche  Positivität  und  die  Ursprünglichkeit  und  Freiheit  in  blinde 
Willkür  umschlagen.  Man  möchte  hier  an  Plotins  Wort  denken, 
daß,  wer  über  die  Vernunft  hinausstrebt,  leicht  in  Gefahr  kommt, 
aus  ihr  herauszufallen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  stellt  der  Voluntarismus  sich 
anders  dar:  hier  gilt  es  eine  Verlegung  des  Zentrums  des  Lebens 
aus  dem  Erkennen  ins  Wollen,  namentlich  in  das  moralische  Wollen. 
Den  Antrieb  dazu  gab  vornehmlich  ein  Irrewerden  am  Vermögen 
des  Erkennens;  wie  es  unfähig  dünkte,  zum  letzten  Grunde  der 
Dinge  durchzudringen,  so  schien  es  auch  dem  Leben  keinen  sicheren 
Halt  gewähren  zu  können.  Sollte  also  nicht  auf  alle  Wahrheit  in 
vollem  Sinne  verzichtet  werden,  so  war  eine  andere  Quelle  zu  suchen, 
und  eine  solche  schien  nach  Erschütterung  des  religiösen  Glaubens 
nichts  anderes  zu  bieten  als  des  Menschen  sittliches  Handeln.  In 
dem   großen  Sinne,   wie  Kant  dies  versteht,   wird  dies  zur  Offen- 


44  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

barung  einer  neuen  Welt,  welche  die  letzte  Tiefe  der  Wirklichkeit 
bildet.  Diese  Welt  aber  läßt  sich  ebenso  wie  das  sittliche  Handeln 
selbst  nicht  jedem  theoretisch  demonstrieren  oder  als  ein  Vorhandenes 
aufweisen,  sondern  sie  besitzt  eine  Überzeugungskraft  nur  für  den, 
der  das  sittliche  Grundgeschehen  anerkennt  und  auf  sich  nimmt; 
so  geht  eine  Tat  dem  Erkennen  voran,  und  was  aus  ihr  an  leitenden 
Überzeugungen  hervorgeht,  das  hat  nicht  den  Charakter  theoretischer 
Erkenntnisse,  sondern  den  praktischer  Postulate.  Die  gewaltige  Er- 
regung und  eingreifende  Wandlung,  die  das  bewirkt  hat,  stehen  uns 
allen  deutlich  vor  Augen. 

Die  richtige  Würdigung  dieser  Wendung  ist  namentlich  deshalb 
schwer,  weil  notwendige  und  fruchtbarste  Wahrheiten  hier  mit 
problematischen  Fassungen  aufs  engste  verquickt  sind.  Ein  solche 
Wahrheit  liegt  vor  allem  in  der  deutlichen  Einsicht,  daß  unsere 
letzten  Überzeugungen  nicht  durch  den  Befund  der  uns  umgebenden 
Welt,  sondern  durch  das  bestimmt  werden,  was  im  Bereich  des 
Innenlebens  vorgeht  und  an  Wirklichkeit  ersichtlich  wird;  das  macht 
allen  Versuchen  ein  Ende,  durch  Spekulation  in  ein  inneres  Wesen 
der  Dinge  einzudringen  und  von  ihm  her  die  Wirklichkeit  zu  ver- 
stehen. In  enger  Verbindung  mit  dieser  Wahrheit  steht  aber  die 
andere,  daß  der  Bestand  des  Innenlebens  nicht  mühelos  und  ge- 
schlossen allen  vor  Augen  liegt,  sondern  daß  dieses  Leben  erst 
geweckt  und  entfaltet  sein  will,  und  daß  nach  dem  Maße,  wie  das 
geschieht,  dem  Einzelnen  auch  das  Bild  der  Welt  sich  gestaltet. 
Die  Entzweiung  der  Menschen  im  Streit  um  die  Wahrheit,  sowie 
der  persönliche  Faktor  im  Wahrheitsstreben  können  hier  ihre  volle 
Würdigung  finden. 

Aber  sobald  wir  vom  Allgemeinen  des  Gedankens  zur  n;iheren 
Ausführung  fortschreiten,  erwachen  Zweifel  über  Zweifeln.  Es  ist 
etwas  anderes,  die  Grundtatsachen  des  Innenlebens  in  den  Mittel- 
punkt der  Erkenntnisarbeit  zu  stellen  und  in  ihnen  die  entscheidenden 
Daten  zu  finden,  etwas  anderes,  jene  direkt  zu  einer  eignen  Erkennt- 
nisquelle zu  machen.  Ebenso  notwendig  wie  jenes,  ebenso  unmöglich 
ist  dieses.  Denn  der  Befund  des  Innenlebens  läßt  sich  nicht  un- 
mittelbar, wie  er  vorliegt,  als  sicherer  Ausgangspunkt  ergreifen,  sondern 
er  ist  erst  durch  die  Erkenntnisarbeit  zu  klären  und  zu  durchleuchten; 
was  dabei  aber  in  ihm  als  Grundtatsache  und  als  Wahrheit  befunden 
wird,  das  hat  eine  Allgemeingültigkeit  und  zugleich  einen  inneren 
Zwang,  das  läßt  sich   unmöglich  auf  eine  persönliche  Zustimmung 


Theoretisch  —  praktisch.  45 

stellen.  Es  gibt  mathematische  Wahrheiten  von  solcher  Schwierig- 
keit, daß  nur  ein  kleiner  Teil  der  Menschen  sie  klar  zu  durchschauen 
vermag,  tut  das  ihrer  Allgemeingültigkeit  auch  nur  den  mindesten 
Abbruch?  Wenn  daher  auch  die  Lebenswahrheiten  ihre  volle  Über- 
zeugungskraft erst  bei  Entwicklung  des  entsprechenden  Lebens  er- 
langen können,  ja  wenn  die  Wendung  zu  ihnen  eine  Entscheidung 
des  Menschen  in  sich  trägt,  so  werden  sie  dadurch  in  keiner  Weise 
zu  bloßen  Möglichkeiten,  die  der  eine  annehmen,  der  andere  ver- 
werfen könnte,  sondern  sie  behalten  die  volle  Notwendigkeit  und 
Allgemeingültigkeit;  die  Subjektivität  liegt  nicht  in  der  Sache,  sondern 
nur  im  Verhältnis  des  Menschen  zu  ihr,  nichts  kann  volle  Wahrheit 
besitzen,  das  innerlich  mit  einem  subjektiven  Faktor  behaftet  ist. 
Von  solchen  Erwägungen  aus  müssen  wir  den  Begriff  der  praktischen 
Vernunft  als  schief  und  irreleitend  grundsätzlich  ablehnen,  es  gibt  nicht 
eine  theoretische  und  eine  praktische  Vernunft  nebeneinander,  son- 
dern es  gibt  nur  eine  einzige  Vernunft,  die  mit  dem  ganzen  Leben 
zu  t)an  hat;  in  den  Begriff  dieser  Vernunft  aber  ist  als  wesentliches 
Merkmal  das  der  Selbsttätigkeit  aufzunehmen.  Und  es  schwebt  die 
Vernunft  nicht  frei  in  der  Luft,  sondern  sie  ist  die  Vertreterin  eines 
bei  sich  selbst  befindlichen  Lebens,  eines  Beisichselbstseins  der  Wirk- 
lichkeit    Ohne  ein  solches  gibt  es  keinerlei  Wahrheit. 

Dazu  behauptet  der  Begriff  der  praktischen  Vernunft  meist  nicht 
die  Höhe,  die  er  bei  Kant  einnahm.  Hier  vollzieht  er  eine  Um- 
wälzung des  ganzen  Lebens,  bewirkt  er  eine  Versetzung  in  ein  ur- 
sprüngliches Schaffen,  und  gibt  er  dem  Leben  in  besonderer  Richtung 
einen  Weltcharakter  mit  strenger  Allgemeingültigkeit;  wenn  irgend 
etwas,  so  ist  dies  Metaphysik,  wenn  auch  eine  andere  Metaphysik 
als  die  der  ontologischen  Spekulation.  Je  mehr  sich  aber  dieser 
metaphysische  Charakter  verwischt,  desto  mehr  wird  das  Reich  der 
praktischen  Vernunft  aus  der  Tiefe  der  ganzen  Wirklichkeit  zu  etwas 
besonderem  neben  anderem,  desto  weniger  läßt  sich  hier  zu  einer 
allgemeingültigen  Wahrheit  gelangen.  Die  Lebensgestaltung  aber, 
die  daraus  hervorgeht,  wird  leicht  ein  Gebiet  des  praktischen  und 
moralischen  Lebens  gegen  die  Kulturarbeit  isolieren,  damit  aber  jenes 
zu  subjektiv  und  empfindungsmäßig,  dieses  zu  äußerlich  und  auf 
die  bloße  Leistung  gerichtet  gestalten,  den  Gesamtstand  des  Lebens 
aber  durch  solche  Spaltung  stark  herabdrücken.  In  Wahrheit  dürfen 
die  Kulturarbeit  und  die  letzten  Überzeugungen  des  Menschen  nicht 
auseinanderfallen;   je   mehr   sie   es  tun,   desto  mehr  muß  unserem 


46  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Leben  eine  durchwaltende  Seele  und  zugleich  alle  Größe  ent- 
weichen. 

Wieder  anders  gestaltet  sich  der  Voluntarismus  im  Leben  der 
Gegenwart.  Hier  erscheint  er  als  wissenschaftliche  Theorie  zunächst 
auf  psychologischem  Gebiet  in  dem  Streben,  die  Abhängigkeit  des 
Vorstellungslebens  von  den  Trieben  und  Neigungen  aufzuweisen, 
auch  den  gesamten  Verlauf  des  Vorstellungslebens  als  durch  ein 
Willensmoment  bedingt  zu  zeigen,  wie  das  vornehmlich  in  Wundts 
Apperzeptionslehre  geschieht.  Viel  neue  und  fruchtbare  Erkenntnis 
ist  auf  diesem  Wege  gewonnen,  ja  der  Gesamtanblick  der  Sache  ver- 
tieft. Nur  in  der  Richtung  mögen  hier  noch  Fragen  und  Zweifel 
entstehen,  ob  dabei  nicht  oft  weniger  ein  Gegensatz  zwischen  Intellekt 
und  Wille  als  zwischen  zentraler  und  peripherer  Seelentätigkeit  vor- 
liegt, der  durch  den  ganzen  Umfang  des  Lebens  geht. 

Für  das  Ganze  des  Lebens  gestaltet  sich  auf  modernem  Boden 
der  Voluntarismus  und  das  Überwiegen  der  praktischen  Aufgaben 
dahin,  daß  in  weitem  Zuge  das  Befinden  der  Menschheit,  und  zwar 
der  Menschheit  des  unmittelbaren  Daseins,  für  das  Ziel  der  Ziele 
erklärt  und  auch  das  Erkennen  zu  einem  bloßen  Mittel  dafür  ge- 
macht wird;  es  erscheint  als  eine  unnütze  Grübelei,  wenn  es  nicht 
zur  Förderung  des  Wohlseins  der  Menschen  wirkt.  Daß  dies  der 
Richtung  des  modernen  Lebens  entspricht,  ließ  schon  der  Blick  auf 
die  Geschichte  ersehen.  Eine  Ermüdung  an  dem  Kampf  um  die 
Weltprobleme  ist  eingetreten,  und  die  Fragen  der  inneren  Bildung,  der 
Bildung  des  ganzen  Menschen  zu  einer  weltumspannenden  Persön- 
lichkeit, werden  durch  die  unablässig  anschwellenden  politischen, 
wirtschaftlichen,  technischen  Probleme  weit  zurückgedrängt,  im  be- 
sondern nimmt  der  Kampf  um  die  ökonomische  Selbsterhaltung 
immer  mehr  alle  Kräfte  in  Anspruch  und  stellt  immer  mehr  das 
Leben  und  Handeln  unter  den  Gesichtspunkt  der  Zweckmäßigkeit; 
wie  sollte  in  solchen  Zusammenhängen  noch  irgendwelcher  Platz 
für  einen  Selbstwert  des  Wissens  bleiben?  Ein  Versuch,  von  jener 
praktischen  Haupttendenz  aus  eine  eigentümliche  Theorie  des  Wissens 
zu  entwickeln,  ist  namentlich  im  Pragmatismus  gemacht,  der  von 
Amerika  und  England  aus  immer  mehr  die  Kulturwelt  beschäftigt; 
so  sei  er  etwas  genauer  betrachtet. 


Theoretisch  —  praktisch.  47 

c)  Der  Pragmatismus. 

Der  Pragmatismus  ist  in  Deutschland  noch  so  wenig  bekannt, 
daß  es  vor  aller  Erörterung  einer  kurzen  Orientierung  bedarf;  wir 
halten  uns  dabei  namentlich  an  die  Vorlesungen  von  William  James, 
die  eben  den  Zweck  einer  Aufklärung  über  den  Pragmatismus  ver- 
folgen.^ Der  Ausdruck  und  der  Begriff  Pragmatismus  im  hier  ge- 
meinten Sinne  stammt  von  Charles  Pierce,  der  ihn  zuerst  in  der 
amerikanischen  Zeitschrift  „Populär  Science"  vom  Jahre  1878  ver- 
wandte. Zwanzig  Jahre  später  hat  James  die  Sache  aufgenommen 
und  in  glänzender  Weise  weitergebildet.  Als  weitere  Führer  sind 
Dewey  (New  York)  und  Schiller  (Oxford)  zu  nennen;  von  letzterem 
stammt  der  Ausdruck  «Humanismus."  Es  ist  nicht  ohne  ein  kultur- 
geschichtliches Interesse,  daß  hier  wohl  zuerst  in  einer  philosoph- 
ischen Bewegung  Amerika  vorangeht,  wie  denn  auch  dort  vornehm- 
lich der  Pragmatismus  eine  weitverbreitete  Strömung  geworden  ist. 
Was,  Europa  anbelangt,  so  hat  er  außer  in  England  namentlich  in 
Italien  Einfluß  gewonnen. 

Über  das  Verhältnis  des  Pragmatismus  zu  anderen.  Denkricht- 
ungen äußert  James  sich  folgendermaßen:  »Der  Pragmatismus 
repräsentiert  eine  uns  durchaus  vertraute  Richtung  in  der  Philo- 
sophie, nämlich  die  empirische  Richtung,  allein  er  repräsentiert  sie 
in  einer  radikaleren  und  zugleich  einwandfreieren  Form  als  die  war, 
die  sie  bisher  angenommen  hatte"  (S.  31  a.  a.  O.),  ferner,  »er  stimmt 
mit  dem  Nominalismus  darin  überein,  daß  er  sich  überall  an  das 
Einzelne  hält,  mit  dem  Utilitarismus  darin,  daß  er  überall  den 
praktischen  Standpunkt  betont,  mit  dem  Positivismus  in  der  Ver- 
achtung, die  er  den  bloß  sprachlichen  Problemlösungen,  überflüssigen 
Fragestellungen  und  metaphysischen  Abstraktionen  entgegenbringt" 
(a.  a.  O.  S.  33).  Der  Pragmatismus  legt  Wert  darauf,  kein  System, 
sondern  eine  Methode  zu  sein,  diese  Methode  aber  besteht  in  der 
Beziehung  alles  Erkenntnisstrebens  auf  das  menschliche  Dasein  und 
seine  Förderung;  nur  was  hier  sich  bewährt,  kann  als  Wahrheit 
gelten.     Das   Wahre  wird   damit  ein  Teil  des  Guten,    „wahr  heißt 


*  „Der  Pragmatismus".  Ein  neuer  Name  für  alte  Denkmethoden.  Volks- 
tümliche philosophische  Vorlesungen.  Ans  dem  Englischen  übersetzt  von 
Wilhelm  Jerusalem,  1908.  —  Beachtenswert  ist  auch  der  Aufsatz  von  Jerusalem 
in  der  Deutschen  Literaturzeitung  vom  25.  Januar  1908:  „Der  Pragmatismus. 
Eine  neue  philosophische  Methode." 


48  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

alles,  was  sich  auf  dem  Gebiete  der  intellektuellen  Überzeugung 
aus  bestimmt  angebbaren  Gründen  als  gut  erweist"  (S.  48).  «Alle 
Theorien  sind  nur  Werkzeuge,  nur  Anpassungen  der  Gedanken  an 
die  Tatsachen,  und  keineswegs  Offenbarungen  oder  intellektualistische 
Lösungen  eines  göttlichen  Welträtsels"  (S.  122).  In  solchem  Ge- 
dankengange gelten  dem  «Humanismus"  die  Wahrheiten  als  Erzeug- 
nisse des  Menschengeschlechts.  «Die  Wahrheit  macht  keinen  anders- 
gearteten Anspruch  und  legt  keine  andere  Pflicht  auf  als  Gesund- 
heit und  Reichtum,  Alle  diese  Ansprüche  sind  bedingter  Art«  (S.  146). 

Solche  Fassung  gibt  der  Forschung  insofern  eine  durchaus 
eigentümliche  Richtung,  als  es  nunmehr  nicht  sowohl  die  Begründung 
von  Prinzipien  als  die  Entwicklung  in  ihre  Konsequenzen  gilt, 
als  jetzt  nicht  die  Sache  in  einer  eignen  Natur  gegenüber  dem 
Menschen  betrachtet,  sondern  alles  auf  den  Menschen  gerichtet  und 
nach  der  Leistung  für  ihn  bemessen  wird. 

Was  das  besagt  und  welche  Wandlung  es  bewirkt,  wird  am 
ehesten  deutlich  durch  die  Beispiele,  welche  James  selbst  bringt. 
Der  Streit  des  Materialismus  und  des  Spiritualismus  tritt  in  eine 
völlig  neue  Beleuchtung  und  wird  zugleich  einer  Entscheidung  zu- 
geführt, wenn  nicht  das  Recht  der  Prinzipien  erörtert,  sondern  die 
Leistung  eines  jeden  der  Gegner  für  das  Wohl  der  Menschheit  er- 
wogen wird.  Materialismus  bedeutet  in  diesem  Zusammenhange  die 
Denkweise,  welche*  die  höheren  Phänomene  durch  die  niederen  er- 
klärt und  die  Geschicke  der  Welt  durch  ihre  blinden  Teile  und  ihre 
blinden  Kräfte  bestimmen  läßt,  Spiritualismus  diejenige,  welche  die 
Leitung  dem  höheren  Elemente  zuweist  und  damit  den  Geist  nicht 
zu  einem  bloßen  Zeugen  und  Berichterstatter  des  Weltlaufs  macht, 
sondern  ihn  tätig  in  denselben  eingreifen  läßt.  Stellen  wir  nun  die 
Frage,  welche  der  beiden  Beleuchtungen  mehr  das  Leben  fördert, 
so  kann  die  Antwort  nicht  zweifelhaft  sein.  Denn  die  letzten  prak- 
tischen Ergebnisse  des  Materialismus  sind  trostlos,  während  der 
Spiritualismus  mit  seiner  Bejahung  einer  sittlichen  Weltordnung 
unseren  Hoffnungen  freien  Spielraum  gibt.  «Der  Glaube  an  geistige 
Wesen  in  all  seinen  Formen  hat  es  immer  mit  einer  Welt  der  Ver- 
heißung zu  tun,  während  die  Sonne  des  Materialismus  in  einem 
Meer  der  Enttäuschung  untergeht"  (a.  a.  O.  S.  67).  Dem  entspricht 
die  Erörterung  des  religiösen  Problems:  statt  von  spekulativen 
Prinzipien  her  wird  es  vom  Bedürfnis  des  Menschen  aus  behandelt. 
»Nach  pragmatischen  Grundsätzen  ist  die  Hypothese  von  Gott  wahr, 


Theoretisch  —  praktisch.  49 

wenn  sie  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  befriedigend  wirkt.  Was 
nun  immer  noch  die  restlichen  Schwierigkeiten  dieser  Hypothesen 
sein  mögen,  die  Erfahrung  zeigt,  daß  sie  wirkt,  und  das  Problem 
besteht  darin,  die  Hypothese  so  auszubauen,  daß  sie  sich  mit 
den  andern  wirkenden  Wahrheiten  in  Einklang  bringen  läßt" 
(a.  a.  O.  S.  192). 

Wer  sich  in  das  Ganze  einlebt,  kann  wohl  verstehen,  daß  es 
weite  Kreise  der  Zeit  zu  gewinnen  vermochte.  Indem  es  etwas, 
was  sonst  nur  nebenbei  und  an  einzelnen  Stellen  beachtet  wurde, 
zur  Hauptsache  macht,  wird  eine  Beleuchtung  der  Dinge  gewonnen, 
die  den  Vorzug  der  Einfachheit  und  der  leichten  Verständlichkeit 
hat.  Eine  große  Vereinfachung  ist  augenscheinlich,  indem  alle 
Fragen,  die  keine  Beziehung  zur  Lebenshaltung  haben,  als  unnütz 
ausscheiden  müssen;  diese  Beziehung  aber  scheint  einen  Maßstab 
zu  gewähren,  der  die  verschiedenen  Behauptungen  in  voller  Unbe- 
fangenheit zu  würdigen  und  damit  die  Sache  dem  Streit  der  Par- 
teien zu  entziehen  gestattet;  die  Wahrheit  erhält  hier  mehr  Unmittel- 
barkeit und  Fruchtbarkeit,  mehr  Beweglichkeit  und  Flüssigkeit,  indem 
sie  so  in  die  Bewegung  des  Lebens  hineingestellt  wird  und  zu  ihrer 
Förderung  mitzuwirken  hat;  gerade  unsere  Zeit  mit  ihrer  Zersplitter- 
ung der  Überzeugungen  scheint  eine  derartige  Lösung  zu  empfehlen.^ 
Das  Positive  der  Leistung  wird  aber  durch  eine  scharfe  Kritik  des 
überkommenen  Wahrheitsbegriffes  wesentlich  unterstützt. 

Aber  so  viel  Anregung  das  alles,  vertreten  von  bedeutenden 
und  geistvollen  Männern,  bringen  mag,  als  Letztes  und  Ganzes  an- 
gesehen muß  es  uns  doch  als  ein  Irrtum  gelten.  Der  starke  Ein- 
druck des  Pragmatismus  stammt  namentlich  daher,  daß  hier  die 
gewöhnliche  Betrachtungsweise  umgekehrt  wird;  wie  aber,  wenn  da- 
bei der  Begriff  der  Wahrheit  selbst  auf  den  Kopf  zu  stehen  kommt? 
So  aber  geschieht  es  in  Wahrheit  Das  eben  ist  das  Wesentliche 
des  Wahrheitsbegriffes,  und  das  ist  die  bewegende  Seele  des  Wahr- 
heitsstrebens,  daß  der  Mensch  dabei  etwas  erreicht,  was  jenseits  aller 
seiner  Meinungen  und  Neigungen  liegt,  und  was  völlig  unabhängig 
von  seiner,  ja  von  aller  Menschen  Zustimmung  gilt.    Damit  scheint 


'■  James  (a.  a.  O.  S.  122)  bemerkt  in  dieser  Hinsicht:  „Die  tatsächliche 
Unruhe,  die  jetzt  in  der  theoretischen  Philosophie  herrscht,  der  Wert,  den 
jeder  Denktypus  für  gewisse  Zwecke  besitzt,  die  Unfähigkeit  eines  jeden  dieser 
Denktypen,  alle  anderen  zu  verdrängen,  alles  das  legt  die  pragmatische  An- 
schauung nahe." 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  4 


50  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

dem  Menschen  ein  wesentlich  neues  Leben  zu  winken,  ein  Weit- 
und  Großwerden  des  Wesens,  eine  innere  Gemeinschaft  mit  der 
Wirklichkeit,  eine  Befreiung  von  aller  bloßmenschlichen  Art.  Wo 
dagegen  das  Wohl  des  Menschen  und  der  Menschheit  zum  höchsten 
Ziel  und  zum  richtenden  Maß  gemacht  wird,  da  sinkt  die  Wahrheit 
zu  einer  bloßnützlichen  Meinung  herab,  und  das  ist  eine  innere 
Zerstörung.  Was  immer  sie  an  Überzeugungskraft  hätte,  das  müßte 
sie  in  dem  Augenblick  verlieren,  wo  sie  als  ein  bloßes  Mittel  durch- 
schaut würde.  Wahrheit  ist  nur  als  Selbstzweck  möglich,  eine 
»instrumentale"  Wahrheit  ist  keine  Wahrheit. 

Das  heißt  nicht  behaupten,  daß  die  Wirkung  der  verschiedenen 
Lehren  auf  den  Zustand  des  Menschen  ein  unwichtiger  Gegenstand 
sei;  sicherlich  kann  viel  Aufklärung  und  Anregung  davon  ausgehen, 
wenn  jene  Wirkung  mehr  beachtet  und  ihren  Gründen  nachgeforscht 
wird.  Aber  zunächst  haben  wir  es  dabei  mit  einem  bloßen  Phänomen 
zu  tun;  was  in  ihm  Kern  und  Schale,  Recht  und  Unrecht  sei,  das 
ist  erst  herauszustellen. 

Dem  Pragmatismus  löst  sich  die  Wahrheit  in  lauter  einzelne 
Wahrheiten  auf,  und  er  selbst  sieht  darin  einen  Vorteil.  Aber  ist 
es  so  sicher,  daß  diese  Wahrheiten  sich  friedlich  und  freundlich 
gegenseitig  vertragen,  daß  sie  nicht  in  schwere  Konflikte  mit  ein- 
ander geraten?  Wer  sollte  wohl  bei  solchen  Konflikten  der  Schieds- 
richter sein? 

Endlich  ist  das,  was  der  Pragmatismus  als  höchstes  Ziel 
betrachtet,  das  Gelingen  und  Gedeihen  des  Lebens,  keineswegs 
allem  Zweifel  enthoben.  Denn  das  Leben  ist  hier  nichts  anderes 
als  das  Kulturleben,  wie  es  sich  in  der  Breite  des  Daseins  aus- 
nimmt; um  dieses  Leben  aber  als  ein  sicheres  Gut  zu  betrachten, 
muß  man  von  dem  Kulturenthusiasmus  und  der  optimistischen 
Stimmung  beherrscht  sein,  die  früheren  Zeiten  näher  als  der  unsrigen 
lagen.  Denn  ist  dies  Leben,  wenn  es  für  sich  selbst  als  das  Letzte 
genommen  wird,  all  der  Mühe  und  Arbeit,  all  der  Sorgen  und  Auf- 
regungen, all  der  Schmerzen  und  Entsagungen  wert,  die  es  kostet? 
Ist  dies  Leben,  genauer  betrachtet,  mit  all  seinem  prunkenden  Schein 
und  seiner  inneren  Leere,  mit  seiner  durchgängigen  Unlauterkeit  und 
Unwahrhaftigkeit  nicht  ein  schwerer  Widerspruch?  Und  ein  Mittel 
zur  Aufrechterhaltung  dieses  problematischen  Lebens  sollte  das  Streben 
nach  Wahrheit  sein?  Uns  will  von  allen  Arten  des  Glaubens  keiner 
gewagter   erscheinen    als   ein    derartiger  unfundierter   Lebensglaube. 


Theoretisch  —  praktisch.  51 

d)    Die  eigne  Behauptung:  der  Aktivismus. 

Jerusalem  hebt  im  Vorwort  zur  Übersetzung  von  James'  »Pragma- 
tismus" meine  Annäherung  an  die  neue  Richtung  hervor  und  be- 
merkt dabei:  »Euckens  Aktivismus  ruht  auf  bestimmten  meta- 
physischen Voraussetzungen,  während  der  Pragmatismus  rein  empirisch 
ist"  (S.  VII).  In  Wahrheit  begrüße  ich  sympathisch  das  Streben, 
die  Wahrheit  in  eine  engere  Beziehung  mit  dem  Leben  zu  bringen, 
sie  nicht  als  eine  Sache  des  bloßen  Intellektes  zu  verstehen,  nicht 
minder  teile  ich  die  Ablehnung  eines  Wahrheitsbegriffes,  dem  die 
Wahrheit  als  Übereinstimmung  mit  einem  neben  uns  befindlichen 
Sein  gilt.  Es  fragt  sich  nur,  was  unter  Leben  verstanden  wird,  und 
da  dürfte  zwischen  dem,  was  in  jenen  Worten  „empirisch"  und 
„metaphysisch"  genannt  wird,  eine  weite  Kluft  bestehen.  Dort  be- 
sagt Leben  die  menschliche  Zuständlichkeit,  das  menschliche  Befinden 
—  ob  des  Einzelnen  oder  der  Gattung,  kommt  schließlich  auf  das- 
selbe hinaus  — ,  wir  aber  denken  beim  Suchen  einer  engeren  Ver- 
bindung der  Wahrheit  mit  dem  Leben  an  das  Geistesleben  als  ein 
Beisichselbstsein  des  Lebens,  das  mit  seinen  Inhalten  und  Werten 
aller  menschlichen  Zuständlichkeit  gegenüber  etwas  wesentlich  Neues 
bildet,  ja  eine  völlige  Umkehrung  des  nächsten  Standes  besagt. 
Daher  bedeutet  auch  die  Verbindung  der  Wahrheit  mit  dem  Leben 
dem  Pragmatismus  und  dem  Aktivismus  etwas  sehr  verschiedenes: 
dort  wird  die  Wahrheit  ein  bloßes  Mittel  für  ein  höheres  Ziel,  und 
das  gilt  uns  als  eine  innere  Zerstörung,  hier  wird  sie  ein  wesent- 
licher Bestandteil  des  Lebens  selbst  und  darf  daher  nie  ein  bloßes 
Mittel  werden. 

So  hat  es  auch  hier  und  dort  einen  wesentlich  anderen  Sinn, 
wenn  die  verschiedenen  Leistungen  im  Kampf  um  die  Wahrheit 
nach  ihrer  Fruchtbarkeit  für  die  Lebensentfaltung  bemessen  werden. 
Dort  bildet  das  Maß  der  Nutzen  des  Menschen  mit  all  seiner  Wandel- 
barkeit, hier  wird  es  das  Bestehen  und  der  lühalt  des  Geisteslebens, 
und  die  verschiedenen  Behauptungen  werden  daraufhin  zu  prüfen 
sein,  was  sie  dafür  an  sachlicher  Vertiefung  und  Erweiterung  bringen. 
Beides  kann  bis  zu  vollem  Gegensatz  auseinandergehen.  Eine  Denk- 
weise kann  dem  Menschen  als  Menschen  harte  Opfer  auferlegen 
und  ihm  das  Leben  eher  schwerer  als  leichter  machen  —  von  allem 
wahrhaft  Großen  läßt  sich  dieses  behaupten  -,  aber  zugleich  kann 
es  das  geistige  Leben  gehaltvoller  und  größer  machen,  während  um- 


52  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

gekehrt,  was  dem  Menschen  ein  behagliches  Dasein  gewährt,  das 
Geistesleben  arg  herabdrücken  kann.  Daß  Zeiten  voller  Leistung 
und  Genuß  geistig  recht  leer  sein  können,  zeigt  die  Gegenwart 
deutlich  genug.  ^ 

Mit  dem  Pragmatismus  wollen  auch  wir  eine  Versetzung  des 
Lebens  in  Tätigkeit,  aber  diese  Versetzung  dünkt  uns  nicht  möglich 
vom  gegebenen  Dasein  mit  seinen  festen  Verkettungen  aus,  sondern 
nur  durch  eine  Umkehrung  dieses  Daseins,  durch  die  Ergreifung 
eines  neuen  Ausgangspunktes  und  die  Entfaltung  eines  neuen  Lebens. 
Das  ist  eine  Art  von  Metaphysik:  wir  leugnen  es  nicht,  vielmehr 
verlangen  wir  aufs  entschiedenste  eine  Metaphysik,  da  nur  in  Um- 
kehrung der  ersten  Lage  ein  ursprüngliches  und  selbsttätiges  Leben 
möglich  wird,  und  es  daher  keine  geistige  Selbsterhaltung  ohne 
irgendwelche  Metaphysik  gibt  Wiederum  kommen  wir  damit  auf 
die  Notwendigkeit  eines  selbständigen  Geisteslebens  als  einer  neuen 
Stufe  der  Wirklichkeit,  als  der  Entfaltung  ihrer  eignen  Tiefe. 

Nach  dem  allen  scheint  uns  der  Gegensatz  des  Intellektualismus 
und  des  Voluntarismus  nicht  den  Kern  der  Sache  zu  treffen.  Es 
genügt  nicht,  den  Schwerpunkt  des  Lebens  von  der  einen  seelischen 
Tätigkeit  in  eine  andere  zu  verlegen,  da  dies  keine  wesentliche  Ver- 
änderung und  Erhöhung  bewirkt  und  den  abgesteckten  Kreis  nicht 
überschreiten  läßt.  Vielmehr  handelt  es  sich  um  den  Gegensatz 
eines  selbsttätigen,  freien  und  eines  bei  aller  Emsigkeit  innerlich  ge- 
bundenen Lebens.  Damit  aber  tritt  die  ganze  Frage  unter  einen 
wesentlich  neuen  Anblick. 


e)  Intellekt  und  Intellektualismus. 

Die  Eigentümlichkeit  der  aktivistischen  Behauptung  dürfte  am 
ehesten  erhellen  durch  eine  Betrachtung  ihrer  Stellung  sowohl  zum 
Intellektualismus  als  zur  intellektuellen  Arbeit.  Diese  Arbeit  irgend 
herabzusetzen,  dazu  hat  sie  nicht  den  mindesten  Anlaß,  ihr  kann 
sie  nicht  als  etwas  neben  dem  Hauptleben  Befindliches  und  ganz 
wohl  Entbehrliches  gelten.  Denn  die  geforderte  Umkehrung  des 
Lebens,  die  Wendung  zur  Selbsttätigkeit,  wird  sich  ohne  energische 
intellektuelle  Arbeit  nun  und  nimmer  vollziehen  und  behaupten  lassen. 

*  Für  eine  weitere  Erörterung  des  Wahrheitsbegriffs  sei  auf  meine 
„Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung"  (1907)  verwiesen. 


Theoretisch  —  praktisch,  53 

Hierfür  sei  auch  das  Zeugnis  der  Geschichte  beachtet,  welche  zeigt, 
daß  überall  da,  wo  von  der  Erkenntnisarbeit  groß  gedacht  wurde, 
sie  nicht  als  eine  bloße  Begleitung  des  Lebens  oder  als  eine  nach- 
trägliche Deutung  eines  „gegebenen"  fertigen  Tatbestandes  erschien, 
sondern  vielmehr  als  ein  wesentliches  Stück  des  Lebens,  ohne  dessen 
Entfaltung  es  seine  eigene  Höhe  nicht  erreichen  könne.  So  •  bei 
Plato,  so  bei  Kirchenvätern,  wie  Clemens  und  Origenes,  so  bei 
Spinoza  und  Leibniz;  überall  schien  erst  das  Wissen  den  Geistes- 
gehalt des  Lebens  seiner  ganzen  Tiefe  nach  zu  eröffnen  und  ihn 
dem  Menschen  zu  vollem  Besitze  zu  machen.  Mochte  dabei  zu 
Unrecht  das  Wissen  als  das  Ganze  des  Lebens  erscheinen,  jedenfalls 
war  es  mehr  als  ein  bloßes  Abbild,  jedenfalls  stand  es  nicht  neben, 
sondern  in  dem  Leben.  Aber  so  entschieden  wir  es  demnach  ab- 
lehnen müssen,  den  Intellekt  zum  Sündenbock  für  alles  zu  machen, 
was  an  der  Gegenwart  uns  mißfällt:  wer  ein  bei  sich  selbst  befind- 
liches Geistesleben  verlangt  und  nur  von  ihm  einen  wesenhaften  In- 
halt des  menschlichen  Lebens  erwartet,  der  ist  gegen  alle  Hinneig- 
ung zu  einer  intellektualistischen  Lebensgestaltung  gesichert,  der  wird 
vielmehr  die  Überflutung  namentlich  der  Neuzeit  und  Gegenwart 
von  intellektualistischen  Strömungen  besonders  stark  empfinden.  Es 
wird  ihn  aber  die  Sorge  für  das  Ganze  des  Geisteslebens  diese 
Überflutung  in  anderer  Weise  betrachten  und  beurteilen  lassen  als 
den  Voluntaristen.  So  sei  zunächst  auf  diese  Machtentwicklung  des 
Intellektualismus  das  Auge  gerichtet;  erst  dann  läßt  sich  ermessen, 
ob  die  erstrebte  Gegenwirkung  ihr  in  Wahrheit  gewachsen  ist. 

a.  Die  Überflutung  des  modernen  Lebens  durch  den  Intellektualismus. 

Der  Intellektualismus  wirkt  auf  uns  zunächst  von  der  Ge- 
schichte her  in  mannigfacher  Gestalt:  er  wirkt  aus  dem  Altertum,  das 
Geist  und  Intellekt  als  gleichbedeutend  zu  behandeln  pflegte,  aus 
dem  christlich- kirchlichen  Leben,  dem  der  Glaube  trotz  aller  Gegen- 
wirkung immer  wieder  eine  überwiegend  intellektuelle  Tätigkeit 
wurde,  aus  der  Neuzeit,  welche  die  von  ihr  erstrebte  Lebenserhöh- 
ung namentlich  von  der  Tätigkeit  des  Intellektes  erwartete.  Sie  ver- 
ficht aber  solche  Schätzung  bis  in  die  Gegenwart  hinein  nicht  nur 
in  der  Richtung,  welche  als  Aufklärung,  Spekulation  u.  s.  w.  vom 
Innenleben  ausging,  sie  tut  es  fast  noch  stärker  in  der  vom  Natur- 
erkennen beherrschten   Denkweise.     Denn  noch  immer  pflegen  die 


54  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Naturforscher  Geist  und  Bewußtsein  einander  gleichzusetzen  und  das 
Geistesleben  als  eine  bloße  Abspiegelung  einer  draußen  befindlichen 
Welt  zu  verstehen.  Dem  entspricht  es,  alles  Heil,  auch  alle  Er- 
höhung des  moralischen  Standes,  vornehmlich  von  einer  Berichtigung 
der  Begriffe  zu  erwarten.^ 

Nichts  aber  dürfte  die  Macht  des  Intellektualismus  deutlicher 
zeigen  als  die  Tatsache,  daß  selbst  die  Gegenwirkung  gegen  ihn 
oft  wieder  zu  ihm  zurückgekehrt  ist  und  ihn  nur  verstärkt  hat.  Man 
wollte  einen  neuen  Inhalt,  aber  man  gab  ihn  in  der  alten  Form  und 
unterlag  damit  alsbald  der  feindlichen  Macht.  So  zieht  es  sich  durch 
die  ganze  Geschichte  des  Christentums,  so  reicht  es  auch  in  das 
19.  Jahrhundert  hinein.  Der  spätere  Schelling  z.  B.  sucht  mit  Ein- 
setzung aller  Kraft  den  eingewurzelten  Rationalismus  durch  eine 
positive  und  irrationale  Denkweise  zu  verdrängen.  Aber  er  bringt 
das  Neue  als  eine  bloße  Lehre;  die  Annahme  dieser  Lehre,  das  Be- 
kenntnis zu  ihr,  scheint  das  ganze  Leben  ins  Wahre  zu  stellen. 
Was  ist  das  anders  als  Rationalismus  und  Intellektualismus?  Viel- 
leicht macht  es  mancher  heutige  Gegner  des  Intellektualismus  ähnlich 
wie  Schelling. 

Gefährlicher  noch,  weil  tiefer  eindringend  und  mehr  versteckt, 
sind  die  Wirkungen  des  Intellektualismus  durch  sein  Festwurzeln  in 
alten  und  neuen  Gewöhnungen  des  Denkens.  Als  der  Kern  der 
Erkenntnisarbeit  gaU  von  alters  her  die  Heraushebung  allgemeiner 
Größen  aus  der  grenzenlosen  Vielheit  der  Erscheinungen,  im  Alter- 
tum in  vollem  Einklang  mit  der  Gesamtauffassung  der  Wirklichkeit, 
indem  einfache  und  unwandelbare  Formen  ihr  Grundgerüst  zu  bilden 
schienen;  seit  dem  Verlassen  solcher  Überzeugung  mit  entschiedenem 
Unrecht,  indem  das  Heraussehen  der  großen  Züge  aus  der  Erfahr- 
ung und  die  Verbindung  der  Mannigfaltigkeit  zu  einem  Ganzen  weit 


^  So  zeigt  es  mit  besonderer  Anschaulichkeit  das  gi'ößte  realistische 
System  des  19.  Jahrhunderts,  das  System  Comtes.  Es  seien  nur  einige  be- 
zeichnende Stellen  aus  dem  cours  de  philosophie  positive  (4.  Aufl.  1877)  an- 
geführt. I,  40/41  heißt  es:  le  mecanisme  social  repose  finalement  sur  des 
opinions.  Nach  IV,  113  trägt  die  Hauptschuld  an  der  unerquicklichen  Lage 
der  Gegenwart  die  anarchie  intellectuelle;  so  ist  das  dringendste  Bedürfnis 
eine  philosophie  convenable.  Als  der  tiefste  Grund  der  politischen  Korruption 
erscheint  l'impuissance  et  le  discredit  des  idees  generales.  Überhaupt  ent- 
sprechen bei  Comte  die  Epochen  der  Geschichte  den  Stufen  des  Erkennens. 
Auch  der  heutige  Monismus  glaubt  durch  eine  Berichtigung  der  Begriffe  das 
ganze  Leben  heben  zu  können. 


Theoretisch  —  praktisch.  55 

mehr  besagt  und  weit  mehr  verlangt  als  ein  bloßes  Abstrahieren 
gleicher  Züge.^ 

Der  intellektualistischen  Überschätzung  des  Strebens  zum  All- 
gemeinen entspricht  ein  merkwürdiger  Kultus  abstrakter  Begriffe,  der 
im  19.  Jahrhundert  eine  besondere  Höhe  erreicht  hat.  Wie  viel 
Macht  üben  jetzt  Begriffe  wie  Vernunft,  Kultur,  Gesetz,  Wert,  Fort- 
schritt, Humanität  u. s. w.,  Begriffe  höchst  vager  Art!  Gerade  ihre 
Unbestimmtheit  scheint  sie  zu  empfehlen,  indem  sie  uns  einer  un- 
liebsamen Entscheidung  enthebt;  sie  sind  oft  wie  leere  Anweisungen, 
die  jeder  nach  seinem  Belieben  ausfüllt.  Dabei  wird  Hegel  getadelt, 
dessen  Begriffen  doch  eine  zusammenhängende  Gedankenwelt  einen 
bestimmten  Inhalt  gab! 

Den  Einfluß  intellektualistischer  Denkweise  verrät  auch  die  land- 
läufige Neigung,  unser  Handeln  nach  Art  eines  logischen  Schlusses  als 
eine  Subsumtion  eines  einzelnen  Falles  unter  ein  allgemeines  Gesetz 
zu  verstehen.  In  Wahrheit  würde  die  wissenschaftliche  Arbeit  selbst 
nicht  viel  vermögen,  im  besonderen  nichts  neues  erreichen,  wären  die 
logischen  Formen  nicht  das  bloße  Gefäß  eines  sie  belebenden  und 
erfüllenden  Denkprozesses.  Jenseit  der  Wissenschaft  aber  wird  die 
Verkehrung  noch  augenscheinlicher,  wenn  z.  B.  das  politische  Leben, 
die  richterliche  Tätigkeit,  ja  alle  menschliche  Handlung  nach  jenem 
Schema  der  Anwendung  allgemeiner  Sätze  auf  den  besonderen  Fall 


^  Auch  der  Terminus  Abstraktion  bekundet  jene  Wandlung;  ihr  ent- 
sprechend hat  er  zwei  Hauptphasen  durchlaufen,  eine  logisch-metaphysische 
und  eine  psychologische,  von  denen  jene  auf  Aristoteles,  diese  auf  Locke 
zurückgeht.  Abstrakt  (s?  äipatpEaew?  Xeyo'tAeva)  heißen  bei  Aristoteles  die  von 
der  Materie  abgesonderten  Formen,  namentlich  die  mathematischen  Größen; 
so  hält  es  auch  das  Mittelalter  fest  (abstrahere  formam  a  materia  intellectu). 
Erst  die  moderne  Auffassung  sieht  im  Abstrahieren  ein  allmähliches  Heraus- 
heben gemeinsamer  Eigenschaften  aus  der  Breite  der  Erscheinungen.  Die 
alte  Bedeutung  überdauert  die  Herrschaft  der  antiken  Formenlehre;  so  heißt 
es  z.  B.  in  Baumeisters  definitiones  philosophicae  ex  systemate  Wolfii  collectae, 
def.  DCCXXXV:  absü-ahere  ea  dicimur,  si  ea,  quae  in  percepüone  distingu- 
untur,  tanquam  a  re  percepta  sejuncta  intuemur.  Kant  versteht  in  seiner 
Logik  (s.  VIII,  92,  Hartenst.)  unter  Absü-aktion  „die  Absonderung  alles  Übrigen, 
worin  die  gegebenen  Vorstellungen  sich  unterscheiden."  Er  will  daher  nicht 
sagen  „etwas  abstrahieren"  (abstrahere  aliquid),  sondern  „von  etwas  abstra- 
hieren" und  meint  „abstrakte  Begriffe  sollte  man  eigentlich  abstrahierende 
(conceptus  abstrahentes)  nennen."  Das  Schwanken  des  heutigen  Sprach- 
gebrauches erklärt  sich  zum  guten  Teil  aus  dem  Durcheinanderlaufen  beider 
Bedeutungen. 


56  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

verstanden  wird.  Denn  das  heißt  sie  in  eine  starre  Schablone 
pressen  und  sowohl  der  Ursprünglichkeit  als  der  Individualität  be- 
rauben. Das  ist  auch  eine  Wurzel  des  viel  bestrittenen  und  in- 
mitten aller  Bestreitung  unablässig  anschwellenden  Bureaukratismus. 

Schließlich  sei  noch  daran  erinnert,  daß  der  Intellektualismus 
mit  seiner  Neigung,  Denken  und  Geist  einander  gleichzusetzen  und 
die  Welt  hauptsächlich  als  einen  Vorwurf  der  Betrachtung  zu  be- 
handeln, tief  in  die  Sprache,  namentlich  in  die  der  Wissenschaft, 
eingesickert  ist.  Die  Ausdrücke  aber,  so  unverbindlich  sie  scheinen, 
führen  leicht  unter  die  Macht  der  Sache. 

So  umfängt  uns  der  Intellektualismus  von  allen  Seiten  mit  einem 
dichten  und  feingewobenen  Netz;  aller  subjektive  Affekt  vermag 
daraus  nicht  zu  befreien,  selbst  die  Behauptung  des  direkten  Gegen- 
teiles lenkt,  wie  wir  sahen,  auf  Umwegen  leicht  in  die  alte  Bahn 
zurück.  Eine  Wendung  könnte  nur  aus  der  Anerkennung  dessen 
hervorgehen,  daß  die  eigene  Arbeit  des  Intellektes  einen  positiven 
und  produktiven  Charakter  erst  erlangt,  wenn  sie  sich  einem  Ganzen 
des  Geisteslebens  empfangend  und  fördernd  einfügt,  wenn  sie  von 
gesamtgeistigen  Synthesen  geleitet  und  von  solchen  Energien  getrieben 
wird.  Daß  es  aber  in  Wahrheit  so  steht,  läßt  sich  sowohl  direkt 
als  indirekt  erweisen:  alle  echte  Leistung  intellektueller  Art  stand  in 
engem  Zusammenhange  mit  Gesamtbewegungen  des  Geisteslebens;  wo 
immer  hingegen  die  Arbeit  solchen  Zusammenhang  fallen  ließ,  da  ist  sie 
rasch  zu  leerem  Formalismus  oder  schwankender  Reflexion  gesunken. 
Ein  solches  Verfechten  der  Abhängigkeit  des  Intellektes  vom  Ganzen 
ist  mit  der  Anerkennung  einer  Größe  und  Bedeutung  innerhalb  des 
Ganzen  aufs  beste  vereinbar. 

ß.   Die  Begründung  des  Erkennens  im  Lebensprozesse. 

Wer  vom  Erkennen  gering  denkt,  wer  in  ihm  nicht  mehr  als 
ein  Registrieren  bloßer  Erscheinungen  sieht,  der  braucht  sich  über 
seine  nähere  Gestaltung  und  über  sein  Verhältnis  zum  Ganzen  des 
Geisteslebens  keinerlei  Sorge  zu  machen.  Wer  aber  in  ihm  eine 
Durchleuchtung  und  innere  Aneignung  der  Wirklichkeit  sucht,  dem 
wird  jenes  zu  einem  schweren  Probleme.  Wie  läßt  sich  eine  fremde 
Wirklichkeit  unterwerfen  und  aneignen,  wenn  die  Arbeit  nicht 
irgendwelches  Vermögen  an  sie  heranbringt,  nicht  eine  Kraft  gegen 
die  Widerstände  der  Dinge  einzusetzen  hat,  wie  kann  eine  Erfahr- 
ung uns  wertvoll  werden,  wenn  sie  nicht  eine  von  innen  kommende 


Theoretisch  —  praktisch.  57 

Bewegung  aufnimmt  und  weiterführt,  wie  kann  sie  eine  Antwort  er- 
teilen, wenn  ihr  nicht  zuvor  eine  Frage  gestellt  ist?  Woher  aber 
soll  das  Erkennen  die  Kraft  zu  jener  Leistung  finden,  wenn  nicht 
der  gesamte  Lebensprozeß  eine  innere  Konzentration  vollzieht,  seine 
Tätigkeiten  zu  einem  Ganzen  verbindet  und  aus  ihm  den  Kampf 
gegen  die  Umgebung  aufnimmt?  Eine  derartige  Bewegung  würde 
wie  aller  Betätigung,  so  auch  dem  Erkennen  eine  eigentümliche  Art 
und  Richtung  erteilen.  Ein  solches  Zusammenschießen  des  Lebens 
zu  einem  charakterhaften  Ganzen  steckt  einen  eigentümlichen  Da- 
seinsraum ab  und  gestaltet  eigentümlich  wie  die  Erfahrung,  so  das 
Grundverhältnis  des  Menschen  zur  Wirklichkeit  und  seine  Arbeits- 
welt. Daraus  hat  auch  das  Erkennen  seine  Ziele  und  Wege  zu 
empfangen.  Wie  könnte  einer  die  griechische  Philosophie  in  dem 
Großen  und  Unterscheidenden  ihrer  Art  verstehen,  der  sie  nicht  als 
die  Wendung  derjenigen  Lebenssynthese  zur  Wissenschaft  verstünde, 
die  dem  Ganzen  der  griechischen  Kultur  zugrunde  liegt?  Diese 
Synthese  erfolgte  nicht  unabhängig  von  der  intellektuellen  Arbeit, 
sie  bedurfte  vielmehr  ihrer  unablässigen  Hülfe;  aber  sie  war  nicht 
ein  Werk  des  bloß  auf  seine  eigene  Kraft  gestellten  Erkennens.  So 
besitzt  überhaupt  nur  ein  Erkennen,  das  in  einer  Lebenssynthese 
gegründet  ist  und  aus  ihrer  Tiefe  schöpft,  sichere  Richtungen  und 
zwingende  Notwendigkeiten,  nur  ein  solches  vermag  den  Gegenstand 
zu  erfassen  und  zu  durchdringen,  nur  ein  solches  kann  der  Wirk- 
lichkeit einen  lebendigen  Zusammenhang  geben.  Warum  macht  die 
Scholastik  bei  allem  Fleiß  und  allem  Geschick  einen  so  dürftigen 
Eindruck,  warum  hat  sie,  trotz  breitester  Wirkung  im  menschlichen 
Kreise,  geistig  nichts  Erhebliches-  gefördert?  Weil  ihr  die  gestaltende 
Kraft  eines  charakteristischen  Lebens  fehlte,  weil  sie  daher  ihren  Be- 
griffen keine  innere  Nähe  und  keine  zwingende  Überzeugungskraft 
zu  geben,  vermochte.  Schon  deshalb  mußte  sie  der  neueren  Philo- 
sophie erliegen,  weil  in  dieser  und  durch  sie  ein  neues  Leben  empor- 
stieg. Eben  dieses  ist  es  auch,  was  schöpferische  Denker,  wie 
Leibniz  und  Kant,  von  tüchtigen  Schulgelehrten,  wie  Wolff  und 
Herbart,  unterscheidet,  daß  jene  neue  Lebenssynthesen  zum  Durch- 
bruch bringen  und  in  ihrer  Arbeit  eine  Erhöhung  der  Wirklichkeit 
vollziehen.  So  sind  siö  Mehrer  im  Reich  des  Geistes,  nicht  bloße 
Bearbeiter  und  Zergliederer  eines  gegebenen  Befundes,  sie  reflektieren 
nicht  bloß  über  die  Wirklichkeit,  sie  erweitern  unsere  Wirklichkeit. 
Es  bekräftigt  aber  solchen  Zusammenhang  des  Erkennens  mit 


58  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

dem  Ganzen  des  Geisteslebens  nichts  nachdrüci<licher  als  die  eigenen 
Erfahrungen  der  Logik,  die  sich  mit  der  Allgemeingültigkeit  und 
Umwandelbarkeit  ihrer  Gesetze  leicht  aller  Bindung  und  Beziehung 
enthoben  glaubt.  Die  Unverbrüchlichkeit  jener  Gesetze  ist  klar  und 
unbestritten.  Aber  alle  Gesetze  und  Formen  ergeben  keineswegs 
schon  ein  lebendiges  Denken;  das  wirkliche  Denken  des  Menschen 
ist  keineswegs  bloß  eine  gleichförmige  Anwendung  jener  Denkgesetze, 
es  hat  darüber  hinaus  eine  Eigentümlichkeit,  die  alle  Mannigfaltigkeit 
beherrscht  und  durchdringt,  und  die  nur  aus  dem  Ganzen  eines 
Lebensprozesses  hervorgehen  kann.  Demgemäß  ist  das  Denken  in 
seiner  feineren  Struktur  verschieden  nach  der  Art  des  Lebensganzen, 
dem  es  angehört.  Daß  das  künstlerisch  gerichtete  Griechentum  das 
Denken  enger  mit  der  Anschauung  zusammenschloß,  daß  es  rasch 
und  unmittelbar  zu  einer  Synthese  strebte  und  alles  Grenzenlose 
mied,  daß  es  die  Elemente  des  Lebens  als  gegeben  und  unveränder- 
lich hinnahm,  das  gestaltet  auch  seine  Erkenntnisarbeit  bis  in  die 
einzelnen  logischen  Operationen  eigentümlich.  Wie  sehr  bekundet 
ferner  die  Denkweise  des  ausgehenden  Altertums  und  des  Mittel- 
alters den  Einfluß  eines  neuen,  von  der  Religion  beherrschten  Lebens! 
Indem  dort  alles  sichtbare  Dasein  zum  bloßen  Gleichnis  einer  un- 
sichtbaren Ordnung  wird,  verlieren  die  Begriffe  ihre  Sprödigkeit, 
die  Behauptungen  ihre  Ausschließlichkeit.  Die  allegorische  Deutung 
ahnt  und  schaut  durch  den  sinnfälligen  Tatbestand  hindurch  eine 
höhere  Welt,  ohne  dabei  jenen  zu  einer  gleichgültigen  Erscheinung 
herabzusetzen.  So  ist  derselbe  Gegenstand  Bild  und  Sache,  Sinn- 
liches und  Geistiges  in  Einem;  daß  darin  zugleich  eine  Bindung 
und  eine  Befreiung,  eine  Bejahung  und  eine  Verneinung,  damit  aber 
ein  unhaltbarer  Widerspruch  liegt,  das  empfindet  jene  von  Stimmung 
und  Ahnung  beherrschte,  beinahe  traumhafte  Denkweise  nicht.  Auf 
dieser  Denkweise  aber  ruht  der  mittelalterliche  Kirchenbegriff,  die 
Sakramentenlehre  u.  s.  w.  Die  Höhe  der  Scholastik  wird  klarer  und 
nüchterner,  aber  da  es  ihr  bei  aller  Tüchtigkeit  syllogistischen  Ver- 
fahrens an  einer  selbständigen  Synthese  und  an  einer  entsprechenden 
Energie  des  Denkens  fehlt,  so  fehlt  ihr  auch  die  Kraft  eines  disjunktiven 
Verfahrens;  grundverschiedene  Welten,  wie  der  weltfrohe  Aristotelismus 
und  das  weltfremde  alte  Christentum,  ferner  innerhalb  des  Christen- 
tums die  kirchliche  Ordnung  und  die  alle  Gestalt  überfliegende 
Mystik,  vertragen  hier  sich  miteinander  friedlich  und  freundlich;  sie 
scheinen  zu  völliger  Harmonie  gebracht,  wenn  eine  geschickte  An- 


Theoretisch  —  praktisch.  59 

Ordnung  und  Abstufung  einen  direkten  Zusammenstoß  verhütet.  Man 
denkt  im  Schema  eines  Sowohl — als  auch,  wo  einem  kräftigen  Denken 
sich  alsbald  ein  Entweder — oder  ergeben  hätte.  Auch  die  logische 
Methode  der  neuen  Wissenschaft  mit  ihrer  energischeren  Disjunktion 
und  ihrer  schärferen  Analyse,  ihrem  Flüssigmachen  auch  der  Elemente 
und  ihrem  Streben  ins  Unbegrenzte,  sie  zeigt  deutlich  genug  einen 
engen  Zusammenhang  mit.  dem  modernen  Lebensideal  der  Kraft 
und  Bewegung.  So  bejaht  eine  besondere  Art  des  Geisteslebens, 
wer  in  dieser  Art  der  Forschung  den  Typus  aller  Forschung  sieht. 
Wie  aber  jede  ausgeprägte  Zeit  ihre  besondere  Art  der  Logik  hat, 
so  hat  sie  auch  jeder  selbständige  Denker;  ohne  eigene  Logik  kann 
keine  eigene  Denkweise,  keine  eigene  Lebensgestaltung  bestehen.  Je 
kräftiger  diese  Gestaltung,  desto  tiefer  wird  ihr  Einfluß  bis  in  die 
einfachsten  Elemente  und  Tätigkeiten  des  Denkens  sich  hineinerstrecken. 
So  muß  die  Verkettung  mit  dem  Lebensganzen  die  Denkarbeit 
konkreter,  individueller,  reicher  gestalten.  Zugleich  entstehen  damit 
neue  -Fragen  und  Aufgaben.  Es  gilt  zu  zeigen,  was  das  Erkennen 
dem  Lebensganzen  leistet,  näher  aufzuweisen,  wie  es  in  ihm  zur 
Scheidung  des  Zufälligen  vom  Wesentlichen,  zur  Verkettung  der 
Mannigfaltigkeit,  zur  Herausbildung  einer  Allgemeingültigkeit  wirkt. 
Auf  den  ersten  Blick  mag  gerade  die  Allgemeingültigkeit  als  bedroht 
erscheinen,  wenn  das  Erkennen  in  so  nahe  Beziehung  zu  besonderen 
Lebenssystemen  tritt.  Wird  sich  nicht  damit  die  Wahrheit  in  eine 
Vielheit  von  Wahrheiten  auflösen  und  ein  zerstörender  Relativismus 
gänzlich  das  Feld  gewinnen?  Das  würde  doch  nur  der  Fall  sein, 
wenn  alle  Lebenssynthesen  gleichwertig  nebeneinander  stünden,  nicht 
ihrer  aller  Arbeit  einer  einzigen  umfassenden  Synthese  diente,  an  der  sich 
alles  zu  messen  hätte.  Aber  könnte  nicht  eine  solche  Synthese  der  Be- 
wegung als  Endziel  vorschweben  und  zugleich  von  Anfang  an  zur 
Gestaltung  und  Richtung  des  Lebens  und  mit  ihm  des  Denkens 
wirken?  Daß  eine  Behauptung  neue  Probleme  hervorruft,  spricht 
keineswegs  gegen  sie;  sind  es  echte  Probleme,  so  werden  sie  die 
Grundanschauung  nicht  sowohl  belasten  als  verstärken. 

Y-  Die  bewegende  Kraft  im  Wahrheitsstreben. 

Daß  es  sich  in  der  Tat  um  echte  Probleme  handelt,  das  be- 
stätigt jede  Erwägung  der  Frage,  was  im  Kampf  um  die  Wahrheit 
Macht  hat  und  die  Entscheidung  bringt.  Daß  es  nicht  die  bloßen 
Gründe  und  Beweise  sind,  das  läßt  uns  jede  Disputation  zwischen 


60  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

abweichenden  Überzeugungen  deutlich  ersehen;  sollte  es  auf  dem 
größeren  Felde  der  Disputation,  beim  Zusammenstoß  der  Geister  in 
der  Gedankenarbeit,  anders  stehen?  Jeder  überträgt  die  Gründe 
des  anderen  in  die  eigene  Sprache  und  Denkweise  und  verändert  sie 
damit  völlig;  so  steht  gewöhnlich  Monolog  neben  Monolog,  zu  einem 
wirklichen  Dialoge  kommt  es  selten.  In  Wahrheit  gibt  den  Gründen 
ihre  Überzeugungskraft  nicht  ihr  logisches  und  dialektisches  Ver- 
mögen, sondern  der  Gehalt  und  die  Gewalt  des  Geisteslebens,  der 
geistigen  Konzentrationen,  der  Lebensenergien,  aus  denen  sie  schöpfen. 
So  verteidigt  in  aller  Erörterung  prinzipieller  Fragen  im  Grunde  ein 
jeder  sich  selbst  und  seine  eigene  Art;  erst  aus  solcher  geistigen  Selbst- 
erhaltung strömt  Kraft,  Glut  und  Leidenschaft  in  die  intellektuelle 
Bewegung.  Eine  fruchtbare  Aussprache  und  die  Möglichkeit  einer 
Verständigung  entsteht  nur  da,  wo  die  Verwandtschaft  der  geistigen 
Art  einen  gemeinsamen  Boden  bereitet;  würden  Aristoteles  und 
Augustin,  Thomas  und  Voltaire,  sie  alle  treffliche  Logiker,  sich  wohl 
gegenseitig  überzeugt  haben,  wenn  sie  noch  so  lange  miteinander 
gestritten  hätten?  Mur  einen  flachen  und  haltlosen  Menschen  können 
bloße  Gründe  aus  seiner  geistigen  Art  hinauswerfen;  auf  bloß 
intellektuelle  Erwägung  gestellt,  könnte  der  Mensch  seines  eigenen 
Wesens  nimmer  sicher  und  froh  werden;  denn  er  müßte  in  steter 
Furcht  sein,  daß  nicht  ein  stärkerer  Dialektiker  komme,  ihn  über- 
winde und  zum  Gegenteil  zwinge. 

So  sind  es  auch  im  geschichtlichen  Leben  nicht  die  abgelösten 
Gedankenbilder,  die  freischwebenden  Ideen,  sondern  es  sind  die 
geistigen  Energien,  die  Lebenskonzentrationen,  welche  die  Geister 
beherrschen  und  die  Leidenschaften  entzünden.  Bewußte  und  un- 
bewußte Anhänger  der  Hegeischen  Denkweise  sagen  uns  oft,  daß 
die  Ideen  mit  überwältigender  Notwendigkeit  ihre  Konsequenzen 
hervortreiben,  und  daß  nichts  stärker  aufrüttelt,  nichts  zwingender 
weitertreibt  als  ein  logischer  Widerspruch,  Gewiß,  Konsequenzen 
und  Widersprüche  können  eine  unwiderstehliche  Gewalt  über  den 
Menschen  erlangen.  Aber  sie  tun  das  nicht  von  der  bloßen  Logik 
aus.  Konsequenzen  können  sehr  nahe  liegen  und  werden  doch 
nicht  gezogen,  Widersprüche  mögen  handgreiflich  sein  und  werden 
doch  nicht  empfunden.  Es  kommt  hier  alles  darauf  an,  daß  die 
Probleme  in  die  geistige  Selbsterhaltung  aufgenommen  werden,  daß 
durch  sie  hindurch  sich  Lebensenergien  entfalten  und  ein  geistiger 
Existenzkreis  gestaltet;  nur  eine  solche  Aneignung,  eine  solche  Auf- 


Theoretisch  —  praktisch.  61 

nähme  der  intellektuellen  Arbeit  in  das  Eigenleben  macht  die 
Konsequenzen  unabweisbar  und  die  Widersprüche  unerträglich;  es 
ist  im  besonderen  der  Grad  der  Einigung,  die  Kraft  der  Zusammen- 
fassung des  Lebens,  welche  der  Logik  die  Macht  erst  verleiht,  die 
sie  oft  aus  eigenem  Vermögen  zu  üben  wähnt.  Das  ruhige  Ertragen 
widersprechender  Gedanken massen  verrät  immer  eine  geringere 
Konzentration  des  Lebens;  wie  jenes  für  das  kindliche  Denken 
charakteristisch  ist,  so  ist  es  das  auch  für  naivere  Zeiten  und  für 
den  Durchschnittsstand  der  Menschheit  gegenüber  den  Forderungen 
selbständiger  Geistigkeit.  Der  Mangel  an  Logik  verschuldet  nicht, 
er  bekundet  nur  jenen  Mangel. 

So  ist  in  der  geistigen  Lage  der  Gegenwart  nichts  verdrieß- 
licher und  nichts  hemmender,  als  die  Unempfindlichkeit  für  den 
Widerspruch  von  Gedanken  massen;  sie  verrät  einen  starken  Mangel 
an  Lebensenergie  zentraler  Art,  an  wahrhaftigem  Eigenleben  und 
Selbsttätigkeit  inmitten  rührigster  Betätigung.  Der  Lebensbestand  ist 
heute  voll  fundamentaler  Gegensätze;  Kompromisse  an  der  Ober- 
fläche sollen  sie  beschwichtigen,  sie  scheinen  ausgeglichen,  wenn  die 
Schroffheit  des  direkten  Zusammenstoßes  einigermaßen  vermindert 
ist.  Oder  auch  die  Gedankenmassen  werden  bei  allem  sachlichen 
Widerspruch  unbedenklich  ineinander  geschoben  und  miteinander 
vermengt.  Wie  oft  müssen  sich  die  grundverschiedenen  Welten  des 
alten  ethisch-religiösen  Idealismus  und  der  modernen  Kulturentwick- 
lung eine  solche  Behandlung  gefallen  lassen.  Nicht  minder  laufen 
bei  allermodernsten  Schriftstellern  grundverschiedene  Lebensstimm- 
ungen durcheinander.  So  z.  B.  bei  Nietzsche  antike  und  moderne, 
klassische  und  romantische,  künstlerische  und  dynamische  Denkweise; 
wer  für  solche  Dinge  ein  Ohr  hat,  der  muß  darin  grelle  Disso- 
nanzen empfinden.  Die  Masse  der  sog.  Gebildeten  aber,  wie  sie 
alles  kräftigen  Eigenlebens  entbehrt,  empfindet  nicht  den  mindesten 
Schmerz  an  geistigen  Dissonanzen,  eher  sieht  sie  darin  ein  buntes 
und  unterhaltendes  Spiel;  je  mehr  Widersprüche,  desto  «eigenartiger«, 
desto  «interessanter"! 

Nichts  zeigt  die  Abhängigkeit  des  Denkens  von  der  Energie 
des  geistigen  Lebens  greifbarer  als  die  Bewegungen  der  Religion. 
Alle  eingreifenden  Wendungen  kamen  hier  dadurch  in  Fluß,  daß 
der  jeweilige  Befund  unerträgliche  Widersprüche  empfinden  ließ, 
daß  im  besonderen,  was  der  Lauf  der  Zeit  und  die  Anpassung  an 
die  menschliche  Lage  an  äußeren  Einrichtungen,  Übungen,  Formeln 


62  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

hervorgebracht  hatte,  mit  den  Forderungen  einer  gesteigerten  Inner- 
hchkeit  unversöhnlich  zusammenstieß.  Aber  wie  wenig  war  die 
Empfindung,  Durchlebung,  Überwindung  solcher  Widersprüche  das 
Werk  bloßlogischer  Betrachtung!  Im  Zeitalter  der  Reformation  z.  B. 
lag  der  Kontrast  zwischen  der  Veräußerlichung  des  Kirchenwesens 
und  dem  Verlangen  ernster  Seelen  nach  Verinnerlichung  deutlich 
vor  aller  Augen;  der  größte  Gelehrte  jener  Zeit,  Erasmus,  sah  ihn, 
nach  Ausweis  seiner  Schriften,  ebenso  klar  wie  Luther.  Warum  ist 
nun  Luther  der  Reformator  geworden  und  nicht  Erasmus?  Sicherlich 
nicht,  weil  jener  der  größere  Logiker  war,  denn  das  war  entschieden 
Erasmus.  Sondern  weil  ihm  jene  Lage  mit  ihren  Widersprüchen 
nicht  eine  Sache  kühler  Betrachtung  und  geistreicher  Reflexion  blieb, 
sondern  weil  sie  ihm  zu  einer  persönlichen  Angelegenheit  und  zu- 
gleich zu  einem  heftigen  Schmerz,  einer  unerträglichen  Notlage  wurde. 
Bei  solcher  völligen  Aneignung  wurde  ihm  eine  Lösung  des  Konfliktes 
zur  zwingenden  Notwendigkeit,  zur  Seele  seines  Lebens,  zu  einer 
geistigen  Selbsterhaltung,  die  alle  andere  Erwägung  mit  elementarer 
Wucht  verdrängte.  Die  Gewalt  einer  solchen  Selbsterhaltung  gab 
dem  schlichten  Manne  das  Vermögen  und  auch  das  Recht,  eine 
überkommene,  in  der  Überzeugung  der  Menschheit  geheiligte  Ordnung 
anzugreifen  und  den  Aufbau  einer  neuen  zu  wagen;  das  Wirken 
aus  ursprünglicher  geistiger  Notwendigkeit  machte  ihn  zu  einem 
Helden,  an  dem  gemessen  Erasmus  mit  allem  überlegenen  Wissen, 
Geschmack  und  Scharfsinn  als  klein  erscheint 

Entscheiden  so  in  den  geistigen  Kämpfen  nicht  freischwebende 
intellektuelle  Erwägungen,  sondern  die  begründenden  Lebensprozesse 
und  der  Gehalt  der  von  ihnen  umspannten  geistigen  Wirklichkeit, 
so  sind  auf  sie  die  Gedankenmasseh  zurückzuführen,  so  hängt  aller 
wesentliche  Fortschritt  an  einer  Weitererschließung  jener  Wirklichkeit. 
So  vollzog  und  vollzieht  sich  die  Überwindung  alternder  Gedanken- 
massen nicht  durch  ein  plötzliches  Erscheinen  überlegener  Gründe, 
sondern  dadurch,  daß  die  Schranken  des  in  jenen  Gedankenmassen 
verkörperten  Lebens  bemerklich  werden,  neue  Konzentrationen  oder 
doch  Bewegungen  aufstreben,  durch  ein  frisch  sich  regendes  Leben 
das  in  scheinbar  sicherem  Besitz  Befindliche  veraltet  und  entwertet 
wird;  mag  es  äußerlich  den  früheren  Glanz  behaupten,  es  verliert 
die  Herrschaft  über  die  Seelen;  es  ist  geschlagen,  auch  wo  es  noch 
sicher  zu  herrschen  glaubt.  Daß  sich  so  die  Entscheidung  von  den 
Ideen  in  die  Energien,   von  den  intellektuellen  Erwägungen  in  die 


Theoretisch  —  praktisch.  53 

schöpferischen  Lebensentfaltungen  verlegt,  das  muß  zur  Vertiefung 
der  Arbeit  und  zur  Befestigung  des  Strebens  wirken.  Unvergleichlich 
größer  wird  das  Bild  des  geschichtlichen  Lebens,  wenn  hier  nicht 
sowohl  Lehren  gegen  Lehren  als  Lebensmächte  gegen  Lebensmächte 
stehen;  durchgängig  wird  das  Problem  beträchtlich  zurückverlegt, 
wenn  es  die  Wurzeln  der  Lehren  erst  zu  ermitteln,  die  letzten  Trieb- 
kräfte erst  aufzudecken,  den  entscheidenden  Punkt  des  Zusammen- 
stoßes erst  herauszustellen  gilt.  Aber  alle  Mühe  der  Arbeit  wird 
dann  von  der  Überzeugung  getragen  und  beseelt,  daß  im  Menschen- 
leben ursprünglichere  Kräfte,  tiefer  gegründete  Notwendigkeiten  walten, 
als  die  Gedankenarbeit  aus  eigenem  Vermögen  sie  aufbringen  kann. 

8.  Konsequenzen  für  die  Erkenntnisarbeit. 

Solche  Verbindung  der  Erkenntnisarbeit  mit  dem  Ganzen  des 
Geisteslebens  und  dem  Aufbau  einer  geistigen  Wirklichkeit  muß  für 
ihre  eigene  Gestaltung  eingreifende  Folgen  haben;  diese  seien  hier 
bei '  der  dringend  gebotenen  Beschränkung  nur  insofern  betrachtet, 
als  mit  der  Lösung  wichtige  Aufgaben  lösbar  oder  doch  angreifbar 
werden,  die  sich  sonst  einer  erfolgreichen  Behandlung  entziehen. 

Immer  noch  waltet  darüber  viel  Unsicherheit,  wie  die  Philosophie 
eine  selbständige  Aufgabe  gegenüber  den  einzelnen  Wissenschaften 
finden  könne.  Die  oft  erteilte  Antwort,  sie  solle  die  Ergebnisse 
jener  zur  Einheit  verbinden,  kann  nicht  genügen.  Denn  jene 
Einigung  ist  entweder  eine  bloße  Zusammenstellung,  dann  muß 
man  sehr  freigebig  mit  der  Bezeichnung  Wissenschaft  sein,  um  eine 
solche  Enzyklopädie  als  Wissenschaft  anzuerkennen,  oder  sie  bedeutet 
eine  Weiterbildung  und  Umwandlung,  dann  bedarf  es  eines  neuen 
Prinzipes,  aus  dem  eine  solche  hervorgehen  könnte.  Das  gesuchte 
Prinzip  kann  nun  weder  von  außen  gegeben  werden,  noch  aus 
bloß  intellektuellen  Bewegungen  entspringen,  es  muß  im  Ganzen 
des  Lebensprozesses  liegen.  Hier  erst  kommen  wir  auf  den  letzten 
Punkt,  der  uns  zugänglich  ist;  nach  seiner  Art  und  seinen  Erfahr- 
ungen muß  sich  das  Grundverhältnis  des  Menschen  zur  Wirklichkeit, 
sowie  die  Bedeutung  seines  Lebens  und  Seins  bestimmen;  erst  von 
hier  aus  kann  eine  Verbindung,  eine  Abschätzung,  eine  Weiterbildung 
der  Ergebnisse  der  einzelnen  Wissenschaften  erfolgen.  Dieser  Grund- 
prozeß tritt  uns  nicht  im  unmittelbaren  Eindruck  entgegen,  er  ist 
erst  herauszuarbeiten;  das  aber  ist  die  Aufgabe  der  Zentraldisziplin 
der  Philosophie,  die  von  alters  her  Metaphysik  heißt;  die  anderen 


64  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Disziplinen  haben  dann  die  neue  Beleuchtung  den  einzelnen  Ge- 
bieten zuzuführen.  Solche  Fassung  erklärt  auch  den  engen  Zu- 
sammenhang der  Philosophie  mit  der  Persönlichkeit  des  Menschen, 
ohne  jene  zu  einer  bloßen  Ausstrahlung  der  individuellen  Art  herab- 
zusetzen. Denn  das  Durchdringen  zu  jenem  Grundprozesse  kann 
nicht  erfolgen  ohne  Erweisung  einer  Kraft,  Weite  und  Tiefe  des 
Lebens;  insofern  ist  letzthin  das  Maß  des  Lebens  auch  das  Maß 
des  Denkens. 

Eine  wesentliche  Förderung  bringt  ferner  jene  Wendung  dem 
Probleme  der  Wahrheit.  Daß  auf  Wahrheit  endgültig  zu  verzichten 
wäre,  wenn  sie  eine  Übereinstimmung  unseres  Denkens  mit  einer 
draußen  befindlichen  Welt  bedeutete,  darüber  ist  heute  kein  Zweifel. 
Um  so  zweifelhafter  ist  das  Ja,  das  solchem  Nein  entgegentreten 
könnte.  Mit  der  Anknüpfung  an  den  Lebensprozeß  erhält  das 
Problem  eine  neue  Beleuchtung;  es  gibt  keine  intellektuelle  Wahr- 
heit ohne  eine  gesamtgeistige  Wahrheit,  diese  aber  bedeutet  nichts 
anderes  als  eine  Verwandlung  der  Welt  in  Eigenleben,  eine  innere 
Bewältigung  der  Wirklichkeit.  Das  hat  zur  Voraussetzung,  daß  über 
den  Menschen  hinaus  das  Geistesleben  den  letzten  Grund  der 
Wirklichkeit  bildet;  für  den  Menschen  aber  ist  die  Sache  ein  un- 
aufhörliches Streben  und  Weiterstreben,  ein  Vordringen  und  Empor- 
klimmen, ein  wachsendes  Ringen  mit  den  Widerständen  ungeistiger 
und  halbgeistiger  Art.  Innerhalb  dieses  Strebens  gibt  es,  wie  wir 
sahen,  keinerlei  fruchtbares  Erkennen  ohne  eine  Begründung  in 
Synthesen  des  Lebens.  Aber  diese  Synthesen  sind  bei  aller  Tat- 
sächlichkeit zunächst  nicht  mehr  als  Versuche,  erst  im  Kampf  mit 
der  Welt  drinnen  und  draußen  können  sie  ihr  Vermögen  erweisen; 
das  Erkennen  aber  hat  bei  solcher  Auseinandersetzung  eine  leitende 
Stellung,  es  ist  unentbehrlich  zur  Klärung  und  Prüfung,  unentbehrlich 
zur  Erringung  der  Allgemeingültigkeit,  zur  Austreibung  alles  Klein- 
menschlichen und  zur  Herausbildung  des  Weltcharakters  des  Geistes- 
lebens. Ein  solches  kritisches  Wirken  kann  es  nicht  üben  ohne 
ein  gewisses  Heraustreten  aus  der  Besonderheit  jener  Synthese,  aber 
die  Kritik  kann  nicht  weiterführen,  wenn  sie  nicht  einer  neu  auf- 
steigenden Synthese  dient. 

Als  weiteres  Problem  gehört  hierher  die  Frage  nach  einem 
festen  Ausgangspunkt  der  Erkenntnisarbeit.  Seit  der  unmittelbare 
Zusammenhang  des  Menschen  mit  der  sinnlichen  Welt  verloren 
ging,  ist  jene  Frage  unabweisbar  geworden.     Aber  vergeblich   hat 


Theoretisch  —  praktisch.  55 

das  Erkennen  einen  festen  Punkt  bei  sich  selbst  gesucht;  immer 
wieder  erschienen  unerwiesene  Voraussetzungen  in  dem,  was  als  das 
Letzte  und  Sicherste  auftrat.  Nicht  anders  ist  jener  feste  Punkt  zu 
erreichen  als  durch  eine  Zusammenfassung  des  ganzen  Lebens  zur 
Einheit  und  durch  eine  gleichzeitige  Verwandlung  in  eigene  Tat;  nur 
damit  kann  eine  axiomatische  Gewißheit  entstehen  und  auch  dem 
Erkennen  zugehen.  Für  den  im  Streben  befindlichen  Menschen 
bedeutet  diese  Einheit  stets  eine  Aufgabe;  eine  volle  Tatsache  könnte 
erst  das  Ende  des  Weges  bringen,  was  in  unabsehbarer  Ferne  liegt. 
Aber  das  Streben  selbst  wäre  unmöglich,  wenn  nicht  das,  was  für 
uns  Menschen  eine  unermeßliche  Aufgabe  ist,  im  Geistesleben  selbst 
die  begründende  Tatsache  wäre. 

Es  ist  ein  alter  Einwand  gegen  die  Philosophie,  daß  sie  lediglich 
Meinungen  neben  Meinungen  stelle  und  diese  im  Lauf  der  Jahr- 
tausende bis  zur  Unübersehbarkeit  anhäufe,  ohne  die  spätere  Leist- 
ung der  früheren  sicher  überlegen  zu  machen.  Gewiß  verbleibt  in  der 
Philosophie  ein  Element  der  Freiheit  und  der  Entscheidung,  sie  teilt 
mit  der  Religion,  der  Moral,  der  Kunst  und  allen  edlen  Dingen  die 
Eigenschaft,  immerfort  der  eigenen  Tat  zu  bedürfen  und  sich  nie- 
mandem aufzwingen  zu  lassen.  Aber  deshalb  wird  sie  noch  kein 
bloßes  Neben-  und  Nacheinander  menschlicher  Meinungen:  davor  be- 
hütet sie  sicher  die  Erkenntnis  ihres  engen  Zusammenhanges  mit  dem 
Streben  des  Menschen  nach  einer  geistigen  Wirklichkeit.  Das  bringt 
ihre  geschichtliche  Bewegung  in  enge  Verkettung  mit  der  Evolution 
des  geistigen  Lebens  in  der  Menschheit,  und  wie  die  Wendepunkte 
dieser  Evolution  fundamentale  Tatsachen  erschließen,  so  treiben  sie 
auch  die  philosophische  Arbeit  in  neue  Bahnen.  Unser  Verhältnis 
zu  den  großen  Problemen  kann  nicht  mehr  das  der  alten  Griechen 
sein,  seit  das  Christentum  so  durchgreifende  Wandlungen  im  Lebens- 
prozeß vollzogen,  so  schwere  Konflikte,  aber  auch  so  fruchtbare 
Tiefen  in  ihm  aufgedeckt  hat;  es  ist  aber  auch  dem  Mittelalter  ent- 
wachsen, seit  die  Neuzeit  schärfer  zwischen  dem  Menschen  und  der 
Welt  geschieden  und  das  Innenleben  zu  größerer  Selbständigkeit 
geweckt  hat.  Zeigt  solche  Erfahrung  nicht  den  Denker  in  enger 
Verbindung  mit  der  Geschichte  und  dem  Ganzen  der  Menschheit? 
Seine  Selbständigkeit  braucht  er  darüber  nicht  einzubüßen.  Denn 
was  die  Umgebung  dem  Menschen  zuführt,  sind  immer  nur  Mög- 
lichkeiten und  Anregungen;  eine  Wirklichkeit  und  eine  greifbare 
Gestalt  erwächst  daraus  nur  durch  eine  vordringende  Tat,  die  immer 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  5 


66  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

eine  Sache  des  Einzelnen  bleibt.  So  wird  das  eine  auf  das  andere 
angewiesen,  das  Ganze  aber,  das  beides  umspannt,  gewinnt  unver- 
kennbar an  Größe. 

£.  Konsequenzen  für  die  Behandlung  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Die  Anerkennung  solches  Zusammenhanges  der  Philosophie  mit 
dem  Ganzen  des  Lebens  muß  auch  auf  die  Behandlung  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  einen  starken  Einfluß  üben.  Nicht  mehr 
kann  es  genügen,  die  einzelnen  Systeme  in  ihrem  unmittelbaren 
Bestände  darzustellen  und  aneinanderzureihen,  sondern  zur  Aufgabe 
wird,  die  begründenden  Lebensinhalte  herauszuarbeiten  und  die 
Leistung  der  Denker  dadurch  in  größere  Zusammenhänge  zu  stellen. 
Nicht  sowohl  was  jene  sagten,  als  wie  sie  dazu  kamen,  es  zu  sagen, 
und  welche  geistige  Art  ihre  Aussprache  zeigte,  wird  jetzt  zum 
Hauptproblem.  Das  zwingt,  das  Verhältnis  des  Denkers  zu  seiner 
geschichtlichen  und  menschlichen  Umgebung  aufzuklären,  freilich 
nicht  in  der  Art  eines  landläufigen  kulturgeschichtlichen  Verfahrens, 
das  die  Dinge  auf  den  Kopf  stellt,  indem  es  das  Innere  vom 
Äußeren,  das  Große  aus  der  Summierung  des  Kleinen,  das  Ewige 
vom  Zeitlichen  herleitet.  Die  Bedeutung  der  einzelnen  Leistungen 
aber  wird  sich  nunmehr  danach  bemessen,  was  sie  für  die  Eröff- 
nung neuer  Tiefen,  für  die  Erweiterung  der  geistigen  Wirklichkeit 
taten.  In  diesem  Sinne  ist  alles  große  Denken  ein  Vordringen, 
Neubilden  und  Schaffen. 

Macht  solche  Zurückbeziehung  des  philosophischen  Strebens 
die  Behandlung  seiner  Geschichte  in  gewisser  Richtung  verwickelt, 
so  wirkt  sie  in  anderer  zur  Vereinfachung.  Denn  nach  jenem  Maß- 
stabe gemessen,  dürfen  nur  einige  wenige  Erscheinungen  in  Wahr- 
heit als  schöpferisch,  als  Weiterbildner  der  Substanz  des  Lebens 
gelten;  auch  heben  sich  dann  aus  der  scheinbar  chaotischen  Fülle 
einige  wenige  Typen  hervor,  die  bei  aller  Veränderung  der  Lagen 
wie  der  Begriffe  in  der  Hauptsache  immer  wiederkehren.  So  mag 
sich  schärfer  ein  Kern  von  der  bloßen  Umhüllung  scheiden.  Das> 
meiste  aber,  was  der  unmittelbare  Anblick  zeigt,  ist  bloße  Um- 
gebung: subtile  Erörterung,  Gelehrsamkeit  verschiedener  Art,  mehr 
oder  minder  geistreiches  Räsonnement,  alles  das  tauglich  zur  Be- 
schäftigung der  Menschen,  untauglich  zur  Erhöhung  des  Geistes- 
lebens. Wir  sind  ärmer  und  reicher,  als  wir  gewöhnlich  meinen, 
ärmer  im  Umfang,  reicher  im  Inhalt  unseres  Besitzes. 


Theoretisch  —  praktisch.  57 

Endlich  mag  jene  Zurückverlegung  auch  der  Überschätzung  der 
bloßen  Form  des  Systems  entgegenwirken,  die  leicht  von  der  Haupt- 
sache ablenkt.  Die  Bedeutung  der  systematischen  Form  sei  keines- 
wegs unterschätzt.  Die  Verkettung  zum  System  drängt  die  einzelnen 
Sätze  enger  zusammen,  sie  treibt  die  Widersprüche  schärfer  heraus, 
sie  wirkt  zur  gleichmäßigen  Durchbildung,  zur  Organisation  der  Ge- 
dankenwelt. Aber  das  alles  tut  sie  nur  unter  Voraussetzung  eines 
lebendigen  und  belebenden  Inhaltes,  den  nur  Synthesen  und  Energien 
des  gesamten  Lebens  erzeugen.  Fehlt  solcher  Inhalt,  so  kann  alle 
logische  Kraft  und  Geschicklichkeit  in  Aufbau  und  Anordnung  das 
System  nicht  vor  einem  Sinken  zu  einem  leeren  Gehäuse  bewahren. 
Wie  viel  durchgearbeiteter  ist  Wolffs  System  als  das  von  Leibniz, 
ist  jener  damit  der  größere  Philosoph?  Augustin  wurde  schon  durch 
die  schroffen  Widersprüche  seines  Wesens  an  einem  systematischen 
Ausbau  seiner  Gedanken  verhindert,  und  doch  hat  er  durch  seine 
Weiterbildungen  der  Geisteswelt  auch  auf  die  Gedankenarbeit  so 
stark  gewirkt  wie  wenig  andere.  Auf  jenes  Wesentliche,  auf  die 
schaffende  Kraft  und  den  treibenden  Kern,  sei  also  vornehmlich  das 
Augenmerk  gerichtet,  der  bloßen  Form  aber  nicht  mehr  gegeben 
als  ihr  gebührt. 

Doch  genug  der  Erörterungen;  auch  bei  weiterer  Ausführung 
würden  sie  bloße  Ausschnitte  aus  einem  größeren  Gedankenkreise 
bleiben.  Wir  verweilten  hier  et\('as  länger,  weil  der  Nachweis  wichtig 
schien,  daß  das  eigene  Interesse  der  Erkenntnisarbeit  über  die  bloße 
Erkenntnisarbeit  hinaustreibt.  Zugleich  aber  wurde  ersichtlich,  daß  es 
nach  einer  anderen  Richtung  treibt  als  nach  der  des  Voluntarismus. 
Vielleicht  stehen  manche  der  Männer,  die  Voluntaristen  zu  heißen 
pflegen,  dem  nahe,  was  wir  versuchen.  Solche  Übereinstimmung 
könnten  wir  nur  freudig  begrüßen.  Aber  wie  immer  es  mit  den 
Persönlichkeiten  stehen  mag,  der  Unterschied  einer  Verschiebung 
innerhalb  des  Seelenlebens  und  einer  Erhebung  über  alles  empirische 
Seelenleben  sei  in  keiner  Weise  verdunkelt. 


Idealismus  —  Realismus. 

a)  Die  Ausdrücke. 

I  |ie  Ausdrücke  Idealismus  und  Realismus  sind  durch  übermäßigen 
*-^  Gebrauch  so  verschliffen  und  abgegriffen,  daß  sie  für  die 
Wissenschaft  fast  unbrauchbar  geworden  sind.  Aber  immerhin  ver- 
treten sie  einen  alten  und  bleibenden  Gegensatz,  der  zugleich  eine 
bewegende  Frage  der  Gegenwart  ist.  Wegen  solcher  Beziehung 
mögen  zunächst  die  Termini  kurz  erläutert  sein. 

Das  Wort  Idealist  taucht  in  der  Philosophie  zuerst  gegen  das 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  auf;^  wenn  Leibniz  das  Wort  im  Gegen- 
satz zu  Materialist  (s.  186a  Erdm.)  verwendet  wie  sonst  Formalist, 
so  denkt  er  dabei  an  Philosophen,  welche  wie  Plato  und  Aristoteles 
in  der  Form  das  Wesen  der  Dinge  sehen.  Alsbald  aber  übte  die 
moderne  Bedeutung  des  Wortes  Idee  eine  Wirkung  auch  hierher. 
Aus  einer  urbildlichen  Form  wurde  Idee,  zuerst  in  der  französischen 
Sprache,  zur  bloßen  Vorstellung,  zu  einem  subjektiven  Gedankenbilde; 
durch  Descartes  und  Locke  drang  —  nicht  ohne  Widerspruch  -  die 
Neuerung  auch  in  die  Philosophie;  Idealismus  bedeutete  dann  ein 
System,  das  alle  Wirklichkeit  jenseit  der  Vorstellungen  und  damit 
die  Realität  einer  Außenwelt  leugnet.  Im  besonderen  wurde 
Berkeley's  Lehre  mit  jenem  Ausdruck  bezeichnet.  Und  zwar  ge- 
wöhnlich in  tadelndem  Sinn  als  eine  Verflüchtigung  der  Wirklich- 
keit So  rechnet  Wolff  die  Idealisten  samt  den  Materialisten  und 
Skeptikern  zu  den  «drei  schlimmen  Sekten"  (s.  Wolff  von  seinen 
Schriften  S.  583);  durchgängig  war  man  bis  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 


^  Näheres  darüber  s.  Vaihinger  in  den  „Straßburger  Abhandlungen  zur 
Philosophie"  S.  94  ff.  In  der  Kunsttheorie  scheint  der  Ausdruck  noch  weiter 
zurückzureichen.  Wenigstens  ward  mir  von  befreundeter  Seite  die  mir  hier 
nicht  kontrollierbare  Notiz  mitgeteilt,  daß  schon  in  Pacheco's  arte  de  la 
Pintura  (Sevilla  1649)  Idealist  zur  Bezeichnung  einer  Kunstrichtung  dient. 


Idealismus  —  Realismus.  69 

hunderts  ebenso  eifrig  darauf  bedacht,  sich  gegen  den  Idealismus 
zu  verwahren,  als  später,  sich  zu  ihm  zu  bekennen.^  Als  Gegen- 
stück zu  Idealismus  in  diesem  Sinne  bedeutete  dem  18.  Jahrhundert 
Realismus  die  Behauptung  einer  außerhalb  des  Denkens  befindlichen 
Welt.  2  Durch  Herbart  und  seine  Schule  hat  sich  diese  Bedeutung 
der  Ausdrücke  durch  das  19.  Jahrhundert  hindurch  bis  zur  Gegen- 
wart erhalten. 

Dann  aber  bewirkte,  wie  bei  vielen  Ausdrücken,  so  auch  hier 
die  Kantische  Philosophie  eine  wesentliche  Verschiebung. ^  Kant  selbst 
folgt  zunächst  noch  der  herkömmlichen  Terminologie  und  stellt 
daher  (z.  B.  in  der  Vorrede  zur  2.  Aufl.  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft) den  Idealismus  mit  dem  Skeptizismus  zusammen.  Die  Präg- 
ung des  Ausdruckes  transzendentaler  (auch  formaler  oder  kritischer) 
Idealismus  erfolgt  im  Hinblick  nicht  auf  Plato,  sondern  auf  Berkeley; 
seinem  »empirischen",  „materiellen",  „psychologischen«  Idealismus 
stellt  er  einen  neuen  Idealismus  entgegen,  der  die  Existenz  von 
Dingen  jenseit  der  Vorstellung  keineswegs  leugnet  oder  bezweifelt, 
der  aber  die  Formen  der  Anschauung  und  des  Denkens  für  bloß- 
subjektiv  erklärt;  damit  werden  alle  Gegenstände  einer  uns  mög- 
lichen Erfahrung  zu  bloßen  Erscheinungen,  „die  außer  unseren  Ge- 
danken keine  an  sich  gegründete  Existenz  haben."  Diese  Verschieb- 
ung enthält  insofern  einen  fruchtbaren  Keim  zur  Weiterbildung,  als 
den  Träger  der  Formen,  das  Subjekt  der  Erkenntnis,  dabei  nicht 
sowohl  der  Einzelmensch  in  seiner  Besonderheit  als  die  gemeinsame 
Struktur  unseres  Wesens,  die  geistige  Organisation  des  Menschen 
bildet.  Indem  sich  so  das  Problem  aus  der  Psychologie  in  die 
Geisteslehre  verlegte,  konnten  bald  in  weiterem  Sinne  Idealisten  alle 
heißen,  welche  die  Überlegenheit  der  geistigen  Tätigkeit  gegen  die 
Macht  der  Außenwelt  verfechten.  So  schreibt  z.  B.  Schiller  an 
W.  von  Humboldt  (Briefw.  S.  485):  „Am  Ende  sind  wir  ja  beide 
Idealisten  und  würden  uns  schämen,  uns  nachsagen  zu  lassen,  daß 


^  Wolff  (de  differentia  nexus  rerum  sapientis  et  fatalis  necessitatis  S.  75) 
will  in  keiner  Weise  Plato  zu  den  Idealisten  gerechnet  wissen;  wohl  nenne 
er  die  Körperwelt  Erscheinung,  aber  er  verstehe  darunter  keineswegs  mit  den 
Idealisten  eine  bloße  Vorstellung. 

*  Im  Mittelalter  bildete  bekanntlich  Realismus  den  Gegensatz  zu  Nomi- 
nalismus; seine  Anhänger  hießen  gewöhnlich  reales;  realista  erwähnt  Prantl 
(Geschichte  der  Logik  IV,  221)  zuerst  bei  Petrus  Nigri  (um  1475). 

^  Näheres  darüber  s.  Trendelenburg,  Logische  Untersuchungen,  3.  Aufl. 
II,  512  ff. 


70  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

die  Dinge  uns  formten  und  nicht  wir  die  Dinge".^  Zur  Durch- 
setzung dieser  Bedeutung  hat  niemand  kräftiger  gewirkt  als  Fichte. 
In  deutlicher  Verwandtschaft  damit,  aber  zugleich  in  eigentüm- 
licher Färbung,  verwendet  den  Ausdruck  der  deutsche  Neuhumanis- 
mus, diese  neueste  Phase  der  Renaissance.  So  erklärt  die  ge- 
dankenreiche Abhandlung,  mit  der  F.  A.  Wolf  das  „Museum  der 
Altertumswissenschaft"  (1807)  eröffnet,  als  die  „erste  Bedingung  aller 
höheren  Ausbildung"  die  »ideale  Richtung  des  Geistes";  er  ver- 
steht aber  darunter  gemäß  seinem  Lieblingsspruch,  daß,  „überall 
das  Nützliche  zu  suchen  ganz  und  gar  nicht  für  großgesinnte  und 
freie  Menschen  paßt"  (Aristot.,  Polit.  1338  b2),  das  Streben  nach 
einer  harmonischen  Entfaltung  aller  Geisteskräfte  allein  ihrer  selbst, 
nicht  irgendwelcher  Folgen  wegen,  die  Richtung  des  Lebens  nicht 
auf  das  Nützliche,  sondern  das  Schöne.  Diese  Fassung  des  Idealis- 
mus hat  durch  Persönlichkeit  und  Lebenswerk  niemand  mehr  ge- 
fördert als  Goethe,  mit  so  gutem  Rechte  er  in  anderer  Hinsicht  sich 
einen  Realisten  nannte.  Der  Sprachgebrauch  des  19.  Jahrhunderts 
läßt  die  philosophische  und  die  künstlerische  Fassung  in  eins  zu- 
sammenfließen; indem  so  der  Idealismus  ein  Bekenntnis  zur  Selbst- 
tätigkeit und  zum  Selbstwert  des  Geisteslebens  wird,  tritt  an  die 
Stelle  des  erkenntnistheoretischen  Schulproblems  des  1 8.  Jahrhunderts 
eine  alte  und  bleibende  Frage  der  Menschheit. 

b)  Zum  Kampf  der  Lebensgestaltu,ngen. 

Die  Formulierung  des  Gegensatzes  von  Idealismus  und  Realismus 
läßt  verschiedene  Fassungen  zu,  die  in  der  Sache  aber  alle  auf  das- 
selbe hinauskommen.  Ist  der  Hauptstandort  des  Lebens  die  sichtbare 
oder  eine  unsichtbare  Welt,  und  sind  die  Hauptziele  des  Lebens  hier 


^  Besonders  eingehend  hat  sich  Schiller  mit  den  Ausdrücken  in  der 
Abhandhmg  ,,Über  naive  und  sentimentalische  Dichtung"  beschäftigt.  Als 
Realist  gilt  ihm  hier,  wer  sich  durch  die  Notwendigkeit  der  Natur  bestimmen 
läßt,  als  Idealist,  wer  sich  durch  die  Notwendigkeit  der  Vernunft  bestimmt. 
Die  Schulgelehrten  empfanden  die  Wandlung  wohl  und  widerstrebten  ihr. 
So  sagt  Plattner  (Phil.  Aphorismen  I,  412):  „Man  fängt  itzt  an,  den  Begriff 
des  Idealismus  gar  zu  weit  auszudehnen.  Der  zeither  gewöhnlich  gewesenen 
Bestimmung  nach  ist  es  dasjenige  System,  welches  das  Dasein  alles  dessen 
leugnet,  was  nicht  Geist  ist."  —  „So  wie  man  itzt  den  Idealismus  versteht, 
wären  alle  die,  welche  die  Sinnenwelt  als  eine  Erscheinung  betrachten,  mit 
anderen  Worten  alle  Philosophen  ohne  Ausnahme  Idealister." 


Idealismus  —  Realismus.  71 

oder  dort  zu  suchen?  Entwickelt  sich  im  Menschen  ein  Leben,  das 
sich  nicht  als  eine  Fortführung  der  Natur,  sondern  nur  als  eine 
wesentlich  neue  und  höhere  Stufe  der  Wirklichkeit  verstehen  läßt, 
oder  ist  alle  geistige  Betätigung  nur  eine  Begleiterscheinung  oder 
ein  Werkzeug  eines  seinem  Kerne  nach  naturhaften  Lebens?  Hat 
der  Mensch  kein  anderes  Ziel  als  die  Erhaltung  und  Pflege  des 
menschlichen  Kreises,  wie  er  im  unmittelbaren  Dasein  vorliegt,  oder 
gewinnt  das  Menschenleben  einen  Sinn  und  Wert  nur  durch  das 
Teilhaben  an  einer  allem  bloßmenschlichen  Befinden  überlegenen 
Ordnung?  Ist,  wo  die  gewöhnliche  Ansicht  die  Wirklichkeit  in 
niedere  und  höhere  Stufen  scheidet,  das  Höhere  vom  Niedern  her 
zu  erklären  und  damit  zu  ihm  zurückzuziehen,  oder  bildet  das 
Höhere  den  Schlüssel  zum  Verständnis  des  Niedern?  Der  Gegensatz, 
der  durch  alle  diese  Fassungen  hindurchscheint,  muß  das  Leben 
vom  Größten  bis  zum  Kleinsten,  im  Denken  wie  im  Handeln,  in 
Gehalt  und  Wert  bis  in  alle  einzelnen  Gebiete  hinein  grundver- 
schieden, ja  entgegengesetzt  gestalten.  Das  wird  auch  für  den  Begriff 
der  Wirklichkeit  selber  gelten,  und  es  wird  sich  der  Idealist  mit  Fug 
und  Recht  dagegen  sträuben,  nach  dem  Wirklichkeitsbegriff  des 
Realismus  gemessen  zu  werden.  Das  aber  geschieht,  wenn  die  Welt 
des  Idealismus  zu  einer  gegebenen  und  gesicherten  Welt  nur  hinzu- 
kommen scheint,  wenn  sie  wie  ein  bloßer  Zusatz  und  Schmuck  be- 
handelt wird;  demgegenüber  wird  der  Idealist  darauf  bestehen,  daß 
seine  Gedankenwelt  allererst  den  Begriff  einer  Welt  und  einer 
Wirklichkeit  möglich  mache,  und  daß  die  sinnliche  Welt  einen  Halt 
wie  einen  Wert  nur  aus  jener  gewinne. 

Dem  Idealismus  ergeht  es  hier  oft  ähnlich  wie  der  Religion.  So 
lange  diese  das  Leben  beherrschte,  galt  ihre  Welt  als  die  allernächste 
und  unbestreitbare,  ein  Augustin  überwand  alle  Zweifel  von  der 
Idee  eines  höchsten  Wesens  aus,  und  ein  Thomas  von  Aquino  nannte 
die  überirdische  Welt  schlechtweg  das  Vaterland  (patria).  Erst  nachdem 
die  Stellung  der  Religion  erschüttert  und  ihr  Inhalt  verblaßt  war, 
konnte  bei  ihr  der  Gedanke  der  Jenseitigkeit  und  der  Transzendenz 
in  den  Vordergrund  treten.  Wie  sie  in  Wahrheit  schon  aufgegeben 
ist,  wo  sie  in  erster  Linie  als  transzendent  erscheint,  so  ist  auch  die 
Sache  des  Idealismus  schon  verloren  gegeben,  wenn  seine  Welt  als 
eine  ferne  und  fremde,  durch  mühsame  Gedankengänge  erst  zu  er- 
schließende gilt. 

Den  Gegensatz  aber  in  solcher  Schärfe  denken,  das  heißt  alle 


72  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Vermittlung  zur  Unmöglichkeit  machen,  auch  den  sog.  Realidealismus, 
falls  er  eine  solche  bedeuten  will.  Wohl  mag,  ja  muß  der  Idealist 
sich  die  Tatsachen  anzueignen  streben,  auf  die  sich  der  Realist  stützt, 
und  dieser  wird  das  in  umgekehrter  Richtung  tun.  Beide  aber  tun 
es,  indem  sie  den  Tatbestand  von  ihrer  Überzeugung  aus  neu  be- 
leuchten und  umgestalten,  das  aber  ist  weniger  ein  Ausgleichen  als 
ein  Vertiefen  des  Gegensatzes. 


a.  Der  Realismus  des  19.  Jahrhunderts. 

Zu  einer  Untersuchung  des  Problems  drängt  zwingend  die  Tat- 
sache, daß  der  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  den  alten  Streit  in  eine 
neue  Phase  gebracht  hat.  ,  Bis  dahin  suchte  das  Kulturleben  seine 
Aufgaben  vornehmlich  in  der  Richtung  des  Idealismus;  vor  allem 
tat  es  die  überkommene  religiöse  Lebensführung,  aber  auch  die 
neuere  Kultur  hatte  bis  dahin  die  Lebensarbeit  vornehmlich  von 
innen  her  geführt  und  den  Forderungen  des  Denkens  die  äußeren 
Verhältnisse  zu  unterwerfen  gesucht.  Es  fehlte  dabei  nie  an  einer  Gegen- 
wirkung realistischer  Art,  aber  sie  bot  weniger  eine  charakteristische 
Gestaltung  des  Ganzen  als  sie  ein  zäher  Widerstand  der  Individuen 
war,  die  von  den  Freuden  und  Leiden  der  sinnlichen  Welt  viel  zu 
stark  festgehalten  wurden,  um  sich  zur  geforderten  Höhe  des  Lebens 
aufschwingen  und  auf  ihr  halten  zu  können.  Eine  solche  Gegen- 
wirkung von  lauter  Kleinkräften  hatte  bemessene  Grenzen.  Mochte 
sie  unablässig  zur  Abbröcklung  und  Herabdrückung  wirken,  keines- 
wegs war  sie  im  stände,  den  Idealismus  durch  Entgegenhaltung  eines 
neuen  Lebenssystems  bis  zum  Grunde  zu  erschüttern.  Das  aber  ist 
es,  was  der  Realismus  des  19.  Jahrhunderts  unternommen  hat;  die 
nächste  Welt,  so  ist  seine  Meinung,  kann  alle  Ziele  der  Menschheit 
aufnehmen  und  alle  Wünsche  erfüllen,  ohne  sie  gegen  die  her- 
kömmliche Fassung  des  Idealismus  herabzustimmen.  Solches  Unter- 
nehmen ist  mehr  als  eine  andere  Deutung,  eine  neue  Zurechtlegung 
des  überkommenen  Tatbestandes,  es  schöpft  seine  Kraft  vornehmlich 
aus  der  Tatsache,  daß  die  Welt  des  unmittelbaren  Daseins  der 
Menschheit  mehr  geworden  ist  als  je  zuvor.  Nur  weil  der  neue 
Realismus  dem  Idealismus  eine  neue  Wirklichkeit  entgegenhält,  kann 
er  das  Denken  und  Streben  der  Menschheit  zu  gewinnen  hoffen. 
So  stoßen  hier  nicht  sowohl  Lehren  als  Wirklichkeiten  zusammen, 
eine  Bestätigung  der  Behauptung  des  vorigen  Abschnittes,   daß  der 


Idealismus — Realismus.  73 

Kampf  der  Geister  nicht  sowohl  auf  die  Deutung  als  auf  die  Ge- 
staltung des  Tatbestandes  geht. 

Zur  Steigerung  der  nächsten  Wirklichkeit  verbinden  sich  im 
19.  Jahrhundert  die  mannigfachsten  Bewegungen.  Weit  tiefer  hat  uns 
die  Natur  in  ihr  Gewebe  einblicken  lassen,  weit  mehr  beschäftigt  sie 
das  Tun  und  beherrscht  sie  das  Denken;  den  Gewinn  des  Wissens 
aber  verwandelt  das  technische  Geschick  alsbald  in  einen  Gewinn 
für  das  Leben  und  bringt  diesem  die  erfreulichste  Bereicherung,  Be- 
schleunigung und  Kräftigung;  ein  staunenswertes  Wachstum  mensch- 
lichen Vermögens  treibt  mehr  und  mehr  das  starre  Schicksal  aus 
der  Welt  und  nimmt  selbst  den  Widerständen  ihre  Bitterkeit,  indem 
es  sie  in  einen  Antrieb  zur  Tätigkeit,  eine  Aufforderung  zur  Über- 
windung verwandelt.  Zugleich  eröffnet  das  menschliche  Zusammen- 
sein größere  und  größere  Aufgaben.  Immer  mehr  überzeugen  wir 
uns,  wie  viel  die  Gestaltung  des  gemeinsamen  Lebens  bedeutet,  und 
wie  hier  gegenüber  dem  vorgefundenen  Stande  eine  erhebliche 
Steigerung  möglich,  eine  Hebung  der  Wohlfahrt  und  ein  allgemeineres 
Glück  erreichbar  ist.  Wie  innerhalb  der  Staaten  die  einzelnen  Kräfte 
zu  einer  freieren  und  volleren  Betätigung  gelangen,  so  findet  zugleich 
das  Eigentümlich  und  Unterscheidende  der  Völker  eine  bereitwillige 
Anerkennung,  die  Ausbildung  nationaler  Art  läßt  Gesinnungen  und 
Kräfte  erstarken.  Auf  wirtschaftlichem  Gebiet  trifft  das  Streben  nach 
gleichmäßigerer  Verteilung  der  Güter  mit  schweren  Verwicklungen 
aus  der  technischen  Gestaltung  der  Arbeit  zusammen  und  erzeugt 
unermeßliche  Leidenschaften;  die  Macht  der  materiellen  Lebens- 
bedingungen gelangt  nun  zuerst  zu  deutlicher  Anschauung  und  voller 
Würdigung;  auch  die  innere  Lage  wie  das  Glück  des  Lebens 
scheint  an  diesem  Probleme  zu  hängen.  Das  alles  ergänzt  und 
steigert  sich  gegenseitig,  die  Erfolge  wie  die  Probleme  dieses  neuen 
Lebens  schmieden  den  Menschen  immer  fester  an  die  unmittelbare  Welt. 

In  solchen  Leistungen  wächst  auch  der  Träger  der  Arbeit,  die 
Menschheit,  und  zwar  die  Menschheit  wie  sie  leibt  und  lebt,  nicht 
wie  eine  Gedankenwelt  sie  verklärte.  Geschichte  und  Gesellschaft 
in  neuem  Bilde  wirken  dahin  zusammen.  Im  Nebeneinander  wie 
im  Nacheinander  rücken  die  Kräfte  einander  näher,  verbinden  sich 
zu  gemeinsamem  Werk  und  gewinnen  das  Bewußtsein  einer  durch- 
gängigen Solidarität.  So  steht  vor  uns  in  großen  Zügen  die  Mensch- 
heit, wie  sie  sonst  zerstreute  Kräfte  verbindet,  den  Einzelnen  festen 
Zusammenhängen   einfügt,   das  Vermögen   des  Ganzen  unermeßlich 


74  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

steigert.  So  kann  sie  zum  Gegenstand  der  Verehrung  und  des 
Glaubens  werden,  so  kann  sie  alle  praktische  und  ethische  Betätigung 
des  Menschen  an  sich  zu  ziehen  suchen. 

Diese  neue  Denkweise  muß  alle  einzelnen  Gebiete,  wie  z.  B. 
Kunst  und  Wissenschaft,  eigentümlich  gestalten,  sie  gebietet  aber 
aller  Tätigkeit  den  engsten  Anschluß  an  die  Welt  um  uns.  Nur  die 
Berührung  mit  den  Dingen  scheint  die  menschlichen  Kräfte  von 
blasser  Möglichkeit  zu  lebendiger  Wirklichkeit  zu  führen,  während 
die  Ablösung  von  ihnen,  ein  Sicheinspinnen  der  Seele  in  ihr  eigenes 
Gewebe,  alles  Streben  schattenhaft,  matt  und  unwahr  macht.  So  ist 
es  das  Verlangen  nach  echter  Wirklichkeit,  das  hier  alle  Bewegung 
trägt  und  treibt;  in  solchen  Wandlungen  scheinen  alle  älteren,  alle 
idealistischen  Lebensgestaltungen  wie  Nebelgebilde  der  siegreichen 
Klarheit  eines  neuen  Tages  zu  weichen. 

ß.  Die  Schranken  des  neuen  Realismus. 

Ist  das  Licht  dieses  Tages  ohne  alle  Schatten  und  die  Wendung 
ohne  allen  Zweifel?  Daß  die  Sache  nicht  ganz  einfach  liegt,  zeigt 
das  eigene  Schicksal  der  realistischen  Lebenswelle.  Gewiß  hat  sie 
nicht  nur  die  menschliche  Meinung  überwältigend  fortgerissen,  sie 
hat  auch  die  Arbeit  ein  gewaltiges  Stück  gefördert,  sie  hat  in  unser 
Dasein  einen  rascheren  Fluß,  ein  mannhafteres  Ringen  mit  den 
Widerständen,  mehr  siegreiches  Vordringen  gegen  die  Unvernunft 
gebracht.  Aber  zugleich  hat  das  Anschwellen  der  Bewegung  Probleme 
erzeugt,  die  den  vom  Realismus  abgesteckten  Kreis  überschreiten 
und  die  Selbständigkeit  dieses  Kreises  gefährden.  Zur  ausschließ- 
lichen Wirklichkeit  des  Menschen  konnte  das  realistische  System  nur 
werden,  wenn  sich  alle  Verwicklungen  durch  den  eignen  Fortgang 
der  Arbeit  gelöst  hätten,  wenn  alle  selbständige  Innerlichkeit  mehr 
und  mehr  verschwunden,  und  der  Mensch  ganz  und  gar  in  ein 
Werkzeug  der  Arbeit  verwandelt  wäre.  Statt  dessen  hat  jener  Fort- 
gang deutlich  gezeigt,  daß  der  Mensch  keineswegs  in  die  bloße 
Arbeit  aufgeht.  Zunächst  hat  er  die  Arbeit  immer  mehr  in  einen 
harten  Kampf  ums  Dasein  verwandelt,  in  einen  Kampf  der  Individuen, 
Stände  und  Völker;  die  Gegensätze  sind  immer  schroffer,  die  Schlacht- 
linien immer  breiter  geworden.  Die  Leidenschaften  dieses  Kampfes 
verraten  deutlich  genug,  daß  hinter  der  Arbeit  empfindende  und 
glücksdurstige  Wesen  stehen,  die  von  der  Arbeit  etwas  begehren  und 
verlangen,  sei  es  selbst  auf  Kosten  der  Arbeit.    Läßt  sich  den  daraus 


Idealismus  —  Realismus.  75 

erwachsenden  Gefahren  begegnen,  ohne  die  Gesinnung  anzurufen, 
d.  h.  eine  Größe,   für  die  ein  strenger  Realismus  keinen  Platz  hat? 

Es  reichen  aber  die  Verwicklungen  über  den  Zusammenstoß  der 
arbeitenden  Kräfte  hinaus,  sie  scheinen  dem  eigenen  Wesen  der 
Arbeit  untrennbar  verbunden.  Die  Arbeit  entwickelt  immer  nur 
einen  Teil  der  menschlichen  Kräfte,  sie  entwickelt  einen  immer 
kleineren  Teil,  je  feiner  und  verzweigter  sie  wird;  immer  geringer 
wird  der  Bruchteil  des  Ganzen,  den  das  Individuum  zu  umspannen 
vermag.  Solches  Liegenlassen  von  Kräften,  solcher  Verzicht  auf  den 
ganzen  Menschen  müßte  dem  Realismus  gleichgültig  sein,  da  ihm 
alles  Leben  in  der  Berührung  mit  der  Umgebung  besteht;  der 
wirkliche  Mensch  aber  nimmt  jenen  Verzicht  nicht  gleichgültig 
hin,  sondern  er  empfindet  ihn  als  einen  Verlust  und  Schmerz.  Also 
ist  augenscheinlich  mehr  in  ihm,  als  der  Realismus  ihm  zuerkennt 
und  folgerichtig  zuerkennen  darf.  Weiter  bindet  die  Arbeit  den 
Menschen  an  die  Leistung,  ihr  gilt  alle  Kraft  als  verloren,  die  sich 
nicht  in  Leistung  umsetzt.  Damit  aber  richtet  sie  alles  Sinnen 
nach  außen,  macht  sie  gleichgültig  gegen  den  Stand  der  Seele,  ja 
kann  sie  einen  solchen  Stand  überhaupt  nicht  gelten  lassen.  Das 
Streben  nach  Leistung,  Erfolg  und  Anerkennung  muß  immer  mehr 
den  Menschen  aufsaugen  und  alles  selbständige  Seelenleben  unter- 
drücken, es  hat  es  in  Wirklichkeit  sehr  zurückgedrängt.  Aber  freuen 
können  wir  uns  solcher  Zurückdrängung  nicht,  vielmehr  empfinden 
wir  eine  peinliche  Leere;  wo  aber  eine  solche  Empfindung  erwacht, 
da  verfliegt  alsbald  die  Befriedigung  an  der  Arbeit,  und  sie  rückt 
uns  mit  allen  ihren  Erfolgen  in  eine  seelische  Ferne.  Beim  Ganzen 
der  Menschheit  entspricht  jener  völligen  Verwandlung  des  Daseins 
in  Arbeit  ein  Verblassen  eines  geistigen  Lebensgehaltes;  wo  nicht 
mehr  gemeinsame  Ideen  und  Überzeugungen  die  Menschheit  inner- 
lich zusammenhalten,  da  entschwindet  immer  mehr  eine  gemeinsame 
Gedankenwelt.  Darauf  aber  scheinen  wir  nicht  so  leicht  und  nicht 
ohne  schweren  Schaden  verzichten  zu  können,  denn  damit  hängt 
alles  zusammen,  was  unserem  Leben  einen  Selbstwert,  eine  Größe 
und  eine  Seele  gibt. 

Das  sind  nicht  bloße  Erwägungen  grüblerischer  Reflexion,  es 
sind  unbestreitbare  Erlebnisse  und  Erfahrungen  der  modernen  Mensch- 
heit Oder  kann  jemand  leugnen,  daß  alle  glänzenden  Triumphe 
der  Arbeit  ein  Aufkommen  und  Vordringen  einer  tiefen  Unzufrieden- 
heit, einer  pessimistischen  Lebensstimmung  nicht  verhindert  haben? 


76  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Das  19.  Jahrhundert  hat  den  Anblick  der  Welt  und  die  Lage  des 
Menschen  so  gefördert,  wie  kein  anderes  Jahrhundert;  so  ließ  sein 
Schluß  ein  stolzes  und  freudiges  Kraftgefühl  erwarten.  Wenn  der 
wirkliche  Anblick  der  Dinge  ein  völlig  anderer  ist,  so  enthält  gewiß 
die  Rechnung  einen  Fehler.  Dieser  aber  dürfte  darin  bestehen,  daß 
die  realistische  Lebensbewegung  die  Seele  eliminieren  wollte,  und 
die  Seele  sich  nicht  eliminieren  läßt;  der  Versuch  der  Verneinung 
selbst  hat  die  Seele  wieder  stärker  hervorgetrieben. 

y.  Kritik  der  überkommenen  Formen  des  Idealismus. 

Solche  Erfahrung  zwingt,  die  ganze  Frage  zu  revidieren  und 
Recht  und  Unrecht  bei  den  streitenden  Parteien  möglichst  zu  scheiden. 
Das  Verlangen  nach  voller  Wirklichkeit  des  Lebens  hätte  schwerlich 
soviel  Macht  erlangt,  wie  das  Vordringen  des  Realismus  sie  be- 
kundet, wenn  nicht  die  überkommenen  idealistischen  Lebensformen 
eine  solche  Wirklichkeit  hätten  vermissen  lassen.  So  aber  stand  es 
in  Wahrheit:  jene  Arten  des  Idealismus  wurzelten  nicht  mehr  fest 
im  eignen  Wesen  des  Menschen.  Es  waren  aber  dieser  Arten  vor- 
nehmlich zwei:  eine  religiöse,  die  zu  uns  vom  Christentum  durch 
seine  verschiedenen  Gestaltungen  wirkt,  und  eine  künstlerische,  die 
vom  Griechentum  her  einen  wenn  auch  oft  unterdrückten,  so  doch 
nie  ganz  versiegten  Lebensstrom  bildet. 

Die  religiöse  Lebensgestaltung  mit  ihrer  Begründung  des  mensch- 
lichen Daseins  auf  eine  überweltliche  Ordnung,  ihrer  Erhebung  von 
der  Zeit  zur  Ewigkeit,  von  allem  Außenleben  zu  einer  reinen  Inner- 
lichkeit behauptet  trotz  aller  Schwächung  immer  noch  eine  große 
Macht;  auch  wo  sie  abgelehnt  wird,  wirkt  sie  im  Verborgenen  fort. 
Ihre  seelische  Nähe  aber  und  ihre  sichere  Überzeugungskraft  hat 
sie  für  den  modernen  Menschen  verloren.  Sie  hat  sie  verloren 
schon  deshalb,  weil  zwischen  der  überkommenen  Gestalt  der  Religion 
und  der  modernen  Gedankenwelt  eine  tiefe  Kluft  entstand;  selbst 
wer  diese  Kluft  überbrücken  zu  können  hofft,  der  hat  nicht  mehr 
die  Unmittelbarkeit  und  die  volle  Gewißheit  des  alten  Glaubens. 
Wenn  aber  die  Religion  nicht  das  Allergewisseste  ist,  so  wird  sie 
leicht  zum  Allerungewissesten. 

Mehr  noch  hat  die  Religion  dadurch  an  Macht  verloren,  daß 
sie  dem  Menschen  der  Neuzeit  nicht  mehr  in  derselben  Weise  aus 
eigenen  Erfahrungen  hervorquillt  wie  dem  Christen  der  alten  Zeit. 
Dieser   Zeit    entsprang    die    Wendung    zur    Religion    aus    stärkster 


Idealismus  —  Realismus.  77 

Empfindung  menschlicher  Ohnmacht,  aus  einer  Erfahrung  unüber- 
windlicher Schranken  und  starrer  Widersprüche.  So  ließ  nur  die 
Wendung  zu  einer  Überwelt  eine  Rettung  des  geistigen  Selbst  er- 
warten, diese  Überwelt  wurde  daher  tieferen  Gemütern,  wie  einem 
Augustin,  die  nächste  und  sicherste  Welt,  der  schlechthin  feste  Stand- 
ort des  Lebens;  nur  als  ein  Abglanz  oder  ein  Symbol  jener  Welt 
behielt  das  nächste  Dasein  einen  Wert.  Die  Neuzeit  hingegen  ver- 
dankt ihr  Aufkommen  wie  ihre  Eigentümlichkeit  einem  jugendlichen 
Kraftgefühl,  einem  starken  Lebenstriebe  des  Menschen;  von  da  aus 
verwandelt  sich  ihm  die  Welt  in  eine  unermeßliche  Aufgabe,  in  deren 
Bearbeitung  er  selbst  sich  weitet  und  auch  innerlich  wächst;  hier 
fallen  alle  starren  Schranken  und  alle  endgültigen  Verzichte,  ihre 
eigene  Entwicklung  scheint  hier  die  Welt  zu  höchster  Vollendung 
zu  führen.  Vielleicht  liegt  die  Sache  nicht  ganz  so  einfach,  wie  der 
Anhänger  moderner  Denkart  es  meint,  vielleicht  wird  die  Kraft- 
entfaltung selbst  schließlich  unsere  Grenzen,  ja  unser  Unvermögen 
zur  ^Empfindung  bringen.  Aber  einstweilen  herrscht  das  Bewußtsein 
der  Stärke,  und  es  fehlt  zugleich  ein  eigener,  ein  unmittelbarer,  ein 
überwältigender  Antrieb  zur  Religion.  Damit  aber  verliert  sie  ihre 
zwingende  Kraft  und  sichere  Wahrheit. 

Größer  noch  ist  die  Gefahr  eines  Unwahrwerdens  beim  künst- 
lerischen Idealismus.  Er  suchte  die  Welt  nicht  von  einem  über- 
legenen Standort  her,  sondern  durch  ein  ihr  selbst  angehöriges 
Wirken  zu  vollenden:  die  Gestaltung,  die  in  Begegnung  von  Innerem 
und  Äußerem,  von  Seele  und  Welt  erfolgt,  schien  mit  ihrer  Form- 
gebung alle  Mannigfaltigkeit  des  Lebens  zusammenzufügen,  ihre 
einzelnen  Glieder  gegeneinander  abzugrenzen  und  zu  harmonischem 
Ebenmaß  zu  verbinden.  Alle  bloße  Naturkraft  wurde  damit  veredelt, 
das  Geistige  aber  aus  dem  dunklen  Schacht  der  Möglichkeit  zu 
tagesheller  Wirklichkeit  gefördert.  Mit  solcher  Leistung  hat  die 
künstlerische  Lebensform  ein  ebenso  tätiges  wie  vornehmes  Leben 
erzeugt,  sie  hat  das  menschliche  Dasein  gehoben  und  das  Gewebe 
der  Seele  verfeinert,  sie  hat  sich  als  unentbehrlich  zur  geistigen 
Durchbildung  des  Lebens  gezeigt.  Aber  ist  sie  stark  und  gehaltvoll 
genug,  um  es  ganz  ausfüllen  zu  können?  Gehört  nicht  eine  be- 
sondere Naturbegabung,  ein  schöpferisches  Vermögen  dazu,  um 
hier  den  Schwerpunkt  des  Lebens  zu  finden,  erwächst  daraus  nicht 
ein  Aristokratismus,  der  nicht  nur  die  anderen  ausschließt,  sondern 
sich    auch    solcher   Ausschließung    freut?     Muß    ferner    nicht    ein 


78  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

Mensch,  ein  Volk,  eine  Zeit  schon  in  der  Fülle  des  Lebens  stehen, 
um  im  Gestalten  Großes  zu  erfahren  und  Großes  zu  erreichen, 
müssen  sie  nicht  eine  Tiefe  der  Seele  irgend  besitzen,  um  sie  zur 
Gestaltung  fiihren  zu  können?  Wo  solche  Tiefe  fehlt,  da  bleibt 
jenes  künstlerische  Leben  an  die  Oberfläche  gebannt,  da  sinkt  es 
leicht  zu  einer  Tändelei,  zu  leerem  Scheine  herab.  Und  wenn 
endlich  die  schweren  Verwicklungen  und  harten  Widersprüche,  ja 
unheimlichen  Abgründe  des  menschlichen  Daseins  voll  anerkannt 
werden,  —  und  dahin  drängt  eben  die  Erfahrung  des  19.  Jahr- 
hunderts, —  kann  da  wohl  die  Kunst  den  Anspruch  behaupten, 
von  sich  aus  alle  Schwere  zu  heben,  alles  Trübe  in  Licht,  alles 
Leid  in  Freude  zu  verwandeln?  Kann  sie  es  aber  nicht,  so  mag 
sie  leicht  dahin  neigen,  jene  Unvernunft  abzuschwächen  und  das 
Dasein  möglichst  ins  Schöne  zu  malen.  Das  aber  weckt  bald  den 
Widerspruch  des  Wahrheitssinnes,  und  als  dessen  Vertreter  darf 
sich  der  Realismus  fühlen. 

Noch  augenscheinlicher  ist  sein  Recht  gegen  den  landläufigen 
Idealismus,  der  inmitten  aller  Erschütterung  und  Zerreibung  der 
besonderen  Formen  des  Idealismus  das  Allgemeine  der  Richtung 
festhält,  ohne  es  irgend  näher  zu  bestimmen  und  zu  begründen. 
Ein  solcher  Idealismus  schwärmt  für  etwas  „Höheres",  ohne  zu 
wissen,  was  dieses  »Höhere«  sei,^  er  preist  das  „Gute",  „Wahre", 
„Schöne",  ohne  über  ihren  Inhalt  irgendwelche  Rechenschaft  zu 
geben.  Vollauf  verständlich  ist  demnach,  daß  die  überkommenen 
idealistischen  Lebensformen  dem  neu  erwachten  Wahrheitsdrange 
nicht  genügen;  ob  freilich  der  Realismus  ihn  ebenso  völlig  be- 
friedigt, wie  er  ihn  eifrig  vertritt,  das  ist  eine  andere  Frage. 


*  „Höher"  ist  als  Lieblingsausdruck  für  eine  neue,  vermeintlich  vor- 
nehmere Denkweise  wohl  namentlich  in  der  Sturm-  und  Drangzeit  der 
deutschen  Literatur  aufgekommen.  Dann  suchte  mit  Vorliebe  die  Romantik 
dadurch  die  eigenen  Ziele  und  Begriffe  von  denen  des  Durchschnitts  zu 
scheiden,  so  verwenden  auch  Schleiermachers  Jugendschriften  das  Wort  sehr 
oft.  Man  spricht  von  „höherem"  Leben,  „höheren"  Gefühlen,  „höherer" 
Bildung,  „höherer"  Sittlichkeit  u.  s.  w.,  bis  der  Ausdruck  endlich  dem  Spott 
verfiel  („höherer  Blödsinn").  Der  soliden  und  klaren  Denkweise  Kants  wider- 
strebte der  Ausdruck  gründlich.  Als  Feder  ihm  einen  „höheren"  Idealismus 
zugeschrieben  hatte,  bemerkt  er  dagegen  (IV,  121  Hart.):  „Bei  Leibe  nicht 
der  höhere.  Hohe  Türme  und  die  ihnen  ähnlichen  metaphysisch -großen 
Männer,  um  welche  beide  gemeiniglich  viel  Wind  ist,  sind  nicht  für  mich. 
Mein  Platz  ist  das  fruchtbare  Bathos  der  Erfahrung." 


Idealismus  —  Realismus.  79 

5.  Erörterung  des  Wirklichkeitsproblemes. 

Eine  Wirklichkeit  des  Lebens  scheint  dem  Realismus  nur  er- 
reichbar durch  eine  fortwährende  Verkettung  des  Tuns  mit  der 
sichtbaren  Umgebung;  ob  in  Wahrheit  durch  eine  solche  Verkettung 
Wirklichkeit  für  den  Menschen  entsteht,  das  läßt  sich  sehr  bezweifeln. 
Denn  nur  um  eine  von  ihm  erlebte  oder  doch  erlebbare  Wirklich- 
keit kann  es  sich  handeln,  alle  andere  Wirklichkeit  liegt  außerhalb 
seines  Kreises  und  kann  ihn  in  keiner  Weise  kümmern.  Jene  Ver- 
kettung des  Tuns  mit  der  Umgebung  ergibt  nun  Leistungen  in 
Hülle  und  Fülle,  nicht  aber  ergibt  sie  damit  Erlebnisse;  zum  Er- 
lebnis wird  die  Leistung  erst,  indem  sie  auf  eine  Einheit  zurück- 
bezogen und  von  einem  Ganzen  des  Seelenlebens  umspannt  wird. 
Ein  solches  Seelenleben  aber  kann  der  Realismus  mit  seinen  Mitteln 
unmöglich  erklären,  und  doch  bedarf  er  seiner  aufs  dringendste 
für  sich  selbst.  Denn  er  entwickelt  die  ihm  eigentümliche  Welt 
nicht  aus  eigenem  Vermögen,  er  würde,  ausschließlich  auf  seine 
eigenen  Mittel  angewiesen,  wie  alle  inneren  Zusammenhänge,  so  alle 
Lebenssysteme  und  zugleich  sich  selbst  als  ein  Ganzes  zerstören. 
So  bildet  seine  stillschweigende  Voraussetzung  ein  Seelenleben,  das 
die  Mannigfaltigkeit  und  auch  den  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt 
umfaßt.  Erst  auf  Grund  solcher  Voraussetzung  läßt  sich  dartun, 
daß  die  Weltumgebung  für  den  Menschen  weit  mehr  bedeutet,  daß 
er  aus  ihr  weit  mehr  zu  gewinnen  vermag,  als  der  Durchschnitts- 
idealismus zugestand.  Dann  aber  wird  in  Wahrheit  der  Realismus 
von  einer'  Gedankenwelt  des  Idealismus  umsäumt,  ja  umspannt,  als 
Lebenssystem  ist  er  überhaupt  nicht  möglich  ohne  den  Idealismus. 
Wird  aber  zugleich  der  Seele  jede  Selbständigkeit  versagt  und  sie 
möglichst  von  draußen  abgeleitet,  so  entsteht  ein  schreiender  Wider- 
spruch; mag  er  sich  leidlich  verstecken  lassen,  unablässige  Er- 
schleichungen in  den  Begriffen  und  Lehren  verraten  ihn  bald. 

Betrachten  wir  das  System  Comtes,  des  größten  Denkers  des 
Realismus.  Es  ist  bei  der  Grundlegung  eifrigst  darauf  bedacht, 
aus  den  Begriffen  alles  zu  entfernen,  was  irgend  vom  Idealismus 
stammt.  Aber  sobald  es  vom  Entwurf  zur  Ausführung,  von  der 
Kritik  zum  Aufbau  vordringt,  verschiebt  sich  der  Anblick  der  Sache. 
Je  mehr  nämlich  jenes  geschieht,  desto  mehr  sehen  wir  jene  an- 
fänglichen Größen  sich  verändern  und  einer  idealistischen  Fassung 
nähern,   namentlich  wird  nur  mit  Hülfe  einer  solchen  Verwandlung 


80  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

der  kritische  Punkt  des  Überganges  vom  Erkennen  zum  Handeln 
überwunden  und  der  physische  Zwang  in  ein  moralisches  Sollen 
verwandelt.  So  ergibt  sich  schließlich  ein  Lebensganzes,  aber  es  ergibt 
sich  nur  mit  ständiger  Hülfe  desselben  Gegners,  an  dessen  Vernichtung 
die  Wahrheit  des  Lebens  zu  liegen  schien. 

Sollte  nun  wohl  eine  derartige  zwiespältige  Welt  die  Bedürfnisse 
des  Geisteslebens,  im  besonderen  das  ethische  Verlangen  befriedigen 
können?  Wiederum  mag  Comte  herangezogen  sein,  wiederum  voll- 
zieht er  einen  Umschlag,  nur  tut  er  es  hier  in  umgekehrter  Richtung. 
Der  Ausgangspunkt  nämlich  ist  idealistischer,  der  Abschluß  realist- 
ischer Art.  Die  tiefangelegte  Natur  des  Mannes  empfindet  die  Schäden 
der  Zeit  durchaus  im  Sinne  des  Idealismus,  er  nimmt  sie  so  schwer, 
daß  ohne  ein  Aufbieten  ursprünglichen  Schaffens,  ohne  eine  Mög- 
lichkeit durchgängiger  Erneuerung  alle  Gegenwirkung  verloren 
scheint.  Was  er  aber  vom  Realismus  her  als  Heilmittel  bringt,  ist 
dürftig  genug,  es  sind  Aufklärungen  über  die  Natur,  sowie  Ver- 
änderungen in  der  gesellschaftlichen  Organisation,  von  denen  jene 
Umwälzung,  jener  Sieg  des  Guten  erwartet  wird.  Das  kann  nicht 
geschehen  ohne  einen  krassen  Optimismus  gegenüber  dem  Menschen, 
sonst  würde  der  Widerspruch  zwischen  der  Größe  der  Aufgabe  und 
der  Kleinheit  der  Mittel  allzu  handgreiflich  werden.  Das  aber  ist 
typisch  für  den  Realismus:  entweder  er  nimmt  das  Lebensproblem 
sehr  flach,  oder  er  verwickelt  sich  in  Widersprüche,  die,  konsequent 
durchdacht,  ihn  selbst  zerstören.  Befriedigt  nun  wohl  ein  Lebens- 
system das  Verlangen  nach  Wahrheit  und  den  Durst  nach  Wirklich- 
keit, das  um  so  widerspruchsvoller  wird,  je  mehr  es  dem  Gesamt- 
befunde des  menschlichen  Lebens  gerecht  werden  will? 

Dieser  begrifflichen  Erörterung  entspricht  die  Erfahrung  der 
Menschheit  Die  Bewegung  zum  Realismus  erfolgte  innerhalb  einer 
geistigen  Atmosphäre,  welche  gänzlich  vom  Idealismus  gesättigt 
war.  Denn  mögen  dessen  Gestaltungen  in  dem  Besonderen 
ihrer  Behauptung  noch  so  erschüttert  sein,  die  Gesamtentwicklung 
der  Kultur  hat  in  jahrtausendlanger  Arbeit  ein  Allgemeineres  der 
Denkweise,  der  Empfindung  und  Schätzung  von  jener  Besonderheit 
abgelöst  und  es  tief  in  das  Ganze  des  Lebens,  auch  in  das  Innere 
der  Seele  einsickern  lassen;  das  umfängt  auch  die  realistische  Lebens- 
ordnung und  dient  ihr  zu  unablässiger  Ergänzung,  Milderung, 
Berichtigung.  Je  mehr  sich  aber  der  Realismus  zur  Selbständigkeit 
erhebt  und  seiner  Eigenart  bewußt  wird,  desto  gründlicher  muß  er 


Idealismus  —  Realismus.  81 

jene  idealistischen  Elemente  vertreiben.  Aber  zugleich  vollzieht  er 
eine  Selbstverengung  und  Selbstzerstörung,  aus  dem  äußeren  Sieg 
wird  eine  innere  Niederlage.  Bei  solcher  weltgeschichtlicher  Dialektik 
wäre  der  Verlauf  der  Sache  mit  voller  Ruhe  zu  betrachten,  und  es 
könnte  das  gewaltige  Wechselspiel  der  Gedankenmassen  reine  Freude 
bereiten,  wenn  es  sich  nur  um  ein  Schauspiel  handelte.  Aber  es 
handelt  sich  um  das  Geschick  des  Menschen,  um  Vernunft  oder 
Unvernunft  seines  Daseins,  um  den  Gewinn  oder  Verlust  einer  Seele. 
Und  das  läßt  sich  nicht  so  ruhig  betrachten. 

s.  Die  Notwendigkeit  eines  neuen  Idealismus. 

So  wenig  der  Realismus  mit  seiner  Daseinskultur  uns  befrie- 
digen kann,  viel  zu  viel  hat  sich  im  Bestände  des  Lebens  verändert, 
als  daß  eine  einfache  Rückkehr  zum  alten  Idealismus  möglich  wäre. 
Nicht  bloß  ist  draußen  und  drinnen  weit  mehr  Unvernunft  zutage 
getreten  als  jenem  Idealismus  vor  Augen  stand,  auch  die  weite  Aus- 
delyiung  starrer  Tatsächlichkeit  und  blinder  Gleichgültigkeit  des  Welt- 
laufs gegen  die  Zwecke  des  Geisteslebens  hat  für  uns  eine  viel  zu 
eindringliche  Nähe  und  Gegenwart,  als  daß  wir  darüber  so  rasch 
hinwegkommen  könnten  als  jener.  Sind  aber  die  Verwicklungen 
und  die  Widerstände  so  sehr  gewachsen,  so  muß  sich  auch  die 
Gegenwirkung  verstärken,  so  muß  sich  der  Idealismus  zu  größerer 
Tiefe  zurückverlegen  und  eine  festere  Grundlage  suchen.  Er  wird 
das  aber  nur  können,  wenn  zur  Anerkennung  gelangt,  daß  bei 
ihm  nicht  die  Aufbringung  besonderer  Leistungen,  nicht  eine  Ent- 
faltung des  Lebens  nach  besonderen  Richtungen,  sondern  die  Er- 
reichung eines  wesen-  und  wahrhaften  Lebens  schlechthin  in  Frage 
steht,  daß  es  kein  Selbstleben  und  damit  überhaupt  kein  echtes 
Leben  ohne  eine  das  Dasein  begründende  Tiefe  und  ihre  Aneig- 
nung gibt  Zugleich  aber  muß  eine  schärfere  Abhebung  des  Geistes- 
lebens vom  Stande  des  bloßen  Menschen  erfolgen.  Der  Welt  der 
Natur  und  des  sichtbaren  Daseins,  die  uns  mit  überlegener  Macht 
umfängt,  kann  die  geistige  Betätigung  gewachsen  nur  werden,  wenn 
sie  eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit,  ein  Gesamtleben  der  Geistes- 
welt vertritt  und  aus  seinen  Kräften  schöpfen  darf.  Sonst  fehlt  dem 
Idealismus  ein  fester  Halt  und  ein  gutes  Recht;  nur  wenn  eine 
bei  sich  selbst  befindliche  Geisteswelt  in  uns  wirkt  und  uns  zu  er- 
füllen vermag,  wird  die  dem  Idealismus  wesentliche  Forderung  ver- 
ständlich und  erfüllbar,  daß  die  Größen  und  Güter  der  neuen  Welt 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  6 


140095 


82  Zum  Grundbegriff  des  Geisteslebens. 

als  allen  Zwecken  der  Menschen  unvergleichlich  überlegen  und  als 
unabhängig  von  allem  menschlichen  Mögen  und  Meinen,  von  allem 
menschlichen  Tun  und  Treiben  behandelt  werden;  nur  dann  wird  es 
möglich,  daß  nicht  sie  ihre  Wahrheit  vom  Menschen  erhalten,  son- 
dern daß  sich  nach  ihnen  bemißt,  wie  viel  Wahrheit  sein  Leben 
hat.  Die  Menschheit  zum  Maß  des  Wahren  und  Guten  machen, 
das  heißt  diese  innerlich  zerstören;  wie  aber  ist  über  die  Mensch- 
heit hinauszukommen,  wenn  das  unmittelbare  Dasein  als  die  ganze 
Wirklichkeit  giltpi  Durch  alle  Verdunklung  und  Abschwächung  der 
Sache  wird  immer  wieder  die  eine  Frage  hervorbrechen  und  eine 
Entscheidung  fordern,  ob  all  unser  Streben  lediglich  dem  mensch- 
lichen Wohlsein,  der  menschlichen  Wohlfahrt  in  einem  gegebenen 
Dasein  zu  dienen  hat,  oder  ob  in  der  Wendung  zum  Geistesleben 
eine  neue  Art  Wirklichkeit  und  zugleich  ein  Reich  von  echten  Gütern 
hervorbricht.  Gewinnt  das  Geistesleben  nicht  eine  Überlegenheit 
gegen  das  menschliche  Getriebe,  so  muß  aller  Idealismus  fallen,  aber 
mit  ihm  fällt  auch  aller  Sinn  und  Wert  unseres  Lebens,  und  es  ver- 
läuft in  völlige  Leere. 

Wird  aber  jene  Überlegenheit  anerkannt,  so  kann  alle  Unzu- 
länglichkeit des  menschlichen  Standes  das  Geistesleben  in  keiner 
Weise  gefährden,  so  bleibt  die  Grundtatsache  aller  Verwicklung 
sicher  und  weit  überlegen.  Mag  sich  an  alle  Entfaltung  des  Geistes- 
lebens in  unserem  Bereich  Kleinmenschliches  anhaften  und  mögen 
die  Ideen  gewöhnlich  nur  mit  Hilfe  der  Interessen  zur  Wirkung 
gelangen,  mag  ferner  das  Geistesleben  auf  dem  Boden  der  Mensch- 
heit von  verschwindenden  Anfängen  her  geworden  und  sich  sehr 
langsam,  auch  unter  mannigfachen  Rückfällen,  fortbewegt  haben,  das 
alles  gefährdet  nach  jener  Scheidurig  nicht  im  mindesten  die  Grund- 
tatsache des  Geisteslebens;  ja  der  Widerstand  der  Menschen,  die 
unwillige  Anerkennung  der  geistigen  Notwendigkeiten,  auch  der 
Schein  der  Geistigkeit,  womit  das  menschliche  Tun  und  Treiben 
sich  zu  umkleiden  liebt,  das  alles  kann  nur  die  Überzeugung  ver- 
stärken, daß  mehr  in  der  Menschheit  vorgeht,  als  aus  dem  Menschen 
des  unmittelbaren  Daseins  stammt. 

Wenn  daher  heute  auf  der  Höhe  der  geistigen  Arbeit  die  Wage 


'-  Es  sei  dabei  das  Wort  Kants  gegenwärtig  (III,  260  Hart.):  »In  An- 
sehung der  sittlichen  Gesetze  ist  Erfahrung  (leider!)  die  Mutter  des  Scheines, 
und  es  ist  höchst  verwerflich,  die  Gesetze  über  das,  was  ich  tun  soll,  von  dem- 
jenigen herzunehmen  oder  dadurch  einschränken  zu  wollen,  was  getan  wird." 


Idealismus  —  Realismus.  83 

wieder  mehr  sich  zum  Idealismus  neigt,  so  ist  nur  zu  wünschen,  daß 
solche  Bewegung  nicht  in  abschwächenden  Vermittlungen  stecken 
bleibe,  sondern  daß  das  Entweder  -  oder  mit  voller  Schärfe  hervor- 
gekehrt und  die  unerläßliche  Umkehrung  mit  vollem  Nachdruck  ge- 
fordert werde.  Der  Idealismus  darf  nicht  bloß  abwehrender,  er 
muß  auch  vordringender,  er  darf  nicht  bloß  kritischer,  er  muß 
auch  positiver  Art  sein.  Denn  nur  so  kann  es  gelingen,  der 
wachsenden  Veräußerlichung,  Verflachung  und  Scheinhaftigkeit  einer 
bloßen  Menschenkultur  eine  echte  Geisteskultur  entgegenzusetzen 
und  der  Überwältigung  und  Unterdrückung  siegreichen  Widerstand 
zu  leisten,  womit  jetzt  Natur,  Geschichte  und  Gesellschaft  den  Menschen 
bedrohen.  Ohne  einen  Glauben  an  die  Größe  und  den  Wert  der 
Menschheit  kommen  wir  nicht  weiter,  ein  solcher  Glaube  aber  muß 
feste  Grundlagen  haben. 


6* 


B.  Zum  Erkenntnisproblem. 

1.  Denken  und  Erfahrung. 

(Metaphysik.) 

a)   Geschichtliches. 

I—«  inige  Notizen  zur  Terminologie  seien  vorangeschickt.  Der  Aus- 
*~^  druck  Erfahrung  ist  im  Lauf  der  Zeit  immer  vieldeutiger  ge- 
worden und  zeigt  auch  bei  den  einzelnen  Denkern  so  viele  Schwank- 
ungen, daß  er  kaum  einen  festen  Terminus  bildet.  Nicht  einmal 
eine  sprachliche  Abgrenzung  der  alltäglichen,  vorwissenschaftlichen 
Erfahrung  von  der  wissenschaftlichen  Erfahrung  ist  aus  aller  Arbeit 
hervorgegangen.  —  Schon  die  Stoiker  bildeten  den  Begriff  der  wissen- 
schaftlichen Erfahrung  (ejATrsipia  jjtsö-oSixTj).  Die  Erfahrungsphilo- 
sophen der  Neuzeit  waren  geneigt,  durch  Herabdrückung  der  grie- 
chischen Ausdrücke  Empirie,  empirisch,  Empiriker  zur  Bezeichnung 
der  niederen  Stufe  eine  Scheidung  herbeizuführen,  auch  die  deutsche 
Schulphilosophie  des  18.  Jahrhunderts  suchte  eine  »empirische  oder 
gemeine"  und  eine  »gelehrte"  Erfahrung  auseinanderzuhalten.  Auch 
Kant  verwendet  oft  empirisch  in  jenem  Sinne,  und  der  größte  Er- 
fahrungsphilosoph des  19.  Jahrhunderts,  Comte,  verwahrt  sich 
energisch  gegen  den  „empirisme".  Zu  allgemeiner  Geltung  aber 
ist  diese  Unterscheidung  nicht  gelangt;  lediglich  die  Sonderung  von 
»Empiriker«  für  die  niedere  und  „Empirist«  für  die  höhere  Stufe, 
die  aus  der  kantischen  Philosophie  stammen  dürfte,  kann  als  durch- 
gedrungen gelten. 

Bedeutender  ist  die  Geschichte  der  hierher  gehörigen  Ausdrücke 
a  priori  und  a  posteriori;  ihre  Wandlungen  spiegeln  die  Hauptphasen 
des  Erkenntnisstrebens  und  erstrecken  Wirkungen  bis  in  die  Gegen- 
wart. —  Entsprungen  sind  die  Ausdrücke  dem  aristotelischen  Ver- 
fahren,  das  Allgemeine  als  das  (begrifflich)   Frühere,   das  Einzelne 


Denken  und  Erfahrung.  85 

als  das  Spätere  zu  bezeichnen;  einen  festen  Sprachgebrauch  bildete 
daraus  aber  erst  die  Höhe  des  Mittelalters.  Ex  prioribus  beweisen, 
das  heißt  einem  Albert  dem  Großen  von  den  Gründen  her,  ex 
posterioribus  von  den  Folgen  her  beweisen;  a  priori  und  a  posteriori 
in  gleicher  Bedeutung  erwähnt  Prantl  (Geschichte  der  Logik  im 
Abendlande  IV,  78)  zuerst  bei  Albert  von  Sachsen,  einem  Gelehrten 
des  14.  Jahrhunderts.  Diese  Bedeutung  behielten  die  Ausdrücke 
bis  in  die  Neuzeit,^  sie  ist  auch  heute  noch  nicht  erloschen.  Mit 
dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  aber  beginnt,  gemäß  der  stärkeren 
Hervorkehrung  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Erkenntnis,  eine 
Verschiebung  von  der  Methodenlehre  zur  Erkenntnislehre.  So  vor- 
nehmlich bei  Leibniz.  A  priori  heißt  nun,  was  aus  der  Vernunft, 
a  posteriori,  was  aus  der  Erfahrung  stammt.  Diese  Unterscheidung 
ließ  sich  aber  relativ  und  absolut,  flacher  und  tiefer  verstehen. 
A  priori  erkennen  bedeutete  zunächst  nicht  mehr  als  ein  Erkennen 
aus  schon  gewonnenen  Einsichten  vor  näherer  Befassung  mit  der 
besonderen  Sache,  also  durch  bloße  Schlußfolgerung;  ^  woher  das 
Erkennen  letzthin  stamme,  blieb  dabei  unerörtert.  Aber  schon  bei 
Leibniz  selbst  und  dann  bei  seinen  Nachfolgern  bezeichnet  a  priori 
auch,  was  von  aller  Erfahrung  unabhängig  ist  und  lediglich  der  Ver- 
nunft angehört.^  Bei  Kant  erreicht  diese  Bewegung  ihre  Höhe, 
indem  die  Erfahrung  selbst  ihm  erst  durch  ein  Gefüge  von  Be- 
griffen und  Sätzen  a  priori  möglich  zu  werden  scheint.  Aber  auch 
er  gebraucht  nicht  selten  den  Ausdruck  in  dem  laxeren  Sinne.  Um 
diese  Zeit  dringen  die  Wörter  über  die  Schule  hinaus  in  den  allge- 
meinen Sprachgebrauch,  zugleich  gewinnt  a  priori  eine  feste  deutsche 


^  So  heißt  es  z.  B.  in  der  sogenannten  Logik  von  Port  Royal  (l'art  de 
penser) :  seit  en  prouvant  les  effets  par  les  causes,  ce  qui  s'appelle  demontrer 
a  priori,  seit  en  demontrant  au  contraire  les  causes  par  les  effets,  ce  qui 
s'appelle  prouver  a  posteriori. 

'  So  sagt  z.  B.  Wolff  (psychologia  empirica  §  434) :  quod  experiundo 
addiscimus,  a  posteriori  cognoscere  dicimur:  quod  vero  ratiocinando  nobis 
innotescit,  a  priori  cognoscere  dicimur.  §435:  quicquid  ex  iis  coUigimus, 
quae  nobis  jam  innotuere,  cum  ante  ignotum  esset,  id  ratiocinando  nobis 
innotescit,  adeoque  idem  a  priori  cognoscimus. 

'  Leibniz  stellt  der  philosophie  experimentale  qui  procede  a  posteriori 
die  Erkenntnis  durch  la  pure  raison  ou  a  priori  entgegen  (s,  778  b.  Erdm.). 
Lambert  sagt  im  „Neuen  Organon"  §639:  „Wir  wollen  es  demnach  gelten 
lassen,  daß  man  absolute  und  im  strengsten  Verstände  nur  das  a  priori 
heißen  könne,  wobei  wir  der  Erfahrung  nichts  zu  danken  haben." 


86  Zum  Erkenntnisproblem. 

Bezeichnung.!  Der  laxere  Sprachgebrauch  liegt  vor,  wenn  der 
moderne  Empirismus,  namentlich  mit  Hilfe  der  Entwicklungslehre, 
auch  das  a  priori  aus  der  Erfahrung  abzuleiten  sucht.  A  priori  ist 
dann  das,  was  nicht  das  einzelne  Individuum  erwirbt,  sondern  was 
als  ein  Niederschlag  der  Erfahrung  des  gesamten  Menschengeschlechts 
durch  Vererbung  an  jenes  kommt  und  seinem  Denken  bestimmte 
Bahnen  vorschreibt.  So  schöpft  nicht  der  Einzelne,  wohl  aber  die 
Menschheit  lediglich  aus  der  Erfahrung.  Das  ist  jedoch  ein  völlig 
anderes  Problem  als  das  des  absoluten  a  priori  Kants,  und  es  ist 
ein  gröbliches  Mißverständnis  der  Sache,  wenn  man  glaubt,  Kant 
durch  Darwin  und  Spencer  widerlegen  zu  können.  Man  sollte 
erst  schärfer  denken  lernen,  ehe  man  sich  m.it  solchen  Problemen 
befaßt. 

Wenn  schon  solcher  Wandel  und  solche  Unsicherheit  im  Aus- 
druck verwickelte  Probleme  der  Sache  vermuten  läßt,  so  stellt  die 
Geschichte  der  Philosophie  diese  klar  und  deutlich  vor  Augen,  sie 
zeigt  einen  jahrtausendlangen  Kampf,  der  immer  gewaltiger  an- 
schwillt.   Dieser  Kampf  war  aber  bei  aller  seiner  Leidenschaft  wenig 


^  Als  Übersetzung  von  a  priori  diente  in  früheren  Jahrhunderten  «von 
vornen  her",  das  schon  in  Luthers  Tischreden  vorkommt  (s.  Ausgabe  von 
Förstemann  IV,  399)  und  sich  bis  ins  18.  Jahrhundert  erhält.  Als  erste 
Quelle  für  „von  vornherein"  bezeichnet  Campe  Lessings  Ernst  und  Falk, 
auch  ich  kann  den  Ausdruck  nicht  weiter  zurückverfolgen.  Er  bezeichnet 
aber  den  Begriff  nur  in  dem  laxeren,  bloß  relativen  Sinne,  Absolut  ver- 
standen, begegnet  sich  a  priori  mit  „rein",  das  auch  eine  lange  Geschichte 
hat.    Seit  Anaxagoras  voüc  xaO^apd;  (s.  Aristoteles  de  anima  405  a  16:  (xo'vov 

yoCiv  cpif)aiv  «utov   (d.  h.  tov  vouv)  tüJv  ovtwv  octcXoGv  Eivat  y.ai  «[Aty^  T£  xa"i  xaO-apov) 

bedeutet  es  dem  älteren  Sprachgebrauch  das  Einfache,  Lautere,  Ungemischte 
des  Geistigen  im  Gegensatz  zum  Gemisch  der  sinnlichen  Welt.  Die  Neu- 
platoniker  und  in  ihrem  Gefolge  das  Mittelalter  übertragen  den  Begriff  auf 
das  Erkennen  und  nennen  rein  eine  von  allen  sinnlichen  Bildern  freie  Er- 
kenntnis (s.  z.  B.  Scotus  Erigena,  de  div.  nat.  657  D,  658  B).  Auch  Descartes 
erklärt  die  intellectio  pura  als  eine  solche  quae  circa  nullas  imagines  corpo- 
reas  versatur.  In  diesem  Sinne  nimmt  die  Wolffsche  Schule  „reinen  Ver- 
stand", während  ihr  „reine  Vernunft"  den  Gegensatz  zu  Erfahrung  bildet 
und  damit  dem  a  priori  entspricht  (s.  Wolff  psych,  emp.  §  495 :  ratio  pura 
est,  si  in  ratiocinando  non  admittimus  nisi  definitiones  ac  propositiones 
a  priori  cognitas).  Auch  Gottsched  folgt  diesem  Sprachgebrauch,  s.  z.  B. 
Erste  Gründe  der  gesamten  Weltweisheit  (1739),  S.  485  reiner  Verstand  = 
ohne  sinnliche  Vorstellungen,  S.  486  reine  Vernunft,  ==  wenn  sich  in  unsere 
Vernunftschlüsse  keine  Erfahrungssätze  mit  einmengen.  —  So  entspricht  Kants 
Verwendung  von  reiner  Vernunft  dem  gelehrten  Sprachgebrauch. 


Denken  und  Erfahrung.  87 

fruchtbar,  weil  er  das  Problem  nicht  an  der  Stelle  aufnahm,  wo 
seine  Entscheidung  liegt  Man  stritt  darüber,  woher  das  Erkennen 
stamme,  ob  aus  der  Mitteilung  der  Dinge  oder  der  Selbsttätigkeit 
des  Denkens.  Das  wäre  aber  direkt  zu  entscheiden  nur,  wenn  das 
Was  des  Erkennens,  unser  Erkenntnisbesitz,  allem  Zweifel  enthoben 
wäre,  nicht  die  Frage  nach  dem  Woher  immer  wieder  in  die  nach 
dem  Was  zurückgriffe.  Dieses  aber  geschieht  in  Wahrheit.  Wir 
sind  keineswegs  einig  über  den  Tatbestand  des  Erkennens,  sondern 
die  Streitenden  setzen  grundverschiedene  Bilder  ein  und  beweisen 
von  ihnen  aus,  sie  beweisen  damit  immer  nur  für  sich  selbst,  nicht 
für  die  anderen;  die  geschichtliche  Bewegung  wird  eine  Folge  von 
Monologen,  welche  die  Gegner  nicht  in  einen  fruchtbaren  Austausch 
bringt,  sondern  jeden  nur  immer  weiter  in  die  eigene  Behauptung 
hineintreibt.  Das  Was  des  Erkennens  aber  ist  nicht  zu  ermitteln 
ohne  ein  Zurückgreifen  auf  die  letzten  Fragen,  im  besonderen  auf 
das  eine  Grundproblem,  dem  unsere  Untersuchung  überall  begegnet, 
das  Problem,  ob  das  Leben  und  Streben  des  Menschen  lediglich  die 
Bewegung  der  Natur  fortsetzt,  oder  ob  es  eine  neue  Stufe  der  Wirk- 
lichkeit einführt.  Im  eigenen  Gebiet  des  Erkennens  aber  erzeugt  der 
Streit  über  seinen  Ursprung  immer  wieder  die  Frage,  ob  neben 
den  Einzelwissenschaften  auch  eine  selbständige  Philosophie  möglich 
und  nötig  ist,  so  daß  in  den  Streit  auch  dieses  Problem  mit  hin- 
einspielt. 

So  gewiß  die  Frage  des  Ursprunges  der  Erkenntnis  die  Arbeit 
der  Philosophie  seit  Plato  begleitet,  eine  leitende  Stellung  hat  sie 
erst  in  der  Neuzeit  erlangt.  Das  aber  aus  dem  Grunde,  weil  nun 
zuerst  das  Seelenleben  und  die  Weltumgebung  deutlich  auseinander- 
traten, zugleich  aber  die  einzelnen  Seiten  ihr  Vermögen  näher  dar- 
zulegen und  gegeneinander  abzugrenzen  hatten.  Sie  traten  aber 
weiter  auseinander,  nicht  weil  ein  gesteigerter  Scharfsinn  auf  diesen 
Gedanken  kam,  sondern  weil  das  Leben  in  seinem  Grundbestande 
nach  entgegengesetzten  Richtungen  auseinanderging.  Einerseits  ge- 
wann die  durch  lange  Arbeit  und  mannigfache  Erfahrungen  in  sich 
selbst  vertiefte  Innerlichkeit  ein  so  starkes  Selbstgefühl,  um  sich  für 
den  Kern  der  Welt  erklären  und  den  Versuch  eines  Aufbaues  der 
ganzen  Wirklichkeit  aus  selbständiger  Gedankenarbeit  wagen  zu 
können;  andererseits  erhob  sich  die  sinnliche  Welt,  unter  Abwerf ung 
der    mittelalterlichen    Verschleierung,    so    mächtig    gegenüber    dem 


88  Zum  Erkenntnisproblem. 

Menschen  und  zeigte  eine  solche  Festigkeit  des  Baues,  wie  Un- 
ermeßlichkeit des  Lebens,  daß  sie  aus  sicherer  Überlegenheit  auch 
dem  menschlichen  Dasein  und  damit  dem  Erkennen  seinen  Inhalt 
zuzuführen  schien. 

Ein  so  schroffer  Gegensatz  verbot  alle  friedliche  Vereinbarung, 
auf  einer  der  Seiten  mußte  der  Schwerpunkt  liegen,  und  je  nach 
der  Entscheidung  das  Erkenntnisbild  sich  grundverschieden  gestalten. 
So  entstanden  die  Systeme  des  Rationalismus  und  des  Empirismus 
mit  ihren  entgegengesetzten  Durchblicken  der  Wirklichkeit.  Der 
Empirismus  nimmt  seinen  Standort  beim  Bewußtsein  des  Einzelnen, 
mit  einleuchtender  Klarheit  vermag  er  zu  zeigen,  wie  dies  Bewußt- 
sein seinen  Inhalt  nicht  fertig  mitbringt,  sondern  ihn  langsam,  von 
einzelnen  Eindrücken  her  und  unter  Leitung  der  Umgebung  ge- 
winnt. Die  Philosophie  hatte  hier  nur  die  Erkenntnisse  auf  das 
Bewußtsein  zurückzubeziehen,  nur  als  empirische  Psychologie  konnte 
sie  sich  in  diesen  Zusammenhängen  halten.  Das  Erkennen  wird  hier 
schließlich '  eine  bloße  Assoziation  von  Empfindungen  und  Vorstell- 
ungen ohne  allen  inneren  Zusammenhang,  auf  eine  Durchleuchtung 
der  Wirklichkeit  wird  ganz  und  gar  verzichtet.  Ob  das  noch  Wissen- 
schaft heißen  kann,  ja  ob  sich  dabei  über  die  bloßen  Individuen 
hinauskommen  und  ein  gemeinsamer  Besitz  der  Menschheit  ge- 
winnen läßt,  das  bleibt  bestreitbar  und  ist  alsbald  mit  triftigen 
Gründen  bestritten  worden.  Völlig  anders  der  Rationalismus.  Sein 
Ausgangspunkt  ist  die  Tatsache  der  Wissenschaft;  ihre  Eigentümlich- 
keit präzis  erfassen,  das  scheint  ihm  die  Überzeugung  zu  begründen, 
daß  sie  nicht  von  außen  her  dem  Menschen  zufallen,  sondern  nur 
aus  der  Werkstätte  selbsttätigen  Denkens  hervorgehen  kann.  Nament- 
lich sind  es  formale  Eigenschaften  der  wissenschaftlichen  Erkennt- 
nisse, welche  alle  Ableitung  von  außen  zu  verbieten  scheinen.  Was 
anders  kann  die  Quelle  der  ewigen  und  allgemeingültigen  Wahr- 
heiten sein,  die  das  Gebäude  der  Wissenschaft  tragen,  als  die  eigene 
Natur  des  Geistes?  Es  wird  aber  damit  das  Erkennen  vornehmlich 
ein  volles  Herausarbeiten  dessen,  was  dem  Vernunftwesen  von  Haus 
aus  innewohnt;  das  analytische  Verfahren  bildet  den  Kern  der  wissen- 
schaftlichen, namentlich  der  philosophischen  Arbeit;  einem  Leibniz 
gestaltet  sich  die  Philosophie  zu  einer  universalen  Mathematik,  welche 
die  Voraussetzungen  des  Erkennens  immer  weiter  zurückschiebt  und 
mehr  und  mehr  die  ganze  Wirklichkeit  in  rationale  Gleichungen 
umsetzen  möchte.     Aber  wenn  damit  ein  systematisches  Gefüge  der 


Denken  und  Erfahrung.  89 

Wissenschaft  erreicht  wird,  so  verwandelt  sich  zugleich  die  Welt  mehr 
und  mehr  in  ein  Reich  von  bloßen  Formen  und  Beziehungen,  die 
Wirklichkeit  droht  immer  blasser  und  ärmer  zu  werden.  So  mußte 
der  Empirismus  dem  unermeßlichen  Stoffe  keine  beherrschende 
Form,  der  Rationalismus  aber  den  Formen  keinen  genügenden  Inhalt 
zu  geben. 

Kant  strebte  mit  ganzer  Kraft  nach  einer  Überwindung  des 
Gegensatzes,  dessen  beide  Seiten  in  seiner  eigenen  Natur  zusammen- 
trafen. Er  gehört  insofern  auf  die  rationalistische  Seite,  als  er  das 
Erkennen  energisch  über  die  bloße  Assoziation  der  Vorstellungen 
hinaushebt  und  aus  ihm  einen  systematischen  Zusammenhang 
macht.  Aber  dieser  Rationalismus  erhält  einen  empiristischen  Ein- 
schlag dadurch,  daß  das  Denken  die  Erkenntnis  nicht  aus  reiner 
Selbsttätigkeit  erzeugt,  sondern  bei  ihr  an  die  Darbietung  eines 
Stoffes  gebunden  ist;  so  kann  es  nicht  eine  Welt  der  Dinge,  sondern 
nur  ein  Reich  der  Erscheinungen  erreichen.  Dem  Empirismus  ver- 
wandt ist  auch  ein  starker  Tatsachensinn,  der  überall  auf  eine  präzise 
Erfassung  des  Eigentümlichen  und  Unterscheidenden  dringt,  während 
der  Rationalismus  dies  zu  Gunsten  einfacher  Gedankenreihen  abzu- 
schleifen geneigt  war.  Ebenso  entschieden  wie  Leibniz  vorwiegend 
quantitativ,  denkt  Kant  vorwiegend  qualitativ,  wie  jener  in  Stufen, 
denkt  dieser  in  Gegensätzen.  Das  hier  unternommene  schiedsrichter- 
liche Verfahren  hat  nicht  nur  den  Vorzug,  das  Problem  systematischer 
zu  behandeln,  als  je  zuvor  geschehen  war,  es  hat  auch  das  dem 
Menschen  eigentümliche  Erkenntnisvermögen  mit  besonderer  Schärfe 
zu  begrenzen  versucht.  Aber  bei  aller  Größe  der  Behandlung,  die 
eine  neue  Epoche  für  das  gesamte  Problem  beginnt,  ruft  die  neue 
Antwort  sofort  neue  Fragen  und  Zweifel  hervor.  Kann  das  Denken 
zugleich  an  eine  fremde  Welt  gebunden  werden  und  eine  Selbst- 
ständigkeit bewahren?  Verrät  nicht  schon  der  Umstand  die  große 
Verwicklung  der  Sache,  daß  Kants  Untersuchung  nirgends  umständ- 
licher und  künstlicher  ist  als  da,  wo  es  gilt,  die  Denkfunktionen 
und  die  Sinneseindrücke  zusammenzubringen?  Auch  kann  das  Er- 
gebnis des  Schiedsspruches  keine  der  Parteien  befriedigen.  Den 
Rationalisten  nicht,  weil  Kants  gewaltige  Steigerung  der  Denkarbeit 
unvermeidlich  über  die  Bindung  an  ein  Ding  an  sich  und  die  Be- 
schränkung auf  ein  Reich  von  Erscheinungen  hinaustreibt,  den  Em- 
piristen nicht,  weil  er  die  Frage  aufwerfen  kann,  ja  aufwerfen  muß, 
ob  jenes  Flechtwerk  von  Formen,  das  nach  Kant  die  Erfahrung  erst 


90  Zum  Erkenntnisproblem. 

möglich  macht,  nicht  umgekehrt  aus  ihr  selbst  allmählich  erwachsen 
sei;  damit  aber  würde  auch  sein  Sinn  ein  wesentlich  anderer  werden. 
Die  unsichere  Lage,  in  die  solcher  Streit  das  Erkennen  versetzt, 
würde  weit  mehr  empfunden  werden,  brächte  nicht  die  praktische 
Philosophie  der  Gedankenwelt  eine  Ergänzung  wie  eine  Befestigung. 
Aber  auch  ihre  Begründung  ist  nicht  allem  Zweifel  enthoben. 

So  kann  es  nicht  befremden,  daß  die  Bewegung  der  Philosophie 
über  die  kantische  Lösung  des  Erkenntnisproblemes  hinaustrieb,  ja 
daß  der  Gegensatz  nun  erst  seine  höchste  Spannung  erreichte. 
Auch  hierher  wirkte  die  geistige  Wandlung,  die  am  meisten  den 
Charakter  des  19.  Jahrhunderts  bestimmt,  das  Aufsteigen  einer  ge- 
schichtlich-gesellschaftlichen Ansicht  der  Wirklichkeit,  wie  sie  Kant 
noch  fernlag.  ^  Dieser  neuen  Denkweise  konnten  sich  beide  Parteien 
bemächtigen  und  mit  ihrer  Hilfe  zu  leisten  suchen,  was  bisher  nicht 
gelungen  war.  Die  Geschichte  erhielt  dabei  hier  und  dort  ein 
grundverschiedenes  Ansehen:  dort  ward  sie  eine  einzige,  von  innerer 
Notwendigkeit  getriebene  Bewegung,  hier  ein  Sichaufschichten  einer 
endlosen  Mannigfaltigkeit.  Mit  der  Wendung  zu  jener  Geschichte 
wuchs  der  Rationalismus  zur  spekulativen  Konstruktion,  die  den 
Denkprozeß  -durch  seinen  eignen  Fortgang  die  ganze  Wirklichkeit 
erzeugen  ließ  und  allen  Tatbestand  mehr  und  mehr  in  ein  Werk 
der  Vernunft  zu  verwandeln  suchte.  Die  Erfahrung  als  bloße  'Er- 
fahrung sollte  hier  ganz  verschwinden.  Das  analytische  Verfahren 
des  älteren  Rationalismus  wich  damit  einem  synthetischen,  die  Philo- 
sophie gestaltete  sich  zu  einer  weltumspannenden,  namentlich  die 
Geschichte  durchwaltenden  Logik,  sie  zog  alles  echte  Erkennen  an 
sich  und  ließ  den  Einzelwissenschaften  keinerlei  Selbständigkeit.  Völlig 
umgekehrt  verfuhr  der  Empirismus.  Ihm  bot  namentlich  die  Ent- 
wicklungslehre naturwissenschaftlicher  Art  Mittel  und  Handhaben  zu 
dem  Unternehmen,  allen  vermeintlichen  Eigenbesitz  des  Geistes  aus 
der  Erfahrung  abzuleiten.    Das  Erkennen  wurde  hier  eine  wachsende 


*  Wie  Kant,  in  Einklang  mit  dem  älteren  Rationalismus,  der  Prinzipien- 
lehre eine  geschichtliche  Bewegung  versagt,  zeigt  u.  a.  folgende  Stelle  aus 
der  Vorrede  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  (III,  11  Hart.):  »Nun  ist  Meta- 
physik nach  den  Begriffen,  die  wir  hier  davon  geben  werden,  die  einzige 
aller  Wissenschaften,  die  sich  eine  solche  Vollendung,  und  zwar  in  kurzer 
Zeit,  und  mit  nur  weniger,  aber  vereinigter  Bemühung  versprechen  darf,  so 
daß  nichts  für  die  Nachkommenschaft  übrig  bleibt,  als  in  der  didaktischen 
Manier  alles  nach  ihren  Absichten  einzurichten,  ohne  darum  den  Inhalt  im 
mindesten  vermehren  zu  können." 


Denken  und  Erfahrung.  91 

Anpassung  an  die  Umgebung,  der  Kampf  ums  Dasein  sollte  diese 
immer  zweckdienlicher,  immer  ökonomischer  gestalten;  daraus  sollte 
alles  entstanden  sein,  was  unser  Denken  an  durchgehenden  Rich- 
tungen und  Formen  aufweist,  und  was  sich  vom  bloßen  Individuum 
her  als  ein  a  priori  ausnimmt.  Alles  innere  und  logische  Gefüge 
der  Erkenntnis  weicht  dabei  der  bloßen  Tatsächlichkeit,  alles  Erklären 
dem  bloßen  Schildern.  Hier  ist  kein  Platz  für  eine  selbständige 
Philosophie,  alles  Erkennen  echter  Art  wird  zur  Naturwissenschaft. 
Nur  als  ein  Herausheben  und  Zusammenstellen  ihrer  Hauptergebnisse 
kann  die  Philosophie  sich  behaupten. 

Die  wirkliche  Arbeit  des  1 9.  Jahrhunderts  ging  zwischen  diesen 
Gegensätzen  ihren  Weg;  begünstigte  in  seinen  ersten  Jahrzehnten  das 
hochgespannte  Selbstgefühl  des  Menschen  und  die  vorwaltende  Be- 
schäftigung mit  den  Fragen  der  inneren  Kultur  den  Rationalismus, 
so  unterstützte  die  Wendung  des  Lebens  zum  sinnlichen  Dasein  und 
der  unermeßliche  Zustrom  von  Tatsächlichkeit  aus  Natur,  Geschichte, 
politisch-praktischem  Leben  den  Empirismus.  Fühlte  sich  vorher  der 
Mensch  im  Mittelpunkt  der  Wirklichkeit  und  durfte  er  glauben,  bei 
sich  ihre  Fäden  zusammenfassen  und  aus  seiner  geistigen  Tätigkeit 
ihr  anfängliches  Dunkel  gänzlich  klären  zu  können,  so  übermannt 
ihn  jetzt  das  Bewußtsein  seiner  verschwindenden  Kleinheit;  aus  dem 
Zentrum  in  die  Peripherie  verwiesen,  darf  er  nicht  mehr  hoffen, 
die  Wirklichkeit  von  sich  aus  hervorzubringen,  muß  er  vielmehr  be- 
scheiden und  unterwürfig  ihre  Eröffnung  erwarten.  Aber  nicht  nur 
solche  Notwendigkeit,  auch  ein  inneres  Verlangen  treibt  den  Menschen 
zur  Hingebung  an  die  Erfahrung.  Es  ist  die  Sehnsucht  nach  mehr 
Unmittelbarkeit,  mehr  Tatsächlichkeit,  mehr  Reichtum  des  Lebens, 
als  sie  die  Gedankenwelt  des  Rationalismus  mit  ihrem  Einfangen 
der  Welt  in  ein  Netz  freischwebender  Begriffe  und  Formen  bot. 
Dies  Verfahren  beginnt  als  eine  Verarmung  und  Verflüchtigung  des 
Lebens  empfunden  zu  werden;  dem  gegenüber  wird  »ein  unersätt- 
liches Verlangen  nach  Realität  die  gewaltige  Seele  der  gegenwärtigen 
Wissenschaft"  (Dilthey).i 


^  Mit  Recht  sagt  James  (Pragmat.  S.  9):  „Seit  hundertundfünfzig  Jahren 
scheint  der  Fortschritt  der  Wissenschaft  nichts  anderes  zu  bedeuten  als  eine 
stete  Vergrößerung  der  materiellen  Welt  und  eine  stete  Verminderung  der 
Bedeutung  des  Menschen.  Das  Resultat  ist  die  Zunahme  der  naturalistischen 
und  der  positivistischen  Fühlweise."  S.  auch  S.  8:  «Niemals  hat  es  so  viele 
Menschen  von  entschieden  empirischer  Geistesrichtung  gegeben  als  heutzutage." 


92  Zum  Erkenntnisproblem. 

Natürlich  fehlte  es  nicht  an  Versuchen,  zu  vermitteln  und  aus- 
zugleichen. Eine  Wiederaufnahme  kantischer  Denkweise  lieferte  den 
Nachweis,  daß  die  Erfahrung,  so  wertvoll  sie  sein  mag,  aus  eignem 
Vermögen  nun  und  nimmer  ein  wissenschaftliches  Erkennen  erzeugt, 
daß  es  dazu  einer  fortwährenden  Hilfe  des  Denkens  bedarf.  In 
ähnlicher  Gesinnung  ließ  sich  dartun,  daß  die  einzelnen  Wissen- 
schaften Voraussetzungen  enthalten,  die  sie  selbst  nicht  zu  recht- 
fertigen vermögen,  die  vielmehr  über  sie  hinausweisen.  Aber  eine 
solche  Gegenbewegung  war  mehr  negativer  als  positiver  Natur,  sie 
mochte  ungelöste  Rätsel  jenseit  der  Erfahrungswelt  zeigen,  nicht  aber 
eröffnete  sie  ihr  gegenüber  einen  neuen  Lebens-  und  Gedankenkreis, 
nicht  trieb  sie  zu  einer  eigentümlichen  philosophischen  Betrachtungs- 
weise und  einer  selbständigen  Philosophie;  die  Philosophie  wurde 
in  diesen  Zusammenhängen  lediglich  eine  kritische  und  reflektierende 
Umsäumung  der  Einzelwissenschaften,  die  dem  Fachgelehrten  die 
anziehendste  Beschäftigung  bieten  mag,  die  aber  zur  Erhöhung  des 
Geisteslebens  kaum  etwas  beiträgt,  die  zugleich,  beim  Mangel  eines 
beherrschenden  Prinzips,  die  Subjektivität  bloß  individueller  Stand- 
punkte nicht  zu  überwinden  vermag.  So  entfiel  eine  gemeinsame 
Ideen-  und  Überzeugungswelt,  wie  die  Menschheit  sie  seit  Jahr- 
tausenden besessen  hatte.  Und  das  Ungeheure  dieses  Verlustes,  die 
damit  drohende  Zersplitterung  und  innere  Verarmung  der  Mensch- 
heit kam  gegenüber  der  Freude  an  der  massenhaft  zuströmenden 
Tatsächlichkeit  kaum  zur  Empfindung.  Das  kann  jedoch  nicht  lange 
so  bleiben.  Denn  das  Verlangen  nach  einer  zusammenhängenden 
Gedankenwelt  und  einer  inneren  Einheit  des  Lebens  wurzelt  zu  tief, 
um  sich  auf  die  Dauer  unterdrücken  zu  lassen;  schon  heute  ist  der 
Beginn  einer  Gegenbewegung  deutlich  genug.  Mehr  Einheit  fordern 
die  Einzelwissenschaften  selbst,  indem  ihr  eigner  Ausbau  sie  zu 
einer  gründlicheren  Beschäftigung  mit  ihren  Prinzipien  und  Voraus- 
setzungen führt,  diese  aber  zur  Aufdeckung  der  Zusammenhänge 
mit  anderen  Gebieten  und  zu  einem  Streben  nach  einem  Ganzen 
treibt.  Von  den  verschiedensten  Seiten  erschallt  wieder  der  Ruf 
nach  einer  Synthese.  Die  Synthese  ist  aber  nicht  echt,  so  lange  die 
Verbindung  eine  bloße  Zusammenstellung  bleibt;  zur  Wurzel  durch- 
greifen kann  sie  nur  bei  kräftiger  Herausarbeitung  gemeinsamer 
Ideen  und  Überzeugungen,  das  aber  fordert  einen  dem  Nebenein- 
ander überlegenen  Standort,  es  fordert  eine  selbständige  Philosophie. 

Stärker  noch  drängt  dahin  das  gemeinsame  Leben.     Die  Kehr- 


Denken  und  Erfahrung.  93 

Seite  der  völligen  Hingebung  an  die  unmittelbare  Welt,  der  völligen 
Verwandlung  des  Lebens  in  Arbeit  läßt  sich  immer  weniger  über- 
sehen: der  Mangel  einer  Zurückbeziehung  auf  eine  überlegene  Ein- 
heit, die  das  Leben  allererst  in  Selbstleben  und  damit  in  eignen 
Besitz  verwandelt,  die  geistige  Leere  bei  überströmender  Fülle  der 
äußeren  Eindrücke,  die  Ungewißheit  über  das  Ganze  bei  aller  Be- 
festigung im  Einzelnen.  Alles  geistige  Leben  und  zugleich  aller 
Sinn  und  Wert  unseres  Daseins  gerät  damit  in  Zweifel,  der  Boden 
entschwindet  dem  Menschen  unter  den  Füßen;  so  treibt  es  zwingend, 
wieder  auf  die  letzten  Grundlagen  seiner  Existenz  zurückzugehen 
und  einen  Kampf  um  die  Erhaltung  einer  Seele  zu  führen.  Solche 
Probleme  verbieten  einen  Abschluß  bei  der  bloßen  Erfahrung,  sie 
treiben  uns,  neue  Möglichkeiten  zu  suchen  und  unser  Verhältnis  zur 
Wirklichkeit  gründlich  zu  revidieren.  Zugleich  aber  tritt  die  Philosophie 
wieder  auf  den  Plan,  die  Philosophie  nicht  als  eine  bloße  Gehilfin 
zur  Bearbeitung  der  Erfahrungswelt,  sondern  als  die  Trägerin  eines 
eigenen  Gedankenreiches,  als  eine  Kraft  des  Schaffens  und  Weiterbildens. 

b)  Das  Recht  einer  selbständigen  Philosophie. 

Die  Frage  nach  der  Selbständigkeit  der  Philosophie  bilde  den 
Beginn  der  Untersuchung,  da  ihre  Beantwortung  über  den  Gesamt- 
anblick des  Erkennens  entscheidet.  Aber  wie  ist  hier  zu  einer  Antwort 
zu  gelangen  ?  Daß  sich  beim  Erkenntnisproblem  nicht  unmittelbar  an 
die  Vergangenheit  anknüpfen,  sich  nicht  von  dort  ein  Faden  einfach 
aufnehmen  und  fortführen  läßt,  das  zeigte  der  Überblick  der  welt- 
geschichtlichen Bewegung,  und  das  fand  sich  bestätigt  durch  die  eigen- 
tümliche Lage  der  Gegenwart;  wir  empfinden  heute  mehr  die  Ab- 
weichung als  die  Übereinstimmung  mit  früheren  Leistungen,  wir  sehen 
uns  von  ihnen  eher  Wege  versperrt  als  gewiesen.  Die  Entfaltung 
des  geistigen  Lebens  trieb  Natur  und  Seele  innerlich  weiter  und 
weiter  auseinander,  sie  verwehrt  damit  auch  dem  Erkennen  ein  un- 
mittelbares Zusammenfassen  beider,  sie  zwingt  es  zu  einer  Entscheidung 
für  das  eine  oder  das  andere.  So  geschah  es,  grundverschiedene 
Weltbilder  erschienen  und  rissen  die  Wahrheit  an  sich.  Aber  keins 
war  stark  genug,  um  das  Feld  gänzlich  einzunehmen,  immer  wieder 
trieb  es  die  Forschung  vom  einen  zum  andern  zurück.  Solche  Er- 
fahrung empfahl  eine  friedliche  Verständigung,  eine  schiedsrichter- 
liche Abgrenzung;   eine  solche  schien  am  ehesten  erreichbar  durch 


94  Zum  Erkenntnisproblem. 

ein  Anerkennen  verschiedener  Faktoren  im  Erkennen  und  die  Zu- 
weisung des  einen  hierher,  des  anderen  dahin.  Das  geschah  durch 
die  kantische  Unterscheidung  von  Form  und  Stoff.  Aber  diese 
Lösung  scheitert  an  der  Schwierigkeit,  ja  UnmögUchkeit,  die  nicht 
nur  verschiedenen,  sondern  durchaus  verschiedenartigen  Faktoren 
zusammenzubringen,  sinnliche  Empfindung  und  logische  Tätigkeit 
zu  gemeinsamer  Wirkung  zu  verknüpfen.  So  scheinen  wir  uns  weder 
für  das  eine  von  beiden  entscheiden,  noch  beides  miteinander 
festhalten  zu  können.  Zu  solcher  Erfahrung  aus  dem  Ganzen  der 
Geschichte  gesellen  sich  widerstreitende  Eindrücke  und  Antriebe  der 
Gegenwart.  Wir  empfinden  mehr  und  n^ehr  die  innere  Leere  eines 
bloß  mit  der  Erfahrungswelt  befaßten  Lebens  und  Denkens,  aber 
zugleich  umklammert  uns  die  Erfahrung  mit  immer  wachsender 
Macht.  Wir  wollen  mehr  Selbständigkeit  des  Denkens,  aber  die  Ab- 
neigung gegen  die  spekulativen  Systeme  läßt  uns  bei  jedem  Schritte 
vorwärts  zaudern  und  macht  uns  mißtrauisch  gegen  alle  Metaphysik. 
Eine  so  verworrene  Lage  zwingt,  das  Problem  direkt  ins  Auge 
zu  fassen  und  in  eigner  Weise  zu  behandeln.  Was  ist  es,  von 
dieser  Frage  sei  begonnen,  was  den  Menschen  über  die  Erfahrungs- 
welt hinausstreben  läßt  und  solchem  Streben  eine  Macht  verleiht? 
Ist  es  das  Denken  selbst,  dessen  Natur  auf  diesen  Weg  führt  und 
auch  die  Mittel  zu  seiner  Verfolgung  gewährt?  So  hieß  es  von 
alters  her,  so  hören  wir  vielfach  auch  heute.  Das  Denken,  so  scheint 
es,  enthält  Forderungen,  welche  die  Erfahrungswelt  nicht  befriedigt, 
auf  deren  Befriedigung  aber  eine  innere  Notwendigkeit  seines  eignen 
Wesens  es  bestehen  heißt.  So  muß  es  jene  Welt  verwandeln,  ja 
ihr  gegenüber  eine  neue  entwerfen,  da  doch  die  eigne,  innere  Not- 
wendigkeit ihm  mehr  als  alle  Eindrucke  der  Umgebung  gelten  muß. 
Das  wäre  einfach  und  überzeugend,  wenn  nur  nicht  die  vom  Denken 
behauptete  Notwendigkeit  über  das  Denken  hinaus  gelten  wollte  und 
die  von  ihm  entworfene  Welt  den  Anspruch  erhöbe,  die  eigne  Wahr- 
heit der  Dinge  zu  sein.  Das  aber  geschieht,  und  indem  es  geschieht, 
überschreitet  das  Denken  den  eignen  Bereich;  das  Recht  dazu  kann 
es  nur  durch  künstliche  Annahmen  stützen,  deren  Verfolgung  in 
immer  weitere  Schwierigkeiten  verwickelt.  Wie  ließe  sich  hier  dem 
Vorwurf  entrinnen,  daß  das  Denken  nur  menschliche  Bilder  in  die 
weite  Welt  hineinsieht?  Auch  ist  es  ein  eignes  Ding  mit  jener  ver- 
meintlichen Denknotwendigkeit.  Da  sie  selbst  jede  weitere  Begründung 
ablehnt  und  ablehnen  muß,  so  käme  die  Entscheidung  an  das  Ge- 


Denken  und  Erfahrung.  Q5 

fühl,  an  das  Gefühl  einer  Unabweisbarkeit,  eines  schlechterdings 
unwiderstehlichen  Zwanges.  Aber  läßt  sich  in  Wahrheit  ein  solcher 
fühlen,  und  führt  das  Gefühl  nicht  unvermeidlich  ins  Subjektive 
und  Individuelle?  In  Wahrheit  verfechten  hervorragende  Philosophen 
direkt  widerstreitende  Forderungen  als  denknotwendig:  Hegel  läßt 
das  Denken  alle  Wirklichkeit  in  Bewegung  umsetzen,  Herbart  möchte 
alle  Bewegung  aus  der  Wirklichkeit  entfernen;  jener  feiert  den 
Widerspruch  als  die  treibende  und  erhöhende  Kraft  des  Weltprozesses, 
dieser  will  ihn  in  keiner  Weise  dulden.  Wessen  Denknotwendigkeit 
ist  nun  die  echte,  welche  soll  uns  anderen  binden? 

Eine  Weltaufhellung  vom  bloßen  Denken  her  wäre  nur  unter  Einer 
Bedingung  erreichbar:  das  Denken  müßte  die  ganze  Wirklichkeit  in 
sich  tragen  oder  durch  seine  Bewegung  erzeugen;  dann  wäre  das 
Selbsterkennen  des  Denkens  zugleich  ein  Welterkennen,  und  der 
Lebensprozeß  hätte  seine  Wahrheit  bei  sich  selbst,  er  brauchte  sie  nicht 
von  außen  bestätigt  zu  haben.  So  trieb  die  Konsequenz  der  Sache 
die 'Philosophie  von  Plotin  bis  Hegel  immer  wieder  auf  diesen  Weg 
und  ließ  ihn  als  die  einzig  mögliche  Überwindung  des  Spaltes 
zwischen  Denken  und  Sein  begrüßen.  Aber  wie  viel  der  Absor- 
bierung der  ganzen  Wirklichkeit  durch  das  Denken  widersteht,  und 
wie  sich  dabei  die  Welt  in  ein  bloßes  Schattenreich  formaler  Be- 
griffe zu  verwandeln  droht,  das  ist  der  Neuzeit  durch  die  Erfahr- 
ungen des  Hegeischen  Systems  viel  zu  deutlich  geworden,  um  sich 
bald  vergessen  zu  lassen. 

Wenn  aber  weder  das  Denken  mit  dem  Sein  zusammenfällt, 
noch  sich  vDn  ihm  ein  draußen  befindliches  Sein  erreichen  läßt,  so  ist 
vom  freischwebenden  Denken  aus  überhaupt  kein  Erkennen  möglich, 
im  besondern  kein  Aufbau  eines  selbständigen  Gedankenreiches  neben 
der  Erfahrungswelt.  Alle  Aussicht  eines  Gelingens  beruht  also 
darauf,  daß  das  Denken  in  weitere  Zusammenhänge  tritt  und  damit 
ein  anderes  Verhältnis  zur  Wirklichkeit  gewinnt;  das  aber  tut  es  in 
Wahrheit.  Das  Denken  bildet  nicht  von  vornherein  den  ganzen 
intellektuellen  Kreis  des  Menschen,  sondern  dieser  wird  zunächst  von 
den  Assoziationen  der  einzelnen  Vorstellungen  mit  ihrem  mecha- 
nischen Getriebe  eingenommen;  das  Denken  mit  seiner  Richtung 
auf  das  Gegenständliche,  seinen  inneren  Gesetzen,  seinem  synop- 
tischen Umspannen  der  Mannigfaltigkeit  gegenüber  dem  sukzessiven 
Verlaufen  der  Vorstellungsketten  hat  sich  dagegen  erst  aufzuringen 
und   durchzusetzen.     Das  aber  kann   es   nur,   und  es  ist  überhaupt 


96  Zum  Erkenntnisproblem. 

eine  lebendige  Kraft  nur  als  ein  Stück  und  ein  Ausdruck  einer 
neuen  Lebensstufe,  die  erst  im  Menschen  aufsteigt  Damit  aber 
kommen  wir  auf  den  Begriff  des  Geisteslebens,  wie  wir  ihn  im 
Unterschied  vom  bloßen  Seelenleben  fassen  lernten.  Im  geistigen 
Leben  erkannten  wir  eine  Wendung  der  gesamten  Wirklichkeit,  bei 
der  sie  eine  Tiefe  entwickelt  und  sich  zugleich  zu  einem  Weltleben 
zusammenfaßt;  am  Geistesleben  teilgewinnen  heißt  daher  zugleich  an 
einem  Weltleben  teilgewinnen;  es  sind  nicht  Erfahrungen  des  bloßen 
Punktes,  es  sind  Erfahrungen  vom  Ganzen,  die  aus  seinen  Beweg- 
ungen und  Wandlungen  hervorgehen.  Dies  neue  Leben  zeigte  sich 
auch  dem  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  überlegen,  es  ist  kein 
halbes  Sein,  das  zu  seiner  Ergänzung  eines  Fremden  bedürfte,  son- 
dern es  ist  als  volltätiges  Leben  über  jenen  Gegensatz  hinausgehoben, 
es  trägt  in  sich  den  Umriß  einer  selbständigen  Wirklichkeit  und 
strebt  in  seiner  Bewegung  zur  vollen  Durchbildung  dieser  Wirklich- 
keit. —  Dies  Geistesleben  nun  ist  der  Träger  des  Denkens  und 
alles  Erkenntnisstrebens,  nicht  der  bloße  Mensch  und  das  einzelne 
Individuum;  das  Erkennen  aber  erscheint  in  neuem  Lichte,  wenn  es 
weder  auf  sich  selbst  noch  auf  ein  draußen  gelegenes  Sein,  sondern 
erstwesentlich  auf  das  Geistesleben  geht,  von  dem  es  selbst  umspannt 
wird;  Welterkennen  kann  es  nur  werden,  wenn  das  Geistesleben  den 
Kern  der  Wirklichkeit  bildet. 

Eine  solche  Begründung  im  Geistesleben  und  zugleich  ein  Welt- 
charakter kommt  allem  Wissen  zu,  aber  es  ist  leicht  zu  ersehen,  wie 
hier  die  Philosophie  eine  besondere  Aufgabe  findet.  Alles  Erkenntnis- 
streben beruht  auf  einem  Verhältnis  von  Ganzem  zu  Ganzem.  Aber 
dies  Verhältnis  kann  als  eine  stillschweigende  Voraussetzung  im 
Hintergrunde  bleiben,  und  die  Arbeit  kann  sich  auf  einzelne  Gebiete 
oder  einzelne  Beziehungen  richten;  es  bedarf  einer  eignen  Wissen- 
schaft, welche  die  Sache  als  Ganzes  behandelt,  vor  allem  die  be- 
gründende Tatsache  zu  voller  Klarheit  herausarbeitet  und  ihren  Ge- 
halt wie  ihre  Stellung  zur  umgebenden  Welt  zu  ermitteln  sucht; 
diese  Wissenschaft  aber  ist  die  Philosophie.  So  gewiß  das  Geistes- 
leben keine  Zusammensetzung  aus  einzelnen  Punkten,  sondern  ein 
inneres  Ganzes  ist,  so  zuversichtlich  läßt  sich  erwarten,  daß  sich 
mit  der  Philosophie  ein  neuer  Weltanblick  eröffnet,  daß  sie  bei  allem, 
was  sie  von  den  einzelnen  Wissenschaften  empfangen  muß,  ihnen 
auch  eine  selbständige  Leistung  entgegenzusetzen  vermag  und  von  hier 
aus  alle  dargebrachten  Tatsachen  von  neuem  in  Probleme  verwandelt. 


Denken  und  Erfahrung.  97 

So  ist  der  Angelpunkt  aller  philosophischen  Betrachtung  und 
das  Axiom  der  Axiome  die  Tatsache  eines  weltumspannenden  Geistes- 
lebens. Schon  daß  überhaupt  eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit  über 
die  Natur  hinaus  anerkannt  wird,  verändert  den  Anblick  der  Welt 
und  zeigt  auch  die  Natur  in  anderer  Beleuchtung.  Aber  das 
Geistesleben  ist  nicht  nur  irgendwelches  Mehr  gegenüber  der  Natur, 
es  muß,  so  gewiß  es  die  Wendung  der  Wirklichkeit  zu  ihrer  eignen 
Innerlichkeit,  so  gewiß  es  das  Beisichselbstsein  des  Lebens  bedeutet, 
die  letzte  und  abschließende  Stufe  sein  wollen;  als  solche  aber  muß 
es  den  Anspruch  erheben,  alles  von  sich  aus  zu  verstehen  und  alles 
an  sich  zu  messen.  Dieser  Anspruch  aber  führt  notwendig  zur 
Frage,  wie  weit  das  im  Menschen  gegenwärtige  Geistesleben  solcher 
Aufgabe  gewachsen  sei,  die  Widerstände  wollen  erwogen,  die  Mög- 
lichkeit einer  Überwindung  geprüft  sein,  aus  Größe  und  Schranke 
zusammen  ergibt  sich  eine  dem  Menschen  eigentümliche  Art. 

Alles  zusammen  stellt  der  Philosophie  eine  besondere  Aufgabe 
und  eröffnet  ihr  einen  selbständigen  Weltdurchblick,  ihre  Arbeit 
wird  damit  charakteristische  Züge  empfangen,  von  denen  hier 
namentlich  drei  herausgehoben  sein  mögen. 

1.  Wenn  die  Philosophie  vom  Ganzen  des  Geisteslebens  zum 
Ganzen  der  Wirklichkeit  strebt,  so  liegt  ihre  Arbeit  nicht  innerhalb 
eines  gegebenen  Raumes,  sondern  sie  hat  diesen  Raum  erst  herzu- 
stellen, sie  findet  nicht  ihre  Welt,  sondern  sie  hat  sie  erst  zu  bilden; 
das  Ganze,  das  sie  sucht,  tritt  ihr  nie  von  außen  her  entgegen,  es  will 
von  innen  her  entworfen  sein,  es  verlangt  eine  Synthese  schöpferischer 
Art.  Zur  Selbständigkeit  wird  dieses  Weltbild  der  Philosophie 
namentlich  dadurch  getrieben,  daß  das  von  ihrer  Synthese  umspannte 
Dasein  ohne  Umwandlung  nicht  in  sie  einzugehen  vermag.  Denn 
was  es  bietet,  ist  viel  zu  verschiedenartig,  um  sich  ohne  weiteres  zu- 
sammenzufügen. Namentlich  das  Zusammentreffen  von  Natur  und 
Innenwelt  in  Einer  Wirklichkeit  treibt  zwingend  zur  Umwandlung  des 
ersten  Anblicks.  Schon  dadurch  ist  namentlich  der  modernen  Ge- 
dankenarbeit ein  Trieb  zur  Metaphysik  unzerstörbar  eingepflanzt,  daß 
die  Neuzeit  den  Gegensatz  von  Natur  und  Seele  zur  vollen  Klarheit 
gebracht  hat,  und  daß  dieser  Gegensatz  sich  beim  Versuch  einer 
unmittelbaren  Zusammenfassung  notwendig  zu  einem  unerträglichen 
Widerspruch  steigert.  Zugleich  ist  auch  das  eine  Sache  der  philo- 
sophischen Tätigkeit  selbst,  wie  viel  von  dem  Umfange  unseres 
Lebens-  und  Gedankenkreises  in  jene  Synthese  eingeht  und  zu  ihrer 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  7 


98  Zum  Erkenntnisproblem. 

Gestaltung  mitwirkt.  Denn  nicht  alles  uns  irgend  Bekannte  ist  bei 
jener  philosophischen  Synthese  gegenwärtig.  Auch  der  beherrschende 
Mittelpunkt,  der  alles  um  sich  gruppiert  und  das  Ganze  eigentümlich 
gestaltet,  will  immer  erst  gewonnen  sein  und  läßt  sich  an  verschie- 
denen Stellen  suchen.  Die  Zeiten  gehen  hier  weit  auseinander. 
Nachdem  die  mittelalterliche  Gestaltung  des  Geisteslebens  seinen 
ganzen  Umkreis  der  Religion  unterworfen  hatte,  erhob  die  Auf- 
klärung das  Verlangen  nach  einer  größeren  Weite  der  Wirklichkeit; 
sie  fand  aber  eine  solche  in  dem  Nebeneinander  von  Natur  und 
einzelnen  Seelen,  einem  Nebeneinander,  das  sich  nicht  ohne  Gewalt- 
samkeit einer  beherrschenden  Einheit  unterwerfen  ließ.  Die  von 
Kant  anhebende  Bewegung  erzeugt  den  Begriff  eines  selbständigen 
Geisteslebens  und  macht  es  mit  seiner  geschichtlich-gesellschaftlichen 
Entfaltung  zum  Kern  des  Ganzen.  Aber  da  sie  das  Geistesleben 
mehr  und  mehr  in  das  bloße  Denken  setzt,  so  wird  die  davon  um- 
spannte Wirklichkeit  zu  eng,  ein  Rückschlag  wird  unvermeidlich,  und 
dieser  Rückschlag  droht  das  Geistesleben  wieder  aus  dem  Gesichts- 
kreis der  Philosophie  zu  rücken  und  damit  in  das  Wirklichkeitsbild 
der  Aufklärung  zurückzufallen;  zugleich  wird  der  Mangel  eines  be- 
herrschenden Mittelpunktes  peinlich  empfunden,  den  in  Wahrheit  nur 
ein  selbständiges  Geistesleben  zu  gewähren  vermag. 

Daß  so  immer  von  neuem  zum  Probleme  wird,  wie  viel 
Wirklichkeit  in  die  philosophische  Synthese  eingeht,  und  wo  der 
springende  Punkt  der  Synthese  liegt,  zeigt  deutlich  die  größere 
Freiheit  der  philosophischen  Arbeit;  bei  allem  Zusammenhange  mit 
den  einzelnen  Wissenschaften  wird  sie  durch  die  Forderung  kühnen 
Vordringens  und  mutigen  Vorausentwerfens  zur  Spekulation  getrieben. 
Die  Hilfe  intellektueller  Phantasie  ist  dabei  unentbehrlich;  was  aber 
diese  Phantasie  an  Gestalten  entwirft,  das  wird  sie  dem  Menschen 
nicht  eindringlich  machen  können,  ohne  eben  der  Erfahrungswelt 
Bilder  zu  entlehnen,  über  welche  die  Philosophie  hinausführt. 

Das  alles  ist  voller  Gefahren,  aber  ohne  solche  gibt  es  kein 
großes  Unternehmen,  und  wenn  die  Philosophie  unser  ganzes  Da- 
sein in  Freiheit  verwandeln  möchte  und  uns  aus  einer  gegebenen 
Welt  in  eine  eigne,  selbstgebildete  versetzt,  so  muß  sie  auch  die 
Gefahren  der  Freiheit  tragen.  Immerhin  erscheint  das  Wagnis 
der  Philosophie  bei  unserer  Fassung  in  ganz  anderer  Beleuchtung 
als  in  den  Systemen  freischwebender  Begriffskonstruktion.  Denn  bei 
uns  geht  das  Streben  vor  allem  auf  eine  Tatsache,  die  das  Denken 


Denken  und  Erfahrung.  gg 

selbst  begründet,  auf  die  Tatsache  eines  weltumfassenden  Geistes- 
lebens; was  in  ihm  liegt,  das  ist  als  eine  Tatsache  zu  ermitteln,  das 
ist  aufzuweisen,  nicht  abzuleiten;  wie  es  zur  umgebenden  Welt  steht, 
welchen  Widerstand  es  in  ihr  findet,  und  wie  es  zu  seiner  Über- 
windung sich  selber  weiterzubilden  hat,  das  alles  ist  eine  Frage 
der  Tatsächlichkeit,  aber  freilich  einer  Tatsächlichkeit,  die  nicht  von 
außen  her  zufallen  kann,  sondern  in  Zusammenfassung  des  Lebens, 
im  Aufklimmen  zu  einem  Sehen  und  Messen  vom  Ganzen  zum 
Ganzen  immer  neu  zu  erringen  ist.  Darin  steckt  eine  freie  Tat, 
die  sich  keiner  Zeit  und  keinem  Individuum  aufzwingen  läßt,  die 
damit  aber  keineswegs  eine  Sache  individuellen  Beliebens  und  Ge- 
schmackes wird. 

2.  Erst  die  Philosophie  rechtfertigt  ein  Streben  über  ein  bloßes 
Kennen  der  Dinge  hinaus  zu  einem  Erkennen.  Denn  Erkennen  ist 
nichts  anderes  als  ein  Hineinziehen  in  das  eigene  Leben,  ein  Sich- 
selbstfinden,  ein  Selbsterkennen.  Das  bietet  nun  und  nimmer  die 
Erfahrungswelt  mit  ihrem  Nebeneinander,  aber  auch  mit  der  Auf- 
nahme der  Dinge  in  das  subjektive  Seelenleben,  das  bloßmensch- 
liche Fürsichsein,  wird  es  nicht  erreicht.  Denn  ein  solches  Fürsich- 
sein trägt  bloß  die  eigne  Zuständlichkeit  in  die  Welt  hinein,  es  ver- 
menschlicht sie  und  ist  daher  auch  in  seiner  höchsten  Vollendung 
nur  dem  Grade  nach  von  der  kindlichen  Personifizierung  der  Um- 
gebung verschieden,  welche  die  Anfänge  kennzeichnet.  Eine  Inner- 
lichkeit, die  den  Dingen  nicht  von  draußen  aufgedrängt  wird,  sondern 
ihr  eignes  Sein  erschließt,  erscheint  erst  im  Geistesleben,  das  sich 
selbst  in  ihnen  sucht  und  findet,  das  mit  seiner  umspannenden 
Kraft  die  Widerstände  in  innere  Hemmungen  verwandelt  und  den 
Kampf  mit  ihnen  zu  einem  inneren  Erlebnis  gestaltet.  Die  Philo- 
phie  aber  ist  es,  welche  diese  Bewegung  zur  inneren  Durchleuchtung, 
zum  Verstehen  der  Wirklichkeit  auf  sich  nimmt.  Wie  weit  eine 
solche  Vergeistigung  der  Welt  dem  Menschen  gelingen  kann,  und 
wie  weit  sie  in  einer  gegebenen  Lage  gelingt,  das  ist  eine  andere 
Frage,  aber  schon  die  Aufwerfung  des  Erkenntnisproblems  bekundet 
eine  völlige  Wendung  und  zerstört  alle  Befriedigung  bei  einem 
bloßen  Kennen  der  Dinge.  Alle  Hemmungen  und  alle  Zweifel 
lassen  die  Tatsache  unangetastet,  daß  beim  Menschen  eine  Aufhellung 
der  Wirklichkeit  beginnt;  wie  aber  könnte  er  über  das  Ganze  der 
Welt  irgend  denken,  dächte  er  nicht  aus  dem  Ganzen  der  Welt? 
So  treibt  die  Bewegung  zwingend    über  alles  bloße  Anordnen  und 


100  Zum  Erkenntnisproblem. 

Aufschichten  der  Erscheinungen  hinaus  zum  Erringen  einer  Seele; 
selbst  die  Schranken  könnten  nicht  als  Schranken  empfunden  werden, 
wäre  das  menschliche  Leben  und  Denken  ihnen  nicht  irgendwie 
überlegen.  Die  berufene  Vertreterin  dieses  Verlangens  nach  Seele 
aber  ist  die  Philosophie;  sie  kann  jene  Aufgabe  der  Verinner- 
lichung  der  Wirklichkeit  mit  besonderem  Nachdruck  angreifen,  wo 
das  Geistesleben  mit  voller  Klarheit  als  der  Träger  jenes  Strebens 
anerkannt  und  die  ganze  Weite  des  Daseins  zu  ihm  in  Beziehung 
gesetzt  wird. 

3.  Endlich  ist  es  die  Philosophie,  welche  den  Zusammenhang 
des  Erkenntnisstrebens  mit  dem  Ganzen  des  Geisteslebens  deutlicher 
herausstellt,  als  es  irgend  sonst  geschieht,  und  damit  jenem  Streben 
mehr  Sicherheit,  Kraft  und  Bedeutung  verleiht.  Die  Philosophie 
bedarf  jenes  Lebens,  weil  nur  sein  Gehalt  und  seine  Kraft  sie  über 
den  Stand  einer  fruchtlosen  Reflexion  erhebt  und  aus  tastendem 
Suchen  in  ein  sicheres  Schaffen  bringt;  das  Leben  bedarf  der  Philo- 
sophie, weil  es  nur  durch  sie  seine  volle  Durchleuchtung,  Einigung 
und  Ursprünglichkeit  erreicht. 

Wie  die  Philosophie  aus  dem  Gesamtleben  hervorgeht  und  sich 
nach  seiner  eigentümlichen  Lage  verschieden  gestaltet,  das  zeigt  uns 
jede  Vergleichung  verschiedener  Zeiten  und  verschiedener  Kulturen. 
Wie  grundverschieden  ist  z.  B.  die  Art  und  das  Streben  der  Philo- 
sophie im  indischen  und  im  vorderasiatisch -europäischen  Kultur- 
kreise gemäß  dem  Typus  des  Lebens  hier  und  dort!  Dort  weniger 
eine  Durchdringung  und  Überwindung  der  Welt  als  eine  Ablösung 
und  Befreiung  von  ihr,  nicht  eine  Steigerung  des  Lebens,  um  es 
auch  gegen  die  härtesten  Widerstände  durchzusetzen,  sondern  eine 
Herabstimmung,  ein  Auflösen  aller  Härte,  ein  Verschwimmen  und 
Verschwinden,  eine  tiefsinnige,  aber  tatenlose  Kontemplation;  hier 
dagegen  ein  kräftiger  Lebenstrieb,  ein  zähes  Festhalten  des  Daseins 
gegenüber  allen  Widerständen,  ein  Zurückkehren  zur  Selbstbejahung 
aus  aller  Erschütterung  und  scheinbaren  Vernichtung,  ein  Vordringen 
durch  alle  Hemmungen  zur  Entwerfung  neuer  Welten  und  zur  Her- 
stellung neuer  Lebensformen.  Zugleich  wird  auch  die  Philosophie 
mehr  Eindringen  in  die  Welt,  mehr  Ringen  mit  ihren  Widerständen, 
mehr  Fortschreiten  durch  das  Überwinden  dieser  Widerstände.  — 
Doch  wir  brauchen  nicht  in  die  Ferne  zu  schweifen,  um  den  engen 
Zusammenhang  des  philosophischen  Strebens  mit  dem  Gesamtstande 
des  Geisteslebens  zu   gewahren;   die  eigne  Erfahrung  des  19.  Jahr- 


Denken  und  Erfahrung.  101 

Hunderts  zeigt  ihn  mit  völliger  Klarheit.  Warum  konnten  die 
Systeme  freischwebender  Spekulation  unsere  Väter  unwiderstehlich 
fortreißen,  während  sie  uns  ganz  fremdartig  anmuten  und  auch  durch 
die  eifrigsten  Versuche  einer  Wiederbelebung  keine  rechte  Über- 
zeugungskraft gewinnen?  Weil  sich  seitdem  die  Gesamtlage  und 
zugleich  die  Grundstimmung  des  Lebens  aufs  wesentlichste  ver- 
ändert hat.  Damals  fühlte  sich  der  Mensch  mit  seinem  geistigen 
Schaffen  im  Mittelpunkte  der  Welt;  wie  dieses  Schaffen  alle  Wirk- 
lichkeit in  Vernunft  zu  verwandeln  schien,  so  durften  seine  Begriffe 
bei  mutigem  Vordringen  die  letzte  Tiefe  der  Welt  zu  erschließen 
hoffen,  so  schien  der  Vollbesitz  der  Wahrheit  kein  zu  kühnes 
Verlangen.  Heute  dagegen  beherrscht  uns  die  Empfindung  der 
winzigen  Kleinheit  des  Menschen  gegenüber  der  unermeßlichen 
Welt,  und  statt  im  Zentrum  fühlen  wir  uns  an  der  Peripherie  der 
Dinge,  heute  faßt  sich  das  geistige  Leben  nicht  zu  einheitlichem 
Schaffen  zusammen,  heute  bedrängen  zugleich  uns  schwere  Verwick- 
lungen im  eignen  Kreise  des  Menschen.  Behauptet  sich  bei  solcher 
Lage  überhaupt  ein  philosophisches  Streben,  so  müssen  wir  erst 
wieder  Kraft  dafür  sammeln  und  scheinen  nur  langsam  und  vor- 
sichtig vom  Saume  der  Dinge  her  einigermaßen  vordringen  zu 
können. 

Wie  aber  die  Philosophie  aus  dem  Gesamtleben  schöpft,  so 
wirkt  sie  auch  dahin  zurück.  Jede  große  philosophische  Leistung 
trägt  in  sich  ein  Aufstreben  des  ganzen  Geisteslebens,  sie  ist  kein 
Erzeugnis  bloß  intellektueller  Geschicklichkeit,  sondern  ein  Werk 
und  eine  Bekräftigung  der  gesamten  geistigen  Art,  auch  eine  Selbst- 
erhaltung weltumspannender  Persönlichkeit.  Das  eben  kennzeichnet 
wahrhaft  große  philosophische  Leistungen,  daß  sich  in  ihnen  nicht 
bloß  eine  Klärung  der  Begriffe,  eine  Erweiterung  des  intellektuellen 
Horizontes  vollzieht,  sondern  durch  ihre  Arbeit  eine  Weiterbildung 
des  Lebensprozesses  selbst,  ein  Wachstum  der  geistigen  Wirklichkeit 
erfolgt.  Die  Philosophie  liefert  keineswegs  bloße  Abdrücke  fertiger 
Dinge,  sondern  sie  nimmt  selbst  am  Bilden  und  Bauen  teil;  so  ist 
sie  nach  ihrer  innersten  Natur  keineswegs  eine  kühle  Betrachtung, 
sondern  eine  Sache  kräftigen  Lebensaffektes.  Nur  ein  solcher  Zu- 
sammenhang mit  dem  Gesamtleben  erklärt  die  Stellung  und  Bedeutung 
der  Philosophie  im  menschlichen  Dasein,  die  sonst  einen  rätselhaften 
Widerspruch  enthält  Denn  äußerlich  angesehen,  erscheint  die  Philo- 
sophie  als    ein   Durcheinander  von   Systemen,  die  sich  gegenseitig 


102  Zum  Erkenntnisproblem. 

widersprechen  und  sich  in  ihrer  Wirkung  einander  aufzuheben 
scheinen,  die  dazu  im  großen  und  ganzen  bei  der  Menschheit  mehr 
Ablehnung  als  Zustimmung  fanden.  Aber  zugleich  sehen  wir  das 
geistige  Leben  verarmen  und  verkümmern,  wo  es  alle  Beziehung 
zur  Philosophie  aufgibt.  So  ist  es  am  augenscheinlichsten  bei  der 
Religion;  wie  eng,  wie  dürftig  wird  sie,  wo  sie  aller  Philosophie 
entsagt!  Der  Widerspruch  löst  sich  bei  Anerkennung  jener  Ver- 
kettung der  Philosophie  mit  dem  Ganzen  des  Lebens.  Denn  damit 
wird  zu  ihrer  Hauptleistung  nicht  eine  Ablieferung  fertiger  Lehren, 
sondern  die  innere  Erhöhung  des  Lebensprozesses,  der  Gewinn  an 
Selbständigkeit  und  Ursprünglichkeit,  die  Befähigung,  mehr  Ganzes, 
mehr  Inneres,  mehr  Wesenhaftes  in  den  Dingen  zu  sehen. 

Diese  Verbindung  der  Philosophie  mit  dem  Leben  ist  auch 
geeignet,  ihr  Auseinandergehen  in  verschiedene  Richtungen  ver- 
ständlich zu  machen,  ohne  diese  einander  gleichzusetzen  und  damit 
eine  allgemeingültige  Wahrheit  aufzugeben.  Das  nämlich  bringt 
die  Entscheidung  auch  über  die  Art  der  Philosophie,  was  als  Mittel- 
punkt des  Lebens  erklärt  wird,  und  wie  die  Gestaltung,  die  daraus 
hervorgeht,  zum  Ganzen  der  Wirklichkeit  steht  Zunächst  kommt 
in  Frage,  ob  überhaupt  eine  Zusammenfassung  zum  Ganzen  voll- 
zogen wird,  oder  das  Leben  bei  einem  bloßen  Nebeneinander  ver- 
bleibt; in  diesem  Falle  entsteht  überhaupt  keine  Philosophie.  Beim 
Versuch  einer  Zusammenfassung  aber  wird  die  Hauptfrage  die,  ob 
das  natürliche  Dasein,  wozu  auch  das  Durchschnittsleben  der  Ge- 
sellschaft gehört,  oder  ob  ein  ihm  überlegenes  Reich  des  Bei- 
sichselbstseins  des  Lebens  mit  geistigen  Inhalten  und  Werten  den 
Hauptstandort  des  Denkens  bilde;  dort  entsteht  der  Naturalismus 
mit  seinem  Empirismus,  hier  der  Idealismus  mit  seiner  Verfechtung 
eines  a  priori.  Eine  weitere  Entscheidung  entsteht  innerhalb  des 
Idealismus  bei  Beantwortung  der  Frage,  wie  das  aufstrebende  geistige 
Leben  sich  zu  den  Widerständen  verhält,  welche  die  Weltlage  ihm 
entgegensetzt.  Glaubt  der  Idealismus  durch  volle  Entfaltung  der 
eignen  Kraft  allen  Widerstand  unmittelbar  überwinden  und  auch 
das  scheinbar  Feindliche  sich  ganz  und  gar  assimilieren  zu  können, 
so  entsteht  ein  reiner  Idealismus;  dieser  aber  wird  zu  spekulativer 
Konstruktion  und  zur  Geringschätzung  der  Erfahrung  neigen.  Wo 
hingegen  der  Widerstand  als  zu  groß  erscheint,  um  sich  durch 
geistige  Kraft  überwinden  zu  lassen,  da  wird  sich  der  Pessimismus 
entfalten    und   in   der  Erkenntnislehre  einen  Skeptizismus  erzeugen; 


Denken  und  Erfahrung.  103 

diese  Denkweise  steckt  das  Ziel  im  Sinne  des  Idealismus  und  gehört 
daher  auf  seine  Seite,  aber  da  sie  es  für  schlechthin  unerreichbar 
erklärt,  so  beläßt  sie  das  Leben  unter  der  peinlichen  Macht  eines 
fundamentalen  Widerspruches.  Wo  aber  der  Widerstand  wohl  in 
seiner  Schwere  anerkannt  wird,  aber  eine  Weiterbildung  des  Lebens 
trotzdem  möglich  scheint,  die  wenigstens  seinen  innersten  Kern  von 
jener  Lähmung  befreit,  da  wird  sich  ein  Idealismus  entwickeln,  den 
man  einen  positiven  nennen  könnte;  er  drängt  zu  einer  Metaphysik, 
die  von  einer  bloßen  Begriffskonstruktion  aufs  deutlichste  unter- 
schieden bleibt.  Von  hier  aus  würde  jener  reiner  Idealismus  als 
ein  abstrakter  erscheinen,  der  nicht  tief  genug  in  den  Tatbestand 
der  Wirklichkeit  eindringt  und  es  nicht  schwer  genug  mit  ihren 
Widerständen  nimmt.  Die  Haupttypen  des  philosophischen  Denkens, 
die  damit  entstehen,  können  nicht  als  gleichwertige  Möglichkeiten 
gelten  und  sich  friedlich  miteinander  vertragen,  sondern  nur  eine 
darf  als  der  volle  Ausdruck  der  Wahrheit  gelten;  aber  zugleich 
ma^cht  solche  Verbindung  mit  dem  Leben  augenscheinlich,  daß  die 
Entscheidung  des  Menschen  wesentlich  durch  seine  eigne  Lage  und 
Erfahrung  wie  auch  durch  die  Arbeit  und  die  Stimmung  der  je- 
weiligen Zeit  bestimmt  sein  wird,  und  daß  wir  daher,  so  gewiß  nur 
eine  einzige  Wahrheit  besteht,  uns  schwerlich  je  einträchtig  bei  ihr 
zusammenfinden  werden. 

Wir  brauchen  dabei  nicht  zu  fürchten,  daß  solche  engere  Ver- 
knüpfung der  Philosophie  mit  dem  Ganzen  des  Lebens  sie  dem 
Wechsel  und  Wandel  geschichtlicher  Lagen  preisgebe  und  einem 
zerstörenden  Relativismus  überliefere.  Denn  das  würde  nur  geschehen, 
wenn  das  geistige  Leben  lediglich  ein  Erzeugnis  des  geschichtlich- 
gesellschaftlichen Daseins  und  zugleich  eine  Erscheinung  am  bloßen 
Menschen  wäre.  In  Wahrheit  ist  alle  geschichtlich-gesellschaftliche 
Geistigkeit  nur  die  Entfaltung  eines  zeitlosen,  allem  bloßmenschlichen 
Dasein  überlegenen  Geisteslebens;  die  Kultur  hat  nur  eine  Seele 
und  ist  nur  echter  Art,  soweit  sie  an  einem  solchen  Geistesleben 
teilhat.  Es  wirkt  etwas  Überzeitliches  in  jeder  großen  geschichtlichen 
Erscheinung,  etwas  Übermenschliches  in  jedem  geistigen  Aufschwung 
des  Menschen.  Dies  Überzeitliche  und  Übermenschliche,  mit  Einem 
Worte  das  Absolute,  herauszuarbeiten,  dazu  ist  die  Philosophie  be- 
sonders berufen.  Denn  nicht  nur  hat  sie  die  größte  Weite  des 
Gesichtskreises,  sie  kann  kraft  der  Freiheit  des  Denkens  am  ehesten 
zu  den  ursprünglichen  Tatsachen  und  zugleich  zu  einer  Betrachtung 


104  Zum  Erkenntnisproblem. 

sub  specie  aeterni  vordringen;  sie  kann  in  einer  durchgreifenden 
Umkehrung  unser  Leben  dem  bloßen  Strom  der  Dinge  entreißen 
und  es  bei  sich  selbst  befestigen,  sie  kann  eine  Kritik  an  allen  vor- 
liegenden Leistungen  üben,  indem  sie  dieselben  auf  den  Grund- 
prozeß und  die  inneren  Notwendigkeiten  zurückführt  und  daran  mißt, 
sowie  ihnen  von  da  aus  neue  Aufgaben  vorhält.  Mit  solcher  Um- 
kehrung der  ersten  Lage  bringt  die  Philosophie  nur  eine  durch- 
gängige Notwendigkeit  des  Geisteslebens  zum  Ausdruck,  und  dient  sie 
seiner  Erhebung  zur  vollen  Selbständigkeit  und  Ursprünglichkeit. 
Schon  in  dem  Streben  danach  liegt  eine  Wendung  des  Lebens  und 
eine  Befreiung,  es  verändert  den  Anblick  des  Lebens  wie  der  ganzen 
Wirklichkeit.  Das  allein  genügt,  diese  Wendung  bedeutend  zu 
machen,  daß  ihre  Vorhaltung  absoluter  Forderungen  die  Gering- 
fügigkeit unseres  Besitzes  zum  Bewußtsein  bringt  und  uns  weitere 
Tiefen  ahnen  läßt.  ^ 

c)  Die  Wendung  zur  Metaphysik. 

Die  Philosophie,  so  sahen  wir,  gewinnt  eine  eigentümliche  Auf- 
gabe nur  in  Erhebung  über  die  Erfahrungswelt,  sie  kommt  dazu 
nicht  erst  nachträglich,  sie  enthält  sie  von  vornherein.  Daher  hat 
ihre  Arbeit  von  Haus  aus  eine  beträchtliche  Spannung;  diese  steigert 
sich  aber  zu  einem  schroffen  Widerspruch  durch  die  besonderen  Er- 


^  Es  sei  hiezü  eine  Stelle  des  tiefsinnigen  Steffensen  angeführt,  obschon 
sein  Gedankengang  sich  nicht  völlig  mit  dem  unsrigen  deckt.  Er  sagt  (siehe 
Gesammelte  Vorträge  und  Aufsätze  S.  6):  »Nicht  aus  sich  selber,  aus  ihren 
Werken  oder  der  besonderen  Macht  oder  Reinheit  ihrer  Leidenschaft  schöpft 
sie  (d.  h.  die  Philosophie)  ihren  Ruhm,  sondern  aus  der  lichten  Höhe,  in 
welcher  der  Gegenstand  schwebt,  dem  sie  sich  ergeben  hat  und  dessen  Mit- 
teilungen sie  empfängt.  Darum  mag  sie  ohne  Gefahr  ihre  eigene  Ohnmacht 
bekennen  und  dann  und  wann  auf  eine  Weile  verstummen  und  sehr  un- 
scheinbar einhergehen;  ihr  altehrwürdiges  Dasein  bezeugt  doch  den  Menschen 
das  Hereinleuchten  einer  vollkommenen  Erkenntnis  in  den  veränderlichen 
Schein  dieser  Welt  und  unserer  alltäglichen  Denkart.  Wie  die  irdischen 
Entfernungen  zu  der  Tiefe  des  Fixsternhimmels,  so  verhalten  sich  die  Be- 
griffe und  Maße  der  empirischen  Wissenschaft  zu  dem  Erkennen,  nach  welchem 
die  Philosophie  emporstrebt,  und  die  gewaltigsten  Überzeugungen  der  ge- 
meinen Ansicht,  wenn  sie  dieselben  mit  der  Gewißheit  vergleicht,  von  deren 
Ahnung  sie  ausgeht,  erscheinen  ihr  nur  als  schwankende  Meinungen  des 
Augenblicks.  Ein  Standpunkt,  vor  dem  ein  so  unermeßlicher  Horizont  sich 
auftut,  wird  seine  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit  schon  zu  behaupten 
wissen." 


Denken  und  Erfahrung.  105 

fahrungen  des  menschlichen  Kreises.  Die  Art,  wie  hier  das  Geistes- 
leben vorliegt,  widerspricht  durchaus  seinem  Wesen;  wer  diesen 
Widerspruch  deutlich  erkennt,  der  kann  der  Entscheidung  nicht 
ausweichen,  entweder  das  Geistesleben  aufzugeben  oder  es  im 
Gegensatz  zur  vorliegenden  Welt  zu  behaupten  und  zum  Träger 
einer  eignen  Welt  zu  machen.  Das  Geistesleben  kann  die  Wirk- 
lichkeit nicht  beherrschen  und  an  sich  ziehen  ohne  eine  volle  Selb- 
ständigkeit, in  unserem  Kreise  aber  bildet  es  von  der  Natur  aus  eine 
bloße  Begleiterscheinung,  vom  geschichtlichen  Dasein  aus  ein  nach- 
trägliches Erzeugnis  des  menschlichen  Zusammenseins;  das  Geistes- 
leben geht  vom  Ganzen  zum  Einzelnen,  im  nächsten  Dasein  ist  alle 
Verbindung  eine  Zusammensetzung  aus  einzelnen  Elementen;  zum 
Geistesleben  gehört  Selbsttätigkeit  und  Ursprünglichkeit,  das  Dasein 
zeigt  eine  durchgängige  Verkettung  und  damit  eine  Gebundenheit 
alles  Wirkens;  das  Geistesleben  gibt  seine  Wahrheit  als  zeitüberlegen, 
das  menschliche  Leben  verläuft  in  der  Zeit  und  muß  ihrem  Wandel 
folgen.  Nun  kann  das  Geistesleben  bei  uns  unmöglich  als  Welt- 
kraft wirken,  ohne  auch  einen  eigentümlichen  Weltanblick  zu  er- 
zeugen; müssen  wir  also  auf  einem  solchen  bestehen  und  begegnen 
wir  dabei  einem  durchgängigen  Widerstände  der  nächsten  Welt,  so 
ist  die  Sache  im  Gegensatz  zu  ihr  durchzuführen.  Mit  solcher 
Steigerung  der  Weltüberlegenheit  zur  Gegensätzlichkeit  wird  die 
Spekulation  zur  Metaphysik,  Wie  diese  überhaupt  die  charakter- 
istischen Züge  der  Philosophie  kräftiger  ausprägt  und  klarer  heraus- 
stellt, so  wird  sie  namentlich  die  Umkehrung  des  Weltbildes  verstärken, 
welche  in  jener  liegt;  sie  wird  zugleich  erkennen  lassen,  daß  die 
gegebene  Welt  sich  nicht  völlig  in  eine  Entfaltung  eines  geistigen 
Seins  verwandeln  läßt,  sondern  daß  sie  dagegen  Widerstand  leistet; 
dieser  Widerstand  aber  muß  schwere  Verwicklungen  und  harte 
Kämpfe  erzeugen.  Ja  in  das  Gesamtbild  unserer  Welt  kommt  damit 
ein  geschichtliches  Element;  nichts  ist  charakteristischer  für  die  Meta- 
physik als  ein  solches,  wenn  auch  nicht  erkennen,  so  doch  ahnen 
zu  lassen.  In  dem  allen  wachsen  die  Probleme,  es  wächst  der  Ab- 
stand zwischen  den  Zielen  der  Sache  und  den  Mitteln  des  Menschen, 
das  Unternehmen  müßte  als  ein  vermessenes  Wagnis  erscheinen, 
stünde  nicht  hinter  der  Metaphysik  des  Denkens  eine  Metaphysik 
des  Lebens.  In  Wahrheit  trägt  alles  Leben  das  Problem  in  sich, 
das  die  Metaphysik  zur  deutlichen  Aussprache  bringt.  Denn  alles 
echte  Geistesleben  entwickelt   sich   bei  der  Menschheit  nicht  nur  in 


106  Zum  Erkenntnisproblem. 

einer  Überlegenheit,  sondern  in  einem  Widerspruch  zur  nächsten 
Welt;  die  Moral  z.  B.  ist  nicht  nur  etwas  anderes  als  die  natürliche 
Selbsterhaltung,  sondern  sie  muß  sich  im  direkten  Gegensatz  zu 
ernem  Weltgetriebe  selbstischer  Interessen  und  kleinlicher  Zwecke 
behaupten  und  in  hartem  Kampf  dagegen  ihr  Reich  erbauen.  Zu 
einem  solchen  Reich  aber  gehört  auch  ein  eigner  Weltanblick. 
Das  ergibt  schwere  Verwicklungen,  ohne  Zweifel,  aber  nicht  wir 
haben  sie  uns  bereitet,  sie  sind  uns  zugefallen  und  auferlegt.  Un- 
möglich läßt  sich  diesen  Verwicklungen  durch  einen  Rückzug  auf 
das  unmittelbare  moralische  Phänomen  entfliehen  und  etwa  die 
moralische  Persönlichkeit  als  ein  sicherer  Halt  ergreifen.  Denn  nicht 
nur  steht  solche  Persönlichkeit  mit  der  ihr  notwendigen  Einheit  des 
Lebens  und  Ursprünglichkeit  des  Handelns  in  schroffem  Widerspruch 
zu  dem  Nebeneinander  und  der  Gebundenheit  der  nächsten  Welt, 
sie  enthält  unmittelbar  eine  Weltbehauptung,  die  Behauptung  von 
der  Gegenwart  einer  neuen  Ordnung  der  Dinge,  sie  hat  damit  selbst 
einen  Weltcharakter.  Dieser  Weltcharakter  aber  wird  dem  Menschen 
zur  eindringlichen  Gegenwart  nur  mit  Hülfe  eines  Bildes  der  Wirk- 
lichkeit; so  treibt  eben  die  Selbsterhaltung  der  Persönlichkeit  zu  einer 
Metaphysik.  Demnach  wird  in  der  Metaphysik  um  die  Aufrecht- 
erhaltung einer  selbständigen  Philosophie  gekämpft,  die  Philosophie 
bricht  zusammen  ohne  den  Fortgang  zu  jener.  Die  Leugnung  der 
Metaphysik  bekundet  entweder,  daß  die  Bewegung  zur  Philosophie 
nicht  Kraft  genug  hat,  um  gegenüber  den  Widerständen  der  nächsten 
Welt  ihren  Weg  zu  verfolgen,  oder  daß  ein  flacher  Optimismus 
die  Widerstände  unterschätzen  läßt. 

Mit  der  Aufgabe  wachsen  freilich  auch  die  Widerstände;  was 
immer  der  Aufbau  einer  selbständigen  Philosophie  an  Hemmungen 
zu  überwinden  hatte,  das  wird  sich  hier  noch  steigern.  Der 
Aufschwung  wie  das  Festhalten  bekommt  jetzt  einen  heroischen 
Charakter,  die  Gedankenforderungen  werden  sich  hier  nie  rein  in 
Begriffe  umsetzen  lassen,  sondern  in  allem,  was  den  andeutenden 
Umriss  überschreitet,  auf  die  Hülfe  von  Bildern  angewiesen  sein. 
Aber  wenn  damit  die  Phantasie  noch  weiteren  Spielraum  gewinnt, 
nie  wird  deshalb  das  Ganze  ein  bloßes  Bild;  durch  alle  Unzuläng- 
lichkeit der  Darstellung  können  Notwendigkeiten  wirken,  die,  geistig 
angesehen,  das  Ursprünglichste  und  Gewisseste  unseres  ganzen 
Lebens  sind;  gerade  jene  Unzulänglichkeit  der  Darstellung  kann  die 
Gewißheit   der  Grundtatsache    nur   noch    stärker  empfinden    lassen. 


Denken  und  Erfahrung.  107 

Alle  Tiefe  des  geistigen  Lebens  hat  einen  symbolischen  Charakter; 
was  in  ihr  ursprünglich  aufsteigt  und  von  hier  aus  die  ganze  Wirk- 
lichkeit trägt,  geht  in  die  menschlichen  und  seelischen  Formen  nur 
unvollkommen  ein;  die  Leistung  dieser  hat  nur  in  der  Zurückbezieh- 
ung auf  jenen  Grund  und  in  der  Durchleuchtung  von  daher  eine 
Wahrheit;  sie  verfällt  der  Unwahrheit,  sobald  sie  sich  davon  ablöst 
und  mehr  als  ein  bloßes  Mittel  sein  will.  So  geschieht  es  vor  allem 
in  der  Religion,  die  zur  bloßen  Mythologie  zu  sinken  droht,  wenn 
ihre  Begriffe  und  Formen  nicht  unablässig  auf  den  geistigen 
Orundprozeß  zurückbezogen  und  von  da  aus  beseelt  werden.  Auch 
auf  der  Höhe  der  Kunst  waltete  oft  die  Empfindung,  daß  das 
Schaffen  durch  alles  Darstellen  hindurch  etwas  Tieferes  erweise, 
das  sich  wohl  anregen  und  beleben,  nicht  aber  angemessen  aus- 
drücken lasse.  ;,lch  habe  all  mein  Wirken  und  Leisten  immer  nur 
symbolisch  angesehen,  und  es  ist  mir  im  Grunde  ziemlich  gleichgiltig 
gewesen,  ob  ich  Töpfe  machte  oder  Schüsseln",  so  bekennt  es  von 
sich,  ein  Goethe  (Gespräche  mit  Eckermann).  Überall  der  Wider- 
spruch, daß  der  Lebensprozeß  im  innersten  Kern  über  das  Bloß- 
menschliche hinaus  zu  selbständiger  Geistigkeit  und  absoluter  Wahr- 
heit gehoben  wird,  und  daß  seine  Entfaltung  die  Schranken  der 
menschlichen  Art  nicht  zu  überwinden  vermag,  überall  damit  die 
Aufforderung,  durch  alle  Unzulänglichkeit  hindurch  das  Notwendige 
festzuhalten,  die  Grundtatsache  gegen  alle  Verwicklung  der  Aus- 
führung zu  behaupten.  Aber  hier  ist  ein  bequemer  Angriffspunkt 
für  allen  Zweifel  und  Kleinglauben,  nirgends  mehr  als  hier  werden 
sich  die  Geister  scheiden:  so  lange  die  Sache  von  draußen  her  kühl 
und  klug  wie  etwas  fremdes  betrachtet  wird,  hat  der  Zweifel  ge- 
wonnenes Spiel;  seine  Überwindung  wird  nur  möglich,  wo  die  Auf- 
gabe als  der  Kern  des  eignen  Lebens  ergriffen  und  als  eine  Sache 
der  geistigen  Selbsterhaltung  betrieben  wird.  Eine  Vermittlung  gibt 
es  zwischen  solchem  Entweder — Oder  nicht. 

Wenn  demnach  die  Metaphysik  nur  das  Geschick  alles  Geistes- 
lebens teilt,  das  selbständig  sein  will,  so  hat  sie  eine  besondere 
Aufgabe  darin,  den  Widerspruch  mit  voller  Klarheit  und  Schärfe 
hervorzukehren,  damit  aber  das  Leben  aus  aller  trägen  Gleich- 
gültigkeit aufzurütteln  und  ihm  einen  zwingenden  inneren  Fort- 
trieb einzupflanzen.  Denn  indem  das  zur  geistigen  Selbsterhaltung 
Notwendige  dem  Durchschnitt  entwunden,  ihm  gegenüber  befestigt 
und    durchgebildet,    dann    aber   ihm    als    eine    nicht   abzulehnende 


108  Zum  Erkenntnisproblem. 

Aufgabe  entgegengehalten  wird,  kommt  eine  Unzufriedenheit,  eine 
Unruhe,  eine  innere  Bewegung  in  das  Leben;  jene  Zerlegung 
treibt  es  zu  einer  Emporarbeitung  und  weist  zugleich  durch  jene 
Ziele  dem  Streben  bestimmte  Bahnen.  Dabei  kann  nach  dem  Zu- 
sammenhange unserer  Betrachtung  die  Metaphysik  nicht  als  etwas 
gelten,  was  in  farbloser  Gestalt  über  den  Bestrebungen  und  Erfahr- 
ungen der  weltgeschichtlichen  Arbeit  schwebt,  sondern  sie  wird  mit 
den  Bewegungen  dieser  Arbeit  aufs  engste  verflochten  sein,  jede 
bedeutende  Kultur  hat  ihre  eigne  Metaphysik,  sie  spricht  darin  ihr 
innerstes  Wollen  und  Wesen  aus,  sie  will  sich  selbst  hier  einen 
wesenhaften  Charakter  und  zugleich  eine  lebendige  Seele  erringen,  sie 
wird  in  ihr  sich  selbst  zum  Ideal.  Die  Metaphysik  muß  einerseits  er- 
greifen, was  als  vorwaltende  Kraft  eine  Kultur  durchdringt,  anderer- 
seits hebt  sie  das  Ergriffene  über  alle  Schranken  des  vorgefundenen 
Standes  hinaus  zu  vollendeter  Gestalt  und  absoluter  Giltigkeit,  er- 
öffnet sie  von  hier  aus  einen  Kampf  gegen  alles  Unzulängliche, 
Bloßmenschliche,  Niedere  der  üblichen  Lebensführung,  bewirkt  sie 
eine  energische  Scheidung  in  ein  Für  oder  Wider.  So  vollzog  die 
platonische  Ideenlehre  eine  Erhebung  der  künstlerischen  Weltanschau- 
ung des  Griechentums  ins  Metaphysische,  wobei  die  Idee  einer  un- 
wandelbaren Ewigkeit  voransteht,  so  erhielt  die  Gedankenwelt  der 
Aufklärung  eine  metaphysische  Gestalt  im  System  Leibnizens  mit 
seiner  Unendlichkeit  des  Kleinen  und  seiner  Verwandlung  der  Philo- 
sophie in  eine  universale  Mathematik.  Überall  ein  Bestreben,  vom 
Gipfelpunkt  menschlicher  Leistung  ins  Absolute  vorzudringen  und  in 
Umkehrung  der  nächsten  Lage  unserem  Denken  und  Sein  eine 
Selbständigkeit  geistiger  Art  zu  erringen.  Die  Metaphysik  wird  durch 
solche  Beziehung  zur  Geschichte  keine  Hingebung  an  die  bloße 
Zeit,  sondern  sie  ist  ein  Herausarbeiten  dessen,  was  von  den  be- 
sonderen Zeitlagen  aus  an  zeitloser  Wahrheit  erreichbar  war;  was 
sich  dabei  ergab,  das  versank  nicht  mit  der  Zeit,  sondern  es  bleibt, 
wenigstens  als  Möglichkeit  und  Aufforderung,  stets  gegenwärtig. 

Aus  solcher  Fassung  der  Metaphysik  läßt  sich  ganz  wohl  den 
Angriffen  begegnen,  mit  denen  sie  von  alters  her  zu  kämpfen  hatte. 
Schon  der  Name  konnte  leicht  Vorurteile  erwecken,^  aber  auch  in 


*  Der  Ausdruck  Metaphysik  entstand  dadurch,  daß  Andronikus  Rhodius, 
ein  Zeitgenosse  Ciceros,  in  seiner  Anordnung  der  aristotelischen  Schriften 
die  Untersuchungen  über  die  „erste  Philosophie"  (rptÖTT)  cp(Xoao9(a)  hinter  die 
Physik  stellte:  [jL£Ta  xa  tpuatzä  (näheres  s.  Bonitz,  Kommentar  zur  aristotelischen 


Denken  und  Erfahrung.  109 

der  Sache  wird  jetzt  die  Metaphysik  einen  anderen  Weg  einschlagen 
müssen,  als  ihn  frühere  Zeiten  versuchten.  Es  gilt  einen  entschiedenen 
Bruch  mit  jener  freischwebenden  Spekulation,  welche  aus  bloßem 
Denken  glaubte,  eine  neue  Welt  erzeugen  zu  können.  Das  entspricht 
jener  älteren  Denkweise,  welche  im  Wissen  den  gesamten  Geistes- 
gehalt des  Lebens  glaubte  ermitteln  und  ihn  von  hier  aus  den 
übrigen  Gebieten  zuführen  zu  können,  während  wir  jetzt  das  Wissen 
in  ein  tiefer  gegründetes  Geistesleben  hineinstellen  und  es  vereint 
mit  den  übrigen  Gebieten  um  die  Entfaltung  dieses  Lebens  und  zu- 
gleich um  Wahrheit  kämpfen  lassen.  Besonders  aber  bildet  die  neue 
Metaphysik  den  schärfsten  Gegensatz  zum  ontologischen  und  damit 
zugleich  abstrakten  und  dogmatischen  Charakter  der  älteren  Meta- 
physik. Die  Art,  wie  Aristoteles  die  Aufgabe  der  »ersten  Philosophie" 
dahin  bestimmt  hat,  das  Seiende  als  Seiendes  zu  betrachten  (to  ov 
•jl  6v),  die  allgemeinsten  Eigenschaften  des  Seins  zu  ermitteln,  hat 
von  vornherein  die  Sache  in  eine  schiefe  Bahn  gelenkt.  Denn  es 
erschienen  damit  gewisse  formale  Beschaffenheiten  als  das  Wesen 
der  Dinge  und  wurden  zum  Hauptgerüst,  in  das  alle  Besonderheit 
als  eine  bloße  Ausführung  einzutragen  war;  die  Metaphysik  wurde 


Metaphysik,  S.  3 ff.).  Daraus  wurde  schon  im  ersten  Jahrhundert  n.  Chr. 
eine  Bezeichnung  der  Disziplin  selbst  (xä  [ista  Ta  tpnaixä,  tj  puta  xa  «puaixi 
-paYp.aT£ta).  Die  Singularform  metaphysica  gehört  der  Scholastik  an,  sie  dürfte 
aus  der  Übersetzung  des  Averroes  stammen.  Der  Name  war  insofern  nicht 
glücklich,  als  er  von  Anfang  an  den  Begriff  mit  der  Vorstellung  behaftete, 
als  habe  die  Metaphysik  mit  etwas  Femliegendem,  Jenseitigem,  zur  nächsten 
Wirklichkeit  erst  Hinzugedachtem  zu  tun.  So  heißt  es  schon  bei  dem  Neu- 
platoniker  Herennius  (s.  Brandis,  Abh.  der  Berl.  Akad.  1831,  p.  80):  {j-et«  xa 

cpuatxa    XEyovTat,    ä~tp    cpuasoj;    Ü7:£pf,pTai    xai   jjTup    atriav    za\  Xdyov  slaiv.      Auch 

den  Scholastikern,  z.  B.  Thomas,  gilt  die  metaphysica  soviel  als  transphysica. 
Kant  aber  sagt  (VIII,  576  Hart.):  „Der  alte  Name  dieser  Wissenschaft  [xera 
Ta  »uitxa  gibt  schon  eine  Anzeige  auf  die  Gattung  von  Erkenntnis,  worauf 
die  Absicht  mit  derselben  gerichtet  war.  Man  will  vermittelst  ihrer  über  alle 
Gegenstände  möglicher  Erfahrung  (trans  physicam)  hinausgehen,  um  womög- 
lich das  zu  erkennen,  was  schlechterdings  kein  Gegenstand  derselben  sein 
kann."  Die  Freunde  der  Metaphysik  strebten  dem  gegenüber  nach  neuen 
Bezeichnungen.  Clauberg,  der  bedeutendste  Cartesianer  Deutschlands,  emp- 
fahl Ontosophie  oder  Ontologie,  aber  bald  übertrug  sich  die  Ungunst  auf 
das  neue  Wort;  schon  Wolff  klagte  (s.  Philos.  prima  sive  ontologia  1):  vix 
aliud  hodie  contemtius  est  nomen  quam  Ontologiae.  Auch  würde  Ontologie 
nur  die  ältere  Art  der  Metaphysik  bezeichnet  haben,  die  uns  heute  unmöglich 
dünkt.  Ist  es  übrigens  nicht  bemerkenswert,  daß  nie  ein  Denker  ersten 
Ranges  eine  „Metaphysik"  unter  diesem  Namen  geschrieben  hat? 


110  Zum  Erkenntnisproblem. 

damit  zur  bloßen  Ontologie.  Das  ergab  eine  Verschiebung  der  Ge- 
dankenwelt ins  Abstrakte  und  Formale,  eine  Zurückstellung  des  eigen- 
tümlichen Inhalts  des  Menschenlebens.  Zugleich  aber  ergab  es  einen 
Dogmatismus,  indem  jene  formalen  Eigenschaften  vor  aller  näheren 
Erfahrung  und  unabhängig  von  aller  geschichtlichen  Bewegung  ein- 
für allemal  erkennbar  dünkten  und  daher  von  der  Metaphysik  den 
übrigen  Wissensgebieten  als  unantastbare  Wahrheiten  zugeführt 
wurden.  Ein  solches  dogmatisches  Verfahren  nahm  zugleich  der 
Metaphysik  eine  innere  Bewegung  und  den  anderen  Wissenschaften 
ihre  Selbständigkeit.  Kein  Wunder,  daß  jene  ontologische  und  dog- 
matische Metaphysik  von  den  verschiedensten  Seiten  her  Widerstand 
fand;  die  Entwicklung  der  modernen  Forschung  ist  nur  möglich 
geworden  unter  Abschüttelung  der  alten  Metaphysik. 

Aber  die  Abweisung  einer  besonderen  Art  der  Metaphysik 
ist  nicht  ein  Verzicht  auf  alle  und  jede  Metaphysik,  vielmehr  wird 
Kant  wohl  Recht  behalten  mit  der  Überzeugung  »irgend  eme  Meta- 
physik ist  immer  in  der  Welt  gewesen  und  wird  auch  wohl  ferner  - 
darin  anzutreffen  sein"  (Hart.  111,  25).  Jedenfalls  wird  die  Meta- 
physik, welche  sich  aus  den  Zusammenhängen  unserer  Betrachtung 
ergibt,  nicht  von  den  Vorwürfen  getroffen,  welche  die  Zerstörung 
der  alten  Metaphysik  bewirkten.  Denn  hier,  wo  das  Erkennen  selbst 
eine  Entfaltung  des  Lebens  in  sich  trägt,  und  wo  es  vor  allem  auf 
die  Durchleuchtung  und  Vertiefung  dieses  Lebens  geht,  wird  die 
Metaphysii^  das  Denken  und  Leben  nicht  ins  Abstrakte  locken, 
sondern  es  seiner  eignen  Tatsächlichkeit  und  Bestimmtheit  zuführen, 
sie  wird  mit  ihrem  Zusammenschluß  aller  Mannigfaltigkeit  die  einzig- 
artige Individualität  unseres  Seins  und  unserer  Welt  erst  mit  voller 
Klarheit  herausstellen.  Alle  einzelnen  Größen  und  Aufgaben,  auch 
gesamte  Gebiete  wie  Religion,  Kunst,  Moral,  werden  die  klägliche 
Farblosigkeit  der  üblichen  Fassung  erst  überwinden,  wenn  sie  inner- 
halb eines  umfassenden  Lebenszusammenhanges  einen  festen  Platz 
und  ein  bestimmtes  Ziel  erhalten,  auch  wird  nur  der  Inhalt,  den 
die  Wirklichkeit  in  jener  Verdichtung  zum  Ganzen  erschließt,  über 
das  Recht  und  die  Bedeutung  der  Formen  des  Seins  entscheiden. 
So  ist  es  nicht  eine  Lust  an  allgemeinen  Formeln,  sondern  das  Ver- 
langen nach  mehr  Charakter,  nach  ursprünglicher  Tatsächlichkeit,  nach 
energischer  Durchbildung  unseres  Lebenskreises,  was  die  Forschung 
zur  Metaphysik  treibt. 

Ebenso  sicher  ist  eine  Metaphysik,  welche  den  Zusammenhang 


Denken  und  Erfahrung.  Hl 

des  Erkenntnisstrebens  mit  einem  begründenden  und  umfassenden 
Geistesleben  wahrt,  vor  dem  Vorwurf  eines  erstarrenden  Dogmatis- 
mus. Eine  solche  Metaphysik  wird  mit  der  weltgeschichtlichen  Be- 
wegung die  engste  Fühlung  nehmen  und  zugleich  selbst  eine  Ge- 
schichte gewinnen,  ohne  damit  zur  bloßen  Zeitgeschichte  zu  sinken. 
Wir  haben  heute  keine  Metaphysik,  und  es  gibt  nicht  wenige, 
die  das  für  einen  Gewinn  erachten.  Aber  ein  Recht  darauf  hätten  sie 
nur,  wenn  sich  unsere  Gedankenwelt  in  einem  vortrefflichen  Zu- 
stande befände,  wenn  auch  ohne  Metaphysik  feste  Überzeugungen 
unser  Leben  und  Streben  beherrschten,  hohe  Ziele  uns  zusammen- 
hielten und  vom  kleinmenschlichen  Getriebe  befreiten.  In  Wahr- 
heit ist  eine  grenzenlose  Zersplitterung,  eine  klägliche  Unsicherheit 
in  allem  Prinzipiellen  der  Überzeugungen,  eine  Ohnmacht  gegen 
das  Kleinmenschliche,  eine  Seelenlosigkeit  in  überströmender  äußerer 
Fülle  nicht  zu  verkennen.  Wer  das  ruhig  zu  ertragen  vermag,  den 
werden  alle  theoretischen  Erörterungen  nicht  zur  Metaphysik  führen; 
wer 'aber  eine  zwingende  Aufgabe  darin  erkennt,  daß  auch  unser 
Kulturleben  sich  zu  einem  charaktervollen  Ganzen  zusammenfasse 
und  eine  innere  Selbständigkeit  gewinne  zu  engerer  Verbindung  wie 
zu  schärferer  Scheidung  der  Geister,  der  wird  mit  uns  an  der  Meta- 
physik festhalten  und  für  die  alte  Aufgabe  neue  Bahnen  suchen. 

d)  Der  Gesamtanblick  der  menschlichen  Erkenntnis- 
arbeit. 

Die  bisherigen  Untersuchungen  enthalten  prinzipielle  Überzeug- 
ungen vom  Erkennen,  die  nur  entwickelt  zu  werden  brauchen,  um 
ein  eigentümliches  Gesamtbild  zu  ergeben.  Im  besonderen  ist  es 
die  hier  verfochtene  Fassung  des  Geisteslebens,  welche  den  ge- 
schichtlich überkommenen  Gegensatz  zu  überwinden  verspricht.  Das 
Geistesleben  gilt  uns  zugleich  als  eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit 
gegenüber  der  Natur,  und  als  eine  ursprüngliche  Tiefe  gegenüber 
dem  unmittelbaren  Seelenleben,  in  dem  Entfaltungen  der  beiden 
Stufen  zusammentreffen.  Von  hier  aus  wird  es  möglich,  zugleich 
den  Kern  der  Erkenntnisarbeit  von  aller  Abhängigkeit  nach  außen 
zu  befreien  und  die  Bedingtheit  unseres  menschlichen  Erkenntnis- 
strebens vollauf  anzuerkennen;  ja  es  mag  nun  sich  gegenseitig 
steigern,  was  sich  sonst  feindselig  gegenüberstand  und  einander  not- 
wendig Abbruch  tat. 

Das    Geistesleben    galt    uns    als    volltätiges    Leben,    das    nicht 


112  Zum  Erkenntnisproblem. 

zwischen  Subjekt  und  Objekt  verläuft,  sondern  den  Gegensatz  von 
Haus  aus  umspannt;  die  Aufgabe  kann  hier  nicht  in  der  Abbildung 
eines  jenseitigen  Seins,  sondern  nur  in  der  eigenen  Durchbildung 
liegen.  Es  muß  dann  in  sich  selbst  verschiedene  Stufen  der  Aus- 
prägung enthalten,  die  Bewegung  zur  höheren  Stufe  aber  durch  eine 
Notwendigkeit  des  Ganzen  gefordert  werden;  was  seiner  Tätigkeit 
irgend  schon  angehört,  das  wird  zu  seinem  vollen  Besitz  erst  mit 
der  Verwandlung  in  Selbsttätigkeit.  So  steht  es  auch  beim  Er- 
kennen, auch  seine  Bewegung  liegt  innerhalb  des  gesamten  Lebens. 
Denn  auch  der  Vorwurf,  mit  dem  es  zu  tun  hat,  muß  sich  inner- 
halb, nicht  jenseit  des  Geisteslebens  befinden;  ein  gänzlich  draußen 
Gelegenes  könnte  nichts  erregen  und  nichts  bewegen,  es  würde  das 
Denken  gar  nicht  berühren  und  könnte  ihm  nun  und  nimmer  auch 
nur  zum  Probleme  werden.  Dies  geschieht  nur  dann,  wenn  ein 
Gegenstand  der  Gedankenwelt  irgend  schon  gegenwärtig  ist,  die  Art 
aber,  wie  er  gegenwärtig  ist,  der  Natur  des  Geisteslebens  nicht 
entspricht,  ja  widerspricht;  dieser  Widerspruch  wird  dann  ein 
zwingender  Antrieb  zur  Weiterbildung.  So  ist  es  eine  Selbst- 
behauptung, die  das  Geistesleben  in  der  Erkenntnisarbeit  mit  ihrem 
Vordringen  zur  höheren  Stufe  vollzieht. 

Steht  die  Sache  derart,  so  kann  zum  Erkenntnisproblem  nur 
werden,  was  dem  Lebensprozeß  irgend  schon  einverleibt  ist,  so  muß 
eine  innere  Erweiterung  des  Lebens  vorangehen,  wo  das  Erkennen 
in  Fluß  kommen  soll.  Die  weltgeschichtliche  wie  die  alltägliche 
Erfahrung  bestätigt  diese  Behauptung  mit  überzeugender  Klarheit. 
Denn  sie  zeigt,  daß  auch  solches,  was  den  Menschen  mit  eindring- 
licher Nähe  umfängt  und  mit  den  stärksten  sinnlichen  Wirkungen 
berührt,  ihm  innerlich  völlig  fremd  bleiben  kann  und  seinem  Er- 
kennen nicht  zum  Probleme  wird.  Nur  dem  antworten  die  Dinge, 
der  an  sie  Fragen  stellt;  nur  dem  erschließen  sich  Wirklich- 
keiten, der  ihnen  Möglichkeiten  entgegenbringt;  auch  der  härteste 
Widerstand  übt  eine  seelische  Wirkung  nur  nach  Verwandlung  in 
eine  innere  Hemmung;  schwerste  Mißstände  können  Individuen, 
Völker  und  Zeiten  treffen,  ohne  sie  stark  zu  erregen  und  zu  irgend- 
welcher Gegenwehr  zu  treiben.  Daß  die  geistigen  Organe  nicht 
fertig  mitgebracht  werden,  sondern  erst  zu  bilden  sind,  das 
verfechten   übereinstimmend   große    Künstler   und   große   Erzieher.  ^ 

^  Bekannt  ist  Herbarts  Auslassung  über  den  neunzigjährigen  Dorfschul- 
meister (Werke  X,  8):   „Wollten  wir   nur  sämtlich    bedenken,   daß   jeder 


Denken  und  Erfahrung.  113 

Auch  die  weltgeschichtliche  Betrachtung  zeigt,  wie  spät  ganz  Nahes, 
ja  äußerlich  schon  Angehöriges  zu  eignem  Leben  geworden  ist  und 
das  eigne  Streben  bewegt  hat;  sie  läßt  zugleich  die  Voraussetzungen 
und  die  Vorbereitungen  dessen  erkennen,  was  später  leicht  selbst- 
verständlich dünkt.  Wie  langsam  erfolgte  die  künstlerische  Ent- 
deckung der  Natur,  wie  spät  erschloß  sich  z.  B.  die  Gestalt  der 
Landschaft,  wie  müht  sich  auch  die  Kunst  der  Gegenwart,  zuerst 
die  Art  des  Sehens  zu  verfeinern,  um  dann  in  den  Dingen  mehr 
zu  entdecken  und  neue  Seiten  an  ihnen  zu  eröffnen!  Auch  sich 
selbst,  das  Menschsein  und  was  daraus  an  Gemeinschaft,  des  Lebens 
und  Empfindens  fließt,  hat  der  Mensch  erst  entdecken  müssen,  er 
fand  es  nicht  fertig  vor,  er  errang  es  durch  Bewegungen  und 
Fortbildungen  innerer  Art  Die  Erziehungslehre  spricht  von  der 
Apperzeption  als  einer  Aufnahme  neuer  Eindrücke  in  den  Vor- 
stellungskreis des  Individuums;  nun  wohl,  es  gibt  auch  eine  welt- 
geschichtliche Apperzeption,  auch  das  Ganze  der  Menschheit  ver- 
mag, nichts  aufzunehmen,  dem  es  nicht  eine  innere  Bewegung  ent- 
gegenbringt. 

Was  so  im  Einzelnen  bereitwillig  anerkannt  wird,  das  muß,  ins 
Ganze  gehoben,  das  Erkenntnisproblem  in  eine  neue  Beleuchtung 
rücken.  Denn  damit  wird  klar,  daß  alle  Erkenntnis  innerhalb  der 
Arbeitswelt  des  Menschen  liegt,  und  daß  es  keine  wesentlichen 
Fortschritte  des  Erkennens  gibt  ohne  ein  V/achstum  dieser  Arbeits- 
welt. Wahrhaft  große  Leistungen  auch  des  Erkennens  sind  nur 
solche,  die  nicht  einem  vorgefundenen  Kreise  angehören,  sondern 
den  Lebenskreis  selbst  verändern.  Die  moderne  Wissenschaft  wäre 
unmöglich  gewesen  ohne  den  modernen  Menschen  mit  seiner  kühnen 
Erhebung  über  die  Welt  und  seiner  Befestigung  in  der  eignen  Seele. 
Solche  Zurückverlegung  gestattet  erst,  den  Erkenntnisprozeß  als  ein 
immanentes  Vorgehen  zu  fassen  und  jenes  Dilemma  zu  vermeiden, 
daß  das  Denken  entweder  mit  einem  fremden  Sein  zu  tun  habe 
oder  aus  sich  selbst  alles  Sein  hervorspinnen  müsse. 

Aber  eben  diese  Anerkennung  der  Selbständigkeit  des  Geistes- 


nur  erfährt,  was  er  versucht!  Ein  neunzigjähriger  Dorfschulmeister  hat 
die  Erfahrung  seines  neunzigjährigen  Schlendrians;  er  hat  das  Gefühl  seiner 
langen  Mühe;  aber  hat  er  auch  die  Kritik  seiner  Leistungen  und  seiner 
Methode?"  Fröbel  aber  meint,  daß  der  Mensch,  ,,um  die  Natur  zu  ver- 
stehen, sie  durch  eine  ihm  eigentümliche  Kunstweise  gleichsam  von  Neuem 
in  und  aus  sich  schaffen  muß." 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  8 


114  Zum  Erkenntnisproblem. 

lebens  und  der  Immanenz  ^  des  Erkenntnisprozesses  ist  geeignet,  das 
Eigentümliche  der  menschlichen  Lage  und  zugleich  die  Bedeutung 
der  Erfahrung  zur  vollen  Geltung  zu  bringen.  Je  selbständiger  und 
überlegener  nämlich  das  Geistesleben  und  mit  ihm  das  Erkennen 
gefaßt  wird,  desto  größer  wird  der  Abstand  der  nächsten  Lage,  desto 
deutlicher  erhellt,  daß  nur  unter  gewissen  Bedingungen  und  durch 
harte  Arbeit  der  Mensch  daran  teilzunehmen  vermag,  daß  auch  das 
Geistesleben  ihm  nur  durch  irgendwelche  Erfahrung  zugänglich  wird. 
Der  Mensch  wird  zunächst  von  der  untergeistigen  Stufe  der  Wirk- 
lichkeit eingenommen,  die  intellektuell  in  der  sinnlichen  Vorstellung 
mit  ihren  mechanischen  Verkettungen  zum  Ausdruck  kommt;  er 
könnte  diese  Stufe  in  keiner  Weise  überschreiten,  wäre  nicht  auch 
die  höhere  in  seinem  Bereiche  irgendwie  wirksam.  Aber  dieses 
Höhere  hat  für  den  Lebensprozeß  keine  volle  Gegenwart,  sondern 
es  hat  eine  solche  erst  zu  gewinnen;  selbst  die  Anregung  dazu 
erfolgt  gewöhnlich  nur  unter  besonderen  Bedingungen,  bei  Verwick- 
lungen und  Widersprüchen  der  niederen  Stufe;  die  Geschichte  zeigt 
deutlich,  wie  mühevoll  und  langsam  das  Erkenntnisstreben  in  Fluß 
kam.  Und  eben  im  Vordringen  mußte  es  auch  eine  eigentümliche 
Lage  beim  Menschen  anerkennen,  die  sich  nicht  begrifflich  ableiten, 
sondern  nur  als  eine  Tatsache  hinnehmen  läßt.  Insofern  trägt  das 
menschliche  Erkennen  einen  Erfahrungscharakter.  Aber  das  anerkennen 
heißt  keineswegs  dem  Empirismus  huldigen.  Denn  jener  Erfahrungs- 
charakter selbst  wäre  nicht  zu  erkennen  ohne  eine  Überlegenheit 
gegen  die  bloße  Erfahrung;  die  Schranken  und  die  Gebundenheit 
des  Menschen  gelangen  zur  Einsicht  nur,  sofern  er  an  einem  selb- 
ständigen und  überlegenen  Geistesleben  teil  hat  und  von  hier  aus 
seine  Lage  zu  würdigen  vermag. 

Es  hat  aber  die  Erfahrung  für  das  Erkennen  eine  zwiefache 
Bedeutung:  sie  ist  Begrenzung  nach  außen  und  sie  ist  Determination 
im  Innern.  Jenes  ist  sie,  wenn  die  geistige  Tätigkeit  an  jenseitige 
Bedingungen  gebunden  bleibt  und  sich  daher  nicht  zur  vollen  Selbst- 
tätigkeit zu  erheben  vermag;  dieses,  wenn  sie  die  volle  Bestimmtheit 
ihrer  eignen  Art  erst  im  Zusammenstoß  mit  Widerständen  erreicht, 
erst  durch  Versuchen  und  Erfahren  hindurch  ihrer  selber  inne  wird 
und  zu  reiner  Selbsttätigkeit  gelangt.    In  beiderlei  Bedeutung  ist  das 


*  Wir  nehmen  hier  Immanenz  in  dem  alten  und  ursprünglichen  Sinne, 
wonach  es  ein  Geschehen  bezeichnet,  das  innerhalb  des  Lebensprozesses  ver- 
bleibt, nicht  über  ihn  hinausgeht;  siehe  den  Artikel  Immanenz-Transzendenz. 


Denken  und  Erfahrung.  115 

Erkennen  des  Menschen  auf  Erfahrung  angewiesen;  sie  ist  hier  un- 
entbehrHch  sowohl  für  das  Verhältnis  des  Geisteslebens  zur  Um- 
gebung als  für  seine  eigne  Beschaffenheit,  sowohl  für  seinen  Um- 
fang als  für  seinen  Inhalt. 

Was  sich  beim  Menschen  an  Erkennen  entwickelt,  das  befindet 
sich  zunächst  gegenüber  der  Unermeßlichkeit  einer  fremden  Welt, 
und  das  kommt  nur  weiter  in  Berührung  mit  dieser  Welt,  das  kann 
aus  der  Welt  lediglich  zu  empfangen  scheinen.  Auch  in  der  Be- 
arbeitung des  Empfangenen  kann  es  sich  für  weite  Gebiete,  wie 
namentlich  die  sinnliche  Natur,  nie  davon  ablösen;  was  daraus  in 
die  Gedankenwelt  des  Menschen  eingeht,  ist  nicht  rein  in  Gedanken- 
größen umzusetzen,  es  behält  eine  Bindung  an  etwas  Jenseitiges  und 
zugleich  eine  Undurchsichtigkeit.  Aber  mag  hier  eine  Berührung 
mit  den  Dingen  und  eine  Beziehung  auf  die  Dinge  noch  so  not- 
wendig sein,  diese  Berührung  und  Beziehung  erzeugt  nicht  das  Er- 
kennen; es  entwickelt  sich  unter  Bedingungen  und  Beschränkungen, 
aber  es  bleibt  auch  dabei  vornehmlich  ein  Werk  des  Geisteslebens; 
es  entwickelt  sich  nicht  aus  der  Erfahrung,  sondern  nur  an  der  Er- 
fahrung, wie  Eindrücke  nicht  in  die  Gedankenwelt  eingehen  können, 
ohne  eine  wesentliche  Umwandlung  zu  erleiden.  Wie  grundver- 
schieden nimmt  sich  dasselbe  Naturphänomen  in  der  unmittelbaren 
Empfindung  des  naiven  Menschen  und  in  der  Gedankenwelt  des 
Naturforschers  aus!  Mit  Recht  sagt  Hegel.  »Die  Natur  des  Geistes 
ist  es  —  nicht  ein  anderes  Ursprüngliches  in  sich  aufzunehmen,  oder 
nicht  eine  Ursache  sich  in  ihn  kontinuieren  zu  lassen,  sondern  sie 
abzubrechen  und  zu  verwandeln"  (Wke.  IV,  229). 

Aber  nicht  nur  die  Ausdehnung,  auch  die  innere  Art  des 
Geisteslebens  ist  für  uns  Menschen  eine  Frage  und  eine  Aufgabe. 
Weder  erfüllt  das  Geistesleben  in  fester  und  klarer  Gestah  unmittel- 
bar unser  eignes  Leben,  noch  zieht  es  uns  in  einen  sicheren  Fort- 
schritt hinein,  wie  der  intellektuelle  Optimismus  der  konstruktiven 
Philosophie  es  annahm,  sondern  wir  müssen  von  kleinen,  nicht  ein- 
mal unbestreitbaren  Anfängen  allmählich  vordringen,  und  wir  finden 
in  solchem  Streben  die  mannigfachsten  Hemmungen  und  Gefahren, 
wir  unternehmen  vieles  in  froher  Zuversicht,  was  sich  im  Verlauf  als 
unmöglich  erweist,  wir  werden  scheinbar  oft  im  Zickzack  hin-  und 
hergeworfen.  Was  wir  aber  mit  aller  Mühsal  erringen,  das  gewinnen 
wir  nicht  durch  kluge  Überlegung,  sondern  durch  ein  zu  Ende 
Gehen  eingeschlagener  Richtungen;  unseres  Vermögens  wie  unserer 


116  Zum  Erkenntnisproblem. 

Schranken  werden  wir  inne  erst  durch  Lebensentwicklung  und  Lebens- 
erfahrung. Im  besonderen  erreicht  unser  Leben  nur  durch  Kampf 
seine  volle  Tiefe,  erst  der  Widerstand  treibt  es  zur  Aufbietung  seiner 
ganzen  Kraft  und  zu  voller  Ursprünglichkeit.  Dabei  bedeutet  das 
Wachstum  der  Geistigkeit  keinen  reinen  Sieg  über  das  Feindliche 
und  bringt  keine  volle  Aufhellung.  Vielmehr  mag  die  innere  Steigerung 
neue  Ansprüche,  Probleme  und  Widerstände  hervorrufen,  und  sich 
damit  der  Anblick  der  Wirklichkeit  immer  positiver,  immer  irrationaler 
gestalten.  Eine  solche  Tatsächlichkeit  muß  aus  dem  Erkennen  etwas 
wesentlich  anderes  machen,  als  es  der  Rationalismus  wollte;  Punkt  für 
Punkt  wird  es  hier  auf  die  Erfahrungen  des  gesamten  Lebens  hin- 
gewiesen. Einem  glatten  Abschluß  nahe  glaubte  man  sich  nur  in 
den  ersten  Anfängen,  aus  wachsender  Einsicht  ist  immer  mehr  An- 
erkennung ungelöster  Probleme  hervorgegangen,  die  Welt  ist  uns 
nicht  klarer,  sondern  rätselhafter  geworden.  So  ist  eben  auf  der 
Höhe  des  modernen  Lebens  der  Gesamtanblick  des  Erkennens  alles 
eher  als  einfach.  Die  Wirklichkeit  erhebt  sich  vor  unseren  Augen 
als  ein  Stufenreich  mit  einem  Fortgang  vom  Unorganischen  zum 
Organischen,  vom  Unlebendigen  zum  Lebendigen  und  zur  Seele, 
von  der  naturgebundenen  zur  geisterfüllten  Seele.  Von  jeder  Stufe 
aus  ergibt  sich  ein  eigentümlicher  Durchblick  der  Wirklichkeit;  der 
Kampf  wird  nicht  enden,  ob  die  unterste  oder  die  oberste  Stufe  den 
Ausgangspunkt  der  Erklärung  zu  bilden  habe.  Die  Philosophie  kann 
nicht  umhin,  die  Wirklichkeiten,  welche  sich  auf  der  höchsten  Lebens- 
stufe eröffnen,  als  die  tiefsten  Offenbarungen  zu  behandeln  und  von 
ihnen  aus  das  Bild  des  Ganzen  zu  entwerfen.  Aber  nun  erfährt 
sie,  daß  die  von  dort  entwickelten  Größen  für  die  Welt  unter  uns 
nicht  passen,  daß  diese  ihnen  eine  starre  Eigenart  entgegensetzt,  auch 
erfährt  sie,  daß  diese  Welt  durch  ihr  ganzes  Wirken  und  Sein  jene 
höhere  Stufe  als  eine  gleichgültige  Nebensache  behandelt.  Weder 
mit  seinen  Begriffen  noch  mit  seinen  Kräften  scheint  in  unserer 
Welt  sich  durchsetzen  zu  können,  was  wir  für  den  Kern  aller  Wirk- 
lichkeit zu  erachten  nicht  lassen  können.  Überall  der  Widerspruch, 
daß  an  den  Menschen  seine  geistige  Natur  Anforderungen  stellt, 
denen  seine  bloßmenschliche  Art  nicht  zu  entsprechen  vermag;  die 
geistige  Selbsterhaltung  zwingt  ihn,  Wahrheiten  zu  bejahen,  denen 
sein  intellektuelles  Vermögen  nicht  voll  gewachsen  ist,  ihren  Grund- 
gedanken energisch  zu  behaupten,  ohne  ihm  eine  angemessene  Aus- 
führung geben  zu  können.     So  bewirkt  es  notwendig  eine  geistige 


Denken  und  Erfahrung.  117 

Verarmung,  wenn  das  intellektuelle  Vermögen  über  den  Gesamtinhalt 
des  Lebens  entscheiden  soll. 


e)  Würdigung  des  Rationalismus  und  des  Empirismus. 

Nach  diesen  Erörterungen  läßt  sich  eine  schiedsrichterliche 
Würdigung  der  streitenden  Gegner  unternehmen;  sie  wird  zeigen, 
daß  jeder  bedeutende  Wahrheitsmomente  vertritt  und  sie  siegreich 
gegen  den  anderen  kehrt,  daß  er  aber  ins  Unrecht  gerät  und  die 
eigne  Stellung  nicht  behaupten  kann,  sobald  er  bei  sich  selbst  einen 
letzten  Abschluß  sucht. 

Der  Rationalismus  hat  seine  Stärke  in  der  Verfechtung  der 
Selbständigkeit  des  Geisteslebens  und  seiner  Überlegenheit  gegen 
alle  Umgebung,  in  der  Verfechtung  der  Überzeugung,  daß  das  Leben 
erstwesentlich  nicht  von  außen  nach  innen  geht,  daß  sich,  um  mit 
Plato  zu  reden,  nicht  einem  Blinden  von  außen  her  Augen  einsetzen' 
lassen.  Ohne  diese  Überzeugung  gibt  es  überhaupt  keine  Wahrheit. 
Denn  die  volle  Auslieferung  unserer  Erkenntnis  an  die  Eindrücke 
der  Umgebung  würde  ihr  alle  Festigkeit,  allen  Zusammenhang,  alle 
innere  Durchleuchtung  rauben,  würde  sie  der  Zufälligkeit  der  bloßen 
Individuen  preisgeben.  Es  ist  eine  axiomatische  Notwendigkeit,  wenn 
der  Rationalismus  dagegen  ein  a  priori  verficht.  Nur  sei  dabei  das 
a  priori  nicht  als  eine  in  der  Seele  jedes  Einzelnen  fertig  vorhandene 
Größe,  sondern  es  sei  als  ein  Grundgesetz  des  Geisteslebens  ver- 
standen, das  der  Mensch  sich  erst  aneignen  muß.  Ein  solches 
a  priori  enthält  die  Behauptung,  daß  das  Geistesleben  Normen  in 
sich  trägt,  die  das  Streben  aus  aller  Irrung  immer  wieder  zur  Wahrheit 
lenken;  es  enthält  auch  die  Behauptung,  daß  das  Geistesleben  seinem 
Wesen  nach  übergeschichtlicher  Art  ist,  kein  bloßes  Produkt  der 
Geschichte  bildet.  Ohne  solche  Übergeschichtlichkeit  könnte  es  nie  die 
geschichtlichen  Bildungen  einer  überlegenen  Kritik  unterwerfen,  sondern 
würde    es  ganz   und  gar  ihrem   Wechsel    und  Wandel  ausgeliefert. 

Mit  der  Verfechtung  so  unerläßlicher  Wahrheit  hat  der  Rationa- 
lismus ein  überlegenes  Recht  gegenüber  dem  Empirismus.  Aber  er 
gerät  ins  Unrecht,  indem  er  jene  Wahrheiten  unmittelbar  glaubt  er- 
reichen zu  können,  indem  er  das  hohe  Ziel  als  eine  gegenwärtige 
oder  doch  leicht  zugängliche  Tatsache  behandelt.  Dies  geschieht, 
indem  er  ohne  weiteres  das  menschliche  Geistesleben  als  Geistes- 
leben an  sich,   als  absolutes  Geistesleben  behandelt   und  damit  den 


118  Zum  Erkenntnisproblem. 

Sinn  für  das  Charakteristischmenschliche,  auch  für  die  Schranken 
des  Menschen  abstumpft;  es  geschieht,  indem  er  Leistungen,  die  das 
Denken  nur  im  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  eines  selbständigen 
Geisteslebens  aufzubringen  vermag,  ihm  selber  zuweist  und  damit 
den  Gedankengrößen  ihre  belebende  Tiefe  nimmt;  es  geschieht,  in- 
dem er  unser  Geistesleben  ohne  weiteres  auf  sicherem  Wege  glaubt 
und  keinerlei  innere  Verwicklungen  anerkennt. 

Alles  zusammen  gibt  dem  Rationalismus  die  Neigung,  das  Dunkle 
und  Feindliche  unserer  Weltlage  abzuschwächen  und  wegzuerklären,  das 
Individuelle  dem  Allgemeinen,  den  Inhalt  der  Form  zu  opfern. 
Daraus  entsteht  eine  viel  zu  glatte,  dünne,  blutlose  Wirklichkeit,  das 
Denken  wie  das  Leben  gerät  ins  Abstrakte,  Formale  und  Schatten- 
hafte. —  So  zeigt  es  besonders  anschaulich  das  Bild  der  Geschichte, 
das  der  Rationalismus  in  der  Wendung  zur  spekulativen  Begriffs- 
konstruktion erzeugt.  Die  Bewegung  scheint  hier  von  vornherein 
im  Element  der  Vernunft  befindlich,  da  sie  in  Wahrheit  den  Ver- 
nunftcharakter erst  zu  erringen  und  immer  von  neuem  zu  bestätigen 
hat;  hier  dünken  alle  Gegensätze  und  Kämpfe  nur  ein  Mittel  zur 
Steigerung  der  Vernunft,  und  alles  Irrationale  scheint  sich  schließlich 
in  eine  große  Harmonie  aufzulösen,  während  in  Wahrheit  der  Kampf 
nicht  bloß  innerhalb  der  Vernunft,  sondern  mehr  noch  um  sie  ge- 
führt wird,  und  jedes  Mehr  der  Vernunft  in  menschlichen  Ver- 
hältnissen auch  die  Unvernunft  zu  steigern  pflegt;  hier  scheint  die 
eine  Epoche  auf  der  anderen  sicher  fortzubauen  und,  was  an  welt- 
geschichtlicher Erfahrung  erwächst,  dauernd  gesichert  zu  sein,  da  in 
Wahrheit  der  Kampf  immer  wieder  in  die  letzten  Elemente  zurück- 
greift, eine  feste  Grundlage  immer  neu  zu  erringen  ist,  und  alle 
Erfahrung  geistiger  Art  immer  neu  zum  Probleme  wird;  hier  er- 
scheint der  Mensch  als  ein  reines  Werkzeug  der  geistigen  Arbeit, 
da  vielmehr  seine  Neigung  überwiegend  dahin  geht,  das  Geistesleben 
der  natürlichen  und  sozialen  Selbsterhaltung  unterzuordnen,  es  da- 
mit arg  zu  verkehren  und  seinen  eignen  Zwecken  zu  entfremden. 
Bei  solcher  Verkennung  des  Dunklen  und  Feindlichen  verliert  die 
Geschichte  ihre  Kraft  und  Tiefe;  je  ausschließlicher  jene  rationa- 
listische Behandlung  durchgeführt  wird,  desto  mehr  entleert  und 
verflüchtigt  sie  die  Wirklichkeit.  Wird  dagegen  klar,  daß  sich  das 
geschichtliche  Leben  nicht  in  sicherem  Fortgang  aufbaut,  sondern 
daß  immerfort  um  das  Ganze  gekämpft,  immerfort  eine  Bejahung 
des  Ganzen    vollzogen    werden    muß,    so   tritt  vor  den  Prozeß  die 


Denken  und  Erfahrung.  \\g 

freie  Tat,  und  es  entfällt  alle  Möglichkeit  einer  rationalen  Kon- 
struktion. 

So  muß  das  Sichausleben  des  Rationalismus  einen  Rückschlag 
in  der  Richtung  des  Empirismus  mit  seinem  Durst  nach  Tatsäch- 
lichkeit und  seiner  willigen  Anerkennung  der  Schranken  des  Menschen 
erzeugen,  wie  denn  auch  auf  geschichtlichem  Boden  der  Empirismus 
namentlich  da  zu  Macht  und  Ansehen  gelangt  ist,  wo  die  Mängel 
eines  überkommenen  Rationalismus  augenscheinlich  wurden.  Auch 
den  Hintergrund  des  neuesten  Empirismus  bildet  der  Widerwille 
gegen  die  spekulative  Begriffskonstruktion. 

Aber  der  Empirismus  bringt  den  Erfahrungscharakter  unserer 
Gedankenwelt  keineswegs  zu  angemessenem  Ausdruck,  er  faßt  den 
Prozeß  der  Erfahrung  in  einem  schroffen  Gegensatz  zur  Selbsttätig- 
keit, ohne  die  es  doch  kein  wissenschaftliches  Erkennen  gibt.  Indem 
er  alles  selbständige  Geistesleben  leugnet,  muß  er  vom  bloßen 
Menschen  aus  eine  Geistigkeit  und  zugleich  eine  Erkenntnis  zu 
entwickeln  suchen.  Dies  aber,  was  in  Wahrheit  unmöglich  ist,^  kann 
einen  leidlichen  Schein  des  Gelingens  nur  erreichen,  indem  es  ver- 
steckterweise eine  geistige  Welt  voraussetzt  und  ihr  entlehnte  Größen 
verwendet.  Damit  aber  ergibt  sich  bis  ins  Einzelne  hinein  ein 
schiefer  Anblick  der  Wirklichkeit.  Der  Empirismus  richtet  beim  Er- 
kenntnisprozeß das  Augenmerk  gänzlich  auf  die  Leistung  und  über- 
sieht die  geistige  Tätigkeit,  die  darin  wirkt;  er  haftet  am  Gegenstand 
und  vergißt,  daß  er  für  uns  etwas  nur  durch  unser  Aneignen  wird; 
er  sieht  die  Determination  des  Erkennens  durch  die  Erfahrung,  aber 
er  sieht  nicht,  daß  diese  Determination  innerhalb  eines  umfassenden 
Gedankenraumes  und  durch  die  eigne  Bewegung  des  Geistes,  nicht 
durch    eine   Mitteilung   von    außen    erfolgt;  -    er    ist   so   ausschließ- 


^  Die  Unmöglichkeit  mit  den  Mitteln  des  Empirismus  zu  einer  Wissen- 
schaft zu  gelangen,  ist  eben  neuerdings  von  hervorragenden  Forschern  nach- 
drücklich hervorgehoben.  Windelband  (Präludien,  2.  Aufl.,  S.  303)  nennt 
es  einen  „hoffnungslosen  Versuch,  durch  eine  empirische  Theorie  dasjenige 
zu  begründen,  was  selbst  die  Voraussetzung  jeder  Theorie  bildet",  und  Husserl 
(Logische  Untersuchungen  L  Bd  ,  S.  HO)  bemerkt  zum  gleichen  Gegenstande: 
„Der  schwerste  Vorwurf,  den  man  gegen  eine  Theorie  der  Logik  erheben 
kann,  besteht  darin,  daß  sie  gegen  die  evidenten  Bedingungen  der  Möglich- 
keit einer  Theorie  überhaupt  verstoße." 

-  Nicht  ohne  Schuld  daran  ist  der  Sprachgebrauch,  indem  er  Erfahrung 
und  Denken  einander  entgegensetzt,  als  vermöge  die  Erfahrung  etwas  ohne 
das  Denken  zu  leisten.    Mit  Recht  bemerkt  dagegen  schon  Robert  Boyle  (the 


120  Zum  Erkenntnisproblem. 

lieh  von  der  Fülle  des  Einzelnen  eingenommen,  daß  er  ihren  Zu- 
sammenhang wie  selbstverständlich  erachtet  und  über  den  Bäumen 
den  Wald  nicht  sieht.  Dem  Empirismus  scheint  aus  den  Dingen 
entgegenzukommen,  was  in  Wahrheit  die  Tätigkeit  in  sie  hinein- 
gelegt hat,  wie  z.  B.  der  Begriff  der  Erfahrungswelt  alles  eher  als 
ein  Erzeugnis  der  bloßen  Erfahrung  ist.^  Daß  es  ein  Gesamtproblem 
der  Erfahrung  gibt,  d.  h.  daß  der  Boden,  auf  dem  Erfahrung  ent- 
steht, erst  zu  gewinnen  ist,  auch  daß  wir  bei  der  Wahrheit  nicht 
nur  um  einzelne  Daten,  sondern  um  Gesamtgestaltungen  und  Ge- 
samtüberzeugungen kämpfen,  das  sollte  nach  Kant  nicht  so  leicht 
verdunkelt  werden.  Es  kann  sich  aber  dem  Empirismus  nur  ver- 
dunkeln, weil  ihm  nur  besondere  Seiten  der  Wirklichkeit  gegenwärtig 
sind,  die  ihre  Tiefe  und  ihren  Umfang  in  keiner  Weise  erschöpfen. 
Es  geschieht  das  sowohl  nach  Seite  des  Subjekts  als  nach  Seite 
des  Objekts,  wie  es  in  Kürze  heißen  mag.  Da  unser  Denken  und 
Leben  sich  zunächst  in  Bewußtseinsvorgängen  abspielt,  so  bleibt  der 
Empirismus  dabei  stehen  und  verkennt,  daß  der  Inhalt  des  Bewußt- 
seins selbst  nicht  ohne  ein  tiefer  gegründetes  Selbstleben  des  Geistes 
verständlich  ist,  nicht  ohne  eine  Umkehrung  der  ersten  Ansicht,  wie 
sie  schon  in  der  Bildung  eines  einheitlichen  Ich  erfolgt,  wie  sie  aber 
namentlich  alle  innere  Synthese  erst  möglich  macht;  ohne  eine  solche 
aber  gibt  es  keine  Wissenschaft.  Das  Seelenleben  in  ein  Neben- 
einander einzelner  Bewußtseinsvorgänge  auflösen,  das  heißt  allen 
Innern  Zusammenhang  preisgeben  und  damit  auch  die  Möglichkeit 
einer  Wissenschaft  von  Grund  aus  zerstören. 


Christian  virtuose  gegen  Schluß):  When  we  say,  experience  corrects  reason, 
'tis  an  improper  way  of  speaking,  since  tis  reason  itself,  that  upon  the  In- 
formation of  experience  corrects  the  judgment  it  had  made  before. 

*  Merkwürdig  ist  es  überhaupt,  wie  oft  man  sich  heute  auf  eine  Erfahrung 
beruft,  ohne  zuvor  ihre  Bedingungen  irgend  zu  untersuchen  und  ihre  Mög- 
lichkeit zu  sichern.  Nirgends  dürfte  dies  heute  mehr  geschehen  als  auf 
pädagogischem  Gebiet.  Man  richtet  neue  Schulgattungen  ein  und  erklärt 
bald,  die  Erfahrung  habe  sie  als  vortrefflich  erwiesen;  man  neigt  dahin,  Ein- 
richtungen fremder  Völker  einzuführen  und  beruft  sich  dafür  auf  die  Be- 
währung durch  die  Erfahrung  bei  jenen.  Aber  ist  gesagt,  daß  was  dem  einen 
Volke  frommt,  für  das  andere,  vielleicht  unter  wesentlich  anderen  Lebens- 
bedingungen befindliche,  ebenfalls  passe?  Und  wenn  eine  Einrichtung  hie 
und  da  vielleicht  unter  besonders  günstigen  Bedingungen  gute  Erfolge  hat, 
ist  damit  ein  durchgängiger  Vorzug  erwiesen?  Die  Erfahrung  hefert  ein 
Zeugnis  nur,  wo  wesentlich  gleiche  Umstände  vorliegen;  ob  aber  dies  der 
Fall,  darum  pflegt  man  sich  wenig  zu  kümmern. 


Denken  und  Erfahrung.  121 

Nach  Seite  des  Objekts  aber  haftet  der  Empirismus  viel  zu  aus- 
schheßlich  an  der  äußeren  Natur  und  verkennt  die  EigentümHchkeit 
der  anderen  Daseinsgebiete.  Was  von  seinen  Lehren  ein  gewisses 
Recht  gegenüber  der  Natur  hat,  das  wird  zum  Unrecht  in  der  Aus- 
dehnung über  die  ganze  Welt.  Was  uns  an  sinnlicher  Wirkung 
zugeht,  das  läßt  sich  nie  voll  in  geistige  Tätigkeit  umsetzen  und 
von  innen  aus  entwickeln;  so  verbleibt  hier  immer  eine  Fremdheit 
und  Gebundenheit,  und  es  ist  über  ein  Registrieren  und  Beschreiben 
nicht  hinauszukommen.  Aber  schon  beim  ersten  Anblick  des  mensch- 
lichen Lebens  und  Strebens  stellt  sich  die  Sache  anders.  Auch  hier 
werden  zunächst  uns  einzelne  Vorgänge  zugeführt,  aber  es  verbleibt 
nicht  beim  bloßen  Eindruck,  jene  lassen  sich  auf  den  erzeugenden 
Lebensprozeß  zurückverfolgen  und  mit  einander  verbinden;  indem 
der  Betrachtende  sich  in  diesen  Prozeß  zu  versetzen  vermag,  kann 
er  das  Fremde  in  eignes  Leben  verwandeln.  Kann  aber  so  der 
Mensch  mit  dem  Menschen  leben  und  fühlen,  ihn  nicht  bloß  wie 
ein  fremdes  Ding  von  außen  betrachten,  so  ergibt  sich  über  das  bloße 
Beschreiben  hinaus  ein  Erkennen.  Noch  weiter  aber  gelangen  wir, 
wenn  innerhalb  des  menschlichen  Kreises  ein  Geistesleben  anerkannt, 
hier  der  Standpunkt  der  Erkenntnisarbeit  gewählt,  die  Gesamtheit 
des  geschichtlich-gesellschaftlichen  Lebens  sowohl  als  der  Erfahrungen 
am  einzelnen  Punkt  darauf  bezogen,  von  dort  durchleuchtet  und 
zusammengefaßt  wird.  Nun  und  nimmer  kann  sich  hier  die  Be- 
handlung eine  bloße  Feststellung  der  dargebotenen  Erscheinungen 
genügen  lassen,  sie  muß  eine  innere  Aneignung,  mit  ihr  aber  ein 
Messen  und  Umwandeln  vollziehen.  Denn  was  im  menschlichen 
Kreise  an  Entfaltung  des  Geisteslebens  vorliegt,  das  ist  seinem  ersten 
Befunde  nach  mit  so  vielem  Zeitlichen,  Menschlichen,  ZufäUigen 
behaftet,  daß  keine  Klärung  ohne  eine  energische  Scheidung  und 
eine  Zurückführung  zur  eignen  Art  erfolgen  kann,  zugleich  gilt  es 
hier,  aus  den  besonderen  Beziehungen  und  Richtungen,  in  denen 
jenes  Leben  vorliegt  und  aufstrebt,  ein  umfassendes  Ganzes  erst 
herauszuheben,  von  ihm  her  jene  Mannigfaltigkeit  aufzuhellen  und 
sie  zu  einem  Zusammenhange  zu  verbinden.  In  Wahrheit  liegt  die 
Höhe  dessen,  was  sich  dem  Menschen  an  Erkenntnis  erschließt,  an 
dieser  Stelle:  in  den  charakteristischen  Entfaltungen  des  Geisteslebens 
und  dem  Aufbau  einer  geistigen  Welt;  hier  liegt  daher  auch  die 
Entscheidung  über  das  Ganze  der  Weltanschauung,  von  hier  aus  ist 
der  Gesamttypus    unserer  Weltanschauung    zu   entwerfen,    von  hier 


122  Zum  Erkenntnisproblem. 

aus  muß  irgendwelche  Würdigung  auch  das  finden,  was  das  mensch- 
liche Dasein  an  Schranken  und  Widersprüchen  enthält.  Das  alles 
ist  voller  Erfahrungen,  voller  Bewegungen  und  Vertiefungen,  die 
nun  und  nimmer  aus  bloßen  Begriffen  hervorgehen  können,  es  liegt 
damit  durchaus  jenseit  der  Sphäre  des  bloßen  Rationalismus,  es 
liegt  aber  ebenso  gewiß  über  allem  Vermögen  des  bloßen  Empirismus. 
Beiden  fehlt  die  deutliche  Abhebung  des  Geisteslebens  vom  mensch- 
lichen Dasein:  das  treibt  den  Rationalismus  zur  Überspannung  des 
Menschen,  den  Empirismus  zur  Verleugnung  des  Geisteslebens;  jener 
vermag  dem  Erkennen  keinen  lebendigen  Inhalt,  dieser  vermag  ihm 
keinen  wissenschaftlichen  Charakter  zu  geben.  Beiden  ist  auch  der 
Fehler  gemeinsam,  das  Erkennen  nicht  einem  größeren  Ganzen  des 
Geisteslebens  einzufügen  und  im  Zusammenhang  damit  das  Er- 
kenntnisproblem zu  behandeln;  bei  solcher  Isolierung  wird  das 
Erkennen  entweder  zu  niedrig  oder  zu  hoch  bewertet.  Beide  ver- 
treten dabei  dem  Erkennen  unentbehrliche  Momente:  der  eine  die 
Ursprünglichkeit,  der  andere  die  Tatsächlichkeit.  Aber  es  bedarf 
eines  neuen  Standortes,  um  diese  Wahrheitsmomente  zu  einem  Ganzen 
zu  verbinden  und  weder  einseitig  an  der  Größe  noch  an  der  Schranke 
des  menschlichen  Erkennens  zu  haften,  sondern  Schranke  und  Größe 
mit  einander  anzuerkennen.  Wenn  der  Empirismus  trotz  aller  augen- 
scheinlichen Schwächen  immer  von  neuem  aufsteigt  und  die  Menschen 
überwältigend  fortreißt,  so  liegt  das  weniger  an  seiner  eignen  Leistung 
als  an  den  Mängeln  des  Wahrheitsbegriffes,  der  im  Rationalismus 
zu  überwiegen  pflegt.  Daß  er  die  Wahrheit  über  die  Meinung  und 
Spaltung  der  Menschen  emporhebt,  ihr  eine  völlige  Unabhängigkeit 
vom  Menschen  gibt,  das  bleibt  sein  Verdienst  und  sein  Recht;  wo 
dies  Recht  irgend  unsicher  wird,  da  ist  eine  Vernichtung  der  Wissen- 
schaft nicht  zu  verhüten.  Aber  solange  der  Abstand  nicht  irgend- 
welche Überwindung  findet  und  die  Wahrheit  nicht  irgendwie  zu 
unserer  eignen  Sache  gemacht  wird,  behält  sie  etwas  Kaltes  und 
Totes;  unerfindlich  bleibt,  wie  sie  uns  mit  überwältigender  Kraft  zu 
bewegen,  und  wie  sie  das  Ganze  des  Lebens  zu  erhöhen  vermag. 
So  sehr  wir  es  ablehnen  müssen,  die  Wahrheit  mit  dem  Pragmatis- 
mus nach  der  Brauchbarkeit  für  das  Leben  zu  messen,  sie  über- 
haupt nach  einem  draußenliegenden  Ziele  zu  messen,  so  muß  doch 
das  Erfassen  der  Wahrheit  als  Entwicklung  eines  neuen  Lebens  ver- 
standen und  die  Sache  als  nicht  jenseit,  sondern  innerhalb  des  Lebens 
befindlich    verstanden    werden.      Es   handelt   sich   schließlich    nicht 


Denken  und  Erfahrung.  123 

darum,  eine  Wirklichkeit  zu  erfassen,  die  jenseit  des  Lebens  liegt, 
sondern  ein  Leben  zu  gewinnen,  das  eine  Wirklichkeit  aus  sich 
entwickelt.  In  Verfolgung  dieser  Bahn  läßt  sich  ein  innigeres  Ver- 
hältnis zur  Wahrheit  erreichen,  ohne  daß  wir  dem  Empirismus  ver- 
fallen, der  zu  keiner  Wahrheit  gelangen  würde,  wenn  er  nicht  den 
Glauben  an  sie  zu  seiner  Arbeit  schon  mitbrächte. 

In  dem  Empirismus  und  dem  Rationalismus  wirken,  wie  wir 
sahen,  entgegengesetzte  geistige  Strömungen;  von  der  Art  und  Lage 
der  Zeiten  wird  es  abhängen,  ob  diese  oder  jene  jeweilig  das  Über- 
gewicht gewinnt.  Wo  der  Gedankenkreis  als  im  wesentlichen  ge- 
schlossen und  wohl  übersehbar  gilt,  wie  im  Altertum  und  im  Mittel- 
alter, auch  bei  der  deutschen  konstruktiven  Philosophie,  da  wird 
die  innere  Leistung  voranstehen,  da  wird  man  sich  zu  einer  Unter- 
schätzung der  Erfahrung  neigen.  Wo  hingegen  die  Empfindung 
der  Enge  des  bisherigen  Gesichtskreises  vorwaltet  und  ein  Verlangen 
nach  Erweiterung  aufkommt,  da  wird  von  der  Erfahrung  alles  Heil 
erwartet  und  leicht  die  weiterbildende,  ja  umwandelnde  Tätigkeit 
geistiger  Art  übersehen.  So  geschah  es  bei  Bacon,  so  geschah  es 
im  19.  Jahrhundert  und  geschieht  es  vielfach  auch  heute.  Die  un- 
ermeßliche Erweiterung  des  Gesichtskreises  in  Natur  und  Geschichte, 
die  das  19.  Jahrhundert  vollzog,  mußte  besonders  stark  in  Deutsch- 
land wirken,  weil  ihr  hier  ein  energischer  Rückschlag  gegen  die 
zu  straffe  Zusammenfassung  der  konstruktiven  Systeme  zur  Seite  ging. 

Aber  je  mehr  eine  solche  empiristische  Bewegung  sich  ausdehnt 
und  je  ausschließlicher  sie  das  Feld  einnimmt,  desto  notwendiger 
wird  eine  Gegenwirkung.  Wir  sahen  den  Empirismus  zu  einem 
leidlichen  Abschlüsse  nur  kommen,  weil  er  innerhalb  einer  vorge- 
fundenen, seinen  eignen  Begriffen  überlegenen,  ja  widersprechenden 
Gedankenwelt  wirkt;  diese  Gedankenwelt  aber  muß  um  so  mehr 
erschüttert  und  aufgelöst  werden,  je  selbständiger  und  je  unduld- 
samer jene  Richtung  wird.  So  untergräbt  sie  durch  ihren  eignen 
Fortgang  die  ihr  unentbehrlichen  Ergänzungen  und  muß  daher  im 
äußeren  Siege  innerlich  zusammenbrechen;  ihre  Unzulänglichkeit 
wird  sonnenklar,  sobald  sie  aus  eignen  Mitteln  alles  bestreiten  will. 
Eine  solche  Wendung  sehen  wir  trotz  aller  Gunst,  deren  sich  der 
Empirismus  noch  in  lebensfremden  exaktwissenschaftlichen  Kreisen 
erfreut,  auch  jetzt  sich  vorbereiten.  Immer  deutlicher  wird,  daß  alle 
Aufschichtung  und  Anordnung  von  Kenntnissen  noch  keinerlei  Er- 


124  Zum  Erkenntnisproblem. 

kenntnis,  keinerlei  Ideen,  keinerlei  Überzeugungen  gewährt,  daß  aber 
ohne  solche  der  Mensch  nicht  auskommen  kann,  wenn  anders  er 
ein  Seelenwesen  bleiben,  nicht  zu  einer  Kulturmaschine  herabsinken 
soll.  Es  ist  eine  Notwendigkeit  des  geistigen  Lebens,  es  ist  im  be- 
sondern die  eigentümliche  Lage  der  gegenwärtigen  Kultur,  welche 
das  Denken  zwingend  über  den  Empirismus  hinaustreibt.  Ohne 
eine  Selbständigkeif  und  Ursprünglichkeit  des  Denkens  kann  keine 
Kultur  bestehen.  Aber  jene  Selbständigkeit  läßt  sich  übersehen  und 
vergessen,  so  lange  das  Leben  in  vermeintlich  sicheren  Bahnen  fort- 
läuft, so  lange  es  nicht  von  schweren  Verwicklungen  und  Wider- 
sprüchen bedroht  wird.  Heute  aber  stehen  wir  ganz  und  gar  unter 
dem  Eindruck  schwerer  Verwicklungen  und  Widersprüche,  wir  er- 
kennen die  Notwendigkeit  einer  gründlichen  Revision  des  gesamten 
Kulturbesitzes,  die  Notwendigkeit  einer  energischen  Ausscheidung 
alles  welk  und  unwahr  Gewordenen,  einer  kräftigen  Zusammen- 
fassung und  Steigerung  aller  Wahrheitselemente;  ja  so  tief  geht  die 
Erschütterung,  daß  die  Ungewißheit  in  die  letzten  Elemente  zurück- 
greift und  um  das  Ganze  des  Geisteslebens  zu  kämpfen  zwingt. 
Wie  sollten  wir  nun  bei  solchen  Aufgaben  irgend  weiter  gelangen 
ohne  ein  Vermögen  selbständiger  und  ursprünglicher  Tätigkeit,  ohne 
eine  Selbstbesinnung  und  Selbsterweckung  des  Geisteslebens,  ohne 
eine  geistige  Erhöhung  und  Erneuerung,  welche  neue  Möglichkeiten 
entwirft  und  neue  Tatbestände  erschließt?  Das  alles  aber  liegt  dem 
Empirismus  fern.  So  notwendig  daher  die  Zeit  einer  Innern  Wand- 
lung bedarf,  so  notwendig  muß  sie  ihn  hinter  sich  lassen.  So  sehr 
wir  nun  die  Wendung  der  philosophischen  Forschung  der  Gegen- 
wart zum  Idealismus  begrüßen,  und  so  sehr  wir  die  Scheu  verstehen, 
dabei  die  Art  der  alten  Metaphysik  wiederaufzunehmen:  so  gewiß 
wir  einer  gründlichen  Erneuerung  und  durchgreifenden  Kräftigung 
des  Lebens  bedürfen,  ebenso  notwendig  bedürfen  wir  eines  Idealismus 
aufrüttelnder  und  vordringender  Art,  ein  solcher  Idealismus  aber  darf 
nicht  bloß  ein  kritischer,  er  muß  auch  ein  positiver  sein.  Denn  so 
bedeutend  der  kritische  Idealismus,  der  heute  auf  der  Höhe  der 
philosophischen  Forschung  vorherrscht,  darin  ist,  dem  Realismus 
und  Empirismus  seine  Grenze  zu  weisen,  im  besondern  darzutun, 
daß  sie  nur  mit  versteckter  Hülfe  des  Gegners  ein  Ganzes  des 
Lebens  und  Wissens  erreichen,  so  entschieden  er  ferner  in  einzelnen 
Hauptrichtungen  des  Lebens  das  Wirken  und  Walten  einer  neuen 
Ordnung  der  Dinge  zeigt,  er  faßt  diese  Hauptrichtungen  nicht  ge- 


Denken  und  Erfahrung.  125 

nügend  in  ein  Ganzes  zusammen;  ein  Ganzes  aber  ist  unentbehrlich, 
wenn  der  Mensch  in  jener  Bewegung  sein  geistiges  Selbst  ergreifen, 
den  Schwerpunkt  seines  Lebens  dahin  verlegen  und  zugleich  eine 
Umkehrung  seines  Leben  vollziehen  soll.  Ohne  eine  solche,  ohne 
eine  Versetzung  in  ein  ursprüngliches  Leben  von  der  anderen  Seite 
her  kann  aber  das  neue  Leben  schwerlich  die  Kraft  gewinnen,  um 
einer  andersartigen  Ordnung  gegenüber  selbständig  zu  werden  und 
sich  gegen  die  ungeheuren  Hemmungen  durchzusetzen,  welche  die 
nächste  Weltlage  bietet.  Demnach  treibt  uns  nicht  eine  Lust  an 
intellektuellen  Abenteuern  zur  Metaphysik,  sondern  die  unerläßliche 
Forderung  einer  Selbsterhaltung  des  Geisteslebens. 


2.  Mechanisch  —  organisch. 

(Teleologie.) 

I  |ie  Begriffe  und  Probleme  Mechanisch  und  Organisch  haben 
*-^  eine  besonders  reiche  Geschichte.  Sie  zeigt  nicht  nur  große 
Gegensätze  der  Weltanschauung  und  Methodenlehre  und  einen  harten 
Kampf  um  den  Charakter  der  wissenschaftlichen  Arbeit,  sie  ist  auch 
voll  feinerer  Nuancen  und  leiserer  Schwingungen  und  ergibt  damit 
einen  eigentümlichen  Durchblick  der  Gesamtbewegung.  Die  Gegen- 
sätze der  Jahrtausende  aber  erstrecken  sich  bis  in  die  Arbeit  der 
Gegenwart.  So  sei  bei  diesem  Problem  unser  Augenmerk  vornehm- 
lich der  Geschichte  zugewandt. 

a)  Zur  Geschichte  der  Ausdrücke  und  Begriffe. 

Wie  die  Ausdrücke  mechanisch  und  organisch,  so  sind  auch 
die  Begriffe  alt,  aber  erst  spät  haben  sie  einander  gefunden.  Mechanisch 
erscheint,  als  technische  Bezeichnung  der  Kunst  der  Erfindungen,  der 
Herstellung  von  Maschinen,  wie  ein  eingebürgerter  Ausdruck  bei 
Aristoteles  (i^  (A7];^avixrj,  rä  (XTj^^avtxa),  dessen  Namen  trägt  eine 
spätere  Schrift  [A7]x^avix,a.  i  In  diesem  Sinne  durchlief  das  Wort  die 
Jahrtausende  und  dient  es  seit  Descartes  zur  Bezeichnung  einer 
Theorie,  welche  die  Bildung  der  Natur,  nach  Art  der  menschlichen 
Werke,  nicht  aus  einer  Innern  Triebkraft  des  Ganzen,  sondern  aus 
der  Zusammenfügung  kleiner  von  Haus  aus  bewegter  Teilchen  des 
Stoffes  erklärt;  die  Werke  der  Natur  scheinen  von  denen  des  Menschen 
nur  durch   ihre  größere   Feinheit,   also  quantitativ,   nicht  qualitativ 


^  In  dieser  Schrift  wird  der  Ausdruck  so  erklärt:  "OTav  oeV,  Tt  Tiapa 
(pUatv  ::pa^at,  Siot  xo  j^aXsröv  änopiav  riapiyji  xai  oelrai  xe'yvy)?.  8io  xai  xaXoü(jL£v 
rr,i  -ziy(yri<i  to  Ttpö;  ta?  xotaux«?  ar.oploic,  ßor]0-ouv  [lipoc,  |jL7])(^av7Jv  (Arist.  847  a,  16). 
Die  Kunst  erscheint  hier  als  eine  Art  Überlistung  der  Natur. 


Mechanisch  —  organisch.  127 

verschieden.^  Die  technischen  Mittel  der  Erklärung  liefert  dabei  die 
theoretische  Mechanik  als  Bewegungslehre.  2  In  Umlauf  dürfte  den 
Terminus  mechanisch  namentlich  der  Chemiker  und  Philosoph  Robert 
Boyle  gebracht  haben,  der  ihn  besonders  liebte  und  gern  auf  dem 
Titel  seiner  Werke  verwandte.  Selbst  am  Ausdruck  „Natur"  nahm 
er  Anstoß  und  wollte  ihn  durch  mechanismus  universalis  ersetzt 
wissen. 

Die  Naturwissenschaft  der  folgenden  Zeiten  faßte  den  Terminus 
bald  laxer,  bald  strenger;  Erörterungen  darüber  waren  gang  und 
gäbe.  Aber  gewöhnlich  wurde  unter  mechanischer  Erklärung  eine 
Erklärung  körperlicher  Beschaffenheiten  aus  der  Figur  und  Bewegung 
verstanden.  Eine  Übertragung  auf  seelische  Vorgänge  lag  dabei 
zunächst  ganz  fern,  mechanisch  und  materiell  gelten  oft  als  gleich- 
bedeutend. ^  Eine  mechanische  Erklärung  seelischer  Vorgänge  heißt 
daher  zunächst  eine  Ableitung  aus  bloß  körperlichen  Ursachen.  In  der 
Sache  aber  unternimmt  schon  Spinoza,  den  Bestand  des  Seelenlebens 
aus  ,dem  Zusammenwirken  einzelner  Vorstellungen  zu  erklären,  wie 


^  Descartes  sagt:  (principia  philos.  IV,  §  203):  »Nullum  aliud  inter 
ipsa  (sc.  arte  facta)  et  corpora  naturalia  discrimen  agnosco,  nisi  quod  arte 
fadorum  operationes  ut  plurimum  peraguntur  instrumentis  adeo  magnis,  ut 
sensu  facile  percipi  possint:  hoc  enim  requiritur,  ut  ab  hominibus  fabricari 
queant.  Contra  autem  naturales  effectus  fere  semper  dependent  ab  aliquibus 
organis  adeo  minutis,  ut  omnem  sensum  effugiant.  Danach  bringt  jede 
Verfeinerung  der  Maschinen  die  Kunst  der  Natur  ein  Stück  näher. 

^  Descartes  princ.  phil.  IV,  §200:  Figuras  et  motus  et  magnitudines 
corporum  consideravi  atque  secundum  leges  Mechanicae,  certis  et  quotidianis 
experimentis  continuatas,  quidnam  ex  istorum  corporum  mutuo  concursu 
sequi  debeat,  examinavi.  —  §  203 :  Et  sane  nullae  sunt  in  Mechanica  rationes, 
quae  non  etiam  ad  Physicam,  cujus  pars  vel  species  est,  pertineant,  nee  minus 
naturale  est  horologio  ex  bis  vel  illis  rotis  composito,  ut  horas  indicat,  quam 
arbori  ex  hoc  vel  illo  semine  ortae,  ut  tales  fructus  producat.  Quamobrem 
ut  ii  qui  in  considerandis  automatis  sunt  exercitati,  cum  alicujus  machinae 
usum  sciunt  et  nonnullas  ejus  partes  aspiciunt,  facile  ex  istis,  quo  modo  aliae 
quas  non  vident  sint  factae,  conjiciunt;  ita  ex  sensilibus  effectibus  et  partibus 
corporum  naturalium,  quales  sint  eorum  causae  et  particulae  insensiles,  investi- 
gare  conatus  sum. 

'  So  stellt  Descartes  selbst  dem  Un körperlichen  das  mechanicum  et 
corporeum  entgegen  (Briefe  I,  67),  und  dieselbe  Bedeutung  liegt  vor,  wenn 
Wolff  (psych,  rat.  §  395)  behauptet,  daß  die  Einsichten  der  anschauenden 
Erkenntnis  (cognitio  symbolica)  mechanice  quoque  in  cerebro  absolvi  — 
nihil  inesse  notioni,  qua  quid  in  universal!  repraesentatur,  quod  non  aeque 
mechanice  repraesentatur  in  corpore. 


128  Zum  Erkenntnisproblem. 

er  denn  die  Seele  eine  geistige  Maschine  nennt  (automaton  spiritu- 
ale).  Leibniz  verfeinert  das  trotz  seiner  Betonung  der  Einheit  der 
Seele.  ^  Wolff  und  die  französischen  Psychologen  des  18.  Jahr- 
hunderts bilden  es  näher  durch.  Schließlich  kommt  es  auch  zu 
einer  Übertragung  des  Wortes,  und  „mechanisch"  wird  erst  bildlich, 
dann  lehrhaft  für  das  Innere  der  Seele  verwandt.-  Kant  verallge- 
meinert den  Ausdruck,  indem  er  ihn  überträgt  auf  »alle  Notwendig- 
keit der  Begebenheiten  in  der  Zeit  nach  dem  Naturgesetze  der 
Kausalität,  ob  man  gleich  darunter  nicht  versteht,  daß  Dinge,  die 
ihm  unterworfen  sind,  wirklich  materielle  Maschinen  sein  müßten." 
In  der  Naturphilosophie  aber  entwickelt  er  klar  und  scharf  den  Gegen- 
satz einer  mechanischen  und  einer  dynamischen  Erklärung.^ 

Auch  organisch  begegnet  uns  zuerst  bei  Aristoteles,  dem  großen 
Bildner  der  Sprache.  Aber  es  hat  dort  einen  anderen  Sinn  als  jetzt. 
Entsprechend  dem  Stammwort  opyavov,  Werkzeug,  bedeutet  organisch 
„werkzeuglich",  es  wird  gebraucht  vom  Ganzen  des  lebendigen, 
zweckmäßig  angelegten  Körpers,  öfter  aber  von  einzelnen  Körper- 
teilen, nämlich  solchen,  welche  aus  ungleichartigen  Bestandteilen 
zusammengesetzt  sind.  So  gewiß  der  Begriff  nur  Lebewesen  zu- 
kommt, so  enthält  er  selbst  nicht  das  Merkmal  inneren  Lebens,  er  ist 
daher  auch  nicht  über  das  besondere  Gebiet  hinaus  zur  Bezeichnung 


^  S.  z.  B.  Erdm.  153:  II  faut  considerer  aussi  que  l'äme,  toute  simple 
qu'elle  est,  a  toujours  un  sentiment  compose  de  plusieurs  perceptions  ä  la 
fois;'Ce  qui  opere  autant  pour  notre  but,  que  si  eile  etait  composee  de  pieces 
comme  une  machine. 

-  Bei  Lessing  sieht  man  die  Übertragung  noch  im  Werden,  er  sagt  im 
7.  Literaturbriefe:  „Wenn  diese  Veränderung  durch  innere  Triebfedern,  (mich 
plump  auszudrücken)  durch  den  eigenen  Mechanismus  seiner  Seele  erfolgt 
ist."  Mit  besonderer  Energie  hat  Herbart  die  Vorstellung  von  einer  Mechanik 
des  Innenlebens  durchgeführt;  er  erklärt  es  (III,  255)  als  Aufgabe,  „den 
Organismus  der  Vernunft  aufzulösen  in  seine  einfachen  Fibern,  die  Vor- 
stellungsreihen, deren  Entstehung  nur  aus  der  Mechanik  des  Geistes  konnte 
erklärt  werden." 

^  S.  IV,  427  (Hart.):  „Die  Erklärungsart  der  spezifischen  Verschiedenheit 
der  Materien  durch  die  Beschaffenheit  und  Zusammensetzung  ihrer  kleinsten 
Teile,  als  Maschinen,  ist  die  mechanische  Naturphilosophie;  diejenige  aber, 
welche  aus  Materien,  nicht  als  Maschinen,  d.  i.  bloßen  Werkzeugen  äußerer 
bewegender  Kräfte,  sondern  ihnen  ursprünglich  eigenen  bewegenden  Kräften 
der  Anziehung  und  Zurückstoßung  die  spezifische  Verschiedenheit  der  Materie 
ableitet,  kann  die  dynamische  Naturphilosophie  genannt  werden." 


Mechanisch  —  organisch.  129 

eines  lebendigen  Ganzen,  etwa  in  der  politischen  Theorie,  verwandt; 
es  gibt  bei  Aristoteles  Stellen,  wo  ^pyavijcd;  sich  kaum  anders  als 
mit  mechanisch  übersetzen  läßt.  ^  Diesen  Sinn  behielt  das  Wort  un- 
verändert durch  Mittelalter  und  Neuzeit  hindurch  bis  in  das  18.  Jahr- 
hundert. -  Jenen  Begriff  des  Werkzeuglichen  konnte  sich  auch  die 
neue  mechanische  Theorie  aneignen,  unbedenkHch  wurden  im  18.  Jahr- 
hundert organische  (natürliche)  und  künstliche  Maschinen  dem  Be- 
griff der  Maschine  untergeordnet;  von  organischen  Maschinen  zu 
sprechen  hatte  damals  gar  nichts  Befremdliches.  ^ 

Erst  das  Aufsteigen  der  deutschen  Blütezeit  mit  ihrem  Verlangen 
nach  einer  Beseelung  und  eignen  Bewegung  der  Natur  hat  dem 
Ausdruck  organisch  das  Merkmal  des  Lebendigen  hinzugefügt  und 
es  zur  Hauptsache  gemacht.  Besonders  hat  dahin  Kant  mit  seinen 
präzisen  Begriffen  und  Unterscheidungen  gewirkt,  aber  auch  Herder, 
Jacobi  u.  a.  seien  nicht  vergessen.^  Von  den  natürlichen  Lebewesen 
übertrug  sich  die  neue  Bedeutung  zunächst  auf  Staat  und  Gesell- 
schaft, ^  dann  auf  Recht,  Geschichte  u.  s.  w.   Organisch  wird  nament- 

'  S.  Z.  B.  rapl  yevEJEw;  xa\  (pO-opä?  336a,  2:  xal  xa?  Suvatisi?  aTioStSdaai 
Tot;  atüjiaat,  Bi  a;  yEvvtiJsi,  Xiav  6pyavtxt3;,  oupaipoüvTe;  ttiv  xaxa  to  eiSo;  atttav. 
Pol.  1259  b,  23:  aroprJoEtev  av  Ti;,  Tco'xEpov  ettiv  ap£Tr'  xt;  SouXou  napa  xa; 
opyavixa;  xat  Staxovtxas  oXXrj  TijJUWTEpa  xouxtov. 

*  Der  letzte  bedeutende  Ausläufer  der  Scholastik,  Suarez  (1548—1617), 
sagt  (de  anima  I,  2,  6):  Dicitur  corpus  organicum,  quod  ex  partibus  dissi- 
milaribus  componitur.  Noch  für  den  Sprachgebrauch  der  Wolffischen  Schule 
bezeugt  Baumeister:  Corpus  dicitur  organicum,  quod  vi  compositions  suae 
ad  peculiarem  quandam  actionem  aptum  est. 

^  Saint-Simon  nannte  noch  um  1813  die  Gesellschaft  eine  veritable 
machine  organisee  (s.  Paul  Barth,  Vierteljahrsschr.  f.  wissenschaftl.  Philos. 
XXIV,  I,  S.  72). 

*  Kant  definiert  (V,  388  Hart.):  „Ein  organisiertes  Produkt  der  Natur 
ist  das,  in  welchem  alles  Zweck  und  wechselseitig  auch  Mittel  ist."  S.  386 
heißt  es:  „Ein  organisiertes  Wesen  ist  also  nicht  bloß  Maschine;  denn  die 
hat  lediglich  bewegende  Kraft;  sondern  es  besitzt  in  sich  bildende  Kraft,  und 
zwar  eine  solche,  die  es  den  Materien  mitteilt,  welche  sie  nicht  haben  (sie 
organisiert)".  Jacobi  (Hume  172):  „Um  die  Möglichkeit  eines  organischen 
Wesens  zu  denken,  wird  es  notwendig  sein,  dasjenige,  was  seine  Einheit 
ausmacht,  zuerst:  das  Ganze  vor  den  Teilen  zu  denken."  Sachlich  wurden 
damit  nur  aristotelische  Gedanken  wieder  aufgenommen  und  genauer  formu- 
liert. Kant  spricht  auch  von  einem  „wahren  Gliederbau"  der  reinen  spe- 
kulativen Vernunft,  „worin  alles  Organ  ist,  nämlich  alles  um  eines  willen 
und  ein  jedes  Einzelne  um  aller  willen"  (III,  28  Hart.) 

'  Die  Übertragung  des  Ausdrucks  Organisation  auf  das  politische  Ge- 
biet dürfte  zuerst  in  den  Bewegungen  der  französischen  Revolution  erfolgt 
Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  9 


130  Zum  Erkenntnisprablem. 

lieh  ein  Lieblingswort  der  Romantik,  es  dringt  aber  zugleich  über 
einzelne  Schulen  und  Richtungen  hinaus  in  den  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch ein.  Mechanisch  und  organisch,  am  Ursprung  ziemlich 
gleicher  Bedeutung,  bilden  also  schließlich  den  schroffsten  Gegen- 
satz und  bezeichnen  jetzt  Hauptgegensätze  der  Weltanschauung.^ 


b)  Zur  Geschichte  des  Problems. 

Der  sachliche  Gegensatz,  den  nunmehr  die  Worte  bezeichnen, 
reicht  weit  zurück,  er  hat  im  Altertum  seine  Hauptvertreter  in 
Demokrit  und  Aristoteles.  Auf  der  Höhe  des  klassischen  Altertums 
gewinnt  die  organische  Lehre,  wie  sie  in  Kürze  heißen  mag,  die 
entschiedene  Oberhand.  Die  künstlerische  und  synthetische  Denk- 
weise jener  Zeit  stellt  das  Ganze  vor  die  Teile,  das  Lebendige  vor 
das  Leblose  und  erklärt  von  dort  nach  hier.  Die  Vorstellung  —  nicht 
den  Ausdruck  —  des  Organismus  hat  namentlich  Aristoteles  dafür 
eingebürgert,  von  dem  auch  die  Formel  stammt,  daß  bei  einem 
organischen  Wesen  das  Ganze  den  Teilen  vorangehe.  ^  Die  Vor- 
stellung erstreckt  sich  sofort  über  ihr  nächstes  Gebiet  hinaus-  auf 


sein,  den  innerlichen  Sinn  aber  haben  dem  Worte  erst  deutsche  Denker  und 
Dichter  gegeben.  Kant  sagt  (V,  387  Hart.):  „Genau  zu  reden,  hat  die  Or- 
ganisation der  Natur  nichts  Analogisches  mit  irgend  einer  Kausalität,  die 
wir  kennen"  und  fügt  dem  in  einer  Anmerkung  hinzu:  »Man  kann  um- 
gekehrt einer  gewissen  Verbindung,  die  aber  auch  mehr  in  der  Idee  als  in 
der  Wirklichkeit  angetroffen  wird,  durch  eine  Analogie  mit  den  genannten 
unmittelbaren  Naturzwecken  Licht  geben.  So  hat  man  sich,  bei  einer  neulich 
unternommenen  gänzlichen  Umbildung  eines  großen  Volkes  zu  einem  Staat, 
des  Worts  Organisation  häufig  für  Einrichtung  der  Magistraturen  u.  s.  w. 
und  selbst  des  ganzen  Staatskörpers  sehr  schicklich  bedient.  Denn  jedes 
Glied  soll  freilich  in  einem  solchen  Ganzen  nicht  bloß  Mittel,  sondern  zu- 
gleich auch  Zweck,  und,  indem  es  zu  der  Möglichkeit  des  Ganzen  mitwirkt, 
durch  die  Idee  des  Ganzen  wiederum  seiner  Stelle  und  Funktion  nach  be- 
stimmt sein."  In  derselben  Schrift  (der  K.  d.  Urteilskraft)  sagt  er  S.  364 : 
»So  wird  ein  monarchischer  Staat  durch  einen  beseelten  Körper,  wenn  er 
nach  inneren  Volksgesetzen,  durch  eine  bloße  Maschine  aber  (wie  etwa  eine 
Handmühle),  wenn  er  durch  einen  einzelnen  absoluten  Willen  beherrscht  wird, 
in  beiden  Fällen  aber  nur  symbolisch  vorgestellt." 

^  So  z.  B.  bei  Trendelenburg,  s.  Log.  Untersuchungen  (3.  Aufl.)  II,  142ff. 

*  Pol.  1253a,  20  heißt  es:  xo  oXov  JupoTspov  ava^xaiov  etvai  xou  [xtpou?. 
avatpou(xE'vou  yap  xoü  oXou  oux  eaxat  noui  ouSk  X^V^  ^^  Kl'  op-wvufxw;  tforcEp  £i 
xi?  liycn  xT^v  Xi'd-ivTiv.  8ta<p^S-ap£toa  yap  Eoxat  xoiauxr).  Danach  ist  der  Staat  früher 
als  das  Individuum. 


Mechanisch  —  organisch.  131 

den  Staat  und  auf  das  Weltall,  bald  auch  —  freilich  erst  nach 
Aristoteles  und  am  meisten  bei  den  späteren  Stoikern  —  auf  das 
Ganze  der  Menschheit.  Vom  Altertum  fließt  sie  in  das  Christentum 
ein  und  gewinnt  hier  durch  die  religiöse  Färbung  eine  besondere 
Innigkeit.  ^  Sie  befestigt  sich  später  zu  der  Idee  der  Kirche  als  des 
mystischen  Leibes  (corpus  mysticum)  Christi.  Sie  erhält  im  Mittel- 
alter mit  seiner  untrennbaren  Verkettung  von  Geistigem  und  Sinn- 
lichem eine  greifbare  Gestalt  und  beherrscht  mit  solcher  die  mittel- 
alterUche  Gesellschaftslehre;  ^  sie  ist  ein  Hauptstück  des  jener  Zeit 
eigentümlichen  Ordnungssystems,  das  dem  Einzelnen  alle  Geistig- 
keit von  einem  Ganzen,  und  zwar  einem  sichtbaren  Ganzen  her  zu- 
gehen läßt. 

Jene  organische  Lehre  wirkte  stark  sowohl  auf  das  praktische 
Gebiet  als  auf  das  wissenschaftliche  Verfahren.  Dort  gebot  sie  eine 
unbedingte  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  das  Ganze,  das  ihm 
erst  zur  Entwicklung  seiner  Vernunft  verhelfe,  aber  zugleich  gab 
sie 'dem  Einzelnen  das  Bewußtsein,  innerhalb  des  Ganzen  etwas 
Eigentümliches  und  an  seiner  Stelle  Unersetzliches  zu  bedeuten. 
Mit  besonderer  Freude  verweilt  das  spätere  Altertum  bei  dem  Ge- 
danken, daß  der  Einzelne,  nicht  bloß  ein  Teil  (i^ipo?),  sondern  ein 
Glied  (pi>.o;)  des  Weltalls  sei.  »Ich  bin  ein  Glied  des  Ganzen 
der  Vernunftwesen«,  diese  Überzeugung  tröstet  einen  Marc  Aurel 
in  den  Gefahren  und  Dunkelheiten  des  Lebens.  Die  alte  Kirche 
aber  entwickelt  namentlich  die  Vorstellung,  daß  alle  Christen  als 
Glieder  des  gottgeweihten  Gemeinwesens  in  Schicksal  und  Tat  auf 
einander  angewiesen,  einander  solidarisch  verbunden  seien. 

Nicht  minder  folgenreich  ist  jene  Denkweise  für  die  wissenschaft- 
liche Arbeit.  Denn  hier  quillt  aus  ihr  die  teleologische  Betrachtung, 
die  sich  vom  Altertum  mit  mächtiger  Wirkung  bis  in  die  Gegen- 
wart erstreckt.  War  das  Ganze  das  Ursprüngliche  und  Überlegene, 
so  bot  es  den  Schlüssel  zur  Erklärung  der  einzelnen  Glieder  und 


*  Bezeichnend  für  den  griechischen  Ursprung  der  Vorstellungsweise  ist 
die  Tatsache,  daß  unter  den  Evangelien  nur  das  Johannesevangelium  sie 
bietet  (Weinstock  und  Reben),  das  stark  unter  griechischen  und  philosophischen 
Einflüssen  steht. 

^  Dem  entspricht  es,  daß  die  Analogie  zwischen  dem  Staat  und  einem 
lebendigen  Körper  nicht  beim  allgemeinen  Gedanken  verbleibt,  sondern  gern 
bis  ins  Einzelne  ausgeführt  wird.  So  hat  z.  B.  Johann  von  Salisbury  für 
jeden  Teil  des  Staates  ein  entsprechendes  Körperglied  aufzuweisen  versucht 
(s.  Gierke,  Das  deutsche  Genossenschaftsrecht  III,  549). 

9* 


132  Zum  Erkenntnisproblem. 

Leistungen.  Das  Ganze  aber  war  nach  platonisch-aristotelischer 
Vorstellung  eine  unwanddbare  Form,  ein  bei  sich  selbst  befindliches 
und  in  sich  selbst  befriedigtes  Leben;  so  setzte  es  aller  Bewegung 
einen  festen  Ziel-  und  Schlußpunkt,  i  Das  reicht  über  das  Gebiet 
des  Lebendigen  hinaus  in  das  gesamte  All.  Die  Welt  gilt  hier  als 
ein  lebendiges,  fest  ineinandergefügtes  Ganzes,  dem  alles  Einzelne 
sich  gliedartig  einfügt;  die  Bewegungen  laufen  nicht  wirr  durchein- 
ander, sondern  eine  jede  strebt  zu  einem  Endpunkt,  um  dort  in  ein 
beharrendes,  in  sich  vollendetes  Wirken  (evepysia)  überzugehen. 
Aber  besonders  fruchtbar  ist  jene  Betrachtungsweise  innerhalb  ihres 
Heimatsgebietes:  bei  den  Lebewesen.  Nicht  nur  werden  hier  bei  den 
einzelnen  Tierarten  alle  Organe  und  Funktionen  auf  ein  allumspannen- 
des Leben  bezogen  und  daraus  verstanden,  es  erscheint  auch  alle 
Mannigfaltigkeit  organischer  Bildung  als  Entfaltung  eines  einzigen 
Normaltypus,  der  durch  alle  Stufen  wirkt.  Diesen  Normaltypus  zeigt 
rein  der  Mensch,  so  läßt  sich  von  ihm  aus  das  weite  Reich  durch- 
leuchten und  der  unermeßliche  Stoff  unter  durchgehende  Gedanken 
bringen.  Es  entstand  damit  eine  Art  von  vergleichender  Anatomie 
und  Physiologie,  sowie  eine  Entwicklungsgeschichte;  auch  das  Seelen- 
leben der  Tiere  wird  vom  Menschen  her  aufzuhellen  gesucht.  So 
wenig  uns  jetzt  jene  Betrachtungsweise  genügen  kann,  eine  gewisse 
Zusammenfassung  und  Anordnung  des  Stoffes  hat  sie  ihrer  Zeit  und 
langen  Jahrhunderten  geboten. 

Auch  im  Altertum  fehlte  es  nicht  an  Widerständen  dagegen, 
aber  sie  gelangten  nicht  aus  bloßer  Gegenwirkung  zur  Leitung  der 
Arbeit.  Das  geschah  erst  in  der  Neuzeit,  wo  der  Kampf  gegen 
jene  organische  Lehre  ein  Hauptstück  des  Strebens  nach  Freiheit 
und  Klarheit  wurde.  Die  Befreiung  erfolgt  zuerst  im  Gesamtzuge 
des  Lebens,  indem  das  moderne  Individuum  die  Bindung  an  eine 
greifbare  Organisation  und  die  Vermittlung  des  Geisteslebens  da- 
durch als  eine  unerträgliche  Bedrückung  empfindet  und  abweist, 
ein  unmittelbares  Verhältnis  zum  All  erstrebt  und  daraus  eine  sichere 


*  S.  Aristot.  Physik  194  a,  28:  i]  Sk  <puais  te'Xo?  xa\  ou  ^vexa.  av  yap 
ouve^^ous  TT?  xtvr-'<j£(jj?  oüot);  £<jti  ti  teXo?  tt^  xtv/jaew?,  touto  Eo^^atov  xai  to  ou 
?V£xa.  S.  femer  lQ9a,  30:  im\  r,  (pu'at?  Sirrr,  f|  {ikv  a;  uXt)  r  S'w;  jJioptpr',  xeXoi; 
8'auTT),  Tou  teXou;  S'?vexa  raXXa,  auxr)  av  arj  r  ahla.  f, -ou  ?v£xa.  Nach  Aristo- 
teles könnte  der  Zufall  wohl  einzelne  zweckmäßige  Bildungen  hervorbringen, 
nun  und  nimmer  aber  die  durchgehende  Zweckmäßigkeit;  s.  darüber  das 
zweite  Buch  seiner  Physik. 


Mechanisch  —  organisch.  133 

Überlegenheit  gegen  alle  sichtbare  Ordnung  erringt.  So  zuerst  in 
der  Renaissance  und  in  der  Reformation,  so  auch  in  der  politischen 
und  wirtschaftlichen  Befreiung,  wie  sie  namentlich  von  England  aus- 
ging. Mit  solcher  direkten  Begründung  des  Lebens  auf  das  Indi- 
viduum scheint  es  unermeßlich  an  Kraft,  Vernunft  und  Wahrheit  zu 
gewinnen.  Alle  Zusammenhänge  erscheinen  hier  als  das  Werk  der 
Individuen,  sie  haben  nur  soviel  Recht,  als  das  Individuum  ihnen 
gewährt  Nach  Leibniz  trägt  das  Individuum  in  sich  die  ganze 
Unendlichkeit  des  Alls  Und  entwickelt  sie  aus  sich  selbst  heraus; 
wie  fem  liegt  hier  jene  organische  Lehre! 

Gleichzeitig  erfolgt  auch  eine  Umwälzung  der  Wissenschaft 
Die  überkommene  Erklärung  der  Natur  aus  dem  Ganzen  und  Innern 
wird  unerträglich,  man  empfindet  das  als  eine  durchaus  subjektive 
Deutung,  als  ein  bloßes  Bild,  das  energisch  abzuweisen  ist,  weil  es 
sich  nicht  als  Bild,  sondern  als  vollwichtige  Erklärung  gibt  So 
sind  die  Werke  jener  Zeit  voller  Klagen  über  die  versteckte  Bild- 
lichkeit der  scholastischen  Lehre,  mit  ihren  inneren  Formen  und 
Kräften  erscheint  sie  als  ein  «Asyl  der  Unwissenheit«  (asylum  igno- 
rantiae,  s.  z.  B.  Oldenburg  an  Spinoza).  Demgegenüber  wird  zur 
Grundbedingung  einer  echten  Erkenntnis,  daß  alles  Innere  aus  der 
Natur  vertrieben  und  alle  Zusammenhänge  in  kleinste  Elemente  auf- 
gelöst werden;  die  Ermittlung  und  Verfolgung  dieser  Elemente  ver- 
spricht zugleich  ein  Durchsichtigmachen  der  bis  dahin  verworrenen 
Wirklichkeit  und  eine  Macht  über  die  sonst  unzugänglichen  Dinge. 
Denn  vom  Kleinen  her  lassen  sie  sich  bewegen  und  umgestalten. 
Für  das  Große  der  künstlerischen  Art  der  Alten  fehlt  hier  aller  Sinn; 
sie  war  ja  auch  durch  die  Scholastik  aufs  stärkste  verkümmert.  So 
die  mechanische  Naturerklärung  der  Neuzeit;  in  direktem  und  be- 
wußtem Gegensatz  zur  älteren  Denkweise  macht  sie  die  Elemente 
zur  Hauptsache,  unternimmt  sie  von  ihnen  her  allen  Aufbau,  zerlegt 
sie  das  überkommene  Kontinuum  bei  Raum,  Zeit  und  Bewegung  in 
diskrete  Größen  und  gibt  sie  damit  allererst  eine  exakte  Begreifung 
der  Phänomene.  Mit  der  Leugnung  aller  inneren  Zusammenhänge 
fällt  natürlich  auch  die  teleologische  Betrachtung;  die  verschiedensten 
Erwägungen  verbinden  sich  zu  ihrer  Verwerfung:  sie  erscheint  als 
anthropomorph,  als  unklar,  als  unfruchtbar.  Für  die  Einheit  der 
Natur  haben  jetzt  statt  der  Zwecke  die  Gesetze  zu  sorgen,  die  überall 
gleichmäßig  wirken  und  als  einfache  Grundformen  alle  Mannigfaltig- 
keit  beherrschen.     Das   alles  ergreift   die  Geister   mit   elementarer 


134  Zum  Erkenntnisproblem. 

Gewalt,  mit  der  neuen  Denkweise  scheint  zuerst  ein  echtes  Wissen 
und  zugleich  ein  Zeitalter  der  Wissenschaft  aufzusteigen,  alle  bisherige 
Arbeit  konnte  dafür  nur  als  eine  Vorstufe  gelten. 

Daß  die  neue  Denkweise  viele  Fragen  offen  ließ  und  neue 
Probleme  hervorrief,  konnte  tieferen  Geistern  nicht  entgehen.  Der 
bedeutendste  Denker  der  Aufklärungszeit,  Descartes,  behandelt  die 
mechanische  Theorie  nur  als  ein  Prinzip  der  exakten  Naturbegreifung, 
nicht  als  eine  metaphysische  Lehre  von  den  letzten  Gründen  der 
Dinge,  er  zieht  zugleich  eine  scharfe  Grenzlinie  zwischen  sich  und 
Demokrit.  ^  Sein  treuer  Schüler  Robert  Boyle  verficht  eine  zweck- 
mäßig wirkende  Ursache  als  ein  unentbehrliches  Gegenstück  zu  den 
mechanischen  Ursachen.  ^  Berkeley  macht  geltend,  daß  die  mechanische 
Betrachtung  nur  die  Gesetze  und  Formen  (modes)  des  Geschehens 
erkläre,  nicht  seine  Ursache.  Besonders  tief  greift  Leibniz  ein:  er 
entwickelt  einen  eigentümlichen  Typus  der  Weltanschauung,  indem 
er  die  ganze  Natur  mit  ihrem  Mechanismus  zur  Erscheinung  einer 
geistigen  Wirklichkeit  macht,  die  letzten  Einheiten,  die  für  die 
mechanische  Betrachtung  einen  bloßen  Grenzbegriff  bilden,  zur  Haupt- 
sache erhebt  und  sie  als  Monaden  mit  innerem  Leben  versieht. 
Innerhalb  der  Natur  will  er  alles  mechanisch  erklärt  wissen,  die 
Prinzipien  des  Mechanismus  aber  scheinen  selbst  einer  Erklärung 
zu  bedürfen  und  diese  nur  in  einer  zweckmäßig  waltenden  Welt- 
vernunft finden  zu  können.  ^  Es  sieht  aber  Leibniz  die  Zweckmäßigkeit 
der  Naturgesetze  darin,  daß  sie  alle  dem  Ziele  dienen,  ein  möglichst 
großes  Quantum  von  Kraft  zur  Existenz  zu  bringen.  Überall  findet 
er   die    kürzesten  Wege   eingeschlagen   und   die   einfachsten    Mittel 


*  Die  wichtigste  Stelle  dafür  findet  sich  princ.  philos.  IV,  §  202:  (Demo- 
criti  philosophandi  ratio)  rejecta  est,  primo  quia  illa  corpuscula  indivisibilia 
supponebat,  quo  nomine  etiam  ego  illam  rejicio;  deinde  quia  vacuum  circa 
ipsa  esse  fingebat,  quod  ego  nullum  dari  posse  demonstro,  tertio  quia  gravi- 
tatem  iisdem  tribuebat,  quam  ego  nullam  in  ulio  corporum  cum  solum  spec- 
tatur,  sed  tantum  quatenus  ab  aliorum  corporum  situ  et  motu  dependet  atque 
ad  illa  refertur,  intelligo  ff. 

'  S.  z.  B.  de  ipsa  natura  sect.  IV:  Hamm  autem  partium  motum  sub 
primordia  rerum  infinita.  sua  sapientia  ac  potestate  ita  direxit,  ut  tandem 
(sive  breviore  tempore  sive  longiore,  ratio  definire  nequit)  in  speciosam  hanc 
ordinatamque  mundi  formam  coaluerint. 

*  Omnia  in  corporibus  fieri  mechanice,  ipsa  vero  principia  mechanismi 
generalia  ex  altiore fönte  profluere (S.  161,  Erdm.);  s.  auch  155a,  Foucher  II,  253. 


Mechanisch  —  organisch.  I35 

gewählt.^  Auch  die  Schule  hält  daran  fest,  daß  dem  Mechanismus 
alles  Zusammengesetzte  und  damit  die  ganze  Körperwelt  gehöre, 
während  die  Seele,  als  Einfaches,  ihm  entzogen  sei.^  In  minder 
scharfer  Fassung  stellt  Wolff  nach  scholastischer  Art  eine  Erklärung 
aus  den  Wirkursachen  und  eine  aus  den  Zweckursachen  nebenein- 
ander und  bildet  dabei  den  Ausdruck  Teleologie.  ^ 

Natürlich  wurde  die  überlieferte  organische  und  teleologische 
Lehre  durch  jenes  Aufkommen  der  mechanischen  Erklärung  keines- 
wegs mit  einem  Schlage  gestürzt;  dazu  Stack  sie  viel  zu  tief  in  den 
Begriffen  und  den  Methoden  der  Schule.  Auch  fehlte  es  nicht  an 
tüchtigen  Männern,  welche  die  Eigentümlichkeit  des  Lebendigen  eifrig 
verfochten.*  Aber  sie  fanden  nicht  das  Ohr  der  Zeit.  Dafür  be- 
durfte es  erst  einer  neuen  Lebenswoge,  die  anderes  in  der  Wirklich- 
keit suchen  und  sehen  hieß.  Das  geschah  namentlich  mit  dem  Auf- 
steigen des  deutschen  Humanismus;  siegreich  erhebt  sich  in  ihm 
ein  Verlangen  nach  mehr  Unmittelbarkeit  des  Lebens,  nach  einem 
innigeren  Verhältnis  zu  Welt  und  Natur,  nach  einem  Schauen  der 


*  S.  147b  (Erdm.):  semper  scilicet  est  in  rebus  principium  determinationis 
quod  a  maximo  minimove  petendum  est,  ut  nempe  maximus  praestetur  effectus 
minimo  ut  sie  dicam  sumptu.  Den  Einwand,  ob  nicht  bloße  Naturnotwendig- 
keit dasselbe  Ergebnis  hätte  hervorbringen  können,  beantwortet  er  dahiq  (605b): 
Cela  serait  vrai,  si  par  exemple  les  loix  du  mouvement,  et  tout  le  reste,  avait 
sa  source  dans  une  necessite  geometrique  de  causes  efficientes;  mais  il  se  trouve 
qiie  dans  la  derniere  analyse  on  est  oblige  de  recourir  ä  quelque  chose  qui 
depend  de  causes  finales  ou  de  la  convenance. 

-  So  z.  B.  Baumgarten,  Metaph.  ed.  VI,  1768,  §  433:  machina  est  com- 
positum stricte  dictum  secundum  leges  motus  mobile.  Ergo  omne  corpus  in 
mundo  est  machina.  —  Machinae  natura  per  leges  motus  determinata  mecha- 
nismus  est.  At,  quidquid  non  est  compositum,  non  est  machina,  hinc  nulla 
monas  est  machina. 

*  S.  philos.  ration.  sive  logica  cp.  III,  §  85:  rerum  naturalium  duplices 
dari  possunt  rationes,  quarum  aliae  petuntur  a  causa  efficiente,  aliae  a  fine. 
Quae  a  causa  efficiente  petuntur,  in  disciplinis  hactenus  definitis  expenduntur. 
Datur  itaque  praeter  eas  alia  adhuc  philosophiae  naturalis  pars,  quae  fines 
rerum  explicat,  nomine  adhuc  destituta,  etsi  amplissima  sit  et  utilissima.  Dici 
posset  teleologia.  Der  Ausdruck  causa  finalis  ist  dagegen  scholastisch;  ich 
finde  ihn  zuerst  bei  Abälard. 

*  Obenan  steht  hier  Cudworth  mit  seiner  Annahme  einer  plastischen 
Natur,  s.  namentlich  the  true  intellectual  System  of  the  universe  (1678)  I,  3,  19. 
Von  den  deutschen  Gelehrten  ist  hier  vornehmlich  Rüdiger  zu  nennen,  s.  z.  B. 
institutiones  eruditionis  seu  philosophia  synthetica  pag.  109:  physica  vel  mecha- 
nica  est  vel  vitalis. 


136  Zum  Erkenntnisproblem. 

Dinge  aus  dem  Ganzen;  was  dabei  zunächst  als  ein  ungestümer 
Drang  die  Gemüter  erregte,  das  klärte  sich  allmählich  zu  einer 
künstlerischen  Lebensgestaltung;  von  da  aus  fand  sich  leicht  eine 
Rückkehr  zu  den  Alten,  die  als  das  Muster  lauterer  und  edler  Natur 
erschienen.  So  war  es  kein  Wunder,  daß,  als  ein  Stück  der  jüngsten 
Renaissance,  auch  die  organische  Denkweise  eine  Auferstehung  er- 
lebte, daß  sie  mit  wunderbarem  Zauberklange  die  Gemüter  ergriff 
und  gewann. 

Eigentümlicherweise  hat  dieser  neuen  künstlerischen  Denkweise 
wissenschaftlich  zuerst  der  seiner  Gemütsart  nach  wenig  künstlerische 
Kant  die  Bahn  gebrochen.  Er  hat  es  getan,  indem  er  den  Mechanis- 
mus zu  einer  bloßmenschlichen  Denkweise  herabsetzte  und  damit 
freien  Platz  für  eine  andersartige  Betrachtung  und  Behandlung  schuf; 
nur  mußte  für  eine  solche  sich  ein  zwingender  Anlaß  finden.  Einen 
solchen  aber  schien  ihm  das  Reich  der  organischen  Bildung  zu 
bieten,  indem  es  in  unsere  Begriffe  nur  mit  Hilfe  der  Idee  eines 
inneren  Ganzen  und  eines  leitenden  Zweckes  eingehen  kann.  So 
ward  hier  die  alte  Lehre  wieder  aufgenommen,  auch  über  das  nächste 
Gebiet  hinaus  dem  Ganzen  der  Welt  zugeführt.  Bei  Kant  selbst 
das  alles  in  vorsichtiger  Abgrenzung  und  als  eine  Sache  menschlicher 
Betrachtung.  Aber  die  vordringende  künstlerische  Lebenswoge  über- 
flutete rasch  alle  Grenzen  und  Dämme,  die  organische  Denkweise 
gewann  ein  stolzes  Selbstbewußtsein  und  gab  sich  der  Aufklärung 
gegenüber  als  ein  Verstehen  aus  dem  eigensten  Leben  und  Wesen 
der  Dinge  heraus,  während  die  mechanische  Lehre  nüchtern  und 
seelenlos  schien.  Mit  besonderer  Energie  hat  Schelling  die  neue 
Denkweise  zum  Ausdruck  gebracht  und  alles  Naturleben  unter  die 
Idee  des  Organismus  gestellt^ 

Begriff  und  Ausdruck  kommen  dann  rasch  in  den  allgemeinen 
Gebrauch.  Bei  aller  Festhaltung  antiker  Elemente  ist  ein  Einfluß 
modemer  Denkweise  dabei  nicht  zu  verkennen.  Die  Idee  des  Organis- 
mus liefert  hier  weniger  ein  Bild  vom  Sein  als  vom  Werden;  die 
Wirklichkeit  bildet  hier  weniger  ein  geschlossenes  Kunstwerk  als 
ein  aus  eignem  Vermögen  fortschreitendes  Lebewesen.  So  wird  die 
Wandlung  zunächst  weit  fruchtbarer  für  das  Reich  der  Geschichte 
als  für  die  Natur.    Einen  bestrickenden  Reiz  gewinnt  der  Gedanke, 


*  Den  direkten  Gegensatz  zu  mechanisch  bildet  ihm  aber  gewöhnlich 
dynamisch;  dort  scheint  ihm  die  Welt  als  etwas  Gegebenes,  hier  als  etwas 
unablässig  Werdendes  verstanden  zu  werden. 


Mechanisch  —  organisch.  I37 

daß  alles  geschichtliche  Werden  nicht  stoßweise,  sondern  in  ruhigem 
Fortgang,  nicht  durch  künstliche  Reflexion,  sondern  durch  einen 
bewußtlosen  Naturtrieb,  nicht  von  dem  bloßen  Individuum  her, 
sondern  aus  der  Kraft  eines  Ganzen  erfolge.  Indem  sich  diese 
Vorstellung  auf  Staat,  Recht,  Sprache  u.  s.  w.  überträgt,  scheint  durch- 
gängig eine  reinere  und  reichere  Tatsächlichkeit,  ein  größeres  Bild 
vom  Ganzen,  ein  innerlicheres  und  ruhigeres  Verhältnis  des  Menschen 
zu  den  Dingen  gewonnen.  Nun  soll  er  sie  nicht  mehr  von  draußen 
her  meistern,  sondern  von  innen  her  miterleben,  z.  B.  das  Recht 
nicht  machen,  sondern  als  ein  Erzeugnis  des  Volksgeistes  finden; 
nun  kann  er  die  Fülle  des  geschichtlichen  Lebens  mit  aller  indivi- 
duellen Art  anerkennen  und  jedes  an  seiner  Stelle  würdigen.  So 
ist  die  Wendung  zu  einer  geschichtlichen  Weltansicht,  im  Gegen- 
satz zur  rationalen  der  Aufklärung,  jener  organischen  Lehre  aufs 
engste  verbunden.  Die  historische  Forschung  aber  hat  hier  zur 
nahen  Freundin  die  künstlerische  Kontemplation;  es  ist  bezeichnend, 
daß^Schelling  für  den  »dritten  und  absoluten  Standpunkt  der  Historie" 
den  der  historischen  Kunst  erklärt. 

Aber  auch  die  Einseitigkeit  dieser  historischen  Betrachtungsweise 
und  zugleich  die  Schranken  der  organischen  Lehre  ließen  sich  nicht 
lange  verkennen.  Bedenken  mußte  schon  das  erwecken,  daß  jene 
organische  Lehre  von  der  politischen  und  kirchlichen  Reaktion,  von 
Männern  wie  Adam  Müller  und  de  Maistre,  dem  Vater  des  modernen 
Ultramontanismus,  mit  besonderer  Wärme  ergriffen  und  im  mittel- 
alterlichen Sinne  zur  Unterdrückung  der  Selbständigkeit  sowohl  der 
Individuen  als  der  lebendigen  Gegenwart  gewandt  wurde.  Aber 
auch  über  diese  besondere  Gestalt  hinaus  kam  das  Problematische 
und  Einseitige  der  organischen  Lehre  bald  zur  Empfindung.  Jenen 
ruhigen  Fluß  des  geschichtlichen  Werdens  hat  sie  weit  mehr  vor- 
ausgesetzt als  erwiesen;  was  an  Objektivität  aus  den  Dingen  ent- 
gegenzukommen schien,  das  hat  sie  selbst  in  diese  hineingelegt;  so 
ist  ihr  Bild  der  Geschichte  von  starker  Subjektivität.  Dem  Natur- 
bilde brachte  jene  Bewegung  wertvolle  Anregungen,  indem  sie  das 
Augenmerk  auf  das  Leben  und  den  inneren  Zusammenhang  der 
Dinge  richtete,  auch  kräftige  Antriebe  zum  Suchen  der  Einheit  der 
Naturkräfte  gab.  Aber  wissenschaftlich  fruchtbar  sind  diese  An- 
regungen nur  nach  Verpflanzung  auf  den  andersartigen  Boden  der 
modernen  Naturforschung  geworden;  soweit  jene  organische  Denkweise 
aus  eigenem  Vermögen  einen  Abschluß  versuchte,  hat  sie  sich  in  ge- 


138  Zum  Erkenntnisproblem. 

wagte,  oft  wunderliche  Gebilde  verloren.  Dem  Ganzen  des  Lebens 
aber  brachte  sie  Gefahr,  indem  sie  den  Menschen  sich  überwiegend 
kontemplativ  zur  Wirklichkeit  verhalten  ließ,  ihn  weit  mehr  einlud, 
willfährig  aufzunehmen  und  sich  einzufügen  als  selbständig  aufzutreten 
und  eigne  Wege  zu  bahnen;  das  Ganze  war  namentlich  ungeeignet 
für  eine  Zeit,  die  voll  großer  Aufgaben  war  und  schwere  Verwick- 
lungen in  sich  trug. 

So  kam  die  Herrschaft  wieder  an  die  andere  Seite,  die  nie 
ganz  unterdrückt,  sondern  nur  eingeschüchtert  war,  mit  frischer  Kraft 
trat  sie  neu  hervor.  Etwas  anders  gefärbt,  aber  im  Grunde  unverändert 
stieg  die  Aufklärung  wieder  auf,  von  ihr  aus  mochte  jene  human- 
istische Epoche  mit  ihrer  organischen  Lehre  als  eine  bloße  Episode 
erscheinen.  Der  Aufbau  des  Gesellschaftslebens  von  den  Individuen 
her  kam  im  modernen  Liberalismus  und  in  der  modernen  Freihandels- 
lehre erst  zur  vollen  Entwicklung,  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  sehen  wir  A.  Smiths  scharf  zugespitzte  Theorie 
selbst  von  hervorragenden  Gelehrten  als  eine  ausgemachte  Wahrheit 
und  einen  endgültigen  Abschluß  behandelt.  Die  Naturwissenschaft 
aber  unternahm,  unter  schroffer  Ablehnung  der  naturphilosophischen 
Spekulation,  'alle  Reste  vitalistischer  Theorie  aufs  gründlichste  aus- 
zutreiben; die  Aufgabe  wurde  nun  dahin  gestellt,  auch  die  organische 
Bildung  mit  ihrem  Leben  ganz  und  gar  auf  die  physikalischen  und 
chemischen  Elementargesetze  zurückzuführen.  Unter  den  Philosophen 
hat  namentlich  Lotze  eine  solche  universale  Geltung  des  Mechanismus 
verfochten,  freilich  nicht  ohne  ihm,  ähnlich  wie  Leibniz,  in  einem 
Reiche  seelischen  Lebens  einen  tieferen  Grund  zu  geben.  Aber 
jenes  Übermechanische  war  Sache  der  Metaphysik,  die  Natur  verblieb 
dem  Mechanismus,  und  in  der  Zeit  kam  diese  Bejahung  mehr  zur 
Wirkung  als  jene  Begrenzung.  —  So  erschien  der  Mechanismus, 
richtig  verstanden  und  umsichtig  angewandt,  als  eine  gesicherte 
Lösung  der  großen  Probleme;  so  viel  der  Ausführung  zu  tun  ver- 
blieb, das  Prinzip  dünkte  allem  Zweifel  enthoben. 

Da  kam  ein  Widerstand,  ein  unerwarteter  Widerstand,  aus  der 
eignen  Bewegung  des  modernen  Lebens,  nicht  aus  Nachwirkungen 
älterer  Zeiten,  und  weniger  aus  einer  künstierischen  Deutung  der 
Wirklichkeit  als  aus  wachsender  Erfahrung,  aus  neuen  Tatsachen  und 
neuen  Aufgaben.  Die  wirtschaftliche  und  industrielle  Gestaltung  des 
modernen  Lebens  treibt  die  Menschen  enger  zusammen  und  verviel- 
facht ihre  Berührungen,  sie  differenziert  und  kompliziert  die  Arbeit 


Mechanisch  —  organisch.  13g 

und  bindet  damit  den  einen  weit  enger  an  den  anderen,  alle  Einzelnen 
aber  an  ein  Ganzes;  vor  der  Gemeinschaft,  die  daraus  erwächst, 
verschwindet  die  Isolierung,  in  welcher  der  Mechanismus  die  Indi- 
viduen sah.  Hatte  er  alle  Zusammenhänge  von  ihnen  her  abgeleitet, 
so  scheint  der  modernen  Soziologie  der  Einzelne  von  vornherein 
einem  sozialen  Zusammenhange  angehörig,  die  Lehre  vom  Milieu 
bringt  auch  das  Unsichtbare  der  Einflüsse  zur  Geltung  und  neigt 
dahin,  den  Einzelnen  zum  bloßen  Produkt  seiner  Umgebung  zu 
machen.  Zugleich  wird  die  Wehrlosigkeit  der  Individuen  gegenüber 
den  wirtschaftlichen  Verwicklungen  und  Gegensätzen  grell  empfunden 
und  mit  ihr  die  Notwendigkeit  eines  Gesamtwillens,  wie  ihn  der 
Staat  verkörpert. 

Das  alles  drängt  dahin,  den  Gedanken  des  Organismus  wieder 
aufzunehmen,  unter  den  Philosophen  hat  namentlich  Comte  seine 
Ethik  und  Politik  von  ihm  aus  gestaltet.  Aber  der  Begriff  wird  bei 
ihm  gegen  die  ältere  Fassung  beträchtlich  verändert,  er  wird,  wenigstens 
in  der  grundlegenden  Erörterung,  aus  dem  Künstlerischen  und 
Ethischen  ins  Naturwissenschaftliche  versetzt.  Es  sind  namentlich 
die  Fortschritte  der  Histologie  (Bichat),  die  dem  Grundgedanken 
eine  anschauliche  Ausführung  geben.  Wie  der  lebendige  Körper, 
so  ist  auch  die  Gesellschaft  ein  überaus  feines  Gewebe  aus  lauter 
einzelnen  Elementen;  so  eng  sind  diese  miteinander  verschlungen, 
daß  das  Tun  und  Lassen,  das  Wohl  und  Wehe  des  einen  unmittel- 
bar auch  die  anderen  berührt.  Die  moderne  Arbeitsteilung  hat  dies, 
was  von  jeher  galt,  noch  weiter  gesteigert,  sie  stellt  die  Gebunden- 
heit des  Einzelnen  an  die  Anderen  und  an  das  Ganze  deutlich  vor 
Augen,  Damit  scheint  ein  leitendes  Prinzip  für  Ethik  und  Politik 
gewonnen,  das  nur  entwickelt  zu  werden  braucht,  um  allem  Handeln 
bestimmte  Bahnen  vorzuschreiben. 

In  Wahrheit  ist  ein  solches  Prinzip  nicht  sowohl  begründet  als 
durch  eine  Vermengung  antiker  und  moderner  Art  erschlichen;  un- 
vermerkt wird  aus  der  Verwebung  ein  Ganzes  innerer  Art,  aus 
der  Tatsache  geht  ein  Wertbegriff,  aus  dem  Sein  ein  Sollen  hervor. 
Schließlich  befinden  wir  uns  ganz  auf  dem  alten  Boden,  wenn 
das  Ganze  mit  Forderungen  an  den  Einzelnen  kommt  und  sie 
ihm  als  Verpflichtung  auferlegt.  Das  Dunkel,  das  dem  Begriffe 
organisch  von  jeher  anhaftete,  wird  durch  solche  Vermengung  alter 
und  neuer  Art  bis  zu  unerträglicher  Verworrenheit  gesteigert.  Aber 
man  hält  an  dem  Begriffe  fest,  weil  es  drängt,  die  Abhängigkeit  des 


140  Zum  Erkenntnisproblem. 

Einzelnen  vom  Gesamtstande  irgendwie  zu  bündigem  Ausdruck  zu 
bringen.  So  gerät  der  moderne  Forscher  unter  widerstreitende 
Anregungen,  und  ein  Auseinandergehen  bis  zu  schroffem  Gegensatz 
kann  nicht  Wunder  nehmen.  Nicht  bloß  die  Individuen,  auch  die 
Gebiete  trennen  sich  hier.  Am  meisten  Anklang  hat  die  organische 
Lehre  bei  den  Soziologen,  weit  weniger  bei  den  eigentlichen  National- 
ökonomen gefunden;  unter  den  Juristen  sind  ihr  am  ehesten  hervor- 
ragende Germanisten  gewogen. 

Mit  dieser  Bewegung  auf  sozialem  Gebiet  geht  parallel  eine 
Bewegung  in  der  Naturwissenschaft;  wie  sie  später  einsetzte,  so  ist 
sie  heute  noch  weit  mehr  mitten  im  Fluß  und  Kampf.  Unverkennbar 
hat  dazu  an  erster  Stelle  die  moderne  Entwicklungslehre  gewirkt. 
Die  darwinistische  Form,  in  der  sie  zuerst  zu  allgemeiner  Geltung 
gelangte,  war  in  dem  Eigentümlichen  ihrer  Art  der  Anerkennung 
des  Organischen  so  abgeneigt  wie  nur  möglich,  sucht  sie  doch  das 
ganze  Gebiet  des  Lebendigen  den  Begriffen  des  Mechanismus  zu 
unterwerfen.  Aber  auch  in  der  Naturwissenschaft  wirken  Gedanken- 
massen oft  ihrer  eignen  Absicht  entgegen.  Indem  das  Reich  des 
Lebens  weit  mehr  die  Aufmerksamkeit  und  die  Arbeit  gewann,  kam 
seine  Eigentümlichkeit  weit  mehr  zur  Geltung,  und  es  erwies  sich 
die  Zurückführung  seiner  Erscheinungen  auf  die  physikalischen  und 
chemischen  Elementargesetze  unvergleichlich  schwieriger,  als  um  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  angenommen  war.  Die  Beobachtungen  am 
Protoplasma,  die  neuen  Ausblicke  der  Entwicklungsmechanik,  das 
Problem  der  Kontinuität  des  Lebens,  die  Mutationslehre  mit  ihrem 
Aufweis  sprunghaften  Entstehens  neuer  Formen  u.  a.,  alles  mitein- 
ander ergibt  eine  wesentlich  veränderte  Lage.  Dabei  erfolgt  eine 
Scheidung  der  Geister.  Hoffen  die  einen  von  einer  Verfeinerung 
der  mechanischen  Begriffe  eine  intellektuelle  Aneignung  der  neuen 
Tatsachen,  so  glauben  die  anderen  auf  ein  neues  Prinzip  nicht  ver- 
zichten zu  können.*    In  diesen  Bewegungen  erhebt  sich  von  neuem 


^  S.  u.  a.  Rindfleisch,  Ärztliche  Philosophie  1888  und  Neovitalismus  1895. 
Roux,  Einleitung  zum  Archiv  für  Entwickelungsmechanik  der  Organismen 
(1894),  wendet  sich  dagegen,  „die  organische  Form  als  Unerklärbares  und 
bloß  teleologisch  Ableitbares  zu  bezeichnen"  (3.  22),  und  bemerkt  weiter: 
„Für  den  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Entwickelungsmechanik  gilt  in  hohem 
Maße  das  Wort : 

»Incidit  in  scyllam,  qui  vult  vitare  charybdim." 
Die  zu  einfach  mechanische  und  die  metaphysische  Auffassung  repräsentieren 


Mechanisch  —  organisch.  141 

auch  das  Problem  der  Teleologie,  ihrer  eignen  Absicht  nach  weniger 
als  ein  Stück  der  Metaphysik,  denn  als  ein  Mittel  naturwissenschaft- 
licher Erklärung,  als  „empirische"  Teleologie,^  aber  auch  als  solche 
von  anderen  als  ein  Rückfall  in  die  Metaphysik  bekämpft. 

Wird  so  die  mechanische  Lehre  vom  Gebiet  des  Lebendigen 
her,  wenn  nicht  eingeschränkt,  so  doch  über  die  herkömmliche  Form, 
„die  zu  einfach  mechanische  Auffassung"  (Roux),  hinausgetrieben, 
so  werden  weiter  auch  ihre  eignen  Grundbegriffe  mannigfach  an- 
gegriffen. Schon  die  unermeßliche  Verfeinerung,  welche  scheinbar 
elementare  Vorgänge  der  unorganischen  Natur  enthüllten,  lassen  die 
Vorstellungen  des  älteren  Mechanismus  für  das  Unterlebendige  selbst 
als  viel  zu  roh  erscheinen.  Prinzipiell  hat  namentlich  die  energetische 
Naturlehre  das  mechanische  Weltbild  bekämpft,  indem  sie  die  Grund- 
vorstellung von  der  Materie  als  einem  jenseits  der  Sinnesempfindungen 
befindlichen  Sein,  als  einem  besonderen  Träger  der  Kräfte,  bestritt 
und  alle  Naturerscheinungen  auf  den  Grundbegriff  der  Energie 
zurückzuführen  suchte.  2  Auf  die  Probleme,  die  daraus  erwachsen, 
hier  nebenbei  einzugehen,  verbietet  sich  schlechterdings;  jedenfalls 
hat  die  mechanische  Theorie  die  Selbstverständlichkeit  verloren,  die 
sie  lange  zu  haben  schien.  Selten  aber  wird  etwas  neu  zum  Problem, 
ohne  sich  dabei  umzubilden. 

So  finden  wir  heute  das  ganze  Gebiet  voll  Erregung  und  Streit; 


die  Scylla  und  die  Charybdis,  zwischen  welchen  dahin  zu  segeln  in  der  Tat 
schwer  und  bis  jetzt  nur  Wenigen  gelungen  ist;  und  es  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  die  Verführung  zu  letzterer  Auffassung  mit  der  Zunahme  unserer  Kenntnis 
zunächst  erheblich  zugenommen  hat"  (S.  23).  S.  auch  W.  Roux:  „Über  die 
Selbstregulation  der  Lebewesen"  1902. 

^  S.  Coßmann,  Elemente  der  empirischen  Teleologie  1899,  ferner 
E.  König,  »Die  heutige  Naturwissenschaft  und  die  Teleologie".  Beil.  zur 
Allg.  Z.  1900,  No.  29  u.  30,  sowie  „Über  Naturzwecke"  1902.  Es  ist  eine 
überaus  reiche,  unablässig  wachsende  Literatur  über  diese  Probleme  ent- 
standen, ein  deutliches  Zeichen,  wie  sehr  sie  im  Mittelpunkte  des  Interesses 
und  der  Arbeit  stehen. 

^  S.  Ostwald,  Vorlesungen  über  die  Naturphilosophie  S.  153:  „Alles, 
was  wir  von  der  Außenwelt  wissen,  können  wir  in  der  Gestalt  von  Aussagen 
über  vorhandene  Energie  darstellen;  und  daher  erweist  sich  der  Energiebegriff 
allseitig  als  der  allgemeinste,  den  die  Wissenschaft  bisher  gebildet  hat.  Er 
umfaßt  nicht  nur  das  Problem  der  Substanz,  sondern  auch  noch  das  der 
Kausalität."  Über  die  Bedeutung  des  Begriffs  Energie  aber  heißt  es  S.  158: 
»Wir  werden  allgemein  Energie  als  Arbeit,  oder  alles,  was  aus  Arbeit  ent- 
steht und  sich  in  Arbeit  umwandeln  läßt,  definieren." 


142  Zum  Erkenntnisproblem. 

die  Entscheidung  aber  liegt  nicht  bei  allgemeinen  Reflexionen,  sondern 
bei  der  Hauptrichtung,  welche  Arbeit  und  Leben  in  Wirklichkeit 
einschlagen.  So  zeigte  es  die  Vergangenheit,  so  wird  auch  in  Zu- 
kunft der  eigne  Fortgang  der  Arbeit  darüber  befinden,  wie  sich  das 
Verhältnis  der  Gegensätze  gestalte,  welche  Weiterbildungen  für  beide 
Grundbegrilfe  nötig  werden,  auch  ob  ihnen  gegenüber  neue  Er- 
klärungsarten aufkommen  mögen.  Das  aber  darf  die  philosophische 
Betrachtung  erwägen,  wie  der  Überblick  der  Wirklichkeit  heute  den 
Stand  der  Begriffe  zeigt,  und  welche  Aufgaben  er  nahelegt. 

c)  Erwägungen  zum  Kampf  der  Gegenwart. 
a.    Das  Problem  im  Gebiet  der  Philosophie. 

Die  Philosophie  muß  vor  allem  darauf  bestehen,  daß  der  Mecha- 
nismus, selbst  wenn  er  sich  der  ganzen  Breite  der  Dinge  bemächtigen 
könnte,  nun  und  nimmer  einen  endgültigen  Abschluß  zu  bilden 
vermag.  Denn  das,  was  für  ihn  das  Letzte  ist,  das  Nebeneinander 
der  Elemente,  wird  der  philosophischen  Betrachtung  notwendig  zu 
einem  schweren  Problem.  Stünden  nämlich  die  Elemente  ohne 
irgendwelche  Verbindung  gleichgültig  nebeneinander,  so  wäre  schlechter- 
dings nicht  zu  ersehen,  wie  eine  Wirkung  des  einen  zum  andern 
sollte  entstehen  können.  So  vor  allem  in  der  Natur,  wie  denn  einen 
Leibniz  und  einen  Lotze  die  Tatsache  der  Wechselwirkung  dazu 
trieb,  das  nächste  Weltbild  gründlich  umzugestalten.  Und  auch  der 
Gedanke  Leibnizens  ist  nicht  wohl  abzuweisen,  daß  kein  Ding  darin 
aufgehen  kann,  lediglich  etwas  für  andere  zu  leisten,  sondern  daß  es 
auch  für  sich  selbst  etwas  sein  muß.  daß  daher  auch  das  als  letztes 
Element  Ergriffene  irgend  etwas  Eignes  zu  sein  hat;  die  Verfolgung 
dieses  Gedankens  drängt  dahin,  das  Reich  des  Mechanismus  zur 
bloßen  Erscheinung  einer  andersgearteten  Welt  herabzusetzen.  Auch 
beim  Seelenleben  würde,  wer  alles  Geschehen  auf  den  mechanischen 
Verlauf  von  Assoziationen  zurückführen  wollte,  ratlos  der  Frage 
gegenüberstehen,  wie  dies  ganze  Getriebe  als  ein  eignes  Leben,  als 
mein  und  dein  erlebt  werden  könnte.  Überall  ist  irgendwie  für 
Einheit  und  Zusammenhang  Sorge  zu  tragen,  und  dieser  Aufgabe 
ist  der  Mechanismus  nicht  gewachsen. 

Läßt  so  der  Mechanismus  hinter  sich  ein  ungelöstes  Problem, 
so  darf  auch  dem  Tatbestande  nach  er  nicht  als  Beherrscher  der 
ganzen   Wirklichkeit  gelten,  selbst   wenn   die  Natur  ihm  ganz  ge- 


Mechanisch  —  organisch.  143 

hörte.    Denn  zur  Natur  gesellt  sich  das  Seelenleben,  dies  aber  bringt, 
namentlich  auf  der  menschlichen  Stufe,  eine  völlig  andere  Art  des 
Geschehens  mit  sich.    Denn  soweit  das  Innenleben  über  eine  bloße 
Begleitung  der  Naturprozesse   hinauswächst   und   eine   selbständige 
Art  entfaltet,  soweit  in  uns  Geistesleben  aufsteigt,  genügt  nicht  mehr 
ein  Zusammentreten  einzelner  Elemente,   sondern  hier  befindet  sich 
jede  einzelne  Erscheinung  innerhalb  eines  Ganzen,  und  hier  wird  eine 
Verkettung  nicht  direkt  zwischen  den  einzelnen  Elementen,  sondern 
durch  ihr  Verhältnis  zum  Ganzen  hindurch  gewonnen.    Das  Denken 
z.  B.  verläuft  allerdings  in  einzelnen  Vorstellungen,  aber  es  ist  nicht 
ein  bloßes  Aneinanderreihen  und  Aufschichten  dieser,  es  verfolgt  ein 
bestimmtes  Ziel  und  wird  dadurch  innerlich  zusammengehalten;  es 
kann  nichts  dulden,  was  diesen  Zusammenhang  stört.    Nichts  ist  für 
diese  neue  Art  bezeichnender  als  die  Tatsache  und   die  Macht  des 
logischen    Widerspruchs.      Ein    Widerspruch    ließe    sich    gar    nicht 
empfinden,  würde  nicht  im  Denken  die  Vielheit  von  einer  Gesamt- 
tätigkeit umspannt,  und  er  könnte  nicht  so  unerträglich  sein  wie  er 
es  ist,  wäre  nicht  das  Verlangen  nach  Einheit  von  gewaltiger  Stärke. 
Zugleich   erweist  der  Widerspruch  eine  völlig  andere  Art  der  Ver- 
bindung,   als    der    Mechanismus   sie  aufbringen    kann:    er  ist   kein 
räumlicher  Zusammenstoß,  sondern  eine  Unverträglichkeit  des  Inhalts; 
so  erscheint    hier   der  Begriff   des    Inhalts,   der   dem   Mechanismus 
schlechterdings  unverständlich  ist.    Der  Inhalt  bringt  aber  ein  neues 
Prinzip  der  Anordnung  mit  sich:    das  der  Sachlichkeit,  der  sach- 
lichen  Bedeutung,    der  gegenseitigen   Determination.     Das  ist  z,  B. 
das  Verhältnis  der  Merkmale  eines  logischen  Begriffes;  nur  gröbstes 
Mißverständnis   kann    die    innere    Struktur    eines   solchen    Begriffes 
mit  dem  Nebeneinander  einer  sinnlichen  Vorstellung  zusammenwerfen. 
Die  Grundform  der  Verbindung  ist  hier  die  des  Systems:  jedes  Ele- 
ment steht  innerhalb  eines  Ganzen,  unter  dem  Einfluß  und  der  Trieb- 
kraft eines  Ganzen,  in  wechselseitiger  Determination  mit  den  anderen 
Elementen.    So  gehört  dem  Mechanismus  jedenfalls  nicht  das  Ganze 
der  Wirklichkeit. 

Daher  verschwindet  auch  der  Zweck  nicht  aus  der  Welt,  wenn 
die  Natur  für  ihn  keinen  Platz  mehr  bieten  sollte.  Denn  im  mensch- 
lichen Leben  hat  er  zweifellos  eine  Wirklichkeit  und  eine  Macht,  er 
hat  sie  nicht  bloß  in  der  Seele  des  Einzelnen,  sondern  auch  im 
gemeinsamen  Leben  bei  den  großen  Zusammenhängen,  wie  sie 
Wissenschaft  und   Kunst,   Recht  und   Moral,  schließlich  das  Ganze 


144  Zum  Erkenntnisproblem. 

der  Kultur  bilden.  ^  Damit,  daß  ein  zwecktätiges  Handeln  dem 
Innenleben  wesentlich  ist,  ist  es  auch  als  zum  Ganzen  der  Wirklich- 
keit gehörig  erwiesen,  und  es  ist  das  Bild  der  Welt  unweigerlich 
so  zu  gestalten,  daß  diese  Tatsache  verständlich  wird.  Ja  es  stellt 
sich  schließlich  im  Oesamtanblick  die  Sache  notwendig  auf  ein 
Entweder — Oder.  Wir  pflegen  heute  die 'Welt  als  ein  Stufenreich 
aufsteigender  Bildung  zu  betrachten,  aber  eine  große  Scheidung  der 
Geister  erfolgt  bei  der  Frage,  ob  in  diesem  Stufenreich  das  Höhere 
ein  bloßes  Ergebnis  des  Niederen  sei  und  daher  aus  ihm  seine 
ganze  Erklärung  finde,  oder  ob  in  dem  Höheren  ein  Neues  und 
Ursprüngliches  durchbreche,  das  sich  nur  aus  einem  tieferen  Ganzen 
der  Welt  verstehen  läßt.  Der  Gegensatz  erlangt  seine  höchste 
Spannung  bei  der  Frage  des  Verhältnisses  von  Natur  und  Geistes- 
leben. Ist  dieses  ein  bloßes  Erzeugnis  jener,  oder  beginnt  mit  ihm 
eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit?  Die  Beantwortung  dieser  Frage 
entscheidet  auch  über  Recht  oder  Unrecht  des  Zweckes.  Ist  da§ 
Geistesleben  mit  seiner  Innerlichkeit  und  Ganzheit  von  eigner  Art 
und  eignem  Ursprung,  so  gehört  es  wesentlich  zum  Ganzen,  so 
muß  es  von  vornherein  in  der  Bewegung  wirksam  sein  und  ihr  eine 
Richtung  zu  sich  geben;  dann  erhält  das  Weltgeschehen  ein  Ziel, 
und  die  spekulative  Weltbetrachtung  wird  der  Zweckidee  nicht  ent- 
raten  können  ;2  ist  aber  das  Geistesleben  ein  bloßes  Erzeugnis  der 
Natur,  so  entfällt  alles  Ziel  und  mit  ihm  auch  der  Zweck;  dann 
treibt  die  Welt  und  die  Menschheit  sinnlos  ins  Vage  und  Leere 
dahin. 

ß.   Das  Problem  in  der  Naturwissenschaft. 

Im  Gebiet  der  Naturwissenschaft  bildet  den  Mittelpunkt  des 
Streites  die  Frage,  ob  die  dem  Leben  charakteristischen  Erscheinungen 
auf  die  allgemeinen  physikalischen  und  chemischen  Gesetze  zurück- 


^  Daß  aus  dem  Zweck  „reale  Kategorien"  hervorgehen,  hat  Trendelen, 
bürg  in  einem  hervorragenden  Kapitel  der  „Logischen  Untersuchungen" 
gezeigt;  s.  Kap.  XI. 

■^  So  treibt  es  uns  hier  wieder  zur  Metaphysik  gemäß  jener  Überzeugung 
Herbarts  (Wke.  11,  461):  „Im  Denken  über  Natur  und  Menschheit  drängt 
sich  die  Kraft  des  Geistes  unvermeidlich  zur  Metaphysik  hin,  welche,  ähnlich 
den  Urgebirgen  — ,  zugleich  die  weite,  tiefe,  unsichtbare  Grundlage  alles 
menschlichen  Dichtens  und  Trachtens  ausmacht,  zugleich  in  einzelnen, 
schroffen,  selten  erklommenen  Spitzen  über  alle  andern  Höhen  und  Tiefen 
hinausragt." 


Mechanisch  —  organisch.  I45 

führbar  sind,  oder  ob  in  ihnen  eine  neue  Art  des  Geschehens  an- 
erkannt werden  muß.  Diese  Frage  ist  vor  allem  eine  Frage  der 
Tatsächlichkeit  und  gehört  als  solche  in  die  Fachwissenschaft,  aber 
es  wirken  in  die  Behandlung  auch  manche  allgemeinere  Erwägungen 
ein,  an  denen  wir  nicht  vorbeigehen  können.  So  viel  ist  unbestreit- 
bar, daß  die  Eigentümlichkeit,  das  Problem  und  Geheimnis  des 
Lebens  wieder  mehr  in  den  Vordergrund  gerückt  ist,  und  daß 
wir  heute  nicht  so  leicht  darüber  hinauskommen  wie  unmittelbar 
vorangehende  Zeiten.  Mehr  und  mehr  scheint  es  ausgeschlossen, 
das  Leben  als  eine  bloße  Eigenschaft  des  Stoffes  zu  fassen,  mehr 
und  mehr  wird  ihm  eine  Selbständigkeit  zuerkannt.  So,  um  einige 
hervorragende  außerdeutsche  Namen  zu  nennen,  von  Bergson,  nament- 
lich in  seiner  l'evolution  creatrice^  (1907),  so  von  Sir  Oliver  Lodge.^ 
Bei  solcher  Auffassung  wird  es  zur  Aufgabe,  ein  wesentliches  und 
unterscheidendes  Kennzeichen  des  Lebens  herauszuheben;  ein  solches 
findet  Boutroux  in  der  Fähigkeit  «ein  System  zu  schaffen,  in  dem 
gewisse  Teile  gewissen  anderen  Teilen  untergeordnet  sind";  so  würde 
es  ein  „agens"  und  «Organe"  geben,  die  zusammen  eine  «Hierarchie" 
bilden,  für  die  es  in  der  anorganischen  Welt  keine  Analogie  gibt.^ 


*  Für  Bergsons  Fassung  des  Lebens  sind  folgende  Stellen  bezeichnend : 
L'evolut.  CTeatrice  pag.  105:  La  vie  est,  avant  tout,  une  tendance  ä  agir  sur 
la  matiere  brüte;  fem  er  197:  La  vie  c'est-ä-dire  la  conscience  lancee  ä  travers 
la  matiere. 

*  Lodge  sagt  »Leben  und  Materie"  (deutsche  Übers.  1908,  S.  104)  zu- 
sammenfassend: «Die  Anschauung  vom  Leben,  die  ich  im  vorigen  auszu- 
drücken versucht  habe,  ist  die,  daß  es  weder  Materie  noch  Energie  sei,  noch 
auch  nur  eine  Funktion  von  beiden,  sondern  daß  es  in  eine  ganz  andere 
wissenschaftliche  Kategorie  zu  setzen  sei,  daß  es  in  einer  Weise,  die  wir  zur- 
zeit noch  nicht  durchschauen,  imstande  sei,  mit  der  materiellen  Welt  in 
Wechselwirkung  zu  treten,  aber  daß  es  auch,  abgesehen  von  dieser,  seine 
ursprüngliche  Realität  habe,  wennschon  diese  sich  der  sinnlichen  Erfassung 
entzieht.  Es  ist  abhängig  von  der  Materie  nach  seiner  Erscheinung  in  der 
Natur  und  in  uns  hier  und  jetzt  und  nach  seinen  gesamten  irdischen  Wir- 
kungen; an  und  für  sich  aber  ist  es  davon  unabhängig,  und  sein  Wesen  ist 
kontinuierlich  und  dauernd,  während  seine  Wechselwirkung  zur  Materie  dis- 
kontinuierlich und  zeitlich  ist.«  Ferner  siehe  S.  38:  »Ich  gebrauche  das 
Wort  , Leben'  in  ganz  allgemeinem  Sinne.  Denn  wenn  ich  es  nur  in  dem 
engen  Sinne,  nach  dem  es  nur  die  Stoffwechselvorgänge  bedeuten  würde, 
genomnien  hätte,  so  wäre  es  natürlich  absurd,  ihm  Existenz  gesondert  von 
der  Materie  zuzuschreiben.  Für  diesen  engeren  Sinn  könnte  man  sich  viel- 
leicht passend  der  Bezeichnung  , Vitalität'  statt  ,Leben'  bedienen." 

ä  S.  O.  Beelitz,  Die  Lehre  von  Zufall  bei  E.  Boutroux  1907,  S.  91. 
Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  10 


146  Zum  Erkenntnisproblem. 

Bergson  erblickt  einen  entscheidenden  Beweis  für  das  Wirken  des 
Lebens  als  einer  psychischen  Kraft  in  der  Tatsache,  daß  die  Natur 
gleiche  oder  ähnliche  Strukturen  bei  sehr  verschiedenen  Organismen 
zu  bilden  pflegt  und  demnach  gleiche  Ziele  auf  abweichenden 
Wegen  zu  verfolgen  scheint.  ^ 

Bei  der  Behandlung  dieser  Fragen  findet  sich  manche  Ver- 
schiedenheit zwischen  den  einzelnen  Kulturvölkern,  namentlich  be- 
merkenswert ist  hier  die  »Rolle,  die  das  Prinzip  der  Diskontinuität 
in  dem  jüngsten  französischen  Denken  spielt". ^  Es  läßt  sich  die- 
selbe mit  ihren  Motiven  nicht  besser  schildern,  als  das  von  Höffding 
(Moderne  Philosophen  S.  82  ff.)  geschehen  ist.  Er  sagt  dort:  „In 
der  französischen  philosophischen  Literatur  tritt  die  Diskontinuitäts- 
philosophie auf  besonders  interessante  und  energische  Weise  hervor. 
Es  lassen  sich  drei  verschiedene,  für  die  Diskontinuitätsphilosophie 
maßgebende  Motive  unterscheiden.  Die  Erfahrung  bietet  Qualitäts- 
verschiedenheiten dar,  deren  Reduktion  weder  der  Spekulation  noch 
der  Entwicklungslehre  gelungen  war.  Comtes  Positivismus  hatte 
ausdrücklich  die  Kluft  anerkannt,  welche  die  verschiedenen  Natur- 
gebiete von  einander  trennt.  Für  Comte  bezeichnete  jede  neue 
Wissenschaft  eine  besondere,  irreduktible  Gruppe  von  Erscheinungen. 
—  Hierzu  kommt,  daß  selbst  in  jeder  einzelnen  Gruppe  von  Er- 


^  S.  L'evolution  creatrice  1907,  pag.  59:  «Le  pur  mecanisme  serait  donc 
refutable  et  la  finalite,  au  sens  special  oü  nous  l'entendons,  demontrable  par 
un  certain  cote,  si  Ton  pouvait  etablir  que  la  vie  fabrique  certains  appareils 
identiques,  par  des  moyens  dissemblables,  sur  des  lignes  d'evolution  diver- 
gentes. La  force  de  la  preuve  serait  d'ailleurs  proportionelle  au  degre  d'ecarte- 
ment  des  lignes  d'evolution  choisies,  et  au  degre  de  complexite  des  strudures 
similaires  qu'on  trouverait  sur  elles.  Wie  sich  übrigens  auch  vom  Standpunkt 
eines  feineren,  dabei  tiefere  Probleme  bereitwillig  anerkennenden  Mechanismus 
dem  Leben  ein  eigentümlicher  Charakter  zugestehen  läßt,  zeigt  namentlich 
W.  Roux.  Er  betrachtet  als  eine  universelle  elementare  Eigenschaft  der  Lebe- 
wesen «die  zur  Dauerfähigkeit  im  Wechsel  der  Verhältnisse  nötige  Selbst- 
regulation in  der  Ausübung  aller  Einzelfunktionen",  er  sieht  darin  „diejenige 
von  allen  Leistungen,  welche  die  Lebewesen  am  meisten  von  allen  andern 
Naturkörpern  unterscheidet,  indem  sie  die  direkte  Anpassung  an  die  wech- 
selnden äußeren  Verhältnisse  bewirkt.  Aus  der  unübersehbar  langen,  trotz 
des  Wechsels  der  äußeren  Umstände  zahllose  Generationen  gleicher  Art  her- 
stellenden Dauer  der  einzelligen  Lebewesen  ist  mit  Sicherheit  zu  schließen, 
daß  auch  die  niedersten  Lebewesen  außer  der  Vererbung  diese  Selbstregu- 
lationsfähigkeit haben"  (s.  Archiv  für  Entwicklungsmechanik  der  Organismen 
XXIV.  Bd.,  4.  Heft  [1907],  S.  685). 

?  S.  Harald  Höffding,  Moderne  Philosophen  (1905)  S.  67. 


Mechanisch  —  organisch.  147 

scheinungen  der  Kausalsatz  nur  unvollkommene  Bestätigung  zu  finden 
vermag.  Man  zieht  deshalb  Hume  wieder  hervor  und  stellt  seinen 
Empirismus  gegen  die  Versuche  auf,  die  Kant  und  der  Evolutionis- 
mus machten,  denselben  zu  überwinden.  —  Endlich  verweist  man 
auf  das  Bewußtsein  der  Initiative,  des  Vermögens,  durch  sein  Denken 
und  Handeln  etwas  Neues  in  die  Welt  zu  setze  i,  und  man  betont 
mit  Stärke  die  moralische  Bedeutung  dieses  Vermögens. "^ 

Bei  solcher  Denkweise  kann  keinerlei  Neigung  bestehen,  die 
charakteristischen  Erscheinungen  des  Lebens  auf  unterlebendige 
Kräfte  zurückzuführen,  vielmehr  wird  an  solchem  Versuche  des 
Mechanismus  eine  scharfe  Kritik  geübt.  Am  Mechanismus  scheint 
verfehlt,  daß  er  die  Welt  wie  ein  gegebenes  und  geschlossenes  System 
behandelt,  nicht  als  etwas  im  Fluß  Befindliches,  daß  er  daher  alle 
Bewegung  von  innen  her,  sowie  alle  Möglichkeit  eines  wesentlichen 
Fortschrittes  leugnet,  2  daß  er  den  Verbindungen  der  Elemente  nichts 
anderes  zuschreiben  will,  als  was  jedem  einzelnen  zukommt,  ^  daß 
seine  Erklärungen  den  Elementen  beizulegen  pflegen,  was  ihr  Zu- 
sammensein aufweist,*  daß  er  nicht  genügend  beachtet,  wie  die 
genauere  Erkenntnis  des  Lebensprozesses  immer  mehr  die  vermeint- 
liche Isolierung  der  Elemente  aufhebt.^ 


^  Djp.  hervorragendsten  Vertreter  dieser  Diskontinuitätsphilosophie  sind 
Renöuvier  (f  1903)  und  E.  Boutroux,  dessen  Werk  de  l'idee  de  la  loi  naturelle 
dans  la  science  et  dans  la  philosophie  contemporaine  (1895)  1907  in  einer 
deutschen  Übersetzung  von  Benrubi  erschien. 

'  S.  Bergson,  L'evolution  creatrice  pag.  40:  L'essence  des  explications 
mecaniques  est  en  effet  de  considerer  l'avenir  et  le  passe  comme  calculables 
en  fonction  du  present,  et  de  pretendre  ainsi  que  tout  est  donne. 

^  Sir  Oliver  Lodge,  Leben  und  Materie  (Übers.)  S.  57:  „Man  begegnet 
häufig  dem  Satze,  daß,  was  immer  an  Eigenschaften  dem  Ganzen  zukomme, 
auch  in  den  Teilen  zu  finden  sei.  Dieser  Satz  ist  falsch.  Ein  Aggregat  von 
Atomen  kann  Eigenschaften  besitzen,  die  den  einzelnen  nicht  zukommen, 
auch  nicht  im  geringsten  Grade." 

*  S.  Lodge  a.  a.  O.  S.  47:  „man  konstatiert  hier  einfach  das  zu  Erwägende 
und  schiebt  es  dann  den  Atomen  zu,  in  der  Hoffnung,  daß  damit  dem 
Fragen  ein  Ende  gemacht  sein  wird."  Bergson  hat  diesen  Gedanken  nament- 
lich gegenüber  der  Entwicklungslehre  Spencers  verfochten,  diese  scheint  ihm 
(s.  L'evol.  creatr.  VI)  darin  zu  bestehen:  ä  decouper  la  realite  actuelle,  dejä 
evoluee,  puis  ä  la  recomposer  avec  ces  fragments,  et  ä  se  donner  ainsi,  par 
avance,  tout  ce  qu'il  s'agit  d'expliquer. 

'  S.  Bergson,  L'evolution  creatrice  pag.  205:  plus  la  physique  avance, 
plus  eile  efface  d'ailleurs  l'individualite  des  corps  et  meme  des  particules  en 

10* 


148  Zum  Erkenntnisproblem. 

Mit  solcher  Wendung  zum  Leben  und  seiner  vordringenden 
Bewegung  tritt  auch  die  Zweckbetrachtung  in  ein  anderes  Licht.  Die 
völlige  Verwerfung  der  Zwecke  in  der  Natur  wurzelte  in  der  lange 
vorherrschenden  Neigung,  das  Leben  nicht  als  ein  Urphänomen  zu 
fassen,  sondern  es  vom  Leblosen  abzuleiten,  in  schroffem  Gegensatz  zur 
älteren  Denkweise,  die  (Jen  ganzen  Befund  der  Natur  vom  Lebendigen 
aus  erklärte.  In  einer  gewissen  Rückkehr  zu  dieser,  wenn  auch  in 
großer  Verfeinerung  der  Betrachtung,  treten  nun  die  Tatsachen  wieder 
mehr  in  den  Vordergrund,  die  eine  Richtung  der  Bewegung  auf 
ein  erst  zu  erreichendes  Ziel,  eine  «Zielstrebigkeit"  (K.  E.  von  Baer), 
sowie  ein  Zusammenstreben  einzelner  Elemente  zu  einem  Ganzen 
zu  zeigen  scheinen.  Die  Schwierigkeit,  das  irgend  vorstellbar  zu 
machen,  ohne  die  menschliche  Art  des  Erwägens  und  Überlegens 
in  die  Natur  hineinzutragen,  hat  schon  Aristoteles  stark  empfunden, ^ 
uns  Neueren  muß  sie  noch  größer  erscheinen.  Aber  alle  Schwierig- 
keit dürfte  nicht  dazu  führen,  Tatsachenkomplexe  zurückzustellen 
und  geringzuachten,  weil  sie  sich  nicht  dem  Rahmen  des  Mechanis- 
mus fügen.  Haben  sich  doch  die  Theorien  den  Tatsachen,  nicht 
diese  jenen  anzupassen. 

Das  Hauptbedenken,  das  gegen  den  Vitalismus  und  die  Teleo- 
logie  auch  in  der  neueren  Form  erhoben  wird,  ist,  daß  das  von 
ihnen  behauptete  Gestaltungsprinzip  «einfach  alles,  und  zwar  auf  die- 
selbe Weise"  erklärt,  ohne  daß  wir  von  den  für  die  verschiedenartigen 
zweckmäßigen  Gestaltungen  notwendig  verschiedenen  determinieren- 
den Faktoren  und  deren  Wirkungsweisen  etwas  erfahren  können.^ 
In  weiterer  Ausführung  dessen  sagt  Roux,  der  «stets  verbleibende 
letzte  Probleme"  keineswegs  leugnet:  «Es  ist  überaus  leicht,  zweck- 
mäßig Erscheinendes  von  einem  wirklich  zwecktätigen  Agens  abzu- 
leiten. Diese  letzte  Annahme  bleibt  uns  immer  noch,  wenn  die  andere 
wirklich  als  nicht  zureichend  erwiesen  ist,  was  jetzt  erst  kurz  nach 
dem   Beginn  exakter  kausaler  Forschung  zwar  vielfach  so  scheinen 


lesquelles  l'imagination  scientifique  commengalt  par  les  decomposer;  corps 
et  corpuscules  tendent  ä  se  fondre  dans  une  interaction  universelle. 

^  S.  Z,  B.  Phys.  199  a,  17:  d  ouv  toc  xaxi  t:qv  -ziyyriv  ^vexa  tou,  SfXov  ort 
xal  Ttt  xaxa  ttjv  <puaiv.  6(ao(cü5  yflip  ^jti  Jtpo?  aXXrjXa  Iv  Tot?  xata  -ziyyriv  xai  iv  toi; 
y.a,zu  «pu'oiv  xa  ucrrepa  Jtpos  xa  Ttpdxepa.  (AcIXioxa  Se  (pavepov  ini  xwv  !^towv  xuiv 
äXX(i)v,  a  ouxe  xi^yri  ouxe  ^rjxi^aavxa  ouxe  ßouXsuga'jjLeva  uotet.  od-ty  SianopoZai 
xtv£;  TOxepov   vw   i]  xivt  öcXXw  IpyaJ^ovxai  o'f  x'apayvat  xa\  oi  (Aup[XT]x£i;  xai  xa  xotauxa. 

*  S.  W.  Roux  im  Archiv  für  Entwicklungsmechanik  der  Organismen, 
XXVI.  Bd.,  4.  Heft  (1907),  S.  687. 


Mechanisch  —  organisch.  I49 

mag,  aber  doch  nicht  bewiesen  werden  kann.  Sehr  schwer  ist  es 
dagegen,  solches  »scheinbar  Zweckmäßige"  von  nicht  zwecktätigen 
Agentien  abzuleiten.  Erstere  Lösung  aber  läßt  alle  in  den  verschiedenen 
Fällen  verschiedenartigen  Determinationen  unbekannt,  verlegt  sie  in 
ein  in  seinen  Wirkungsweisen  nicht  aufhellbares  Prinzip.  Wir  aber 
möchten  auch  diese  « Bestimmungsfaktoren «  und  ihre  Wirkungsweisen 
erforschen.  Gemeinsam  ist  uns  beiden  die  Erforschung  der  physikalisch- 
chemischen Ausführungsfaktoren  des  Determinierten,  denn  daß  das 
durch  seelisches  Wirken  „Determinierte"  durch  physische  Faktoren 
ausgeführt  wird,  geben  ja  auch  unsere  Gegner  zu"  (S.  688).  So  ist 
die  Sache  mitten  im  Fluß,  aber  aus  Bewegung  und  Zusammenstoß 
läßt  sich  ein  Fortgang  des  Wissens  mit  Sicherheit  hoffen. 

y.  Das  Problem  auf  gesellschaftlichem  Gebiet. 

Daß  zum  Verständnis  des  gesellschaftlichen  Zusammenseins  der 
Mechanismus  nicht  ausreicht,  ist  ohne  Mühe  zu  zeigen,  schwierig  aber  ist, 
ähnlich  wie  bei  der  Natur,  ihm  gegenüber  zu  einer  positiven  Be- 
hauptung zu  kommen.  Von  den  bloßen  Einzelelementen  her  läßt 
sich  irgendwelches  Interesse  für  das  Ganze,  irgendwelche  innere  Ge- 
genwart des  Ganzen,  irgendwelche  Hoheit  und  Selbständigkeit  des 
Ganzen,  wie  z.  B.  des  Staates,  irgendwelcher  geistige  Charakter  des 
Ganzen  in  keiner  Weise  begreiflich  machen.^  Die  mechanische  Theorie 
müßte  die  Gemeinschaft  in  ein  seelenloses  Räderwerk  verwandeln, 
in  dem  jeder  nur  seine  eigenen  Ziele  verfolgt;  eine  gemeinsame 
Gedankenwelt  wäre  dabei  unmöglich.  Auch  die  Rechtsidee,  worauf 
die  Anhänger  der  mechanischen  Theorie  sich  gern  berufen,  ist  von 
hier  aus  nicht  zu  erklären,  sie  könnte  hier  nur  als  ein  mystisches 
Gebilde  erscheinen.  Denn  der  Rechtsgedanke  entwickelt  sich  nie  vom 
natürlichen  Einzelwesen,  sondern  nur  vom  Vernunftwesen  her,  ein 
solches  aber  ist  nicht  möglich  ohne  Begründung  in  einer  Welt  der 
Vernunft.  Das  Recht  kann  vom  bloßen  Individuum  her  zu  entetehen 
nur  scheinen,  wenn  dabei  unvermerkt  dem  natürlichen  Einzelwesen 
das  vernünftige  Geisteswesen  untergeschoben  wird.  So  geschah  es 
namentlich  in  der  englischen  Aufklärung,  wie  denn  die  politischen  und 
wirtschaftlichen  Systeme  eines  Locke  und  eines  A.  Smith  einen  durch- 
gängigen Widerspruch  in  sich  tragen:  sie  arbeiten  mit  Größen  der 


*  Vortrefflich  hat  dies  neuerdings  Gierke  ausgeführt:  „Das  Wesen  der 
Verbände",  Rektoratsrede.    Berlin  1902. 


150  Zum  Erkenntnisproblem. 

Natur  und  behandeln  sie  wie  Größen  der  Vernunft.  Wer  die  Ver- 
mengung erkennt,  der  durchschaut  zugleich  die  Unzulänglichkeit  des 
hier  gebotenen  Ganzen. 

Aber  mit  dem  Nein  ist  nicht  schon  über  das  Ja  entschieden, 
die  mechanische  Lehre  abweisen  heißt  nicht  die  organische  aner- 
kennen. Der  Begriff  des  Organischen  ist  uns  aus  einer  älteren, 
andersartigen  Kultur  überkommen,  er  trägt  die  Färbung  der  antiken 
Gesellschaftslehre  und  Weltanschauung.  Die  Vorkämpfer  der  organ- 
ischen Lehre  möchfen  ihn  davon  befreien;  sie  können  sich  darauf 
berufen,  daß  wir  oft  mit  Begriffen  arbeiten,  die  der  Lauf  der  Ge- 
schichte über  die  Enge  der  anfänglichen  Fassung  weit  hinausgebildet 
hat.  Aber  bei  solchen  Fragen  liegt  alles  an  der  besonderen  Art  des 
Falles.  Es  will  uns  nun  scheinen,  daß  jenes  Anfängliche  dem  Begriffe 
zu  fest  anhafte,  um  nicht  leicht  den  Gedanken  auf  die  Stufe  älterer 
Denkart  zurückzuziehen.  Die  Verwendung  des  Begriffs  Organismus 
für  das  gesellschaftliche  Gebiet  ist  zunächst  eine  bloße  Analogie;  mögen 
gewisse  Übereinstimmungen  zwischen  einem  organischen  Lebewesen 
und  einer  gesellschaftlichen  Ordnung  bestehen :  ob  sie  das  Wesentliche 
und  das  charakteristisch  Geistige  treffen,  daran  läßt  sich  recht  wohl 
zweifeln.  Zunächst  bildet  der  zur  Aufklärung  herangezogene  Bau 
der  Lebewesen  selbst  ein  schweres  Problem  und  ist,  wie  wir  sahen, 
eben  heute  wieder  ein  Gegenstand  härtesten  Streites;  von  seinen 
philosophischen  Definitionen,  wie  sie  Aristoteles  und,  fügen  wir  hinzu, 
auch  Kant  und  seine  Nachfolger  gaben,  hat  Lotze  mit  Recht  gesagt, 
daß  sie  mehr  das  Rätselhafte  des  Eindruckes  wiedergeben  als  eine 
Erklärung  enthalten.  Beim  Begriff  des  Organischen  bringt  uns  nicht, 
wie  es  wohl  scheinen  kann,  die  Natur  die  Sache  sicher  und  fest 
entgegen,  sondern  es  wird  von  uns  eine  eigentümliche  Vorstellungs- 
weise in  die  Natur  hineingetragen  und  wird,  dort  ins  Anschauliche  und 
Körperliche  gestaltet,  dem  Geist  wieder  zugeführt.  Warum  dieser 
Umweg?  Enthält  er  nicht  die  Gefahr  eines  Einströmens  naturhafter 
Größen  in  das  Geistesleben,  oder  doch  des  Einsetzens  eines  bloßen 
Bildes  für  eine  Erklärung? 

Das  Hauptbedenken  aber  ist  das  zähe  Fortleben  der  griechisch- 
mittelalterlichen Denkweise  in  diesem  Begriff;  es  droht,  den  not- 
wendigen Gedanken  an  eine  innerlich  überwundene  Stufe  zu  binden. 
Die  organische  Theorie  der  älteren  Zeit  betrachtet  den  Einzelnen  ganz 
und  gar  als  ein  Glied  des  Ganzen,  sie  läßt,  bei  präziser  Fassung, 
ihn    völlig   in   das   Verhältnis    zum    Ganzen    aufgehen,    sie    kennt 


Mechanisch — organisch.  151 

keinerlei  Selbständigkeit,  keinerlei  Recht  des  Einzelnen  gegen  das 
Ganze.  Das  war  von  vornherein  nur  möglich  durch  eine  Ver- 
mengung von  Staat  und  menschlicher  Gemeinschaft  überhaupt;  was 
immer  das  Zusammenleben  für  den  Menschen  bedeutet,  das  ward  für 
den  Staat  in  Anspruch  genommen;  so  konnten  Ethik  und  Politik,  indi- 
viduelles und  gesellschaftliches  Lebensziel  als  völlig  gleichartig  gelten. 

In  Wahrheit  ist  jene  organische  Lehre  nicht  einmal  der  treue  Aus- 
druck des  Staatsl6bens  auf  der  Höhe  der  griechischen  Kultur,  sondern 
sie  ist  ein  Gebilde  der  Philosophen,  ein  Unternehmen,  der  beginnenden 
Auflösung  in  lauter  individuelle  Lebenskreise  zu  widerstehen,  sie  ist 
der  Versuch  einer  Restauration,  erfolglos  wie  alle  derartigen  Versuche. 
Ja  die  Philosophen  selbst  haben  am  meisten  dazu  getan,  ihre 
Forderung  unmöglich  zu  machen,  indem  sie  vor  allem  den  Menschen 
über  den  bloßgesellschaftlichen  Lebenskreis  durch  die  Eröffnung 
eines  neuen  Lebensideals  der  wissenschaftlichen  Forschung  hinaus- 
hoben. Derselbe  Aristoteles,  der  den  Staat  für  früher  (d.  h.  begrifflich 
früher)  erklärt  als  den  Menschen,  sieht  nur  in  dem  theoretischen 
Leben  mit  seiner  Richtung  auf  das  große  All  ein  wahrhaft  glück- 
seliges Leben.  Und  damit  formuliert  er  nur  die  durchgehende  Über- 
zeugung der  gesamten  griechischen  Philosophie,  zu  deren  Haupt- 
verdiensten die  Befreiung  des  Individuums  von  der  gesellschaftlichen 
Umgebung  gehört.  Die  Hauptstätte  der  organischen  Lehre  ist  das 
Mittelalter.  Hier  ward  in  der  Kirche  das  gesellschaftliche  Ganze  dem 
Individuum  unbedingt  überlegen,  hier  erhob  es  den  Anspruch,  dem 
Menschen  alle  Geistigkeit  zuzuführen,  hier  bemaß  sich  alle  Bedeutung 
der  Einzelnen  nach  der  Stellung  im  Ganzen,  hier  ward  das  Ganze 
zum  Gewissen  der  Menschheit.  Auch  die  wirtschaftliche  Gestaltung 
des  Mittelalters  bildet  ein  Ordnungssystem,  das  aus  sicherer  Über- 
legenheit dem  Einzelnen  seine  Stellung  zuweist  Ja  die  gesamte 
Gedankenwelt  hat  eine  hierarchische  Gestalt,  indem  von  gewissen 
Zentralwahrheiten  der  Religion  und  Metaphysik  den  einzelnen  Gebieten 
ihre  Richtlinien  vorgeschrieben  werden,  die  sie  nur  weiterzuführen, 
nicht  zu  prüfen  oder  zu  ändern  haben.  Für  diesen  Stand  mag  Vor- 
stellung und  Ausdruck  «organisch"  als  angemessen  erscheinen. 

Für  die  Neuzeit  aber  ist  nichts  charakteristischer,  als  daß  sich 
das  Leben  von  solcher  Bindung  an  einen  sichtbaren  Mittelpunkt  be- 
freit und  über  die  ganze  Fläche  des  Daseins  gleichmäßig  ausgedehnt 
hat:  die  Individuen  sind  geistig  wie  gesellschaftlich  selbständig  ge- 
worden, und  die  einzelnen  Lebensgebiete  wollen  ihre  Probleme  selb- 


152  Zum  Erkenntnisproblem. 

ständig  behandeln,  sie  wollen,  jedes  an  seiner  Stelle,  auch  um  das 
Ganze  kämpfen.  Dem  an  die  mittelalterliche  Denkweise  Gewöhnten 
muß  das  als  ein  kecker  Abfall,  als  eine  eigenwillige  Auflösung  aller 
Zusammenhänge  erscheinen,  wie  es  denn  selbst  freier  nnd  universaler 
denkenden  Katholiken  recht  schwer  zu  werden  pflegt,  die  eigentüm- 
liche Art  und  ein  eigentümliches  Recht  des  Protestantismus  anzu- 
erkennen. In  Wahrheit  bedeutet  jene  Abwendung  vom  Mittelalter 
nicht  die  Preisgebung  aller,  sondern  nur  die  sichtbarer  Zusammen- 
hänge; die  Größe  der  Neuzeit  liegt  in  der  Entfaltung  und  Ver- 
fechtung der  Überzeugung,  daß  das  Geistesleben  als  Ganzes  an  jeder 
Stelle  gegenwärtig  sei  und  sich  zu  voller  Tätigkeit  bringen  lasse;  so 
braucht  der  Mensch  Zusammenhänge  nicht  erst  von  draußen  her  zu 
empfangen,  sondern  sie  umfangen  ihn  von  innen  her;  mit  ihrer  vollen 
Aneignung  aber  erhält  er  eben  durch  die  innere  Bindung  eine  sichere 
Überlegenheit  gegen  alle  sichtbare  und  menschliche  Ordnung.  Da 
solche  Bindung  sich  nie  von  außen  erzwingen  läßt,  sondern  eine 
eigne  Entscheidung  und  Zuwendung  verlangt,  so  ist  sie  kein  Gegen- 
satz, sondern  eine  Zwillingsschwester  der  Freiheit.  Auch  verleiht 
erst  solche  Wendung  dem  Leben  den  Charakter  der  reinen  Innerlich- 
keit, während  es  unvermeidlich  ein  Moment  des  Äußeren  und  Äußer- 
lichen behält,  solange  der  Einzelne  an  erster  Stelle  einer  sichtbaren 
Ordnung  angehört.  Persönlichkeiten  wie  Luther  und  Kant  stellen 
uns  deutlich  genug  vor  Augen,  wie  sehr  diese  Umwälzung,  dieser 
Fortgang  von  einem  sichtbaren  zu  einem  unsichtbaren  Ganzen,  diese 
Möglichkeit  und  diese  Forderung,  an  jeder  Stelle  ursprüngliches  und 
unendliches  Leben  zu  erwecken,  den  Anblick  der  menschlichen  Wirk- 
lichkeit umgestaltet 

Solche  Umwälzung  aber  trägt  einen  Bruch  mit  der  organischen 
Lehre  in  sich;  diese  muß  nun  als  zu  eng  und  beengend  empfunden 
werden.  Der  Mensch  geht  nicht  auf  in  das  Verhältnis  zur  gesell- 
schaftlichen Umgebung  und  noch  weniger  in  das  zur  politischen 
Gemeinschaft;  auch  hat  das  Ganze,  das  uns  umfängt,  einen  geistigen 
Charakter  nicht  als  einen  festen,  aller  Gefährdung  entzogenen  Besitz, 
aus  dem  die  Individuen  mühelos  schöpfen,  sondern  was  immer  sich 
im  geschichtlich-gesellschaftlichen  Leben  an  gemeinsamen  Vorstellungen, 
Einrichtungen  u.s.w.  gebildet  hat,  das  verliert  seinen  geistigen  Charakter 
sofort,  wenn  es  nicht  durch  die  Arbeit  der  Individuen,  namentlich 
durch  die  großer  Persönlichkeiten,  immerfort  mit  neuem  Leben  erfüllt 
wird;  wie  überhaupt,  so  erhält  sich  auch  im  gesellschaftlichen  Ganzen 


Mechanisch  —  organisch.  153 

die  Geistigkeit  nicht  durch  ihr  bloßes  Dasein,  sondern  nur  durch 
eine  fortwährende  Erneuerung,  durch  ein  unablässiges  Schaffen.  Das 
scheint  uns  die  Hauptgefahr  der  organischen  Lehre,  daß  sie  als  ein 
für  allemal  vorhanden  betrachtet,  was  immer  neu  aus  freier  Tat 
hervorgehen  muß;  sie  will  im  Gegensatz  zum  Naturalismus  dem 
Zusammenleben  einen  ethischen  Charakter  geben,  aber  sie  gerät  dabei 
in  Gefahr,  das  Ethische  selbst  als  ein  Ruhendes  und  damit  natur- 
haft zu  fassen.  Es  ist  das  dieselbe  Gefahr,  der  die  Romantik  oft 
erlegen  ist:  der  Rückschlag  gegen  die  bloße  Reflexion  führt  unter 
die  Macht  von  Naturbegriffen.  Warum  sollen  wir  also  die  not- 
wendige Wahrheit  einer  so  problematischen  Form  verketten,  warum 
nicht  für  die  Eigentümlichkeit  geistiger  Zusammenhänge  Formen 
suchen,  die  der  modernen  Stufe  des  Lebens  entsprechen? 


3.  Gesetz. 

a)   Zur  Geschichte. 

I  |er  Begriff  des  Gesetzes  steht  heute  im  Mittelpunkt  der  wissen- 
*— ^  schaftHchen  Arbeit;  man  streitet  über  seine  Ausdehnung  und 
man  streitet  über  seinen  Inhalt,  besondere  Fassungen  kommen  auf  und 
finden  Freunde  und  Feinde,  die  Auseinandersetzung  zwischen  Natur- 
und  Geisteswissenschaften  ist  hier  besonders  lebhaft,  ja  erregt.  Um 
nichts  weniger  scheint  hier  gekämpft  zu  werden  als  um  die  Eigen- 
tümlichkeit der  einzelnen  Wissenschaften  wie  um  den  Gesamtcharakter 
der  wissenschaftlichen  Arbeit.  So  breitet  sich  eine  schier  unermeßliche 
Fülle  von  Erörterungen  aus;  unsere  Betrachtung  kann  an  die  Probleme, 
die  dabei  in  Frage  stehen,  mehr  nur  erinnern  als  sie  zu  fördern  hoffen. 

Der  Begriff  des  Gesetzes  ist  vom  Bereich  des  Menschen  zur 
Natur  gewandert,  hat  hier  eine  neue  Gestalt  gewonnen  und  kehrt 
mit  ihr  zum  Menschen  zurück,  um  auch  sein  Leben  und  Handeln 
in  ein  neues  Licht  zu  rücken.  Er  ist  ein  sinnfälliges  Beispiel 
der  Erscheinung,  daß  der  Mensch  sein  eignes  Bild  in  das  All 
hineinsieht  und  es,  erweitert  wie  umgewandelt,  aus  ihm  zurückempfängt. 
Dem  einen  dünkt  das  ein  bloßer  Zirkel  und  Anthropomorphismus, 
der  andere  erhofft  von  solchem  Ausgehen  und  Zurückkehren  eine 
innere  Erweiterung  des  Menschen. 

Zu  einem  Hauptpunkt  der  Arbeit  machte  den  Begriff  des  Ge- 
setzes erst  die  Neuzeit,  bemerkenswerte  Anfänge  reichen  aber  in 
das  Altertum  zurück.  Der  Ausdruck  Naturgesetz  geht  zuerst  nicht 
auf  die  Außenwelt,  sondern  auf  die  eigne  Natur  des  Menschen,  er 
bezeichnet  das  ungeschriebene  Gesetz  im  Gegensatz  zum  geschriebenen. ^ 


*  Über  den  geschichtlichen  Ursprung  des  Terminus  Naturgesetz  handelt 
F..  Zeller  „Über  Begriff  und  Begründung  der  sittlichen  Gesetze"  1883  (Abh. 
der  K.  Pr.  Akad.  d.  W.)  und  mit  besonderer  Umsicht  und  Gründlichkeit 
R.  Hirzel  «ypacpo?  vojj.o?  (Abhandlungen  der  philologisch-histor.  Klasse  der 
K.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften,  20.  Bd.).  Nach  ihm  bedeutet 
a'Ypacpo?  vo'[jlos  zunächst  die  altüberlieferte  Sitte  und  Gewohnheit,  diese  Be- 


Gesetz.  155 

Für  die  Natur  als  Außenwelt  verwenden  Plato  und  Aristoteles  den 
Ausdruck  nur  an  vereinzelten  Stellen  und  geben  ihm  dabei  keine 
technische  Zuspitzung, ^  andere  Bezeichnungen  sind  ihnen  geläufiger 
für  den  Begriff.^  Öfter  haben  den  Ausdruck  Naturgesetz  zuerst  die 
Stoiker  verwandt,  wobei  religiöse  Vorstellungen  zur  Vermittlung 
dienten;  «der  Begriff  der  göttlichen  Gesetze  war  es,  welcher  zuerst 
zu  dem  der  Naturgesetze  hinüberleitete"  (Zeller).  Den  Stoikern 
konnte  das  von  der  Gottheit  begründete  Gesetz  zugleich  als  die 
eigne  Ordnung  der  Dinge  gelten,  weil  ihnen  die  Gottheit  nicht  so- 
wohl eine  jenseitige  Macht  als  die  der  Welt  innewohnende  Vernunft 
bedeutete.  Der  Ausdruck  überschritt  dann  bald  die  Grenzen  der 
Schule;  unter  den  Römern  hat  ihn  öfter  gleich  der  erste  Philosoph 
Lucrez  (foedera,  foedus,  leges  naturae).    Der  Einbürgerung  des  Aus- 


deutung erhielt  sich  durch  das  ganze  Altertum.  Aber  daneben  kam  (seit 
Thukydides)  die  andere  der  göttlichen,  der  ins  Herz  geschriebenen  Gesetze 
auf.'  S.  40  heißt  es  hier  von  der  Revision  und  Reform  der  solonischen  Ge- 
setzgebung, welche  Kleisthenes  ausführte:  «Wie  diese  Reform  nur  durch  die 
Macht  des  Demos  gelang,  so  diente  sie  auch  dessen- Zielen  und  Absichten, 
und  es  ist  begreiflich,  daß  von  an  das  Volk  von  Athen  in  seinen  Gesetzen 
das  Bollwerk  des  jungen  Staates  von  Athen  erblickte.  Von  hier  an  datiert 
der  Kultus,  der  mit  dem  Gesetz  und  seinem  Namen  getrieben  wurde.  Die 
Weihe  gaben  ihm  die  Taten  und  der  siegreiche  Ausgang  der  Perserkriege" 
S.  50.  «Wahrscheinlicher  ist,  daß  der  Name  (i'Ypatpo?  vo[i.O(;)  erst  im  Gegen- 
satz zum  Y£Ypa(jL[x£voi;  Xo'yo;  aufkam,  und  sicher,  daß  er  erst  durch  diesen 
Gegensatz  seine  schärfere  Bedeutung  erhielt."  Über  den  Gegensatz  von  vo'(jlo? 
und  «pu'ai;  s,  dort  S.  82  ff.  S.  ferner  die  noch  genauere  Untersuchung  in 
»Themis,  Dike  und  Verwandtes"  S.  386 — 411. 

^  Die  einzigen  Stellen  sind  Plato  Timaeus  83  E:  xal  xaCta  jj.kv  8t  navta 
vöaoiv  opyava  ye'Yovev,  oxav  atjxa  [i.^  Ix  xtijv  oiTtwv  xa\  ttotcTv  nXrj'S'uiJTi  xata  cpüatv, 
aXX'  15  ivavTitüv  tov  o-fxov  izapa  tou?  TTfi  «puaew?  Xa[xßavT|  vdfxou?.  Arist.  de 
caelo  268a,  10 ff:  xa^^-a'^p  yäp  ipaut  xa\  o{  HuÖ'aYopEioi,  to  Ttäv  xol  xa  Travra 
T015  xptatv  ü'pKTcat.  xeXeuxr  yap  xal  [xeaov  xa\  ap/71  xov  ciptO-iiov  iyti  xoü  rtavxd?, 
xauxa  8k  xov  xtJ;  xpia'8os.  Sio  x:apa  xtJ?  ou'aew;  £?X7)<pdxei;  tSorcep  vo'jjlou?  Ixe(vr)?,  xal 
Ttpo?  xa?  iytaxeia;  /ptüpieO-a  xwv  ■9'Etöv  xw  aptö-jAW  xouxw.  Wie  vo'fxo;  bei  den 
Philosophen  leicht  einer- künstlichen  Zubereitung  angenähert  und  dem  Wesen 
entgegengestellt  wird,  zeigt  u.  a.  Aristot.,  Phys.  193a,  14:  oOx  ay  yeviid-on 
xXfvTjv  aXXa  $uXov,  w?  xo  [lIw  xaxa  au[j.ߣßr]xd(;  Ü7:a'p)(^ov,  xi^v  xaxa  vdfxov  Sta'O^atv 
xa\   X£')(^V7]V,   x:^v    8'    ou(Tiav    ouaav  IxeJvtjv,  .ri  xa\  8ta[i£V£t  Jtolvxa  7i:au)(^oucra  <7\iVf)(iZ<;. 

*  Namentlich  gehört  hieher  avccYxrj  (meist  im  Plural),  das  sowohl  in  der 
ältp?i-:ri  medizinischen  Literatur  als  bei  Demokrit,  Xenophon  (z.  B.  Memor.  I, 
1,  11),  Plato  (z.  B.  leges  967 A),  Aristoteles  nicht  selten  vorkommt.  Es  dürfte 
der  griechischen  Forschung  der  Begriff  des  Naturgesetzes  zuerst  in  der  Astro- 
nomie und  in  der  Medizin  aufgegangen  sein. 


156  Zum  Erkenntnisproblem, 

drucks  war  förderlich  die  im  späteren  Altertum  übliche  Personifikation 
der  Gesamtnatur,  indem  sie  die  Regelmäßigkeit  ihres  Geschehens  als 
den  Ausdruck  eines  ordnenden  Willens  verstehen  ließ.  Einen  tieferen 
Einfluß  auf  die  wissenschaftliche  Arbeit  erlangte  aber  der  Begriff  des 
Naturgesetzes  im  Altertum  nicht,  namentlich  wohl  wegen  des  Über- 
gewichts einer  künstlerischen  und  teleologischen  Naturbetrachtung, 
welche  nicht  zur  Zerlegung  in  elementare  Vorgänge  und  zur  Er- 
mittelung ihrer  Regelmäßigkeiten  trieb.  Die  Kirchenväter  nahmen  den 
Ausdruck  auf  und  verstärkten  seine  religiöse  Färbung,  einem  Augustin 
sind  die  Naturgesetze  bloße  Gewohnheiten  göttlichen  Handelns,  Ge- 
wohnheiten, die  zu  Gunsten  besonderer  Zwecke  jeden  Augenblick 
verlassen  werden  können.  So  stören  Wunder  und  Naturgesetze  ein- 
ander nicht.  Im  Mittelalter  tritt  der  Ausdruck  sehr  zurück;  Natur- 
gesetz (lex  naturae)  bezeichnet  hier  das  innere  Moralgesetz,  nicht  die 
Ordnung  der  Außenwelt. ^  Um  so  mehr  hat  die  Neuzeit  «Naturgesetz" 
in  den  Vordergrund  gerückt,  an  kaum  irgendwelchem  anderen  Begriff 
hat  sie  so  sehr  ihr  Selbstbewußtsein  gefunden  und  ihre  eigentümliche 
Art  erwiesen.  Ein  Allgemeineres  der  Denkweise  und  die  besondere 
Gestaltung  der  Arbeit  verstärken  einander  dabei  gegenseitig.  Das 
Naturgesetz,  als  Ordnung  des  Geschehens,  nicht  des  Sollens,  als  Aus- 
druck der  einfachen  Wirkformen  der  Elemente,  hatte  die  volle 
Neigung  der  damaligen  Menschheit  für  sich,  weil  es  ein  Verstehen 
der  Wirklichkeit  nicht  aus  jenseitiger  Ordnung,  sondern  aus  ihrer 
eignen  Natur  versprach,  und  weil  es  diese  Natur  ohne  alle  mensch- 
liche Zutat  und  Verfälschung  bei  sich  selbst  zu  erschließen  schien. 
Dazu  kam  das  der  modernen  Wissenschaft  eigentümliche  Streben  nach 
einer  neuen,  einer  exakten  Begreifung  der  Natur  durch  eine  Zerlegung 
der  Wirklichkeit  in  kleinste  Elemente  und  eine  Durchleuchtung  von 


^  Der  Ausdruck  leges  naturae  war  so  fremdartig  geworden,  daß  der 
Beginn  der  Aufklärung  ihn  glaubte  rechtfertigen  und  verteidigen  zu  müssen. 
So  z.  B.  Clauberg  op.  omn.  103 :  Est  qui  hie  nodum  in  scirpo  quaerat,  quod 
leges  sint  tantura  causae  morales,  quae  imperant,  non  efficiunt,  quae  materiae, 
utpote  rationis  experti,'  ferri  non  possunt.  Causa  autem  hujus  appellationis 
(Naturae  legum)  est  in  propatulo.  Quemadmodum  enim  rebus  ratione  prae- 
ditis  Deus  leges  imposuit  morales,  quas  abservando  bene  agunt,  transgrediendo 
peccant,  ita  voluit  res  omnes  naturales  certo  semper  ordine,  certis  legibus 
moveri  ac  quiescere,  quas  quidem  leges  ipsae  illae  res,  utpote  causae  neces- 
sariae,  non  possunt  non  observare.  Auch  hier  liegt  die  Bedeutung  der  re- 
ligiösen Denkweise  für  die  Bildung  und  Verwendung  des  Begriffes  deutlich 
zutage. 


Gesetz.  157 

daher.  Die  völlige  Umwandlung  des  Weltbildes,  die  daraus  hervor- 
ging, hatte  drei  Hauptsttifen:  Analyse,  Gesetz,  Entwicklung;  das  Ge- 
setz mit  seiner  Ermittelung  der  einfachen  Wirkformen  der  Elemente 
ist  das  Rückgrat  des  Ganzen,  erst  mit  ihm  wird  eine  Präzision  der 
Erkenntnis  erreicht  und  eine  vollständige  Unterwerfung  der  Wirklich- 
keit unter  den  Gedanken  angebahnt  Wie  aber  die  Zurückführung 
auf  einfache  Vorgänge  die  Natur  durchsichtig  zu  machen  schien, 
so  gewährte  sie  zugleich  die  Möglichkeit  neuer  Kombinationen  der 
Elemente  zu  Gunsten  menschlicher  Zwecke.  Das  Gesetz  ist  der 
Punkt,  wo  das  Streben  nach  engster  Verbindung  von  Theorie  und 
Praxis,  das  der  neueren  Forschung  von  Anfang  an  innewohnt  sich 
in  wirksame  Arbeit  umsetzt  Denn  hier  wird  der  Endpunkt  des 
Erkennens  zum  Ausgangpunkt  des  Handelns;  aus  vereinzelten  und 
zufälligen  Funden  ist  die  Technik  eine  selbständige  und  lebens- 
umspannende Macht  nur  mit  Hilfe  der  Gesetze  geworden.  So  laufen 
bei  ihnen  alle  Fäden  zusammen  als  dem  Mittelpunkt  der  geistigen 
Arbeit;  sie  bilden  den  klarsten  Ausdruck  des  modernen  Verlangens 
nach  immanenter  und  sachlicher  Erklärung,  nach  analytisch-präziser 
Begreifung,  nach  einem  aktiveren  Verhältnis  des  Menschen  zu  seiner 
Naturumgebung. 

Aber  zugleich  war  das  Gesetz  in  dem  neuen  Sinne  eine  schwere 
Aufgabe  und  eine  Sache  mannigfachster  Verwicklung.  Im  Streben 
nach  Gesetzen  verschlingt  sich  eng  Erfahrung  und  Vernunft  Regel- 
mäßigkeiten werden  entdeckt,  und  es  entsteht  eine  große  Freude  dar- 
aus, daß  was  im  ersten  Eindruck  wirr  durcheinander  läuft,  einer  schärferen 
Betrachtung  geordnete  Reihen  zu  erkennen  gibt  Aber  man  verbleibt 
nicht  bei  der  bloßen  Konstatierung  mehr  oder  weniger  verwickelter 
Tatsachen,  man  möchte  diese  zerlegen  und  auf  einfache,  letzte,  all- 
gegenwärtige Elemente  zurückführen,  zugleich  aber  statt  eines  bloßen 
Nach-  und  Nebeneinander  einen  kausalen  Zusammenhang  erreichen; 
man  strebt  von  empirischen  zu  rationalen,  von  beschreibenden  zu 
erklärenden  Gesetzen,  die  notwendig  und  allgemeingültig  sind.  Nur 
solche  rationale  Gesetze  dürfen  ausschließlich  herrschen  wollen,  sie 
können  keine  Ausnahmen,  also  auch  nicht  das  Wunder  dulden.  Sie 
werden  nach  möglichster  Einfachheit  streben  und  alle  Mannigfaltig- 
keit als  Ausdruck  eines  durchgehenden  Geschehens  zu  verstehen 
suchen.  Auch  werden  diese  Gesetze  auf  einem  präzisen  Ausdruck, 
einer  bestimmten  Formel  bestehen,  da  nur  eine  solche  zur  Beherrschung 
des  Tatbestandes  zu  führen  vermag.    Diesen  präzisen  Ausdruck  gibt 


158  Zum  Erkenntnisproblem. 

dem  Naturgesetz  vornehmlich  die  Mathematik.  So  konnte  Newton 
die  Aufgabe  echter  Naturforschung  darin  setzen,  unter  Verzicht  auf 
die  substantiellen  Formen  und  die  verborgenen  Qualitäten  die  Natur- 
erscheinungen auf  mathematische  Gesetze  zurückzuführen,  ^  und  Kant 
behaupten,  „daß  in  jeder  besonderen  Naturlehre  nur  so  viel  eigentliche 
Wissenschaft  angetroffen  werden  könne,  als  darin  Mathematik  anzu- 
treffen ist"  (IV,  360  Hart).  Aber  solche  Wendung  stellt  schwere 
Aufgaben  und  legt  manche  Irrungen  nahe.  Oft  wird  bloß  empirischen 
Verallgemeinerungen  beigelegt,  was  nur  den  Gesetzen  strengster 
Fassung  zukommt;  kaum  hat  jemand  mehr  von  der  Ausnahmslosigkeit, 
der  Unveränderlichkeit  der  Gesetze  gesprochen  als  derselbe  Comte, 
dem  sie  nur  eine  Beschreibung  der  Erfahrung  bedeuten  sollten. 
Zugleich  gibt  die  bloße  Regelmäßigkeit  sich  leicht  wie  einen  völligen 
Abschluß,  die  Aufgabe  scheint  gelöst,  wo  sie  eben  nur  bezeichnet 
ist.  Der  Begriff  des  Gesetzes  hat  oft  dogmatisierend  gewirkt,  nirgends 
mehr  als  auf  dem  Gebiet  der  Biologie,  wo  oft  sehr  verwickelte 
Erscheinungskomplexe  sich  den  Anschein  strenger  Gesetze  gaben 
und  deren  Forderungen  stellten. 

Zu  solchen  Verwicklungen  aus  der  Durchführung  der  weiteren 
Fassung  kommen  Störungen  aus  einem  mehr  oder  minder  versteckten 
Fortwirken  des  älteren  Gesetzesbegriffes  mit  seiner  Beziehung  auf 
ein  überlegendes  Wollen.  Das  geschieht,  wenn  Denker  des  1 7.  und 
1 8.  Jahrhunderts  aus  der  Gesetzlichkeit  der  Natur  eine  gesetzgebende 
Gottheit  glauben  erschließen  zu  können.  Aber  es  geschieht  auch, 
wenn  in  umgekehrter  Richtung  eine  pantheistische  Denkweise  die 
Gesetze  wie  lebendige  Mächte  behandelt  und  sie  als  einen  Gegen- 
stand andächtiger  Verehrung  an  die  Stelle  der  Gottheit  setzt,  ^  Auch 
darin  steckt  ein  Fortwirken  der  älteren  Art,  daß  das  Gesetz  oft  wie 
eine   über  den    einzelnen  Vorgängen  schwebende  Macht  behandelt 


^  S.  den  Beginn  der  philosophiae  naturalis  principia  mathematica: 
Missis  formis  substantialibus  et  qualitatibus  occultis  phaenomena  naturae  ad 
leges  mathematicas  revocare. 

^  So  zieht  sich  von  Giordano  Bruno  durch  die  Neuzeit  bis  zur  Gegen- 
wart ein  gewisser  Kultus  des  Naturgesetzes.  Bruno  sucht  das  Höchste  in 
inviolabili  intemerabilique  naturae  lege,  in  bene  ad  eandem  legem  instituti 
animi  religione  (de  universo  et  immenso  653).  Je  skeptischer  sich  heute  die 
Menschen  zur  Religion  verhalten,  desto  blindere  Verehrung  pflegen  sie  dem 
Naturgesetz  zu  zollen. 


Gesetz.  I59 

wird,  die  ihnen  die  Bahn  vorschreibt. ^  EndUch  gehört  auch  das 
hieher,  daß,  je  kecker  die  Behauptung  eines  Gesetzes  und  einer 
Gesetzesformel  auftritt,  sie  desto  leichter  Eingang  findet.  Eine  Tat- 
sache pflegen  wir  zu  prüfen,  ehe  wir  sie  anerkennen ;  an  einem  Ge- 
setze zu  zweifeln,  das  scheint  eine  Sünde  gegen  den  Geist  der 
Wissenschaft.  So  überträgt  sich  die  Autorität,  die  das  Gesetz  als 
ein  praktisches  Gebot  hat,  zu  Unrecht  auf  das  Gesetz  des  Geschehens: 
auch  für  dieses  wird  schleunige  Zustimmung  verlangt  und  keinerlei 
Widerspruch  geduldet.  Wie  hätte  ohne  solchen  kritiklosen  Respekt  das 
berüchtigte  «eherne  Lohngesetz"  eine  so  große  Rolle  spielen  können! 
Namentlich  die  Formel  wirkt  dabei  Wunder.  Wie  viel  weniger  hätte 
Mahhus  die  Geister  bewegt,  wenn  er  seiner  Lehre  von  der  Bevölke- 
rungszunahme nicht  die  bekannte  mathematische  Formel  gegeben 
hätte!  «Man  liebt  die  Sicherheit",  so  klagte  schon  Pascal;  man  hält 
aber  leicht  für  sicher,  was  keck  und  selbstbewußt  auftritt. 

Aber  so  mißlich  das  alles  sein  mag,  solche  menschliche 
Irrungen  sind  eine  unvermeidliche  Begleiterscheinung  jeder  großen 
Wendung,  an  den  Gesetzen  selbst  dürfen  sie  nicht  irre  machen. 
Überblicken  wir  also  rasch  die  intellektuelle  Bewegung,  die  der 
Kampf  um  das  Gesetz  in  der  Neuzeit  hervorgerufen  hat  und  unab- 
lässig hervorruft. 

b)  Der  Kampf  um  das  Gesetz  in  der  Neuzeit. 

Die  Naturgesetze  haben  ihre  eigentümliche  Ausprägung  im 
Gebiet  der  unorganischen  Natur  gefunden;  so  war  es  eine  Über- 
tragung der  Größen  und  Methoden  dieses  Gebietes,  welche  das  Vor- 
dringen des  Gesetzesbegriffes  in  andere  Disziplinen  begleitete.  Dabei 
mußte  aber  —  früher  oder  später  —  bemerklich  werden,  was  in  ihm 
selbst  an  Problemen  und  auch  Schranken  liegt.  Beim  Gesetze  ist 
alle  Aufmerksamkeit  den  Formen  des  Geschehens  zugewandt,  die  Kräfte 
und  Ursachen  bleiben  im  Hintergrund;  wird  solche  Zurückstellung 
überall  möglich  sein,  und  wird  das  Hervortreten  dieses  Problems 


^  Mit  Recht  bemerkt  darüber  Sigwart  (Logik  II,',  512):  „Eine  leere 
rhetorische  Phrase  ist  es  von  Naturgesetzen  so  zu  sprechen,  als  ob  die  bloße 
Formel  eine  magische  Macht  über  die  Erscheinungen  übte  und  ihnen  etwas 
zumutete,  was  nicht  aus  ihrer  eignen  Natur  von  selbst  folgte.  Gesetze  können 
nie  Gründe  des  wirklichen  Geschehens  sein,  sondern  nur  die  konstante  Art 
und  Weise  ausdrücken,  wie  reale  Dinge  sich  verhalten." 


160  Zum  Erkenntnisproblem. 

nicht  den  Anblick  des  Ganzen  verändern?  Beim  Gesetze  wird  die 
Wirklichkeit  in  lauter  einzelne  Vorgänge  zerlegt  und  alles  beherrschende 
Ganze  entfernt;  sollte  das  für  alle  Gebiete  taugen?  Beim  Gesetze 
bildet  jedes  einzelne  Geschehen  nur  einen  Sonderfall  eines  allge- 
meinen, alle  Individualität  wird  hier  für  die  Wissenschaft  ausgeschaltet; 
wird  das  Individuelle  sich  überall  mit  einem  so  bescheidenen  Platz 
begnügen,  wird  es  nicht  aller  versuchten  Gleichmachung  eine  un- 
vergleichliche Art  entgegensetzen?  Endlich  erscheint  beim  Gesetze, 
namentlich  wenn  es  nicht  bloß  beschreiben,  sondern  auch  erklären 
will,  das  Geschehen  als  völlig  determiniert  und  unweigerlich  fest- 
gelegt; für  freie  Entscheidung,  für  eine  Wahl  zwischen  verschiedenen 
Möglichkeiten  gibt  es  hier  keinen  Platz.  Werden  sich  dem  alle 
Lebensgebiete  fügen? 

Probleme  also  in  Hülle  und  Fülle,  durch  alle  einzelnen  hin- 
durch aber  das  Gesamtproblem,  wie  weit  die  mechanischen  Natur- 
begriffe die  ganze  Wirklichkeit  unter  sich  zu  bringen  vermögen. 
Der  Widerstand  gegen  den  Gesetzesbegriff  kann  dabei  eine  schroffere 
und  eine  mildere  Form  annehmen:  entweder  wird  der  Gesetzes- 
begriff für  ein  besonderes  Gebiet  ganz  und  gar  abgelehnt,  oder  er 
wird,  unter  Ablösung  von  der  naturwissenschaftlichen  Fassung,  dessen 
Besonderheit  angepaßt.  Aus  beidem  zusammen  erwächst  eine  höchst 
lebhafte  Bewegung,  die  nicht  wenig  dazu  beigetragen  hat,  die  Eigen- 
tümlichkeit der  einzelnen  Gebiete  in  klares  Licht  zu  stellen. 

Es  beginnt  aber  die  Ausbreitung  des  Gesetzesbegriffes  über  die 
Natur  hinaus  schon  im  1 7.  Jahrhundert,  namentlich  findet  er  schon 
damals  Eingang  in  die  Psychologie.  Das  18.  Jahrhundert  setzt  die 
Bewegung  fort  und  führt  sie  tiefer  in  die  einzelnen  Gebiete  ein.^ 
Ihren  Höhepunkt  aber  erreicht  jene  erst  im  1 9.  Jahrhundert,  nament- 
lich in  seiner  zweiten  Hälfte. 

Es  wirkte  hier  manches  dahin  zusammen,  das  Gesetz  in  den 
Mittelpunkt  der  wissenschaftlichen  Arbeit  zu  rücken.    Vor  allem  das 


^  Mit  besonderer  Energie  hat  Montesquieu  den  Gesetzesbegriff  ver- 
fochten. Er  sagt  gleich  in  den  Anfängen  seines  esprit  des  lois:  les  lois,  dans 
la  signification  la  plus  etendue,  sont  les  rapports  necessaires  qui  derivent  de 
la  nature  des  choses;  et  dans  ce  sens  tous  les  etres  ont  leurslois:  la  divinite 
a  ses  lois,  les  intelligences  superieures  ä  l'homme  ont  leurs  lois,  les  betes 
ont  leurs  lois,  l'homme  a  ses  lois.  Und  etwas  weiter:  il  y  a  donc  une  raison 
primitive,  et  les  lois  sont  les  rapports  qui  se  trouvent  entre  eile  et  les  diffe- 
rents  etres,  et  les  rapports  de  ces  divers  etres  entre  eux. 


Gesetz.  151 

Selbständigwerdeii  der  einzelnen  Wissenschaften.  Je  weniger  sie 
fernerhin  von  der  Philosophie  Prinzipien  und  Regeln  entlehnen 
wollten,  desto  mehr  mußten  sie  darauf  bedacht  sein,  in  ihrem  eignen 
Gebiet  durchgehende  Begriffe  und  feste  Zusammenhänge  zu  finden. 
In  den  Gesetzen  aber  hofften  sie  solche  zu  finden;  mit  ihrer  Hilfe 
schien  der  unermeßliche  Stoff  sich  ordnen  und  gliedern  zu  lassen, 
schien  auch  eine  Vergleichung  verschiedener  Reihen  und  Gruppen 
des  Geschehens  möglich  zu  werden.  Diese  Bewegung  erhielt  eine 
besondere  Spannung  durch  das  Verhältnis  von  Natur-  und  Geistes- 
wissenschaften. Die  glänzenden  Erfolge  der  Naturwissenschaften  haben 
auch  ihre  Expansionskraft,  ihr  Streben  nach  Beherrschung  des  ge- 
samten intellektuellen  Reiches  gesteigert,  namentlich  scheint  die  Ent- 
wicklungslehre Weltbegriffe  zu  liefern,,  denen  kein  Gebiet  sich  ent- 
ziehen kann;  so  dringt  die  naturwissenschaftliche  Denkweise  mit  ihren 
Begriffen  tiefer  und  tiefer  in  die  anderen  Gebiete  hinein.  Aber  zugleich 
werden  diese  zum  Widerstände  gereizt  und  zur  Besinnung  auf  ihre 
Eigentümlichkeit  getrieben,  es  entsteht  ein  lebhafter  Kampf,  dessen 
Fortgang  die  Unterschiede  immer  mehr  zum  Bewußtsein  gebracht  hat.^ 


*  Ein  anschauliches  Bild  von  der  Bewegung  in  der  Sprachwissenschaft 
liefert  B.  Delbrück  in  der  Abhandlung  ,,Das  Wesen  der  Lautgesetze"  (Annalen 
der  Naturphilosophie  I,  277 ff.).  Nachdem  schon  Fr.  Schlegel  und  Bopp  die 
Sprachwissenschaft  in  Vergleich  mit  der  Naturwissenschaft  gestellt  hatten, 
ohne  jedoch  sie  zu  den  Naturwissenschaften  zu  rechnen,  gab  Schleicher  der  Sache 
eine  schärfere  Zuspitzung.  Sein  Bekenntnis  geht  dahin  (Die  Darwinsche 
Theorie  und  die  Sprachwissenschaft,  S.  7):  „Die  Sprachen  sind  Naturorganis- 
men, die,  ohne  vom  Wollen  des  Menschen  bestimmbar  zu  sein,  entstunden, 
nach  bestimmten  Gesetzen  wuchsen  und  sich  entwickelten,  und  wiederum 
altem  und  absterben;  auch  ihnen  ist  jene  Reihe  von  Erscheinungen  eigen, 
die  man  unter  dem  Namen  „Leben"  zu  verstehen  pflegt.  Die  Glottik,  die 
Wissenschaft  der  Sprache,  ist  demnach  eine  Naturwissenschaft,  ihre  Methode 
ist  im  Ganzen  und  Allgemeinen  dieselbe,  wie  die  der  übrigen  Naturwissen- 
schaften." Demgegenüber  haben,  wie  Delbrück  näher  ausführt,  andere 
Forscher,  unter  ihnen  namentlich  Whitney,  zur  Geltung  gebracht,  daß  sich 
bei  der  Entstehung  und  Veränderung  von  Sprachen  nirgends  dem  Sprachstoff 
innewohnende  Lebensgesetze,  sondern  immer  nur  menschliche  Handlungen 
finden.  Als  ein  solcher  Ausfluß  menschlichen  Handelns  und  Wollens  ist  die 
Sprache  kein  Naturorganismus,  sondern  eine  Institution,  eine  von  den  In- 
stitutionen, welche  die  menschliche  Kultur  ausmachen.  Damit  muß  auch 
das  Sprachgesetz  anders  gefaßt  werden  als  das  Gesetz  eines  Naturorganismus. 
Delbrück  kommt  in  seiner  Untersuchung  der  Lautgesetze  zu  dem  Ergebnis, 
daß,  so  sehr  diese  sui  generis  sind,  kein  Grund  vorliegt,  ihnen  deswegen 
den  Namen  von  Gesetzen   abzusprechen.     „Denn   wir   verstehen   auch   bei 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  H 


162  Zum  Erkenntnisproblem, 

Von  der  Welt  des  Leblosen  ausgegangen,  hatte  das  Naturgesetz 
sich  zunächst  des  Reichs  des  Lebendigen  zu  bemächtigen;  auf  wie 
viel  "Widerstand  es  dabei  stieß,  und  wie  der  Kampf  eben  jetzt  wieder 
in  vollem  Gange  ist,  das  hat  uns  im  vorigen  Abschnitt  beschäftigt. 
Die  Übertragung  des  Naturgesetzes  auf  die  Seele  war  schon  durch 
Descartes  nahegelegt  und  wurde  durch  Spinoza  großartig  aus- 
geführt; alles  Seelenleben  verwandelt  sich  hier  in  ein  Gewebe 
von  Einzelvorgängen,  die  ganz  nach  Art  der  mechanischen  Natur 
sich  bewegen  und  wirken.  Leibniz  läßt  jede  Monade  ihren  eignen 
Gesetzen  folgen  und  unterscheidet  von  den  «physiko-mechanischen" 
Gesetzen  der  Körper  die  »ethiko-logischen"  der  Seelen  (736  b,  Erdm.). 
Psychologische  Gesetze  in  strengerem  Sinne  haben  namentlich  die 
Engländer  aufgebracht,  so  die  Assoziationsgesetze;  in  Deutschland 
geht  die  Bewegung  über  Wolff  zu  Herbart  fort,  der  die  mathematische 
Formel  auch  in  das  Innere  des  Seelenlebens  einführen  möchte. 
Zugleich  aber  fehlt  es  nicht  an  Männern,  welche  die  eigentümliche 
Art  des  Seelenlebens  mit  seiner  inneren  Einheit,  seiner  Beweglich- 
keit, seiner  Individualität  zur  Geltung  bringen  und  damit  auch  dem, 
was   hier   sich   an   Gesetzen  aufstellen   läßt,   eine   deutliche  Grenze 


weisen 


1 


Entscheidend  für  die  Behandlung  der  inneren  Welt  und  die 
Stellung  der  Gesetze  in  ihr  ist  die  Frage,  ob  in  dem  Geistesleben 
eine  neue  Stufe  und  selbständige  Art  der  Wirklichkeit  anerkannt 
wird  oder  nicht.  Wo  jenes  geschieht,  kann  über  einen  wesentlichen 
Unterschied  von  allem  naturgesetzlichen  Geschehen  keinerlei  Zweifel 
sein.  Die  Naturgesetze  sind  die  rein  gefaßten  Wirkformen  des  Ge- 
schehens, schlichte  und  einfache  Tatsächlichkeit.  Nun  muß  auch  das 
Gesetz  geistiger  Art  in  irgendwelcher  Tatsächlichkeit  wurzeln;  haltlos 


anderen  Wissenschaften  unter  Gesetzen  nichts  weiter,  als  den  Ausdruck  für 
Gleichmäßigkeiten,  welche  zwar  im  Einzelfalle  nicht  rein  hervortreten,  von 
denen  wir  aber  annehmen,  daß  sie  stets  rein  hervortreten  würden,  wenn  im 
Einzelfalle  alle  anderswoher  kommenden  störenden  Einwirkungen  entfernt 
werden  könnten"  (308). 

^  So  bemerkt  Sigwart,  dessen  Untersuchungen  über  alle  diese  Probleme 
besonders  klar  und  eindringend  sind,  über  die  Assoziationsgesetze  (Log.  IP, 
553):  „Die  Assoziationsgesetze  deuten  nur  bestimmte  Richtungen  an,  in  denen 
unsere  Reproduktionen  verlaufen  können,  oder  in  vielen  Fällen  verlaufen, 
bestimmte  Tendenzen  der  wirklichen  Aneinanderreihung  von  Bildern  oder 
Wörtern  u. s.  w.;  Gesetze,  aus  denen  jeder  wirkliche  Vorstellungsverlauf  als 
notwendig  nachgewiesen  werden  könnte,  vermögen  sie  nicht  darzustellen." 


Gesetz.  I53 

in  der  Luft  schwebende  Gesetze,  die  doch  eine  Wirkung  tun  sollen, 
sind  ein  Unding.  ^  Aber  das  Geistesleben,  das  den  unentbehrlichen 
Halt  gewährt,  ist  keineswegs  ein  voller  Besitz  des  Menschen,  sondern 
es  ist  für  ihn,  wenn  auch  zu  seinem  innersten  Wesen  gehörig,  zu- 
gleich ein  hohes  Ziel,  eine  schwere  Aufgabe,  zugleich  Natur  und 
Ideal.  Damit  werden  die  Gesetze  zu  Normen,  die  nicht  wirkungslos 
sind,  die  aber  Widerstand  finden  und  sich  gegen  ihn  durchsetzen 
müssen.  ^  Je  nach  der  Eigentümlichkeit  des  intellektuellen,  des  ethischen, 
des  ästhetischen  Gebietes  gestaltet  sich  der  Widerstand  und  überhaupt 
der  Lebensprozeß  verschieden,  wie  wir  alle  wissen. 

Nur  das  vielbehandelte  Problem  des  Verhältnisses  von  Natur- 
gesetz und  Sittengesetz  sei  hier  mit  einigen  Worten  gestreift. 
Dies  Problem  ist  namentlich  durch  Kant  in  den  Vordergrund  ge- 
bracht. Denn  indem  er  die  Moral  über  alles  seelische  Getriebe 
hinaushob,  mußte  sich  das  Sittengesetz  mit  seinem  Soll  vom  Natur- 
gesetz bis  zu  schroffem  Gegensatz  abheben.  Einem  Schleiermacher 
schien  damit  das  Sittliche  unter  einen  einseitigen  Anblick  gestellt 
und  eines  sicheren  Haltes  in  der  menschlichen  Natur  beraubt;  das 
trieb  ihn,  den  engen  Zusammenhang  von  Natur-  und  Sittengesetz 
zu  verfechten.  3  Aber  diesen  berechtigten  Gedanken  hat  Schleier- 
macher stark  überspannt  und  das  Charakteristische  der  Moral 
dadurch  abgeschwächt.  Wer  die  Moral  zur  Natur  des  Menschen 
rechnet,  der  gibt  dem  Begriff  der  Natur  einen  neuen  Sinn  und  hat 
sie  scharf  von  allem  bloßen  Dasein  zu  scheiden;  so  ist  schließlich 
Kant  in  besserem  Recht  als  Schleiermacher.*   Die  unmittelbare  Gleich- 


*  Mit  Recht  macht  Husserl  bemerklich,  daß  „jede  normative  und  a  fortiori 
jede  praktische  Disziplin  eine  oder  mehrere  theoretische  Disziplinen  als  Funda- 
mente voraussetzt,  in  dem  Sinne  nämlich,  daß  sie  einen  von  aller  Normierung 
ablösbaren  theoretischen  Gehalt  besitzen  muß,  der  als  solcher  in  irgend- 
welchen, sei  es  schon  abgegrenzten  oder  noch  zu  konstituierenden  theoretischen 
Wissenschaften  seinen  natürlichen  Standort  hat"  (Logische Untersuchungen  1, 47). 
S.  auch  S.  164:  „Der  Gegensatz  von  Naturgesetz  als  empirisch  begründeter 
Regel  eines  tatsächlichen  Seins  und  Geschehens  ist  nicht  das  Normalgesetz 
als  Vorschrift,  sondern  das  Idealgesetz  im  Sinne  einer  rein  in  den  Begriffen 
(Ideen,  reinen  Gattungsbegriffen)  gründenden  und  daher  nicht  empirischen 
Gesetzlichkeit." 

'  Von  neueren  Untersuchungen  darüber  sei  namentlich  erwähnt  Windel- 
bands Abhandlung  ,, Normen  und  Naturgesetze"  in  den  „Präludien". 
»  S.  Werke  zur  Philos.  II,  397-417. 

*  Zeller  „Über  Begriff  und  Begründung  der  sittlichen  Gesetze"  (1883) 
kommt  hinsichtlich  der  Ethik  zu  dem  Schlußergebnis:  „Ihre  Sätze  sind  nicht 

11* 


164  Zum  Erkenntnisproblem. 

Setzung  von  Natur-  und  Sittengesetzen  entspricht  dem  Stande  der 
antiken  Ethik;  sie  ist  hinfällig  geworden  und  widerspricht  der  welt- 
geschichtlichen Lage,  nachdem  das  Verhältnis  des  Menschen  zum 
Geistesleben  hat  schwere  Verwicklungen  erkennen  lassen.  Auch  wäre 
leicht  zu  zeigen,  daß,  wo  immer  moderne  Denker  die  Sittengesetze 
prinzipiell  als  Naturgesetze  faßten,  der  Verlauf  der  Untersuchung 
sie  immer  wieder  zur  Anerkennung  einer  abweichenden  Art  ge- 
zwungen hat.i 

Die  dem  1 9.  Jahrhundert  eigentümliche  geschichtlich-gesellschaft- 
liche Denkweise  mußte  das  Streben  erzeugen,  sowohl  das  gesellschaft- 
liche als  das  geschichtliche  Gebiet  festen  Gesetzen  zu  unterwerfen. 
Das  Drängen  auf  Präzision  vornehmlich  unterscheidet  die  moderne 
Gesellschaftslehre,  die  Soziologie,  von  allen  früheren  Versuchen.  Mit 
Hilfe  der  großen  Zahl  wird  das  Zufällige  der  individuellen  Er- 
scheinungen ausgeschieden,  werden  Durchschnitte  ermittelt  und  die 
Grenzen  abgesteckt,  innerhalb  derer  etwaige  Abweichungen  liegen, 
werden  Regelmäßigkeiten  innerhalb  des  sozialen  Gebietes  aufgedeckt  ^ 
Je  mehr  aber  die  Forschung  die  Überraschung  überwunden  hat, 
welche  das  erste  Gewahren  von  Regelmäßigkeiten  innerhalb  eines  bis 
dahin  scheinbar  dem  Zufall  preisgegebenen  Gebietes  bewirkte,  desto 
kritischer  ist  man  gegenüber  dem  Begriff  der  Gesetze  geworden,  desto 
deutlicher  hat  sich  der  Unterschied  zwischen  bloßen  Tendenzen  des 
gesellschaftlichen  Lebens  und  eigentlichen  Naturgesetzen  herausgestellt. 

Noch  mehr  Bewegung  hat  der  Begriff  auf  dem  wirtschaftlichen 
Gebiete  engeren  Sinnes  hervorgerufen;  nirgends  hat  der  Streit  darüber 
mehr  Folgen  für  das  Handeln    und   Leben   als   hier.^     Denn   das 


der  Ausdruck  dessen,  was  irgendwo  als  Recht  oder  Sitte  besteht,  sondern 
der  Forderungen,  die  als  Normen  der  menschlichen  Willenstätigkeit  aus  der 
Idee  des  Menschen  hervorgehen."  S.  auch  Siebeck:  „Über  das  Verhältnis 
von  Naturgesetz  und  Sittengesetz"  (Philos.  Monatshefte  1884,  S.  321  ff.). 

^  Comte  liefert  dafür  ein  hervorragendes  Beispiel.  Der  große  Empirist, 
der  grundsätzlich  die  Gesetze  nur  als  Beschreibungen  verstanden  wissen 
will,  meint  bei  der  Wendung  zur  Gesellschaft  (cours  de  phil.  pos.  IV.,  466): 
Cette  generalite  empirique,  qui  en  toute  autre  science  pourrait  dejä  avoir 
une  valeur  süffisante,  ne  saurait  pleinement  convenir  ä  la  nature  propre  de  la 
sociologie. 

'  In  dem  allen  nimmt  bekanntlich  Quetelet  eine  hervorragende  Stel- 
lung ein. 

'  Zur  Geschichte  des  Begriffes  bemerkt  Neumann,  dem  wir  besonders 
verdienstliche  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  verdanken  (Jahrbücher 
für  Nationalökonomie  und  Statistik,  3.  Folge  1899,  S.  152/3):  „Geforscht  hat 


Gesetz.  165 

Problem  des  Gesetzes  steht  in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit 
der  Frage,  wie  sich  der  Staat  zu  den  wirtschaftlichen  Bewegungen 
zu  verhalten  habe,  ob  bloß  zuschauend  oder  selbsttätig  eingreifend. 
Bildete  der  wirtschaftliche  Prozeß  ein  bloßes  Gewebe  sich  selbst 
regulierender  Einzelbewegungen,  so  erschien  alles  Eingreifen  als  eine 
Störung,  das  laissez  faire,  laissez  aller  wurde  zur  Summe  politi- 
scher Weisheit  In  Wahrheit  ist  ein  solches  Gehenlassen  an  sich 
selbst  etwas  anderes  als  ein  bloßer  Naturprozeß.  Denn  neben 
jenem  Gehenlassen  stehen  andere  Möglichkeiten,  es  muß  auf  dem 
Boden  der  Geschichte  gegen  andersartige  Zustände  erst  durchgesetzt 
werden,  es  wirkt,  wenn  eingeführt,  nicht  wie  selbstverständlich  fort, 
sondern  es  läßt  sich  zurücknehmen,  es  muß  von  einem  fortlaufenden 
Willen  getragen  werden.  Dazu  ist  der  Glaube  an  eine  Selbstregu- 
lierung der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  durch  die  natürlichen  Triebe 
und  Kräfte  der  Individuen  nicht  möglich  ohne  einen  optimistischen 
Glauben  an  die  Vernunft  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse;  jede  Er- 
schütterung dieses  Optimismus  untergräbt  auch  den  Glauben  an  das 
Allvermögen  der  Naturgesetze.  Nun  haben  die  wirtschaftlichen  Ver- 
wicklungen des  19.  Jahrhunderts  jenen  Optimismus  aufs  schwerste  er- 
schüttert, sie  drängen  immer  stärker  zum  Eingreifen  des  Staates  in  den 
wirtschaftlichen  Prozeß,  sie  entwinden  damit  das  Gebiet  den  bloßen 
Naturgesetzen  und  verstärken  die  Bedeutung  der  ethischen  wie  der 
historischen  Elemente.^  Die  Anerkennung  dieses  ethischen  und 
historischen  Moments  verhindert  keineswegs  die  Anerkennung  wirt- 


man  nach  wirtschaftlichen  und  sozialen  Gesetzen,  wie  an  anderem  Ort  zu 
zeigen  versucht  ist  (So  zuletzt  in  dem  Aufsatz:  Wirtschaftl.  Gesetze  nach 
früherer  und  jetziger  Auffassung.  Jahrb.  für  Nationalökonomie  und  Statistik. 
N.  F.  1898,  Bd.  16),  schon  im  Altertum  und  sodann,  nach  den  allerdings  auf 
anderen  Gebieten  erzielten  Erfolgen  Bacons  und  Newtons,  namentiich  seit 
der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts,  seit  Locke  und  Hobbes,  von  denen 
der  Erstere  auch  bereits  den  Ausdruck  law  hierfür  gebrauchte,  während 
gerade  die  Physiokraten ,  da  sie  diesen  Vorgängen  folgten,  nicht  ganz  frei 
von  der  Schuld  zu  sprechen  sind,  daß  sie  unter  dem  Einfluß  damals  all- 
mächtiger naturrechtiicher  Voretellungen  die  in  Rede  stehenden  Gesetze  des 
Geschehens  von  solchen  des  Sollens  oder  den  ethischen  Gesetzen  nicht 
ausreichend  zu  trennen  wußten." 

^  Erwähnung  verdient  dabei,  daß  nicht  bloß  auf  individualistischer, 
sondern  auch  auf  sozialistischer  Seite  Neigung  bestand,  den  Begriff  des  Ge- 
setzes auf  Kosten  der  freien  Tat  zu  überspannen.  Nur  erhielt  die  Sache  hier 
die  Gestalt,  daß  eine  Gesamtbewegung  des  weltgeschichtlichen  Lebens,  jen- 
seit  alles  Wollens  und  Tuns  der  Individuen,   mit  unabwendbarer  Dialektik 


166  Zum  Erkenntnisproblem. 

schaftlicher  Gesetze.  Aber  sie  entsprechen  dann  nicht  einfach  den 
Naturgesetzen,  sondern  sind  nach  Neumanns  Definition  »der  Aus- 
druck für  eine  infolge  der  Macht  wirtschaftlicher  Zusammenhänge 
aus  gewissen  Motiven  sich  ergebende  regelmäßige  Wiederkehr  wirt- 
schaftlicher Erscheinungen  (Tendenzen  oder  Vorgänge)".^ 

Am  meisten  Bewegung  hat  in  neuester  Zeit  das  Problem  der 
geschichtlichen  Gesetze  hervorgerufen,  mehr  und  mehr  ist  es  zum 
Mittelpunkt  des  Kampfes  um  die  Gesamtauffassung  der  Geschichte 
geworden.  Je  mehr  seit  Beginn  der  Neuzeit  die  überkommene 
supranaturale  Vorstellung  von  der  Geschichte  wich,  desto  mehr  mußte 
es  dazu  drängen,  innerhalb  ihres  eignen  Bereiches  durchgehende 
Bewegungen  und  feste  Regelmäßigkeiten  aufzuweisen.  Die  Aufklärung 
prägte  solchem  Verlangen  ihren  eigentümlichen  Stempel  auf.  Ihre 
Geschichtsforschung  „zertrümmerte  das  bisherige  Geschichtsbild,  wie 
es  an  den  danielischen  Monarchien,  an  der  Apokalypse  oder  an 
Augustin  orientiert  war,  sie  deckte  eine  bisher  ungekannte  oder  un- 
beachtete Welt  auf,  eröffnete  unberechenbare  Zeiträume  der  Geschichte, 
verwies  den  Sündenfall  von  der  Spitze  der  Geschichte  weg  und 
konstruierte  einen  ganz  anderen  Urzustand  als  Ausgangspunkt.  — 
Indem  aber  diese  von  Wunder  und  Vorsehung  absehende  Erklärung 
ein  unendlich  verworrenes  Spiel  menschlicher  Kräfte  aufdeckte, 
empfand  man  zugleich  doppelt  das  Bedürfnis  nach  einem  einfachen, 
normalen  Gehalt  der  Geschichte,  den  man  in  den  Ideen  des  Natur- 
rechts, der  natürlichen  Moral  und  Religion  fand."^  Hatte  die  Philo- 
sophie zunächst  die  Neigung,  die  Geschichte  der  Vernunft  entgegen- 
zusetzen, so  erwuchs  bald  ein  Streben,  in  ihr  eine  gewisse  Ver- 
nunft und  zugleich  eine  Gesetzlichkeit  der  Bewegung  aufzudecken.  ^ 
Leibniz  namentlich  verficht  die  Idee  einer  durchgehenden  Kontinuität 

große  Wendungen  und  Umwälzungen  hervortreibt.  So  hat  es  namentlich 
Karl  Marx  in  engem  Anschluß  an  die  Hegeische  Geschichtsphilosophie  aus- 
geführt. Aber  auch  hier  entsteht  der  Widerspruch,  daß  eben  das,  was  aus 
gesetzlicher  Notwendigkeit  hervorgehen  soll,  zu  seinem  vollen  Siege  der 
Anerkennung  durch  den  Menschen,  der  Aufnahme  in  die  eigne  Überzeugung 
bedarf.  Nicht  zu  ruhiger  Kontemplation,  sondern  zu  energischer  Aktion 
wird  eben  hier  der  Mensch  aufgerufen. 

^  S.  «Naturgesetz  und  Wirtschaftsgesetz"  (Zeitschrift  für  die  gesamte 
Staatswissenschaft  1892,  Heft  3). 

*  S.  Tröltsch,  Real-Encyklopädie  für  Theologie  und  Kirche.  3.  Aufl. 
unter  „Aufklärung"  S.  231. 

*  S.  über  diese  Fragen  meine  Behandlung  der  Philosophie  der  Geschichte 
in  der  „Kultur  der  Gegenwart". 


Gesetz.  167 

der  geschichtlichen  Be^x'egung,  Vico  den  Gedanken  einer  regelmäßigen 
Folge  bestimmter  Stufen  in  der  Entwicklung  der  Völker  und  Epochen, 
immer  stärker  wird  das  Verlangen  nach  einer  durchgängigen  Ver- 
kettung der  Ereignisse  zum  Zusammenhang  eines  Ganzen.  Das 
19.  Jahrhundert  führt  die  Sache  erheblich  weiter,  indem  es  sowohl 
scharfe  Typen  der  Gesamtauffassung  der  Geschichte  ausprägt,  als  in 
der  unermeßlichen  Ausdehnung  der  Forschung  empirische  Regel- 
mäßigkeiten aufdeckt.  Jenes  geschieht  in  den  zugleich  entgegen- 
gesetzten und  nahe  verwandten  Systemen  Hegels  und  Comtes.  Dort 
eine  allumspannende  Logik,  hier  eine  langsame  Anhäufung,  der  ein- 
zelnen Elemente,  dort  eine  Bewegung  durch  schroffe  Gegensätze, 
hier  ein  ruhiges  Aufsteigen,  das  aber  deutlich  drei  Hauptstufen  (trois 
etats)  erkennen  läßt,  hier  wie  dort  ein  Ausschluß  aller  Willkür,  ein 
sicheres  Fortschreiten,  eine  völlige  Bestimmtheit  aller  Mannigfaltigkeit 
durch  den  jeweiligen  Stand  der  Gesamtbewegung.  Wurde  so  der 
Geschichte  von  der  Philosophie  eine  Gesetzlichkeit  zugeführt,  die 
leicht  ihren  überströmenden  Reichtum  in  einen  zu  engen  Rahmen 
preßte  und  alle  Irrationalität  wegzudeuten  beflissen  war,  so  hat  von 
der  anderen  Seite  her  die  Durchdringung  des  Stoffes  mittels  der 
Forschung  in  reichem  Maße  empirische  Regelmäßigkeiten  aufgedeckt. 
Dabei  wirkten  tief  in  die  Forschung  hinein  die  großen  Gegensätze 
des  modernen  Lebens.  Den  gesetzlichen,  ja  speziell  naturgesetzlichen 
Charakter  der  Geschichte  verstärkte  die  wachsende  Einsicht  in  die 
Abhängigkeit  des  menschlichen  Befindens  und  Tuns  von  äußeren  Be- 
dingungen, es  verstärkte  ihn  weiter  die  Erkenntnis  der  Abhängigkeit 
der  Individuen  vom  Ganzen,  vom  sozialen  „Milieu";  es  widersprach 
ihm  die  der  Aufklärung  entgegengehaltene  Individualität  und  Positivität 
der  Geschichte,^  es  widersprach  ihm  nicht  minder  die  Betonung  der 


*  So  vertritt  z.  B.  Steffensen  (Gesammelte  Aufsätze,  S.  278)  die  Über- 
zeugung, »daß  in  der  Geschichte  das  durch  und  durch  Indixaduelle,  das  in 
ihr  in  seinen  höchsten  Formen,  in  willenskräftigen  Persönlichkeiten  und 
Gesellschaften,  zu  oberst  in  der  Menschheit  selbst,  in  großen  Taten  und 
Leiden  eines  wahren  Werdeprozesses  offenbar  wird,  den  unvergleichlichen 
Reiz  hervorbringt,  den  das  geschichtliche  Wissen  für  den  menschlichen  Geist 
hat";  sowie  daß  „nicht  die  Bestätigung  von  der  Geltung  allgemeiner  em- 
pirischer Naturgesetze,  sondern  vielmehr  das  so  ganz  unverkennbare  Zu- 
sammenstoßen der  höchsten  irdischen  Natur,  des  inneren  Menschen,  mit 
idealen  Gesetzen,  besser  mit  idealen  Mächten,  welche  die  Unbedingtheit 
Gottes  widerspiegeln",  es  ist,  „was  uns  in  dem  dramatischen,  tragischen 
Gang  des  geschichtlichen  Lebens  die  Seele  erschüttert." 


168  Zum  Erkenntnisproblem. 

großen  Persönlichkeiten,  wie  sie  in  Carlyle  einen  besonders  prägnanten 
Ausdruck  gefunden  hat.  Es  ist  nicht  bloß  die  verschiedene  Schätzung 
von  Natur  und  Geist  in  unserer  Wirklichkeit,  es  ist  nicht  minder 
die  Frage  nach  dem  Inhalt  des  Geisteslebens,  es  ist  im  besondern 
das  Problem  der  Rationalität  oder  Irrationalität  unseres  Daseins, 
welche  die  Frage  nach  der  Gesetzlichkeit  der  Geschichte  verschieden 
beantworten  lassen. 

Diese  Gegensätze  erscheinen  auch  in  der  Behandlung  des 
methodologischen  Problems,  welches  heute  die  Forscher  bewegt 
und  vielfach  entzweit  Mit  besonderer  Energie  und  einleuchtender 
Klarheit  hat  neuerdings  Windelband  den  Unterschied  von  natur- 
wissenschaftlicher und  geschichtlicher  Behandlung  zum  Ausdruck 
gebracht.  ^  Dort  wird  das  Allgemeine  in  der  Form  des  Naturgesetzes, 
hier  das  Einzelne  in  der  geschichtlich  bestimmten  Gestalt  gesucht, 
dort  die  immer  sich  gleichbleibende  Form,  hier  der  einmalige,  in 
sich  bestimnite  Inhalt  des  wirklichen  Geschehens  betrachtet.  «Das 
wissenschaftliche  Denken  ist  —  wenn  man  neue  Kunstausdrücke 
bilden  darf  —  in  dem  einen  Falle  nomothetisch,  in  dem  andern 
idiographisch  (S.  26)";  ,;den  festen  Rahmen  unseres  Weltbildes  gibt 
jene  aligemeine  Gesetzmäßigkeit  der  Dinge  ab,  welche,  über  allen 
Wechsel  erhaben,  die  ewig  gleiche  Wesenheit  des  Wirklichen  zum 
Ausdruck  bringt;  und  innerhalb  dieses  Rahmens  entfaltet  sich  der 
lebendige  Zusammenhang  aller  für  das  Menschentum  wertvollen  Einzel- 
gestaltungen ihrer  Gattungserinnerung"  2  (S.  38).  Diese  Überzeugung 
ist  von  Rickert  in  geistvoller  und  selbständiger  Weise  weitergeführt;^ 
sie  hat  überhaupt  viel  literarische  Bewegung  hervorgerufen.  Gegen- 
über solcher  Richtung  auf  das  Individuelle  verficht  Lamprecht  die 
Überzeugung,  daß  das  Individuelle  nur  der  künstlerischen  Erfassung 
zugänglich  sei,  und  daß  das  wissenschaftliche  Denken  wie  überall, 
so   auch   in   der   Geschichte    nur   auf  das  Typische  gehen  könne; 


^  S.  „Geschichte  und  Naturwissenschaft",  Rektoratsrede  1894. 

^  Es  hatte  auch  schon  Paul  in  seinen  Prinzipien  der  Sprachgeschichte 
„Geschichtswissenschaften"  und  „Gesetzeswissenschaften"  unterschieden;  er 
sagt  dort  (S.  1):  „Wie  jedem  Zweige  der  Geschichtswissenschaft,  so  muß 
auch  der  Sprachgeschichte  eine  Wissenschaft  zur  Seite  stehen,  welche  sich 
mit  den  allgemeinen  Lebensbedingungen  des  geschichtlich  sich  entwickelnden 
Objektes  beschäftigt,  -welche  die  in  allem  Wechsel  gleichbleibenden  Faktoren 
nach  ihrer  Natur  und  Wirksamkeit  untersucht." 

^  S.  „Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung"  I  und  II. 


Gesetz.  169 

von   hier  aus  entwickelt    er   die  Lehre   von    sozialpsychischen   Ent- 
wicklungsstufen, die  in  bestimmter  Ordnung  verlaufen.^ 

Eine  nähere  Erörterung  an  dieser  Stelle  ist  nicht  wohl  möglich; 
auf  das  Hauptproblem  wird  der  Artikel  Geschichte  zurückführen. 
Hier  sei  nur  zweierlei  bemerkt.  Zunächst,  daß  auch  eine  volle 
Würdigung  der  Tatsächlichkeit  und  Einmaligkeit  der  Geschichte 
nicht  verhindert,  gewisse  Regelmäßigkeiten  in  ihr  anzuerkennen.  Die 
Art  z.  B.,  wie  sich  der  Ablauf  der  Entwicklung  eines  ganzen  Volkes, 
und  wie  sich  die  Bewegung  von  einzelnen  Gebieten  wie  Religion, 
Kunst  u.  s.  w,  in  verschiedenen  Kulturepochen  vollzieht,  kann  als 
Erzeugnis  der  bleibenden  Art  des  Menschen  sehr  wohl  etwas  ver- 
wandtes, ja  gleichmäßiges  haben.  Insofern  könnten  unbedenklich  Ge- 
setze der  Geschichte  anerkannt  werden.  Aber  sie  würden  dann  nur 
die  Form  des  Geschehens  betreffen,  der  Inhalt  würde  der  Individualiät 
der  einzelnen  Epochen  verbleiben  und  sich  damit  aller  Ableitung 
entziehen.  —  Wie  viel  Selbständigkeit  ferner  die  Einzelvorgänge  in 
der  "Geschichte  haben,  und  wieweit  die  ganze  Geschichte  als  ein 
Einzelvorgang  zu  fassen  ist,  das  wird  sich  verschieden  gestalten  je 
nach  der  prinzipiellen  Fassung  des  Geisteslebens  und  seines  Ver- 
hältnisses zur  menschlichen  Lage.  Diese  Fassung  entscheidet  dar- 
über, ob  Persönlichkeiten  oder  Massenwirkungen  den  Kern  der 
geschichtlichen  Bewegung  bilden.  Das  alles  aber  weist  über  das 
methodologische  Problem  hinaus  und  wird  uns  später  zu  beschäftigen 
haben. 


*  Über  den  Streit  um  Gesetze  der  Geschichte  orientiert  vortrefflich 
Bemheim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode  und  der  Geschichtsphilosophie. 
3.  u.  4.  Aufl.    S.  91  ff. 


C.  Zum  Weltproblem. 

1.  Monismus  und  Dualismus. 

Auch  bei  der  Wendung  zu  den  Weltproblemen  wird  uns  das 
■•  ■■  Problem  des  Lebensprozesses,  speziell  des  Geisteslebens,  stets 
gegenwärtig  bleiben.  Denn  auch  dort  liegt  die  Entscheidung  nicht 
bei  abstrakt-begrifflichen  Erwägungen,  sondern  beim  Tatbestande 
der  Wirklichkeit;  dafür  aber  ist  nichts  wichtiger  als  die  Frage,  welchen 
Inhalt  das  Geistesleben  zeigt  und  welche  Stellung  es  damit  gewinnt; 
hier  liegt  das  Zentrum,  wohin  alle  besonderen  Untersuchungen  zu 
bringen  sind,  und  wo  seine  letzte  Würdigung  findet,  was  die  Er- 
fahrung an  der  Breite  der  Dinge  ermittelt  hat;  sucht  doch  in  allen 
Kämpfen  um  die  Weite  der  Welt  schließlich  der  Mensch  sich  selbst, 
den  Kern  seines  eignen  Wesens.  Auch  die  geschichtliche  Betrachtung 
bestätigt  das  durch  den  Nachweis,  daß  es  überall  die  eigentümliche 
Gestaltung  des  Geisteslebens  war,  welche  die  Theorien  erzeugte  und 
zur  Macht  erhob. 


a)  Zur  Geschichte  und  Kritik  der  Begriffe. 

Die  Ausdrücke  Monismus  und  Dualismus  entstammen  den  letzten 
Jahrhunderten.  Dualismus  verwandte  zuerst  Thomas  Hyde  in  der 
1700  erschienenen  Schrift  Historia  religionis  veterum  Persarum 
(z.  B.  Kap.  IX,  S.  164)  zur  Bezeichnung  eines  religiösen  Systems, 
das  dem  guten  Prinzip  ein  böses  als  gleichewig  zur  Seite  stellt;  in 
diesem  Sinne  ward  das  Wort  durch  Bayle  (s.  den  Artikel  Zoroastre) 
und  Leibniz  (s.  Theodicee  II,  144,  199)  an  weitere  Kreise  gebracht. 
Als  Gegenstück  zu  „Monismus"  gebrauchte  es  zuerst  Wolff,  aber 
zugleich  übertrug  er  die  Ausdrücke  auf  das  Verhältnis  von  Körper 
und  Geist:  Monisten  —  das  Wort  ist  von  Wolff  gebildet  —  heißen 
nunmehr,   die  nur  eine  Art  des  Seins,  sei  es  Körper  sei  es  Seelen, 


Monismus  und  Dualismus.  171 

annehmen,  also  sowohl  die  Idealisten  als  die  Materialisten,  Dualisten 
dagegen,  welche  Körper  und  Seelen  als  voneinander  unabhängige 
Substanzen  betrachten.^  Wolff  selbst  wollte  Dualist  sein.  Beide 
Ausdrücke  blieben  auf  die  Schule  beschränkt,  namentlich  Monist  er- 
scheint bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  äußerst  selten.  In  weiteren 
Umlauf  brachten  das  Wort  zuerst  Hegelianer  als  Bezeichnung  ihrer 
eignen  Denkweise,  so  erschien  1832  eine  Schrift  von  Göschel  »Der 
Monismus  des  Gedankens".  Dann  folgte  wieder  eine  Ebbe,  bis  die 
darwinistische  Entwicklungslehre  (Häckel  und  Schleicher)  den  Aus- 
druck ergriff  und  ihn  sich  anpaßte.  Weiter  aber  bezeichnet  er  jedes 
System,  das  Körper  und  Seele,  Natur  und  Geist  nicht  einander, 
sondern  beide  einem  überlegenen  Dritten  unterordnen  und  einfügen 
will.  In  diesem  Sinne  werden  oft  Monismus  und  Spinozismus  als 
gleichbedeutend  genommen. 

So  führen  uns  jetzt  die  Ausdrücke  auf  das  Verhältnis  von 
Körper  und  Seele  oder  —  in  Ausdehnung  über  das  Weltall  —  auf 
das '  von  Natur  und  Geist.  Der  Gegensatz,  der  dabei  entsteht, 
erhält  eine  besondere  Schroffheit  dadurch,  daß  er  den  Kern  unseres 
eignen  Wesens  betrifft,  und  daß  er  im  Fortgang  der  weltgeschicht- 
lichen Arbeit  unablässig  zu  wachsen  scheint.  Die  Welt,  so  scheint 
es,  eröffnet  sich  uns  in  zwiefacher  Weise:  von  außen  her  durch 
sinnliche  Empfindung,  von  innen  her  durch  selbsttätiges  Denken,  als 
ein  Reich  von  sinnlichen  Eindrücken  und  als  ein  Reich  unsinnlicher 
Gedankengrößen;  wird  die  eine  Reihe  die  andere  in  sich  auf- 
nehmen können,  oder  auch  ein  tieferes  Eindringen  den  Gegensatz 
in  einen  bloßen  Schein  verwandeln?  Zum  Gegensatz  der  Betrachtungs- 
weisen kommt  der  wachsende  Abstand  des  Inhalts  beider  Welten. 
Aus  der  Natur  hat  die  Wissenschaft  zu  Gunsten  einer  präzisen  Be- 
greifung und  einer  sicheren  Beherrschung  immer  mehr  alles  seelische 
Element  vertrieben,  zugleich  aber  hat  das  Seelenleben  im  eignen 
Kreise  sich  immer  weiter  über  die  bloße  Natur  hinausgehoben  und 
sich  immer  mehr  zu   einem    selbständigen  Reiche    ausgebildet.     So 

*  Es  ergab  sich  danach  bei  Wolff  folgendes  Scliema  philosophischer 
Parteien : 

Skeptiker  Dogmatiker 


Monisten  Dualisten 


Idealisten  Materialisten 


Egoisten  Pluralisten 


172  Zum  Weltproblem. 

läßt  der  Verlauf  der  Geschichte  das  Körperliche  immer  seelenloser, 
das  Seelische  immer  spiritueller  erscheinen.  Das  müßte  den  Dua- 
lismus empfehlen,  aber  zugleich  wachsen  die  Antriebe  zum  Monis- 
mus hin,  da  nicht  nur  die  exakte  Forschung  den  Zusammenhang  von 
Seelenleben  und  Körper  immer  deutlicher  aufweist  und  immer  weiter 
ins  Einzelne  verfolgt,  sondern  auch  ein  zunehmender  Drang  nach 
Einheit  dem  Menschen  ein  Nebeneinander  verschiedener  Welten 
verbietet.  So  tritt  unseren  Begriffen  immer  weiter  auseinander,  was 
die  Erfahrung  immer  enger  verschlungen  zeigt;  so  treibt  es  uns 
immer  zwingender  zur  Umwandlung  des  widerspruchsvollen  Bildes. 
Die  Hauptrichtungen  solches  Strebens  zeigt  die  Geschichte  in  deut- 
lichem Bude;  was  sie  aber  zeigt,  ist  nicht  mit  der  besonderen  Zeit 
erloschen,  sondern  es  bleibt  als  eine  Möglichkeit  stets  gegenwärtig 
und  fordert  immer  von  neuem  zur  Entscheidung  auf;  bei  allen 
Wandlungen  der  Begriffe  behaupten  sich  charakteristische  Denk- 
und  Lebenstypen  durch  den  Lauf  der  Zeiten  bis  in  die  Gegenwart. 
Es  geht  aber  die  lebendige  Geschichte,  d.  h.  die  Geschichte, 
die  in  die  eigne  Arbeit  hineinreicht,  nicht  hinter  Descartes  zurück; 
alles  Frühere  ist  für  uns  zur  bloßen  Historie  geworden.  Denn 
wohl  haben  schon  das  Altertum  und  das  Mittelalter  sich  viel  mit 
dem  Probleme  befaßt,  aber  alle  Arbeit  hatte  bis  zu  Beginn  des 
17.  Jahrhunderts  nicht  zu  einer  präzisen  Fassung  und  deutlichen 
Auseinandersetzung  der  Begriffe  geführt.  Die  Vorstellung  des 
Seelischen  enthielt  mehr  eine  Verneinung  des  Körperlichen  als  eine 
positive  Behauptung;  1  so  war  es  nicht  zu  vermeiden,  daß  immer 
wieder  das  Bild  einer  nur  feineren,  subtileren,  luftartigen  Körper- 
lichkeit in  sie  eindrang.  Der  Körper  aber  schien  belebt,  gebildet, 
bewegt  von  seelenartigen  Kräften,  die  ganze  Natur  war  innerlich 
belebt.2  Bei  solchem  Stande  der  Begriffe  bediente  sich  die  Erklärung 
der  Natur  fortwährend  seelischer  Größen  und  verschloß  sich  damit 
eine  exakte  Begreifung  der  Vorgänge.  Andererseits  geriet  die 
Psychologie  unter  den  Einfluß  sinnlicher  und  räumlicher  Begriffe, 
es  erregte   keinen  Anstoß,  Wirkungen  von  außen  in  die  Seele  ein- 


*  So  konnte  Descartes  mit  gutem  Grunde  sich  dessen  rühmen,  daß  er 
zuerst  das  Ganze  der  Seele  als  Denken,  d.  h.  bewußte  Tätigkeit,  positiv  be- 
stimmt habe. 

*  Bezeichnend  dafür  ist  die  aristotelische  Definition  der  Natur  als 
dessen,  was  das  «Prinzip  der  Ruhe  und  Bewegung  in  sich  trägt",  im  Gegen- 
satze zur  Kunst,  die  es  außer  sich  hat. 


Monismus  und  Dualismus.  173 

fließen  und  Willensimpulse  in  räumliche  Bewegungen  übergehen  zu 
lassen.  Es  war  ein  chaotischer  Stand,  der  weder  der  Natur  noch  der 
Seele  ihr  Recht  gewährte. 

Erst  die  Aufklärung  hat  diesen  Stand  überwunden,  namentlich 
ist  es  Descartes,  der  eine  durchgreifende  Scheidung  und  Klärung 
vollzieht  Nun  erst  wird  jedem  Gebiet  eine  volle  Eigentümlichkeit 
zuerkannt.  Das  Seelenleben  wird  als  ein  reines  Beisichselbstsein 
verstanden,  dessen  Einheit  des  Wesens  (unitas  essentiae)  sich  scharf 
von  aller  Einheit  einer  bloßen  Zusammensetzung  (unitas  compo- 
sitionis)  scheidet,  wie  solche  die  Außenwelt  bietet;  das  Bewußtsein 
geht  hier  aller  besonderen  Tätigkeit  voran  und  verleiht  ihr  erst 
einen  seelischen  Charakter;  die  seelische  Bewegung  kehrt  immer  zu 
sich  selbst  zurück  und  kettet  alle  Mannigfaltigkeit  an  ein  beherr- 
schendes Ich.  In  ein  solches  Seelenleben  kann  nichts  von  draußen 
einfließen,  sondern  alle  Anregung  kann  es  nur  reizen,  aus  seinem 
eignen  Grunde  gewisse  Leistungen  hervorzubringen;  so  bleibt  es 
auch  in  scheinbarer  Abhängigkeit  von  draußen  im  Grunde  stets  bei 
sich  selbst.  Solcher  Selbständigkeit  der  Seele  entspricht  ein  Selb- 
ständigwerden der  Natur.  Die  Massen  und  Bewegungen,  die  ihr 
nach  Austreibung  alles  seelischen  Elementes  verbleiben,  bilden  eine 
eigne  Welt;  die  Bewegung,  für  die  bis  dahin  eine  Seele  unentbehr- 
lich dünkte,  wird  nun  den  kleinsten  Teilchen  von  Haus  aus  bei- 
gelegt; das  macht  es  möglich,  aus  der  Zusammensetzung  kleinster 
—  bewegter,  aber  seelenloser  —  Teilchen  alle  unermeßliche  Mannig- 
faltigkeit der  Natur  hervorgehen  zu  lassen.  Alle  inneren  Kräfte  und 
Strebungen  verschwinden  damit  aus  ihr.  Ja,  die  ganze  bunte  Fülle  der 
sinnlichen  Eigenschaften,  mit  der  in  Farben ,  Tönen  u.  s.  w.  die 
menschliche  Fassung  die  Natur  umkleidet,  sie  erscheint  nun  nicht 
als  den  Dingen  selbst  angehörig,  sondern  als  ihnen  von  der  Seele 
geborgt,  als  vom  Menschen  in  sie  hineingelegt 

So  scheiden  sich  scharf  beide  Seiten,  so  scharf,  daß  sich 
ein  letzter  Abschluß  dabei  verbot  Aber  so  viele  neue  Fragen  und 
Verwicklungen  diese  Spaltung  hervorrief,  sie  ist  ein  gewaltiger  Fort- 
schritt, der  fruchtbarste  Anregungen  brachte.  Nun  erst  konnten  die 
beiden  Gebiete  ihre  eigentümlichen  Prinzipien  und  Methoden  mit 
voller  Klarheit  herausarbeiten,  nun  erst  ließ  sich  das  Seelische  see- 
lisch, das  Körperliche  körperlich  verstehen,  eröffnete  sich  eine  exakte 
Physik  und  eine  erklärende  Psychologie.  Wie  ein  Schleier  fiel  es 
jetzt  von  den  Dingen,  nun  erst  schien  die  Wirklichkeit  sich  uns  völlig 


174  Zum  Weltproblem. 

aufzuhellen.  Dazu  brachte  jene  Scheidung  nicht  bloß  eine  Klärung 
der  Begriffe,  sie  entsprach  der  zwiefachen  Richtung  des  Lebens  und 
der  Kultur,  die  von  jener  Zeit  an  durch  die  Neuzeit  geht.  Einer- 
seits eine  erhöhte  Tätigkeit  des  Denkens,  ein  Umsetzen  der  Wirk- 
lichkeit in  Gedankengrößen,  ein  Messen  des  Daseins  an  Forderungen 
der  Vernunft,  ein  Streben  nach  Rationalisierung  aller  Verhältnisse, 
eine  kühn  über  alle  bisherige  Bindung  vordringende  Intellektual- 
kultur;  andererseits  ein  volles  Selbständigwerden  der  Außenwelt 
gegenüber  dem  Menschen,  eine  engere  Verflechtung  seiner  mit  der 
Umgebung,  ein  unermeßliches  Wachstum  der  Erfahrung,  eine  er- 
höhte Bedeutung  der  materiellen  Faktoren,  ein  immer  stärkeres 
Anschwellen  einer  Realkultur;  wer  könnte  leugnen,  daß  diese  zwei" 
Ströme  durch  das  Leben  der  Neuzeit  gehen,  es  in  eine  unaufhör- 
liche Spannung  versetzen  und  durch  die  ganze  Breite  der  Dinge 
in  Gegensätze  auseinandertreiben?  Dieser  Gegensatz  des  Lebens 
ist  die  tiiefste  Wurzel  des  Dualismus  der  Begriffe  und  Lehren,  aus 
ihm  schöpft  dieser  immer  neue  Kraft,  so  sehr  das  Verlangen  nach 
Einheit  die  Geister  über  ihn  hinaustreiben  mag. 

Ein  solches  Verlangen  war  allerdings  unabweisbar,  denn  ab- 
schließen konnte  die  Denkarbeit  bei  jenem  Dualismus  nicht.  Er 
hatte  eine  kräftige  Analyse  vollzogen  und  die  Begriffe  dauernd  ver- 
schärft, aber  von  der  Analyse  drängte  es  immer  wieder  zu  irgend- 
welcher Synthese,  vom  Gegensatz  zu  irgendwelcher  umfassenden 
Einheit.  Auch  fehlte  es  nicht  an  gewichtigen  Gründen  gegen  jene 
Zerspaltung  der  Wirklichkeit,  Ihr  widerspricht  nicht  nur  der  un- 
mittelbare Eindruck  einer  engen  Zusammengehörigkeit  von  Seele  und 
Körper,  sowie  die  wachsende  Erkenntnis  der  Abhängigkeit  des  Seelen- 
lebens von  körperlichen  Bedingungen,  ihr  widerspricht  auch  die  philo- 
sophische Forderung  einer  Einheit  der  Wirklichkeit,  ihr  widerspricht 
endlich  die  Tatsache  der  Kunst  mit  ihrer  engen  Verflechtung  und 
fruchtbaren  Wechselwirkung  von  Sichtbarem  und  Unsichtbarem,  von 
Äußerem  und  Innerem.  Alles  zusammen  ließ  den  Dualismus  als 
einen  bloßen  Durchgang  zur  Einheit  erscheinen;  diese  Einheit  fand 
sich  allerdings  nicht  fertig  vor,  sie  war  durch  geistige  Arbeit  erst  zu 
gewinnen,  und  diese  durfte  dabei  einen  Gegensatz  zum  nächsten 
Eindruck  nicht  scheuen.  So  ist  das  Einheitsstreben  in  der  Neuzeit 
kühner  geworden  als  je  zuvor. 

Es  sind  aber  drei  Hauptrichtungen,  in  welche  dies  Streben 
auseinanderging,   die  Richtungen  des  Materialismus,    Spiritualismus, 


Monismus  und  Dualismus.  175 

Monismus:  entweder  wird  das  Körperliche,  oder  es  wird  das  Seelische 
zum  allumfassenden  Sein,  oder  es  wird  beides  zu  Seiten,  Erscheinungen, 
Ausdrucksweisen  einer  tiefer  gegründeten  Wirklichkeit. 

Wie  es  einen  Materialismus  in  strengem  Sinne  erst  seit  der 
durch  Descartes  erfolgten  Klärung  der  Begriffe  gibt,  so  hat  er  auch 
damals  erst  eine  feste  Bezeichnung  erlangt.  ^  Der  Materialismus 
durchlief  nacheinander  die  großen  Kulturvölker  und  hat  bei  den 
Engländern  die  tüchtigste,  bei  den  Franzosen  die  geistreichste,  bei 
den  Deutschen  die  derbste  Gestalt  gefunden;  oft  widerlegt  und  zu 
Boden  geworfen,  ist  er  immer  von  neuem  erstanden,  und  hat  er 
immer  von  neuem  weite  Kreise  gewonnen.  Das  bekundet  doch 
wohl,  daß  mehr  in  ihm  steckt  als  naive  Gemüter  wähnen,  die  ihn 
durch  scharfsinnige  Widerlegungen  endgültig  abgetan  glauben  und 
sich  wundern,  daß  immer  wieder  Menschen  dem  längst  durchschauten 
Irrtum  verfallen.  In  Wahrheit  wäre  der  Materialismus  leicht  zu  be- 
zwingen, wenn  bei  ihm  bloß  theoretische  Erwägungen  in  Frage 
ständen.  Denn  so  gewiß  der  Materialismus  die  unbestreitbare  Ab- 
hängigkeit des  Seelenlebens  von  körperlichen  Bedingungen,  sowie 
den  Vorzug  einer  großen  Einfachheit  und  Gemeinverständlich- 
keit für  sich  anrufen  kann,  die  Abhängigkeit  läßt  sich  auch  in  anderer 
Weise  verstehen,  und  die  Einfachheit  verbleibt  nur  so  lange,  als  eine 
Analyse  der  Begriffe  unterbleibt.  Denn  kaum  gibt  es  einen  schwie- 
rigeren und  problematischeren  Begriff  als  den  der  Materie,  er  ent- 
weicht uns,  wo  wir  ihn  zu  fassen  glauben;  je  präziser  wir  ihn  aber 
nehmen,  desto  unmöglicher  wird  es,  aus  ihm  seelisches  Leben  her- 
vorgehen zu  lassen.  Gerade  die  moderne  Klärung  der  Begriffe 
vom  Körperlichen  und  Seelischen,  mit  der  die  exakte  Naturwissen- 
schaft steht  und  fällt,  hat  den  Materialismus  als  Weltanschauung 
unmöglich  gemacht;  mit  Recht  sagt  daher  F.  A.  Lange,  daß  den 
Materialismus  scharf  denken  ihn  widerlegen,  heiße. 

Aber  es  sind  nicht  wissenschaftliche  Erwägimgen,  es  sind 
Kultur-  und  Lebenslagen,  welche  dem  Materialismus  eine  Anziehungs- 
und Überzeugungskraft  geben.  Wir  finden  ihn  stark  und  sieg- 
reich   in    solchen   Zeiten,    wo    überlieferte   Kulturformen    ihre    volle 


^  Der  Ausdruck  Materialist  erscheint  zuerst  bei  dem  Chemiker  und 
Naturphilosophen  Robert  Boyle  (so  in  der  1674  erschienenen  Schrift:  The 
excellence  and  grounds  of  the  mechanical  philosophy),  der  eine  Vorliebe  für 
feste  Termini  hatte.  Noch  Giordano  Bruno  verwandte  den  älteren  Ausdruck 
»Epikureer". 


176  Zum  Weltproblem. 

Wahrheit  eingebüßt  haben  und  von  vielen  als  ein  tyrannischer  Druck 
empfunden  werden;  der  Materialismus  erscheint  dann  sowohl  als 
das  beste  Mittel  zur  Befreiung  von  drückenden  Fesseln  wie  als  ein, 
Rückgang  auf  einfache  Grundlagen  des  Lebens,  er  scheint  eine 
natürlichere  und  wahrere  Gestaltung  aller  Verhältnisse  zu  versprechen. 
Auch  bringt  er  die  Bedeutung  der  materiellen  Lebensbedingungen 
für  das  Ganze  der  Kultur  mit  besonderem  Nachdruck  zur  Geltung. 
So  riß  er  die  Geister  fort  in  den  Bewegungen  vor  und  in  der 
französischen  Revolution,  so  auch  beim  Sozialismus  der  Gegenwart. 

Was  so  das  Leben  hervorgebracht  hat,  kann  auch  nur  das 
Leben  widerlegen,  es  widerlegt  es  aber  sowohl  in  negativer  als  in 
positiver  Weise,  negativ  durch  den  inneren  Widerspruch,  dem  eine 
materialistische  Gestaltung  der  Kultur  durch  ihre  eigne  Entwicklung 
verfällt,  positiv  durch  die  Gegenwirkung  einer  andersartigen  Kultur. 
Jener  Widerspruch  wurzelt  darin,  daß  dort  den  materiellen  Größen 
als  eigne  Leistung  beigelegt  wird,  was  ein  überlegenes  Geistesleben 
aus  ihnen  macht;  wie  dieses  in  der  sichtbaren  Welt  uns  unver- 
gleichlich mehr  wahrnehmen  läßt  als  die  Sinne  direkt  zeigen,  so  macht 
es  die  materiellen  Güter  wertvoll  als  ein  Werkzeug  für  die  Betätigung 
und  Entwicklung  vernünftiger  Lebewesen;  wie  vom  Materialismus 
dort  der  Zuschauer,  so  wird  hier  unvermerkt  eine  zwecktätige 
Persönlichkeit  hinzugedacht  und  ihr  Erlebnis  wie  ein  äußeres  Er- 
eignis behandelt.  Indem  aber  die  materialistische  Lebensgestaltung 
das  Streben  und  die  Arbeit  von  dem  Träger  des  Lebens  ablenkt, 
überliefert  sie  ihn  einer  wachsenden  Verkümmerung  und  Leere;  hat 
nun  zugleich  jenes  Wachstum  der  Beziehungen  nach  außen  einen 
gewaltigen  Lebensdurst  erzeugt,  so  muß  ein  schreiendes  Mißverhältnis 
zwischen  unserem  Verlangen  und  unserem  Besitz  entstehen;  das  Miß- 
behagen, das  daraus  hervorgeht,  wird  schließlich  mit  Sicherheit  über 
eine  materialistische  Lebensführung  hinaustreiben. 

Die  weltgeschichtliche  Arbeit  zeigt  das  in  großen  Zügen  und 
vollzieht  durch  das  Ganze  ihres  Verlaufs  eine  Überwindung  des 
Materialismus.  Der  durch  jahrtausendlange  Arbeit,  durch  fruchtbare 
Erfahrungen  und  schmerzliche  Enttäuschungen  zu  einem  Innenleben 
geweckte  Mensch  kann  unmöglich  mit  dem  Kinde  und  dem  Wilden 
in  der  materiellen  Welt  seine  ganze  Wirklichkeit  sehen  und  in  ihren 
Gütern  seine  Befriedigung  finden.  Die  materielle  Welt  selbst  hat 
für  ihn  durch  jene  Bewegung  ein  wesentlich  anderes  Ansehen  ge- 
wonnen.    Aus  dem  bunten  Reich  der  sinnlichen  Eindrücke  ist  jetzt 


Monismus  und  Dualismus.  177 

ein  Gewebe  von  Kräften,  Gesetzen,  Beziehungen  geworden;  nicht 
mehr  die  Handfestigkeit  der  Sinnesempfindung  verbürgt  uns  die 
Wirkhchkeit  des  Ganzen,  sondern  die  kausale  Ordnung  mit  ihrer 
Verkettung  aller  Mannigfaltigkeit  und  ihrer  Einfügung  alles  Ge- 
schehens unter  einfache  Gesetze.  Auch  die  Außenwelt  ist  ins 
Unsinnliche  verwandelt,  dem  Denken  entsprungene  Größen,  ideelle 
Größen,  bilden  ihren  Kern.  Wohl  bleibt  hier  die  geistige  Tätigkeit 
an  einen  ungeistigen  Vorwurf  gebunden,  aber  auch  so  ist  sie  weit 
verschieden  von  aller,  noch  so  fortgebildeten  Sinnlichkeit.  Welcher 
Abstand  ist  zwischen  der  Welt  des  Naturforschers  und  der  des  Natur- 
menschen mit  noch  so  geübten  Sinnesorganen! 

Nicht  minder  verwandeln  sich  dem  Kulturmenschen  die  äußeren 
Güter.  Was  sie  heute  ihm  wertvoll  macht,  ist  weniger  der  sinnliche 
Reiz  und  Genuß,  als  die  Herrschaft  über  die  Dinge,  das  Vermögen, 
diese  nach  eignem  Wollen  zu  bewegen  und  damit  das  eigne  Leben 
ins  Unbegrenzte  zu  steigern.  So  genießt  der  Kulturmensch  nicht 
sowohl  die  Dinge  als  sich  selbst  in  den  Dingen,  sein  Denken  gibt 
dem  Sinnlichen  Wert  und  gestaltet  es  zu  Gedankengrößen.  Welcher 
Abstand  liegt  hier  zwischen  der  Lust  des  Wilden  am  Glanz  des 
Goldes  und  dem  Selbstgefühl  des  großen  Geschäftsmannes,  dessen 
wirtschaftliche  Macht  den  Erdball  umspannt  und  sich  dabei  von  den 
sinnlichen  Wertzeichen  ganz  emanzipiert  hat! 

So  wirken  in  der  eignen  Gestaltung  der  materiellen  Welt 
geistige  Kräfte,  die  der  Materialismus  nicht  verstehen  kann.  Aber 
zugleich  leuchtet  ein,  daß,  was  dabei  an  Lebensentfaltung  aufgeboten 
wird,  als  Abschluß  unmöglich  ist;  was  so  viel  an  einem  fremden  Stoffe 
leistet,  muß  notwendig  auch  bei  sich  selbst  etwas  sein;  alle  Unter- 
werfung des  Äußeren  und  alle  Ausdehnung  der  Macht  schützt  nicht 
vor  peinlicher  Leere,  wenn  dem  Geistesleben  nicht  irgendwelcher 
Inhalt  gegeben  wird.  Diesen  aber  kann  ihm  alle  Steigerung  materieller 
und  wirtschaftlicher  Macht  unmöglich  gewähren.  So  muß  der  Versuch, 
das  Glück  von  außen  her  zu  begründen,  schließlich  eine  große 
Enttäuschung  und  Erschütterung  ergeben.  Die  materialistische  Lebens- 
gestaltung wird  mit  dem  Glückverlangen,  das  sie  selber  angefacht 
hat,  aufs  härteste  zusammenstoßen  und  dabei  zusammenbrechen. 
So  muß  sich  auch  praktisch  der  Materialismus  durch  seine  eigne 
Entwicklung  widerlegen.  Aber  alle  solche  Kritik  und  kritische  Auf- 
lösung ist  noch  keine  positive  Überwindung.  Eine  solche  ist  nur 
möglich    durch    eine   kräftige  Entfaltung  selbsttätigen   Geisteslebens; 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  12 


178  Zum  Weltproblem. 

wo  dies  mit  seinen  Aufgaben  die  Gemüter  erfüllt,  da  wird  es 
kaum  begreiflich  dünken,  wie  der  Mensch  das  ihm  innerlich  Nächste 
und  die  Quelle  seiner  eigentümlichen  Größe  mit  dem  Materialismus 
als  etwas  Abgeleitetes  behandeln,  seine  eigne  Existenz  auf  den  Kopf 
stellen,  sein  Glück  von  außen  her  suchen  kann. 

Vermag  der  Materialismus  mit  seiner  Sinnfälligkeit  und  schein- 
baren Selbstverständlichkeit  besonders  auf  die  breiten  Massen  zu 
wirken,  so  ist  der  Spiritualismus  eher  eine  Sache  einzelner  vornehmer 
Geister  und  auserlesener  Kreise.  Denn  er  hat  den  unmittelbaren 
Eindruck  gegen  sich,  ohne  geistige  Energie  ist  der  von  ihm  ver- 
suchte Weg  nicht  zu  Ende  zu  gehen.  Es  zeigt  aber  die  Neuzeit 
den  Spiritualismus  in  zwiefacher  Gestalt:  die  Wirklichkeit  erscheint 
entweder  als  ein  Reich  von  lauter  einzelnen  Seelen,  oder  als  das 
Leben  und  Sein  eines  Gesamtgeistes,  jenes  bei  Leibniz,  dieses  in  der 
neueren  deutschen  Spekulation,  am  großartigsten  bei  Hegel.  Hier 
wie  da  soll  die  Außenwelt  sich  gänzlich  in  Innenleben  verwandeln, 
das  Verhältnis  von  Geist  und  Natur  wird  nicht  als  ein  Gegensatz, 
sondern  als  eine  Stufenfolge  innerhalb  des  Geistes  verstanden;  das 
Sinnliche  wird  hier  statt  einer  in  sich  selbst  gegründeten  Welt  eine 
niedere,  noch  nicht  zur  vollen  Bewußtheit  gelangte  Art  des  seelischen 
oder  geistigen  Lebens. 

Diese  Denkweise  braucht  nur  ausgedacht  zu  werden,  um  sich 
minder  wunderlich  darzustellen,  als  sie  beim  ersten  Anblick  scheinen 
mag;  ist  uns  doch  das  Innenleben  die  nächste  und  gewisseste  Wirk- 
lichkeit, und  zeigt  die  einfachste  Besinnung,  daß  wir  diesen  Kreis  nie 
gänzlich  verlassen  und  uns  in  ein  anderes  Sein  versetzen  können, 
daß  auch,  was  Außenwelt  heißt,  nur  eine  besondere,  eine  eigentümlich 
gebundene  Art  des  Innenlebens  bedeutet. 

Aber  so  berechtigt  und  überzeugend  der  allgemeine  Gedanke 
sein  mag,  beim  Versuch  einer  strikten  Ausführung  überspannt  sich 
leicht  das  menschliche  Vermögen  und  wird  unser  Besitz  überschätzt. 
Die  Spiritualisten  können  nicht  unternehmen,  die  Natur  ganz  und 
gar  in  Geist  umzusetzen,  ohne  unser  Geistesleben  als  Geistesleben 
schlechthin,  als  absolutes  Geistesleben  zu  behandeln.  Zu  einer  Stufe 
menschlichen  Geisteslebens  aber  läßt  die  Natur  sich  nun  und  nimmer 
herabsetzen;  jenem  gegenüber  erweist  sie  eine  viel  zu  selbständige 
Art  und  verfolgt  sie  viel  zu  sehr  ihren  eigenen  Weg,  ihm  leistet 
sie  einen  viel  zu  hartnäckigen  Widerstand.  Solcher  Selbständigkeit 
der  Natur  und  solcher  Härte  ihres  Widerstandes  hat  sich  der  Spiri- 


Monismus  und  Dualismus.  lyg 

tualismus  nur  gewachsen  fühlen  können,  indem  er  das  Geistesleben 
in  bloßes  Denken  und  Erkennen  verwandelte  und  das  Ungeistige 
als  etwas  verstand,  das  noch  nicht  voll  aufgeklärt  sei,  das  noch  auf 
der  Stufe  der  Unbewußtheit  verharre.  Aber  das  war  ein  kecker 
Intellektualismus,  der  aus  dem  Weltleben  eine  bloße  Weltansicht 
machte,  der  damit  die  Wirklichkeit  verflüchtigte  und  alles  lebendigen 
Inhalts  beraubte.  Begreiflich  ist  solche  intellektualistische  Überschätzung 
des  menschlichen  Vermögens  nur  aus  der  Eigentümlichkeit  beson- 
derer Kulturlagen,  wo  das  Bewußtsein  geistiger  Kraft  und  das  Voll- 
gefühl geistigen  Schaffens  den  Menschen  sich  als  den  Mittelpunkt 
der  Wirklichkeit  fühlen  ließ  und  ihn  über  alle  Schwere  der  Dinge  in 
kühnem  Fluge  hinaushob.  Aber  jene  Schwere  wird  bald  bemerklich 
werden,  jene  Art  der  Kultur  sich  als  zu  flach  erweisen.  Damit 
aber  fällt  aller  Spiritualismus,  der  sich  als  ein   fertiges  System  gibt. 

Das  Mißlingen  der  Versuche,  eine  der  beiden  Lebensformen 
ausschließlich  durchzusetzen,  mußte  dem  Monismus  zu  Gute  kommen. 
Aucfi  er  will  eine  Einheit,  aber  er  will  sie  nicht  durch  Aufopferung 
der  einen  Seite  an  die  andere,  sondern  durch  Einfügung  beider  in 
ein  umfassendes  Drittes;  hier  scheint  jedes  Gebiet  seine  Eigentüm- 
lichkeit voll  entfalten  zu  können,  ohne  aus  der  Gemeinschaft  heraus- 
zutreten, hier  entfällt  die  Schwierigkeit  einer  Wechselwirkung  zwischen 
Körper  und  Seele,  da  dem  Vorgehen  auf  der  einen  Seite  unmittel- 
bar eins  auf  der  anderen  entspricht.  Zu  Gunsten  des  Monismus 
als  Lebensgestaltung  aber  wirkt  namentlich  das  hier  erstrebte  und 
vermeintlich  gewonnene  Gleichgewicht  zwischen  Natur  und  Geist, 
zwischen  Äußerem  und  Innerem,  zwischen  Sinnlichkeit  und  Denken, 
zwischen  realistischer  und  idealistischer  Kultur;  solches  Gleich- 
gewicht scheint  besonders  geeignet,  das  Leben  ins  Weite  und  Große 
zu  heben,  den  Menschen  der  Enge  eines  Sonderkreises  zu  entwinden 
und  ihm  an  der  ganzen  Fülle  der  Wirklichkeit  Anteil  zu  geben. 
So  hat  der  Monismus,  namentlich  seit  ihm  Spinoza  eine  klassische 
Verkörperung  gab  oder  doch  zu  geben  schien,  eine  gewaltige  An- 
ziehungskraft geübt  auf  Dichter  und  Denker,  auf  Naturforscher  und 
religiöse  Naturen,  er  schien  die  Zauberformel,  die  überallhin  Frieden 
bringe. 

Aber  eine  solche  Zauberformel  ist  er  nur,  weil  er  jedem  das 
Seine  zu  denken  gestattet,  weil  jeder  den  allgemeinen  Gedanken  sich 
in  eigentümlicher  Weise  zurechtlegt;  so  gewiß  in  jenem  Gedanken 
eine  unangreifbare  Wahrheit  liegt,  in  der  Ausführung  stellt  sich  alsbald 

12* 


180  Zum  Weltproblem. 

der  Gegensatz  wieder  ein,  den  es  zu  überwinden  galt;  es  zeigt  sich, 
daß  auch  bei  diesem  Problem  das  menschliche  Streben  vor  ein 
Entweder — Oder  gestellt  ist,  nicht  friedlich  die  Gegensätze  zusammen- 
zuschließen vermag. 

Nach  der  Absicht  des  Monismus,  wie  ihn  der  Spinozismus 
zeigt,  müßten  beide  Gebiete  in  vollem  Gleichgewicht  stehen.  So 
will  es  auch  der  «psychophysische  Parallelismus",  der  neuerdings 
jene  Absicht  zu  genauerer  Durchbildung  bringt.  In  Wahrheit  ist  eine 
nähere  Ausführung  des  Grundgedankens  gar  nicht  möglich  ohne  der 
einen  Seite  ein  Übergewicht  über  die  andere  zu  geb^.  Spinoza  selbst 
ist,  genauer  angesehen,  an  keiner  Stelle  Monist,  sondern  bald  Materialist, 
bald  Spiritualist,  jenes  in  der  Grundlegung,  dieses  im  Abschluß  seiner 
Lehren;  so  zeigt  es  namentlich  seine  Ethik.  Denn  dort  erscheint 
zu  Beginn  die  Natur  als  das  Hauptgeschehen  und  als  das  Maß  aller 
Wirklichkeit,  während  das  Seelenleben  zu  einer  bloßen  Begleit- 
erscheinung, einem  Reflex  des  Naturprozesses  herabsinkt.  ^  Beim  Ab- 
schluß des  Systems  aber  wird  aus  dem  Materialismus  ein  Spiritua- 
lismus. Oder  ist  es  kein  Spiritualismus,  wenn  ein  göttliches 
Leben  die  ganze  WirkHchkeit  durchdringt  und  zusammenhält,  die 
Natur  zur  Entfaltung  dieses  Lebens  wird,  der  Mensch  durch  die 
intellektuelle  Liebe  zu  Gott  an  der  Unendlichkeit  und  Ewigkeit 
teilgewinnen  soll?  Und  der  Zwiespalt  reicht  über  die  Begriffe 
hinaus  in  den  Kern  des  Lebens  hinein,  es  ist  nicht  ein  einziges, 
sondern  ein  zwiefaches  Leben,  das  aus  Spinoza  wirkt:  einmal  ein 
Naturalismus,  dann  ein  Mystizismus.  Wie  immer  Spinoza  beurteilt 
werden  mag,  die  erstrebte  Einheit  hat  er  nicht  erreicht.  Ebenso- 
wenig ist  es  späteren  Versuchen  gelungen,  Natur  und  Geist  in  ein 
Gleichgewicht  zu  bringen.  Auch  der  psychophysische  Parallelismus 
hat  es  nicht  erreicht;  er  macht  entweder  das  Seelenleben  zu  einem 
bloßen  Reflex  der  Naturvorgänge,  oder  diese  zu  einer  Erscheinung 
des  Geisteslebens;  er  verläßt  damit  die  Neutralität  und  nähert  sich 
entweder  dem  Materialismus  oder  dem  Spiritualismus. 

^  Mit  vollem  Recht  bemerkt  dagegen  Herbart  in  seiner  Allgemeinen 
Metaphysik  (Wke.  III,  198):  „Da  überdies  alles  Psychologische  bei  Spinoza 
aus  Bestimmungen  des  Körperlichen  gefolgert  wird:  so  merkt  man  wenig 
davon,  daß  nach  ihm  das  Denken  unabhängig  vom  Ausgedehnten  bestehen 
sollte;  und  wie  könnte  es  anders  sein  in  irgend  einer  Lehre,  die  ursprüng- 
lich die  Gedanken  als  Bilder  des  Ausgedehnten  betrachtet?  Eine  solche 
unterwirft  immer  notgedrungen  den  Geist  der  Masse,  vermöge  des  Verhält- 
nisses der  Abbildungen  zu  ihrem  Vorbilde." 


Monismus  und  Dualismus.  jg! 

Noch  weniger  ergibt  sich  von  jenem  vermeintlichen  Gleich- 
gewicht aus  eine  charakteristische  Gestaltung  der  Kulturarbeit.  Denn 
die  Ausgleichung  von  Natur  und  Geist,  welche  namentlich  künst- 
lerische Seelen  anzog,  erfolgte  nicht  zwischen  Außen-  und  Innenwelt 
als  gleichberechtigten  Größen,  sondern  sie  erfolgte  gänzlich  auf  dem 
Boden  des  Innenlebens;  wenn  z.  B.  im  Schaffen  eines  Goethe  alles 
Innere  zur  Darstellung  drängte,  um  damit  sich  selbst  zu  finden, 
so  erhielt  zugleich  das  Äußere  ein  inneres  Leben;  das  Geistesleben 
wurde  hier  durch  ein  kräftigeres  Erfassen  der  Natur  bereichert  und 
gestaltet,  im  besondern  durch  ein  innigeres  Verhältnis  zum  Weltall 
von  der  Enge  kleinmenschlicher  Art  befreit,  nicht  aber  wurde  das 
menschliche  Sein  zwischen  Geist  und  Natur  zerteilt. 

Noch  deutlicher  verläßt  die  Neutralität  der  Monismus  der 
darwinistischen  Entwickluilgslehre.  Denn  ihn  unterscheidet  vom 
Materialismus  nur  dies,  daß  er  das  Seelenleben  nicht  als'  ein  sekun- 
däres, sondern  als  ein  primäres  Phänomen  erachtet,  es  aller  Materie 
von  -Haus  aus  beilegt,  es  nicht  erst  nachträglich  an  besonderen 
Punkten  entstehen  läßt.  Aber  kaum  anders  dachten  von  jeher  die 
feineren  Materialisten;  wie  ihnen,  so  wird  auch  den  Monisten  in 
Wahrheit  die  sinnliche  Natur  zum  All,  bemächtigen  sich  Natur- 
begriffe der  gesamten  Wirklichkeit  und  wird  alles  selbständige  Geistes- 
leben geleugnet.  So  muß,  bei  konsequentem  Verfahren,  auch  die 
Lebens-  und  Kulturgestaltung  ganz  in  die  Bahnen  des  Materialismus 
geraten.  Anders  würde  die  Sache  auslaufen,  wenn  mit  der  Be- 
seelung aller  Elemente  der  Wirklichkeit  voller  Ernst  gemacht  würde; 
denn  das  müßte  ein  dem  leibnizischen  ähnliches  Weltbild  ergeben. 
Aber  so  weit  pflegt  der  materialistische  Monismus  nicht  vorzudringen, 
er  glaubt  den  Elementen  die  Seele  wie  eine  Eigenschaft,  neben  anderen 
beifügen  zu  können,  ohne  daß  sie  dadurch  etwas  wesentlich  anderes 
werden.    In  Wahrheit  läßt  sich  Seele  nicht  haben,  sondern  nur  sein. 

Wird  demnach  der  materialistische  Monismus  von  allen  Bedenken 
getroffen,  die  dem  ausgesprochenen  Materialismus  entgegenwirken,  so 
sind  einem  spiritualistischen  Monismus  bessere  Aussichten  zuzuerkennen. 
Ein  solcher  Monismus  wird  die  Tatsache  zum  Ausgangspunkt  nehmen, 
daß  Innenleben  nicht  bloß  an  einzelnen  Punkten,  zerstreut  und  zer- 
splittert, erscheint,  sondern  daß  es  sich  zu  einem  umfassenden  Zu- 
sammenhange verbindet,  daß  sich  auf  der  menschlichen  Daseinsstufe 
ein  den  Individuen  überlegenes  Geistesleben  und  mit  ihm  eine  Innen- 
welt voll  eigentümlicher  Größen  und  Aufgaben  erschließt.  Der  Wende- 


182  Zum  Weltproblem. 

punkt  der  Wirklichkeit  wird  hier  nicht  zwischen  Natur  und  Seele,  sondern 
zwischen  Ungeistigem  und  Geistigem  gesucht;  das  Seelenleben  hat  an 
beiden  Stufen  teil,  sofern  es  zunächst  ein  Stück  der  Natur  bildet,  dann 
aber  ein  Gefäß  des  Geisteslebens  wird.  Die  Frage,  wie  sich  Körper- 
liches und  Seelisches  zu  einander  verhalten,  tritt  hier  zurück  vor  der, 
wie  Eine  Welt  Geistiges  und  Ungeistiges  miteinander  umfassen  kann. 
Diese  Frage  findet  aber  in  diesen  Zusammenhängen  die  Antwort,  daß 
das  Ungeistige  nur  etwas  Untergeistiges  bedeutet,  daß  dasselbe  Sein, 
das  die  Natur  und  das  natürliche  Seelenleben  im  stände  der  Ver- 
einzelung und  als  ein  Gewebe  bloßer  Beziehungen  zeigt,  im  Geistes- 
leben sich  zu  einem  Ganzen  zusammenzufassen  und  einen  Inhalt  zu 
entwickeln  beginnt;  erst  damit  scheint  die  Wirklichkeit  ein  Inneres 
und  zugleich  ihre  eigne  Tiefe  zu  gewinnen.  Solche  Erhebung  von 
Untergeistigem  zu  Geistigem  ist  nicht  eine  bloße  Forderung  der  Speku- 
lation, sondern  eine  Aufgabe,  die  das  ganze  Menschenleben  durch- 
dringt, denn  alle  eigentümlich  menschliche  Leistung,  vor  allem  die 
ethische  Bewegung,  ist  ein  Aufstieg  von  der  Natur  zum  Geist,  eine 
Erhebung  des  Seins  von  der  natürlichen  zur  geistigen  Stufe.  So 
wird  hier  das  Problem  vom  bloßen  Intellekt  in  das  Zentrum  des 
Lebens  versetzt. 

Wenn  aber  dabei  das  Geistesleben  zugleich  als  der  Grundbestand 
und  als  das  Ziel  der  Wirklichkeit  erscheint,  so  besagt  das  keineswegs, 
daß  die  Gestalt,  worin  es  dem  Menschen  vorliegt,  im  stände  sei,  sich 
der  ganzen  Welt  zu  bemächtigen  und  in  der  Natur  sich  einfach  wieder- 
zufinden, wie  das  der  reine  Spiritualismus  wollte.  Denn  so  gewiß 
das  Geistesleben  auch  dem  Menschen  als  etwas  Übermenschliches 
und  Allgemeingültiges  irgend  gegenwärtig  sein  muß,  in  seine  nähere 
Gestaltung  dringt  unablässig  Bloßmenschliches  ein;  wir  haben  nicht 
das  Geistesleben  an  sich,  sondern  ein  menschliches  Geistesleben,  d.  h. 
ein  Geistesleben,  dessen  übermenschlicher  Kern  uns  immer  nur  durch 
eine  menschliche  Hülle  zugänglich  ist.  Streben  wir  daher  vom  mensch- 
lichen Geistesleben  her  die  ganze  Wirklichkeit  zurechtzulegen,  so  ge- 
raten wir  unvermeidlich  in  eine  zu  enge,  in  eine  anthropomorphe 
Fassung;  eine  unentbehrliche  Hülfe  dagegen  ist  die  Natur  mit  ihrer 
Unendlichkeit  und  ihrer  Überlegenheit  gegen  alle  kleinmenschlichen 
Zwecke;  sie  bewahrt  den  Menschen  vor  einem  Sicheinspinnen  in 
eine  Sonderart,  sie  treibt  immer  von  neuem  dazu,  den  Allgemein- 
gedanken des  Geisteslebens  von  der  bloßmenschlichen  Daseinsform 
abzuheben.     Aber  alle  diese  Wirkung  liegt  innerhalb  des  Geistes- 


Monismus  und  Dualismus.  183 

lebens,  und  nur  darin  besteht  die  Abweichung  vom  dogmatischen 
Spiritualismus,  daß  nun  innerhalb  des  umfassenden  Ganzen  zwei 
verschiedene  Ausgangs-  und  Angriffspunkte  anerkannt  werden.  Eben 
dies  aber  ergibt  einen  anderen  Typus  des  Kulturlebens,  als  ihn  jener 
vertrat.  Das  Geistesleben  erscheint  nun  nicht  bloß  als  die  begründende 
Tatsache,  sondern  auch  als  eine  sich  immer  erneuernde  Aufgabe;  das 
menschliche  Leben  wird  weit  mehr  zwischen  Gegensätze  gestellt,  es 
erscheint  weit  unfertiger,  weit  mehr  erst  im  Aufstreben  begriffen; 
das  ruft  den  Menschen  mehr  zu  eigner  Tat  und  Entscheidung  auf 
und  fordert  von  ihm,  zur  Fortbewegung  des  Weltalls  selbsttätig 
mitzuwirken,  nicht  nur  es  sich  in  seinen  Gedanken  zurechtzulegen; 
so  wird  nicht  das  Intellektuelle,  sondern  das  Ethische,  freilich 
ein  Ethisches  weitester  Fassung,  zum  Kern  seines  Strebens.  —  Wie 
immer  die  Menschen  und  Zeiten  sich  das  näher  gestalten  mögen, 
keinen  Zweifel  leidet  dieses,  wo  der  Hauptstreitpunkt  bei  diesen 
Kämpfen  liegt,  und  an  welcher  Stelle  vornehmlich  die  Geister  sich 
scheiden'.  Das  nämlich  ist  die  Frage,  ob  ein  selbständiges  Geistes- 
leben und  mit  ihm  eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit  anerkannt  wird 
oder  nicht.  Alle  Verneinung  oder  auch  nur  Zurückhaltung  gibt  einem 
gröberen  oder  feineren  Materialismus  die  Oberhand,  mit  dem  Ja  wird 
dagegen  eine  sichere  Überwindung  und  ein  Einlenken  in  neue 
Bahnen  gewonnen.  Wohin  aber  die  Entscheidung  fällt,  das  hängt 
nicht  bloß  an  Scharfsinn  und  Intelligenz,  sondern  vornehmlich  an 
der  Kraft  und  der  Klarheit,  mit  der  das  Geistesleben  Manschen  und 
Zeiten  gegenwärtig  ist,  das  greift  damit  in  das  persönliche  Leben 
und  Sein  zurück. 

b)  Der  Monismus  der  Gegenwart. 

Wer  die  geistigen  Strömungen  der  Gegenwart  kritisch  erörtert, 
der  muß  sich  notwendig  auch  mit  dem  Monismus  der  Gegenwart 
befassen;  ist  dieser  doch  über  das  besondere  Problem  des  Verhält- 
nisses von  Natur  und  Geist  hinaus  eine  mächtige,  ja  stürmische  Be- 
wegung geworden,  auf  deren  Beleuchtung  und  Würdigung  sich  nicht 
wohl  verzichten  läßt;  je  heftiger  aber  der  Kampf  an  dieser  Stelle 
entbrennt,  desto  mehr  hat  die  philosophische  Betrachtung  nach  ruhiger 
Abwägung  zu  streben. 

Der  Monismus  der  Gegenwart  ist  nicht  verständlich  ohne  eine 
Beachtung  der  breiteren  Grundlage,  von  der  aus  er  sich  gestaltet  hat. 
Diese   ist   das   Vordringen   des   Bildes   der   Natur   in   die   Begriffe 


184  Zum  Weltproblem. 

vom  All  und  in  die  Gestaltung  des  Lebens.  Es  vollzog  sich  damit 
ein  notwendiger  Rückschlag  gegen  die  ältere,  einseitig  religiöse  und 
transzendente  Denkart,  welche  die  Natur  wie  etwas  untergeordnetes 
und  nebensächliches,  wenn  nicht  gar  bedenkliches  zu  behandeln 
pflegte.  Das  energische  Vordringen  der  Naturerkenntnis  und  auch 
die  dadurch  bewirkte  Umwandlung  des  Lebens  gaben  diesem  Rück- 
schlag gewaltige  Wucht  und  siegreiche  Kraft.  Innerlich  fiel  dabei 
besonders  ins  Gewicht  die  Präzision  der  Naturbegriffe  und  ihr  Zu- 
sammenstreben zum  Ganzen  einer  Gedankenwelt;  den  Einflüssen,  die 
davon  ausgingen,  konnten  sich  selbst  die  nicht  entziehen,  deren  Streben 
der  Hauptrichtung  nach  eine  entgegengesetzte  Richtung  verfolgte. 
Das  ist  z.  B.  augenscheinlich  bei  Leibniz.  Sein  unablässiger  Kampf 
gegen  den  „Naturalismus"  hat  nicht  verhindert,  daß  Naturbegriffe 
an  Hauptstellen  in  seine  Gedankenwelt  eindrangen  und  sie  unter  sich 
brachten.  Oder  ist  es  kein  solcher  Einfluß,  wenn  er  die  Lebens- 
steigerung zum  allbeherrschenden  Wertbegriff  macht,  wenn  er  alle 
Gegensätze  in  Unterschiede  des  Grades  verwandelt,  wenn  ihm  der 
Begriff  der  logischen  Möglichkeit  mit  dem  der  gehemmten  Kraft  zu- 
sammenfließt? Im  19.  Jahrhundert  ging  diese  Bewegung  weiter, 
mit  lautem  und  stillem  Wirken  unterwirft  die  naturwissenschaftliche 
Denkweise  sich  mehr  und  mehr  die  Begriffe  wie  die  Überzeugungen; 
wir  empfinden  gar  nicht,  wie  eigentümliche  Bejahungen  und  Ver- 
neinungen das  mit  sich  bringt.  So  erhält  z.  B.  die  Entwicklungs- 
idee die  Gestalt  eines  Naturprozesses  und  zerstört  mit  der  strengen 
Verkettung,  die  daraus  erwächst,  alle  Selbsttätigkeit,  ja  konsequenter- 
weise alle  Gegenwart,  ohne  daß  uns  das  irgend  aufregt.  In  der 
Natur  hat  sich  das  Beharrungsgesetz,  das  sog.  Gesetz  der  Trägheit, 
der  Forschung  immer  weiter  bewährt;  unbedenklich  wird  es  auf 
das  geistige  und  geschichtliche  Gebiet  übertragen,  während  hier 
der  Lebensstand  immer  neu  aus  ursprünglichem  Schaffen  hervor- 
gehen muß,  um  nicht  sofort  zu  sinken.  Die  Naturstufe  zeigt  als 
Glück  die  sinnliche  Lust,  ohne  weiteres  gilt  vielen  auch  das  geistige 
Glück  als  eine,  wenn  auch  feinere  Art  der  Lust.  Wenn  so  unauf- 
haltsam von  außen  und  innen  die  Natur  auf  uns  eindringt,  so  kann 
es  nicht  wundernehmen,  wenn  mehr  und  mehr  die  Natur  als  Welt 
und  Wirklichkeit  schlechthin  behandelt  wird,  und  wenn  eine  „natur- 
wissenschaftliche Weltanschauung"  sich  unbedenklich  und  siegesgewiß 
nicht  als  einen  besonderen  Ausschnitt,  sondern  als  das  erschöpfende 
Bild  des  Ganzen  der  Wirklichkeit  gibt. 


Monismus  und  Dualismus.  185 

Alles  Vordringen  ließ  indes  diese  Bewegung  keinen  vollen  Sieg 
erringen,  so  lange  noch  der  Mensch  eine  privilegierte,  ja  einzigartige 
Stellung  einnahm.  Diese  aber  hat  nun  die  schwerste  Erschütterung 
durch  die  Entwicklungslehre  erfahren,  indem  sie  den  Menschen 
aufs  engste  mit  dem  tierischen  Leben  verkettete  und  ihn  dadurch 
ganz  und  gar  in  die  Natur  hineinzog,  ihn  als  ein  bloßes  Stück  von 
ihr  erscheinen  ließ.  Es  gewann  das  die  Gemüter  um  so  mehr  mit 
überwältigender  Kraft,  weil  es  in  der  Wendung  zur  Arbeit,  zu 
emsiger  und  fruchtbarer  Arbeit,  eine  unermeßliche  Fülle  von  Tat- 
sächlichkeit eröffnet,  sonst  zerstreute  Daten  verknüpft  und  als  Ganzes 
zur  Wirkung  gebracht  hat.  Der  Mensch  schien  nunmehr  von 
langem  Wahn  und  eitler  Selbstüberhebung  zu  seiner  echten  Heimat 
zurückzukehren,  sein  Leben  aber  damit  festere  Grundlagen,  sowie 
eine  frischere,  schlichtere,  wahrhaftigere  Art  zu  gewinnen.  Altes 
erschien  damit  als  neu.  Neues  als  alt,  eine  durchgreifende  Wandlung 
ward  eingeleitet.  Diese  Strömungen  und  Stimmungen  sind  es,  welche 
der  -moderne  Monismus  ergreift  und  zusammenfaßt,  die  Natur- 
begriffe scheinen  ihm  nur  einer  gewissen  Ergänzung  in  der  Richtung 
des  Seelischen  zu  bedürfen,  um  den  ganzen  Umkreis  der  Wirklich- 
keit in  sich  aufnehmen  und  alles  Leben  beherrschen  zu  können. 

Alle  solche  Vorteile  und  Aussichten  würden  jedoch  aus  eignem 
Vermögen  schwerlich  der  Bewegung  zum  Monismus  eine  solche 
Stärke  verliehen  und  eine  solche  Macht  über  die  Gemüter  ge- 
geben haben,  wie  jene  sie  in  Wahrheii  besitzt,  käme  nicht  dazu 
noch  etwas  anderes,  das  direkter  Leidenschaften  zu  entzünden 
und  große  Massen  zu  erregen  vermag,  gesellte  sich  nicht  zum  Ja 
ein  entschiedenes  Nein.  Ein  solches  Nein  entspringt  aber  aus 
dem  Stande  der  Religion,  wie  ihn  die  kirchliche  Gestaltung  bietet. 
Zwischen  der  überlieferten  Religion  und  dem  modernen  Kultur- 
leben bestand  von  vornherein  eine  weite  Kluft,  lange  ist  sie  zu 
überbrücken  versucht,  mehr  und  mehr  aber  ist  das  Unmögliche 
dessen  ersichtlich  geworden,  mehr  und  mehr  hat  sich  der  Abstand 
in  einen  vollen  und  schroffen  Gegensatz  verwandelt.  Und  wenn 
diese  Probleme  lange  Zeit  nur  die  obere  Schicht  der  Gesellschaft 
zu  berühren  schienen,^  so  sind  sie  immer  mehr  auch  in  die  Massen 


^  So  erschien  es  z.  B.  einem  Pierre  Bayle  gänzlich  ausgeschlossen,  daß 
die  Aufklärung  je  die  Massen  gewinne.  Er  hält  für  die  Interessen  und  die 
Bedürfnisse  der  Gesellschaft,  die  nach  seiner  Überzeugung  im  wesentlichen 
zu  allen  Zeiten  dieselben  bleiben,  einen  gewissen  Aberglauben  unentbehrlich : 


186  Zum  Weltproblem. 

gedrungen  und  erregen  sie  immer  stärker.  Wenn  aber  zugleich 
trotz  aller  Wandlungen  und  Erschütterungen  die  alte  Art  der  Religion 
offiziell  aufrecht  erhalten  und  namentlich  der  Schule  gebieterisch 
auferlegt  wird,  so  entsteht  ein  schwerer  Druck  und  die  Gefahr 
einer  lähmenden  Un Wahrhaftigkeit.  Der  nun  müßte  ein  schlechter 
Psycholog  und  ein  kurzsichtiger  Staatsmann  sein,  dem  entginge,  wie 
viel  Unwille,  wie  viel  verhaltener  Zorn  sich  dadurch  ansammeln  und 
schließlich  auch  nach  irgendwelchem  Ausbruch  drängen  muß.  Der 
Monismus  aber  zeigt  einen  Weg,  einen  scheinbar  nahen  und  leichten 
Weg,  auf  dem  ein  solcher  Ausbruch  erfolgen  kann;  ist  es  ein  Wunder, 
wenn  er  wie  ein  brausender  Strom  die  Gemüter  ergreift  und  un- 
widerstehlich fortreißt? 

So  ist  die  Bewegung  durchaus  verständlich;  sie  würde  nicht 
wirken,  was  sie  wirkt,  wenn  nicht  ihr  Ja  wie  ihr  Nein  Wahrheits- 
momente enthielte.  Aber  es  ist  etwas  anderes,  eine  Bewegung  aus 
der  geschichtlichen  Lage  heraus  zu  verstehen  und  Berechtigtes  in  ihr 
zu  würdigen,  etwas  anderes,  ihr  die  Führung  des  Lebens  zu  geben. 
Was  zunächst  die  Religion  betrifft,  so  ist  jetzt  bei  allen  Kultur- 
völkern eine  wachsende  Bewegung  im  Gange,  sie  von  der  veralteten 
Art  zu  befreien  und  dem  Stande  der  weltgeschichtlichen  Evolution 
des  Lebens  gemäß  zu  gestalten;  solche  Bestrebungen  sind  minder  ein- 
fach, aber  sie  sind  auch  fruchtbarer  und  aussichtsreicher,  als  die 
summarische  Verwerfung  der  Religion,  wie  sie  der  Monismus  zu 
vollziehen  pflegt  Es  kommt  darauf  an,  ob  die  Religion  über  alle 
kirchliche  Form  hinaus  in  inneren  Notwendigkeiten  unseres  Wesens 
und  unserer  Stellung  zum  All  gegründet  ist  oder  nicht.  Sollte  sie 
es  sein,  so  könnten  alle  Schäden  des  gegenwärtigen  Standes  in  keiner 
Weise  die  Preisgebung  einer  Lebensmacht  rechtfertigen,  die  sich 
das  Verhältnis  des  Menschen  zum  Ganzen  der  Wirklichkeit  zur 
Aufgabe  macht,  die  seinem  Leben  Größe,  seiner  Seele  einen  Selbst- 
wert und  eine  reine  Innerlichkeit  zu  geben  unternimmt.  In  dem 
Eifer,  das  Priestertum  und  die  Kirche  zu  schädigen,  pflegen  die 
Gegner  der  Religion  zu  übersehen,  daß  sie  durch  jene  Verneinung 
mit  ihrer  Preisgebung  alles  selbständigen  Innenlebens  am  meisten 
sich  selber  schädigen.   Man  gedenkt  dabei  unwillkürlich  der  Anekdote 


„Les  besoins  dont  je  parle  ne  sont  point  sujets  aux  vicissitudes  de  la  lumiere 
et  des  tenebres,  ils  sont  de  tous  les  tems;  ils  sont  les  memes  sous  un  siecle 
d'ignorance,  et  sans  un  siecle  de  science  (s.  den  Artikel  Franz  von  Assisi  im 
Dictionnaire). 


Monismus  und  Dualismus.  187 

von  dem  Knaben,  der  keine  Handschuhe  erhalten  hat,  und  dem  nun  in 
arger  Kälte  die  Hände  erfrieren,  der  dazu  aber  meint:  „Es  geschieht 
meinem  Vater  ganz  recht,  daß  mir  die  Hände  erfrieren;  warum  gibt 
er  mir  keine  Handschuhe?" 

Sachlich   bleibt  die   Hauptfrage,   die  über  Recht  oder  Unrecht 
des  Monismus  entscheidet,  die,  ob  die  von  ihm  ausschließlich   ver- 
wandten Naturbegriffe  zur  Umspannung  der  Wirklichkeit  genügen. 
Namentlich  von  zwei   Seiten  erheben    sich    dagegen   Bedenken,    die 
einen  von  der  Erkenntnislehre,  die  anderen  vom  Gehalt  des  Geistes- 
lebens her,  wie  die  weltgeschichtliche  Arbeit  ihn  zeigt.  —  Die  er- 
kenntnistheoretische Erwägung  hat  einzuwenden,  daß  das  Weltbild 
uns  nicht  von  außen  her  zufällt,  sondern  daß  wir  es  von  seelischen 
Vorgängen  aus  und  nach  den  Gesetzen   unseres  eignen  Geistes  zu 
bilden  haben.     Solches  Ausgehen  vom  Subjekt  pflegt  sich  zunächst 
auf  Kant  zu  berufen,  dessen  überlegene  Energie  dem  Forschen  jene 
Richtung  zwingend  vorgeschrieben  hat.    Aber  es  ist  nicht  bloß  Kant, 
es  ist  überhaupt  kein  einzelner  Philosoph,  sondern  es  ist  die  Gesanit- 
art  des  modernen  Denkens,  ja  Lebens,  welche  diesen  Weg  befiehlt. 
Denn   nichts  ist  dem   modernen   Leben  und  der  modernen  Kultur 
eigentümlicher,  als  die  Befreiung  des  Subjekts  von  der  Gebunden- 
heit an  die  Umgebung,  seine  Befestigung  im  eignen  Leben.     Wird 
dabei  nicht  auf  einen   Besitz  der  Welt  verzichtet,   dieser   vielmehr 
mit   Aufgebot   aller    Kraft   leidenschaftlich   begehrt,   so   nimmt   das 
Leben  eine  völlig  andere  Richtung:   statt  vom  Objekt  zum  Subjekt, 
von  der  Welt  zum  Menschen,  geht  es  jetzt  vom  Subjekt  zum  Objekt, 
vom  Menschen  zur  Welt.     Eine  solche  Umwälzung  muß  auch   den 
Inhalt  des  Lebens  wesentlich  ändern  und  sich  damit  in  alle  einzelnen 
Gebiete  erstrecken.     So  auch  in  das  des  Erkennens.     Das  Bild  der 
Wirklichkeit  wird   sich  verfeinern,   beleben,   vergeistigen,   wenn  das 
Ergebnis  aus  dem  Werden  verstanden  wird,  wenn  volle  Anerkennung 
findet,  daß  wir  jenes  Bild  von  innen  her  zusammenfügen,  daß  nicht 
die   Außenwelt,    sondern    unsere   geistige  Organisation   den   Umriß 
wie  die  Grundlinien    dazu   liefert,    daß   eine   oft   sehr   komplizierte 
Arbeit  in  Größen  steckt,  welche  die  naive  Ansicht  für  einfach  erachtet 
Zugleich  wird  klar,  daß  wir  mit  aller  Arbeit  nur  einen  menschlichen 
Durchblick   der  Wirklichkeit  gewinnen,   der   einer  tieferdringenden 
Forschung  selbst  wieder  zum  Probleme  wird  und  seinen  Wahrheits- 
gehalt erst  zu  erweisen  hat.    Neue  Tragen  und  neue  Sorgen  tauchen 
damit    auf,    unvergleichlich    unfertiger    müssen  wir  uns  fühlen  als 


188  Zum  Weltproblem. 

zuvor,  aber  in  aller  Unfertigkeit  gewinnen  wir  eine  Vertiefung  der 
Wirklichkeit  und  auch  unseres  eignen  Lebens. 

Dies  alles  aber  ist  für  den  Naturalisten  und  Monisten  nicht 
vorhanden;  ihm  ist  die  Welt,  wie  sie  sinnlich  und  handfest  auf  uns 
einzudringen  scheint,  die  ganze  und  echte  Wirklichkeit.  Das  aber 
heißt,  erkenntnistheoretisch  angesehen,  den  ptolemäischen  Standpunkt 
festhalten  und  sich  der  kopemikanischen  Denkweise  der  Neuzeit 
verschließen,  es  heißt  dem  naiven  Realismus  huldigen,  wie  ihn  die 
mittelalterliche  Scholastik  besaß,  für  die  gerade  der  Naturalismus  nur 
Geringschätzung  zu  haben  pflegt.  So  vertritt  die  Philosophie  gegen 
den  Naturalismus  das  Recht  jener  modernen  Wendung  zum  Subjekt, 
sie  vertritt  damit  eine  Wahrheit,  die  sich  wohl  verdunkeln,  nicht 
aber  aufgeben  läßt. 

Tiefer  noch  greift  das  Zweite,  bei  ihm  geht  die  Frage  auf  den 
Inhalt  der  Wirklichkeit.  Diesen  Inhalt  faßt  der  Naturalismus  und 
Monismus  viel  zu  knapp,  er  übersieht  ein  Stück,  das  uns  anderen 
als  das  Hauptstück  erscheint:  das  Geistesleben.  Alles  Innere  der 
Natur  einfügen  kann  jener  nur,  indem  er  das  Seelenleben  lediglich 
als  ein  Vorgehen  an  den  einzelnen  Individuen  behandelt  Dann 
nämlich  mag  er  sich  darauf  berufen,  wie  fließend  die  Grenzen 
zwischen  Menschem  und  Tier  sind,  wie  langsam  sich  auf  dem  Boden 
der  Geschichte  emporgearbeitet  hat,  was  früher  als  ein  Stammbesitz 
des  Menschen  galt,  wie  sehr  auch  der  Kulturmensch  unter  der 
Macht  der  Naturtriebe  bleibt.  Das  alles  sei  vollauf  anerkannt  und 
in  seiner  Bedeutung  keineswegs  abgeschwächt  Aber  es  ist  nicht 
das  Ganze.  Denn  das  menschliche  Seelenleben  verbleibt  nicht  wie 
das  tierische  bei  jener  Zerstreuung  an  einzelne  Punkte,  bei  ihm  erfolgt 
ein  Zusammenschluß  zu  einem  gemeinsamen  Leben,  und  dies  ge- 
meinsame Leben  entwickelt  eine  unermeßliche  Tatsächlichkeit,  die 
wesentlich  neue  Züge  gegenüber  der  bloßen  Natur  erweist  Jener 
Zusammenschluß  erst  macht  Geschichte  und  Gesellschaft  im  aus- 
zeichnend menschlichen  Sinne  möglich,  auf  diesem  Boden  entsteht 
Gedankensprache  und  Kultur,  hier  erwächst  eine  reiche  Verzweigung 
eigentümlicher  Lebensgebiete  in  Recht  und  Moral,  in  Kunst  und 
Wissenschaft  Wie  das  Ganze,  so  haben  auch  diese  einzelnen  Ge- 
biete ihre  eignen  Gesetze,  Probleme,  Erfahrungen,  sie  stellen  den 
Menschen  vor  schwerste  Aufgaben,  sie  ziehen  ihn  immer  mehr  an 
sich  und  machen  zugleich  unvergleichlich  viel  mehr  aus  ihm:  aus 
einem  bloßen  Stück  der  Natur  wird  er  mehr  und  mehr  ein  geistiges 


Monismus  und  Dualismus.  189 

Wesen,  das  die  Unendlichkeit  von  innen  her  miterlebt  und  als 
sittliche  Persönlichkeit  die  Welt  in  eigne  Tat  zu  verwandeln  vermag. 
Eine  so  eingreifende  Wendung  kann  sich  nicht  vollziehen  ohne  einen 
neuen  Anblick  der  Wirklichkeit;  mit  jenem  allen  verkündet  sich  deutUch 
eine  neue  Stufe  der  Welt,  deren  Anerkennung  das  Gesamtbild  des 
Alls  wesentlich  erweitern  und  vertiefen  muß.  Dies  alles  ist  keine 
bloße  Theorie,  es  hat  im  geschichtlich-gesellschaftlichen  Leben  der 
Menschheit  viel  Wirklichkeit  entfaltet,  sich  in  alle  Einrichtungen  hin- 
eingearbeitet, es  umfängt  uns  mit  bildender  Kraft  in  tausendfacher 
Wirkung.  Die  deutsche  spekulative  Philosophie  fand  darin  ihre 
Hauptaufgabe,  jenen  inneren  Zusammenhang  des  Menschenlebens 
zur  vollen  Anerkennung  zu  bringen,  sie  fühlte  sich  dadurch  der 
Aufklärung  weit  überlegen,  daß  sie  die  geistigen  Inhalte  und  Werte 
aus  jenem,  nicht  wie  diese  von  den  bloßen  Individuen  her  erklärte. 

Der  Naturalismus  aber  übersieht  jene  Wendung  zum  Geistes- 
leben; jene  Ausbildung  eines  eigentümlichen  Kulturstandes,  jenes 
innere  Wachstum  des  Menschen  durch  die  Arbeit  der  Jahrtausende, 
der  ganze  Reichtum  der  dabei  erschlossenen  Wirklichkeit,  sie  sind 
für  ihn  nicht  vorhanden  oder  sie  werden  doch  nicht  zusammen- 
hängend gewürdigt;  er  gibt  ein  Bild  vom  All  unter  Absehen 
von  allem  charakteristisch  Menschlichen,  von  allem  Geistigen,  von 
allem  Lebensgehalt.  Was  anderes  aber  ist  dies  als  die  stärkste 
Verengung  und  Verarmung,  ein  Verwerfen  alles  inneren  Ertrages 
der  Geschichte,  ein  Verzicht  auf  alles  das,  worin  die  Menschheit 
ihre  Größe  suchte.  Das  Bild  des  Alls  wird  ohne  den  Menschen 
fertig  abgeschlossen,  und  dann  der  Mensch  unter  Abschleifung  aller 
Eigentümlichkeit  möglichst  in  es  hineingepreßt.  Wir  sprechen  von 
Reaktion,  wenn  das  Leben  auf  eine  ältere,  innerlich  überwundene 
Phase  zurückgeschraubt  werden  soll.  Aber  wie  bescheiden  sind  alle 
Versuche,  es  an  einen  Höhepunkt  innerhalb  der  geschichtlichen  Be- 
wegung zu  binden,  gegen  das  Unternehmen,  es  ganz  und  gar  an 
die  vorgeschichtlichen  Anfänge  zu  ketten  und  ihm  alle  Möglichkeit 
einer  inneren  Erhöhung,  einer  wirklichen  Entwicklung  zu  nehmen? 
Von  hier  aus  angesehen,  wird  die  ganze  eigentümlich  menschliche 
Geschichte  ein  großer  Irrtum,  ein  Abweg  von  der  Wahrheit,  indem 
sie  dem  Menschen  immer  stärker  eine  Innenwelt  vorspiegelt,  die  doch 
nur  eine  leere  Einbildung  ist. 

Dabei  erfahren  wir  das  Verdrießliche,  daß  jene  Verneinung  eines 
selbständigen  Geisteslebens  oft  wie  etwas  Selbstverständliches  auftritt, 


190  Zum  Weltproblem. 

das  nur  Unverstand  verkennen  oder  böser  Wille  verwerfen  könne. 
Begreifen  läßt  sich  das  freilich  wohl.  Verneinende  Richtungen  waren 
stets  in  besonderer  Gefahr  eines  starren  Dogmatismus,  ja  eines 
Fanatismus  gegen  Andersgesinnte.  Nichts  ist  notwendiger  für  ein 
kritisches  Verhalten  gegen  sich  selbst  und  eine  gerechte  Würdigung 
anderer  als  die  Fähigkeit,  sich  in  fremde  Denkweisen  hineinzuversetzen 
und  von  ihnen  aus  die  eigne  zu  betrachten.  Dies  Vermögen  aber 
wird  besonders  dort  gefährdet,  wo  rasch  der  Kreis  geschlossen  und 
alles  Jenseitige  als  nicht  vorhanden  erklärt  wird.  Hume  war  gewiß 
als  Denker  und  Forscher  groß  und  im  Leben  allem  Fanatismus  so 
fern  wie  möglich,  aber  gibt  es  einen  krasseren  Ausdruck  eines  in- 
tellektuellen Fanatismus,  als  jenes  berühmte  Autodafe  aller  anders- 
gerichteten philosophischen  Literatur? ^ 

Das  Gleichgewicht  des  Geisteslebens  war  lange  genug  von  der 
Religion  und  der  Theologie  bedroht,  in  einem  Rückschlag  dagegen 
wird  es  nun  von  dem  ausschließlichen  Herrscheranspruch  der  Natur- 
wissenschaften gefährdet.  Diesen  Anspruch  aber  erheben  weniger  die 
Naturwissenschaften  selbst,  als  ihre  Gestaltung  zur  Philosophie, 
wie  sie  im  Naturalismus  und  Monismus  vorliegt.  Dabei  läßt  sich 
sehr  daran  zweifeln,  ob  der  Monismus  eben  das  erreicht,  was  ihm 
als  die  Hauptsache  gilt,  und  was  auch  wir  anderen  als  etwas  großes 
erachten,  die  Einheit  der  Gedankenwelt,  ob  er  nicht,  indem  er  die 
Begriffe  gewaltsam  zusammenschweißt,  das  Leben  als  Ganzes  inner- 
lich spaltet  Seine  Begriffe  und  Lehren  folgen  der  Natur,  wie  die 
mechanische  Denkart  sie  faßt,  das  All  wird  damit  ein  Reich  der 
bloßen  und  blinden  Tatsächlichkeit,  in  dem  es  kein  Handeln,  sondern 
nur  ein  Geschehen,  keinen  inneren  Forttrieb,  sondern  nur  ein  Neben- 
einanderlagern, keine  wahrhaftige  Einheit,  sondern  nur  eine  Zusammen- 
setzung gibt.  Bei  konsequenter  Denkweise  müßten  hier  alle  In- 
halte und   Werte    verschwinden,    hätte   auch    der  Wahrheitsbegriff 


^  Jene  Stelle  (am  Schluß  der  12.  Sektion  d.  Enquiry  conc.  h.  u.)  lautet: 
When  we  run  over  libraries,  persuaded  of  these  principles,  what  havock  must 
we  make?  If  we  take  in  our  band  any  volume  of  divinity  or  school  meta- 
physics  for  instance;  let  us  ask:  Does  it  contain  any  abstract  reasonings 
conceming  quantity  or  number?  No.  Does  it  contain  any  experimental 
reasonings  conceming  matter  of  fact  or  existence.  No.  —  Commit  it  then 
to  the  flames.  For  it  can  obtain  nothing  but  sophistry  and  Illusion.  — 
Würde  ähnlich  ein  spekulativer  Philosoph  urteilen,  so  würden  alle  es  Borniert- 
heit oder  Fanatismus  nennen;  geschieht  es  von  der  anderen  Seite,  so  gilt  es 
vielen  als  Zeugnis  eines  starken  und  unerschrockenen  Geistes! 


Monismus  und  Dualismus.  191 

und  damit  eine  Wissenschaft  keinen  Platz.  Was  an  geistiger  Regung 
aufkäme,  das  hätte  ruhig  und  urteilslos  das  Weltgeschehen  über 
sich  ergehen  zu  lassen.  Statt  dessen  finden  wir  den  Monismus  in 
einem  eifrigen  Kampf  um  die  Wahrheit  begriffen  und  von  freudiger 
Hoffnung  auf  ein  Vordringen  der  Menschheit  erfüllt,  er  hält  in 
der  Gestaltung  des  Menschenlebens  die  alten  Ideale  des  Guten  und 
Wahren  fest,  er  schöpft  den  Hauptantrieb  seines  wissenschaftlichen 
Strebens  aus  der  Überzeugung,  dadurch  mehr  Wahrheit  und  mehr 
Vernunft  in  das  menschliche  Dasein  zu  bringen,  kurz  er  wandelt 
hier  ganz  und  gar  die  Wege  des  Idealismus.  Gibt  es  nun  wohl 
einen  schrofferen  Dualismus,  als  Materialist  in  der  Weltanschauung 
und  Idealist  im  Handeln  zu  sein?  So  haben  wir  hier  ein  neues 
Beispiel  der  alten  Erfahrung,  daß  der  Mensch  in  seinem  Streben  oft 
das  Gegenteil  der  eignen  Absicht  erreicht. 


2.  Entwicklung. 

a)  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks. 

I  |ie  Ausdrücke  für  Entwicklung  hat,  wie  den  Begriff  selbst,  erst 
■■-^  die  Neuzeit  in  allgemeinen  Umlauf  gebracht.  »Entwicklung" 
erscheint  in  unserer  Sprache  erst  gegen  das  Ende  des  1 7.  Jahrhunderts 
und  findet  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  eine  weitere  Verbreitung. 
Älter  ist  M Auswicklung"  (auch  „sich  auswickeln«),  philosophisch  hat 
es  zuerst  wohl  Jakob  Böhme  verwandt.  „Entwickeln"  hat  nach 
Grimm  zuerst  der  Lexikograph  Stieler  („der  deutschen  Sprache 
Stammbaum",  1691)  „sich  entwickeln"  Haugwitz  (im  Soliman,  1684), 
sowie  Hagedorn.  Die  Gelehrten  des  1 8.  Jahrhunderts  sprachen  oft 
von  einem  Entwickeln  und  einer  Entwicklung  eines  Begriffes,  Beweises 
und  Satzes;  „das  Verfahren,  wodurch  ein  Begriff  ausführlich  gemacht 
wird,  heißt  die  Entwicklung  eines  Begriffes"  (Lambert).  Entwick- 
lung im  Sinne  eines  Sichentwickeins,  als  Selbstentwicklung,  gewann 
Boden  erst  mit  dem  Aufsteigen  des  deutschen  Humanismus,  dessen 
Verlangen  nach  einer  inneren  Beseelung  der  Wirklichkeit  und  nach 
Anerkennung  bildender  Kräfte  in  der  Natur  darin  einen  bezeichnen- 
den Ausdruck  fand.  Es  genügen  dafür  die  Namen  Herders  und  Goethes. 
Im  Titel  eines  Buches  erscheint  Entwicklung  bei  Tetens,  in  seinem 
1777  veröffentlichten  Hauptwerk  „Philosophische  Versuche  über  die 
menschliche  Natur  und  ihre  Entwickelüng".  „Entwicklung"  drängt 
nun  „Auswicklung«,  das  in  den  älteren  Schriften  Kants  noch  vor- 
wiegt, gänzlich  zurück;  auch  „Einwicklung",  das  als  Gegenstück 
„Auswicklung"  zu  begleiten  pflegte,  verschwindet  aus  dem  Sprach- 
gebrauch der  Philosophie. 

Der  deutsche  Ausdruck  war  eine  Übersetzung  fremder,  die  er 
teils  verdrängte,  teils  neben  sich  duldete.  Die  Termini  evolutio- 
involutio  und  explicatio-complicatio  oder  implicatio  entstammen  den 
lateinischen   Klassikern,  aber  sie  werden   dort  nur  methodologisch. 


Entwicklung.  1Q3 

nicht  für  das  reale  Werden  verwandt.^  Ähnlich  verbleibt  es  im 
Mittelalter,  bei  Thomas  von  Aquino  erscheinen  nur  explicitus  und 
implicitus,  und  zwar  in  jener  formalen  Bedeutung.  Nur  die  mystische 
Spekulation,  die  von  den  Schriften  des  Pseudo-Dionysius  ausging, 
verwendet  die  Wörter  und  Begriffe,  um  ein  inneres  Verhältnis  von 
Gott  und  Welt  zum  Ausdruck  zu  bringen.  So  hat  Scotus  Eriugena 
involutus,  convolutus,  complicatio,  replicatio.  Wie  Nikolaus  von  Kues, 
der  Philosoph  an  der  Schwelle  d*er  Neuzeit,  an  jene  Denkweise  an- 
knüpft, so  gebraucht  er  fortwährend  die  Ausdrücke  explicatio  und 
complicatio.  Wenn  er  evolutio  gebraucht,  so  glaubt  er  es  erläutern 
zu  sollen.  2  Der  Verlauf  der  Neuzeit  macht  die  Ausdrücke  immer 
geläufiger.  Evolutio  und  involutio  sind  neben  developpement  und 
enveloppement  Lieblingswörter  bei  Leibniz;  auch  die  Physiologie 
des  18.  Jahrhunderts  übernahm  sie  in  dem  Sinne  der  später  so- 
genannten »Einschachtelungstheorie".  Im  Gegensatz  dazu  hieß  dann 
die  besonders  glänzend  von  C.  F.  Wolff  in  der  theoria  generationis 
vertretene  Lehre  von  einer  Neubildung  im  Werden  die  der  Epigenesis;^ 
die  »Evolution"  wurde  hier  als  eine  bloß  quantitative  Steigerung 
verstanden  und  abgelehnt  Aber  daneben  behält  Evolution  auch  den 
weiteren  Sinn  von  Entwicklung  überhaupt,  so  ist  es  namentlich  bei 
außerdeutschen  Völkern  die  gebräuchlichste  Bezeichnung  der  neuesten 
Form  der  Entwicklungslehre  geworden. 

b)  Zur  Geschichte  des  Begriffs  und  Problems. 

Es  gibt  kaum  eine  Überzeugung  und  Lehre,  bei  der  die  alte 
und  die  neue  Denkart  so  weit  auseinandergehen;  die  Beharrungs- 


^  Bei  Cicero  heißt  es  z.  B.  (Top.  9) :  tum  definitio  adhibetur  quae  quasi 
involutum  evolvit  id,  de  quo  quaeritur. 

'  Niliolaus  sagt  (Pariser  Ausgabe  von  1514,  I,  89a):  linea  est  puncti 
evolutio.  -  Quomodo  intelligis  lineam  puncti  evolutionem?  -  Evolutionen! 
id  est  explicationem. 

'  C.  F.  Wolff  hat  sich  über  jene  Begriffe  namentlich  in  der  deutschen 
Ausgabe  und  in  der  zweiten  lateinischen  Auflage  von  1774  deutlich  geäußert. 
Praemonenda  §  50  heißt  es  in  dieser:  evolutio  phaenomenon  est,  quod,  si 
essentiam  ejus  et  attributa  spectes,  omni  quidem  tempore,  at  inconspicuum, 
exstitit,  denique  vero,  speciem  prae  se  ferens  ac  si  nunc  demum  oriatur,  quo- 
modocunque  conspicuum  redditur.  S.  auch  Kant,  Krit.  d.  Urteilskraft  (V, 
436  Hart.):  „Das  System  der  Zeugungen  als  bloßer  Edukte  heißt  das  der 
individuellen  Präformation  oder  auch  die  Evolutionstheorie;  das  der  Zeug- 
ungen als  Produkte  wird  das  System  der  Epigenesis  genannt." 
Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  13 


194  Zum  Weltproblem. 

lehre  hängt  mit  den  Idealen  jener  ebenso  eng  zusammen,  wie  die 
Entwicklungslehre  mit  denen  der  Neuzeit.  So  läßt  wiederum  der 
besondere  Punkt  einen  Durchblick  der  gesamten  weltgeschichtlichen 
Bewegung  erwarten.  —  Wohl  zeigt  die  älteste  griechische  Philosophie 
bedeutende  Ansätze  einer  Entwicklungslehre,  aber  die  Höhe  der 
klassischen  Kultur  hat  der  Beharrungslehre  das  entschiedene  Über- 
gewicht gegeben,  da  diese  der  künstlerischen  Art  jenes  Volkes  weit 
mehr  entspricht  und  sie  in  -Begriffe  zu  fassen  geeignet  war.  Die 
Wirklichkeit  gilt  hier  ihrem  Grundbestande  nach  als  ein  lebendiges, 
in  feste  Maße  gefügtes  und  von  unwandelbaren  Ordnungen  be- 
herrschtes Kunstwerk;  aus  der  wirren  Flucht  der  sinnlichen  Eindrücke 
dies  klar  und  kräftig  herauszusehen,  das  wird  zum  Hauptziel  der 
Wissenschaft.  Diese  Aufgabe  ist  nicht  zu  lösen  ohne  die  Anerkennung 
eines  zeitüberlegenen  Seins;  aus  der  Übereinstimmung  mit  ihm  stammt 
alle  Wahrheit  der  Begriffe,  die  vom  Denken  aus  sich  auch  dem 
Handeln  mitteilt  und  es  auf  beharrende  Ziele  richtet  So  ist  die 
Wissenschaft  hier  vor  allem  eine  Versetzung  aus  der  Welt  des 
Werdens  in  die  des  Seins,  freilich  eines  lebendigen  Seins;  durch- 
gängig geht  hier  das  Sein  dem  Werden  voran.^  Eine  nähere  Aus- 
führung gibt  dieser  Denkart  die  Formenlehre,  die  Plato  schafft  und 
Aristoteles  weiterführt.  Zeitlos  wirken  die  Formen  als  Urbilder  und 
Grundkräfte  der  Dinge,  durch  den  Weltprozeß,  der  keinen  Anfang 
und  kein  Ende  hat,  gehen  unverändert  die  Gestalten.  Alle  Veränderung 
kommt  vom  Stoffe,  der,  wenigstens  im  Bereich  des  Erdenlebens, 
sich  der  Form  nicht  dauernd  verbindet,  sondern,  eine  Zeit  lang  von 
ihr  ergriffen  und  gebändigt,  ihr  immer  wieder  entweicht  und  seine 
Gestalt  verliert.  Immer  von  neuem  muß  daher  die  Form  den 
Stoff  ergreifen  und  bezwingen;  das  erklärt  den  unablässigen  Wechsel, 
das  rastlose  Werden  und  Vergehen.  So  gilt  es  zunächst  von  den 
einzelnen  Lebewesen.  Auch  jenseit  ihrer  werden  Verschiebungen  nicht 
geleugnet,  vielmehr  Wandlungen  in  den  Stellungen  der  Gestirne, 
Wandlungen  auch-  im  Auf-  und  Absteigen  der  Völker  bereitwillig 
anerkannt.  Aber  auch  dieses  verwandelt  sich  einer  näheren  Betrachtung 


*  Es  sei  dafür  nur  eine  Stelle  aus  Aristoteles  angeführt  (de  part.  anim. 
640a,  18):  ^  y^^^<^'-?  ^vexa  tjJ?  oüaia?  eoriv,  a.\X  oOy^  f  ouata  l'veza  -rf?  ^evetew?. 
b,  1:  £:t£i  S'eoTt  toioÜtov,  -n^v  ye'vEOtv  üS\  xcl^  zoiauTTjV  au[j.ßaiv£tv  ivaYy.atov.  Selbst 
der   Ausdruck   für   Wissenschaft   wird    mit   Stehen   in    Beziehung  gebracht 

(S.   PhyS.   244  b,  9):    r   o     i^  «px.'i?  ?>^'^'?  ttj;    ir.iTzr^rii   Y£v£at;  oüx  eoriv  tw  y«P 
^pefifaat  xa\  arrivat  ttv  Siavotav  eTiioraaö-ai  xai  (ppovetv  Xe'yo(j.ev. 


Entwicklung.  jg5 

in  eine  Bestätigung  der  Beharrungslehre.  Denn  aus  aller  Veränderung 
ihrer  Stellungen  kehren  die  Gestirne  nach  Ablauf  eines  grofkn  Welt- 
jahres wieder  an  den  Ausgangspunkt  zurück,  um  die  alte  Bewegung 
neu  zu  beginnen,  der  Wechsel  verändert  also  im  Grunde  nichts. 
Ähnlich  bildet  auch  die  Geschichte  eine  endlose  Folge  von  Kreis- 
bewegungen wesentlich  gleichen  Inhalts.  Denn  alles  Aufsteigen  der 
Völker  geht  nur  bis  zu  einem  gewissen  Punkt,  um  dann  in  ein 
Sinken  umzuschlagen,  bis  Elementarkatastrophen  von  Feuer  oder 
Wasser  wieder  eine  Verjüngung  bewirken,  so  daß  nun  dieselbe  Be- 
wegung von  neuem  anheben  kann.  So  eine  ewige  Wiederkehr  der 
Dinge;  was  wir  jetzt  erleben,  geschah  schon  unzähligemal  und  wird 
noch  unzähligemal  geschehen.  Demnach  die  Welt  kein  starres  Sein, 
sondern  voller  Bewegung,  aber  diese  Bewegung,  nach  der  Art  von 
Tages-  und  Jahreszeiten,  in  festem  Rhythmus  verlaufend  und  inmitten 
alles  Wandels  voll  sicherer  Ruhe.  Überall  ist  hier  das  Leben  in 
feste  Grenzen  gebannt,  kein  echtes  Streben  geht  in?  Unbestimmte, 
es  gibt  keinen  Fortschritt  ins  Unendliche,  keine  Hoffnung  einer 
wesentlich  besseren  Zukunft.  Dafür  aber  gilt  die  Überzeugung,  daß 
die  unmittelbare  Gegenwart  Ewiges  erfassen  und  mit  ihm  das  Leben 
erfüllen  kann.  Die  Tätigkeit  selbst  hat  hier  die  Ruhe  in  sich  aufzu- 
nehmen, sie  tut  das,  indem  sie  aus  einem  bloßem  Streben  ein  in 
sich  selbst  befriedigtes  und  gesättigtes  Wirken,  „Energie"  im  Sinne 
des  Aristoteles,  wird.  Eine  derartige  Tätigkeit  gewährt  an  erster 
Stelle  die  Anschauung  des  Wahren  und  Schönen,  aber  auch  das 
Handeln  wird  hier  auf  seiner  Höhe  zum  Darstellen  einer  beharren- 
den Art  und  Natur. 

Solche  Denkweise  sieht  durchgängig  im  Unwandelbaren  ein 
Gutes,  in\  Veränderlichen  ein  Schlechtes.  Das  Hauptmerkmal  der 
Gottheit  bildet  hier  die  Ewigkeit,  das  Unberührtsein  vom  Strom  der 
Zeit.  Dem  Handeln  aber  wird  ein  unwandelbarer  Idealstand  vor- 
gehalten, an  dem  es  sich  messen  und  auf  den  es  sich  richten  soll. 
So  vornehmlich  im  Entwerfen  von  Idealverfassungen,  die  aller  ge- 
schichtlichen Wandlung  entzogen  sind.  Die  Überzeugung,  daß  unser 
Leben  auf  festen  Grundlagen  ruhe  und  sich  innerhalb  fester  Grenzen 
bewege,  gestaltet  die  Arbeit  aller  Gebiete  eigentümlich  und  verleiht 
selbst  der  Logik  und  wissenschaftlichen  Methode  einen  besonderen 
Charakter.  Die  Grundwahrheiten  dünken  hier  in  Begriffen  und 
Urteilen  gegeben  und  abgeschlossen,  es  gilt  nur  sie  deutlich  heraus- 
zustellen, zu  einander  in  Beziehung  zu  setzen,  in  ihre  Konsequenzen 

13* 


196  Zum  Weltproblem. 

zu  verfolgen.  Die  Schlußlehre  ward  damit  zum  Hauptstück  der 
Arbeit,  während  der  Neuzeit  sich  diese  in  die  Urteile  und  Begriffe 
zurückverlegt  hat. 

Dabei  floß  in  die  Lehren  der  Philosophen  von  Anfang  an  auch 
die  Stimmung  des  ganzen  Menschen  mit  ein,  das  Verlangen,  gegen- 
über dem  bunten  und  ermüdenden  Wechsel  der  kleinstaatlichen 
Verhältnisse  einen  beharrenden  und  bedeutenden  Lebensgehalt  zu 
gewinnen;  die  Wendung  vom  menschlichen  Kreise  zum  All  war 
zugleich  ein  Suchen  nach  innerer  Erhöhung  und  Befestigung  des 
'Daseins.  Solche  Strömung  verstärkte  sich  gegen  den  Ausgang  des 
Altertums  und  gewann  neue  Nahrung  im  Christentum.  Die  Sache 
ward  nun  vom  Künstlerischen  ins  Religiöse  gewandt;  verlangte  die 
Höhe  des  griechischen  Lebens  ein  Ruhen  innerhalb  der  Bewegung, 
so  galt  es  jetzt,  eine  Ruhe  in  Gott  im  Gegensatz  zu  dem  unsteten 
und  sinnlosen  Treiben  der  Welt  zu  finden,  sich  dahin  als  in  einen 
sicheren  Hafen  aus  den  Stürmen  des  Lebens  zu  flüchten.  Nicht 
streben  wollte  man,  sondern  fest  und  sicher  besitzen.  Eine  beson- 
dere Kraft  und  Innigkeit  gab  solchem  Verlangen  die  Mystik,  den 
Kern  aller  Weisheit  konnte  sie  darin  finden,  die  ganze  Zeit  zu 
einem  bloßen  Scheine  herabzusetzen  und  durch  ein  wachsendes  Auf- 
gehen in  das  ewige  Sein  jeden  Tag  »jünger"  zu  werden.  Dies  Ideal 
ergriff  in  den  Zeiten  des  ausgehenden  Altertums  und  des  beginnenden 
Mittelalters  um  so  mächtiger  das  Gemüt,  als  es  der  gesamten  Lage 
der  Kultur  entsprach.  Denn  eine  alte  Art  hatte  sich  hier  ausgelebt, 
ohne  daß  fruchtbare  Keime  einer  neuen  erkennbar  waren;  selbst  den 
Besten  konnte  es  daher  als  Hauptaufgabe  erscheinen,  den  vorhandenen 
Besitz  treu  zu  wahren  und  gewissenhaft  den  künftigen  Geschlechtern 
mitzuteilen.  Unwandelbar  schien  vor  allem  die  religiöse  Wahrheit, 
als  göttliche  Offenbarung;  aber  auch  auf  den  übrigen  Gebieten,  in 
Philosophie  und  Medizin,  in  Recht  und  Staat,  schien  alles  erreicht, 
was  dem  Menschen  irgend  erreichbar  ist;  die  Autorität  eines  Aristoteles 
und  eines  Galen  stand  kaum  hinter  der  des  kirchlichen  Dogmas 
zurück. 

Diese  Überzeugungen  tragen  das  große  Ordnungssystem  des 
Mittelalters,  das  überall  unwandelbare  Normen  und  feste  Verkettungen 
herstellt,  innerlich  wie  äußerlich,  namentlich  auch  in  den  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen,  das  Leben  in  sichere  Bahnen  bringt  und  keinen 
Trieb  zur  Veränderung  aufkommen  läßt.  Solcher  Denkweise  liegt 
es  fern,  die  Natur  als  ein  Reich  allmählichen  Werdens  zu  verstehen. 


Entwicklung.  X97 

vielmehr  hat  diese  nur  die  Formen  zu  bewahren,  die  der  Schöpfer 
ihr  zu  Anfang  mitgeteilt  hat.^ 

Die  Neuzeit  stand  von  vornherein  zu  einer  solchen  Beharrungs- 
lehre feindlich.  Denn  sie  konnte  keine  selbständige  Art  entfalten 
ohne  einen  Glauben  an  die  Bewegung  und  das  Recht  der  Bewegung, 
im  Eintreten  dafür  mußte  sie  ihrem  eignem  Streben  Boden  gewinnen. 
In  Wahrheit  war  gegenüber  dem  Ausgang  des  Altertums  die  Lage 
der  Menschheit  erheblich  verändert  Neue  Völker  voll  strotzender 
Jugendkraft  waren  entstanden,  die  langen  Jahrhunderte  des  Mittelalters 
hatten  viel  Vermögen  gesammelt,  das  immer  stärker  nach  Betätigung 
drängte  und  sich  zutrauen  durfte,  die  Welt  mit  eignen  Augen  zu 
sehen  und  nach  eignen  Zielen  zu  gestalten;  aus  dem  bloßen  Emp- 
fangen und  Überliefern  treibt  es  zum  Weiterbauen  und  Erneuern, 
ein  verändertes  Lebensgefühl  eröffnet  neue  Ausblicke  und  Aufgaben, 
die  Idee  einer  fortschreitenden  Bewegung  ergreift  immer  mehr  das 
Leben  wie  die  Arbeit 

Aber  solchen  Lebensdrang  in  eine  sichere  Bahn  zu  leiten,  war 
keineswegs  leicht;  die  Geschichte  der  Entwicklungsidee  zeigt,  wie 
das  nur  im  Anschluß  an  ältere  Bestrebungen  gelungen  ist,  und  wie 
es  verschiedene  Stufen  durchlaufen  hat.  Die  Anregung  zum  Neuen 
reicht  in  das  Christentum  selbst  zurück.  Mochte  seine  kirchliche 
Gestalt  fest  an  der  Beharrungslehre  haften,  seine  Gedankenwelt  ent- 
hielt auch  fruchtbare  Antriebe  entgegengesetzter  Art.  Dem  Christentum 
wird  die  Geschichte  weit  mehr  als  dem  Altertum.  Mitten  in  die 
Zeit  war  nach  seiner  Überzeugung  das  Göttliche  eingetreten,  nicht 
in  mattem  Abglanz,  sondern  mit  ganzer  Fülle  seiner  Herrlichkeit*  als 
beherrschender  Mittelpunkt  des  Ganzen  mußte  es  alle  Vergangenheit 
auf  sich  beziehen  und  alle  Zukunft  aus  sich  entfalten.  Die  Einzig- 
artigkeit dieses  Geschehens  litt  keinen  Zweifel,  Christus  konnte  nicht 
immer  von  neuem  kommen  und  sich  kreuzigen  lassen;  so  entfielen 
die  unzähligen  Perioden,  die  ewige  Wiederkehr  der  Dinge;  aus  einem 
gleichmäßigen  Ablauf  von  Rh>1hmen  wurde  die  Geschichte  ein  um- 
spannendes Ganzes,  ein  einziges  Drama;  daß  der  Mensch   hier  zu 


^  Um  nur  eine  bezeichnende  Stelle  dafür  anzuführen,  so  läßt  Alanus 
de  insulis  (s.  Baumgartner,  die  Philos.  des  A.  d.  J.,  S.  79)  die  Natur  sprechen : 
Me  igitur  tamquam  sui  vicariam  rerum  generibus  sigillandis  monetariam  desti- 
navit,  ut  ego  in  propriis  incudibus  rerum  effigies  commonetans  ab  incudis 
forma  conformatum  deviare  non  sinerem. 


198  Zum  Weltproblem. 

einer  völligen  Umwandlung  aufgerufen  wurde,  das  gab  seinem  Leben 
eine  unvergleichlich  größere  Spannung,  als  wo  es  nur  eine  vor- 
handene Natur  zu  entfalten  galt.  So  liegen  die  Wurzeln  einer 
höheren  Schätzung  der  Geschichte  und  des  zeitlichen  Lebens  nirgend 
anders  als  im  Christentum. 

Aber  nur  langsam  geschah  es,  daß  solche  Wandlungen  prinzipiell 
gefaßt  und  deutlich  ausgesprochen  wurden;  es  ist  das  vornehmlich 
von  der  Spekulation  her  geschehen,  die  damals  mit  einem  Verlangen 
nach  gemütvoller  Aneignung  Hand  in  Hand  ging.  Vor  allem 
suchte  sie  die  Welt  zu  Gott  in  ein  engeres  Verhältnis  zu  bringen, 
als  der  naive  Glaube  es  tat.  Was  ist  und  bedeutet  die  Welt  mit 
all  ihrem  Geschehen,  von  Gott  aus  betrachtet?  Sie  kann,  so  lautet 
die  Antwort  eines  Augustin,  nichts  anderes  als  eine  Selbstdarstellung 
des  göttlichen  Wesens  sein.  Damit  aber  gewinnt  alle  Mannigfaltig- 
keit in  ihr  einen  inneren  Zusammenhang,  auch  die  verschiedenen 
Punkte  der  Geschichte  können  nun  kein  bloßes  Nacheinander  bleiben, 
sie  werden  Stücke  einer  durchgehenden  Bewegung,  ja  eines  einzigen 
weltumspannenden  Tuns;  auch  das,  was  später  eintritt,  mußte  beim 
Früheren  irgend  schon  gegenwärtig  sein;  so  läßt  sich  der  gesamte 
Weltprozeß  der  Entwicklung  eines  Baumes  aus  seinem  Samen  ver- 
gleichen. ^  Die  mystische  Spekulation  eines  Dionysius,  Scotus  Eriu- 
gena  u.  s.  w.  steigert  dies  dahin,  das  Ganze  der  Welt  als  eine 
«Auswicklung"  dessen  zu  fassen,  was  „eingewickelt"  bei  Gott  ist, 
als  eine  Entfaltung  der  Ewigkeit  zu  einem  Leben  in  der  Zeit,  der 
unsichtbaren  Einheit  zu  sichtbarer  Vielheit.  Ihre  Ausdrücke  und  Bilder 
sollten  uns  freilich  nicht  verführen,  diese  Denkart  der  modernen  zu 
nahe  zu  rücken.     Das  begründende  Sein  und  die  bewegende  Kraft 


*  Bei  dem  allen  ist  Augustin  der  führende  Geist;  für  seine  Entwicklungs- 
lehre ist  namentlich  bezeichnend  folgende  Stelle  (op.  III,  148 D):  Sicut  in  ipso 
grano  invisibiliter  erant  omnia  simul  quae  per  tempora  in  arborem  surgerent: 
ita  ipse  mundus  cogitandus  est,  cum  Deus  simul  omnia  creavit,  habuisse 
simul  omnia  quae  in  illo  et  cum  illo  facta  sunt,  quando  factus  est  dies,  non 
solum  caelum  cum  sole  et  luna  cum  sideribus  — ,  sed  etiam  illa  quae  aqua 
et  terra  produxit,  potentialiter  atque  causaliter,  priusquam  per  tem- 
porum  moras  ita  exorirentur,  quomodo  nobis  jam  nota  in  eis  operibus,  quae 
Deus  usque  nunc  operatur.  Wie  er  sich  aber  die  Entwicklung  eines  Baumes 
aus  dem  Samen  vorstellt,  zeigt  V,  714 E:  In  illo  grano  seminis  exiguo,  vix 
visibili,  si  consideres  animo,  non  oculis,  in  illa  exiguitate,  illis  angustiis  et 
radix  latet  et  robur  insertum  est  et  folia  futura  alligata  sunt  et  fructus,  qui 
apparebit  in  arbore,  jam  est  praemissus  in  semine. 


Entwicklung.  199 

blieben  gänzlich  jenseitiger  Art;  die  Kette  des  Geschehens  und  die 
Stufenfolge  des  Nacheinander  war  nicht  dem  eignen  Boden  der  Zeit 
entsprungen,  sondern  in  ihr  hatte  die  göttliche  Einheit  sich  zeitlos 
auseinandergelegt.  Wie  diese  mit  ihrer  ewigen  Ruhe  als  das  un- 
bedingt Höhere  galt,  so  strebte  auch  das  Leben  letzthin  nicht  in  die 
Fülle  der  Welt  hinein,  sondern  aus  ihr  zurück  zu  jener  aller  Viel- 
heit und  Bewegung,  aller  Zerstreuung  und  Unruhe  überlegenen 
Einheit.  Aber  trotz  solches  Abstandes  hat  die  mystisch-spekulative 
Gedankenwelt  die  moderne  Entwicklungslehre  eingeleitet.  Sie  hat 
von  der  Welt,  als  der  Erscheinung  göttlichen  Wesens,  höher  denken 
gelehrt  und  ihrem  Leben  die  Richtung  auf  Ewiges  und  Unend- 
liches gegeben.  Die  Welt  würde  der  modernen  Forschung  nicht 
mit  solcher  Größe  gegenwärtig  sein,  hätte  nicht  die  Gottesidee,  die 
Idee  des  absoluten  Wesens,  ihr  Leben  und  Glanz  geliehen. 

Allerdings  mußte  im  Verhältnis  von  Gott  und  Welt  erst  eine 
beträchtliche  Verschiebung  erfolgen,  ehe  das  sicher  fortschreiten 
konnte:  die  engere  Verbindung  von  Welt  und  Gott  durfte  nicht  dazu 
dienen,  die  Welt  gänzlich  in  Gott  verschwinden  zu  lassen,  sondern 
sie  mußte  dahin  wirken,  ihr  als  dem  Ausdruck  göttlichen  Seins  einen 
höheren  Wert  zu  geben.  Diese  Verschiebung  aber  ist  bei  dem 
bahnbrechenden  Philosophen  der  Renaissance,  bei  Nikolaus  von  Kues 
(1401  —  1464),  erfolgt.  Als  die  Auswicklung  des  unendlichen  Lebens 
—  die  neuere  Spekulation  pflegt  beim  Gottesbegriff  der  Ewigkeit 
die  Unendlichkeit  voranzustellen  —  muß  ihm  die  Welt  durch  und 
durch  lebendig  sein,  ja  muß  sie  an  jeder  Stelle  nach  Teilnahme  am 
unendlichen  Leben  dürsten,  eben  damit  aber  einen  Trieb  zu  un- 
begrenztem Fortschritt  in  sich  tragen.^     Was  Gott  besitzt,  das  hat 


*  Nur  ein  Fortschritt  ins  Unendliche  kann  die  Lebensfülle  des  absoluten 
Seins  zum  Ausdruck  bringen,  s.  z.  B.  Nikolaus  von  Kues  (Paris.  Ausg.  von 
1514,  II,  188a):  Posse  semper  plus  et  plus  intelligere  sine  fine,  est  similitudo 
aeternae  sapientiae,  et  ex  hoc  elice,  quod  est  viva  imago,  quae  se  conformat 
creatori  sine  fine.  II,  187b:  semper  vellet  id  quod  intelligit  plus  intelligere 
et  quod  amat  plus  amare,  et  mundus  totus  non  sufficit  ei,  quia  non  replet 
desiderium  intelligendi  ejus.  —  Der  Begriff  des  Fortschritts  ist  dem  Altertum 
trotz  der  Vorherrschaft  der  Beharrungslehre  keineswegs  fremd,  Plato  und  Aristo- 
teles haben  dafür  die  Ausdrücke  smSoai;  und  iTrtötSo'vai,  weit  mehr  aber  trat 
das  stoische  r.poy.oTu  hervor,  das  wir  (z.  B.  bei  Polybius)  ganz  ähnlich  ver- 
wandt finden  wie  das  heutige  »Fortschritt".  Der  Gedanke  eines  Fortschritts 
ins  Unendliche  hat  seine  Wurzel  bei  den  Piatonikern  und  Mystikern,  er  ist 
aber  zur  vollen  Entwicklung  erst  in  der  neuen  Philosophie  gelangt.    Seinen 


200  Zum  Weltproblem. 

die  Kreatur  in  allmählichem  Wachstum  annähernd  zu  erreichen. 
Mit  solcher  Wendung  wird  die  Bewegung  wesentlich  gehoben  und 
der  ganzen  Welt  ein  Streben  nach  aufwärts  eingepflanzt.  Zugleich  ge- 
winnt, in  direktem  Gegensatz  zum  Ausgang  des  Altertums,  das 
Künstlerische  neben  dem  Religiösen  Platz,  ja  es  beginnt  dieses 
zurückzudrängen.  Indem  die  Welt  sich  mehr  und  mehr  als  ein 
lebensvolles  Kunstwerk  darstellt,  in  dessen  Harmonie  sich  alle  Gegen- 
sätze des  ersten  Anblicks  auflösen,  scheint  sie  die  Bewegung  wie 
alle  Bildung  von  innen  her,  durch  Entfaltung  ihres  eignen  Wesens, 
hervorzubringen;  das  Absolute  bedeutet  nun  weniger  ein  eignes 
Reich,  als  es  der  Welt  eine  Tiefe  oder  doch  einen  Hintergrund  gibt. 
Solche  Verschiebung  vom  Theismus  zum  Pantheismus  kommt  zum 
Siege  in  Giordano  Bruno;  die  immanente  und  künstlerische  Gestalt 
der  Entwicklungslehre  hat  von  nun  an  die  Oberhand.  Das  ist  die 
Form,  welche  bis  zur  Gegenwart  in  den  Ausdrücken  und  Bildern 
von  der  Sache  überwiegt,  das  stille  und  stetige  Wachsen  der  Pflanze 
wird  hier  zum  Vorbilde  für  das  Wirken  und  Aufsteigen  der  Natur 
von  innen  heraus.  Die  Aufklärung  mit  ihrer  Zerlegung  der  Natur 
in  seelenlose  Elemente  ist  dieser  Gedankenrichtung  minder  günstig,^ 
dagegen  bringt  der  Rückschlag  gegen  die  Aufklärung,  wie  ihn  der 
deutsche  Humanismus  enthält,  sie  voll  zu  Ehren.  Nicht  die  bloße  Be- 
wegung, sondern  das  künstlerische  Gestalten  wird  hier  zum  Haupt- 


Höhepunkt  bildet  Leibniz,  s.  z.  B.  150a  (Erdm.):  In  cumulum  etiam  pul- 
chritudinis  perfectionisque  universalis  operum  divinorum  progressus  quidam 
perpetuus  liberrimusque  totius  universi  est  agnoscendus,  ita  ut  ad  majorem 
semper  cultum  procedat  ff.;  femer  deutsche  Schriften  II,  36:  «Der  Kreaturen 
und  also  auch  unsere  Vollkommenheit  bestehet  in  einem  ungehinderten 
starken  Forttrieb  zu  neuen  und  neuen  Vollkommenheiten."  Bei  Wolff  und 
seiner  Schule  galt  als  das  höchste  Gut  perpetuus  sive  non  impeditus  ad 
majores,  per fection es  progressus.  —  Der  Ausdruck  Fortschritt  dürfte  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  ein  fester  Terminus  geworden  sein. 

*  Es  fehlt  hier  aber  keineswegs  an  anregenden  Gedanken  nach  dieser 
Richtung.  S.  z.  B.  die  wenig  beachtete  Stelle  in  Leibnizens  Hauptwerk 
(Nouv.  ess.  III,  cp.  VI,  pag.  317a,  Erdm.):  Peut-etre  que  dans  quelque  tems 
ou  dans  quelque  Heu  de  l'univers  ies  especes  des  animaux  sont  ou  etaient 
ou  seront  plus  sujets  ä  changer,  qu'elles  ne  sont  presentement  parmi  nous, 
et  plusieurs  animaux  qui  ont  quelque  chose  du  chat,  comme  le  Hon,  le  tigre 
et  le  lynx  pourraient  avoir  ete  d'une  meme  race  et  pourront  etre  maintenant 
comme  des  sousdivisions  nouvelles  de  l'ancienne  espece  des  chats.  Ainsi 
je  reviens  toujours  ä  ce  que  j'ai  dit  plus  d'une  fois  que  nos  determinations 
des  especes  physiques  sont  provisionelles  et  proportionelles  ä  nos  connaisances. 


Entwicklung.  201 

werke  der  Natur;  damit  wird  ihre  Veränderung  zu  einer  Entwicklung 
von  innen  her,  und  alle  Mannigfaltigkeit  ihrer  Gestalten  scheint  auf 
einen  einzigen  Grundtypus  zurückzukommen.  Über  die  Natur  hinaus 
bemächtigt  sich  der  Entwicklungsgedanke  dann  des  Menschenlebens 
und  des  ganzen  Alls;  „alles,  was  in  der  Wirklichkeit  vorkommt«, 
erscheint  nun  als  „Entwicklung  einer  absoluten  Vernunft"  (s.  Schelling  I, 
481).  Die  nähere  Durchführung  dessen  zeigt  verschiedene  Färbungen; 
stellt  die  Romantik  das  ruhige  Werden  und  Wachsen  in  den  Vorder- 
grund, so  gibt  Hegel  mit  seiner  kosmischen  Logik  der  Entwicklungs- 
idee mehr  Selbsttätigkeit.  Immer  aber  erfolgt  die  Bewegung  von 
innen  heraus,  immer  wirkt,  auch  an  der  einzelnen  Stelle,  mit  über- 
legener Kraft  das  Ganze. 

Das  eben  ist  es,  was  die  künstlerische  Entwicklungslehre  von 
der  strengwissenschaftlichen  unterscheidet,  die  der  Neuzeit  eigen- 
tümlich ist.  Denn  diese  gibt  alle  inneren  Zusammenhänge  auf  und 
stellt  das  Problem  ganz  und  gar  auf  den  Boden  des  unmittelbaren 
Daseins:  das  empirische  Zusammenwirken  der  Elemente  soll  den 
Gesamtstand  der  Natur  verstehen  lehren,  und  es  soll  aller  Fort- 
schritt in  einem  zeitlichen  Nacheinander  erfolgen.  In  diesem  Sinne 
wird  die  Entwicklungsidee  zu  einem  Hauptstück  der  modernen 
Wissenschaft.  Diese  setzt  das  nächste  Bild  der  Dinge  zu  einer 
bloßen  Erscheinung  herab,  von  der  es  zu  den  echten  Beständen  erst 
durchzudringen  gilt.  Das  geschieht,  indem  die  Analyse  einfache 
Elemente  aufsucht,  das  Gesetz  die  Wirkformen  dieser  ermittelt, 
dann  aber  die  Entwicklung  die  Welt  neu  aufbaut  und  vom  ge- 
schichtlichen Werden  aus  den  vorgefundenen  Bestand  begreiflich 
macht  So  wird  sie  der  neueren  Wissenschaft  zur  Hauptvertreterin 
der  Synthese,  und  erscheint  sie  als  die  Vollendung  und  der  Prüf- 
stein der  gesamten  Arbeit  der  Forschung;  kein  Wunder,  daß  ihr 
die  Gunst  des  Denkens,  ja  des  modernen  Menschen  gehört  Es 
erscheint  aber  die  neue  Entwicklungslehre  gleich  beim  entscheidenden 
Durchbruch  der  modernen  Denkart;  schon  Descartes  hat,  wenn  auch 
nur  als  eine  Möglichkeit,  den  Gedanken,  daß  der  gegenwärtige 
Weltstand  in  der  Zeit,  nach  und  nach  (cum  tempore,  successive) 
entstanden  sei.^     Im  Lauf  der  Jahrhunderte  bemächtigt  sich  dieser 


^  Clauberg  beschrieb  im  wesentlichen  zutreffend  (op.  philos.  755)  die 
cartesianische  Methode  folgendermaßen:  Hanc  methodum  Cartesiana  physica 
tenens  considerat  omnes  res  naturales  non  statim  quales  sunt  in  statu  perfec- 
tionis  suae  absoluto  (ut  vulgo  fieri  solet  ab  aliis),  sed  prius  agit  de  quibusdam 


202  Zum  Weltproblem. 

Gedanke  aller  einzelnen  Gebiete  und  gräbt  sich  immer  tiefer  in  den 
Stand  des  Wissens  ein.^  In  der  Kosmologie  weicht  der  antike  Ge- 
danke einer  Unveränderlichkeit  des  Himmelsgewölbes  dem  des  all- 
mählichen Werdens  der  Weltkörper  und  Weltsysteme  (Kant,  Laplace), 
der  Befund  der  Seele  wird  nicht  nach  alter  Art  als  fertig  hingenommen, 
beschrieben  und  eingeteilt,  sondern  die  moderne  Psychologie  strebt 
seit  Locke,  das  Werden  und  Wachsen  der  Seele  von  einfachsten 
Lebenserscheinungen  ner  genetisch  zu  verstehen;  die  menschliche 
Geschichte  erscheint  als  ein  allmähliches  Aufklimmen  von  ver- 
schwindenden Anfängen  her  zu  unbegrenzter  Höhe,  und  ähnlich 
werden  auch  die  einzelnen  Kulturwelten  als  in  Fluß  und  Wandel 
befindlich  behandelt.  Überall  ist  gegen  die  ältere  Art  der  Anblick 
der  Wissenschaft  umgewandelt:  war  sie  dort  ein  Herausheben  der 
bleibenden  Bestände  und  ein  unmittelbares  Zusammenschliefkn  zu 
einem  festen  Ganzen,  ein  künstlerisches  Zusammenschauen  der 
Mannigfaltigkeit,  so  bringt  sie  nun  das  nur  scheinbar  Feste  in  Fluß, 
dringt  unermüdlich  zu  kleineren  und  kleineren  Elementen  vor  und 
verwandelt  die  Wirklichkeit  in  einen  noch  mitten  im  Werden  be- 
griffenen Prozeß.  Dabei  scheint  sie  zu  einer  weit  engeren  Berührung 
mit  den  Dingen  zu  kommen,  die  sie  früher  mehr  von  außen  be- 
trachtete; so  heißt  etwas  in  die  Entwicklung  hineinziehen,  es  voll 
der  Erkenntnis  gewinnen. 

Aber  so  wirksam  die  moderne  Entwicklungsidee  schon  lange 
war,  zum  Siege  für  das  Ganze  des  Lebens  und  der  Arbeit  hat  sie 
erst  Darwin  gebracht.  Zunächst  hat  seine  Leistung  eine  große  Lücke 
ausgefüllt:  die  organischen  Formen  widerstanden  bis  dahin  einer  gene- 
tischen Erklärung  hartnäckig,  so  blieb  eine  unüberbrückte  Kluft 
zwischen  den  Weltbegriffen  und  den  Erfahrungen  des  menschlichen 
Kreises,  die  beide  der  Entwicklung  schon  gewonnen  waren.  Wohl 
waren,  namentlich  durch  Lamarck,  bedeutende  Anfänge  zur  Aufhellung 
gemacht,  aber  den  Versuchen  fehlte  die  Verbindung  zu  einem  durch- 
gebildeten Ganzen  und  zugleich  eine  zwingende  Kraft.   Darwin  hat 

earundem  principiis  valde  simplicibus  et  facilibus,  deinde  explicat,  quomodo 
paulatim  ex  Ulis  principiis,  suprema  causa  certis  legibus  opus  dirigente, 
oriantur  et  fiant,  aut  carte  oriri  aut  fieri  possint,  donec  tandem  tales  evadant, 
quales  esse  experimur  dum  consummatae  et  absolutae  sunt. 

'  Einen  wichtigen  Abschnitt  dieser  Bewegung  behandelt  in  vortrefflicher 
Weise  H.  Heußler:  „Der  Rationalismus  des  17.  Jahrhunderts  in  seinen  Be- 
ziehungen zur  Entwicklungslehre",  1885. 


Entwicklung.  203 

mit  seiner  Vereinigung   von   Deszendenz-  und  Selektionslehre  jene 
Lücke  ausgefüllt   und  das  Schlußstück  des  Ganzen   geliefert;   seine 
Lehre  ist  namentlich  dadurch  stark,  daß  sie  aus  genauester  Durch- 
forschung ihres  besonderen  Gebietes  Begriffe  gewinnt,  die  einer  un- 
ermeßlichen Ausdehnung  nach   allen  Richtungen   fähig  scheinen;  er 
hat,  wie  Helmholtz  sich  ausdrückt  (s.  popul.  wissensch.  Vortr.  2.  Aufl. 
II,  204),  »alle  —  vereinzelten  Gebiete  aus  dem  Zustande  einer  An- 
häufung rätselhafter  Wunderlichkeiten  in  den  Zusammenhang  einer 
großen  Entwicklung  erhoben  und  an  die  Stelle  einer  Art  von  künst- 
lerischer Anschauung  bestimmte  Begriffe  gesetzt."    Solches  Verdienst 
erfährt  keinen  Abbruch  dadurch,  daß  die  Schranken  der  Selektions- 
lehre mit  ihrer  natürlichen  Zuchtwahl  und  ihrem  Kampfe  ums  Da- 
sein zu   immer  klarerer  Einsicht  kommen;   hat  doch  Darwin  selbst 
diese  Lehre  nicht  als  die  einzige  Erklärung  der  organischen  Formen 
ausgegeben.     Es  bleibt  dabei,  daß  durch   ihn  das  Problem  in  eine 
neue  Lage  gebracht  ist,  daß  die  Entwicklungsidee  mit  der  Sicherung 
auf  dem  Gebiet  des  organischen  Lebens   zugleich  die  Fähigkeit  er- 
langt hat,    sich   zum   Ganzen    einer  Weltanschauung   zu    erweitern. 
Für  solche  Wendung    muß   vornehmlich  Spencers  gedacht  werden, 
der  zuerst  von  einer  realistischen  Denkweise  aus  die  Entwicklungs- 
lehre ein  eigentümliches  Weltbild  hat  erzeugen  lassen.    Entwicklung 
ist  ihm   ein  Übergehen   aus  einem  zusammenhangsloseren   in  einen 
zusammenhängenderen  Zustand.     Als  die  allgemeinste  Tatsache  der 
Welt  gilt  ihm   Entwicklung,    als  Zusammenschluß   (Integration)    des 
Stoffes  und  Zerstreuung  der  Bewegung;  ihr  folgt  aber  bei  ihm  in 
endlosem  Wechsel   eine   Periode   der  Auflösung  in   Aufnahme  (ab- 
sorption)  von  Bewegung  und  Lockerung  (disintegration)  des  Stoffes. 
Dort  erfolgt  eine  Verschiebung  vom  Gleichartigen  ins  Ungleichartige, 
eine  zunehmende  Spezialisierung  und  Differenzierung,   vom  Weltall 
als    Ganzen    bis  in   die  einzelnen   Weltkörper,    in    die  menschliche 
Gemeinschaft,  die  Kultur,  das  Einzelwesen  hinein;  die  Periode  der 
Auflösung   verfolgt   die  umgekehrte  Richtung.    Eine  Verwandtschaft 
solches  Rhythmus  mit  Gedanken  der  ältesten  griechischen  Philosophie, 
namentlich  mit  Empedokles,  ist  nicht  zu  verkennen.    Wenn  Spencers 
Lehre,  die  im  Grundriß  zeitlich  voranging,  der  Darwins  einen  uni- 
versalen Hintergrund  gegeben  hat,  so  hat  sie  durch  die  Verbindung 
mit  dieser  unermeßlich  an  Fülle,  Anschaulichkeit  und  Eindringlich- 
keit gewonaen. 

Trotz  solches  Vordringens  der  Bewegungslehre  ist  die  Beharrungs- 


204  Zum  Weltproblem. 

lehre  zu  tief  eingelebt  und  zu  fest  mit  den  Überzeugungen  wich- 
tiger Lebensgebiete  verschmolzen,  als  daß  sie  nicht  vielfachen  Wider- 
stand leisten  müßte.  Im  besonderen  ist  es  die  Religion,  die  nicht 
nur  einzelne  Bestandteile  ihres  herkömmlichen  Vorstellungskreises, 
sondern  auch  den  ihr  unentbehrlichen  Gedanken  einer  ewigen  Wahr- 
heit bedroht  sieht.  Aber  auch  hier  befestigt  sich  mehr  und  mehr 
die  Überzeugung,  daß  es  weniger  die  Bewegungslehre  selbst,  als 
ihre,  keineswegs  notwendige  Verquickung  mit  Überzeugungen  material- 
istischer oder  doch  naturalistischer  Art  ist,  welche  einen  unversöhn- 
lichen Gegensatz  zur  Religion  enthält.  ^  Alles  zusammen  hebt  die 
Entwicklungslehre  weit  über  die  Stellung  einer  besonderen  Theorie 
neben  anderen  hinaus,  sie  hat  die  Führung  des  Ganzen  übernommen 
und  erzeugt  einen  neuen  Lebenstypus,  der  ebenso  unser  Grund- 
verhältnis zur  Wirklichkeit  als  die  Art  unseres  Tuns  aufs  wesent- 
lichste verändert.  Nun  heißt  es  nicht  mehr  eine  fertig  vorhandene 
Wirklichkeit  anzueignen,  sondern  einer  erst  werdenden  zur  Vollendung 
zu  verhelfen;  die  Tätigkeit  verschlingt  sich  dabei  enger  mit  der  Um- 
gebung und  gewinnt  ihre  nähere  Gestalt  erst  aus  der  Berührung  mit 
den  Dingen.  Sie  darf  sich  sagen,  nicht  neben,  sondern  inmitten 
der  Welt  zu  stehen  und  zu  ihrer  Bildung  mitzuwirken.  Nun  ent- 
fällt die  alte  Flucht  aus  dem  Strom  der  Zeit  zu  einer  wandellosen 
Ewigkeit,  sowie  die  Vorhaltung  eines  Idealstandes  als  eines  unverrück- 
baren Zieles,  vielmehr  heißt  es,  ganz  und  gar  der  Bewegung  der 
Zeit  zu  folgen  und  das  Handeln  den  Forderungen   der  jeweiligen 


*  Es  sei  dafür  nur  eine  Stelle  des  hervorragenden  französischen  Theo- 
logen Erzbischof  Mignot  angeführt.  Er  sagt  in  seiner  vielbeachteten  Rede 
über  die  Methode  der  Theologie  (s.  Bulletin  de  litterature  ecclesiastique 
Nov.  1901,  pag.  272):  Vous  savez  avec  quelle  defiance  justifiee  fut  regue 
dans  nos  ecoles,  il  y  a  trente  ans,  l'idee  d'evolution,  qui  paraissait  liee  par 
de  graves  compromissions  avec  la  philosophie  pantheiste;  depuis  que  l'analyse 
en  a  precise  le  contenu,  on  est  ä  peu  pres  unanime  ä  reconnaitre  qu'une 
certaine  fagon  d'entendre  l'evolution  est  conciliable  avec  une  conception 
religieuse  et  chretienne  de  l'univers;  on  en  trouve  le  germe  dans  saint 
Augustin,  et  on  deeouvre,  avec  Vincent  de  Lerins,  qu'appliquee  ä  l'histoire 
religieuse,  eile  peut  apporter  de  grandes  clartes  dans  des  problemes  qui 
seraient  restes  insolubles.  Auch  Reischle:  „Wissenschaftliche  Entwicklungs- 
forschung und  evolutionistische  Weltanschauung  in  ihrem  Verhältnis  zum 
Christentum"  (Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche,  12.  Jahrgang,  1.  Heft) 
scheidet  scharf  zwischen  Evolutionismus  als  Weltanschauung  und  Entwick- 
lungstatsachen. Auch  an  Newman's  theory  of  development  mag  hier  er- 
innert sein  (s.  darüber  Lady  Blennerhassett ,  Kardinal  Newman  S-  125  ff). 


Entwicklung.  205 

Lage  möglichst  genau  anzupassen.  Das  rüttelt  alle  Lebensgebiete 
aus  träger  Starrheit  auf  und  bringt  sie  in  frischesten  Fluß,  das  gibt 
z.  B.  der  Gesetzgebung  wie  der  Erziehung  eine  engere  Beziehung 
zur  Zeit  und  erfüllt  sie  mit  den  Aufgaben  der  lebendigen  Gegen- 
wart. Von  hier  aus  erwächst  ein  eigentümlicher  Begriff  des  Modernen, 
als  der  Ergreifung  des  unmittelbaren  Augenblicks  und  der  Gestaltung 
aller  Verhältnisse  nach  seinen  Bedürfnissen,  eine  Elastizität  des  Lebens, 
die  weiteren  Wandlungen  bereitwillig  entgegenkommt.  Bildet  so 
nach  dem  Ausdruck  Hegels  das  Werden  .,die  Wahrheit  des  Seins", 
so  müssen  auch  die  Ideale  die  Beweglichkeit  teilen,  so  werden  auch 
die  Ziele  veränderlich,  so  wird  die  Wahrheit  ein  »Kind  der  Zeit" 
(veritas  temporis  filia).  Das  unterwirft  augenscheinlich  das  Leben 
einem  völligen  Relativismus,  aber  mit  dem  Hinfälligwerden  der 
älteren  Denkweise  hat  ein  solcher  allen  Schrecken  verloren.  Denn 
als  Hauptziel  gilt  ja  nicht  mehr  die  Aneignung  einer  um  uns  vor- 
handenen und  fertig  abgeschlossenen  Wahrheit,  sondern  die  Erzeugung 
eines  möglichst  reichen  Lebens  im  eignen  Kreise;  dafür  aber  scheint 
jene  mehr  relative  Art  mit  ihrer  unbegrenzten  Beweglichkeit  und 
Anpassungsfähigkeit  besonders  geeignet.  Das  alles  verbleibt  nicht 
bei  inneren  Bestrebungen  und  Wandlungen,  auch  die  äußere  Ge- 
staltung des  modernen  Lebens  hat  jene  Verwandlung  des  Daseins 
in  eine  rastlos  fortschreitende  Bewegung  aufs  wirksamste  unterstützt. 
Die  Technik  hat  den  Lebensprozeß  in  ungeahnter  Weise  beschleunigt, 
den  Augenblick  bedeutender  gemacht,  die  Berührungen  und  mit 
ihnen  die  Wandlungen  der  Dinge  unermeßlich  gesteigert;  bis  in  ihre 
Werkzeuge  hinein  ist  jetzt  die  Arbeit  in  unablässiger  Wandlung  be- 
griffen. ^  Mit  dem  allen  scheint  der  Sieg  der  Bewegungslehre  end- 
gültig entschieden  und  mit  ihm  ein  kräftigeres,  freieres,  frischeres 
Leben  errungen.  ^ 


*  Die  Konsequenzen  dessen  für  die  sozialen  Probleme  hat  namentlich 
K.  Marx  in  eindringlicher  Weise  dargelegt;  er  sagt  (Das  Kapital,  I,  479): 
„Die  moderne  Industrie  betrachtet  und  behandelt  die  vorhandene  Form  eines 
Produktionsprozesses  nie  als  definitiv.  Ihre  technologische  Basis  ist  daher 
revolutionär,  während  die  aller  früheren  Produktionsweisen  wesentlich  kon- 
servativ war." 

*  Merkwürdig  genug  ist,  daß  in  derselben  Zeit,  wo  die  Entwicklungslehre 
so  siegreich  vordringt,  der  Forschung  ernste  Besorgnis  über  den  bleibenden 
Fortbestand  des  Lebens  erwachen;  das  aber  von  der  Tatsache  aus,  daß 
Wärme  nur  von  heißeren  zu  kälteren  Körpern  übergehen  kann,  und  daß 
damit  das  Weltall  einem  Gleichgewicht  zustrebt,  bei  dem  das  Leben  auf- 


206  Zum  Weltproblem. 

c)  Die  Verwicklungen  und  Schranken  der  bloßen 
Entwicklungslehre. 

Das  alles  hat  seine  Wahrheit  und  sein  Recht;  töricht  wäre  es, 
sich  einem  solchen  Strom  von  Tatsächlichkeit  entgegenzuwerfen,  klein- 
lich, an  ihm  einzelne  Irrungen  aufzusuchen  und  bei  ihnen  zu  verweilen. 
Aber  daß  Welt  und  Leben  darin  aufgehen,  daß  der  Kampf  zwischen 
Bewegungs-  und  Beharrungslehre  schon  endgültig  ausgekämpft  ist, 
das  dürfte  mit  allen  jenen  Wandlungen  noch  keineswegs  entschieden 
sein.  Es  müßte  wunderbar  zugehen,  wenn  die  Idee  der  Entwicklung 
selbst  ohne  alle  Verwicklung  wäre,  wenn  eine  Strömung,  welche  die 
Zeit  so  überwältigend  fortreißt,  nicht  viel  Ungeklärtes  enthielte,  wenn 
das  ausschließliche  Sehen  des  Menschen  nach  einer  besonderen 
Richtung  ihn  nicht  nach  anderen  Seiten  vieles  übersehen  ließe,  seien 
es  Ergänzungen,  seien  ts  Widerstände.  Nach  dem  Plane  unserer  Arbeit 
soll  unsere  Untersuchung  namentlich  dieses  erwägen,  was  die  Be- 
hauptungen und  Wandlungen  dem  Lebensprozesse  leisten,  wie  er 
sich  unter  ihrem  Einfluß  gestaltet,  im  besonderen,  ob  er  dabei  einen 
geistigen  Charakter  zu  wahren  vermag.  Das  Problem  der  Möglich- 
keit des  Geisteslebens  ist  es,  an  dem  alles  Unternehmen  sich  zu 
bewähren  hat. 

Daß  in  der  modernen  Entwicklungslehre  verschiedenartige  Ten- 
denzen zusammenwirken,  das  verraten  schon  die  Bezeichnungen. 
Wer  von  „Entwicklung",  von  »Evolution"  spricht,  scheint  anzunehmen, 
daß  sich  die  Dinge  von  innen  her,  nach  einem  Gesetz  des  Ganzen, 
in  sicherer  Richtung  auf  ein  Ziel  entfalten.  Das  aber  will  der  über- 
wiegende Zug  der  Gegenwart  nicht,  vielmehr  erwartet  er  allen 
Fortschritt  von  dem  Zusammentreffen  von  Elementen,  die  von  Haus 
aus  gegeneinander  gleichgültig  sind,  sowie  von  einer  langsamen 
Summierung  kleiner  Verschiebungen,   er  verwirft  alle   inneren  Ziele 


hören  müßte.  Indessen  fragt  sich,  ob  nicht  eine  Gegenwirkung  dagegen 
besteht,  und  hier  mag  auf  die  Lehre  vom  Strahlungsdruck  hingewiesen 
werden,  wie  sie  namentlich  durch  Arrhenius  zu  jenem  Problem  in  frucht- 
bare Beziehung  gesetzt  ist.  So  kommt  Arrhenius  zu  dem  Ergebnis  (s.  das 
Werden  der  Welten,  deutsche  Übers.  S.  190):  »Durch  dieses  kompensierende 
Zusammenwirken  von  Schwerkraft  und  Strahlungsdruck,  sowie  von  Temperatur- 
ausgleich und  Wärmekonzentration,  wird  es  möglich,  daß  sich  die  Weltent- 
wicklung in  einem  fortwährenden  Kreislauf  bewegt,  bei  dem  wir  weder  Anfang 
noch  Ende  wahrnehmen  können,  und  bei  dem  auch  das  Leben  Aussicht  hat, 
beständig  und  unvermindert  weiter  zu  bestehen." 


Entwicklung.  207 

und  Richtungen,  er  verwirft  alles  Wirken  aus  einem  Ganzen.  Aber 
wozu  dann  der  andersartige  Ausdruck,  der  unvermeidlich  den  Schein 
einer  von  innen  her  sicher  und  ruhig  fortschreitenden  Bewegung 
erzeugt?  Gibt  er  nicht  einem  seelen-  und  sinnlosen  Weltbilde  ein 
viel  zu  freundliches  Ansehen,  versteckt  er  nicht  die  Verneinungen 
und  Zerstörungen,  die  jenes  Weltbild  enthält? 

Solche  Bedenken  stören  indes  die  Durchschnittsmeinung  wenig. 
Berauscht  von  dem  Gedanken  einer  Entwicklung,  eines  Fortschritts 
ins  Endlose,  eines  unbegrenzten  Besser-  und  Besserwerdens  aller 
Dinge  fühlt  sie  kein  Bedürfnis  nach  einer  präziseren  Fassung.  Viele 
begeistern  sich  heute  für  Entwicklung,  ohne  über  das  Was  und  Wie, 
das  Woher  und  Wohin  sich  irgendwelche  Sorge  zu  machen.  Je 
geringer  die  Präzision,  je  vager  die  Fassung,  desto  sicherer  scheint 
die  Sache,  desto  summarischer  ist  die  Begeisterung. 

Jedenfalls  ist  die  Tatsache  nicht  zu  verkennen,  daß  in  den  leiten- 
den ,  Systemen  der  modernen  Entwicklungslehre  eine  mechanische 
Fassung  überwiegt  und  als  die  endgültige  Lösung  des  Problems 
erscheint.  Die  ältere  Entwicklungslehre  mit  ihrer  künstlerischen 
oder  logischen  Art  ist  dadurch  weit  zurückgedrängt;  von  Hegel, 
mag  er  im  Verborgenen  stärker  fortwirken  als  die  meisten  denken, 
ist  die  Herrschaft  auf  Darwin  übergegangen. 

Bei  Darwin  und  im  Darwinismus  sind  die  beiden  Hauptgedanken 
der  Deszendenz  und  der  Selektion  deutlich  auseinanderzuhalten. 
Die  Deszendenzlehre  ist  von  so  verschiedenen  Seiten  her  bestätigt 
und  hat  sich  so  unermeßlich  fruchtbar  erwiesen,  daß  über  sie  in 
der  Wissenschaft  kaum  noch  ein  Streit  besteht.  Die  Selektionslehre 
dagegen,  die  zeitweise  die  Forschung  überwältigend  fortriß,  hat 
mehr  und  mehr  Widerstand  gefunden.  Daß  sich  das  ganze  Reich 
der  Formen  lediglich  aus  einer  Ansammlung  zufälliger  individueller 
Variationen,  durch  ein  blindes  Zusammentreffen  und  tatsächliches 
Beharren,  ohne  irgendwelche  innere  Gesetzlichkeit,  aufbauen  solle, 
das  hatte  den  überwiegenden  Zug  der  Philosophie  von  Anfang  an 
gegen  sich,^  das  hat  sich  mehr  und  mehr  auch  der  Naturwissenschaft 


^  Es  ist  hier  namentlich  der  unermüdlichen  und  scharfsinnigen  Arbeit 
E.  von  Hartmanns  zu  gedenken,  der  ebenso  von  der  Spekulation  wie  von 
den  Tatsachen  her  die  Unzulänglichkeit  jener  Lehre  mit  überlegenen  Gründen 
dargetan  hat.  In  seiner  neuesten  Behandlung  der  Frage:  »Die  Abstammungs- 
lehre seit  Darwin"  (in  den  Annalen  der  Naturphilosophie  II,  3)  faßt  er  S.  354 
das  Ergebnis  der  Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  dahin  zusammen:  «Die 


208  Zum  Weltproblem. 

als  unzulänglich  erwiesen.  Gerade  auf  dem  eignen  Boden  der  Ent- 
wicklungslehre findet  diese  besondere  Fassung  mehr  und  mehr  Wider- 
spruch. Es  sei  hier,  wo  sich  ein  näheres  Eingehen  auf  diese  Probleme 
verbietet,  nur  an  die  Weismannschen  Theorien,  an  die  Entwicklungs- 
mechanik, an  die  Mutationslehre  erinnert.  Dieselbe  Bewegung,  welche 
die  eigentümlichen  Züge  und  die  Probleme  des  Lebens  wieder  mehr 
hervortreibt,  muß  auch  dem  Abschluß  bei  einer  mechanischen  Ent- 
wicklungslehre widerstehen  und  eine  dynamische  empfehlen.  So 
geschieht  es  vielfach  in  Wiederaufnahme  und  Weiterführung  Lamarck- 
scher  Gedanken,  so  geschieht  es  in  gleichzeitiger  scharfer  Kritik  einer 
bloßmechanischen  Entwicklungslehre,  die  alle  Bildung  von  innen 
her  und  aus  dem  Ganzen  leugnen  muß.  Es  wird  dagegen  u.  a.  geltend 
gemacht,  daß  jene  Lehre  mit  ihrer  Verneinung  alles  inneren  Fort- 
triebs alles  wesentliche  Fortschreiten  des  Lebens  und  zugleich  den 
Entwicklungsgedanken  im  Grunde  aufgebe.^  Nicht  minder  auch 
dieses,  daß  jene  Lehre  nur  dadurch  zu  einem  leidlichen  Abschluß 
gelange,  daß  sie  schon  den  Elementen  beilege,  was  auf  der  Höhe 
der  Bildung  sichtbar  vorliegt.  ^    Es  stehen  hier  große  Linien  neben- 

Selektion  kann  überhaupt  nichts  Positives  leisten,  sondern  nur  negative,  aus- 
schaltende Wirkungen  entfalten.  Die  Entstehung  neuer  Arten  durch  minimale 
Abänderungen  ist  möglich,  aber  nicht  erwiesen  und,  seit  man  den  undulator- 
ischen  Charakter  der  minimalen  Abänderungen  kennt,  weniger  wahrscheinlich 
geworden ;  die  sprunghafte  Abänderung  ist  jetzt  in  den  Vordergrund  getreten. 
Die  Zufälligkeit  weicht  einer  bestimmt  gerichteten,  planmäßigen  Entwicklungs- 
tendenz aus  inneren  Ursachen,  und  diese  bekundet  sich  ebensowohl  in  den 
kleinsten  wie  in  den  sprunghaften  Abänderungen.  Der  Anspruch  des  Dar- 
winismus, zweckmäßige  Resultate  aus  rein  mechanischen  Ursachen  erklären 
zu  können,  ist  ganz  unhaltbar." 

^  Bergson  bemerkt  (L'evol.  creatrice,  pag.  40) :  L'essence  des  explications 
mecaniques  est  en  effet  de  considerer  l'avenir  et  le  passe  comme  calculables 
en  fonction  du  present  et  de  pretendre  ainsi  que  tout  est  donne.  Er  selbst 
verficht  die  idee  d'un  elan  originel  de  la  vie,  passant  d'une  generation  de 
germes  ä  la  generation  suivante  de  germes  par  l'intermediaire  des  organismes 
developpes  qui  forment  entre  les  germes  le  trait  d'union.  Cet  elan,  se  con- 
servant  sur  les  lignes  d'evolution  entre  lesquelles  il  se  partage,  est  la  cause 
profonde  des  variations,  du  moins  de  Celles  qui  se  transmittent  regulierement, 
qui  s'additionnent,  qui  creent  des  especes  nouvelles.  En  general,  quand  des 
especes  ont  commence  ä  diverger  ä  partir  d'une  souche  commune,  elles  ac- 
centuent  leur  divergence  ä  mesure  qu'elles  progressent  dans  leur  evolution. 
Pourtant,  sur  des  points  definis,  elles  pourront  et  devront  meme  evoluer 
identiquement  si  l'on  accepte  l'hypothese  d'un  elan  commun. 

'  S.  Oliver  Lodge,  Leben  und  Materie  S.  47:  „Man  konstatiert  hier  ein- 
fach das  zu  Erklärende  und  schiebt  es  dann  den  Atomen  zu,  in  der  Hoff- 


Entwicklung.  209 

einander,  und  der  Kampf  schwankt  noch  hin  und  her,  jedenfalls 
dünkt  heute  die  Lage  minder  einfach,  als  sie  weniger  Darwin  selbst 
als  begeisterten  Jüngern  erschien. 

Aber,  merkwürdig  gfenug,  gewinnt  dieselbe  Selektionslehre,  die 
auf  dem  Gebiete  ihres  Ursprungs  mehr  und  mehr  kritisch  behandelt 
und  eingeschränkt  wird,  darüber  hinaus,  in  der  allgemeinen  Be- 
trachtung menschlicher  Dinge,  noch  immer  an  Boden.  Die  Neigung 
ist  weitverbreitet,  überall  auf  möglichst  einfache  Anfänge  zurück- 
zugreifen, die  den  Menschen  dem  Tiere  nahe  verwandt  zeigen,  und 
die  Bewegung  aufwärts  nicht  auf  einen  inneren  Trieb,  sondern  auf 
ein  allmähliches  Weitergestoßenwerden  durch  die  äußeren  Notwendig- 
keiten zurückzuführen,  sie  als  eine  bloße  Anpassung  an  die  Um- 
gebungen und  Lebensbedingungen  zu  verstehen.  Nichts  anderes 
scheint  dabei  in  Frage  zu  stehen  als  das  natürliche  Dasein,  der  Sieg 
im  Kampf  gegen  die  Mitbewerber.  Das  vermeintlich  Höhere  bringt 
dann  nichts  wesentlich  Neues,  sondern  nur  Kombinationen  und  Varia- 
tionen der  elementaren  Lebenserscheinungen;  damit  ist  auch  gesagt, 
daß  dem  Geistesleben  keinerlei  Selbstständigkeit  gegenüber  der  Natur 
gebührt.  Die  Wandlung  der  Begriffe,  die  damit  erfolgt,  reicht  tief  in 
die  Gestaltung  der  einzelnen  Gebiete  hinein;  wo  alle  Lebensentfaltung 
auf  die  Erhaltung  im  Kampf  ums  Dasein  zurückkommt,  wo  alle 
geistige  Betätigung  ein  bloßer  Anhang  des  physischen  Daseins  wird, 
da  wird  zum  Wert  der  Werte  das  Nützliche,  da  sinkt  der  Begriff 
eines  an  sich  Guten  zu  einer  leeren  Illusion,  da  kann  auch  das 
Wahre  nur  in  dem  Sinne  einer  der  Lebenserhaltung  förderlichen 
Gruppierung  der  Vorstellungen  bestehen  bleiben.  Ethik,  Ästhetik, 
Erkenntnislehre  müßten  sich  damit  völlig  verwandeln,  sie  alle  müßten 
die  Lösung  ihrer  Probleme  von  den\  Ergreifen  und  Festhalten  der 
ersten  Anfänge  erwarten. 

Das  Ganze  wirkt  mit  der  frischen  Kraft  einer  eben  errungenen 
Einsicht,  es  läßt  in  alten  Erfahrungen  Neues  sehen,  es  bringt  sonst 
zerstreute  Daten  in  einen  aufhellenden  Zusammenhang,  es  ist  mit 
seiner  Zurückwendung  des  Blickes  mancher  Entdeckungen  fähig. 
Die  Naturbedingungen  unseres  Daseins,  das  Fortwirken  elementarer 


nung  daß  damit  dem  Fragen  ein  Ende  gemacht  sein  wird.  Bergson  findet 
den  Fehler  des  Evolutionismus  Spencers  darin:  Ȋ  decouper  la  realite  actuelle, 
dejä  evoluee,  en  petits  morceaux  non  moins  evolues,  puis  ä  la  recomposer 
avec  ces  fragments,  et  ä  se  donner  ainsi,  par  avance,  tout  ce  qu'il  s'agit 
d'expliquer." 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  14 


210  Zum  Wcltproblem. 

Triebe  inmitten  aller  Verwicklung  und  scheinbaren  Vornehmheit  der 
Kultur,  die  Langsamkeit  und  Schwerfälligkeit  der  geschichtlichen 
Bewegung,  sie  kommen  nunmehr  zur  vollen  Geltung;  das  Bild 
unseres  Daseins  scheint  mit  dem  allen  mehr  Naturfarbe  und  Lebens- 
wahrheit zu  erreichen,  zugleich  aber  gewinnt  das  Wirken  zur  Hebung 
der  menschlichen  Lage  festere  Angriffspunkte. 

Aber  das  alles  ist  in  ein  größeres  Ganzes  aufzunehmen  und  aus 
seinen  Zusammenhängen  zu  würdigen,  um  rein  der  Wahrheit  und 
Vernunft  zu  dienen ;  sucht  es  bei  sich  selbst  den  Abschluß  und  will 
es  aus  eignem  Vermögen  die  Gedankenwelt  gestalten,  so  sind  schwere 
Irrungen  nicht  zu  vermeiden.  Sie  kommen  namentlich  auf  den 
Fehler  zurück,  die  besondere  Art,  in  der  sich  beim  iMenschen 
Geistesleben  und  Vernunft  entwickelt,  als  den  schaffenden  und  treiben- 
den Grund  des  Geisteslebens  selbst  zu  behandeln;  wird  aber  dieses 
so  von  vornherein  zu  einer  bloßen  Erscheinung  am  Menschen  herab- 
gesetzt und  aller  Selbständigkeit  beraubt,  so  kann  seine  Ableitung 
von  der  bloßen  Natur  keine  Mühe  bereiten.  Wer  nicht  im  Bann- 
kreise dieser  Denkweise  steht,  wird  alsbald  den  Zirkel  in  jener  Er- 
klärung gewahren  und  die  dort  vollzogene  Umwandlung  des  Geistes- 
lebens als  eine  Vernichtung  erkennen.  Die  geistigen  Werte  und 
schließlich  'das  Geistesleben  selbst  werden  durch  jene  Unterordnung 
unter  das  Nützliche  nicht  sowohl  verändert  als  zerstört  Ein  Gutes  — 
Recht,  Ehre,  Liebe,  Treue  — ,  das  wegen  seiner  Nützlichkeit,  d.  h. 
als  ein  bloßes  Mittel  für  die  physische  und  soziale  Lebenserhaltung 
erstrebt  wird,  wird  damit  innerlich  verwandlelt  und  verliert  den 
Charakter  des  Guten.  Ebenso  müßte  es  dem  Begriff  der  Wahrheit 
ei gehen,  wenn  er  zu  einer  bloß  zweckdienlichen  Anordnung  unserer 
Vorstellungen  sänke;  er  mag  dann  alles  mögliche  andere  werden, 
Wahrheit  ist  er  nicht  mehr.  Einer  solchen  Erniedrigung  des  Lebens 
widersteht  aber  das  innere  Erlebnis,  das  Gewisseste  von  allem,  was  wir 
kennen.  Denn  mag  über  die  nähere  Fassung  des  Guten  und  Wahren 
noch  so  viel  Streit  sein,  und  mag  der  Einzelne  noch  so  wenig  teil 
an  jenen  Größen  haben,  als  bloße  Lebensmöglichkeiten  sind  sie 
Tatsachen,  die  sich  schlechterdings  nicht  wegerklären  lassen,  und  die 
aus  dem  Ganzen  der  Wirklichkeit  etwas  anderes  machen.  Schließlich 
kommt  hier  in  Frage,  ob  überhaupt  noch  von  einem  Geistesleben 
die  Rede  sein  kann.  Wird  unser  ganzes  Seelenleben  in  ein  mecha- 
nisches Getriebe  elementarer  Kräfte  verwandelt,  so  gibt  es  kein 
Leben  aus  dem  Ganzen,  kein  Denken,  kein   erlebendes  Subjekt,   so 


Entwicklung.  211 

müßte  der  Urteilende  auch  sich  selbst  zum  Verschwinden  bringen 
und  alle  geistige  Arbeit  für  ein  Wahngebilde  erklären.  Solange  er  das 
nicht  tut  und  nicht  tun  kann,  widerlegt  die  Form  der  Aussage  ihren 
Inhalt,  bestätigt  die  Verneinung  selbst,  die  als  wissenschaftliche  und 
allgemeingültige  Wahrheit  vorgetragene  Verneinung,  das  Wirken  eines 
dem  Naturprozeß  überlegenen  Geisteslebens. 

Zu  diesem  Widerspruch,  durch  die  geistige  Arbeit  ihre  eignen 
Grundbedingungen  aufzuheben,  gesellen  sich  Verwicklungen  der 
näheren  Ausführung.  Wunderlich  ist  vor  allem,  daß  jene  Preis- 
gebung aller  selbständigen  Geistigkeit  und  jene  Bindung  an  die 
bloße  Natur  als  eine  Erhöhung  und  Befreiung  auftritt.  Denn, 
genauer  betrachtet,  zerstört  jene  Wendung  allen  Sinn  und  Wert 
unseres  Lebens.  Alle  unsägliche  Mühe  und  Arbeit  des  Menschen 
wie  der  Menschheit,  aller  Aufbau  der  Kultur  mit  seiner  reichen 
Verzweigung,  sie  hätten  keine  andere  Aufgabe,  als  das  sinnliche 
Dasei;!,  die  physische  Existenz  zu  erhalten,  auf  einem  ungeheuren 
Umwege  zu  leisten,  was  das  Tier  so  viel  leichter  und  einfacher  er- 
reicht.^ Allts,  was  der  physischen  Existenz  gegenüber  einen  Selbst- 
zweck und  einen  Selbstwert  behauptet,  müßte  als  unhaltbar  verschwin- 
den, irgendwelchen  Inhalt  könnte  ein  solches  Leben  nicht  bieten. 
Nun  aber  sind  wir  einmal  denkende  und  urteilende  Wesen,  nun 
haben  wir  den  Mittelpunkt  eines  Selbst  und  müssen  darauf  alle  Er- 
fahrung beziehen  und  sie  von  da  aus  messen.  So  werden  wir  denn 
jene  Inhaltslosigkeit  als  eine  schmerzliche  Leere  empfinden,  eine 
Leere,  die  um  so  unerträglicher  wird,  als  diese  Zusammenhänge  nicht 
die  mindeste  Hoffnung  einer  Wandlung  gewähren,  uns  vielmehr  das 
sinnlose  Getriebe  des  Naturprozesses  unbarmherzig  festhält.  Gibt 
es  eine  trostlosere  Lebensgestaltung  als  diese  mit  ihrer  Forderung 
unablässiger  Arbeit  ohne  allen  inneren  Gewinn,  ihrer  fieberhaften 
Aufbietung  aller  Kräfte  zur  Erringung  des  nackten  Daseins? 

Auch  nach  der  methodologischen  Seite  gerät  diese  Denkweise 


^  Es  sei  hier  an  das  Wort  Kants  aus  der  Kritik  der  prakt.  Vernunft 
erinnert  (V,  65  Hart.):  »Über  die  bloße  Tierheit  erhebt  ihn  (den  iMenschen) 
das  gar  nicht,  daß  er  Vernunft  hat,  wenn  sie  ihm  nur  zum  Behuf  desjenigen 
dienen  soll,  was  bei  Tieren  der  Instinkt  verrichtet."  Ja  es  müßte  von  hier 
aus  der  vermeintliche  Fortschritt  in  Wahrheit  als  ein  Rückschritt  gelten. 
Denn  ist  es  nicht  ein  Rückschritt,  wenn  für  die  Erreichung  desselben  Zieles 
immer  kompliziertere  Mittel,  immer  mehr  Mühe  und  Arbeit  aufzubieten  sind? 
Mit  der  Anerkennung  neuer  Gehalte  und  Werte  aber  wird  die  mechanische 
Evolutionslehre  verlassen. 

14* 


212  Zum  Weltproblem. 

in  arge  Verwicklungen,  sobald  sie  auch  das  Geistesleben  an  sich 
zieht.  Wir  sehen  dann  eine  evolutionistische  Ethik,  Rechtslehre, 
Ästhetik  u.  s.  w.  entstehen,  die  alle  zu  den  tierischen  Anfängen 
zurückstreben  und  in  ihnen  den  Schlüssel  aller  weiteren  Bildung 
suchen.  Nun  beging  gewiß  die  ältere  Anschauungsweise  den 
Fehler,  die  höhere  Stufe  in  die  Anfänge  hineinzusehen  und  diese 
damit  fälschlich  zu  idealisieren.  Daß  das  Geistesleben  nicht  vom 
Himmel  gefallen  ist,  sondern  von  geringen,  halbtierischen  Anfängen 
begonnen  hat,  daran  ist  heute  kaum  mehr  zu  zweifeln.  Aber 
"müssen  jene  Anfänge  maßgebend  für  die  Gesamtbewegung  bleiben, 
könnte  nicht  der  Lebensprozeß  sich  bei  sich  selbst  erhöhen,  könnten 
nicht  neue  Kräfte  in  ihm  hervorbrechen?  In  Wahrheit  bekräftigt 
die  Bindung  an  die  ersten  Anfänge  die  Entwicklung  nicht  sowohl, 
als  sie  dieselbe  leugnet  Sind  ferner  die  ersten  Anfänge  so  einfach 
und  klar,  daß  von  ihnen  hellstes  Licht  auf  sonst  dunkle  Gebiete 
fiele?  Vermögen  wir  sie  uns  unmittelbar  vor  Augen  zu  stellen, 
gestalten  wir  nicht  notwendig  ihr  Bild  nach  dem  Stande,  den  wir 
heute  einnehmen?  So  führt  jener  Weg  uns  erst  recht  ins  Dunkel 
hinein;  es  ist  nicht  ein  gerader  Weg,  sondern  ein  Umweg,  wenn 
wir  von  hypothetisch  ausgedachten  Anfängen  aus  höhere  Stufen  zu 
erklären  suchen.^ 

Das  alles  wendet  sich  gegen  die  mechanische  und  naturalistische 
Art  der  Entwicklungslehre,  sofern  sie  nach  ihren  Maßen  das  ganze 
Leben  gestaltet.  Aber  auch  der  Gesamtgedanke  der  Entwicklung, 
wie  er  die  Neuzeit  durchdringt,  enthält  mehr  Probleme,  als  gegen- 
wärtig zu  sein  pflegt.     Zunächst  wird  viel  zu  leicht,  wo  irgend  Be- 


*  Neuerdings  hat  dies  für  das  Gebiet  der  Ästhetik  ebenso  scharfsinnig 
wie  überzeugend  Volkelt  dargelegt  in  der  Abhandlung  «Die  entwickelungs- 
geschichtliche  Betrachtungsweise  in  der  Ästhetik"  (Zeitschrift  für  Psychologie 
und  Physiologie  der  Sinnesorgane,  Bd.  29).  Dort  heißt  es  (Abdruck  S.  7): 
»Es  gilt  zu  bedenken,  daß  sich  für  die  Beantwortung  der  Frage,  was  es 
heiße,  sich  zu  den  Dichtungen  dichterisch,  künstlerisch,  ästhetisch  verhalten, 
nur  vom  Standpunkte  des  gereiften  gegenwärtigen  Menschen  aus  eine  sichere 
Grundlage  gewinnen  läßt.«  S.  8:  »In  Wahrheit  ist  —  um  diesen  kurzen 
Ausdruck  zu  gebrauchen  —  die  Ästhetik  der  Naturvölker  kein  methodisches 
Mittel,  sondern  vielmehr  eine  der  allerdunkelsten  und  unzugänglichsten 
Sonderaufgaben  der  Gesamtästhetik."  S.  11:  „Eine  „Ästhetik  auf  entwick- 
lungsgeschichtlicher Grundlage"  ist  demnach  eine  Umkehrung  des  richtigen 
Verhältnisses." 


Entwicklung.  213 

wegung  vorliegt,  ein  Fortschreiten,  eine  Entwicklung  im  Sinne  eines 
unablässigen  Aufsteigens  angenommen.  Daß  unsere  Welt,  nament- 
lich der  Bereich  unseres  Handelns,  voller  Bewegung  sei,  das  stand 
auch  den  Alten  deutlich  vor  Augen;  ihnen  galt  aber  diese  als  eine 
niedere  Stufe,  weil  sie  in  ihr  nur  ein  wirres  Durcheinander,  kein 
sicheres  Vordringen  sahen.  Die  moderne  Überzeugung  dagegen 
enthielt  als  ein  Hauptstück  den  Glauben  an  ein  solches  Aufsteigen; 
die  Religion  hat  ihn  aufgebracht,  die  spekulative  Philosophie  ihn 
weiter  gestützt  und  durcTigebildet.  Religion  und  Spekulation  sind 
heute  verblaßt  und  vielen  gänzlich  entschwunden,  ihr  Erzeugnis  aber, 
der  Fortschrittsglaube,  ist  verblieben;  ist  er,  nach  Wegfall  jener  Grund- 
lagen, noch  genügend  fundiert,  gibt  ihn  die  bloße  Erfahrung  als 
eine  unumstößliche  Tatsache,  kann  sie  mit  ihrer  Begrenztheit  über- 
haupt einen  unablässigen  Fortschritt  erweisen?  Sicherlich  ist  hier 
viel  subjektive- Stimmung  im  Spiel.  Es  liegt  dem  Menschen  nahe, 
alle  Veränderung  als  einen  Fortschritt  zu  deuten.  Er  sieht,  was  der 
Lauf  ►des  Lebens  an  Neuem  bringt,  und  vergißt  darüber,  was  zu- 
gleich an  Altem  verloren  geht;  von  da  aus  fühlt  jede  Zeit  leicht 
sich  selbst  als  den  Höhepunkt  des  Ganzen,  weil  sie  am  eignen 
Streben  alles  Übrige  mißt;  eine  künstlerische  Zeit  pflegt  nach  der 
Kunst,  eine  technische  nach  der  technischen  Leistung  zu  schätzen. 
Zu  diesen  dauernden  Ursachen  kommen  zeitliche:  nichts  ist  günstiger 
für  den  Fortschrittsglauben  als  ein  starkes  Kraft-  und  Gegenwarts- 
gefühl, wie  es  aufsteigende  Zeiten  durchdringt,  wie  es  namentlich 
den  Hauptzug  der  Neuzeit  erfüllt.  Von  hier  aus  wird  alles  freudig 
ergriffen,  was  eine  Mehrung  des  Lebens  verspricht,  dahingehende 
Erfahrungen  einzelner  Gebiete  werden  verallgemeinert.  Vereinzeltes 
und  Zerstreutes  wird  ergänzt  und  verbunden.  Hemmendes  dagegen 
übersehen  oder  zurückgestellt,  selbst  der  Widerstand  als  ein  Antrieb 
zu  weiterer  Tätigkeit  verstanden,  in  dem  allen  die  bloße  Erfahrung 
durch  den  inneren  Lebenstrieb  umgewandelt.  Einer  solchen  Be- 
trachtung und  Behandlung  des  menschlichen  Daseins  droht  schließ- 
lich notwendig  ein  Rückschlag,  eine  kühlere  und  kritischere  Denk- 
art wird  manches  Stück  jenes  Fortschrittsglaubens  zerstören,  wird 
retardierende  Momente  vor  Augen  stellen,  wird  manches  als  eine 
vorübergehende  Erscheinung  erkennen  lassen,  was  jener  Glaube. zu 
einem  bleibenden  Gesetz  erhob.  So  ging  z.  B.  durch  die  letzten 
Jahrhunderte  die  Lehre  von  einem  unablässigen  Anschwellen  der 
Bevölkerungszahl,   ihr  Stillstand   bei  einzelnen  Nationen  wurde  wie 


214  Zum  Weltproblem. 

eine  merkwürdige  Ausnahme  behandelt  und  erörtert.  Wie  jung  aber 
ist  diese  Lehre!  Noch  Montesquieu  meinte,  die  Bevölkerung  Europas 
habe  gegen  das  Altertum  abgenommen,  und  es  empfehle  sich,  die 
Vermehrung  des  Menschengeschlechts  durch  besondere  Gesetze  zu 
fördern.  Dann  siegte  die  entgegengesetzte  Annahme,  und  die  Ge- 
fahren einer  übergroßen  Vermehrung  kamen  bei  Malthus  zu  starkem 
Ausdruck.  Die  Zahlen  gaben  einstweilen  dieser  Annahme  recht, 
aber  neuerdings  erscheinen  immer  mehr  Anzeichen,  daß  auf  einer 
gewissen  Höhe  der  Kultur  die  Zunahme  langsamer  wird  und  zum 
Stillstande,  ja  Rückgange  kommt;  das  macht  die  Frage  unabweisbar, 
ob  sie  vielleicht  nur  für  besondere  Lagen  der  Kultur,  nicht  aber 
dauernd  gelte.  Wie  sehr  aber  muß  die  Verfolgung  dieses  Gedankens 
den  Gesamtanblick  der  Geschichte  verändern! 

Ferner  greift  das  Problem  über  das  Quantitative  hinaus  ins 
Qualitative.  Bringt  die  Geschichte  ein  geistiges  Wachstum  der 
Menschheit,  erhöht  sie  die  Summe  des  geistigen  Vermögens?  Minder 
zuversichtlich,  als  die  durchschnittliche  Meinung  darüber  denkt,  stimmt 
der  von  Lorenz  nachdrücklich  verfochtene  Antagonismus  zwischen 
geistiger  Leistung  und  Fortpflanzungsfähigkeit.  Lorenz  nennt  es 
«eine  sehr  beachtenswerte  Tatsache,  daß  höhere  und  stärkere  geistige 
Tätigkeit  eine  geringere  Fortpflanzungsfähigkeit  in  sich  schließt« 
(Lehrbuch  der  Genealogie"  S.  486/7),  und  meint,  »aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  würde  sich  —  eine  Erfahrung,  die  man  anderweitig 
beobachtet  hat,  auch  genealogisch  bestätigen  lassen,  daß  der  männ- 
liche Keim  eine  Wanderung  von  unten  nach  oben  vollzieht  und  in 
den  oberen  Ständen,  oder  wie  man  nach  heutiger  gesellschaftlicher 
Organisation  sagen  könnte,  in  den  höheren  Berufen  abstirbt."  In 
Weiterführung  dieses  Gedankenganges  stellt  sich  der  ,;  Untergang 
höherer  Kulturen  und  Kulturvölker  nicht  als  eine  Folge  äußerer 
Überwältigungen,  sondern  vielmehr  als  die  natürliche  Abnahme  der 
Fortpflanzungspotenzen  des  höheren,  kultivierten  Individuums"  dar; 
es  erscheint  ein  «Unvermögen  der  Natur,  das  Geistige  —  um  diesen 
Ausdruck  nur  im  Sinne  der  Kausalität  zu  gebrauchen  —  schlecht- 
hin fortzupflanzen"  (S.  487).  So  würde  die  Bewegung  sich  bei 
sich  selbst  erschöpfen,  die  Kulturen  müßten  sich  ausleben  und  greisen- 
haft werden,  eine  Stagnation  erfolgen,  bis  wieder  neue  Anregungen, 
vor  allem  aber  frische  Menschen  kommen;  das  Ganze  würde  sich 
dann  aus  einem  unablässigen  Aufsteigen  in  ein  Auf-  und  Abwogen 
verschiedener  Phasen  verwandeln.    Was  es  dabei  etwa  an  Fortschritt 


Entwicklung.  215 

gäbe,  das  würde  sich  jedenfalls  anders  ausnehmen  als  im  gewöhn- 
lichen Fortschrittsglauben. 

Auch  das  gehört  hierher,  daß  die  verschiedenen  Lebensgebiete 
eine  verschiedene  Art  der  Bewegung  zeigen,  und  daß  das  Über- 
wiegen eines  dieser  Gebiete  die  ihm  innewohnende  Schätzung  zur 
Allgemeingültigkeit  zu  erheben  pflegt.  Einen  unaufhödichen  Fort- 
schritt zeigen  am  meisten  Technik  und  exakte  Wissenschaft,  obschon 
es  auch  hier  an  Verlusten  und  Rückgängen  keineswegs  fehlt;  geistiges 
Schaffen  im  Sinne  einer  inneren  Erhöhung  des  menschlichen  Lebens 
findet  eine  volle  Verkörperung  nur  an  einzelnen  ausgezeichneten 
Punkten,  um  dann  rasch  wieder  abzunehmen;  in  moralischer  Hinsicht 
scheint  die  Menschheit  sowohl  im  Guten  als  im  Bösen,  in  Wirkung 
wie  in  Gegenwirkung  fortzuschreiten,  der  Gegensatz  also  immer 
schroffer  zu  werden;  die  Religion  endlich  gibt  ihre  Grundwahrheit 
als  allem  zeitlichen  Wandel  überlegen,  sie  betrachtet  leicht  diese 
Wahrheit  als  an  irgendwelchem  früheren  Zeitpunkt  schon  erreicht 
und  -kettet  damit  das  Streben  an  die  Vergangenheit.  Jede  dieser 
Arten  hat  aber  die  Neigung,  von  sich  aus  ein  allumfassendes  Ge- 
schichts-  und  Weltbild  zu  entwerfen.  So  ist  das  Problem  des  Fort- 
schritts voller  Verwicklung,  und  was  als  selbstverständlich  und  all- 
gemeingültig auftritt,  ist  oft  nur  das  Erzeugnis  einer  besonderen 
Lage  vorübergehender  Art. 

Endlich  muß  die  Entwicklung  auch  in  der  Richtung  Bedenken 
erwecken,  daß  sie  leicht  dazu  führt,  die  Bewegung  ausschließlich  als 
ein  Werk  der  Notwendigkeit  zu  verstehen  und  den  Menschen  in 
ein  zu  kontemplatives  und  passives  Verhältnis  zur  Umgebung  zu 
bringen.  Der  Fortschritt  scheint  hier  mehr  an  dem  Menschen  als 
durch  ihn  zu  erfolgen,  er  scheint  nicht  eignen  Eintretens  und  eigner 
Entscheidung  zu  bedürfen.  So  geschah  es  z.  B.  in  der  Entwicklungs- 
idee der  Romantik,  die  ein  stilles  und  sicheres  Wachsen  von  innen 
heraus  alle  Gestaltung  hervorbringen  ließ  und  damit  den  Antrieb 
zu  eigner  Tätigkeit  lähmte;  so  kann  es  auch  geschehen,  wo  die  be- 
wegende Kraft  in  sinnliche  Naturtriebe  und  äußere  Notwendigkeiten 
gesetzt  wird.  Hier  wie  da  gefährdet  die  Entwicklung  den  ethischen 
Charakter  des  Lebens  und  zerstört  sie  die  Grundbedingung  einer 
echten  Geschichte:  ein  immer  neues  Einsetzen  ursprünglichen  Lebens, 
ein  Verwandeln  alles  Empfangenen  in  eigne  Tat  und  lebendige 
Gegenwart.  Während  das  menschliche  Geistesleben  seine  Spannung 
und   seinen  Charakter  vornehmlich    durch   den  Zusammenstoß   von 


216  Zum  Weltproblem. 

Schicksal  und  Freiheit  erhält,  opfert  eine  solche  Entwicklungslehre 
die  Freiheit  gänzlich  dem  Schicksal  auf.  Es  ist  ein  Durcheinander- 
laufen einer  laxeren  und  einer  strengeren  Fassung  des  Entwicklungs- 
begriffes, das  solche  Probleme  übersehen  läßt.  Entwicklung  wird 
oft  alle  fortschreitende  Bewegung  genannt,  ohne  daß  dabei  der  Ur- 
sache des  Fortschritts  nachgefragt  wird;  so  könnte  hier  ganz  wohl 
ein  Platz  für  Freiheit  verbleiben.  Im  strengeren  Sinne  dagegen  be- 
zeichnet Entwicklung  einen  Naturprozeß,  der  aus  zwingender  Not- 
wendigkeit vorwärts  treibt  —  sei  es  durch  ein  Zusammenschießen 
einzelner  Elemente,  sei  es  durch  eine  Bewegung  des  Ganzen  — ,  als- 
dann entfällt  alle  Freiheit  und  zugleich  auch  alle  Geschichte  im  aus- 
zeichnend menschlichen  Sinn.  Alsdann  geht  nur  etwas  vor,  es 
wird  aber  nicht  gehandelt;  bei  dieser  Bedeutung  des  Wortes  ist  ge- 
schichtliche Entwicklung  ein  Unding. 

Ja  der  Zweifel  greift  noch  tiefer,  er  kehrt  sich  überhaupt  gegen 
die  Vorherrschaft  der  Bewegung,  gegen  die  Verwandlung  der  ganzen 
Wirklichkeit  in  einen  Prozeß.  An  dem  Beweglichmachen  aller  Ver- 
hältnisse, dem  Flüssigwerden  aller  starren  Größen  sah  die  Neuzeit 
zunächst  nur  den  Gewinn:  die  Steigerung  des  Lebens,  das  Wachs- 
tum an  Freiheit  und  Kraft.  Schließlich  aber  kann  nicht  verborgen 
bleiben,  daß  auch  vieles  damit  verloren  geht,  etwas  verloren  geht, 
ohne  das  geistiges  Leben  schlechterdings  nicht  bestehen  kann.  Bis 
in  seine  elementarsten  Grundformen  hinein  verlangt  und  erweist 
nämlich  das  Geistesleben  eine  beharrende  Art,  ein  Beharren  nicht 
innerhalb  der  Zeit,  sondern  gegenüber  der  Zeit.  Ein  Wahres  für 
heute  oder  morgen  ist  ein  Unding;  was  irgend  wahr  ist,  das  gilt 
für  alle  Zeit  oder  vielmehr  ohne  alle  Beziehung  zur  Zeit;  mag  die 
Behauptung  unter  besonderen  Umständen  nur  auf  eine  Zeitspanne 
gehen,  die  Art,  wie  sie  ausgesprochen  wird,  ist  immer  zeitloser  Art, 
als  geistiges  Erlebnis  enthält  alles  Wahre  eine  Befreiung  von  aller 
Zeit  Auch  was  wir  als  gut  erachten  und  schätzen,  das  hat  seinen 
Wert  nicht  aus  dem  Gesichtspunkt  einer  besonderen  Zeitlage,  sondern 
unabhängig  von  aller  Zeit,  aus  einer  zeitlosen  Ordnung  der  Dinge. 
So  gewiß  die  Begriffe  der  Zeiten  vom  Guten  sich  ändern:  was  eine 
Zeit  als  gut  ergreift,  das  erklärt  sie  damit  für  schlechthin  und  dauernd 
gültig.  Aller  Wandel  menschlicher  Verhältnisse  vermag  solche  innere 
Überlegenheit  des  Geisteslebens  über  die  Zeit  nicht  zu  zerstören. 
Auch   Begriffe  wie  Persönlichkeit,  Charakter,  geistige   Individualität 


Entwicklung.  217 

bekunden  eine  Überlegenheit  des  Geisteslebens  gegen  die  Zeit. 
Denn  sie  fordern  die  Gestaltung  einer  beharrenden  Art  und  ihr 
treues  Festhalten  gegenüber  aller  Bewegung;  alle  Mannigfaltigkeit 
des  Handelns  hat  jene  Art  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  zu  fördern. 
So  heißt,  das  Geistesleben  ganz  und  gar  in  Bewegung  verwandeln, 
es  von  Grund  aus  zerstören. 

Ja  die  Bewegung  selbst  bezeugt,  innerlich  angesehen,  die  Un- 
entbehrlichkeit  des  Beharrens.  Sie  läßt  sich  nämlich  nicht  über- 
blicken, in  ein  Ganzes  zusammenfassen,  als  ein  Ganzes  erleben,  ohne 
einen  ihr  überlegenen  Standort  und  ohne  eine  von  daher  bewirkte 
Synthese.  Sonst  nämlich  zerfällt  sie  in  lauter  einzelne  Punkte;  diese 
mögen  die  Seele  wohl  mit  kaleidoskopisch  wechselnden  Eindrücken 
erfüllen  und  ergötzen,  ein  Ganzes  und  zugleich  einen  Inhalt  geben 
sie  ihr  nicht.  Je  mehr  daher  eine  der  Bewegung  überlegene  Kraft 
verschwindet,  desto  mehr  drängt  das  Leben  zur  Oberfläche  und 
verliert  alles  Beisichselbstsein. 

Diese  zeitüberlegene  Art  des  Geisteslebens  erweist  besonders 
deutlich  der  Aufbau  einer  Geschichte,  d.  h.  einer  eigentümlich  mensch- 
lichen und  geistigen  Geschichte.  Denn  Geschichte  im  menschlichen 
Sinne  ist  keineswegs  ein  bloßes  Nacheinander  von  Ereignissen,  ein 
Dahintreiben  des  Menschen  mit  dem  Strom  der  Zeit;  das  würde 
nie  über  die  äußere  Anhäufung  von  Wirkungen  hinausführen,  wie 
die  Natur,  z.  B.  in  der  Bildung  der  Erdrinde,  sie  zeigt.  Vielmehr 
ist  alle  Geschichte  menschlicher  Art  eine  Gegenwirkung  gegen  die 
Flucht  der  Erscheinungen,  ein  Versuch,  den  Strom  irgend  zum  Stehen 
zu  bringen,  ein  Kampf  gegen  die  bloße  Zeit.  Auch  die  primitivsten 
Versuche,  Vorgänge  und  Taten  dem  Gedächtnis  der  Nachwelt  zu 
überliefern,  sie  im  Bewußtsein  der  Menschheil  festzuhalten,  zeigen 
einen  solchen  Widerstand  gegen  die  Zeit;  je  mehr  aber  die  Geschichte 
dem  Menschen  wird,  je  mehr  sie  ihm  nicht  nur  eine  Erweiterung 
seines  Wissens,  sondern  eine  Erhöhung  seines  Lebens  bringen  soll, 
desto  mehr  Selbsttätigkeit  ist  dabei  aufzubieten;  das  aber  verlangt 
notwendig  einen  zeitüberlegenen  Standort.  Um  die  Vergangenheit 
innerlich  mitzuerleben,  müssen  wir  uns  von  der  Zufälligkeit  der 
Gegenwart  befreien,  wenigstens  nach  solcher  Befreiung  streben;  sonst 
würden  wir  in  alles  Frühere  lediglich  die  heutige  Art  hineinsehen 
und  in  aller  äußeren  Erweiterung  innerlich  bei  uns  selbst  verbleiben; 
ein  Verständnis  anderer  Epochen  aus  ihren  eignen  Zusammenhängen 
wäre    uns  gänzlich    versagt.    Dazu  möchten  wir  die  Vergangenheit 


218  Zum  Weltproblem. 

nicht  bloß  erkennen,  sondern  sie  zum  eignen  Leben  in  Beziehung 
setzen,  ihren  Reichtum  in  eignen  Besitz  verwandeln,  an  dem  Großen 
in  ihr  uns  selber  heben.  Dafür  aber  gilt  es  nicht  nur  eine  Gemein- 
schaft mit  früheren  Epochen  zu  gewinnen,  sondern  auch  an  ihrem 
Bestände  Wesentliches  und  Zufälliges,  Wertvolles  und  Gleichgültiges 
zu  scheiden;  sollte  das  möglich  sein  ohne  irgendwelche  dem  Wandel 
der  Zeiten  überlegenen  Maßstäbe,  ohne  eine  Versetzung  der  Arbeit 
auf  einen  zeitlosen  Standort?  Letzthin  hat  die  Geschichte  nur  in- 
sofern für  uns  Wert,  als  wir  sie  in  eine  zeitlose  Gegenwart  um- 
zusetzen vermögen;  das  ist  ihr  Hauptertrag,  uns  aus  der  engen  und 
armen  Gegenwart  des  bloßen  Augenblicks  zu  einer  weiteren,  zeit- 
überlegenen und  zeitumspannenden  Gegenwart  zu  führen.  Es  gibt 
keinen  gefährlicheren  Gegner  einer  echten  Gegenwart  als  die  Hin- 
gebung an  den  bloßen  Augenblick. 

Bei  solcher  Lage  der  Dinge  verbietet  sich  schlechterdings  die 
Auslieferung  des  ganzen  Lebens  an  die  Bewegung;  mag  das  Bewußt- 
sein lediglich  von  dieser  erfüllt  sein,  die  Arbeit  hat  stets  ein  Gegen- 
gewicht in  irgendwelchem  Bleibenden  gesucht.  So  haben  auch  die 
extremsten  Vorkämpfer  der  naturwissenschaftlichen  Bewegungslehre 
irgendwelche  Ergänzung  der  Bewegung  anerkannt.  Das  sowohl  in 
der  Lehre  vom  Beharren  des  Stoffes  oder  der  Energie  als  in  der 
Unterordnung  aller  Erscheinungen  unter  unwandelbare  Gesetze.  Ohne 
solche  Befestigung  hätte  ihre  Arbeit  den  Charakter  der  Wissenschaft 
vedoren  und  wäre  statt  kausaler  Begreifung  eine  bunte  Erzählung 
geworden. 

Auch  die  Philosophen  haben  die  Entwicklung  nicht  zur  Zentral- 
idee ihrer  Gedankenwelt  rpachen  können,  ohne  ein  der  Veränderung 
überlegenes,  ja  sie  umspannendes  Beharren  anzuerkennen.  Einem 
Hegel  wäre  sein  System  in  lauter  einzelne  Punkte  zerbrochen,  und 
der  Wechsel  der  einzelnen  Phasen  hätte  ihm  alle  Wahrheit  zerstört, 
hätte  ihm  nicht  eine  zeitüberlegene  Betrachtung  eine  Zusammen- 
fassung zu  einem  Ganzen  geboten,  alles  Nacheinander  in  ein  Selbst- 
leben dieses  Ganzen  verwandelt  und  zugleich  über  den  zeitlichen 
Ablauf  hinaus  in  eine  zeitlose  Gegenwart  gehoben.  Ob  das  erstrebte 
Ziel  bei  Hegel  vollauf  erreicht  ist,  das  ist  eine  andere  Frage,  an 
dem  Streben  aber  ist  nicht  zu  zweifeln,  alle  Größe  des  Hegeischen 
Systems  hängt  eng  mit  ihm  zusammen. 

Auch  bei  Comte,  dem  großen  realistischen  Gegenstück  Hegels, 
steht  es  ähnlich:  zu  einem  wissenschaftlichen  System  gelangt  er  nur 


Entwicklung.  219 

durch  Ausbildung  und  Voranstellung  beharrender  Elemente.  Wohl 
bringt  er  alle  bisherige  Geschichte  in  Fluß  und  gewährt  den  früheren 
Stufen  nur  eine  relative  Wahrheit.  Aber  in  der  Wendung  zum 
Positivismus  scheint  die  absolute  und  endgültige  Wahrheit  erreicht; 
die  Zukunft  mag  diese  weiter  entfalten,  der  Kern  scheint  unwandel- 
bar für  alle  Zeiten  gesichert.  Auch  die  Durchleuchtung  der  Ge- 
schichte rückwärts  erfolgt  gänzlich  von  diesem  als  fest  erachteten 
Höhepunkte.  So  wird  inmitten  aller  Bewegung  eine  bleibende  Wahr- 
heit festgehalten. 

Für  das  gemeinsame  Leben  war  freilich  mit  solcher  versteckten 
Anerkennung  eines  Beharrens  wenig  gewonnen,  der  fortschreitenden 
Verwandlung  des  modernen  Lebens  in  einen  bloßen  Prozeß  wurde 
von  da  aus  kein  genügender  Widerstand  geleistet.  Weit  stärker 
fiel  ins  Gewicht  das  tatsächliche  Fortwirken  beharrender  Größen 
und  Mächte  aus  der  älteren  Lebensführung.  In  ihnen,  die  tief  in 
den  Bestand  des  Daseins  eingebildet  waren  und  den  Menschen  wie 
seltjstverständlich  umfingen,  hat  die  Bewegung  stillschweigend  bald 
einen  Halt,  bald  eine  Ergänzung  gefunden.  Aber  eine  solche  Lage 
mit  ihrer  Unausgeglichenheit  entgegengesetzter  Strömungen  kann 
nicht  auf  die  Dauer  verbleiben,  im  Vordringen  befindet  sich  aber 
unverkennbar  die  Bewegung,  so  wird  sie  mehr  und  mehr  das  Feld 
einnehmen,  ihre  Konsequenzen  hervortreiben,  alles  Feste  auflösen, 
das  ganze  Leben  in  einen  ruhelosen  Prozeß  verwandeln. 

Zugleich  aber  werden  auch  die  Folgen  eintreten,  die  das  Ver- 
schwinden aller  beharrenden  Größen  und  Kräfte  mit  sich  bringt, 
vornehmlich  der  Wegfall  aller  inneren  Zusammenfassung,  alles  Er- 
lebens aus  dem  Ganzen,  zugleich  aber  die  Verkümmerung  aller 
selbständigen  Geistigkeit,  das  Sinken  der  Arbeit  zur  inneren  Er- 
höhung des  Daseins.  Der  Triumph  der  bloßen  Bewegung  bedeutet 
einen  völligen  Sieg  sowohl  des  Relativismus  als  des  Sensualismus, 
eine  Preisgebung  alles  Lebensinhalts,  eine  Auflösung  des  Daseins 
in  einzelne  Augenblicke,  einen  Verzicht  auf  alle  wahrhaftige  Gegen- 
wart, Auch  muß  sich  damit  die  Menschheit  in  lauter  einzelne  Lebens- 
kreise zersplittern  und  eine  gemeinsame  Gedankenwelt  befestigen- 
der und  erhöhender  Art  mehr  und  mehr  verlieren. 

Läßt  sich  leugnen,  daß  der  Anblick  der  Gegenwart  uns  die  zer- 
störende Kraft  dieser  Wendung  schon  deutlich  genug  vor  Augen 
stellt,  und  daß  die  daraus  erwachsenden  Fragen  und  Zweifel  bis  in 
die  Grundlagen  des  modernen  Lebens  zurückgreifen?    Ja  wir  haben 


220  Zum  Weltproblem. 

ein  bunteres  und  ein  bewegteres  Leben  gewonnen,  uns  beengt  keine 
Autorität  und  keine  Tradition,  wir  können  mit  voller  Frische  jedem 
Eindruck  folgen,  den  Augenblick  ergreifen,  das  Tempo  des  Lebens 
beschleunigen.  Aber  in  aller  Beweglichkeit  und  Geschäftigkeit  droht 
das  Leben  sich  uns  an  die  bloße  Oberfläche  zu  verlegen  und  seiner 
seelischen  Art  nach  immer  leerer  zu  werden;  uns  entweicht  eine 
innere  Einheit  des  Wesens  und  damit  der  einzig  mögliche  Halt  gegen- 
über dem  Strom  der  Dinge;  unfähig,  unsere  Selbständigkeit  an  ihnen 
zu  erweisen,  werden  wir  wehrlos  von  ihnen  hin-  und  hergeworfen. 
Zugleich  zerrinnt  uns  alle  wahrhaftige  Gegenwart,  da  sie  ein  Ruhen 
des  Lebens  in  sich  selbst  verlangt  und  eine  Erhebung  über  die 
bloße  Zeit  enthält.  ^  Dafür  bekommen  wir  bloße  Augenblicke,  deren 
bunter  Wechsel  das  Leben  in  eine  rastlose  Flucht  verwandelt  und 
unvermeidlich  dem  Streben  die  Richtung  auf  das  unmittelbar  Wirk- 
same, das  Sinnfällige,  das  äußerlich  Vorteilhafte  gibt.  Als  notwendige 
Folge  dessen  jenes  Haschen  nach  immer  Neuem,  Blendendem,  Auf- 
regendem, jenes  Spähen  nach  Sensation,  Effekt  u.  s.  w.,  jene  Liebe- 
dienerei gegen  die  Launen  und  Stimmungen  des  Massenpublikums, 
dieses  geringen  Durchschnitts  der  Menschheit,  jene  unwürdige  «Aktua- 
lität«, die  den  schönen  Begriff  des  Aristoteles  in  sein  volles  Gegen- 
teil verkehrt  hat!^ 


*  Der  Zeit  unserer  Klassiker  war  das  mit  voller  Deutlichkeit  gegenwärtig. 
Es  sei  nur  an  jenes  Wort  Goethes  (aus  den  Gesprächen  mit  Eckermann)  er- 
innert: „Jeder  Zustand,  ja  jeder  Augenblick  ist  von  unendlichem  Wert,  denn 
er  ist  der  Repräsentant  der  ganzen  Ewigkeit";  auch  des  Wortes  eines  neueren 
feinsinnigen  Geistes  (W.  Gidionsen)  sei  gedacht: 

»Nicht  vom  Tage  sollst  du  leben, 

Auf  und  nieder  schwankt  die  Welle  — 

Laß  dein  Inn'res  fröhlich  weben. 

Stets  verjüngten  Daseins  Quelle. 

Ist  Ursprünglichkeit  dir  eigen, 

Darfst  sie  hegen,  darfst  sie  zeigen. 

So  nur  spürst  du  in  der  Zeit 

Vorgefühl  der  Ewigkeit." 
^  Der  Ausdruck  actualis  ist  eine  Schöpfung  des  späteren  Altertums 
(Augustin,  Macrobius),  im  Mittelalter  gewannen,  von  griechisch-lateinischen 
Übersetzungen  des  Aristoteles  her,  actus,  actualis,  actualitas  -  namentlich  seit 
Duns  Scotus  —  eine  weite  Verbreitung  und  gelangten  von  dort  zur  Neuzeit. 
Das  Wort  diente  zur  Wiedergabe  des  aristotelischen  Begriffes  der  Energie 
oder  Entelechie,  der  in  sich  selbst  ruhenden  und  bei  sich  selbst  befriedigten 
Tätigkeit  im  Gegensatz  zu  der  noch  unfertigen,  erst  anstrebenden  Bewegung. 


Entwicklung.  221 

Je  mehr  uns  aber  damit  die  Gegenwart  unter  den  Händen 
entschwindet,  desto  lebhafter  wird  ein  Sehnen  in  eine  unbestimmte 
Zukunft,  ein  Erhaschen  und  Vorausnehmen  dessen,  was  dort  erwartet 
wird.  »Nie  ist",  so  sagt  Lotze  in  einer  noch  weit  ruhigeren  Zeit 
als  es  die  Gegenwart  ist  (Mikrokosmus  2.  Aufl.  II,  281),  «so  lebhaft 
wie  jetzt  der  Widerspruch  aufgetreten,  das  ganze  Leben,  das  man 
beeifert  und  emsig  mitlebt,  doch  im  Grunde  nicht  für  das  wahre 
zu  halten  und  von  einem  anderen  schöneren  zu  träumen,  das  man 
leben  möchte  und  leben  wird,  sobald  uns  jenes  Zeit  lassen  und 
einen  Zugang  zu  ihm  öffnen  wird." 

So  zerfällt  uns  in  einer  Überspannung  und  Überstürzung  der 
Bewegung  das  Leben  von  innen  her,  aus  einem  wahrhaftigen  Leben 
wird  es  mehr  und  mehr  ein  bloßes  Lebenwollen,  eine  Anweisung 
auf  Leben,  ja  ein  Schein  des  Lebens.  Das  kann  unmöglich  so  weiter 
gehen,  jener  Verwandlung  des  Daseins  in  bloße  Bewegung  muß  als 
einer  völligen  Zerstörung  widerstanden  werden.  Die  Menschheit 
muß  jene  gefährliche  Krise  überwinden  und  wird  sie  übei'winden, 
so  gewiß  das  Verlangen  danach  aus  einer  zwingenden  Notwendig- 
keit ihrer  innersten  Natur  hervorgeht.  Aber  sie  wird  sie  nicht  über- 
winden ohne  eingreifende  Wandlung  des  Daseins,  nicht  ohne  die 
Ausbildung  eines  neuen  Lebenstypus,  nicht  ohne  den  Mut  und  die 
Kraft  zu  einem  neuen  geistigen  Aufschwung. 

d)  Forderungen  für  einen  neuen  Lebenstypus. 

So  wenig  das  Problem,  in  das  unsere  Untersuchung  auslief,  sich 
hier  näher  erörtern  läßt,^  ohne  irgendwelche  Orientierung  über  die 
Richtung  des  einzuschlagenden  Weges  würde  unsere  Betrachtung 
ins  Leere  zu  verlaufen  scheinen;  so  seien  in  aller  Kürze  wenigstens 
einige  Umrisse  entworfen.  —  Vor  allem  gilt  es,  jener  drohenden 
Verflüchtigung  des  Lebens  einen  festen  Halt^  entgegenzusetzen.  Einen 
solchen  kann  nicht  die  Außenwelt  bieten,  da  wir  sie  immer  erst 
mittels  unserer  Seele  erleben  und  daher  auch  das  Festeste  draußen 
uns  beweglich  werden  müßte,  wenn  das  Seelenleben  gänzlich  der 
Bewegung  gehörte.  Eine  Festigkeit  aber  gewährt  auch  nicht  das 
unmittelbare  Seelenleben.  Denn  hier  wogt  Mannigfachstes  durch- 
einander,   und    in  buntem  Wirbel  verdrängt  die  eine   Erscheinung 

^  Es  sei  dafür  auf  meine  «Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung" 
(1907)  verwiesen. 


222  Zum  Weltproblem. 

die  andere.  Es  bleibt  also  nur  die  Hoffnung,  zu  irgendwelcher 
geistigen  Tätigkeit  vorzudringen,  die,  fest  in  sich  selbst  gegründet, 
auch  das  übrige  Leben  zu  befestigen  verspräche.  Das  haben  große 
Denker  der  Neuzeit  in  verschiedener  Weise  versucht:  den  archimed- 
ischen Punkt  suchte  Descartes  im  reinen  Denken,  Kant  im  sittlichen 
Handeln;  beider  Unternehmen  aber  wurzelt  in  weiteren  Bewegungen 
des  modernen  Lebens,  indem  einerseits  die  wissenschaftliche  Arbeit, 
andererseits  ein  ethisches  Schaffen  dem  rneijschlichen  Dasein  einen  festen 
Grund  zu  geben  und  seiner  Verflüchtigung  in  bloße  Erscheinungen 
entgegenzuwirken  bemüht  war.  Beide  Bewegungen  haben  Großes 
geleistet  und  fahren  fort  das  zu  tun;  trotzdem  wächst  der  Zweifel, 
ob  sie  den  tiefsten  Punkt  erreichen  und  von  hier  aus  das  ganze  Leben 
zu  umfassen  vermögen.  Einmal  nämlich  treiben  sie  das  Leben  in 
eine  besondere  Richtung  und  geben  ihm  eine  besondere,  dort  eine 
intellektual istische,  hier  eine  moralistische,  Färbung.  Für  unser 
Problem  aber  fällt  noch  mehr  ins  Gewicht,  daß  die  Festlegung  eines 
besonderen  Punktes  immer  wieder  von  anderen  Punkten  her  be- 
zweifelt und  bestritten  werden  kann;  gegen  den  Intellekt  kann  sich 
das  Handeln,  gegen  dieses  der  Intellekt  wenden,  der  Skeptizismus 
kann  die  Wissenschaft  zu  einem  bloßen  Vorstellungsgewebe  herab- 
zudrücken, der  Naturalismus  die  Moral  in  ein  Erzeugnis  bloßer 
Naturtriebe  zu  verwandeln  suchen.  Die  höchste  uns  mögliche 
Gewißheit  kann  nicht  ein  besonderes  Gebiet,  sondern  nur  eine 
Zusammenfassung  zu  einem  Ganzen  bieten;  liegt  im  Geistesleben 
nicht  eine  der  Verzweigung  überlegene  Einheit,  und  bricht  nicht  in 
dieser  Einheit  ein  ursprüngliches  Leben  hervor,  so  kann  unser  Leben 
und  Streben  nie  eine  Festigkeit  erlangen. 

Daß  aber  der  Gedanke  einer  allumfassenden  Einheit  mehr  als 
eine  bloße  Einbildung  ist,  das  bezeugt  die  Bewegung  zu  einem 
Persönlichsein,  wie  sie  die  Menschheit  durchdringt.  Denn  mag  unser 
menschliches  Persönlichsein  noch  so  viel  Bloßmenschliches  an  sich 
tragen  und  mannigfachsten  Bedingungen  und  Einschränkungen  unter- 
liegen, eine  neue  Art  des  Lebens,  eine  größere  Tiefe  der  Wirklich- 
keit beginnt  sich  damit  aufzuarbeiten;  das  Geistesleben  erscheint 
hier  nicht  als  eine  besondere  Betätigung,  sondern  als  eine  neue  Art 
Wirklichkeit,  als  eine  neue  Stufe  des  Seins,  der  die  besonderen 
Betätigungen,  mit  ihnen  sowohl  das  wissenschaftliche  Denken  als 
das  sittliche  Handeln,  sich  unterzuordnen  und  einzufügen  haben. 
Demnach  entsteht  eine  Befestigung  nur  durch  ein  Vordringen  des 


Entwicklung.  223 

gesamten  Lebens  zu  einer  wesenbildenden  Geistigkeit;  damit  wird 
auch  der  Kultur  ein  ideal  vorgehalten,  das  dem  Gegensatz  von 
Theorie  und  Praxis  überlegen  ist,  und  das  jede  von  ihnen  in  eine 
wesenhafte  und  wesenlose  Stufe  zerlegen  muß. 

So  gestattet  lediglich  eine  energische  Aufrüttelung,  ja  Umkeh- 
rung des  Daseins  ein  Vordringen  zu  einem  festen  Punkte  und  ein 
Aufnehmen  des  Kampfes  mit  der  Flucht  der  Zeit  und  der  Sinnlosig- 
keit der  bloßen  Bewegung.  Ohne  ein  Gegründetsein  des  Menschen 
in  einer  dem  nächsten  Dasein  überlegenen  und  doch  im  Lebensprozeß 
unmittelbar  gegenwärtigen  Geisteswelt  wäre  die  Sache  völlig  aus- 
sichtslos und  selbst  das  Streben  danach  nicht  zu  begreifen. 

Jene  Zurückverlegung  aber  enthält  die  weitere  Forderung,  daß 
das  Geistesleben  nicht  als  eine  Eigenschaft  des  bloßen  Menschen, 
sondern  der  Mensch  als  an  einem  ihm  überlegenen  Geistesleben 
teilhabend  gelte,  daß  das  Geistesleben  in  seiner  Substanz  als  selb- 
ständig gegenüber  dem  Menschen  anerkannt  werde.  Wenn  damit 
geistiges  Leben  und  menschliches  Dasein  weiter  auseinandertreten 
als  in  der  durchgehenden  Fassung,  so  wird  zugleich  eine  Ver- 
ständigung zwischen  Beharren  und  Bewegung  und  die  .Ausbildung 
eines  dem  Gegensatz  überlegenen  Lebenstypus  ermöglicht.  Der  Sub- 
stanz des  Geistesleben  ist  die  Veränderung  und  mit  ihr  eine  Ent- 
wicklung schlechterdings  fernzuhalten.  Der  Begriff  der  Wahrheit  — 
auch  dieser  Begriff  ist  dem  Gegensatz  des  Theoretischen  und  des 
Praktischen  überlegen  —  duldet  kein  Werden  und  keine  Veränderung, 
die  Zugehörigkeit  zu  einer  zeitlosen  Ordnung  ist  für  ihn  unerläßlich. 
Der  Mensch  hingegen  kann  sich  einen  Lebensinhalt  nur  innerhalb 
der  Zeit  und  durch  allmähliche  Erfahrung  erringen;  dazu  aber  be- 
darf er  der  Freiheit  und  der  Beweglichkeit.  Auch  was  c;r  an  Wahr- 
heit erreicht,  ist  ihm  nicht  ein  für  allemal  gewonnen,  so  daß  er 
sich  des  Besitzes  ruhig  erfreuen  könnte,  sondern  es  will  immer 
neu  gewonnen  werden,  es  wird  immer  wieder  zum  Vorwurf  des 
Kampfes.  Auch  in  die  Grundlagen  unser  geistigen  Existenz  greift  die 
Ungewißheit  immer  von  neuem  zurück  und  verlangt  immer  von 
neuem  eine  kräftige  Überwindung. 

So  entstehen,  deutlich  geschieden,  drei  Arten  und  Typen  des 
Lebens:  die  eine  ist  ausschließlich  auf  ein  Beharren,  ja  einen  ewigen 
Bestand  gerichtet  und  sucht  das  menschliche  Sein  möglichst  aller 
Bewegung  zu  entwinden;  die  andere  ist  gänzlich  von  der  Bewegung 
erfüllt  und  will  ihr  nichts  entzogen  wissen;   die  dritte  strebt  über 


224  Zum  Weltproblem. 

den  Gegensatz  hinaus  und  möchte  aus  innerer  Überlegenheit  jeder 
Seite  ihr  Recht  gewähren.  Die  erste  beherrscht  die  antike,  die 
zweite  die  moderne  Gestaltung  des  Lebens,  die  dritte  wirkt  von 
Alters  her  innerhalb  der  geistigen  Arbeit,  aber  prinzipiell  ist  sie  erst 
anzuerkennen,  sowie  als  Lebenstypus  zu  voller  Kraft  und  Klarheit  zu 
führen.  Hier  liegt  die  Aufgabe  der  Zukunft.  Die  alte  Art  war  stark 
darin,  dem  Geistesleben  Festigkeit  und  Ruhe  zu  geben,  es  als  eine 
unantastbare  Ordnung  über  alles  Mögen  und  Meinen  der  Einzelnen 
wie  der  Massen  hinauszuheben.  Ins  Problematische  aber  geriet  sie 
dadurch,  daß  sie  die  Wahrheit  nicht  nur  als  in  ihrer  Substanz  un- 
veränderlich, sondern  auch  als  für  den  Menschen  fertig  vorhanden 
behandelte,  daß  sie  Substanz  und  menschliche  Existenzform  in  Eins 
zusammenschob.  So  gilt  der  antiken  Welt  und  mehr  noch  dem 
Mittelalter  die  wissenschaftliche  Wahrheit  als  endgültig  abgeschlossen, 
so  kennt  auch  das  kirchliche  Christentum  keine  Weiterbewegung  der 
religiösen  Gedankenwelt  Damit  wird  aber  der  Besitzstand  einer  be- 
sonderen Zeit  für  immer  festgelegt,  alles  Weiterstreben  gehemmt,  der 
Menschheit  ein  starres  Joch  auferlegt,  das  der  Lauf  der  Zeiten  immer 
drückender  machen  muß.  Auch  die  Wahrheit  selbst  leidet  Schaden, 
indem  Zufälliges  der  Zeiten  und  Menschen  ihr  ins  Wesen  gesetzt 
wird.  Dagegen  mußte  ein  Rückschlag  kommen,  die  Bewegung  erstritt 
sich  die  Anerkennung  ihres  Rechts,  der  Mensch  begann  seine  Schran- 
ken und  die  Bedingtheit  seiner  Leistungen  zu  empfinden,  es  begann 
jene  Entwicklung  modernen  Lebens,  dessen  Größe,  aber  auch  dessen 
Selbstverzehrung  uns  beschäftigt  hat.  Hatte  die  Beharrungslehre  die 
menschliche  Existenzform  unmittelbar  mit  der  Substanz  des  Geistes- 
lebens zusammenrinnen  lassen,  so  unterwirft  die  Bewegungslehre 
umgekehrt  das  Geistesleben  den  Bedingungen  der  menschlichen 
Art;  jenes  ergibt  eine  Erstarrung,  dieses  eine  Verflüchtigung  des 
Geisteslebens. 

An  Versuchen  zu  Kompromissen  hat  es  nicht  gefehlt,  das  Ganze 
des  Lebens  half  und  hilft  sich  vornehmlich  dadurch,  daß  das  Neue, 
was  der  Lauf  der  Zeiten  bringt,  möglichst  in  das  Alte  hineingedeutet, 
in  den  geschichtlichen  Bildungen  Kern  und  Schale  unterschieden, 
jener  nach  Kräften  festgehalten,  diese  abgestreift  wurde.  Aber  das 
ist  nur  eine  Ausflucht,  und  zwar  eine  Ausflucht,  der  die  historische 
Denkweise  der  Neuzeit  mit  ihrer  Hervorkehrung  der  Eigentümlich- 
keit und  Unvergleichlichkeit  der  einzelnen  Zeiten  immer  mehr  den 
Boden  entzieht.     Wollen  wir  also   nicht  zwischen  den  Gegensätzen 


Entwicklung.  225 

stehen  bleiben  und  uns  von  ihnen  zerreiben  lassen,  so  ist  von  innen 
her  und  unter  wesentlicher  Umwandlung  des  Wirklichkeitsbildes 
über  sie  hinauszustreben.  Das  aber  wird  erst  möglich  bei  An- 
erkennung einer  Selbständigkeit  des  Geisteslebens  und  einer  schärferen 
Abhebung  des  menschlichen  Daseins  von  ihm.  Denn  nur  so  lassen  sich 
Beharren  und  Bewegung  miteinander  festhalten.  Der  Mensch  muß 
im  tiefsten  Grunde  seines  Wesens  in  einer  unwandelbaren  Geistes- 
welt gegründet  sein,  und  es  müssen  von  da  aus  bewegende  und 
richtende  Wirkungen  ausgehen.  Aber  zugleich  ist  sein  unmittelbares 
Dasein  höchst  unsicher  und  unfertig,  langsam  erst  kommt  eine  Be- 
wegung in  Fluß,  und  nur  inmitten  der  Zeit  läßt  sich  weiter  und 
weiter  zum  Ziele  vordringen.  Aber  die  Bewegung  verliert  sich, 
dank  jener  Grundlage,  nicht  ins  Vage  und  Fremde,  es  vollzieht  sich 
in  ihr  ein  Erringen  des  eignen  Wesens,  inmitten  aller  Wandlung 
ist  sie  keine  bloße  Veränderung.  Vom  Menschen  aus  angesehen 
verlangt  eine  solche  Überzeugung  eine  Zurückverlegung  des  Lebens 
hinter  die  Fläche  der  einzelnen  seelischen  Betätigungen.  Denn  diese" 
zeigen  uns  die  Sache  mitten  im  Fluß,  namentlich  erscheint  hier  die 
Gedankenwelt  als  in  unablässiger  Wandlung  begriffen.  Aber  aller 
solchen  Veränderung  kann  eine  charakteristische  Art  des  Grundlebens 
überlegen  bleiben  und  sich  durch  sie  hindurch  behaupten,  ihre 
zeitüberlegene  Wahrheit  darin  entfalten.  So  steht  der  Mensch  zu- 
gleich in  der  Zeit  und  über  der  Zeit;  sein  Leben  ist  zweiseitiger 
Art,  indem  es  sich  einmal  einer  zeitüberlegenen  Wahrheit  als  einer 
Tatsache  zu  versichern  und  in  ihr  zu  begründen,  zugleich  aber 
innerhalb  der  Zeit  eine  immer  kräftigere  Herausarbeitung  und 
deutlichere  Entfaltung  jener  Wahrheit  zu  erstreben  hat.  Daher  ist 
hier  die  Wahrheit  zugleich  Besitz  und  Problem,  jenes  im  innersten 
Grunde  des  Wesens,  dieses  bei  der  Verwandlung  des  Daseins  in 
volle  Selbsttätigkeit. 

Von  hier  aus  wird  ein  Verhältnis  zur  Geschichte  möglich,  das 
den  Gegensatz  von  Beharren  und  Bewegung  in  sich  aufnimmt  und 
zugleich  überwindet.  Betrachten  wir  z.  B.  unsere  Stellung  zu  einer 
geschichtlichen  Religion,  etwa  der  christlichen.  Unmöglich  läßt  sich 
die  menschlich-geschichtliche  Form,  die  sie  erhalten  hat,  für  alle 
Zeiten  behaupten.  Bei  der  gewaltigen  Veränderung  unseres  äußeren 
und  inneren  Daseins  würde  nicht  nur  unser  Denken,  sondern  auch 
unser  Gefühls-  und  Überzeugungsleben  in  die  Gefahr  einer  Un- 
wahrhaftigkeit  geraten,    wenn    sie   mit  aller  Gewalt   auf   jene*  ältere 

Eucken,  Qnindbegriffe.    4.  Aufl.  15 


226  Zum  Weltproblem. 

Art  gestimmt  werden  sollte;  leicht  möchten  wir  unserer  eignen  Zeit 
Unrecht  tun,  wenn  wir  nur  darauf  bedacht  wären,  anderer  Zeiten 
Recht  zu  wahren.  —  Aber  die  Entfernung  von  der  unmittelbaren 
Lebensform  braucht  keine  Preisgebung  der  Substanz  zu  bedeuten. 
Es  kann  in  unzulänglich  gewordenen  Existenzformen  eine  wahrhaf- 
tige Art  des  Geisteslebens  durchgebrochen  sein,  welche  zeitüberlegene, 
die  gesamte  Geschichte  erfüllende  Tatsachen  belebt  hat  und  zu  be- 
leben fortfährt,  eine  Art,  von  der  sich  das  menschliche  Leben  nun 
und  nimmer  losreißen  darf.  Dies  Ewige  aber  würde  zugleich  seiner 
menschlichen  Gestaltung  nach  eine  fortwährende  Aufgabe  bleiben, 
es  würde  seine  Zeitüberlegenheit  nicht  durch  ein  starres  Beharren 
durch  alle  Zeiten,  sondern  vielmehr  dadurch  erweisen,  daß  es  in 
die  Eigentümlichkeit  aller  Zeiten  eingehen  kann,  ohne  sich  selbst 
zu  verlieren,  daß  es  jede  Zeit  auf  das  ihr  innewohnende  Ewige 
zu  bringen  und  damit  von  der  bloßen  Zeit  zu  befreien  vermag. 
Die  Zeit  aber  würde  gegen  die  antike  Fassung  dadurch  gewaltig 
gehoben,  daß  innerhalb  ihrer  ein  Fortschritt  im  Ewigen  möglich  wird. 
Wie  sich  weiter  auch  der  Weltanblick  und  die  Stellung  des 
Menschen  zur  Wirklichkeit  verwandelt,  wenn  das  Werden  an  die 
zweite  Stelle  tritt,  ohne  in  die  antike  Geringachtung  zurückzusinken, 
das  läßt  sich  hier  nicht  weiter  verfolgen.  Nur  ein  Punkt  möge 
zum  Schluß  noch  erwähnt  sein.  Jene  Grundüberzeugung  mit  ihrem 
Ausgleich  von  Beharren  und  Bewegung  kann  nie  den  Tatsachen  der 
Entwicklung  widersprechen,  wohl  aber  muß  sie  mit  einer  alleinselig- 
machenden Entwicklungsphilosophie,  einer  naturalistischen  Evolutions- 
lehre, hart  zusammenstoßen.  Die  letzte  Entscheidung  liegt  hier  bei 
der  Gesamtauffassung  des  geistigen  Lebens  und  zugleich  unseres 
eignen  Wesens.  Wie  die  Entwicklung  im  Ganzen  der  Wirklichkeit 
zu  verstehen  sei,  das  hängt  am  meisten  davon  ab,  ob  im  Geistesleben 
eine  neue  Stufe  des  Lebens  anerkannt,  oder  eine  bloße  Fortführung 
der  Natur  gesehen  wird.  Ist  jenes  der  Fall,  so  gewinnt  die  Ent- 
wicklung das  Ansehen,  daß  nicht  der  erfahrungsmäßig  vorliegende 
Prozeß  allen  Fortgang  aus  sich  selbst  hervortreibt,  nicht  das  Höhere 
ein  bloßes  Erzeugnis  des  Niederen  bildet,  sondern  daß  in  die  Be- 
wegung neue  Kräfte  aus  weiteren  Zusammenhängen  eintreten.  Damit 
erhält  unsere  Wirklichkeit  einen  Hintergrund  und  eine  Tiefe,  sie 
hat  einem  größeren  Ganzen  sich  einzufügen;  die  Bewegung  aber  ist 
dann  nicht  mehr  ein  Weiter-  und  Weiterhasten  ohne  Ziel  und  ohne 
Sinn,   sondern   sie  wird   getragen   und   umfaßt   von   einem    Reiche 


Entwicklung.  227 

ewiger  Wahrheit.  Ist  dagegen  das  Geistesieben  ein  bloßes  Neben- 
ergebnis der  Natur,  so  entfällt  alle  Möglichkeit,  der  Bewegung  ein 
Gegengewicht  zu  geben  und  dem  Leben  einen  Gehalt  zu  erringen, 
dann  treibt  die  Menschheit  wie  die  ganze  Welt  unaufhaltsam  ins 
Leere  hinein.  So  ist  es  auch  hier,  wie  an  allen  Hauptpunkten  der 
Untersuchung,  die  Stellung  zum  Geistesleben,  namentlich  die  An- 
erkennung oder  Verwerfung  einer  Selbständigkeit  des  Geisteslebens, 
welche  über  die  Richtung  der  Gedankenarbeit  entscheidet. 


15- 


D.  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

1.  Kultur. 

I  m  eignen  Gebiet  des  Menschen  bildet  den  beherrschenden  Mittel- 
*  punkt  der  Probleme  die  Kulturidee.  Sie  treibt  aus  sich  eine 
reiche  Verzweigung  hervor,  deren  Gestaltung  auf  den  Haupt-  und 
Gesamtbegriff  zu  näherer  Bestimmung  zurückwirkt.  Das  Wie  der 
Kultur  führt  zu  den  Problemen  von  Geschichte  und  Gesellschaft, 
das  Was  zu  denen  der  Moral,  Kunst  u.  s.  w.  Als  eine  Einleitung 
zu  dem  allen  sei  zunächst  der  Kulturbegriff  im  bloßen  Umriß 
erörtert 

a)  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks  und  Begriffs. 

Unserer  Gewohnheit  gemäß  beginnen  wir  auch  hier  vom  Aus- 
druck. Kultur  in  dem  heute  üblichen  Sinne  ist  neueren  Ursprungs. 
Denn  so  nahe  die  Übertragung  des  Bildes  von  der  Bestellung  (colere) 
des  Ackers  auf  den  Stand  der  Seele  dem  späteren  Altertum  wie  der 
Renaissance  lag,  einen  geschlossenen  und  abgegrenzten  Begriff  bildet 
daraus  erst  Bacon.  Die  Kultur  oder  Georgik  des  Geistes  wird  ihm 
ein  Hauptteil  der  Ethik.  ^  Aber  dieser  Versuch  hatte  zunächst  keine 
Folge,  er  ward  unmittelbar  nicht  aufgenommen  und  weitergeführt. 
Eine  ausgedehntere  Bewegung  hat  wohl  erst  die  französische  Kultur 
des  17.  Jahrhunderts  hervorgerufen.  Ihr  stolzes  Selbstbewußtsein 
ließ  sie  sich  selbst  viel  zu  deutlich   von  niederen  Stufen  abheben, 


^  S.  de  augm.  scient.  VII,  cp.  1:  Partiemur  igitur  ethicam  in  doctrinas 
principales  duas,  alteram  de  exemplari  sive  imagine  boni,  alteram  de  regimine 
et  cultura  animi,  quam  etiam  partem  georgica  anirai  appellare  consuevimus. 
lila  naturam  boni  describit,  haec  regulas  de  animo  ad  illas  conformando 
praesCTibit,  s.  auch  cp.  3.  Der  Ausdruck  Georgik  zeigt,  wie  stark  das  Bild- 
liche des  Ausdrucks  empfunden  wird. 


Kultur.  229 

um  nicht  allgemeinere  Reflexionen  über  verschiedene  Zustände  der 
Menschheit  anzuregen;  das  18.  Jahrhundert  mit  seinem  Streben  nach 
einer  natürlichen  Begreifung  der  Geschichte  verfolgt  solche  Richtung 
weiter  und  beschäftigt  sich  mehr  und  mehr  mit  dem  Gegensatz 
eines  Natur-  und  Kulturstandes.  Aber  so  wenig  es  an  Ausdrücken 
für  das  Weiterkommen  der  Menschheit  fehlt,  verschiedene  Bilder 
und  Vorstellungen  laufen  hier  neben-  und  durcheinander:  Kultivieren, 
Zivilisieren,  Polieren,  Polizieren,  Aufklären;  ^  einen  festen  Ausdruck 
für  das  Ganze  des  dadurch  erreichten  Standes  dürfte  erst  Turgot 
mit  »Zivilisation"  geschaffen  haben. ^  In  Deutschland  besaß  das 
Latein  der  Renaissance  den  Ausdruck  civilisatio,  ^  auch  civilitas 
wird  in  ähnlicher  Bedeutung  verwandt,*  aber  die  lebendige  Sprache 
blieb  davon  unberührt  und  hatte  bis  in  die  Anfänge  der  klassischen 
Literaturepoche  hinein  nur  schwankende  Bezeichnungen.^     Die  ent- 


*  Aus  der  schier  endlosen  Fülle  sei  hier  nur  einiges  angeführt.  Bayle 
(s.  oeuv.  div.  Haag  1727,  I,  453a)  hat  cultiver  leur  esprit  et  leur  raison;  wenn 
er  ebenda  407a  von  toutes  les  societes,  ou  l'on  cultivait  I'esprit  redet,  so 
würden  wir  das  kaum  anders  als  mit  „Kulturvölker"  übersetzen.  Aber  zu- 
gleich hat  er  civiliser  (z.  B.  dictionn.  1465  se  civiliser,  1472  b  nations  civi- 
lisees  im  Gegensatz  zu  barbares).  Bossuet  hat  in  ähnlicher  Bedeutung  les 
nations  les  plus  eclairees,  Leibniz  (398a  Erdm.)  le  siecle  qui  passe  pour 
eclaire;  wo  wir  „Naturmensch"  und  „Kulturmensch"  sagen  würden,  sagt  er 
„Wilder"  und  „Europäer";  auch  Montesquieu  stellt  peuples  eclaires  den 
peuples  grossiers  gegenüber,  öfter  aber  hat  er  poli  oder  police  (z.  B.  les 
peuples  les  polis,  la  Grece  seul  polie  au  milieu  des  barbares,  un  pays  police, 
un  royaume  aussi  police  comme  la  France,  les  peuples  polices,  peuples  bien 
Polices).  Auch  in  England  fehlt  ein  fester  Ausdruck;  so  gebraucht  A.  Smith 
bunt  durcheinander  civilized  und  polished  nations  (s.  z.  B.  the  theory  of  moral 
sentiments  V,  cp.  2). 

*  S.  Barth,  die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie,  S.  253. 

'  Nach  Paulsen  (Gesch.  des  gelehrten  Unterrichts  in  Deutschland, 
S.  78  u.  131)  wurde  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  von  Wittenberg  gesagt, 
daß  es  in  termino  civilisationis  liege. 

*  Es  bildet  z.  B.  bei  Kepler  (II,  730)  den  Gegensatz  von  barbaries. 

^  Das  zeigt  z.  B.  der  gediegene  und  gedankenreiche  Iselin.  In  seiner 
„Geschichte  der  Menschheit"  pflegt  er  dem  „Stande  der  Natur"  den  „Stand 
der  Sitten"  entgegenzusetzen  und  spricht  demgemäß  von  „gesitteten"  Völkern. 
Aber  nicht  minder  oft  hat  er  „Polizierung"  und  „poliziert",  er  unterscheidet 
aber  dabei,  die  spätere  Sonderung  von  Kultur  und  Zivilisation  vorausnehmend, 
zwei  Arten  der  Polizierung:  „die  eine,  durch  welche  der  Gesellschaft  die 
äußerliche  Gestalt  gegeben  vcird",  „die  andere  verbessert  die  Geister  und  die 
Gemüter"  (7.  Buch,  21.  Hauptstück).  Auch  stellt  er  Barbarei  und  Menschlich- 
keit  einander  entgegen  und  verwendet  „Milderung"  (auch   „Milderung  der 


230  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

scheidende  Wendung  brachte  für  Deutschland  die  klassische  Literatur- 
epoche. Ihr  Verlangen  nach  einer  Belebung  des  ganzen  Menschen 
und  einer  künstlerischen  Gestaltung  des  Daseins  enthielt  ein  viel 
zu  selbständiges  Kulturideal,  als  daß  nicht  auch  die  Ausdrücke  sich 
dem  hätten  anpassen  müssen.  So  ist  es  denn  auch  geschehen. 
Kultur  wird  nun  zu  einem  festen  und  zum  herrschenden  Begriffe, 
Zivilisation  grenzt  sich  davon  als  eine  niedere  Stufe  ab,  »Aufklärung" 
verliert,  kaum  durchgedrungen,  die  allgemeine  Bedeutung  und  sinkt 
zur  Bezeichnung  der  besonderen  Art  des  18.  Jahrhunderts,  zu  einer 
historischen  Kategorie;  dafür  hebt  sich  »Bildung",  die  bisherige  Be- 
deutung ins  Innere  wendend,  und  gewinnt  den  Affekt  der  Zeit. 
Es  sei  diese  Verschiebung  der  Ausdrücke  etwas  näher  dargelegt,  da 
sie  den  deutschen  Sprachgebrauch  bis  zur  Gegenwart  beherrscht. 

»Kultur"  ohne  allen  Zusatz  begegnet  uns  zuerst  bei  Herder; 
wohl  erscheint  hier  der  neue  Gebrauch  noch  als  in  Fluß  begriffen, 
aber  er  befestigt  sich  schon  genug,  um  einen  bündigen  Terminus 
abzugeben.^  Neben  Kultur  steht,  so  auch  bei  Goethe,  lange  noch 
Geisteskultur,  aber  allmählich  gewinnt  Kultur  schlechtweg  die  Ober- 
hand. Die  weitere  Verwendung  des  Begriffes  nimmt  eine  zwiefache 
Richtung,  gemäß  den  beiden  Hauptströmungen  im  deutschen  Idealis- 
mus: der  künstlerischen  und  der  ethischen.  Bei  den  Dichtern  und 
Humanisten  überwiegt  die  ersk,  Kunst  und  Wissenschaft  in  ihrer 
Verbindung  zum  literarischen  Schaffen  erscheinen  hier  als  die 
sicheren  Träger  der  Kultur,  als  das  unterscheidende  Merkmal  eines 
Kulturstandes.  2     Kant  und  mehr  noch  Fichte  dagegen  machen  zur 


Sitten")  und  „Erleuchtung"  (auch  „Erleuchtung  der  Geister")  als  unserem 
«Kultur«  gleichbedeutend.  —  Goethe  hat  in  seinen  Jugendschriften  „polierter" 
Mensch  und  „polierte"  Nationen,  und  Kant  spricht  von  „geschliffenen" 
Volks  klassen. 

^  Namentlich  wichtig  ist  für  den  Ausdruck  die  Stelle  Ideen  zur  Philos. 
der  Gesch.  IX,  1 :  „Wollen  wir  diese  zweite  Genesis  des  Menschen,  die  sein 
ganzes  Leben  durchgeht,  von  der  Bearbeitung  des  Ackers  Kultur  oder  vom 
Bilde  des  Lichts  Aufklärung  nennen :  so  stehet  uns  der  Name  frei ;  die  Kette 
der  Kultur  und  Aufklärung  reicht  aber  sodann  bis  ans  Ende  der  Erde."  Die 
Kultur  hat  als  beherrschendes  Ziel  die  „Humanität",  die  für  Herder  die  volle 
Entfaltung  und  Harmonie  aller  Kräfte  bedeutet,  gemäß  einer  Überzeugung, 
welche  die  enge  Verbindung  von  Leben  und  Schönheit  als  Ideal  verehrt. 
Das  Unterscheidende  des  Menschen  gegenüber  der  bloßen  Natur  aber  ist 
die  Freiheit;  so  gehört  diese  wesentlich  zum  Kulturbegriffe.  Näheres  darüber 
siehe  bei  Genthe  „Der  Kulturbegriff  bei  Herder". 

^  S.  die  gleich  anzuführende  Stelle  aus  F.  A.  Wolf. 


Kultur.  231 

Seele  der  Kultur  die  Freiheit  und  geben  ihr  damit  vornehmlich 
einen  moralischen  Charakter.  Kant  definiert  Kultur  folgendermaßen: 
«Die  Hervorbringung  der  Tauglichkeit  eines  vernünftigen  Wesens 
zu  beliebigen  Zwecken  überhaupt  (folglich  in  seiner  Freiheit)  ist  die 
Kultur.  Also  kann  nur  die  Kultur  der  letzte  Zweck  sein,  den  man 
der  Natur  in  Ansehung  der  Menschengattung  beizulegen  Ursache 
hat  (nicht  seine  eigne  Glückseligkeit  auf  Erden,  oder  wohl  gar  bloß 
das  vornehmste  Werkzeug  zu  sein,  Ordnung  und  Einhelligkeit  in 
der  vernunftlosen  Natur  außer  ihm  zu  stiften")  (V,  464,  Hart.).  Fichte 
hat  dies  weiter  ausgebaut  und  gemäß  seiner  Art  kräftig  durchgesetzt 
Ihm  wird  die  Freiheit,  die  volle  Selbsttätigkeit,  zugleich  zum  Inhalt 
der  Kultur.  So  bedeutet  ihm  diese  (Wke.  VI,  86):  «Übung  aller 
Kräfte  auf  den  Zweck  der  völligen  Freiheit,  der  völligen  Unabhängig- 
keit von  allem,  was  nicht  wir  selbst,  unser  reines  Selbst  ist".  Wie 
ihm  diese  Aufgabe  alles  Übrige  in  sich  schließt,  so  hat  «nichts  in 
der  Sinnenwelt,  nichts  von  unserem  Treiben,  Tun  oder  Leiden,  als 
Erscheinung  betrachtet,  einen  Wert,  als  insofern  es  auf  Kultur  wirkt" 
Religion,  Wissenschaft  und  Tugend  werden  ausdrücklich  zu  den 
höheren  Zweigen  der  Vernunftkultur  gerechnet  (VII,  166);  auch  den 
Staatszweck  bildet  die  Kultur,  und  der  Staat,  der  dem  Denker  vor- 
schwebt, wird  als  Kulturstaat  bezeichnet^ 

Die  beiden  Nuancen  der  Kulturbewegung  stimmen  aber  darin 
zusammen,  Kultur,  als  ein  Bilden  von  innen  her  und  eine  Erhöhung 
des  ganzen  Menschen,  von  aller  bloßen  Ordnung  der  Gesellschaft 
deutlich  abzuheben;  zur  Bezeichnung  dieser  dient  nun  Zivilisation; 
so  unterscheiden  sich  Zivilisation  und  Kultur  wie  Niederes  und 
Höheres,  wie  Beginn  und  Vollendung.^ 


^  Der  Begriff  des  Kulturstaates  widerspricht  zunächst  der  Fassung  des 
Staates  als  eines  bloß  „juridischen  Institutes".  Auch  zum  nationalen  Staat 
bildete  der  Kulturstaat  anfänglich  einen  Gegensatz;  s.  VII,  212:  ,, Welches  ist 
denn  das  Vaterland  des  wahrhaft  ausgebildeten  christlichen  Europäers?  Im 
allgemeinen  ist  es  Europa,  insbesondere  ist  es  in  jedem  Zeitalter  derjenige 
Staat  in  Europa,  der  auf  der  Höhe  der  Kultur  steht."  Später  hat  gerade 
Fichte  die  Begriffe  Volk  und  Vaterland  zu  Ehren  gebracht,  aber  nie  war  es 
das  sinnliche  Dasein,  sondern  immer  der  geistige  Gehalt,  der  sie  ihm  be- 
deutend machte. 

"  Das  erscheint  schon  deutlich  genug  bei  Kant,  s.  namentlich  IV,  152: 
„Wir  sind  in  hohem  Grade  durch  Kunst  und  Wissenschaft  kultiviert.  Wir 
sind  zivilisiert  bis  zum  Überlästigen,  zu  allerlei  gesellschaftlicher  Artigkeit 
und  Anständigkeit    Aber  uns  für  schon  moralisiert  zu  halten,  daran  fehlt 


232  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

In  engem  Zusammenhange  mit  jener  Steigerung  des  Kultur- 
begriffes steht  das  Aufkommen  von  «Bildung";  erst  in  der  zweiten 
Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  wird  es  vom  Äußeren  aufs  Innere,  vom 
Körperlichen  aufs  Seelische  übertragen.^  Mit  besonderer  Lebhaftig- 
keit bemächtigten  sich  seiner  die  Romantiker,  sie  namentlich  dürften 
den  Ausdruck  «die  Gebildeten"  in  Umlauf  gebracht  haben. ^  Bei 
Fichte  läßt  sich  deutlich  verfolgen,  wie  das  Wort  aus  anfänglicher 
Unsicherheit  ein  fester  Terminus  wird.  „Bildung"  wie  „gebildet« 
haben  sich  dabei  insofern  eigentümlich  gestaltet  und  von  den  anderen 
Ausdrücken  abgezweigt,  daß  sie  nicht  sowohl  von  ganzen  Völkern 
oder  der  Menschheit  als  von  der  höheren  intellektuellen  Schicht  inner- 
halb eines  Volkes  gebraucht  werden;  bei  „Bildung"  wird  mehr  die 
eigne  Tätigkeit,  die  selbständige  Aneignung  seitens  des  Individuums  be- 


noch  sehr  viel.  Denn  die  Idee  der  Moralität  gehört  noch  zur  Kultur;  der 
Gebrauch  dieser  Idee  aber,  welcher  nur  auf  das  Sittenähnliche  in  der  Ehr- 
liebe und  der  äußeren  Anständigkeit  hinausläuft,  macht  bloß  die  Zivilisierung 
aus."  Pestalozzi  XII,  154  sagt  in  ähnlicher  Tendenz:  „Die  kollektive  Existenz 
unseres  Geschlechts  kann  dasselbe  nur  zivilisieren,  sie  kann  es  nicht  kulti- 
vieren." Die  spezifisch  literarische  Kultur  hat  mit  besonderer  Energie 
F.  A.  Wolf  verfochten,  namentlich  in  der  berühmten  Abhandlung,  die  das 
„Museum  der  Altertums-Wissenschaft"  einleitet  (1807).  Der  Unterschied  von 
Kultur  und  Zivilisation  wird  ihm  zum  Mittel,  die  Griechen  und  auch  die 
Römer  über  alle  anderen  Völker  hinauszuheben.  Als  Hauptmerkmal  echter 
Kultur  erscheint  dabei  der  Besitz  einer  allen  gemeinsamen  Literatur;  die 
Kultur  ist  der  durch  Ausbildung  von  Literatur  und  Kunst  hervorgebrachte 
Stand  der  Gesellschaft.  S,  S.  16:  „Eine  der  wichtigsten  Verschiedenheiten 
unter  jenen  und  diesen  Nationen  ist  die,  daß  die  ersten  gar  nicht  oder  nur 
wenige  Stufen  sich  über  die  Art  von  Bildung  erheben,  welche  man  bürger- 
liche Polizierung  oder  Zivilisation,  im  Gegensatze  höherer  eigentlicher 
Geisteskultur,  nennen  sollte."  S.  17,  ,,jene  höhere  Kultur,  die  geistige  oder 
literarische."  S.  18,  „Asiaten  und  Afrikaner  werden,  als  literarisch  nicht 
kultivierte,  nur  zivilisierte  Völker,  unbedenklich  von  unseren  Grenzen  aus- 
geschlossen." Jener  ganzen  Zeit  sind  „Europa"  und  „Kultur"  eng  assoziiert. 
Dieser  Unterscheidung  von  Kultur  und  Zivilisation  folgt  auch  W.  v.  Humboldt. 

*  S.  darüber  Imelmann,  Ausg.  von  Klopstocks  Oden,  S.  86;  Paulsen 
Art.  Bildung  in  Reins  Enzyklop.  Handbuch  der  Pädagogik;  Biese  in  d.  N. 
Jahrb.  für  das  klass.  Altertum,  Jahrgang  1902,  S.  241. 

'  Der  Ausdruck  besagte  aber  weit  mehr  als  heute  nach  der  abschleifenden 
Wirkung  des  Jahrhunderts;  das  will  auch  bei  Schleiermachers  „Reden  über 
die  Religion  an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern"  beachtet  sein.  Näheres 
über  den  Sinn  des  Ausdrucks  bei  den  Romantikem  s.  bei  Haym,  „Die  ro- 
mantische Schule",  S.  420,  430. 


Kultur.  233 

tont.  *  So  wird  sie  wohl  der  Kultur  als  etwas  Innerlicheres  entgegen- 
gehalten. —  Die  Abgrenzung  von  Kultur  und  Zivilisation  ist  neuer- 
dings sehr  ins  Unsichere  geraten,  2  und  zwar  insofern  nicht  ohne 
einen  sachlichen  Grund,  als  jene  innere  Kultur,  die  unseren  großen 
Dichtern  und  Denkern  vorschwebte,  und  die  sich  deutlich  von  aller 
bloßen  Zivilisation  abheben  wollte,  in  unserer  Zeit  keinen  festen 
Boden  mehr  hat.  Auch  gehen  die  Nationen  hier  auseinander;  wo 
wir  Deutschen  von  „Kultur"  sprechen,  sagen  die  Engländer  und  Fran- 
zosen „Zivilisation ".3  Doch  das  läßt  sich  hier  nicht  weiter  ver- 
folgen; über  den  allgemeinen  Sinn  von  „Kultur"  besteht  kein 
Zweifel,  die  nähere  Fassung  aber  ist  völlig  herrenlos,  jeder  Kräftige 
mag  ihr  seinen  Stempel  verleihen. 


Mag  aber  der  Begriff  der  Kultur  heute  noch  so  unbestimmt 
sein,'  sicherlich  bezeichnet  er  ein  altes  Problem.  Auch  die  antike 
Welt  konnte  sich  der  Anerkennung  eines  großen  Gegensatzes  zwischen 
den  Völkern,  sowie  der  verschiedener  intellektueller  Stufen  innerhalb 
eines  Volkes  nicht  entziehen;  die  Höhe  des  attischen  Lebens  aber 
mußte  sowohl  das  Selbstbewußtsein  der  griechischen  Kultur  steigern 
als  innerhalb  des  griechischen  Lebens  eine  schroffere  Scheidung  er- 
zeugen. Einer  vollen  Würdigung  des  Kulturproblems  wirkte  hier 
freilich  manches  entgegen:  die  nationale  Abschließung  ließ  den  höheren 
Stand  leicht  als  bloße  Naturgabe  eines  besonderen  Volkes  erscheinen, 
zugleich  setzte  die  geschichtliche  Ansicht  von  einem  endlosen  Kreis- 
lauf der  Dinge  allem  Fortschreiten  enge  Grenzen  und  hemmte  leicht 
eine  unbefangene  Erforschung  der  Anfänge.  Andererseits  bestand 
viel  Neigung,  ein  Aufsteigen  aus  einem  rohen  Naturstande  anzu- 
erkennen ;  der  Scheidung  der  Menschheit  in  Griechen  und  Barbaren 
mußte  aber  die  Erweiterung  des   Horizontes  und   die  engere  Ver- 


'  Über  die  Probleme  im  Begriff  der  Bildung  s.  neuerdings  O.  Weißen- 
fels, „Die  Bildungswirren  der  Gegenwart." 

^  Näheres  darüber  s.  Barth,  die  Philosophie  der  Geschichte  als  Sozio- 
logie, S.  253. 

*  Bei  der  Übersetzung  eines  Artikels  von  mir  „Religion  und  Kultur" 
in  der  Liberte  Chretienne  (1907,  No,  3,  pag.  114)  wird  zu  Kultur  angemerkt: 
Nous  n'avons  guere  l'habitude,  en  fran^is,  d'employer  ce  mot  Sans  quelque 
d^terminatif:  ,,la  culture  intellectuelle",  „la  culture  des  lettres". 


234  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

bindung  der  Völker  entgegenwirken,  die  mit  Alexander  begannen.* 
In  derselben  Zeit  aber,  wo  der  Gegensatz  der  Völker  verblaßte, 
verschärfte  sich  innerhalb  der  griechischen  Welt  der  Gegensatz  von 
Gebildet  und  Ungebildet,  indem  nun  lediglich  ein  gelehrtes  Studium 
an  den  ererbten  Kulturgütern  vollauf  teilnehmen  ließ.  2  In  Wahr- 
heit ist  das  spätere  Altertum  voller  Betrachtungen  zum  Kulturproblem. 
Im  christlichen  Altertum  und  im  Mittelalter  tritt  diese  Frage  zurück, 
um  in  der  Renaissance  mit  verstärkter  Kraft  wieder  aufzuleben.  Seit- 
dem steht  die  Kultur  im  Mittelpunkt  der  geistigen  Arbeit;  am  Kampf 
um  sie  sind  alle  Gegensätze  der  Neuzeit  beteiligt:  der  Idealismus 
will  sie  von  innen  her  aufbauen,  der  Realismus  sie  von  außen  her 
zusammenfügen;  künstlerische,  intellektuelle,  ethische  Fassungen  durch- 
kreuzen sich  und  bestreiten  einander  die  Oberhand;  auch  fehlt  es 
nicht  an  Mischungen  mannigfacher  Art.  Im  Verlauf  des  19.  Jahr- 
hunderts hat  ein  Zusammenwirken  von  Geschichte  und  Naturforochung 
die  ältere  spekulative  Behandlung  dieser  Fragen  mehr  und  mehr 
einer  exakt-wissenschaftlichen  weichen  lassen;  zugleich  werden  die 
seelischen  Bedingungen  des  Kulturlebens  genauer  erforscht,^  und 
während  der  Stoff  massenhaft  anschwillt,  erzeugt  das  Bedürfnis  eines 
Gesamtbildes  neue  Versuche  einer  Kulturphilosophie.  Von  den  zahl- 
reichen dadurch  erzeugten  Problemen  und  Kontroversen  seien  hier 
nur  diejenigen  ausgewählt,  welche  das  Lebens-  und  Geistesproblem 
unmittelbar  berühren. 


^  Das  gibt  nicht  nur  der  Philosophie  einen  kosmopolitischen  Zug, 
sondern  verwandelt  auch  sonst  die  Denkweise.  Bemerkenswert  ist,  was  Strabo 
(Geographica,  am  Schluß  des  1.  Buches)  von  Eratosthenes  berichtet:  in\  -reXei 
Sk  Tou  ü7:o{jLvr'|jLaT05  oux  ETratveaa?  tou?  Stya  SiaipoGvxa;  areav  to  twv  avO'paxwv 
TcXfd-o?  e'i?  te  "EXXrjva?  xa\  ßapßa'pou;,  —  ßeXTiov  etva(  cprjaiv  «pexf  y.ai  xax(a:  Staipetv 
Taura.  noXXou^  yap  xa\  tcTv  'EXXTJvtüV  etvat  xaxou?  xai  tiIjv  ßapßaptov  aoTeiou?. 
Strabo  verteidigt  dagegen  den  Vorrang  der  Hellenen  damit,  daß  dort  gesetz- 
liche Ordnung  und  Bildung  überwiege,  bei  den  anderen  aber  das  Gegenteil: 
Tots   (AEv    iTzixpaztl   TO    vo[JLt{j.ov    xa\  TO   :iatS£(a;  xa\  Xo'ytov  o^xtiov,  Tot;  Se  TavavT(a. 

'  Schon  bei  Plato  und  Aristoteles  hat  7rai5e(a  neben  der  Bedeutung  der 
Erziehung  auch  die  weitere  der  Bildung.  Bezeichnend  dafür  ist  z.  B.  die 
aristotelische  Zusammenstellung:  Reichtum,  Adel,  Tüchtigkeit,  Bildung 
(«XoÜTos,  euye'veta,  aptTr^,  TcatSeta),  Pol.  1291b,  28  (s.  ähnlich  1293  b,  37  natSeta 
xttl  euyevEta,  1296b,  18:  iXsudepfa,  tiXoütoc,  TtatSeta,  euyevsta,  1317b,  39:  y^^°S 
jcXouTo;,  TtatSet'a).  Bei  ihm  entsprechen  TOnaiSeufievo;  und  a7:a(8euTos  durchaus 
unserem  „gebildet"  und  „ungebildet". 

*  S.  darüber  das  wertvolle  Buch  von  Vierkandt,  „Naturvölker  und 
Kulturvölker.    Ein  Beitrag  zur  Sozialpsychologie",  1896. 


Kultur.  235 

b)  Kritische  Erwägung. 
a.  Das  Problem  des  Wesens  und  Wertes  der  Kultur. 

Die  Kultur  gehört  zu  den  Größen,  die  sich  um  so  mehr  ver- 
wickeln, je  mehr  sich  unser  Denken  mit  ihnen  beschäftigt.  Der 
Begriff  soll  alles  zusammenfassen,  was  den  Menschen  und  die  Mensch- 
heit über  die  bloße  Natur  hinaushebt,  aber  worin  besteht  dies  Mehr 
gegenüber  jener?  Gelangt  der  Mensch  nur  zu  einer  größeren  Selb- 
ständigkeit und  Macht  innerhalb  eines  gegebenen  Daseins,  und  ver- 
mag er  seine  Umgebung  nur  weiter  zu  überschauen  wie  geschickter 
für  sich  zu  verwerten,  oder  erscheint  bei  ihm  eine  wesentlich  neue 
Art  des  Lebens,  eröffnen  sich  neue  Tiefen  und  gestatten  ihm,  ein 
neues  Reich  der  Wirklichkeit  aufzubauen?  Dort  würde  nur  eine 
Außenkultur,  hier  eine  Innenkultur  erreicht,  dort  eine  bloße  Zivili- 
sation, hier  eine  echte  Geisteskultur,  über  jene  kann  kein  Zweifel 
sein, 'die  Möglichkeit  dieser  wird  hart  bestritten. 

Wie  aber  der  Inhalt  der  Kultur,  so  ist  auch  ihr  Umfang  keines- 
wegs sicher.  Zweifellos  liegt  in  ihr  eine  Versetzung  des  mensch- 
lichen Lebens  in  größere  Tätigkeit,  ja  ein  Gründen  seiner  auf  eignes 
Tun,  wie  das  auch  schon  der  Ausdruck  anzeigt,  indem  er  an  das 
Bestellen  eines  Ackers  gegenüber  der  wildwachsenden  Natur  erinnert. 
Aber  umfaßt  diese  Tätigkeit  alles,  was  irgend  dem  Menschen  eigen- 
tümlich ist,  oder  ist  sie  nur  eine  Seite  des  Lebens,  neben  der  andere 
Möglichkeiten  bleiben?  Daß  hier  ein  Problem  vorliegt,  bekundet 
schon  die  Unsicherheit  über  das  Verhältnis  der  Religion  zur  Kultur: 
bald  wird  jene  zu  ihr  gerechnet,  und  es  scheint  die  Religion  am 
Stande  der  Kultur  zu  hängen;  bald  scheinen  sie  Gegensätze,  die 
einander  durchkreuzen  und  hemmen,  wie  denn  oft  genug  die  einen 
von  der  Religion  aus  die  Kultur,  die  anderen  von  der  Kultur  aus 
die  Religion  bekämpfen. 

Nicht  viel  anders  steht  es  mit  der  Frage  nach  dem  Werte  der 
Kultur.  Dient  sie  zur  Bezeichnung  alles  dessen,  was  den  Menschen 
über  den  Stand  der  rohen  Natur  hinaus  zu  dem  der  Gesittung  und 
Bildung  führt,  so  muß  sie  als  der  höchste  aller  Werte  erscheinen, 
und  es  muß  sich  innerhalb  ihrer  alles  begründen,  was  uns  irgend 
schätzbar  sein  will.  Aber  zugleich  ist  die  Geschichte  voller  Klagen 
über  Schäden  und  Gefahren  der  Kultur,  sie  steigern  sich  zuweilen 
so  sehr,  daß   die  ganze   Kultur  wie    ein   Danaergeschenk  erscheint. 


236  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Namentlich  in  drei  Richtungen  ist  die  Kultur  von  alters  her  ein 
Gegenstand  harter  Angriffe  gewesen. 

Von  der  Religion  aus  konnte  die  Kultur  als  eine  Stärkung 
menschlicher  Kraft  und  als  eine  Steigerung  menschlichen  Selbst- 
bewußtseins schwere  Bedenken  erregen.  Ein  frommer  Sinn  sah  in 
dem  kühnen  Aufstreben  der  Menschheit  ein  Überspannen  eignen 
Vermögens,  ein  Überschreiten  naturgewiesener  Schranken,  einen 
Mangel  an  frommer  Gesinnung.  Die  Mißstände  und  Rückschläge 
des  Kulturlebens  erschienen  dann  als  eine  Strafe  für  solchen  Frevel. 
Eine  derartige  Überzeugung  wirkt  von  Babylon  her  in  der  Erzählung 
vom  Sündenfall  und  vom  Turm,  der  bis  zum  Himmel  reichen  soll, 
sie  erscheint  in  den  Prometheussagen,  sie  ist,  in  der  besonderen 
Zuspitzung  gegen  einen  übermäßigen  Wissensdurst,  auch  in  den 
Faustlegenden  unverkennbar. 

Auf  dem  eignen  Boden  der  Menschheit  aber  griff  oft  der  Zweifel 
um  sich;  ob  die  Kultur  dem  Menschen  das  Glück  in  Wahrheit 
bringe,  das  sie  ihm  zuversichtlich  verheißt.  Sie  erzeugt  eine  große 
Verwicklung  des  Lebens,  sie  bildet  künstliche  Bedürfnisse  aus,  sie 
bindet  den  Menschen  mehr  und  mehr  an  seine  Umgebung,  sie  schafft 
ihm  Arbeit  und  Mühe,  sie  erweckt  unerreichbare  Wünsche  und  wilde 
Leidenschaften,  sie  mag  mit  dem  allen  als  ein  Losreißen  des  Menschen 
von  seiner  natürlichen  Grundlage  erscheinen,  das  ihn  bei  allem 
äußeren  Glanz  innerlich  unglücklich  mache.  Auch  derartige  Stim- 
mungen sind  uralt,  sie  tauchen  z.  B.  bei  den  alten  Juden  auf,  wie 
Hosea  und  Jesaias  zeigen.  *  Besonders  voller  Zweifel  war  das  spätere 
griechische  Altertum,  ein  Widerwille  gegen  das  Raffinement  der  da- 
maligen Kultur,  eine  Sehnsucht  nach  einfachen  Zuständen  und  schlichter 
Lebenshaltung  griff  weiter  und  weiter  um  sich.  Zum  Ausdruck  haben 
diese  Stimmung  namentlich  die  Philosophen  gebracht,  die  Kyniker 
in  derberer,  die  Stoiker  in  etwas  feinerer  Art;  aber  auch  die  schöne 
Literatur  gerät  unter  ihren  Einfluß  und  bekundet  damit  ihre  Ver- 
breitung im  gemeinsamen  Leben.  ^  In  der  Neuzeit  stellt  namentlich 
Rousseau  das  ProJDlem  aufs  deutlichste  vor  Augen,  mit  seiner  sen- 
sitiven, aufgeregten  und  aufregenden  Art  hat  er  es  der  modernen 
Menschheit  zwingend  auferlegt. 


^  S.  darüber  Budde  „das  nomadische  Ideal  im  alten  Testament"  (Preuß. 
Jahrbücher,  Bd.  85.) 

"^  Anziehende  Ausführungen  darüber  gibt  E.  Rohde  „Der  griechische 
Roman  und  seine  Vorläufer". 


Kultur.  237 

Das  drohende  Entweichen  des  Glücks  hätte  sich  etwa  ertragen 
lassen,  wenn  dabei  ein  Wachstum  der  Tüchtigkeit  des  Menschen 
außer  Zweifel  gewesen  wäre.  Aber  das  war  es  nicht,  vielmehr  pflegen 
den  Klagen  über  das  sinkende  Glück  solche  über  eine  Minderung 
der  Kraft  und  Tüchtigkeit  durch  den  Fortgang  der  Kultur  zur  Seite 
zu  gehen.  Die  Kultur,  so  hören  wir,  schwächt  den  Menschen, 
indem  sie  ihn  von  anderen  abhängig  macht,  sie  erhebt  die  Wirkung 
seines  Handelns  im  gesellschaftlichen  Zusammensein  zur  Hauptsache, 
sie  stellt  damit  die  Leistung  vor  die  Gesinnung  und  droht  bis  in 
die  innerlichsten  Gefühle  hinein  das  Leben  ins  Scheinhafte  und  Un- 
wahre zu  führen.  Mehr  und  mehr  spielt  der  Einzelne  nur  eine  ihm 
von  der  Gesellschaft  zugewiesene  Rolle,  und  es  wird  sein  Leben  mehr 
und  mehr  ihm  selbst  etwas  fremdes,  es  hängt  ihm  nur  äußerlich  an; 
wie  könnte  er  dabei  eine  Größe  der  Seele  bewahren,  ein  wahrhaftiger, 
kräftiger,  ganzer  Mensch  sein? 

Wohl  fehlt  es  der  Kultur  nicht  an  Anwälten  gegen  solche  Be- 
schuldigungen. Jene  Schäden,  so  heißt  es,  seien  bloße  Begleit- 
erscheinungen, Schatten,  ohne  die  kein  Licht  besteht;  nur  der  Mensch 
ziehe  ins  Kleine  herab  und  mache  damit  zweifelhaft,  was  an  sich 
groß  und  unangreifbar  sei.  —  Indes  die  Kultur  liegt  innerhalb  des 
menschlichen  Lebenskreises;  ist  sie  nicht  an  seinen  Zustand  ge- 
bunden, wird  sie  sich  vom  kleirmienschlichen  Getriebe  irgend  ab- 
heben können  unter  deutlicher  Scheidung  von  wesentlichem  Gehalt 
und  menschlicher  Zutat,  von  Recht  und  Unrecht?  So  bleiben  jene 
Bedenken  einstweilen  unwiderlegt,  und  zugleich  bleibt  die  Frage  offen, 
ob  die  Kultur  ein  Segen  oder  ein  Fluch  für  die  Menschheit  sei. 

ß.  Das  Problem  des  Inhalts  der  Kultur. 

Darüber  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Kultur  das  Dasein  des  Menschen 
in  höherem  Grade  auf  seine  eigne  Tätigkeit  stellt.  Aber  mit  dem 
allgemeinen  Begriff  der  Tätigkeit  ist  noch  recht  wenig  gewonnen, 
die  Tätigkeit  kann  ihre  Umgebung  nicht  an  sich  ziehen  und  sich 
umwandelnd  in  sie  ergießen,  ohne  sich  selber  näher  zu  determinieren, 
ohne  dem  Leben  einen  festen  Mittelpunkt,  eine  beherrschende  Haupt- 
richtung, eine  eigentümliche  Durchbildung  zu  geben;  so  wächst 
aus  der  Antwort  sofort  eine  Frage  hervor.  Die  Aufgabe  aber, 
die  damit  entsteht,  ist  von  der  Arbeit  der  Weltgeschichte  in  recht 
verschiedener  Weise  gelöst,  mannigfache  Arten  der  Kultur  sind  ent- 
standen,  von  denen  keine  einzelne  voll   und  dauernd  zu  genügen 


238  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

scheint,  und  die  mit  ihren  widerstreitenden  Zielen  und  Schätzungen 
sich  unmöglich  aneinanderlegen  lassen. 

Es  heben  sich  aber  aus  der  Bewegung  unseres  gesamten  Kultur- 
kreises mit  ausgeprägter  Gestalt  namentlich  drei  Arten  der  Kultur 
hervor:  eine  künstlerische,  eine  ethische,  eine  dynamische;  im  Griechen- 
tum, Christentum,  modernen  Leben  sind  sie  zur  Verkörperung  ge- 
langt. Im  Griechentum  bildet  den  Kern  der  Kulturarbeit  die  Ver- 
bindung der  Elemente,  welche  die  Natur  entgegenbringt,  zu  einem 
harmonisch  geordneten,  von  innerem  Leben  erfüllten  Ganzen.  Diese 
Verbindung,  Ordnung,  Belebung  kann  dem  Menschen  nur  seine 
eigne  Tätigkeit  bereiten,  sie  entringt  der  Zerstreuung  und  Flucht 
der  sinnlichen  Eindrücke  ein  beharrendes  und  zusammenhängendes 
Weltbild,  sie  stellt  die  Individuen  in  das  feste  Gefüge  einer  ge- 
schlossenen Gemeinschaft,  sie  verbindet  die  einzelnen  Kräfte  und 
Triebe  der  Seele,  ohne  irgend  etwas  davon  aufzugeben  oder  abzu- 
schwächen, zu  einem  Gesamtwerk  des  Lebens,  sie  vollzieht  an  allen 
Stellen  eine  Wendung  vom  Chaos  zum  Kosmos.  Durch  solches 
Wirken  sind  Natur  und  Geist  in  eine  enge  und  fruchtbare  Beziehung 
gesetzt,  ist  ein  kräftiges,  tätiges,  freudiges  Leben  geschaffen,  ist  der 
ganze  Umkreis  des  Daseins  veredelt  und  durchgebildet.  Aber  auch 
Fragen  und  Zweifel  blieben  nicht  aus.  Das  Ganze  ruht  auf  der 
Überzeugung,  daß  das  Leben  von  Grund  aus  eine  sichere  Richtung 
zur  Vernunft  besitzt,  und  diese  Überzeugung  geriet  mehr  und  mehr 
ins  Wanken;  die  Form,  welche  hier  das  Leben  beherrscht,  konnte 
solche  Stellung  nur  wahren,  solange  sie  eine  Seele  in  sich  trug,  und 
die  schien  sie  nicht  dauernd  bewahren  zu  können;  schließlich  ge- 
wannen die  Verwicklungen  des  Lebens  so  sehr  die  Oberhand,  und 
schien  der  Mensch  im  innersten  Kern  seines  Wesens  so  schwer  be- 
droht, daß  sein  Grundverhältnis  zur  Welt  und  die  Rettung  seiner 
Seele  zur  dringendsten  aller  Aufgaben  wurde. 

Dieser  Aufgabe  unterzog  sich  das  Christentum,  bei  vollster  An- 
erkennung des  Nein  unternahm  es  den  Menschen  zu  einem  über- 
legenen Ja  zu  führen,  inmitten  ungeheurer  Erschütterung  dem  Leben 
feste  Pole  zu  wahren.  Das  forderte  eine  unbedingte  Konzentration 
auf  eine  Aufgabe  ethischer  Art,  ein  völlig  neues  Leben  galt  es  gegen- 
über dem  nächsten  Dasein  zu  gewinnen,  der  Härte  und  Seelen- 
losigkeit  jenes  wurde  ein  Reich  barmherziger  Liebe  und  kindlicher 
Hingebung  entgegengehalten.  In  Entwicklung  dessen  ist  eine  gewaltige 
Vertiefung  des  Lebens  erfolgt,  unsichtbare  Zusammenhänge  taten  sich 


Kultur.  239 

auf,  eine  große  Weichheit  der  Empfindung  und  ein  großer  Ernst  der 
Gesinnung  gingen  Hand  in  Hand  miteinander;  ZeitUches  und  Ewiges, 
Endliches  und  Unendliches,  Menschliches  und  Göttliches  traten  hier 
in  engsten  Kontakt.  Aber  auf  dem  Boden  der  Geschichte  blieb 
diese  Denkweise  überwiegend  transzendent  und  gewann  kein  sicheres 
Verhältnis  zur  Weltumgebung,  neben  einem  Kreise  reiner  Innerlichr 
keit  verblieb  daher  die  übrige  Welt  unergriffen  und  ungeläutert,  die 
Flucht  in  die  Welt  des  Gemütes  ließ  leicht  die  Arbeit  an  den 
Widerständen  des  Daseins  als  nebensächlich  erscheinen  und  gefährdete 
damit  die  männliche  Kraft  des  Ganzen. 

Diese  Arbeit  aber  wurde  der  Neuzeit  zum  Kern  alles  Strebens. 
Der  Gedanke  einer  vollen  Überwindung  der  Hemmung,  der  Aus- 
treibung alles  Dunkels  tritt  hier  in  den  Vordergrund,  die  eigne  Be- 
wegung des  Lebens,  seine  Steigerung  ins  Unbegrenzte  wird  hier 
zum  Ziel  aller  Ziele,  zum  vollgenügenden  Glück.  Den  Menschen 
scheint  hier  vornehmlich  auszuzeichnen  seine  Überlegenheit  gegen 
alles '  gegebene  Maß,  sein  Vermögen,  die  eigne  Kraft  weiter  und 
weiter  zu  steigern,  immer  neue  Wege  zu  bahnen,  immer  neue  An- 
fänge zu  setzen.  Die  Bewegung,  die  daraus  hervorgeht,  läßt  durch- 
gängig neue  Bilder  vom  All,  dem  menschlichen  Zusammensein,  der 
Seele  des  Einzelnen  entstehen,  sie  schafft  eine  neue  Art  der  Arbeit, 
in  welcher  diese  zuerst  das  Bewußtsein  einer  Weltüberlegenheit  ge- 
winnt. Mehr  als  irgend  sonst  wird  hier  der  Mensch  zum  Herrn 
seines  Daseins,  überall  erfolgt  hier  ein  Aufrütteln  aus  träger  Starr- 
heit, ein  Beleben  alles  Schlummernden,  ein  Befreien  alles  Gebundenen, 
überall  wird  das  Leben  ein  rastloses  Vorwärtsstreben,  schwellen  ins 
Unermeßliche  Mut  und  Kraft.  Aber  wenn  die  Ergebnisse  dessen 
uns  in  tausendfachen  wohltätigen  Wirkungen  vor  Augen  stehen,  vor 
Augen  stehen  uns  auch  die  zahllosen  Verwicklungen,  die  jene  Be- 
lebung und  Befreiung  gebracht  hat,  an  die  freudig  vordringende 
Vernunft  hat  sich  soviel  Unvernunft  angeschlossen,  mit  den  Erfolgen 
des  Wachstums  des  Geisteslebens  ist  so  viel  kleinmenschliche  Irrung 
und  Leidenschaft  aufgeschossen,  daß  die  alleinseligmachende  Kraft 
der  modernen  Kultur  uns  sehr  ins  Unsichere  geraten  ist.  Immer 
weniger  läßt  sich  auch  der  Zweifel  unterdrücken,  ob  selbst  beim  Ge- 
lingen der  Bewegung  der  Mensch  ganz  und  gar  in  sie  aufgehen  kann. 
Denn  als  denkendes  Wesen  überschaut  er  die  Bewegung,  faßt  er  sie 
in  ein  Ganzes  und  muß  er  von  ihr  eine  bleibende  Förderung  seines 
Wesens  verlangen;  von  hier  aus  wird  ihm  eine  Kultur,  die  immer 


240  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

nur  ungestüm  vorwärts  drängt,  nie  einen  zeitüberlegenen  Besitz  ergibt, 
sinnlos  und  unerträglich  werden. 

Dies  alles  hat  sich  nacheinander  entwickelt,  aber  es  hat  einander 
nicht  einfach  abgelöst;  was  äußerlich  versank,  behält  eine  innere  Gegen- 
wart und  behauptet  einen  Einfluß  auf  das  menschliche  Leben.  Nun 
aber  ist  die  Grundrichtung  und  der  Gesamtcharakter  jener  Gestaltungen 
so  verschieden,  daß  nur  eine  flache  Denkart  eine  unmittelbare  Ver- 
bindung für  möglich  erachten  kann.  Sie  ist  um  so  weniger  mög- 
lich, als  das  geschichtliche  Bewußtsein  der  Gegenwart  uns  die  Unter- 
schiede mit  vollster  Schärfe  gewahren  läßt.  So  stehen  die  verschiedenen 
Lösungen  wie  fremdartig  gegeneinander  und  führen,  wenn  auch  meist 
versteckt,  miteinander  Kampf  und  Krieg.  Die  künstlerische  Kultur 
erklärt  die  ethische  für  eng  und  düster,  die  dynamische  für  form- 
und  ruhelos;  der  ethischen  muß  die  künstlerische  als  flachoptimistisch 
und  naturgebunden,  die  dynamische  als  selbstbewußt  und  trotzig 
gelten;  die  dynamische  wird  in  den  anderen  Formen  zu  wenig  Be- 
wegung und  Forttrieb  finden.  Und  zwischen  all  diesen  Gegensätzen 
steht  der  Mensch  der  Gegenwart;  wird  er  nicht  von  ihnen  zerrieben 
und  geistig  herabgedrückt  werden?  Er  kann  jene  verschiedenartigen 
Kulturtypen  weder  verbinden,  noch  auch  zu  Gunsten  eines  auf  die 
anderen  verzichten;  er  müßte,  um  jedem  sein  Recht  zu  geben  und 
von  seinem  Unrecht  zu  befreien,  eine  sichere  Überlegenheit  gewinnen, 
aber  er  ermangelt  nicht  nur  einer  solchen,  er  sieht  nicht  einmal,  in 
welcher  Richtung  sie  zu  suchen  sei. 

y.  Das  unsichere  Verhältnis  des  Menschen  zur  Kultur. 

Die  Verwicklungen  steigern  sich  weiter  bei  Erwägung  der 
Frage,  wie  sich  Mensch  und  Kultur  zueinander  verhalten.  Nur 
zweierlei  scheint  hier  möglich:  entweder  hat  die  Kultur  dem  Menschen 
oder  der  Mensch  der  Kultur  zu  dienen.  Nun  aber  ist  keines  von 
beiden  möglich,  wie  sich  ohne  Mühe  ersehen  läßt. 

Wäre  die  Kultur  ein  bloßes  Mittel  für  das  Wohl  und  den  Zu- 
stand des  Menschen,  so  müßte  ihr  Wachstum  sein  Leben  immer 
angenehmer  gestalten,  so  müßte  das  Mehr  der  Kultur  zugleich  ein 
Mehr  des  Glückes  besagen.  Das  aber  tut  es  nicht.  Denn  dem 
menschlichen  Behagen  scheint  die  Kultur  mehr  schädlich  als  nützlich 
zu  sein.  Sie  erzeugt  unbegrenzte  Wünsche  und  kostet  unsägliche 
Mühe  und  Arbeit,  sie  verwickelt  in  Sorgen  und  Aufregungen,  sie 
umfängt  uns  mit  festen  Bindungen,  sie  verlangt  Gehorsam  und  Opfer; 


Kultur.  241 

daß  das  alles  die  Lust,  die  Annehmlichkeit  des  Lebens  erhöhe,  läßt 
sich  schwerlich  behaupten.  Jene  befindet  sich  weit  besser,  und  es 
wird  sich  der  Mensch  weit  eher  zufrieden  fühlen  auf  niederen  Stufen 
der  Kultur,  auch  werden  weit  eher  Individuen  geringer  als  hoher 
geistiger  Regung  dazu  gelangen.  Wäre  zufriedenes  und  angenehmes 
Dasein  das  höchste  Ziel,  wie  sehr  müßten  wir  Kulturmenschen  die 
brasilianischen  Neger  mit  ihrem  sorglosen  Lebensgenuß  beneiden! 
So  wäre  auch  leicht  zu  zeigen,  daß  geistige  Bewegungen,  welche  das 
Glück  zum  höchsten  Ziele  machten,  wie  der  Epikureismus  und  der 
Utilitarismus,  für  den  inneren  Aufbau  der  Kultur  verzweifelt  wenig 
geleistet  haben.  Innerhalb  eines  gegebenen  Kulturstandes  mochten 
sie  manche  Härte  mildern,  mancher  Not  entgegenwirken:  das  Leben 
wesentlich  zu  heben,  Neuem  die  Bahn  zu  brechen,  geht  über  ihr 
Vermögen. 

So  bleibt  nur  der  andere  Weg:  die  Kultur  als  Selbstzweck  an- 
zuerkennen und  den  Menschen  zu  einem  bloßen  Mittel  für  ihren 
Fortgang  zu  machen.  Eine  solche  Fassung  hat  für  sich  den  Ein- 
druck innerer  Größe:  unvergleichlich  wächst  die  Kultur,  wenn  sie 
sich  bei  jenem  Selbständigwerden  in  ein  Ganzes  zusammenfaßt  und 
mit  der  Kraft  einer  eignen,  inneren  Notwendigkeit  wirkt;  der  Mensch 
aber  scheint  bei  aller  äußeren  Unterordnung  innerlich  nur  zu  wachsen, 
wenn  er  alle  Sorge  um  den  eignen  Zustand  ablegt  und  sich  ganz 
dem  Strome  des  Weltlebens  hingibt.  Hegels  System  hat  dieser  Denk- 
weise eine  großartige  Verkörperung  gegeben.  Aber  weit  darüber 
hinaus  übt  sie  im  modernen  Leben  eine  nicht  geringe  Macht.  In- 
mitten alles  Unerquicklichen  der  menschlichen  Verhältnisse  und  in- 
mitten des  Werdens  und  Vergehens  der  Geschlechter  gibt  heute 
die  Überzeugung  vielen  einen  Halt  und  Trost,  daß  durch  alles 
Mühen  hindurch  die  Kultur  ihren  sicheren  Weg  verfolge,  und  daß 
ihr  Gewinn  auch  dem  Leben  und  Wirken  des  um  sie  bemühten 
Menschen  einen  Sinn  und  Wert,  sowie  eine  bleibende  Dauer  verleihe. 
«Viele  werden  vorbeiziehen  und  die  Wissenschaft  wird   wachsen." 

Aber  so  anziehend  dieser  Gedanke,  zum  Siege  vermag  er  nicht 
zu  gelangen.  Denn  es  gibt  keine  Kultur  freischwebender  Art;  eine 
Kultur,  die  sich  gänzlich  vom  Menschen  ablösen  und  ihn  zu  einem 
bloßen  Mittel  herabsetzen  wollte,  würde  selbst  ins  Leere  fallen. 
Immer  liegt  die  Kultur  innerhalb  des  menschlichen  Lebens,  und  muß 
sie  diesem  etwas  sein,  der  Mensch  muß  in  ihr  ein  geistiges  Selbst  zu 
behaupten  haben,  wenn  sie  seine   volle  Kraft  gewinnen,  ihn  durch 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  16 


242  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

alle  Hemmungen  hindurch  hohe  Ziele  erreichen  lassen  soll.  Eine 
unpersönliche,  vom  Menschen  völlig  abgelöste  Kultur  wäre  ein  Ge- 
spenst ohne  Fleisch  und  Blut;  soweit  dies  in  unseren  Vorstellungen 
eine  Wirklichkeit  erlangte,  würde  es  uns  ins  Irre  locken,  unbekannten 
Zielen  uns  aufzuopfern  heißen,  das  Leben  einer  Seele  berauben. 
Und  wie  könnte  die  Hoffnung  auf  die  Zukunft  uns  in  den  Mühen 
und  Kämpfen  der  Gegenwart  aufrecht  erhalten  und  freudig  stimmen, 
wenn  diese  Zukunft  niemandes  Sache,  niemandes  Freude,  niemandes 
Förderung  wäre? 

Unsere  eigne  Zeit  stellt  uns  immer  klarer  vor  Augen,  daß 
jene  Selbstaufopferung  des  Menschen  an  die  Kultur  sich  schlechter- 
dings nicht  vollziehen  läßt.  Denn  immer  stärker  bricht  aus  allem 
hastigen  und  lärmenden  Kulturbetriebe  wieder  das  Verlangen  nach 
Entfaltung  und  Förderung  des  lebendigen  Menschen,  nach  Bildung 
der  Seele,  nach  Rettung  eines  geistigen  Selbst  hervor;  wir  erkennen 
zugleich,  daß  dies  für  die  eigne  Wahrheit  und  Tiefe  der  Kultur 
nicht  zu  entbehren  ist  In  solchen  Erfahrungen  tritt  deutlich  vor 
Augen,  daß  der  Mensch  kein  bloßes  Gefäß  des  Kulturlebens  ist,  daß 
ihn  dieses  nicht  nach  seinen  Bedürfnissen  wie  weiches  Wachs  so 
oder  anders  formt,  sondern  daß  er  ihm  eine  selbständige  Art  ent- 
gegenzusetzen hat,  die  nicht  auf  Befriedigung  verzichten  kann.  Die 
Kultur  schreitet  nicht  aus  einem  ihr  innewohnenden  Zwange  in 
sicherm  Zuge  fort,  vielmehr  scheint  in  ihr  alle  besondere  Gestalt 
alt  zu  werden  und  sich  auszuleben;  immer  wieder  bedarf  es  neuer 
Anfänge,  eines  Hervorbrechens  ursprünglichen  Lebens,  vor  allem  aber 
neuer  Menschen.  So  erging  es  dem  späteren  Altertum;  das  Kultur- 
leben kam  erst  wieder  in  Fluß,  als  neue  Völker  es  aufnahmen  und 
durch  frische  Kräfte  verjüngten.  Sollte  auch  der  Gegenwart  eine 
solche  Verjüngung  notwendig  sein,  sei  es  durch  neue  Völker,  sei 
es  durch  neu  aufsteigende,  geistig  noch  minder  verbrauchte  Klassen? 

Wie  dem  sein  mag,  der  lebendige  Mensch  behauptet  seine 
Selbständigkeit  gegen  allen  Versuch,  ihn  zu  einem  bloßen  Werkzeug 
herabzusetzen.  Aber  auch  die  Kultur,  so  sahen  wir,  darf  nicht  zu 
einem  bloßen  Mittel  sinken,  wenn  sie  nicht  einer  Auflösung  ver- 
fallen will.  So  befinden  wir  uns  in  einem  schweren  Dilemma,  wir 
müssen  darüber  hinaus,  aber  zunächst  sehen  wir  nicht,  wie  das  mög- 
lich sein  sollte.  Im  Durchschnitt  des  Lebens  aber  werden  wir  heute 
bald  nach  dieser,  bald  nach  jener  Seite  getrieben,  zwischen  leerer 
Subjektivität  und  seelenloser  Arbeit  schwanken  wir  ratlos  hin  und  her. 


Kultur.  243 

Alle  diese  Verwicklungen  treffen  in  der  Gegenwart  zusammen 
und  steigern  sich  gegenseitig.  Vor  allem  peinlich  wirkt  die  Unsicher- 
heit, die  über  unser  eignes  Verhältnis  zur  Kultur  besteht,  das  Fehlen 
eines  umfassenden  und  leitenden  Zieles,  das  uns  die  Kulturarbeit 
zur  eignen  Sache,  zur  Erhaltung  unseres  geistigen  Selbst,  zur 
zwingenden  Notwendigkeit  macht  und  sie  zugleich  über  das  klein- 
menschliche Getriebe  hinaushebt,  dem  wir  sonst  wehrlos  verfallen 
sind.  Schon  das  verhindert  uns,  nach  einer  neuen  charakteristischen 
Art  der  Kultur  gegenüber  den  verschiedenen  Gestaltungen  zu  streben, 
die  von  naher  oder  ferner  Vergangenheit  auf  uns  eindringen  und 
uns  einnehmen,  ohne  uns  voll  zu  befriedigen.  In  all  den  Wirren, 
die  daraus  entstehen,  fällt  uns  schließlich  der  Wert  und  das  Wesen 
aller  Kultur  ins  Ungewisse,  notdürftig  genug  verdeckt  gewandte  Re- 
flexion mit  schönklingenden  Reden  und  ausgeklügelten  «Gesichts- 
punkten" den  Mangel  eines  Kernes  des  Ganzen.  Unerträglich  wird 
schließlich  all  jene  aufgeputzte  Scheinkultur,  wie  sie  namentlich  von 
unsern  Millionenstädten  ausgeht,  immer  weiter  wird  der  Abstand 
zwischen  dem,  was  als  Ziel  verkündet  und  was  in  Wahrheit  als 
solches  erstrebt  wird,  immer  größer  wird  damit  die  Unwahrhaftig- 
keit  des  Lebens.  Dem  muß  widerstanden  werden;  die  wachsende 
Unzufriedenheit  zeigt  deutlich  genug,  daß  eine  solche  Bewegung 
schon  im  Gange  ist. 

c)  Forderungen  für  ein  wahrhaftiges  Kulturleben. 

a.  Die  Notwendigkeit  einer  tieferen  Begründung. 

Die  Philosophie  mag  in  solchen  Bewegungen  und  Erschütter- 
ungen eine  noch  so  bescheidene  Rolle  haben,  der  Aufgabe  entziehen  kann 
sie  sich  nicht.  Ihre  Sache  wird  es  vor  allem  sein,  die  Richtungen 
herauszuarbeiten,  die  das  Streben  einzuschlagen  hat,  um  uns  das  Leben 
wieder  aus  einem  «Geschäft"  zu  einem  «Dasein«  zu  machen  (nach 
J.  Burckhardt).  Dazu  aber  bedarf  es  vornehmlich  dessen,  daß  die 
Kultur  ganz  unser  eigen  sei  und  zur  zwingenden  Notwendigkeit 
unserer  Selbsterhaltung  werde,  ohne  unter  die  Kleinheit  der  bloßen 
Lust  zu  geraten.  Dafür  aber  bietet  unsere  Fassung  des  Geistes- 
lebens und  seines  Verhältnisses  zum  Menschen  einen  gangbaren  Weg. 
Denn  mit  dem  Selbständigwerden  des  Geisteslebens,  wie  wir  es  ver- 
treten, wird  die  Kultur,  die  seiner  Entfaltung  dient,  von  dem  flachen 
Menschengetriebe  befreit  und  auf  eine  tiefere  Grundlage  aufgetragen, 

16' 


244  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

aber  sie  wird  dabei  nicht  dem  Menschen  entfremdet,  da  er  seiner  eigen- 
tümlichen Art  nach  im  Ganzen  des  Geisteslebens  allererst  sein  echtes 
Wesen,  die  Möglichkeit  eines  wahrhaftigen  Beisichselbstseins  findet. 
Bei  solcher  Fassung  arbeitet  er  in  der  Kultur  nicht  für  fremde, 
sondern  für  eigne  Zwecke,  und  vermag  er  auch  in  der  weitesten 
Ausdehnung  seines  Strebens  einen  beherrschenden  Mittelpunkt  fest- 
zuhalten. So  ist  es  das  Geistesleben  in  unserem  Sinne,  das  den 
Menschen  und  die  Kultur  aufs  engste  verbindet,  ohne  sie  einander 
unmittelbar  zu  verschmelzen  und  damit  das  eine  dem  andern  auf- 
zuopfern. Die  Verbindung  nämlich  erscheint  hier  nicht  als  eine 
fertige  Tatsache,  die  uns  bequemer  Weise  zufällt,  sondern  als  ein 
hohes  Ideal,  welches  das  ganze  Leben  aufregt  und  in  Bewegung 
versetzt.  In  solchen  Zusammenhängen  erscheint  die  Kultur  als  unsere 
Mitarbeit  an  einer  großen  Bewegung  des  Alls,  welche  die  Wirklich- 
keit einer  höheren  Stufe,  der  Stufe  des  Beisichselbstseins,  zuführt. 
Hinter  unserer  Arbeit  steht  und  innerhalb  unserer  Arbeit  wirkt  da- 
mit die  Kraft  des  Ganzen. 

Es  ist  keineswegs  bloß  eine  leise  Verschiebung  oder  gar  eine 
bloße  Veränderung  des  Namens,  wenn  so  die  Kultur  als  Entfaltung 
eines  selbständigen  Geisteslebens  verstanden  wird.  Denn  das  gestattet 
eine  Erfüllung  von  Forderungen,  die  allem  echten  Kulturstreben 
wesentlich  sind,  denen  aber  die  durchschnittliche  Fassung  in  keiner 
Weise  genügt. 

So  erst  wird  eine  Selbständigkeit  der  Inhalte  und  der  Werte 
möglich,  welche  die  Kulturarbeit  erfüllen.  Wäre  die  Kultur  bloß  ein 
innermenschlicher  Vorgang,  so  würde  der  Stand  des  Menschen  zu 
ihrem  ausschließlichen  Maße,  so  gäbe  es  keine  Zerlegung  und  Scheidung 
des  uns  umfangenden  Chaos,  so  könnte  nicht  die  Kultur  dem  mensch- 
lichen Dasein  Ideale  mit  zwingender  Stärke  vorhalten,  so  fehlte  ihr 
alle  aufrüttelnde  und  vorwärtstreibende  Kraft.  Ganz  anders  stellt 
sich  die  Sache,  wenn  in  der  Kultur  eine  dem  bloßen  Menschen  über- 
legne Bewegung  anerkannt  wird,  die  ihm  den  Kern  seines  eignen 
Wesens  erst  aufzuschließen  vermag. 

Ferner  kann  erst  die  Begründung  auf  ein  selbständiges  Geistes- 
leben der  Kultur  eine  Größe  geben.  Denn  wo  das  Leben  ganz  und 
gar  auf  den  bloßen  Menschen  beschränkt  bleibt,  ihn  nicht  irgend 
über  seinen  Zustand  in  ein  Leben  mit  dem  Ganzen  der  Wirklich- 
keit führt,  da  mag  der  Mensch  noch  so  sehr  sich  für  Größe  be- 
geistern,   raffinierte  Unterschiede   ersinnen,    in   Hochmut  und  Eitel- 


Kultur.  245 

keit  sich  oder  seinen  Stand  über  andere  hinausheben,  in.  der  Sache 
bleibt  alles  klein,  klein  vornehmlich  in  der  Einbildung  einer  Größe. 
Erhabenheit,  echte  Größe,  etwas,  das  Ehrfurcht  gebieten  und  im 
Unterordnen  zugleich  erheben  könnte,  entsteht  innerhalb  dieses  bloß- 
menschlichen Kreises  nicht.  Dazu  muß  im  Menschen  etwas  Mehr- 
alsmenschliches durchbrechen,  dem  er  zugleich  eine  volle  Überlegen- 
heit zuerkennen  muß,  und  das  er  doch  als  irgendwie  zu  sich  selbst 
gehörig  betrachten  darf;  erst  von  da  aus  wird  eine  wahrhaftige  Er- 
höhung seines  Wesens  möglich,  auch  die  größte  aller  Befreiungen, 
die  Befreiung  des  Lebens  von  der  Enge  des  bloßen  Menschen.  Wie 
dies  Übermenschliche  im  Menschen  den  Quell  aller  echten  Größe 
bildet,  so  bewahrt  es  allein  die  Kultur  davor,  ein  bloßer  Menschen- 
dienst zu  werden,  Menschendienst  gegen  Einzelne,  Menschendienst 
auch  gegen  Massen.  Möchte  uns  stets  jenes  Kantische  Wort  gegen- 
wärtig sein:  «Alles,  auch  das  Erhabenste,  verkleinert  sich  unter 
den  Händen  des  Menschen,  wenn  sie  die  Idee  desselben  zu  ihrem 
Gebrauch  verwenden." 

Auch  zur  Ursprünglichkeit  des  Kulturlebens  ist  die  Gegenwart 
einer  neuen  Stufe  der  Wirklichkeit  nicht  zu  entbehren.  Denn 
ist  Kultur  nicht  mehr  als  ein  menschlicher  Zusatz  zur  Natur,  so 
muß  ihre  Bewegung  sich  immer  weiter  von  ihrer  Basis  entfernen, 
so  muß  ihr  Bestand  immer  künstlicher,  komplizierter  und  raffinierter 
werden.  Die  Kultur  wird  dann  das  Leben  immer  starrer  festlegen, 
ihm  immer  mehr  Möglichkeiten  verschließen^  es  immer  gebundener 
machen.  Mit  dem  allen  würde  sie  die  Zerstörerin  aller  Jugendfrische 
und  aller  Ursprünglichkeit  Ist  es  ein  Wunder,  daß,  wenn  die  Mensch- 
heit das  in  besonderen  Lagen  mit  besonderer  Stärke  empfindet,  sie 
dagegen  sich  aufbäumt  und  sich  mit  ganzer  Seele  zur  Natur,  zu  den 
einfachsten  Anfängen  zurücksehnt,  wie  oft  das  Individuum  in  das 
Kindheitsalter  mit  seiner  Frische  und  der  Fülle  seiner  Möglichkeiten? 
Aber  eine  wirkliche  Rückkehr  zur  Natur  ist  der  Menschheit  ebenso 
versagt  wie  dem  Individuum  die  zur  Kindheit,  die  Geschichte  mit  ihren 
Wirkungen  läßt  sich  unmöglich  streichen.  So  müßten  wir  uns  also 
darin  ergeben,  daß  die  Kultur  immer  greisenhafter  und  starrer  würde, 
daß  die  Menschheit  im  Großen  demselben  öden  Spießbürgertum 
erläge,  wie  die  meisten  Individuen  im  Kleinen,  wenn  nicht  etwas 
Neues  ursprünglich  durchbrechen,  nicht  frische  Kräfte  einsetzen,  nicht 
neue  Möglichkeiten  aufgehen  könnten.  Sie  können  aber  nur  auf- 
gehen, wenn  es  eine  geistige  Tiefe  des  Lebens  gibt,  die  inmitten 


246  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

alles  Vergriffenen  und  Abgelebten  einer  bloßmenschlichen  Kultur 
neue  Anfänge  setzt,  einfache  Größen  erzeugt,  im  Einfachen  eine  neue 
Welt  erschließt.  Wenn  es  heißt,  daß  alles  Große  einfach  ist,  so 
muß  das  wohl  eine  andere  Einfachheit  sein  als  die  der  natürlichen 
Anfänge. 

Endlich  entbehrt  die  Kultur  auch  der  nötigen  Triebkraft,  wenn 
sie  nur  einer  gegebenen  Welt  etwas  beifügt,  nicht  eine  neue,  uns 
unentbehrliche  Welt  eröffnet  Kräftig  erregen  und  zwingend  be- 
wegen kann  uns  nur  die  Erfahrung  und  Empfindung  eines  Wider- 
spruches im  eignen  Leben,  die  Unmöglichkeit,  bei  ihm  abzuschließen. 
Einen  derartigen  Widerspruch  aber  kann  eine  bloße  Zusatz-  und 
Luxuskultur  nun  und  nimmer  erzeugen.  Das  von  ihr  gewünschte 
Mehr  könnte  man  ruhig  ablehnen  oder  etwa  wie  Wind  und  Wetter 
geduldig  über  sich  ergehen  lassen,  wie  ja  in  Wahrheit  das  Durch- 
schnittsleben innerlich  gegen  die  Kultur  recht  gleichgültig  ist  und 
sie  mehr  als  einen  sozialen  Zwang  denn  als  eine  eigne  Freude 
empfindet.  Wenn  es  auf  der  Höhe  des  Schaffens  anders  stand,  und 
wenn  überhaupt  solches  Schaffen  möglich  war,  so  kam  das  daher, 
daß  hier  die  Arbeit  als  die  Erringung  eines  wahrhaftigen  geistigen 
Lebens  und  damit  eines  Beisichselbstseins  galt,  und  daß,  wo  solches 
Verlangen  einmal  aufgegangen  war,  die  vorgefundene  Lage  als 
schlechterdings  unerträglich,  als  Hemmung  einer  notwendigen  Selbst- 
erhaltung erschien.  Mit  solchem  Verlangen  nach  Selbsterhaltung 
fuhr  eine  leidenschaftliche  Glut  in  das  Streben,  die  keine  Rücksicht 
auf  Menschen  kannte  und  zu  jedem  Opfer  bereit  war,  vor  keinem 
Hemmnis  zurückwich. 

Durch  alle  Fragen  zieht  sich  ein  und  dasselbe  Problem,  ein 
und  derselbe  Gegensatz:  der  einer  echten  und  einer  Scheinkultur. 
Echt  ist  die  Kultur  nur  soweit,  als  sie  den  Zusammenhang  mit  dem 
begründenden  Geistesleben  wahrt  und  seiner  Entfaltung  dient,  unecht 
wird  sie,  sobald  sie  unter  die  Zwecke  des  bloßen  Menschen  sinkt 
und  auch  das  Geistesleben  dahin  herabzieht.  Der  Kampf  beider 
Formen  —  hie  Geist,  hie  Mensch  —  durchdringt  die  ganze  Ge- 
schichte und  läßt  in  ihr  eU,'as  anderes  sehen  als  einen  reinen  Triumph 
des  Geistes.  Heute  aber  tut  es  besonders  not,  daß  die  alte  Wahr- 
heit deutlicher  erfaßt,  die  notwendige  Bedingung  echter  Kultur  klarer 
herausgestellt,  die  Scheidung  der  Geister  für  dieses  oder  jenes  kräftiger 
vollzogen  werde. 


Kultur.  247 

ß.  Die  Notwendigkeit  einer  inneren  Weiterbildung  der  Kultur. 

Daß  wir  einer  Weiterbildung  der  Kultur  bedürfen,  auch  in 
welcher  Richtung  wir  sie  zu  suchen  haben,  das  ließ  schon  die 
bisherige  Erörterung  zur  Genüge  erkennen.  Verschiedene  Haupt- 
gestaltungen wirken  zu  uns  von  der  Geschichte  her,  von  denen  wir 
keine  aufgeben  und  die  wir  auch  nicht  unmittelbar  zusammenfassen 
können;  was  anderes  bleibt  da  übrig,  als  uns  danach  umzusehen, 
ob  nicht  eine  Lebensbewegung  vorhanden  ist  und  sich  weiter  ver- 
stärken läßt,  die  über  den  Gegensatz  hinaushebt  und  ihm  entgegen- 
zuwirken gestattet,  die  dabei  universal  genug  ist,  um  sich  über  das 
Ganze  des  Lebens  zu  erstrecken  und  seinen  Befund  in  ein  Für  oder 
Wider  zu  scheiden,  und  zugleich  charakteristisch  genug,  um  allem, 
was  sie  ergreift,  eine  eigentümliche  Gestalt  zu  geben.  Ein  Urphänomen 
müßte  in  ihr  ergreifbar  sein,  das  jedem  Einzelnen  gegenwärtig  ist, 
und  das  zugleich  mit  aufrüttelnder  und  bildender  Wirkung  über 
das  Ganze  des  Lebens  reicht. 

Ein  solches  beherrschendes  Urphänomen  ist  nun  nicht  dieses  oder 
jenes  am  Geistesleben,  nicht  diese  oder  jene  Leistung,  sondern  es 
ist  das  Geistesleben  selbst,  wie  wir  es  verstehen,  die  Bewegung  der 
Wirklichkeit  zu  einem  Beisichselbstsein  des  Lebens.  Erst  mit  solchem 
Beisichselbstsein  wird  überhaupt  ein  wahrhaftiges  Sein  erreicht,  alles 
Übrige  ist  nur  ein  Schein  davon;  ein  solches  Sein  kann  nicht  außer- 
halb der  Tätigkeit,  sondern  nur  innerhalb  ihrer  liegen,  es  entsteht, 
indem  jene  sich  zu  einem  beharrenden  Ganzen  vertieft  und  dieses 
Ganze  in  die  einzelnen  Betätigungen  hineinlegt.  Damit  erst  wird 
ein  Aufstieg  eines  bloßen  Lebens  zu  einem  Selbstleben  erreicht, 
oder  vielmehr  es  wird  damit  erst  der  Widerspruch  überwunden,  der 
sonst  im  Begriff  des  Lebens  liegt.  Oder  ist  es  nicht  ein  Wider- 
spruch, daß  eine  gewisse  Innerlichkeit  entsteht,  diese  aber  stets  an 
Fremdes  gebunden  bleibt,  nie  eine  Selbständigkeit  erlangt?^  Erst 
mit  jener  Wendung  wird  der  Begriff  von  Lebensinhalten  verständ- 
lich, auch  der  Begriff  des  Wertes  scheidet  sich  hier  erst  deutlich 
von  der  niederen  Stufe  der  Lust.  Von  hier  aus  tritt  alle  Tätigkeit 
unter  den  Gegensatz  einer  wesenhaften  und  einer  wesenlosen,  einer 
selbständigen  und  einer  gebundenen  Art,  und  es  entsteht  zugleich 
eine  durchgehende  Aufgabe   daraus,   die  übhche  Vermengung,  die 

*  Für  alles  weitere  muß  ich  auf  meine  systematischen  Schriften,  zu- 
nächst auf  die  „Grimdlinien  einer  neuen  Lebensanschauung"  verweisen. 


248  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

beides  ungeschieden  ineinander  verfließen  läßt,  auszutreiben,  die 
Forderungen  der  Wesensbiidung  scharf  herauszuarbeiten  und  sie  als 
unerläßlich  durchzusetzen.  Von  der  Kultur  wird  damit  als  echt  nur 
gelten  können,  was  die  Bildung  eines  Wesens  fördert,  was  eine 
Weiterbildung  der  geistigen  Wirklichkeit  und  zugleich  unseres  echten 
Selbst  enthält;  alles  andere,  so  prunkend  es  auftreten  mag,  sinkt 
damit  zu  einer  bloßen  Menschenkultur,  zu  einer  Kulturkomödie. 
Soweit  aber  jene  Wesensbildung  gelingt,  muß  eine  durchgreifende 
Befestigung  und  Vertiefung  des  Daseins  erfolgen;  der  Hauptaffekt 
des  Lebens  wird  damit  das  Verlangen  nach  Wahrhaftigkeit,  nach  Be- 
freiung von  allem  Schein. 

So  entsteht  ein  eigentümlicher  Typus  des  Lebens  mit  strengen 
Forderungen  und  mit  aufrüttelnder  Kraft;  daß  aber  innerhalb  dieses 
Kreises  für  mannigfache  Bewegungen  Platz  verbleibt,  das  bringt  die 
Tatsache  mit  sich,  daß  jene  Wendung  zu  einem  Beisichselbstsein  des 
Lebens  sich  unter  den  Bedingungen  und  Hemmungen  des  mensch- 
lichen Daseins  vollziehen  muß;  eine  Mehrheit  von  Angriffspunkten 
wird  dadurch  möglich,  ja  unentbehrlich.  Wir  Menschen  sind  an 
das  unmittelbare  Dasein  gebunden  und  bleiben  auch  für  den  Fort- 
gang des  Lebens  darauf  angewiesen.  Wir  können  uns  nicht  ein- 
fach von  jenem  trennen,  uns  der  wesenhaften  Einheit  bemächtigen 
und  von  dort  aus  die  ganze  Wirklichkeit  entwickeln,  sondern  auch 
wenn  wir  uns  dorthin  versetzt  haben,  bedarf  es  einer  unablässigen 
Befassung  und  Auseinandersetzung  mit  jenem  Dasein,  Dabei  stößt 
das  geforderte  Wirken  aus  dem  Ganzen  für  das  Ganze,  das  Ge- 
triebenwerden durch  die  innere  Macht  der  Wahrheit,  wie  es  echt- 
geistigem Leben  und  Schaffen  innewohnt,  hart  zusammen  mit  dem 
Naturtriebe  der  Selbsterhaltung,  den  die  Verflechtung  mit  geistigen 
Kräften  zu  einem  grenzenlosen  Egoismus  steigert;  eine  völlige 
Wandlung  der  Gesinnung  wird  damit  unerläßlich  und  erweist  sich 
als  Grundbedingung  alles  Geisteslebens  echter  Art;  das  hebt  die 
ethische  Aufgabe  über  alles  andere  hinaus.  Aber  zugleich  be- 
hauptet das  künstlerische  Wirken  mit  seiner  Formgebung  einen 
eigentümlichen  Wert.  Was  im  Menschen  an  Geistigkeit  aufstrebt, 
das  hat  zunächst  ein  rohes  und  seelenloses  Dasein  neben  sich  und 
verbleibt  daher  leicht  in  einem  Stande  der  Halbwirklichkeit;  erst 
das  künstlerische  Bilden,  das  weit  über  die  eigentliche  Kunst  hin- 
ausreicht, bringt  die  verschiedenen  Seiten  und  Stufen  in  Wechsel- 
wirkung, vermag  in   der  Berührung  das  Innere   zu   gestalten,   das 


Kultur.  249 

Äußere  zu  beseelen,  das  Leben  bei  sich  selbst  zusammenzuführen. 
So  gibt  es  keine  volle  Durchgeistigung  des  Lebens  ohne  die  Kunst, 
ohne  ihr  bildendes  und  veredelndes  Wirken  vermag  aller  Eifer 
ethischen  Aufschwunges  es  nicht  vor  Barbarei  zu  behüten.  Endlich 
aber  behauptet  auch  die  Aufgabe  der  Lebenssteigerung  ein  unan- 
greifbares Recht.  Zum  Geistesleben  gehört  Unbedingtheit,  Unend- 
lichkeit, volle  Beherrschung  der  Wirklichkeit;  der  Mensch  des  un- 
mittelbaren Daseins  aber  steht  unter  zahlreichen  Bedingungen  und 
Einschränkungen,  er  ist,  an  jener  Aufgabe  gemessen,  von  kläglicher 
Enge  und  Schwäche.  So  bedarf  es  notwendig  einer  Steigerung 
seiner  Kraft,  einer  Erweiterung  seines  Daseins,  einer  Belebung  alles 
Schlummernden;  ist  es  verwunderlich,  daß  dies  besonderen  Epochen 
das  Ganze  der  Kultur  zu  bedeuten  schien? 

Aus  solchem  Nebeneinander  verschiedener  Lebensrichtungen 
müssen  schroffe  Spannungen  und  harte  Zusammenstöße  erwachsen,  und 
zwar  keineswegs  durch  bloßes  Irren  und  Mißverstehen  der  Menschen. 
Denn  keine  der  Aufgaben  läßt  sich  mit  voller  Hingebung  ergreifen 
und  mit  voller  Kraft  verfolgen,  ohne  als  Selbstzweck  aufzutreten  und 
sich  im  Augenblick  des  Handelns  als  die  Hauptsache  zu  fühlen;  so 
wird  es  begreiflich,  daß  im  Ganzen  des  Menschenlebens  nicht  bloß 
ethische,  künstlerische,  dynamische  Antriebe  wirken,  sondern  daß  sich 
eigentümliche  Kulturtypen  ausbilden  und  um  die  Herrschaft  kämpfen. 
Abschwächungen  und  Kompromisse  vermögen  dagegen  nichts,  sie 
drücken  leicht  das  Niveau  des  Lebens  herab.  Aber  wenn  der  Kampf 
nicht  zu  vermeiden,  ja  sein  Nachlassen  nicht  einmal  zu  wünschen 
ist,  so  wird  um  so  wünschenswerter,  daß  etwas  dem  Kampf  überlegen 
bleibe  und  einen  Kampf  gegen  den  bloßen  Kampf  unternehme.  Das 
aber  vermag  nur  die  Belebung  eines  wesenhaften  Seins,  das  durch 
alle  Verschiedenheit  hindurch  sich  selbst  eriebt,  das  die  verschiedenen 
Leistungen  auf  eine  überlegene  Einheit  zurückbezieht,  von  da  aus 
mißt,  von  dort  aus  zusammenzufassen  strebt.  Jene  Bewegungen  ge- 
winnen nun  alle  eine  Richtung  auf  die  Entwicklung  eines  bei  sich 
selbst  befindlichen  wesenhaften  Geisteslebens  und  einer  geistigen 
Wirklichkeit;  es  wird  hier  ein  Lebensraum  geboten,  in  dem  sie  sich 
begegnen  und  auseinandersetzen  können;  etwaigen  Konflikten  stehen 
wir  hier  nicht  wehrlos  gegenüber,  wir  können  zur  Ausgleichung 
wirken,  wir  können  der  Festlegung  bloßer  Teilkulturen  die  Ent- 
wicklung einer  Gesamtkultur  entgegensetzen. 

Die  Teilkulturen   mit   ihrer  Arbeit   treten  damit  vor  ein   Ent- 


250  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

weder— oder:  finden  sie  den  Zusammenhang  mit  der  Tiefe  und 
dem  Ganzen  —  nur  mit  der  Wendung  zur  Tiefe  wird  das  Leben 
ein  Ganzes  — ,  oder  lösen  sie  sich  vom  Lebensgrunde  ab  und  ver- 
fallen immer  mehr  einer  Vereinzelung?  Je  nach  der  Entscheidung 
dorthin  oder  hierher  ergibt  sich  ein  schroffer  Gegensatz.  Dort  eine 
wesenhafte,  hier  eine  wesenlose  Art  der  Kultur;  dort  ein  Insichauf- 
nehmen  der  Erfahrungen  und  Schicksale  des  ganzen  Menschen  und 
zugleich  eine  konkrete  Gestaltung,  hier  eine  freischwebende  Betätig- 
ung und  damit  eine  große  Vagheit;  dort  eine  Erhebung  über  alles 
Kleinmenschliche,  zum  mindesten  ein  tapferer  Widerstand  dagegen, 
hier  eine  Wehrlosigkeit  der  Geisteskultur  gegen  die  bloße  Menschen- 
kultur. So  droht  die  ethische  Lebensbewegung  ohne  die  Gegen- 
wart einer  wesenhaften  Geisteswelt  bloßes  Gesetzes-  und  Formel- 
wesen zu  werden,  zur  Einengung  und  Bedrückung  zu  wirken,  auch 
in  einen  selbstgerechten  Pharisäismus  auszulaufen;  die  künstlerische 
Gestaltung  führt,  auf  sich  allein  gestellt,  das  Leben  unvermeidlich 
ins  Genießende,  Weichliche,  Spielende,  die  dynamische  ins  Selbstische, 
Wilde,  Brutale.  So  hängt  auch  die  Wahrheit  der  Teilkulturen  daran, 
daß  sie  eine  Wesens-  und  Gesamtkultur  hinter  sich  haben,  daß  jene 
Zurückverlegung.  der  Kultur  erfolge,  die  nur  durch  Anknüpfung  an 
ein  selbständiges  Geistesleben  möglich  wird. 

Was  die  Idee  einer  zugleich  wesenhaften  und  universalen  Kultur, 
in  ihrem  Gegensatz  zur  ersten  Kulturlage,  an  Folgen  und  Forder- 
ungen mit  sich  bringt,  das  wird  uns  bei  den  nächsten  Artikeln  be- 
schäftigen. Die  Kultur  wird  sowohl  in  ihre  Mittel  und  Träger  als 
in  ihren  Inhalt  zu  verfolgen  sein:  dort  sind  die  Probleme  von  Ge- 
schichte und  Gesellschaft,  hier  die  von  Kunst  und  Moral  in  ihren 
mannigfachen  Beziehungen  zu  erörtern;  Punkt  für  Punkt  wird  sich 
zeigen,  daß  bei  jener  Idee  nicht  bloß  ein  neues  Wort,  sondern 
eine  neue  Sache  und  Aufgabe  in  Frage  steht  Hier  sei  nur  noch 
das  eine  erwähnt,  daß  die  gegenwärtige  Lage  die  Forderung  einer 
Zurückverlegung  und  festeren  Begründung  der  Kultur  überaus 
dringlich  macht.  Diese  Lage  ist  namentlich  durch  ein  Zusammen- 
treffen zweier  Tatsachen  kritisch  geworden.  Einmal  sind  die  ge- 
schichtlich überkommenen  Grundlagen  und  Inhalte  der  Kultur,  soweit 
sie  das  Ganze  und  Innere  des  Menschen  betreffen,  sehr  ins  Unsichere 
geraten;  sie  sind  das  vornehmlich  deshalb,  weil  wir  jetzt  die  ältere 
Art  als  zu  anthropomorph,  zu  kleinmenschlich  empfinden  und  aus 
solcher  Empfindung  in  Zweifel  kommen,  ob  der  Mensch  überhaupt 


Kultur.  251 

das  sinnlich -natürliche  Dasein  irgend  überschreiten  kann,  ob  alles, 
was  er  an  Mehralsmenschlichem  zu  erfassen  glaubte,  nicht  ein  bloßes 
Trugbild,  ein  Erzeugnis  menschlichen  Wahnes  sei.  Das  greift  sehr 
tief  in  das  Leben  ein,  weit  tiefer  als  diejenigen  meinen,  welche  aus 
der  Welt  alle  Geistigkeit  entfernen  und  zugleich  dem  Menschen  eine 
Idealität  wahren  zu  können  wähnen.  Denn  in  Wahrheit  steht  und 
fällt  das  eine  mit  dem  andern;  es  läßt  sich  unmöglich  im  Punkt 
und  Subjekt  erhalten,  was  für  das  Ganze  und  im  Wesen  aufgegeben 
wird.  So  sind  wir  aller  unserer  Ideale,  ja  unseres  eigenen  Wesens 
unsicher  geworden,  nicht  mehr  schöpfen  wir  aus  einem  gemein- 
samen Grundstock  von  Überzeugungen  zusammenhaltende,  richtende, 
erhöhende  Kräfte;  bei  aller  subjektiven  Regsamkeit  ist  ein  innerer 
Verfall  des  Lebens  unvermeidlich,  wenn  jene  Erschütterung  weiter 
und  weiter  greift. 

Und  in  diese  wankende  und  schwankende  Zeit  fällt  hinein  das 
stürmische  Drängen  der  Massen  nach  vollem  Teilhaben  an  Kultur 
und  Glück,  samt  dem  Anspruch,  über  das,  was  an  der  Kultur  ge- 
halt-  und  wertvoll  sei,  mit  eignem  Urteil  zu  entscheiden,  zu  ent- 
scheiden nach  dem  unmittelbaren  Eindruck  und  nach  der  Fassungs- 
kraft der  Individuen,  die  von  den  weligeschichtlichen  Bewegungen 
und  Erfahrungen  der  Menschheit  kaum  irgend  berührt  worden  sind. 
Nun  macht  jene  innere  Unsicherheit  der  bestehenden  Kulturkomplexe, 
im  besondern  ihre  schwere  Belastung  mit  Veraltetem  und  Über- 
lebtem, sie  unfähig,  solchem  Verlangen  eine  unerschütterliche  Wahr- 
heit entgegenzuhalten  und  es  damit  in  sichere  Bahnen  zu  leiten;  so 
droht  jene  Bewegung  alles  fortzureißen,  wie  sie  schon  jetzt  ver- 
gröbernd und  verflachend,  verengend  und  verneinend  wirkt.  Über 
eine  solche  Krise  kann  schlechterdings  nichts  anderes  hinausführen 
als  ein  neuer  Aufschwung  des  Lebens,  eine  Vertiefung  des  Geistes- 
lebens in  sich  selbst,  die  Entdeckung  innerer  Tatsachen  und  innerer 
Zusammenhänge.  Von  draußen  kann  uns  das  Heil  nicht  kommen; 
was  an  Stützen  und  Hülfen  dort  unwiderbringlich  verloren  ging, 
das  können  wir  nur  durch  eine  Verstärkung  des  Innern  ersetzen, 
nur  dadurch,  daß  wir  bei  uns  selbst  zu  einer  überlegenen  Welt  ge- 
langen, uns  darin  befestigen,  von  daher  unserem  Leben  einen  Inhalt 
geben,  von  daher  eine  neue  Kultur  erbauen.  Gelingt  solche  Ver- 
tiefung und  Befestigung,  so  kann  die  bedrohliche  Krise  zu  einer 
Erneuerung  und  Verjüngung  des  Lebens  führen  und  durch  alle 
menschliche  Irrung  hindurch  dem  Dasein  einen  größeren  Wahrheits- 


252  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

gehalt  verleihen.  Besteht  dagegen  keine  Möglichkeit  einer  solchen 
Vertiefung  und  eines  Hervorbrechens  ursprünglicher  Kräfte,  ist  im 
menschlichen  Dasein  keine  wesenhafte  Geisteswelt  neu  zu  beleben, 
so  entfällt  alle  Hoffnung  eines  glücklichen  Ausgangs,  so  müssen 
der  menschlichen  Selbstsucht  und  Leidenschaft  Vernunft  und  Kultur 
unterliegen. 


2.  Geschichte. 

a)  Zur  Entwicklung  des  Problems. 

I  |as  Verhältnis  des  heutigen  Menschen  zur  Geschichte  ist  voller 
■■-^  Verworrenheit:  wir  hängen  an  der  Geschichte  und  zehren  von 
der  Geschichte,  aber  zugleich  fühlen  wir  unser  Leben  durch  sie 
aufs  stärkste  bedrückt  und  möchten  uns  dieser  Last  entledigen;  in- 
dem wir  aber  das  unternehmen,  drohen  wir  der  Leere  des  bloßen 
Augenblicks  zu  verfallen,  und  flüchten  vor  solcher  Gefahr  doch 
wieder  zur  Geschichte  zurück.  So  schwanken  wir  zwischen  dem 
einen  und  dem  anderen  hin  und  her,  eine  Lage,  die  zielbewußtes 
Handeln  und  glückliches  Schaffen  unmöglich  gedeihen  läßt.  Be- 
trachten wir  etwas  näher,  was  in  eine  solche  Lage  führte. 

Das  19.  Jahrhundert  wird  in  seinem  Verhältnis  zur  Geschichte 
vom  Gegensatz  zur  Aufklärung  mit  ihrem  Rationalismus  beherrscht. 
Aus  verworrenen  Verhältnissen  hatte  die  moderne  Menschheit  einen 
Ausweg  durch  ein  Zurückgehen  auf  eine  allen  innewohnende  Ver- 
nunft gesucht;  nur  ihre  kräftige  Belebung  schien  das  menschliche  Da- 
sein von  Veraltetem  und  Irrigem  gründlich  befreien,  sowie  das 
Leben  von  kindlicher  Befangenheit  und  dumpfer  Gebundenheit  zu 
voller  Mündigkeit  und  Klarheit  erheben  zu  können.  Die  Vergangen- 
heit mit  ihrer  Autorität  versank  gegenüber  der  Forderung,  das  Leben 
und  Wirken  in  eine  zeitlose  Gegenwart  des  Denkens  zu  stellen; 
unbeirrt  durch  die  Überlieferung,  meist  in  bewußtem  Gegensatz  zu 
ihr,  schuf  die  Vernunft  eine  »natürliche"  Religion,  eine  ;, natürliche" 
Moral,  ein  «natürliches"  Wirtschaftsleben,  eine  «naturgemäße«  Er- 
ziehung. Das  hat  die  Gemüter  überwältigend  fortgerissen  und  in 
die  Gestaltung  des  Lebens  tief  gewirkt;  was  es  daraus  an  Frische, 
Freiheit  und  Selbständigkeit  gewann,  das  konnte  trotz  aller  Be- 
fehdung und  Verdunklung  nicht  wieder  verloren  gehen.  Aber  von 
Anfang    an    trug   jenes   Streben    Problematisches   in   sich,    das    im 


254  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Laufe  der  Zeiten  wuchs  und  endlich  einen  Rückschlag  hervorrief. 
Das  jugendliche  Kraftgefühl,  mit  dem  die  Aufklärung  einsetzte,  gab 
ihr  die  freudige  Zuversicht,  einer  absoluten  Wahrheit  nahe  zu  sein; 
den  überkommenen  Verhältnissen  konnte  sie  nicht  so  siegesgewiß 
entgegentreten  ohne  ein  festes  Vertrauen  auf  das  unmittelbare  Walten 
einer  Vernunft  in  der  Wirklichkeit  und  im  Menschenwesen.  So 
schien  denn  in  jedem  Einzelnen  die  Vernunft  angelegt  und  durch 
eine  kräftige  Selbstbesinnung  leicht  erreichbar;  eine  Klärung,  eine 
Erhebung  zu  voller  Bewußtheit  dünkte  genügend,  um  das  Gute  und 
Wahre  zur  Herrschaft  zu  bringen.  Damit  ward  die  Lebensarbeit 
vornehmlich  auf  Denken  und  Erkennen  gestellt,  die  Kultur  erhielt 
einen  einseitig  intellektuellen  Charakter;  beim  Nachlassen  des  ersten 
Aufschwungs  zog  ein  verstandesmäßiges  Räsonnement  das  Leben 
mehr  und  mehr  an  sich,  stellte  zwischen  den  Menschen  und  die 
Dinge  sein  Erwägen  und  seine  Zwecke  und  gefährdete  damit  immer 
stärker  einen  inneren  Zusammenhang  mit  der  Welt  und  eine  Un- 
mittelbarkeit des  Lebens.  Die  Wirklichkeit,  die  daraus  hervorging, 
ward  schließlich  als  zu  eng  und  seelenlos  empfunden,  der  Lebens- 
drang schlug  um  und  verlangte  mehr  Inhalt  sowie  mehr  Betätigung 
des  ganzen  Menschen;  ein  Hauptstück  dieses  neuen  Lebens  aber 
bildet  die  Wendung  zur  Geschichte. 

Denn  was  zu  ihr  trieb,  war  vor  allem  ein  Durst  nach  mehr 
Wirklichkeit,  nach  einem  breiteren  Grunde  des  Daseins,  nach  mehr 
Anschauung  und  mehr  Lebensfülle,  auch  nach  mehr  Verbindung  der 
Mannigfaltigkeit  zu  großen  Zusammenhängen.  Wie  viel  gesättigter 
das  Leben  dadurch  ward,  das  zeigen  alle  einzelnen  Gebiete,  Recht 
und  Religion,  Kunst  und  Wissenschaft;  unendlich  viel  mehr  Wirk- 
lichkeit, die  sonst  ungenutzt  verblieb,  ist  hier  dem  eignen  Tun  ver- 
bunden. Das  Ganze  der  Arbeit  erzeugt  eine  historische  Denkweise 
und  verändert  damit  den  Charakter  des  Lebens.  Es  reißt  sich  hier 
nicht  der  Mensch,  wie  in  der  Aufklärungszeit,  von  seiner  Umgebung 
los  und  stellt  sich  ihr  schroff  gegenüber,  um  sie  wie  etwas  Fremdes 
zu  beherrschen,  sondern  er  ersehnt  eine  innere  Einheit  mit  ihr, 
damit  ihr  Leben  in  ihn  überströme  und  ihn  von  aller  Kleinheit  be- 
freie. Damit  gewinnt  sein  Dasein  wie  mehr  Weite,  so  auch  mehr 
Ruhe,  aus  den  Dingen  wächst  dem  Menschen  eine  Vernunft  entgegen, 
deren  Führung  er  getrost  sich  anvertrauen  darf.  Das  rückt  ihm 
auch  die  früheren  Zeiten  nahe  und  läßt  in  ihnen  die  mannigfachste 
Verwandtschaft  finden;   die  eigne  Zeit  erscheint  als  die  Spitze  eines 


Geschichte.  255 

Gesamtbaus,  der  alle  Zeiten  umfaßt;  von  solcher  Spitze  aus  erscheint 
alles  Frühere  als  ein  allmähliches  Ansteigen  zur  Höhe,  auch  in  dem 
Niederen  wird  nicht  sowohl  der  Abstand  und  Gegensatz,  als  die 
Annäherung  und  Vorbereitung  gesehen;  es  kann  mehr  Verständnis 
und  mehr  Liebe  finden,  wenn  die  Schroffheit  einer  absoluten 
Schätzung,  wie  sie  dem  Reformationszeitalter  und  auch  der  Aufklär- 
ung eigen  war,  einer  universaleren  und  versöhnlicheren  Denkweise 
weicht.  Keine  Zeit  hat  solchen  Umschwung  der  Behandlung  stärker 
erfahren  als  das  Mittelalter. 

Diese  mehr  relative  Behandlung  besagte  aber  zu  Anfang  keines- 
wegs ein  Sinken  zum  Relativismus  und  eine  Preisgebung  einer  ab- 
soluten Wahrheit.  Denn  ein  stolzes  Selbstbewußtsein  ließ  die  geistige 
Kraft  sich  allem  Zustrom  des  Stoffes  gewachsen  und  seiner  Assimi- 
lierung fähig  fühlen.  Die  Vernunft  zog,  wenigstens  in  der  Denk- 
weise der  Philosophen,  unter  eigner  innerer  Erweiterung  weit  mehr 
die  Geschichte  an  sich,  als  daß  sie  sich  ihr  unterworfen  hätte. 
Diese  Denkweise  hat  den  großartigsten  und  durchgebildetsten  Aus- 
druck in  der  Geschichtsphilosophie  Hegels  gefunden;  alle  Spannung 
zwischen  Vernunft  und  Geschichte  scheint  glücklich  überwunden, 
indem  die  Geschichte  ganz  und  gar  zur  Entwicklung  der  Vernunft 
wird,  diese  aber  in  solcher  Entwicklung  ihr  Wesen  findet. 

Welche  Bedenken  diese  Konstruktion  der  Geschichte  erregen 
mag,  die  Überlegenheit  der  Vernunft  und  damit  die  geistige  Aktivität 
wurde  dabei  kräftig  gewahrt.  Minder  besorgt  war  dafür  eine  Be- 
handlung der  Geschichte  aus  der  Denkweise  der  Romantik.  Denn 
hier  schien  ein  unbewußtes  Walten  und  Weben  die  Bewegung  her- 
vorzubringen, aus  der  Vergangenheit  schien  dem  Menschen  ein 
Strom  der  Vernunft  mühelos  zuzufließen  und  ihn  sicher  mit  fortzu- 
tragen; mit  der  Hingebung  an  diesen  Strom  schien  sein  Leben  und 
Streben  in  sichere  Bahnen  geleitet.  Das  schwächte  die  Aktivität 
und  verkümmerte  das  Recht  der  lebendigen  Gegenwart;  indem  man 
sich  in  vergangene  Zeiten  einlebte  und  diese  dabei  idealisierte,  ver- 
schloß man  sich  leicht  den  Aufgaben  der  eignen  Zeit.  Schon  hier 
erscheint  die  Gefahr,  daß  der  Erweiterung  des  Gesichtskreises  durch 
die  Geschichte  nicht  die  Kraft  des  Zusammenhaltens  und  Aneignens 
entspricht,  und  daher  der  Mensch  bei  äußerem  Gewinn  im  Kern 
seines  Lebens  Schaden  erleidet. 

Dann  kam  die  dem  19.  Jahrhundert  eigentümliche  Wendung 
von    den    Problemen    des    inneren    Menschen    und    des    geistigen 


256  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Schaffens  zur  Arbeit  mit  ihrer  Richtung  auf  das  Gegenständliche  der 
Dinge;  bei  der  Geschichte  besagte  das  ein  siegreiches  Vordringen 
der  exakten  Forschung  gegenüber  der  Konstruktion  in  nur  um- 
rissenen  Gesamtbildern.  Diese  Wendung  hat  eine  besondere  Be- 
wußtheit in  Deutschland  gewonnen,  da  sie  hier  gegen  das  Über- 
wiegen einer  spekulativen  Behandlung  ihr  Recht  erst  erstreiten  mußte 
Namentlich  erhob  sich  gegen  die  Hegeische  Konstruktion  der  Ge- 
schichte ein  Verlangen  nach  mehr  Weite,  Tatsächlichkeit  und  Indi- 
vidualität. Jene  erschien  als  zu  eng  schon  dem  äußeren  Gesichts- 
kreise nach,  indem  ihre  Begriffe  im  Grunde  nur  die  europäische 
Kulturwelt  umspannten  und  sich  namentlich  um  den  Gegensatz  von 
Altertum  und  Neuzeit  bewegten;  sie  litt  aber  auch  an  einer  inneren 
Enge,  indem  sie  die  Individualität  und  Positivität  der  einzelnen  Er- 
scheinungen aufs  stärkste  abschwächen  mußte,  um  sie  ihrem  dialek- 
tischen Gefüge  einordnen  zu  können.  Das  neue  Verlangen  nach 
reiner  und  unbegrenzter  Tatsächlichkeit  sah  darin  eine  Vergewaltigung 
und  eine  Verfälschung  der  Dinge;  mit  um  so  glühenderem  Eifer 
wurde  die  historische  Forschung  als  eine  Befreiung  davon  ergriffen. 
Diese  Forschung  hat  jenes  Verlangen  nach  Weite  und  Tatsäch- 
lichkeit in  vorzüglicher  Weise  in  Arbeit  und  Leistung  umzusetzen 
verstanden,  sie  hat  für  diese  Arbeit  neue  Methoden  ausgebildet,  sie 
hat  durch  Inhalt  und  Form  eine  eigentümliche  Denkweise  erzeugt 
und  wirkt  damit  stark  auf  das  Leben  der  Neuzeit.  Diese  Forsch- 
ung will  keineswegs  Philosophie  sein,  geht  doch  ihr  Hauptanliegen 
dahin,  die  Geschichte  von  aller  Bevormundung  durch  die  Philo- 
sophie zu  befreien  und  allein  auf  die  eigne  Kraft  zu  stellen;  aber 
die  Arbeit  hätte  unmöglich  so  siegreich  vordringen  und  die  Hin- 
gebung des  ganzen  Menschen  gewinnen  können,  ohne  bestimmte 
Überzeugungen  in  sich  zu  tragen  und  anzuregen.  Die  Forschung 
kann  nicht  das  Verlangen  nach  einem  reinen  Tatbestande  entwickeln 
und  verfechten,  ohne  zu  gewahren,  wie  viel  zwischen  dem  Menschen 
und  jenem  Tatbestande  liegt,  ohne  vielfacher  Subjektivität  sowohl 
der  Überlieferung  als  der  eignen  Auffassung  innezuwerden;  so  wird 
ein  energischer  Kampf  zur  Austreibung  dieser  Subjektivität  unter- 
nommen, sein  Gelingen  läßt  das  Leben  mehr  Ruhe  und  Klar- 
heit gewinnen.  Indem  jenes  Streben  nach  Tatsächlichkeit  eine 
grenzenlose  Fülle  individueller  Bildungen  aufdeckt,  und  indem  sich 
ihm  der  Lauf  der  Zeiten  nicht  mehr  an  Einen  Faden  reihen  läßt, 
vielmehr  ein   unermeßliches  Gewebe  durcheinanderlaufender,   kaum 


Geschichte.  257 

entwirrbarer  Fäden  ersichtlich  wird,  kann  das  Unvermögen  des 
Menschen,  das  alles  von  innen  her  zu  durchschauen  und  in  einfache 
Begriffe  umzusetzen,  nicht  mehr  zweifelhaft  sein;  so  wird  ihm  eine 
bescheidene  Zurückhaltung  geboten,  nicht  mehr  darf  er  von  sich 
aus  die  Tatsachen  zurechtlegen  und  abrunden  wollen.  Aber  indem 
er  statt  zu  herrschen  zu  dienen  hat,  erfährt  sein  Leben  eine  uner- 
meßliche Bereicherung,  eine  gründliche  Befreiung  von  alter  Enge. 
Das  alles  schien  zunächst  ein  reiner  Gewinn  und  ohne  Ver- 
wicklung. Aber  Verwicklungen  erschienen  gar  bald,  und  aus  dem 
Gewinn  des  Wissens  drohte  ein  Verlust  des  Lebens  zu  werden. 
Die  Objektivität,  die  gefordert  wird,  ist  keineswegs  einfach.  Be- 
sagt der  reine  Tatbestand  der  Dinge  nur  das,  was  sie  ohne  alle 
Beziehung  zum  Subjekt,  ohne  alles  Wirken  des  Denkens  sind,  so 
wäre  auf  alles  Innere  bei  ihnen  zu  verzichten,  denn  dieses  ist  einmal 
nicht  zu  fassen  ohne  ein  Aufgebot  eignen  Denkens,  ohne  ein  Nach- 
erleben und  Miterleben.  Auch  eine  Scheidung  von  Großem  und 
Kleinem,  von  Wesentlichem  und  Nebensächlichem  in  der  Geschichte 
ist  nicht  wohl  möglich  ohne  Maßstäbe,  die  aus  dem  Ganzen  einer 
Überzeugung  hervorgehen  müssen.^  Eine  Geschichte  aber  ohne 
Innerlichkeit  und  ohne  Abstufung  müßte  ein  chaotisches  Neben-  und 
Durcheinander  werden,  das  kaum  mehr  Wissenschaft  heißen  könnte. 
Wie  wenig  die  Geschichte,  bei  aller  Abweisung  der  Philosophie,  ge- 
wisser Grundüberzeugungen  entbehren  kann,  das  bekundet  mit  voller 
Deutlichkeit  der  neuerdings  immer  stärker  wogende  Streit  über  den 
Hauptinhalt  und  die  bewegenden  Kräfte  der  Geschichte.  Aber  woher 
diese  Überzeugungen  nehmen,  nachdem  alle  Philosophie  verneint 
ist?  Die  Zeit  hat  sich  in  zwiefacher  Weise  geholfen  oder  vielmehr 
beholfen.  Einmal  erhält  sich  unverkennbar,  wenn  auch  versteckt 
und  abgeschwächt,  ein  Einfluß  derselben  spekulativen  Denkart,  die 
als  Ganzes  aufs  schroffste  abgelehnt  wurde.  Hegel  wird  perhorresziert, 
aber  irgendwelches  Innewohnen  der  Vernunft  in  der  Geschichte, 
irgendwelche  innere  Notwendigkeit  des  Fortschritts,  irgendwelche 
führende  Stellung  der  Intelligenz  bei  diesem  Prozesse  hält  man 
unbedenklich  fest.  Es  ist  das  ein  Stück  einer  allgemeineren  Er- 
scheinung im  Leben  der  Gegenwart.    Die  pantheistische  Denkweise, 


*  S.  darüber  die  vortrefflichen,  besonnen  abwägenden  und  selbständig 
urteilenden  Werke  von  Arvid  Grotenfelt  „Die  Wertschätzung  in  der  Ge- 
schichte" 1Q03,  und  „Geschichtliche  Wertmaßstäbe  in  der  Geschichtsphilo- 
sophie bei  Historikern  und  im  Volksbewußtsein",  1905. 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  17 


258  2[u  den  Problemen  des  MenschenleDens. 

die  aus  der  Bewegung  der  Neuzeit  hervorging,  und  die  früher  eine 
feste  Überzeugung,  auch  eine  freudige  Lebenstimmung  hinter  sich 
hatte,  erhält  sich  in  mannigfachen  Wirkungen,  auch  nachdem  ihre 
Grundlage  unsicher  wurde.  Begriffe  wie  Geist,  Vernunft,  Fort- 
schritt, Humanität  u.  s.w.  verbleiben  und  liefern  dem  Denken  ge- 
wisse Richtungen  wie  Wertschätzungen.  Nur  ist  nach  Erschütterung 
jener  Grundlage  alles  blaß  und  schattenhaft  geworden,  aus  leben- 
digen Kräften  wurden  Schattenbilder,  aus  fruchtbaren  Ideen  leere 
Redensarten.  Das  Ganze  muß  um  so  unwahrer  werden,  je  mehr 
solche  Überzeugungen  unsere  Seele  gewinnen,  welche  jener  Grund- 
überzeugung schnurstracks  widersprechen.  Der  kräftigste  Vertreter 
solches  Widerspruchs  ist  der  Pessimismus,  der  im  Verlauf  des 
19.  Jahrhunderts  immer  weiter  um  sich  gegriffen  hat.  Indem  er 
das  Dunkle  und  Unvernünftige  unserer  Welt  und  mit  ihr  der  Ge- 
schichte voll  zur  Empfindung  bringt,  zerstört  er  unbarmherzig  den 
verklärenden  Glanz,  den  der  Pantheismus  dem  Dasein' verlieh;  viel 
zu  energisch  hat  er  uns  allen  neue  Gruppen  von  Tatsachen  vor  die 
Augen  gerückt,  neue  Durchblicke  des  Ganzen  eröffnet,  als  daß  der 
alte  Glaube  an  die  Vernunft  unserer  Wirklichkeit  schlechthin  ver- 
bleiben könnte.  Ein  merkwürdiger  Widerspruch  liegt  hier  vor:  die 
Stimmung  der  Menschheit  verdüstert  sich,  Menschen  wie  Schick- 
sale machen  einen  trüberen  Gesamteindruck,  die  Widersprüche  des 
Daseins  fallen  uns  grell  ins  Auge.  Aber  zugleich  hält  die  Arbeit 
der  Zeit  jene  pantheistische  Denkweise  mit  ihrer  Idealisierung  der 
Dinge  fest,  sie  klammert  sich  daran  wie  an  den  einzig  möglichen 
Halt,  um  nicht  völliger  Nichtigkeit  zu  verfallen.  Der  Pessimismus 
dort  und  der  Optimismus  hier  gewähren  ein  Beispiel  für  jene  Ent- 
zweiung von  Seele  und  Arbeit,  für  jene  Zerklüftung  des  ganzen 
Menschen,  woran  das  moderne  Leben  leidet 

Aber  es  gibt  noch  eine  andere  Weise,  in  der  die  Gegenwart 
sich  des  Problemes  erwehrt:  sie  setzt  den  Zeiten  gar  keine  be- 
stimmte Denkweise  entgegen,  sondern  sucht  ein  Urteil  über  sie  und 
ein  Maß  für  sie  lediglich  aus  ihnen  selbst  zu  gewinnen,  an  ihnen 
selbst  zu  entwickeln  und  zu  erweisen;  so  ganz  möchte  sie  sich  in 
jene  versenken  und  einfühlen,  daß  sie  lediglich  aus  ihrer  eignen 
Denkweise  verstanden  und  gewürdigt  werden.  In  dieser  Richtung  ist 
viel  Bedeutendes  geleistet;  nie  war  eine  Zeit  so  bereit  und  auch  so 
geschickt,  fremden  Zeiten  ihr  volles  Recht  zu  geben,  ihnen  ihr 
innerstes  Wollen   abzulauschen,    ihnen  einen   Zusammenhang  nicht 


Geschichte.  259 

von  draußen  her  aufzudrängen,  sondern  ihn  aus  ihrem  eignen 
Wirken  und  Wollen  hervorzulocken,  dabei  mit  gleicher  Liebe  sich 
in  das  Verschiedenste  und  Widersprechendste  hineinzuversetzen.  Ob 
wir  in  Wahrheit  bei  solchem  Streben  aller  eignen  Art  uns  ent- 
äußern, ob  nicht  trotz  aller  Abwehr  in  die  vermeintliche  Objek- 
tivität unsere  Subjektivität  miteinfließt,  darüber  werden  spätere 
Zeiten  besser  urteilen  als  wir  selbst.  Eine  Gefahr  aber  und  eine 
Schädigung  erfahren  wir  selber  deutlich  genug:  es  ist  die  Abschwäch- 
ung  unseres  eignen  Wollens  und  Wesens  durch  jene  Beflissenheit, 
fremder  Art  uns  anzuschmiegen  und  anzupassen.  Indem  bei  der 
unermeßlichen  Erweiterung  des  Horizontes  Mannigfachstes  und  Ver- 
schiedenartigstes auf  uns  eindringt,  uns  bewältigt  und  seine  Farbe 
verleiht,  wird  unsere  Seele  zu  einer  Bühne,  auf  der  alle  möglichen 
Personen  auftreten  und  ihre  Rolle. hersagen;  wir  vergessen,  daß  die 
Ausdehnung  unseres  Vorstellungskreises  keineswegs  schon  ein  Weit- 
werden unseres  Lebens  bedeutet,  und  neigen  dahin,  gelehrtes  Wissen 
für  geistiges  Leben  einzusetzen;  wir  geraten  in  Gefahr,  über  jenem 
Mitleben,  das  schließlich  immer  ein  Halbleben  bleibt,  ein  eignes  und 
volles  Leben,  ein  klares  Denken  und  festes  Wollen  mehr  und  mehr 
einzubüßen;  die  geistige  Synthese,  die  wir  an  allen  früheren  Zeiten 
aufzusuchen  bemüht  sind,  vermögen  wir  an  der  eignen  nicht  zu 
vollziehen. 

Am  meisten  ersichtlich  wird  unsere  Schwäche  bei  dem  Ver- 
suche, einen  Übergang  von  der  Vergangenheit  zur  Gegenwart,  von 
fremdem  Streben  zu  unserem  eignen  zu  finden.  In  der  Vergangen- 
heit fühlen  wir  uns  sicher  zu  Hause,  wir  durchschauen,  wie  alles 
gekommen  ist,  wir  verstehen,  wie  das  eine  aus  dem  anderen  ent- 
sprang, entspringen  mußte,  wir  verfolgen  solche  Betrachtung  bis  an 
die  Schwelle  der  Gegenwart;  nur  ein  einziger  kleiner  Schritt,  und 
die  Verbindung  ist  hergestellt,  der  Ertrag  der  langen  Arbeit  kann 
sich  uns  mitteilen  und  in  eignes  Leben  verwandeln.  Aber  merk- 
würdig genug  —  dieser  kleine  Schritt  will  nicht  gelingen,  die  Kluft 
verbleibt,  Wissen  und  Leben  kommen  nicht  zusammen.  Ja  der  Fort- 
schritt des  historischen  Wissens  hemmt  die  Verbindung  der  Geschichte 
mit  dem  Leben.  Denn  je  deutlicher  die  Wissenschaft  die  Eigen- 
tümlichkeit fremder  Zeiten  herausstellt,  desto  mehr  zeigt  sie  die  Ge- 
bundenheit ihres  Gehalts  an  besondere  Lagen,  desto  schärfer  zieht 
sie  ihre  Grenzen  gegen  andere  Zeiten  und  Denkweisen,  desto 
zwingender  verbietet  sie  ein  einfaches  Überströmen  fremden  Lebens 

17» 


260  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

in  das  eigne.  Diese  Spannung  zwischen  Wissen  und  Leben  kommt 
auch  darin  zum  Ausdruck,  daß  die  Forschung  besondere  Liebe  weit- 
entlegenen Zeiten  spendet  und  dort  die  glänzendsten  Triumphe 
feiert  Denn  dort  kommt  minder  zur  Sprache,  wie  die  Sache  zum 
eignen  Leben  steht;  je  mehr  wir  uns  aber  der  Gegenwart  nähern, 
desto  unabweisbarer  wird  diese  Frage  und  desto  peinlicher  unsere 
Unsicherheit.  Nirgends  ist  solche  Kluft  zwischen  Wissen  und  Leben, 
zwischen  Vorbedingungen  geistigen  Lebens  und  geistigem  Leben 
selbst  schroffer  als  auf  dem  Gebiete  der  Religion.  Wie  weit  ist  heute 
die  Religionsforschung  fortgeschritten,  wie  viel  präziser  stehen 
namentlich  die  großen  Religionen  und  innerhalb  ihrer  die  einzelnen 
Phasen  vor  unseren  Augen,  wie  umflutet  uns  hier  eine  Fülle 
anschaulicher  Tatsächlichkeit!  Aber  wie  wehrlos  sind  wir  gegen- 
über dieser  Tatsächlichkeit,  wie  wenig  gewinnen  wir  aus  ihr  für 
unsere  eignen  religiösen  Überzeugungen,  unser  eignes  religiöses 
Leben,  wie  groß  ist  hier  unsere  Hilflosigkeit!  Und  sie  wird  es 
bleiben,  solange  wir  nicht  die  Kraft  zu  eigner  Gestaltung  des 
Lebens  finden;  daß  wir  sie  aber  finden,  daran  hindert  uns  vor  allem 
die  Geschichte,  indem  sie  uns  am  bloßen  Schein  eines  Besitzes 
haften  läßt,  indem  sie  uns  durch  unablässige  Befassung  mit  fremden 
Dingen  eignen  Denkens  und  eigner  Verantwortung  entwöhnt,  indem 
sie  gelehrtes  Wissen  für  Leben  einsetzt. 

Kein  Wunder  ist  es  daher,  daß  von  Zeit  zu  Zeit  eine  leiden- 
schaftliche Bewegung  gegen  die  Geschichte  aufwallt,  daß  auch  heute 
wieder  ein  Zorn  gegen  den  entnervenden  Historismus  mit  seiner 
Verstrickung  in  ein  Halbleben  um  sich  greift.  „Werft  die  Bürde  der 
Vergangenheit  von  euch  und  stellt  das  Leben  ganz  und  gar  in  die 
Gegenwart;  dann  wird  es  wieder  frisch  und  wahrhaftig,  dann  erst 
wird  es  euer  eignes  Leben  werden."  Ja,  wenn  solches  Abschütteln 
so  einfach  wäre  und  nicht  mit  der  erstrebten  Befreiung  vieles  ver- 
loren ginge,  auf  das  sich  nicht  wohl  verzichten  läßt!  In  Wahrheit 
hält  die  Geschichte  uns  weit  fester  als  jene  Gegner  meinen,  sie  hält 
uns  fest  auch  gegen  unseren  Willen.  Denn  die  Opposition  ist  selbst 
ein  Erzeugnis  einer  geschichtlichen  Lage  und  erhält  daraus  eine 
eigentümliche  Färbung,  ihr  Nein  trifft  besondere  Schäden,  und  auch 
ihr  Ja  trägt  das  Gewand  der  besonderen  Zeit.  Solche  geschichtliche 
Bedingtheit  auch  geschichtsfeindlicher  Bewegungen  wird  deutlich 
empfunden,  sobald  der  Verlauf  der  Dinge  über  sie  hinausgeführt 
hat     Wie   rasch   ist   z.  B.   die   Aufklärung,   die   alle  geschichtliche 


Geschichte.  261 

Bindung  abstreifen  und  das  Leben  gänzlich  aus  zeitloser  Vernunft 
gestalten  wollte,  selbst  zu  einer  geschichtlichen  Größe,  einer  histo- 
rischen Kategorie  geworden,  wie  viel  in  ihr  berührt  uns  jetzt  wie 
eine  ferne  Vergangenheit,  ein  vergilbtes  Dokument!  Wer  das  Ganze 
der  Geschichte  überschaut,  dürfte  eine  Art  Wellenbewegung  zwischen 
Anschluß  und  Verwerfung  gewahren  und  zugleich  sich  überzeugen, 
daß  die  Verneinung  genau  so  gut  zur  Geschichte  gehört  wie  die 
Bejahung,  daß  der  leidenschaftliche  Ansturm  gegen  die  Geschichte 
mit  seiner  Neigung,  das  Gegenteil  des  Vorgefundenen  zu  behaupten, 
weniger  eine  echte  Unabhängigkeit  gewährt,  als  nur  die  Art  der 
Abhängigkeit  verändert.  -  Immerhin  macht  es  einen  erheblichen 
Unterschied,  ob  das  bewußte  Streben  des  Menschen  mit  der  Ge- 
schichte, oder  ob  es  gegen  sie  geht.  Beim  Widerspruch  wird  das 
Leben  gehießen,  lediglich  aus  der  unmittelbaren  Gegenwart  zu 
schöpfen  und  als  wahr  nur  anzuerkennen,  was  sich  dem  Denken  und 
Empfinden  jedes  Einzelnen  überzeugend  dartut.  Aber  wird  bei 
solcher  Absteckung  das  Leben  nicht  eng  und  arm?  Wird  es  nicht 
zur  Oberfläche  gedrängt  und  in  lauter  einzelne  Erscheinungen  zer- 
legt, wenn  das  dem  bloßen  Individuum  Gegenwärtige  als  Maß  alier 
Dinge  gilt?  Leidet  dabei  die  innere  Selbständigkeit,  der  geistige 
Charakter  des  Lebens  nicht  schwersten  Schaden?  Die  Aufklärung 
liefert  ein  anschauliches  Beispiel  davon.  Denn  zu  einer  festgegrün- 
deten, der  Natur  gewachsenen  Geisteswelt  ist  sie  nicht  gelangt;  auch 
diejenigen  unter  ihren  Denkern,  die  mit  größtem  Eifer  die  Über- 
legenheit des  Geisteslebens  gegen  die  Natur  verfochten,  sind  im 
Ausbau  ihrer  Gedankenwelt  immer  wieder  dem  Einfluß  von  Natur- 
begriffen erlegen,  gewiß  mit  aus  dem  Grunde,  weil  sie  die  Ge- 
schichte mit  ihrem  reichen  Gehalt,  ihren  festen  Zusammenhängen, 
ihren  vertiefenden  Erfahrungen  glaubten  geringachten  zu  dürfen. 
Gegen  die  unbegrenzte  Welt,  die  uns  von  draußen  her  über- 
mächtig umfängt,  scheint  das  innere  Leben  nicht  aufkommen  zu 
können,  wenn  es  nicht  selbst  einen  Zusammenschluß  übersubjektiver 
Art  gewinnt;  dazu  aber  bedarf  es  notwendig  der  Geschichte.  Muß 
ferner  nicht  der  Versuch,  das  Leben  ganz  und  gar  in  die  Gegen- 
wart zu  stellen,  sich  selbst  zerstören,  da  die  Gegenwart  unablässig 
eine  andere  wird,  das  Heute  alsbald  in  ein  Gestern  umschlägt,  und 
so  schließlich  das  Ganze  in  ein  Nichts  zu  verflattern  und  verwehen 
droht?  Vor  dem  Äußersten  behütet  uns  freilich  der  Umstand,  daß, 
wie  sich  zeigte,  die  Geschichte  den  Menschen  auch   gegen  seinen 


262  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Willen  festhält;  aber  steht  es  dann  nicht  so,  daß,  soweit  wir  uns 
der  Geschichte  entledigen,  wir  das  Leben  verflüchtigen,  soweit  es 
uns  aber  einen  Gehalt  bewahrt,  wir  dieselbe  Geschichte  widerwillig 
bejahen,  deren  Abschüttelung  zur  Kraft  und  Wahrhaftigkeit  des 
Lebens  unerläßlich  schien? 

So  befinden  wir  uns  in  einer  höchst  verworrenen  Lage,  ja  einem 
unerträglichen  Dilemma:  wir  können  die  Geschichte  weder  festhalten 
noch  entbehren;  wir  geraten  ins  Leere,  wo  wir  sie  abschütteln,  wir  ver- 
fallen einem  Schattenleben,  wo  wir  uns  ihr  unterwerfen.  Die  Durch- 
schnittsart mag  sich  demgegenüber  mit  Kompromissen  behelfen  und 
an  einem  Mittelding  von  Freiheit  und  Knechtschaft  Gefallen  finden,  eine 
energischere  Denkweise  wird  die  Unmöglichkeit  eines  Kompromisses 
durchschauen  und  eine  Überwindung  des  Gegensatzes  verlangen.  Ist 
aber  eine  Befreiung  von  der  Geschichte  möglich,  die  zugleich  eine 
Versöhnung  mit  der  Geschichte  bedeutet,  kann  das  Leben  eine  Über- 
geschichtlichkeit erreichen  und  zugleich  der  Geschichte  einen  Wert  be- 
lassen, ist  ein  Lebenstypus  denkbar,  der  nicht  haltlos  zwischen  dem 
Rationalismus  des  18.  und  dem  Historismus  des  19.  Jahrhunderts  hin- 
undherschwankt,  sondern  in  Ausbildung  einer  selbständigen  Art  das 
Recht  eines  jeden  anzuerkennen  und  zugleich  zu  begrenzen  vermag? 
Ohne  eingreifende  Umwandlungen  des  ersten  Anblicks  und  energische 
Fortbildungen  des  Lebens  ist  das  sicherlich  nicht  zu  erreichen;  sehen 
wir,  ob  der  Zusammenhang  unserer  Untersuchung  Anhaltspunkte 
dafür  gewährt.  1 

b)  Forderungen  und  Ausblicke. 

Die  nächste  Frage  ist  die,  ob  das  menschliche  Leben  sich  der 
Geschichte  irgend  zu  entwinden  und  ihr  selbständig  gegenüber- 
zutreten vermag;  die  Beantwortung  dieser  Frage  aber  hängt  daran. 


^  Alle  Erörterung  hier  soll  sich  auf  diesen  einen  Hauptpunkt  beschränken, 
für  das  Weitere  sei  auf  meine  Darstellung  der  Philosophie  der  Geschichte  in 
der  „Kultur  der  G^enwart"  (Band:  „Systematische  Philosophie")  verwiesen. 
Das  Auftauchen  mannigfacher  Streitfragen  und  die  Leidenschaft,  welche  ihre 
Behandlung  hervorruft,  bekundet  jedenfalls  deutlich,  daß  uns  der  Inhalt  der 
Geschichte  wie  unser  Verhältnis  zu  ihr  wieder  unsicher  geworden  ist;  wie 
hätte  sonst  in  neuester  Zeit  die  Geschichtsphilosophie  wieder  so  mächtig 
emporsteigen  können,  die  vor  kurzem  noch  den  meisten  als  erledigt  und 
abgetan  galt? 


Geschichte.  263 

wie  über  das  Ganze  des  menschlichen  Lebens  gedacht  wird,  sie  ent- 
hält notwendig  ein  Bekenntnis  vom  Kern  dieses  Ganzen.  Gehört 
der  Mensch  ganz  und  gar  zur  Natur  —  daß  er  es  zum  guten  Teil 
tut,  steht  außer  Frage  — ,  so  bleibt  er  unrettbar  dem  Strom  der  Zeit 
verfallen  und  kann  daraus  nie  zu  einem  eignen  Leben  gelangen. 
Überschritte  er  ferner  die  Natur  nur  durch  einzelne  Eigenschaften, 
die  nicht  im  Ganzen  eines  Lebens  und  Seins  gegründet  wären,  so 
käme  er  vielleicht  zu  irgendwelchem  Weiterstreben,  aber  nie  zu  einer 
wahrhaftigen  Befreiung  von  der  Zeit.  Die  einzige  Möglichkeit  dessen 
gewährt  das  Bestehen  und  die  Anerkennung  einer  selbständigen 
Geisteswelt,  wie  sie  den  Hauptvorwurf  unserer  ganzen  Untersuchung 
bildet.  Denn  wie  schon  beim  Problem  der  Entwicklung  ersichtlich 
wurde,  ist  die  Erhebung  über  die  Zeit  und  ein  Wirken  aus  zeit- 
loser Ordnung  dem  Geistesleben  wesentlich  und  unentbehrlich. 
Durchgängig  wird  hier  dem  Streben  die  Richtung  auf  ein  zeitlos 
Gültiges  gegeben,  nie  kann  hier  die  Wirkung  und  Anerkennung  auf 
dem  Boden  der  Geschichte  eine  Wahrheit  und  ein  Recht  begründen, 
sondern  die  Wahrheit  will  hier  unmittelbar,  von  einem  ursprüng- 
lichen Leben  her  dargetan  sein.  So  kann  in  diesem  Gebiete  nie 
die  Vergangenheit  die  Gegenwart  ersetzen,  und  nie  das  Heute  dem 
Gestern  wie  eine  Frucht  der  Blüte  entwachsen.  Denn  was  frühere 
Zeiten  an  geistigem  Leben  erzeugten,  das  besteht  keineswegs  dadurch 
fort,  daß  es  einmal  da  war;  es  gilt  hier  nicht  das  Beharrungsgesetz 
der  Natur,  wonach  jedes  Ding  den  vorhandenen  Zustand  einhält,  bis 
es  von  außen  her  darin  verändert  wird.  Vielmehr  gilt  hier  die  andere 
Ordnung,  daß  sofort  sinkt  und  immer  weiter  sinkt,  was  nicht  immer 
von  neuem  in  eignes  Leben  und  Tun  verwandelt  wird.  Das  besagt 
zugleich,  daß  alles  Geistesleben  aus  unmittelbarer  Gegenwart  hervor- 
gehen muß,  daß  jede  Verdunklung  dessen  eine  Abschwächung  seines 
unterscheidenden  Charakters  bewirkt.  Auch  innerhalb  der  mensch- 
lichen Erfahrung  ist  deutlich  genug,  daß  weniger  die  Vergangenheit 
über  die  Gegenwart  als  diese  über  jene  entscheidet,  daß  sich  dem- 
nach mit  der  geistigen  Art  der  Gegenwart  das  Bild  der  Vergangen- 
heit unablässig  verschiebt.  Wie  verschiedenes  wurde  am  klassischen 
Altertum  gesehen  und  geschätzt,  je  nachdem,  was  das  eigne  Leben 
an  Aufgaben  und  Bedürfnissen  enthielt.  Die  Scholastik  suchte  in 
ihm  eine  weltliche  Kultur  zur  Ergänzung  einer  religiösen  Lebens- 
ordnung, die  Renaissance  eine  Unterstützung  ihres  Verlangens  nach 
Leben  und  Schönheit,  die  Aufklärung  schätzte  an  ihm,  soweit  sie  es 


264  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

schätzte,  die  Klarheit  und  Nützlichkeit/  der  deutsche  Humanismus 
flüchtete  sich  zu  ihm  aus  der  Verwicklung  modernen  Lebens  als 
zu  einer  lauteren,  einfachen,  großen  Natur.  So  erschloß  das  Alter- 
tum jedem  verschiedene  Seiten,  aber  es  gab  und  gibt  auch  viele, 
denen  es  inmitten  aller  Emsigkeit  gelehrter  Beschäftigung  geistig  gar 
nichts  erschließt,  nichts  erschließen  kann,  weil  sie  ihm  kein  eignes 
Leben  entgegenbringen.  Daran  also  liegt  alles,  und  so  bleibt  die 
entscheidende  Hauptsache  immer  der  Besitz  einer  Gegenwart,  einer 
geistig  ausgeprägten  Gegenwart  Die  Prägung  aber  kann  niemand 
anders  vollziehen  als  wir  Lebenden  und  Handelnden  selbst.  Eine 
geistige  Gegenwart  fällt  uns  nicht  zu,  sie  will  von  uns  selbst  ge- 
bildet sein,  auch  ist  sie  kein  bloßer  Augenblick,  sondern  eine  Be- 
festigung gegenüber  dem  Augenblick,  ein  Leben  zeitloser  Art. 

Ein  solches  Leben  wäre  aber  nun  und  nimmer  erreichbar,  ja 
selbst  das  Streben  danach  würde  eine  Torheit,  bestände  nicht  eine 
ewige  Ordnung  als  eine  neue  Art  der  Wirklichkeit,  und  wäre  sie 
nicht  auch  innerhalb  unseres  Lebensbereiches  irgendwie  gegenwärtig. 
Denn  was  hülfe  uns  jene  Ordnung,  wenn  sie  nicht  auch  in  uns  wirkte? 
Ohne  das  gibt  es  also  keine  Befreiung  von  der  Geschichte,  während 
die  Wendung  dahin  einen  sicheren  Standort  ihr  gegenüber  erreichen 
läßt.  Da  es  uns  zu  solcher  Anerkennung  einer  selbständigen  Geistes- 
welt bei  allen  Problemen  drängte,  so  kann  ihre  Forderung  hier  nicht 
überraschen.  Aber  zugleich  erscheint  eine  ungeheure  Verwicklung 
beim  Menschen:  jenes  Geistige,  in  dem  er  letzthin  irgendwie  wurzeln 
muß,  steht  bei  ihm  in  schroffem  Widerspruch  mit  dem  nächsten 
Befunde  des  Daseins.  Das  Geistesleben  ist  vor  allem  ein  Ganzes 
und  stellt  alle  Mannigfaltigkeit  in  umfassende  Zusammenhänge,  das 
Menschenleben  zerfällt  in  individuelle  Kreise,  innerhalb  derer  die 
einzelnen  Erscheinungen  bunt  durcheinander  wirbeln;  dort  treibt  die 
innere  Kraft  und  Freude  der  Sache  das  Handeln,  hier  herrscht  die 
natürliche  Selbsterhaltung,  die  in  der  Berührung  mit  geistiger  Kraft 
sich  leicht  zu  einem  unbegrenzten  Egoismus  steigert;  der  dort  gefor- 
derten Ewigkeit  widerspricht  die  strenge  Gebundenheit  des  Menschen 
an  die  Zeit,  der  unaufhörliche  Fluß  aller  Lebenserscheinungen  samt 
dem  raschen  Versinken  der  Individuen;  im  Geistesleben  gewinnt  die 
Welt  einen  Inhalt  und  gestaltet  sich  zu  einem  Reiche  des  Beisich- 
selbstseins,  der  Mensch  hingegen  scheint  geistig  leer  mid  wehrlos 

^  Leibniz  (s.  Foucher  de  Careil,  lettres  et  opuscules  II  introd.  XXXIII) 
liebte  die  Alten  wegen  la  clarte  dans  l'expression  et  l'utilite  dans  les  choses. 


Geschichte.  265 

gegenüber  der  Unendlichkeit.     Wie  läßt  sich  eine  so  schroffe  Kluft 
überwinden? 

Das  Erste  ist  sicherlich  jene  innere  Umkehrung  des  Lebens, 
die  Erhebung  über  die  bloßmenschliche  Art,  die  Versetzung  auf  den 
geistigen  Standort;  das  tut  in  Wahrheit  alle  Arbeit,  die  auf  das 
Ganze  geht  und  zum  ganzen  Menschen  wirkt;  es  braucht  hier  nur 
als  Ganzes  verstanden  und  in  volle  Tätigkeit  aufgenommen  zu  werden, 
was  mit  tausendfachen  Wirkungen  unser  Leben  durchdringt.  Aber 
solche  Umkehrung  und  solcher  neue  Standort  führt  nicht  ohne 
weiteres  das  neue  Leben  zu  genügender  Entfaltung.  Es  war  eine 
Überspannung  menschlichen  Vermögens,  wenn  man  von  hier  aus 
unmittelbar  durch  ein  möglichst  energisches  Kraftaufgebot  alle  Geistig- 
keit hervorbringen  wollte;  diese  Überspannung  hat  sich  durch  die 
viel  zu  blasse  und  schattenhafte  Gestaltung  der  Welt  gerächt,  die 
daraus  hervorging.  Nachdem  die  Schranken  des  Menschen  uns 
deutlich  genug  vor  Augen  gerückt  sind,  werden  wir  nicht  so  leicht 
wieder  die  Wirklichkeit  aus  freischwebender  Tätigkeit  zu  konstruieren 
versuchen.  So  bedarf  unser  Streben  nach  Entfaltung  einer  zeit- 
überlegenen Geistigkeit  einer  wirksamen  Unterstützung;  eine  solche 
liefert  ihm  aber  die  Geschichte.  Nicht  freilich  die  Geschichte,  wie 
sie  als  ein  ungeschiedenes  Ganzes  an  uns  kommt;  denn  dies  Ganze  als 
ein  Reich  von  lauterer  Vernunft,  eine  reine  Entwicklung  des  Geistes- 
lebens zu  verstehen,  darauf  haben  wir  einstweilen  verzichtet.  Aber 
das  schließt  nicht  aus,  daß  sich  innerhalb  der  Geschichte  irgend- 
welche Eröffnung  des  Geisteslebens  vollzieht,  daß  sich  eine  esoterische 
Geschichte  von  einer  exoterischen ,  eine  Geistesgeschichte  von  der 
bloßmenschlichen  abhebt;  in  jener  mag  ein  selbständiges  Geistes- 
leben hervorbrechen,  das  durch  allen  Wandel  der  Zeiten  hindurch 
auch  zu  uns  spricht  und  unser  eignes  Streben  zu  fördern  vermag. 
Am  sinnfälligsten  erscheint  solches  Geistesleben  an  einzelnen  Höhe- 
punkten, die  klassisch  heißen,  weil  an  ihnen  das  Schaffen  der  bloßen 
Zeit  und  dem  bloßen  Menschen  überlegen  wird.  Das  wahrhaft 
Große  waren  dabei  nicht  einzelne  Gedanken  und  Bestrebungen, 
sondern  eine  neue  Art  des  Lebens  gegenüber  den  Zwecken  und 
Meinungen  des  Alltages;  es  vollzog  sich  dabei  eine  Umkehrung  und 
mit  ihr  eine  Erschließung  geistiger  Lebensquellen,  geistiger  Kräfte 
und  Notwendigkeiten,  eine  Befreiung  des  Menschen  von  bloßmensch- 
licher Art.  Gewiß  geschah  das  nicht  ohne  einen  Zusammenhang 
mit  dem  übrigen  Leben,  nicht  ohne  mannigfache  Vorbereitung  und 


266  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

eine  enge  Beziehung  zur  geschichtlichen  Lage,  aber  nun  und  nimmer 
war  jenes  Klassische  mit  dem,  was  sein  Wesen  ausmacht,  eine  bloße 
Summierung  und  Weiterbildung  vorhandener  Elemente.  Vielmehr 
erfolgte  in  ihm  immer  ein  Bruch  und  eine  Umkehrung,  eine  Ver- 
setzung auf  einen  neuen  Standort,  ein  Gewinn  eines  neuen  Lebens- 
raumes, ein  Aufbauen  einer  geistigen  Wirklichkeit.  So  pflegte  denn 
auch  sein  Hervorbrechen  schwere  Erschütterungen  mit  sich  zu  bringen, 
und  soweit  es  siegreich  wurde,  ist  es  das  durch  Kampf  und  Schmerz 
geworden,  es  hat  seine  Vorkämpfer  auch  da  zu  Märtyrern  gemacht, 
wo  das  Märtyrertum  nicht  gerade  durch  Blut  besiegelt  wurde.  Auch 
besagt  die  äußere  Anerkennung,  die  das  Große  schließlich  zu  finden 
pflegt,  keineswegs  einen  reinen  Sieg  und  eine  Umgestaltung  der 
menschlichen  Lage.  Denn  jene  Anerkennung  ist  zugleich  ein  Herab- 
ziehen zum  menschlichen  Dasein  und  ein  Anpassen  an  die  klein- 
menschliche Gesinnung;  jedenfalls  gelangt  es  hier  nur  mit  einzelnen 
Wirkungen,  nicht  mit  dem  Ganzen  seines  Wesens  zur  Geltung.  So 
wird  im  Grunde  der  Gegensatz  nicht  aufgehoben,  sondern  nur  ver- 
steckt, und  durch  die  ganze  Geschichte  bleibt  echte  Geistigkeit  und 
bloßmenschliche  Lebensführung  in  hartem  Streit  miteinander. 

Nun  aber  erscheint  selbständiges  Geistesleben  nicht  nur  an  ver- 
einzelten Punkten,  sondern  diese  Punkte  suchen  einen  Zusammen- 
hang und  möchten  sich  schließlich  zum  Aufbau  eines  allumfassenden 
Reiches  verbinden.  Dabei  entstehen  freilich  schwere  Verwicklungen 
und  harte  Zusammenstöße.  Unter  menschlichen  Verhältnissen  hat 
jede  Eröffnung  des  Geisteslebens  bemessene  Schranken;  wie  sie  das 
Problem  nur  an  besonderer  Stelle  angreift  und  nur  in  besonderer 
Richtung  löst,  so  wird  sie  das  Ganze  des  Geisteslebens,  das  aus  dem 
tiefsten  Grunde  des  Menschen  wirkt,  nicht  voll  befriedigen  können; 
schließlich  wird  eine  Gegenbewegung  entstehen  und  neue  Entfaltungen 
hervortreiben.  Wiederum  bringt  das  nicht  bloß  neue  Ansichten  und 
Bestrebungen,  sondern  Erweiterungen  und  Vertiefungen  des  Lebens- 
prozesses; es  ist  der  Lebensprozeß  und  mit  ihm  die  geistige  Wirk- 
lichkeit selbst,  welche  durch  die  Bewegung  der  Jahrtausende  wächst; 
es  vollziehen  sich  in  ihr  Offenbarungen  geistigen  Lebens,  die  kein 
Erzeugnis  der  bloßen  Reflexion  sind,  sondern  die  mit  der  Macht 
der  Tatsächlichkeit  sprechen,  freilich  einer  Tatsächlichkeit  geistiger, 
daher  erst  durch  Selbsttätigkeit  anzueignender  Art. 

So  wenig  diese  Eröffnung  geistigen  Lebens  die  Breite  des 
menschlichen    Daseins    einnimmt,    innerhalb    der    geistigen    Arbeit 


Geschichte.  267 

übt  sie  Macht  und  hält  ihr  eine  Höhe  vor,  ohne  deren  Erreichung 
sie  nicht  wahrhaft  zu  fördern  und  voll  zu  befriedigen  vermag.  Was 
hinter  diesem  weltgeschichtlichen  Stande  zurückbleibt,  das  mag  die 
Menschen  zeitweilig  aufregen  und  fortreißen,  schließlich  wird  es  auf 
überlegenen  Widerstand  stoßen  und  als  unzulänglich  befunden  werden; 
jener  weltgeschichtliche  Stand  wirkt  negativ,  indem  er  gewisse  Lösungen 
als  unzulänglich  verbietet,  er  wirkt  positiv,  indem  er  gewisse  Auf- 
gaben stellt  und  gewisse  Anregungen  gibt.  So  kann  dem  Ganzen 
der  Menschheit  keine  Lebensgestaltung  genügen,  welche  nicht  die 
seelische  Vertiefung  und  den  moralischen  Ernst  in  sich  aufnimmt, 
die  das  Christentum  brachte,  aber  auch  keine,  welche  die  Befreiung 
des  Subjekts  und  den  Gewinn  einer  inneren  Unendlichkeit  verschmäht, 
welche  die  Neuzeit  errungen  hat. 

Demnach  liegen  in  der  Geschichte,  geistig  angesehen,  Anweis- 
ungen, Aufforderungen,  Möglichkeiten;  sie  wollen  angeeignet  und 
belebt  sein,  um  zu  vollen  Wirklichkeiten  für  uns  zu  werden,  aber 
sie  können  das,  insofern  jenes  Geistige,  so  sehr  besondere  Nöte  der 
Zeit  es  ins  Dasein  hoben,  seinem  Kern  nach  zeitloser  und  daher 
bleibender  Art  ist;  es  gilt  nur  dieses  Zeitlose  in  seiner  Kraft  und 
Eigentümlichkeit  zu  ergreifen,  dann  kann  es  uns  zur  lebendigen 
Gegenwart  werden,  dann  ist  die  Geschichte  kein  bloßes  Nacheinander 
und  das  Frühere  keine  bloße  Vorbereitung  eines  Späteren,  sondern 
dann  hat  jedes  Große  wie  einen  Selbstwert  so  eine  unvergängliche 
Wahrheit,  auch  läßt  sich  dann  über  die  Vielheit  hinaus  ein  Ganzes 
erstreben.  Wenn  so  die  Geschichte  aus  einem  bloßen  Strom  der 
Ereignisse  zur  allmählichen  Eröffnung  einer  Geisteswelt,  zum  Gewinn 
einer  zeitüberlegenen  Gegenwart  wird,  so  kann  das  Verlangen  nach 
einem  gehaltvollen  Geistesleben  durch  (sie  die  kräftigste  Unterstützung 
finden.  Nur  gilt  es  vom  Zeitlichen  zum  Ewigen  durchzudringen 
und    eine  Geistesgeschichte    von    dem   sonstigen   Chaos   abzuheben. 

Dieses  aber  hat  seine  festen  Bedingungen;  es  fordert  zunächst, 
daß  eine  Tiefe  des  Lebens  jenseit  der  nächsten  Existenzform,  und 
ein  Ganzes  jenseit  der  einzelnen  Funktionen  wirke.  Denn  nur  so 
können  in  den  Bewegungen  der  Weltgeschichte  charakteristische 
Lebenstypen,  mächtige  Lebensströme  aufkommen,  die  nicht  an  die 
Besonderheit  des  sichtbaren  Ursprungs  gebunden  bleiben,  sondern 
darüber  hinaus  ins  Ganze  wirken,  wirken  mit  ausgeprägter  Art,  nicht 
mit  vager  Allgemeinheit.  Nur  so  läßt  im  Wandel  der  Erscheinungen 
sich  eine  innere  Einheit  erkennen  und  in  die  Gegenwart  überleiten. 


268  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Zu  solcher  Überleitung  und  Aneignung  gehört  aber  weiter,  daß 
die  eigne  Zeit  ein  selbständiges  Geistesleben  entfalte;  dazu  aber 
muß  sie  sich  kräftig  bei  sich  selbst  konzentrieren,  ihre  eigne  welt- 
geschichtliche Aufgabe,  den  springenden  Punkt  des  eignen  Strebens 
erfassen,  das  was  in  ihr  an  Selbständiggeistigem  und  Zeitüberlegenem 
erreichbar  ist,  energisch  herausarbeiten  und  sich  zugleich  über  den 
bloßen  Wandel  der  Erscheinungen  sicher  erheben.  Unser  selbst 
müssen  wir  inne  werden,  um  bei  anderen  Charakteristisches  zu  ge- 
wahren, bei  uns  selbst  Ewiges  entdecken,  um  andere  Zeiten  und 
das  Ganze  der  Geschichte  auf  ihr  Ewiges  zu  bringen.  Hier  be- 
sonders wird  nur  dem  gegeben,  der  da  hat;  hier  ist  besonders  klar, 
daß  die  Vergangenheit  die  Gegenwart  wohl  zu  erhöhen,  nie  aber 
zu  ersetzen  vermag. 

Soweit  derart  in  der  Bewegung  der  Geschichte  eine  durch- 
gehende Aufgabe  entdeckt  und  durch  allen  Wandel  der  Zeit  hin- 
durch zu  einer  zeitlosen  Wahrheit  vorgedrungen  wird,  muß  sich  der 
Gesamtanblick  des  Lebens  verändern.  Nun  treiben  wir  nicht  mehr 
wehrlos  mit  dem  Strom  der  Zeit  dahin,  sondern  wir  können  ihm 
gegenüber  durch  Teilhaben  an  ewiger  Wahrheit  eine  Ruhe  und 
Festigkeit  gewinnen.  Der  Lebensprozeß  wird  sich  nun  durch  die 
Erfahrungen  der  Geschichte  hindurch  immer  gehaltvoller  und  immer 
konkreter  gestalten,  das  Geistesleben  selbst  in  anschaulicherem  Bilde 
vor  Augen  stehen,  die  besondere  Art  und  Lage  der  Menschheit  sich 
aufhellen,  in  dem  allen  ein  charakteristischer  Typus  und  eine  be- 
harrende Art  unseres  geistigen  Seins  zur  Entfaltung  kommen.  Die 
Festigkeit,  die  damit  das  menschliche  Leben  im  innersten  Grunde 
erlangt,  gibt  ihm  eine  Überlegenheit  gegen  die  bloße  Bewegung; 
selbst  in  dem  Wandel  wird  es  nun  vor  allem  sich  selbst  erleben 
und  sich  in  seiner  eigentümlichen  Art  bestärken.  Mögen  die  Er- 
schütterungen des  geschichtlichen  Lebens  immer  wieder  in  die  letzte 
Grundlage  zurückgreifen  und  den  Menschen  von  neuem  zum  Pro- 
bleme machen,  was  schon  gesichert  schien;  mag,  was  an  Ewigem  in 
uns  wirkt,  in  die  Besonderheit  der  Zeiten  eingehen  und  ihr  gemäß 
sich  gestalten  müssen,  trotzdem  besagt  es  eine  Wendung  fundamen- 
talster Art,  wenn  durch  das  Teilhaben  an  einer  zeitüberlegenen 
Geisteswelt  ein  Ewiges  im  Kern  unseres  Lebens  gesichert  und  die 
Aufgabe  vor  allem  dahin  gestellt  wird,  dieses  in  unsere  Tätigkeit 
aufzunehmen  und,  was  unser  geistiges  Wesen  uns  zuweist,  in  vollen 
Besitz  zu  verwandeln.    Denn  nunmehr  läßt  sich  danach  streben,  in 


Geschichte.  269 

der  Geschichte  Vergängh'ches  und  Unvergängliches  zu  scheiden  und 
ihr  eine  geistige  Gegenwart  zu  entringen;  sie  erscheint  nun  nicht 
mehr  als  das  Ganze,  das  seinen  Zweck  in  sich  selbst  hat,  sondern 
als  eine  bloße  Seite  des  Lebens  und  Seins,  die  nur  in  Zurück- 
beziehung auf  eine  zeitlose  Ordnung  einen  geistigen  Gehalt  und 
irgendwelchen  Sinn  gewinnt. 

Nun  und  nimmer  läßt  sich  demnach  zu  der  älteren  Art  zurück- 
kehren, welche  das  Ewige  glaubte  in  Einem  Zuge  ergreifen  und 
völlig  durchbilden  zu  können;  die  damit  gewonnene  Ruhe  erscheint 
uns  als  eine  Erstarrung,  als  eine  Verleugnung  der  lebendigen  Gegen- 
wart zugunsten  toter  Vergangenheit.  Aber  wir  brauchen  deshalb 
keineswegs  der  modernen  Verflüchtigung  alles  festen  Bestandes  2u  ver- 
fallen, das  Leben  in  einzelne  Augenblicke  aufzulösen,  damit  aber  allen 
inneren  Zusammenhang,  alle  überlegene  Einheit  preiszugeben.  Denn 
wenn  unsere  Verbindung  mit  einer  Welt  zeitloser  Wahrheit  einen 
geistigen  Charakter  herauszuarbeiten  und  durch  eine  Wesensbildung 
das  Leben  umzukehren  gestattet,  so  läßt  sich  unser  Hauptstandort 
im  Ewigen  nehmen,  durch  alle  Zeit  hindurch  zu  einer  zeitlosen 
Wirklichkeit  vordringen,  inmitten  aller  Bewegung  ein  überlegenes 
Beharrende  festhalten.  Die  Vergangenheit  ist  dann  nicht  mehr  eine 
bloße  Vergangenheit,  sie  kann  ein  Stück  einer  zeitüberlegenen  Gegen- 
wart werden  und  damit  eine  Sache  eignen  Lebens,  unablässiger 
Arbeit  bleiben. 

Die  Wissenschaft  muß  aus  solcher  Überzeugung  eine  eigen- 
tümliche Behandlung  geschichtlicher  Erscheinungen  entwickeln,  die 
am  Zeitlichen  das  Bleibende,  am  Einzelnen  das  Ganze  sieht  und 
sucht.  So  geschah  es  z.  B.  in  Iherings  großem  Werk  über  den 
Geist  des  römischen  Rechts,  und  zwar  mit  voller  Klarheit  über  die 
Art  des  Verfahrens.  Das  Augenmerk  ist  hier  «nicht  das  römische, 
sondern  das  Recht,  erforscht  und  veranschaulicht  am  römischen" 
(3.  Aufl.,  Einl.  IX),  und  es  wird  demgemäß  zur  Aufgabe,  „das  Ver- 
gängliche und  rein  Römische  von  dem  Unvergänglichen  und  Allge- 
meinen zu  scheiden"  (I,  15).  Gewiß  kann  eine  derartige  philo- 
sophische Behandlung  nur  den  Endpunkt  einer  langen  wissenschaft- 
lichen Arbeit  bilden,  aber  wer  sie  in  kleinmütiger  Besorgnis  vor 
ihren  Gefahren  abweisen  wollte,  den  würde  Hegels  bekanntes  Wort 
von  der  Metaphysik  treffen:  er  will  einen  Tempel  ohne  ein  Aller- 
heiligstes. 

Auch   in   das  Leben   des   Individuums  erstreckt  sich   die   neue 


270  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Art  und  gibt  ihm  eine  neue  Beleuchtung.  Nur  so  lange  ist  für  den 
Einzelnen  das  Dasein  eine  rastlose  Flucht  von  Erscheinungen,  als 
er  eines  selbständigen  Innenlebens  entbehrt,  nicht  irgendwie  zu  einem 
Ganzen  persönlichen  Seins  und  geistiger  Individualität  gelangt. 
Denn  wo  das  geschieht  und  sich  damit  das  Ereignis  in  ein  Erlebnis 
zu  verwandeln,  der  Mensch  in  Werk  und  Schicksal  ein  geistiges 
Selbst  zu  erleben  vermag,  da  zieht,  was  uns  irgend  bewegt,  nicht 
wie  ein  Schatten  vorüber  und  versinkt  in  den  Abgrund  des  Nichts, 
sondern  da  vermag  es  Wurzel  in  uns-  zu  schlagen.  Bleibendes  zu 
entfalten  wie  zu  fördern,  einer  zeitüberlegenen  Gegenwart  sich  ein- 
zuordnen. Dem  Leben  eine  gehaltvolle  Gegenwart  zu  sichern  und 
es  damit  gegenüber  dem  Augenblick  zu  befestigen,  das  bleibt  immer 
das  Hauptziel;  in  solcher  Gegenwart  fährt  fort  zu  wirken,  was  in 
Liebe  und  Leid,  in  Glück  und  Unglück  je  ein  Stück  selbsteignen 
Lebens  wurde.  Daher  haben  von  jeher  geisteskräftige  Menschen 
über  die  Flüchtigkeit  des  Lebens  zu  klagen  verschmäht,  da  es  doch 
bei  uns  selber  steht,  uns  jener  Flüchtigkeit  zu  entwinden  und  unser 
Leben  ins  Unvergängliche  zu  stellen.  «Ich  bedaure  die  Menschen", 
sagt  Goethe,  «welche  von  der  Vergänglichkeit  viel  Wesens  machen 
und  sich  in  Betrachtung  irdischer  Nichtigkeit  verlieren;  sind  wir  ja 
eben  deshalb  da,  um  das  Vergängliche  unvergänglich  zu  machen." 
So  kann  uns  auch  das  bekannte  Woil  Dantes  nicht  als  richtig  gelten, 
daß  das  größte  Elend  darin  bestehe,  sich  im  Unglück  vergangenen 
Glücks  zu  erinnern.  Denn  war  das  Glück  wahrhaftiges  Glück,  so 
ist  es  gar  nicht  zerstörbar,  so  muß  es  durch  alles  Unglück  hindurch 
mit  lebendiger  Gegenwart  wirken. 

Auch  die  natürlichen  Phasen  des  Lebens,  die  Lebensalter,  er- 
scheinen in  solchem  Zusammenhange  nicht  als  ein  bloßes  Nachein- 
ander. Diese  Phasen  leben  sich  weder  gänzlich  in  sich  selber  aus, 
noch  gehen  sie  darin  auf,  spätere  Phasen  vorzubereiten,  sondern 
eine  jede  bleibt  dem  Leben  innerlich  gegenwärtig  und  wirkt  auf 
seinen  Gesamtstand.  Daher  ist  so  wichtig  eine  frische  und  freudige 
Jugend,  eine  Jugend  wahrhaftiger  Art;  sie  ist  mehr  als  eine  Sache 
sentimentaler  Erinnerung,  sie  kann  ein  Stück  einer  weiteren  Gegen- 
wart bleiben,  eine  unversiegliche  Quelle  frischen  Lebens. 

Demnach  ist  der  Mensch  keineswegs  ein  bloßzeitliches  Wesen; 
mit  mehr  Recht  meinten  tiefsinnige  mittelalterliche  Denker,  daß  er 
an  der  Grenze,  dem  Horizont  von  Zeit  und  Ewigkeit  stehe  und 
teil  an  ihnen  beiden  habe.    Die  Zeit  ist  für  uns  weniger  ein  starres 


Geschichte.  271 

Schicksal  als  ein  Problem;  wie  weit  aber  das  Leben  sie  überwindet 
und  eine  überzeitliche  Gegenwart  erreicht,  das  hängt  vor  allem  an 
der  geistigen  Kraft,  die  es  aufzubieten  vermag;  bei  uns  selbst  steht 
es  schließlich,  ob  der  Schwerpunkt  unseres  Seins  ins  Vergängliche 
oder  ins  Unvergängliche  fällt.  Allerdings  hat  dieses  Tun  zur  un- 
entbehrlichen Voraussetzung  die  Wirklichkeit  und  die  innere  Gegen- 
wart einer  geistigen  Welt,  auch  die  leidenschaftlichste  Erregung  des 
bloßen  Subjekts  kann  nie  einen  geistigen  Inhalt  und  mit  ihm  eine 
Zeitüberlegenheit  erreichen,  und  es  bleibt  für  den  Menschen  alles 
Schaffen  zugleich  ein  Empfangen  aus  unsichtbaren  Zusammen- 
hängen. 

Nach  dem  allen  bedeutet  unsere  Abweisung  des  zerstreuenden 
und  erschlaffenden  Historismus  keinen  Rückfall  in  den  Rationalis- 
mus. Das  freilich  gestehen  wir  gern,  daß,  vor  eine  Wahl  zwischen 
beiden  gestellt,  wir  den  Rationalismus  vorziehen  würden;  denn  mag 
das  von  ihm  entfaltete  Leben  noch  so  eng  und  einseitig  sein,  es 
ist  doch  ein  eignes  Leben  und  Wollen,  während  dem  Historismus 
eine  Nachbildung  fremden  Lebens  genügt.  Aber  es  bleibt  genug, 
was  uns  vom  Rationalismus  scheidet.  Sein  überspanntes  Kraftgefühl 
verleitete  ihn,  die  Aufgabe  zu  unterschätzen;  seine  Verkennung  des 
weiten  Abstandes  zwischen  dem  nächsten  Dasein  und  der  Tiefe  des 
Menschenwesens  ließ  ihn  von  einer  unmittelbaren  Aufraffung  er- 
warten, was  in  Wahrheit  durchgreifende  Vertiefungen  und  Umwälz- 
ungen verlangt;  von  einer  Klärung  konnte  er  nicht  wohl  alles  Heil 
erhoffen,  hätte  er  nicht  die  Vernunft  schon  in  unserem  Daseinskreise 
vorhan/Jen  und  lediglich  einer  Freilegung  bedürftig  geglaubt.  Das 
war  überhaupt,  weit  über  den  Rationalismus  hinaus,  der  Irrtum  der 
Neuzeit,  das  Wesen  des  Geisteslebens  in  die  bloße  Erhebung  des 
Daseins  zur  Bewußtheit  zu  setzen;  um  uns  schien  dasselbe  wirksam, 
nur  gebunden  und  dunkel,  was  in  uns  zur  vollen  Freiheit  und 
Klarheit  gelangt.  Denn  es  wurden  dabei  die  großen  Widerstände  und 
V^erwicklungen  unseres  Weltanblicks  ebensowenig  gewürdigt,  als  der 
Lebensprozeß  in  ihrer  Überwindung  zur  nötigen  Tiefe  vordrang. 
Ganz  anders  stellt  sich  die  Sache,  wenn  das  Geistesleben  nicht  als 
eine  bloße  Aufhellung  der  Natur,  sondern  mit  seinem  Beisichselbst- 
sein  als  eine  wesentlich  neue  Art  des  Lebens  verstanden  wird. 
Wenn  damit  eine  weit  größere  Spannung  entsteht,  so  gewinnt  auch 
die  Geschichte  an  Bedeutung,  nur  wird  man  nicht  darauf  ausgehen 
dürfen,  sie   in   ein  Reich  der  reinen  Vernunft  zu  verwandeln,  son- 


272  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

dern  zufrieden  sein  müssen,  in  ihr  irgendwelche  Eröffnung  der  Ver- 
nunft zu  entdecken. 

Auch  insofern  war  die  Aufklärung  einer  Anerkennung  der  Ge- 
schichte wenig  günstig,  als  die  Intelligenz,  welche  dort  die  Führung 
des  Lebens  hatte,  einen  viel  zu  engen  und  unduldsamen  Begriff 
der  Wahrheit  hat.  Eine  bloß  intellektuelle  Wahrheit  will  unmittel- 
bar als  ausschließlich  gelten,  es  verträgt  sich  hier  nicht  Verschiedenes 
nebeneinander;  der  Gegenwart  Recht  geben,  heißt  hier  die  ganze 
Vergangenheit  ins  Unrecht  setzen.  Wie  sich  die  Lage  völlig  ver- 
ändert, wenn  das  Intellektuelle  auf  das  Geistige  aufgetragen  wird, 
und  wenn  in  der  Geschichte  nicht  bloß  Lehren  und  Meinungen, 
sondern  Lebensentfaltungen  und  Lebenskomplexe  zusammentreffen, 
in  ihr  nicht  bloß  um  Bilder  der  Wirklichkeit,  sondern  um  Wirk- 
lichkeiten selbst  gekämpft  wird,  das  dürften  die  früheren  Ausführ- 
ungen zur  Genüge  dargetan  haben. 

Entscheidend  ist  hier  immer  der  Gewinn  einer  zeitüberlegenen 
Gegenwart  mit  ihrer  Umkehrung  des  Lebens.  Denn  nur  dadurch  kann 
die  Geschichte  mehr  als  eine  Sache  gelehrter  Forschung  werden, 
nur  dadurch  läßt  sich  verhindern,  daß  die  unbegrenzte  Ausdehnung 
des  Werdens  und  damit  der  geschichtlichen  Betrachtung  einen  zer- 
störenden Relativismus  bewirke.  Der  Sieg  einer  geschichtlichen  Be- 
trachtung ist  wohl  der  größte  Triumph  der  gesamten  neueren 
Forschung.  Nicht  nur  beim  Weltbau  und  bei  den  organischen 
Formen  läßt  diese  Betrachtung  allen  vorgefundenen  Bestand  aus  dem 
Werden  verstehen,  sie  erstreckt  sich  bis  in  die  elementarsten  Vor- 
gänge der  leblosen  Natur,  indem  selbst  im  Gebiet  der  Physik 
weithin  das  Geschehen  in  einer  bestimmten  Folge  verläuft,  sich 
nicht  beliebig  umkehren  läßt.  Das  menschliche  Dasein  aber  er- 
scheint in  weit  klarerem  Bilde,  seitdem  die  Gegenwart  als  das  letzte 
Glied  einer  langen  Kette  gewürdigt  wird,  und  nicht  nur  in  den 
Hauptrichtungen  des  Strebens  manches  als  veränderlich  erkannt  ist, 
was  sonst  als  ein  fester  Einsatz  galt,  sondern  auch  einleuchtet,  wie 
der  Mensch  bis  in  seine  seelische  Art  hinein  von  der  Besonderheit 
seiner  Zeit  abhängt,  wie  verschiedene  Zeiten  verschiedene  Menschen 
hatten.  Ein  unermeßlicher  Reichtum  des  Lebens  geht  damit  auf, 
das  Verständnis  wird  weit  präziser,  indem  es  solchem  Reichtum  sich 
anschmiegt^    Wir  dürfen  das  alles  als  eine  wesentliche  Erweiterung 

*  Wir  erinnern  nur  an  Diltheys  geistvolle  Zeichnungen  der  Menschen 
verschiedener  Jahrhunderte;  auch  Lamprechts  Forschungen  seien  hier  nicht 


Geschichte.  273 

unseres  Gesichtskreises,  eine  Befreiung  von  der  Gebundenheit  einer 
besonderen  Zeit  begrüßen.  Aber  der  Gewinn  an  Wissen  kann  zu 
einem  Verlust  für  das  Leben  werden,  wenn  es  nicht  gelingt,  jener 
Erweiterung  eine  Befestigung  und  dem  Wachstum  der  Zeit  eine  Ver- 
stärkung des  Ewigen  entgegenzusetzen.  Die  Geschichte  muß  uns 
das  Zweite  bleiben,  sie  darf  nie  das  Erste  werden.  Wohl  wird  bei 
dieser  Überzeugung  unser  Daseinskreis  sich  weit  unfertiger  aus- 
nehmen, als  er  dem  Rationalismus  und  der  konstruktiven  Geschichts- 
philosophie erschien,  aber  woher  sind  wir  denn  dessen  gewiß,  daß 
bei  uns  der  Kreis  des  Lebens  sich  schließt,  und  was  schadet  die 
bescheidnere  Fassung,  wenn  dem  Kleinerwerden  des  Menschen  ein 
Größerwerden  der  Wirklichkeit  entspricht  und  das  Leben  an  Tiefe 
gewinnt,  indem  es  sich  minder  einfach  darstellt? 


Anhang:  zum  Begriff  des  Modernen. 

Der  Begriff  des  Modernen  bewegt  und  entzweit  die  Gemüter 
heute  so  sehr,  daß  einige  Erörterung  und  Aufklärung  nicht  zu  um- 
gehen ist.  Eine  Aufklärung  fordert  zunächst  die  Geschichte  des 
Ausdrucks,  über  die  sehr  unklare,  wenn  nicht  irrige  Meinungen 
im  Schwange  sind. 

Das  sachliche  Problem  reicht   natürlich  weit  über  die  Prägung 


vergessen.  Den  seelischen  Stand  der  Gegenwart  behandelt  u.  a.  R.  Baerwald, 
„Psychologische  Faktoren  des  modernen  Zeitgeistes"  (Publikation  der  Gesell- 
schaft für  psychologische  Forschung).  Es  hat  aber  das  Problem  der  Ab- 
hängigkeit des  Menschen  von  seiner  Zeit  von  alters  her  die  Gedanken  be- 
schäftigt und  sich  schon  im  17.  Jahrhundert  zu  einer  Streitfrage  zugespitzt. 
Da  sich  für  uns  ein  näheres  Eingehen  auf  die  Sache  verbietet,  so  sei  nur 
eine  Stelle  aus  Walchs  Philos.  Lexikon  angeführt  (schon  in  der  ersten  Aufl. 
von  1726)  Art.  Sitten,  S.  2377:  „^t\\  nun  solche  Veränderung  (nämlich  der 
Sitten)  fast  unvermerkt  geschieht,  und  wir  es  gemeiniglich  nur  gewahr 
werden,  wenn  es  vorbei  ist,  daß  diese  und  jene  Sitten  zu  der  und  jener 
Zeit  Mode  gewesen,  so  pflegt  man  solches  der  Zeit  zuzuschreiben.  So  haben 
einige  einen  genium  seculi  statuieren  wollen,  welcher  nach  den  Zeiten  die 
Gemüter  der  Menschen  lenke  und  die  Sitten  der  Menschen  verändere.  Dieser 
Meinung  ist  Barclajus,  welcher  in  icone  animor.,  pag.  505  (John  Barclays  icon 
animorum  erschien  1614)  sagt:  omnia  secula  genium  habent,  qui  mortalium 
animos  in  certa  studia  solet  inflectere.  Mit  diesem  stimmt  überein  der  un- 
genannte Autor,  der  Germaniam  milite  destitutam  geschrieben,  und  der  so- 
genannte Pater  Firmianus,  von  dem  ein  besonderes  Buch  unter  dem  Titel 
seculi  genius,  Paris  1663,  12  heraus(kam)". 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  18 


274  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

des  Ausdrucks  zurück;  wo  immer  daran  lag,  das  Eigentümliche  der 
Gegenwart  abzugrenzen,  da  werden  sich  irgendwelche  Bezeichnungen 
gefunden  haben.  ^ 

In  ,/ modern"  aber  entstand  ein  beharrender  Ausdruck,  dessen 
Geschicke  etwas  näher  zu  verfolgen  sich  lohnen  dürfte.  Das  Wort 
(abgeleitet  von  modo  eben,  jetzt)  wird  besonders  geläufig  sein, 
wenn  innere  Verschiebungen  zum  Bewußtsein  kommen  und  die 
Menschen  entzweien.  Dann  nennt  sich  der  Freund  des  Neuen 
modern,  um  seine  Überlegenheit  gegen  solche  zu  bekunden,  die  zähe 
am  Alten  haften;  der  Gegner  aber  stempelt  den  Ausdruck  zu  einem 
Schmähwort,  das  einen  Menschen  kennzeichnen  soll,  der  ohne  Halt 
und  ohne  Pietät  den  flüchtigen  Anregungen  des  Augenblickes  folgt. 
Die  Geschichte  des  Wortes  läßt  ersehen,  wann  der  Streit  eine  be- 
sondere Höhe  erreichte,  und  welcher  Punkt  es  vornehmlich  war, 
der  die  Geister  schied. 

Der  Ausdruck  erscheint  im  Übergang  vom  Altertum  zum  Mittel- 
alter bei  dem  Grammatiker  Priscianus,  der  im  6.  Jahrhundert  lehrte, 
und  bei  Cassiodorius,  dem  Beamten  Theodorichs  (f  um  575).^  In 
den  folgenden  Jahrhunderten  findet  es  sich  hie  und  da.  ^  Zu  einem 
eigentlichen  Partei-  und  Streitwort  wurde  «modern«  seit  dem  Ende 
des  11 .  Jahrhunderts,  das  aber  auf  dem  Gebiete  der  Logik;  es  diente 
nämlich  zur  Bezeichnung  der  Nominalisten,  d.  h.  solcher,  welche  den 
Begriffen  des  Denkens  keine  objektive  Realität  zuerkannten.*  „Moderne" 
werden  aber  auch  andere  genannt,  auch  einfach   die  Gelehrten  der 


*  So  hat  z.  B.  Aristoteles  wiederholt  den  Ausdruck  o!  vGv.  Met.  Q92a,  33 
bezefchnet  er  deutlich  die  Platoniker  seiner  Zeit:  y£y°^^^  "^^  (xaÖTri'jjiaTa  tot; 
vGv  1^  (piXodo^fa,  ebenso  auch  lü69a,  26:  ol  [ilv  vüv  Ta  xaO-o'Xou  oüaia?  jiocXXov 
^iQ-taaiv  Toc  y*P  T^^T  xaO^oXou,  a  (paaiv  «px*?  "O"  ouafa^  etvai  (xaXXov  Sia  to 
Xo^ixtü?  ^T)T^v  Ol  5c  Jva'Xat  ta  xa^  ^xaorov,  oTov  nup  xa\  ytjv,  äXX'oü  xo  xotvov  aöJjAa. 

*  Cassiod.  Variarum  4,  51  wird  ein  Architekt  empfohlen  als  antiquorum 
imitator,  modemorum  institutor. 

*  Ein  Artikel  der  Historisch-politischen  Blätter  (139,  5  vom  Jahre  1907) 
erwähnt  einen  Brief  des  Abtes  Benediktus  Avianensis  (geschrieben  zwischen 
800  und  821),  worin  es  heißt:  Unde  apud  modemos  scholasticos,  maxime 
apud  Scotos  [ijste  Syllogismus  delusionis,  ut  dicant  trinitatem  sicut  personarum 
ita  esse  substantiarum.    Mon.  Germ.  bist.  Epist.  Carol.  Aevi,  Tom.  II,  563. 

*  Prantl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande  II,  82,  führt  die  älteste 
Stelle  an,  wo  die  Nominalisten  als  modemi  bezeichnet  werden  (non  juxta 
quosdam  modemos  in  voce,  sed  more  Boethii  antiquorumque  doctorum  in 
re  discipulis  legebat,  nämlich  Otto,  seit  1106  Bischof  von  Cambray). 


Geschichte.  275 

eignen  Zeit.  ^  Einen  bedeutenderen  Gehalt  und  eine  schärfere  Zu- 
spitzung erhielt  die  Sache,  als  seit  Johannes  von  Salisbury  die  Aristo- 
teliker  des  13.  Jahrhunderts  (also  namentlich  die  großen  Dominikaner, 
wie  Albert  der  Große  und  Thomas  von  Aquino,  derselbe  Mann, 
an  den  jetzt  sich  alles  Antimoderne  hängt)  Moderne  genannt  werden, 
im  Gegensatz  zu  der  mehr  durch  Plato  und  Augustin  beherrschten 
Denkweise,  die  von  der  franziskanischen  Theologie^  vertreten  wurde. 
Diese  «moderne"  Denkweise  erschien  den  Gegnern  als  eine  Über- 
flutung der  Theologie  durch  dialektische  Sorgen  und  Spitzfindigkeiten.'^ 
Später  überträgt  sich  der  Begriff  wie  der  Ausdruck  Modernität  auf 
Ockam  und  seine  Schule,  »Ockams  Lehre  blieb  die  ,moderne'  Theo- 
logie bis  in  Luthers  Zeit",^  auch  Luther  hat  sich  zu  ihr  bekannt. 
Aber  es  findet  sich  das  Wort  auch  in  anderer  Bedeutung.  Brüder 
vom  gemeinsamen  Leben  vertraten  eine  devotio  modema  und  ver- 
standen darunter  eine  solche,  welche  neben  der  äußeren  Haltung 
stark  die  »Innigkeit"  betonte,  eines  der  Werke  von  Johannes  Busch 
trägt  den  Titel  über  de  origine  devotionis  modernae.  ^ 

Das  Mittelalter  versinkt  und  die  Renaissance  eröffnet  eine  neue 
Welt.  Aber  es  dauert,  lange,  bis  was  in  den  Geistern  vorgeht,  sich 
für  das  Bewußtsein  klärt  und  feste  Bezeichnungen  annimmt.  Natür- 
lich konnte  der  Renaissance  „modern"  nicht  eine  neue  Art  gegen- 
über dem  Altertum,  sondern  nur  eine  neue  Art  in  der  Behandlung 
des  Altertums  bedeuten;  da  zugleich  der  mittelalterliche  Sprach- 
gebrauch verblieb,  so  lief  verschiedenartiges  bunt  durcheinander.  Die 
epistolae  obscurorum  virorum  stellen   das  deutlich   vor  Augen.  ^    Je 


^  Eine  nähere  Darlegung  dessen  hat  hier  kein  Interesse,  es  mag  dafür 
auf  Prantl  verwiesen  sein  (s.  z.  B.  II,  116ff,  195,  241). 

^  Von  Roger  Bacon  werden  Alexander  von  Haies  und  Albert  genannt 
duo  modemi  gloriosi  (s.  den  Artikel  Scholastik  von  Seeberg  in  Herzogs  Real- 
enzyklopädie). 

^  Der  päpstliche  Legat  Simon  de  Brion,  der  tief  in  die  Bewegungen 
eingriff,  welche  damals  die  Pariser  Universität  aufregten  und  beinahe  zer- 
rütteten, erwähnt  tadelnd  die  modema  curiositas,  quae  plus  solito  innumeras 
multiplicat  quaestiones  (s.  das  ausgezeichnete  Werk  von  Mandonnet:  Siger  de 
Brabant  et  l'Averroisme  latin  au  XIII  siede  [1899}  CCVIII,  Anm.  1). 

*  S.  Seeberg,  Herzogs  Realenzyklopädie,  3.  Aufl.,  XIV,  279. 

*  S.  den  Artikel  von  Gustav  Boerner:  „Die  Brüder  des  gemeinsamen 
Lebens  in  Deutschland"  in  den  Deutschen  Geschichtsblättem  von  1905,  Juni. 
S.  namentlich  S.  244/5. 

*  modernus  bedeutet  hier  bisweilen  nichts  anderes  als  neu  (modernus 
episcopus,  modernus  imperator),   auch  die  ältere  Bedeutung  aus  dem  Streit 

18* 


276  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

mehr  aber  die  Neuzeit  mit  dem  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  eine 
Selbständigkeit  und  ein  Selbstgefühl  gewann,  desto  stärker  mußte  es 
die  Gelehrten  drängen,  das  Eigne  deutlich  von  allem  Früheren  ab- 
zuheben und  damit  die  Weltgeschichte  anders  zu  ordnen  und  ein- 
zuteilen als  bisher  geschehen  war.  Es  ist  wohl  namentlich  der 
Aufschwung  der  Naturwissenschaften  und  die  Blüte  der  französischen 
Literatur  gewesen,  welches  der  damaligen  Zeit  das  Bewußtsein  verliehen, 
etwas  neues  und  allen  früheren  Zeiten  überlegenes  zu  sein.  Das  ergab 
vor  allem  den  Gegensatz  der  anciens  und  der  modernes.  Perraults  be- 
kanntes Buch:  Parallele  des  anciens  et  des  modernes  (1688  ff.) 
behandelt  die  Ausdrücke  schon  als  eingebürgert,  es  ist  aber  bezeich- 
nend für  das  Selbstgefühl,  welches  das  17.  Jahrhundert  in  seiner 
zweiten  Hälfte  erfüllte.^  War  einmal  der  Gegensatz  geschaffen, 
so  lagen  Reflexionen  über  die  eigentümliche  Art  des  Antiken  und 
des  Modernen  nahe;  wir  wissen,  wie  viel  Bewegung  das  hervor- 
gerufen und  wie  namentlich  Schiller  einer  näheren  Bestimmung  dieser 
Begriffe  hingebende  und  eindringende  Arbeit  gewidmet  hat. 

Andererseits  hatte  das  Moderne  sich  gegen  das  Mittelalterliche 
abzugrenzen,  und  dazu  mußte  der  Begriff  des  Mittelalters  selbst 
erst  gebildet  sein.  Das  aber  ist  spät  genug  geschehen.  Bernheim 
bemerkt  darüber  (a.  a.  O.  S.  69):  «Der  Bann  der  Tradition  dauerte 
trotz  einzelner  Angriffe  doch  noch  lange  fort.  Noch  ein  Sleidan, 
der  bekannte  Historiker  des  Zeitalters  Karls  V.,  nennt  seine  Chronik 
»De  quattuor  monarchiis"  und  hält  trotz  aller  von  ihm  aufgeführten 
Zeichen  der  Auflösung  des  heiligen  Römischen  Reiches  den  Glauben 
an  dessen  Fortbestehen  fest,  weil  eine  fünfte  irdische  Weltmonarchie 
nach  Daniels  Prophezeiung  unmöglich  sei.     Im  17.  Jahrhundert  kam 


der  logischen  Schulen  erhält  sich  (antiqui  et  modemi),  meist  aber  bezeichnet 
es  die  Anhänger  der  neuen  humanistischen  Denkart,  z.  B.  poetae  modemi; 
ex  quo  in  Erphordia  sumus  modemi ;  artista  de  via  modemomm.  Oft  findet 
sich  der  Ausdruck  nicht. 

^  Es  seien  aus  dem  ersten  Dialog  jenes  Werkes  nur  ein  paar  Stellen 
dafür  angeführt:  je  pretens  que  nous  avons  aujourd'hui  une  plus  parfaite 
connaissance  de  tous  les  arts  et  tous  les  sciences,  qu'on  ne  l'a  jamais  eue.  — 
Weiter  spricht  er  von  dem  progres  prodigieux  des  arts  et  des  sciences,  depuis 
cinquante  ou  soixante  ans.  Ferner:  il  ne  faut  que  lire  les  joumaux  de 
France  et  d'Angleterre  et  jetter  les  yeux  sur  les  beaux  ouvrages  des  academies 
de  ces  deux  grands  royaumes  pour  etre  convaincu  que  depuis  vingt  ou  trente 
ans  il  s'est  fait  plus  de  decouvertes  dans  la  science  des  choses  naturelles,  que 
dans  toute  l'etendue  de  la  savante  antiquite. 


Geschichte.  277 

man  zuerst  zu  einer  brauchbaren  Einteilung  des  Stoffes.  Nament- 
lich den  Philologen  und  Literaten  drängte  sich  das  Bedürfnis  auf, 
den  augenfälligen  Unterschied  zwischen  der  klassischen  und  mittel- 
alterlichen Sprache  und  Literatur  einerseits,  der  letzteren  und  der 
literarischen  Bildung  seit  der  Renaissance  andererseits  zum  stehenden 
Ausdruck  zu  bringen,  und  es  bildet  sich  so  die  Bezeichnung  media 
aetas  oder  medium  aevum  für  die  Literaturepoche  von  Augustus 
oder  von  den  Antoninen  bis  ins  15.  Jahrhundert.  Der  Hallenser 
Professor  Christoph  Cellarius  (1634 — 1707)  war  es,  der  in  seinen 
Kompendien  dieses  Einteilungsprinzip  auf  die  Geschichte  im  all- 
gemeinen anwandte,  indem  er  unterschied  Historia  antiqua  bis  zu 
Konstantin  dem  Großen,  und  zwar  so  weit,  nicht  nur  bis  Augustus, 
weil,  wie  er  ausdrücklich  erklärt,  die  innere  und  äußere  Blüte  des 
römischen  Reiches  noch  weit  über  A  o^ustus'  Zeit  hinausreicht;  Historia 
medii  aevi  bis  zur.  Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken; 
Historia  nova.  Und  diese  Einteilung  drang  allmählich,  wenngleich 
nicht' ohne  lebhaften  Widerstand,^  durch."  So  war  „modern"  auch 
dem  Mittelalter  gegenüber  abgegrenzt;  die  weiteren  Geschicke  des 
Ausdrucks  auf  dem  Boden  der  Neuzeit  zu  verfolgen,  das  würde  ins 
Unbegrenzte  führen  und  ist  für  unsere  Aufgabe  keineswegs  nötig. 
So  viel  haben  wir  gesehen,  daß  der  Ausdruck  „modern"  weit  weniger 


^  Wie  langsam  aie  Sache  sich  durchgesetzt  hat,  und  wie  sie  bis  zum 
heutigen  Tage  Streit  erweckte,  ist  wenig  bekannt.  Ein  Artikel  der  Revue 
des  deux  mondes  vom  15.  Januar  1907  über  den  hochverdienten  belgischen 
Historiker  Godefroid  Kurth  von  Georges  Goyau  bemerkt  über  das  Verhalten 
der  französischen  Akademie  zum  Ausdruck  Mittelalter  folgendes:  Les  cinq 
premieres  editions  du  dictionnaire  de  l'Academie  frangaise  contiennent  au 
mot  „moyen  age"  l'article  suivant:  „On  appelle  autheurs  du  moyen  äge  les 
autheurs  qui  ont  ecrit  depuis  la  decadence  de  l'empire  romain  jusque  vers 
le  X  siecle  ou  environ."  C'est  seulement  dans  la  6e  edition  (1835)  qu'on 
lit:  „Moyen  äge,  le  temps  qui  s'est  ecoule  depuis  la  chute  de  l'empire  romain, 
en  475,  jusqu'ä  la  prise  de  Constantinople,  par  Mahomet,  en  1453."  Kurth 
selbst  bekämpft  den  Begriff  und  Ausdruck  Mittelalter  sehr  entschieden.  In 
der  Schrift  Qu'est  ce  que  le  moyen  äge  tritt  er  dafür  ein,  einen  einzigen 
Hauptschnitt  mit  dem  Eintritt  des  Christentums  zu  machen,  und  so  behandelt 
sein  großes  Werk  Les  origines  de  la  civilisation  moderne  (3.  Aufl.  1898)  das 
Mittelalter  als  den  Beginn  der  modernen  Welt.  In  jener  kleineren  Schrift 
heißt  es:  Loin  que  le  moyen  äge  soit  intermediaire  entre  la  civilisation 
antique  et  la  civilisation  moderne,  le  moyen  äge  est  lui-meme  le  commence- 
ment  de  la  civilisation  moderne.  Loin  qu'il  faille  faire  descendre  le  point 
de  depart  de  celle-ci  aussi  bas  que  l'epoque  de  la  Renaissance,  il  faut  con- 
stater  au  contraire  qu'elle  sort  du  christianisme. 


278  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

modern  ist,   als  man  gewöhnlich  denkt,  und  daß  der  Begriff  sehr 
elastischer  Art  ist. 

Soviel  zur  Geschichte  des  Ausdrucks,  nun  einige  Worte  zur 
Sache!  Daß  der  Begriff  des  Modernen  so  viel  Bewegung  und  Streit 
hervorruft,  kommt  letzthin  darauf  zurück,  daß  es  zum  glücklichen 
Fortgang  der  Kulturarbeit  sowohl  eines  Festhaltens  des  Alten  als 
eines  Aufbringens  von  Neuem  bedarf.  Wir  würden  schwerlich  viel 
weiter  kommen,  wenn  wir  immer  von  neuem  beginnen  müßten, 
wenn  unsere  Arbeit  nicht  geeignete  Werkzeuge  und  leichteste  Bahnen 
zu  sicherem  Besitz  gewänne,  wenn  nicht  vieles,  was  zunächst  die 
volle  Anspannung  bewußter  Tätigkeit  fordert,  ins  Unbewußte  und 
Gewohnheitsmäßige  gebildet  würde  und  damit  freie  Zeit  für  vor- 
dringendes Schaffen  ließe.  Wie  nützlich,  ja  unentbehrlich  ist  z.  B. 
der  Philosophie  der  reiche  Schatz  von  Begriffen  und  Kunstaus- 
drücken, den  die  vereinte  Arbeit  von  Jahrtausenden  bereitet  hat! 
Aber  die  Sache  geht  noch  tiefer.  Was  an  Wahrheit  und  überhaupt 
an  geistigem  Gehalt  erreicht  wurde,  das  konnte  die  Überzeugung 
und  Hingebung  der  Menschen  nur  gewinnen,  indem  es  sich  über 
allen  Wandel  der  Zeit  hinaushob  und  alle  Veränderung  abwies; 
soweit  wir  Wahres  echter  Art  besitzen,  stehen  wir  über  dem  Fluß 
der  Zeit.     Solcher  Denkweise  entsprang  das  Wort: 

„Die  Wahrheit  war  schon  längst  gefunden, 
Hat  edle  Geisterschaft  verbunden; 
Das  alte  Wahre,  faß'  es  an!" 

Das  rechtfertigte  die  Hochschätzung  des  Alten  und  die  Forder- 
ung, die  eigne  Arbeit  eng  damit  zu  verketten,  allen  und  jeden 
schroffen  Bruch  zu  vermeiden.^ 


^  In  der  Philosophie  ergab  das  den  Gedanken  einer  philosophia  perennis, 
der,  schon  in  der  Scholastik  angelegt,  mit  besonderem  Nachdruck  von  Agostino 
Steuco  verfochten  wurde  (er  schrieb  de  perenni  philosophia  libr.  X,  Bas.  1542); 
Leibniz  nahm  den  Ausdruck  auf,  gab  ihm  aber  aus  der  Idee  einer  stetig  fort- 
schreitenden Entwicklung  einen  veränderten  Sinn.  Neuerdings  hat  namentlich 
Trendelenburg,  wiederum  in  einer  eigentümlichen  Weise,  den  Gedanken  der 
Stetigkeit  der  philosophischen  Arbeit  verteidigt:  «Die  Philosophie",  so  sagt  er, 
»wird  nicht  eher  die  alte  Macht  wieder  erreichen,  als  bis  sie  Bestand  gewinnt, 
und  sie  wird  nicht  eher  zum  Bestände  gelangen,  als  bis  sie  auf  dieselbe  Weise 
wächst  wie  die  anderen  Wissenschaften  wachsen,  bis  sie  sich  stetig  entwickelt, 
indem  sie  nicht  in  jedem  Kopfe  neu  ansetzt  und  wieder  absetzt,  sondern  ge- 
schichtlich die  Probleme  aufnimmt  und  weiterführt"  (Vorwort  zur  2.  Aufl.  der 
Log.  Untersuchungen,  S.  Vlll). 


Geschichte.  279 

Aber  der  Vertreter  des  Neuen  hat  dem  manches  entgegenzu- 
halten. Geistiges  überträgt  sich  nicht  so  einfach  von  der  einen  Zeit 
zur  anderen,  wie  äußere  Dinge  es  tun,  es  will  immer  von  neuem 
angeeignet  und  anerkannt  sein,  und  in  der  Aneignung  wird  eine 
gewisse  Verschiebung  sich  schwerlich  vermeiden  lassen.  Auch  wo 
der  äußere  Bestand  derselbe  bleibt,  wird  sich  leicht  das  Ver- 
hältnis und  die  Bewertung  der  einzelnen  Teile  verändern,  man  wird 
in  dem  Alten  etwas  anderes  sehen  und  etwas  anderes  an  ihm  zur 
Hauptsache  machen.  Dazu  kom.men  neue  Lagen  und  stellen  neue 
Probleme;  der  Mensch  kann  diesen  nicht  gewachsen  werden  ohne 
auch  innerlich  weiterzustreben;  Kulturen  leben  sich  aus,  neue  Völker 
erscheinen  mit  neuer  seelischer  Art;  sollte  das  alles  den  Stand  des 
Geisteslebens  gar  nicht  berühren?  Ist  ferner  zweifellos  ausgemacht, 
daß  das  überkommene  Leben  in  unantastbarer  Wahrheit  steht,  und 
daß  der  eingeschlagene  Weg  uns  gerade  zum  Ziele  führt?  Ja  gibt 
es  ein  wahrhaftiges  Leben  ohne  ein  eignes  Entscheiden,  und  ein 
eignes  Entscheiden  ohne  Zweifel  und  Kampf,  ohne  ein  Umwandeln 
und  Weiterbilden? 

Was  an  Verschiebungen  erfolgt,  mag  zunächst  innerhalb  einer 
unantastbaren  Welt  zu  liegen  scheinen,  ja  die  Veränderung  wird  lange 
Zeit  hindurch  überhaupt  nicht  empfunden.  Dann  aber  kommt  ein 
Punkt,  wo  die  Spannung  übergroß  und  eine  Losreißung  vom  Alten 
für  die  Frische  und  die  Wahrhaftigkeit  des  Lebens  unerläßlich  wird, 
wo  die  geistige  Selbsterhaltung  einen  Bruch  mit  der  Tradition  und 
ein  Schaffen  aus  unmittelbarer  Gegenwart  zwingend  verlangt.  Ob 
und  wann  solche  Umwälzungen  nötig  werden,  darüber  kann  allein 
die  Erfahrung  der  Geschichte  belehren,  sie  zeigt  sie  aber  jedem 
Unbefangenen  deutlich  genug.  Denn  eine  solche  Umwälzung,  viel- 
leicht die  radikalste  von  allen,  bildet  das  Eintreten  des  Christen- 
tums mit  seiner  von  Grund  aus  neuen  Schätzung  der  Dinge;  das 
gute  Recht  ainer  solchen  Umwälzung  dürfen  auch  die  Reformation 
und  die  neue  Wissenschaft  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Das 
religiöse  Leben  der  Neuzeit  hätte  seine  Kraft  und  seine  Innerlichkeit 
nicht  gefunden  ohne  ein  selbständiges  Neueinsetzen  und  ein  Hervor- 
brechen ursprünglicher  Kräfte,  ebenso  wenig  hätte  die  neue  Wissen- 
schaft mit  ihren  völlig  neuen  Ausgangspunkten  und  Methoden  sich 
allmählich  aus  der  Scholastik  heraus  gestalten  können.  Das  mensch- 
liche Leben  bedarf  gewiß  einer  Kontinuität,  aber  nicht  minder  be- 
darf es  einer  Diskontinuität,   um   in  frischem  Fluß  zu  bleiben  und 


280  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

seine  ganze  Tiefe  entfalten  zu  können.  Nur  das  kann  bei  den  Be- 
wegungen Sache  des  Streites  sein,  ob  in  ihr  geistige  Notwendigkeiten 
wirken  und  walten,  oder  ob  dabei  nur  ein  menschliches  Bedürfnis 
nach  Abwechslung  in  Frage  steht. 

Das  nämlich  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  nicht  alle  Wandlung  aus 
solchen  geistigen  Notwendigkeiten  entspringt,  daß  im  menschlichen 
Dasein,  namentlich  im  gesellschaftlichen  Zusammenleben,  auch  ein 
mehr  subjektives  Müdewerden  des  Menschen  am  Alten,  ein  Be- 
dürfnis nach  Veränderung  wirkt,  wie  es  besonders  greifbar  die  Tat- 
sache der  Mode  zeigt.  Dabei  entfernen  die  Zeiten  sich  weit  von- 
einander, die  einen  fühlen  sich  wohl,  indem  sie  ruhig  die  alten 
Wege  verfolgen,  andere  zeigen  eine  eigentümliche  Unruhe,  ein  Un- 
behagen an  allem,  was  vorgefunden  wird,  eine  Vorliebe  für  alles, 
was  an  Neuem  sich  regt.  Diese  verschiedene  Art  hängt  sicherlich 
auch  mit  dem  Stande  des  Geisteslebens  zusammen,  jene  Unruhe 
bezeugt  eine  Kluft  zwischen  inneren  Notwendigkeiten  und  äußerem 
Besitz,  aber  solcher  Lage  bemächtigt  sich  leicht  die  Neuerungssucht 
des  bloßen  Menschen  und  entwickelt  eine  Neigung,  das  Alte  zu  ver- 
werfen, weil  es  alt,  das  Neue  zu  feiern,  weil  es  neu  ist. 

Demnach  giU  es  zwischen  Modernem  echter  und  unechter  Art 
zu  scheiden,  einem  Modernen,  in  dem  eine  geistige  Notwendigkeit 
wirkt,  und  einem  Modernen,  das  bloßmenschlicher  Lust  und  Laune 
sein  Dasein  verdankt.  Grundverschieden  sind  die  Wirkungen  und 
Aussichten  beider.  Erzeugt  die  Bewegungen  nur  ein  Verlangen  der 
Menschen  nach  Veränderung,  ein  Hin-  und  Herschwanken  der 
Stimmung,  so  mögen  sie  die  Oberfläche  noch  so  sehr  erregen,  sie 
dringen  nicht  durch  bis  zur  Tiefe  und  gewinnen  keine  Kraft  des 
Schaffens,  derselbe  Wind,  der  sie  brachte,  wird  sie  bald  auch  wieder 
verwehen,  und  der  rasche  Wechsel,  der  leicht  die  Menschen  von 
einem  Extrem  ins  andere  umschlagen  läßt,  muß  schließlich  eine 
starke  Ermüdung  bewirken;  traurig  das  Leben  des  Menschen  wie 
der  Zeit,  das  an  solchem  Modernen  haftet. 

Völlig  anders  steht  es,  wenn  ein  Modernes  echter  Art  eine 
Wendung  des  weltgeschichtlichen  Lebens  vertritt  und  ihrem  Wahr- 
heitsgehalt zur  Anerkennung  verhelfen  möchte.  Denn  dann  trägt  sie 
in  sich  eine  geistige  Notwendigkeit,  deren  Durchdringen  für  die 
Dauer  kein  Widerstand  zu  hindern  vermag.  In  einem  Modernen 
solcher  Art  wohnt  eine  wunderbare  Kraft.  Scheinbar  vereinzelte 
und  zerstreute  Vorgänge  weisen  dann  nach  derselben  Richtung,  die 


Geschichte.  281 

neue  Denkweise,  der  Geist  der  Zeit  ergreift  die  verschiedensten  Ge- 
biete, findet  einen  Weg  in  die  entlegensten  Winkel  und  übt  auch 
an  dem  eine  Wirkung,  der  sich  als  einen  schroffen  Gegner  fühlt. 
Eingewurzelte  Meinungen,  ja  selbstische  Interessen  verlieren  ihre 
Macht  gegenüber  einer  solchen  Bewegung.  —  Schwierigkeit  macht 
nur,  daß  im  nächsten  Anblick  der  Dinge  Echtes  und  Unechtes  wirr 
durcheinanderzugehen  pflegt,  daß  der  eine  mit  der  Abweisung 
des  Flachmodernen  auch  die  geistige  Bewegung  der  Zeiten  glaubt 
verneinen  zu  dürfen,  während  der  andere  das  Recht  des  Fort- 
schrittsgedankens auch  für  das  Erzeugnis  flüchtigster  Lage  und 
Laune  in  Anspruch  nimmt.  Der  Freund  des  Alten  pflegt  sich  dann 
als  Vertreter  der  Ordnung,  der  des  Neuen  als  Vertreter  der  Freiheit 
zu  fühlen,  jener  dünkt  sich  moralisch,  dieser  intellektuell  überlegen, 
jener  glaubt  besonders  das  Interesse  der  Gesellschaft,  dieser  das  des 
Individuums  zu  wahren.  Dabei  trägt  die  Sache  in  sich  selbst  eine 
eigentümliche  Dialektik.  Was  alt  ist,  war  einst  neu;  auch  Thomas 
von  Aquino  galt  einst  als  «modern";  was  heute  neu  ist,  wird  ins 
Alter  kommen  und  sich  eines  anderen  erwehren  müssen.  Das 
Moderne,  das  aufstrebt,  zieht  einen  guten  Teil  seiner  Kraft  aus  seiner 
oppositionellen  Stellung;  im  Siege  büßt  es  diese  ein  und  gerät  in 
Nachteil  gegen  neue  Bildungen. 

Die  Verwicklung,  die  aus  solchem  Kampfe  hervorgehen  kann, 
hat  in  der  Gegenwart  eine  besondere  Höhe  erreicht.  Auf  der  einen 
Seite  findet  sich  der  hartnäckigste  Widerstand  gegen  alles  Neue,  ihn 
vertritt  vornehmlich  eine  große  Weltmacht,  das  römische  System, 
das  sich  dem  Worte  nach  katholisch  nennt,  das  aber  in  der  Sache 
so  unkatholisch  wie  möglich  ist.  Denn  es  setzt  allen  Eifer  daran, 
die  Bewegung  der  Menschheit  in  partikulare  Bahnen  zu  leiten  und 
bei  einer  mittelalterlichen  Gestalt  endgültig  festzulegen.  Andererseits 
aber  erscheint  die  weiteste  Verbreitung  eines  Flachmodernen,  die 
neueste  Gestaltung  des  Kulturlebens  leistet  ihr  den  vielfachsten  Vor- 
schub. Das  Tempo  des  Lebens  hat  sich  in  unheimlicher  Weise  be- 
schleunigt, immer  mehr  Menschen  drängen  sich  in  die  Groß-  und 
Weltstädte  zusammen;  was  dort  zu  Gehör  kommen  will,  muß  dreist, 
laut,  ja  schreiend  auftreten,  er  muß  Neues,  Prickelndes,  Unerhörtes 
zu  bringen  scheinen.  Neues,  dem  sich  keiner  entziehen  darf,  der 
sich  auf  der  «Höhe  der  Bildung"  fühlt.  So  ein  Sichüberspannen 
und  Überbieten  des  Neuen,  ein  Schätzen  des  Neuen,  bloß  weil  es  neu 
ist,  mag  es  an  sich  noch  so  leer  oder  töricht  sein,  dabei  unendlich 


282  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

viel  eitler  Schein,  eine  Abneigung  gegen  allen  Ernst  und  alle  Tiefen 
des  Lebens,  eine  Lust  an  keckem  Verneinen,  alles  in  allem  eine 
elende  Talmikultur,  ein  Versuch  des  Bildungspöbels,  die  geistige 
Bewegung  der  Menschheit  unter  sich  zu  bringen  und  sich  zum 
Richter  über  gut  oder  böse,  wahr  oder  unwahr  zu  machen. 

So  wird  das  Moderne  echter  Art  unmöglich  vordringen  können, 
ohne  sich  von  derartigem  Flachmodernen  aufs  allerschärfste  zu 
scheiden  und  einen  heftigen  Kampf  dagegen  aufzunehmen.  Sein 
eignes  Recht  aber  können  die  Verirrungen  des  Flachmodernen  nicht 
im  Mindesten  antasten.  Unsere  Zeit  ist,  so  zeigt  es  auch  der  Ge- 
samtverlauf unserer  Untersuchung,  so  geartet,  daß  sie  nicht  über- 
kommene Bahnen  ruhig  weiterverfolgen  kann,  sondern  daß  sie  in 
energischer  Selbstbesinnung  und  Selbstvertiefung  des  Lebens  neue 
zu  suchen  hat;  eine  solche  Lage  stempelt  allen  willfährigen  An- 
schluß an  das  Alte  zu  einem  bloßen  und  unfruchtbaren  Epigonen- 
tum; für  uns  gilt  es  auf  uns  selber  zu  stehen  und  den  geistigen 
Notwendigkeiten,  die  jetzt  aufstreben,  einen  offnen  Weg  zu  schaffen. 
Dann  wird  sich  mit  frischer  und  freudiger  Ergreifung  der  Gegen- 
wart ein  Festhalten  ewiger  Wahrheit  verbinden  lassen,  dann  wird 
das  eine  das  andere  zu  fördern  vermögen. 


3.  Gesellschaft  und  Individuum. 

(Sozialismus.) 

a)  Das  Verhältnis  von  Gesellschaft  und  Individuum. 

a.  Geschichtliches. 

t^eim  Problem  der  Gesellschaft  steht  es  heute  ähnlich  wie  bei 
*-^  dem  der  Geschichte.  Das  19.  Jahrhundert  hat  einen  Rückschlag 
gegen  die  Aufklärung  gebracht,  dieser  aber  hat,  obschon  noch  in 
voller  Wirkung,  einen  neuen  Rückschlag  hervorgerufen;  so  durch- 
kreuzren  sich  Wirkungen  mit  Gegenwirkungen  und  erzeugen  eine 
höchst  verworrene  Lage;  sich  ihr  7u  entwinden  wird  keineswegs 
leicht  sein. 

Einige  Worte  seien  zunächst  den  Ausdrücken  gewidmet,  soweit 
sie  eine  Aufklärung  fordern.  Individuum  und  Individualität  sind 
ältere  Bildungen,  aber  die  Neuzeit  erst  hat  sie  weiteren  Kreisen  zu- 
geführt. Individuum  hieß  anfänglich  etwas,  das  sich  nicht  teilen  oder 
trennen  läßt;  so  ist  bei  Cicero  Individuum  eine  Übersetzung  von 
(XTOftov.  Dieser  Sinn  überwiegt  wie  im  späteren  Altertum^  so  im 
Mittelalter;  die  älteste  deutsche  Übersetzung  (bei  Notker)  ist  «un- 
spaltig."  Aber  schon  dem  Ausgang  des  Altertums  bedeutet  indivi- 
duum  auch  das  Einzelne  als  einzigartiges,  von  anderem  unterschiedenes, 
in  seiner  Besonderheit  nur  einmal  vorhandenes;-  das  Mittelalter  ver- 


'  So  z.  B.  Seneca  de  provid.  5:  quaedam  separari  a  quibusdam  non 
possunt,  cohaerent,  individua  sunt. 

'^  Bemerkenswert  ist  hier  namentlich  der  höchst  einflußreiche  Boethius, 
aus  dessen  Kommentar  tu  Porphyrius  (edit.  Bas.  1570,  pag.  65)  folgende  Stelle 
angeführt  sein  mag:  Individuum  autem  pluribus  dicitur  modis.  Dicitur  In- 
dividuum quod  omnino  secari  non  potest,  ut  unitas  vel  mens;  dicitur  In- 
dividuum quod  ob  soliditatem  dividi  nequit,  ut  adamas;  dicitur  Individuum 
(üujus  praedicatio  in  reliqua  similiü  non  convenit,  ut  Socrates:  nam  cum  illi 
sunt  caeteri  homines  similes,  non  convenit  proprietas  et  praedicatio  Socratis 
in  caeteris,  ergo  ab  iis  quae  de  uno  tantum  praedicantur  genus  differt,  eo 
quod  de  pluribus  praedicetur.    Bei  Porphyrius  lautet  die  Hauptstelle  (siehe 


284  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

wendet  diese  Bedeutung  weiter  und  prägt  auch  (jedenfalls  schon  im 
1 2.  Jahrhundert)  die  Ausdrücke  individualis  und  individualitas.  Dem 
allgemeinen  Leben  führt  diese  erst  Leibniz  zu,  auch  hier  ein  Ver- 
mittler alter  und  neuer  Zeit. 

Die  Anfänge  der  Kultur  zeigen  das  Individuum  als  ein  Stück 
einer  engeren  oder  weiteren  Gemeinschaft,  das  in  seinem  Tun  und 
Lassen  durch  solchen  Zusammenhang  wesentlich  bestimmt  wird.  Die 
Weiterbewegung  des  Lebens  pflegt  das  Individuum  mehr  und  mehr 
zu  verstärken,  es  gewinnt  an  Selbständigkeit,  es  beginnt  nach  einem 
Recht  der  überkommenen  Ordnung  zu  fragen  und  ihre  Vernunft  zu 
bezweifeln,  die  Sache  gelangt  endlich  an  einen  Punkt,  wo  das  In- 
dividuum alle  Bindung  abzuwerfen  sucht  und  die  eigne  Meinung 
zum  Maßstab  der  Wahrheit,  das  eigne  Wohl  zum  Ziel  des  Handelns 
macht.  Das  erscheint  solchen,  die  auf  den  Stand  des  Ganzen  bedacht 
sind,  als  eine  verderbliche  Zerstörung;  so  wird  von  ihnen  ein  kräftiger 
Widerstand  geleistet  und  der  Versuch  unternommen,  das  Individuum 
bei  Zuerkennung  eines  gewissen  Rechtes  wieder  einem  Zusammen- 
hange einzufügen  und  für  seine  Ziele  zu  gewinnen;  geistige  Arbeit  soll 
wiederherstellen,  was  als  natürlicher  Besitz  verlören  ging.  Zu  solchem 
Zweck  der  Wiedereinfügung  des  Individuums  ward  zunächst  der  Be- 
griff des  Organismus  verwandt,  mit  dem  wir  uns  schon  befaßten. 
Er  scheint  besonders  geeignet,  die  Ansprüche  des  Einzelnen  und  der 
Gemeinschaft  glücklich  miteinander  auszugleichen.  Denn  im  leben- 
digen Körper  ist  jedes  Glied  um  so  wertvoller  für  das  Ganze,  je 
kräftiger  es  sich  in  seiner  Eigentümlichkeit  ausbildet.  Das  Ganze 
aber  steht  um  so  höher,  je  differenzierter  seine  Teile  sind.  Das 
freilich  bildet  eine  unüberschreitbare  Grenze,  daß  alle  Betätigung  der 
Glieder  innerhalb  des  Ganzen  zu  verbleiben  hat,  daß  das  einzelne 
Glied  aus  allem  Leben  und  aller  Gestaltung  herausfällt,  sobald  es 
vom  Ganzen  sich  ablöst.  So  duldet  diese  organische  Fassung 
kein  Recht  des  Einzelnen  gegen  das  Ganze.  Wird  diese  Lehre 
auf  das  Weltall  übertragen,  wie  es  mit  voller  Bewußtheit  zuerst 
von   der   Stoa    geschah,    so   mag    es   ein   besonderer   Vorzug   der 


Prantl,  Gesch.  der  Logik  l.  629):  axop-a  Xe^e-cat  -zä  Toiaüx«,  oti  I?  JStoxrJTwv 
ouv£(rn|xev  ?xa(JTOv,  wv  to  a'9-potajjia  oux  av  in  i'XXou  Ttvo?  izore  ro  auTo  yivoixo 
Twv  xaxä  (le'po?.  Diese  Definition  geht  durch  die  Kette  der  Jahrhunderte  bis 
zu  Leibniz,  noch  Jakob  Thomasius,  sein  Lehrer,  definierte:  Individuum  est 
quod  constat  ex  proprietatibus  quarum  collectio  numquam  in  alio  eadem 
esse  potest. 


Gesellschaft  und  Individuum.  285 

Einrichtung  dünken,  daß  auch  in  den  kleinsten  Dingen  nicht  zweies 
einander  völlig  gleicht,  daß  nicht  zwei  Haare,  zwei  Körner,  zwei 
Blätter  gänzlich  zusammenstimmen.  ^ 

Zu  dieser  organischen  Lösung  des  Problems  aber  gesellt  sich 
eine  hierarchische,  die,  dem  Ausgang  der  griechischen  Philosophie  ent- 
sprungen, ^  auf  dem  Boden  des  Christentums  und  im  Mittelalter  zur 
vollen  Entfaltung  gelangt  ist  und  noch  heute  mächtige  Wirkungen  übt. 
Hier  erscheint  das  All  als  eine  fortlaufende  Stufenfolge,  bei  der  sich 
das  Leben  von  oben  her  in  sicherem  Fortgang  nach  unten  mitteilt; 
jede  Stelle  hat  von  der  nächsthöheren  zu  empfangen,  um  das  Emp- 
fangene der  niederen  zuzuführen.  Auch  hier  hat  jeder  Teil  einen 
eigentümlichen  Wert  und  ein  eigentümliches  Werk,  aber  er  hat 
sie  nur  im  Gefüge  des  Ganzen;  er  fällt  ins  Leere,  sobald  er  sich 
davon  losreißt  Dieser  Gedankengang  hat  eine  geschichtliche  Ver- 
körperung nicht  nur  in  der  kirchlichen  Hierarchie,  sondern  auch  in 
der  mittelalterlichen  Lehnsordnung  gefunden,  indem  hier  jede  Gewalt 
als  von  einem  Höheren  an  den  Niederen  verliehen  gilt. 

Die  organische  wie  die  hierarchische  Fassung  lassen  dem  Indivi- 
duum allen  Wert  aus  dem  Verhältnis  zum  Ganzen  kommen,  ein 
Wert  für  sich  selbst  wird  ihm  abgesprochen.  Einen  solchen  gewährt 
ihm  erst  die  Fassung,  die  sich  als  die  mikrokosmische  bezeichnen 
läßt.  Hier  wird  das  Individuum  aus  einem  bloßen  Stück  der  Welt 
zum  Ganzen  einer  Welt,  zu  einer  eigentümlichen  Konzentration  der 
Wirklichkeit,  zu  einer  Stätte,  wo  die  Unendlichkeit  des  Lebens  un- 
mittelbar gegenwärtig  ist.  Das  All  wird  damit  eine  Welt  von  Welten, 
es  entzieht  sich  aller  umgrenzenden  Zusammenfassung.  Auch  dieses 
Bild  entstammt  dem  spätesten  Altertum,  wiederum  ist  es  Plotin, 
der  dabei  voransteht.  Bei  ihm  zuerst  erscheint  mit  voller  Klarheit 
der  Gedanke,  daß  jeder  Mensch  eine  eigne  Welt  bedeute  und  das  All 
eigentümlich  spiegle,  «jeder  einzelne  sind  wir  eine  geistige  Welt.« 
Vom  Neuplatonismus  aus  ist  auch  der  Ausdruck  Mikrokosmos,  der 
bis  auf  Demokrit  und  Aristoteles  zurückreicht,  erst  recht  in  Um- 
lauf gekommen.  Im  Mittelalter  hat  namentlich  die  mystische  Speku- 
lation jene  Gedanken  festgehalten,  von  hier  kam  er  durch  verschie- 
dene Zwischenglieder  (Nikolaus  von  Kues,  Giordano  Bruno)  an  die 


^  S.  Cicero  acad.  quaest.  II;  dicis  nihil  idem  quod  sit  aliud;  Stoicum 
est  quidem  nee  admodum  credibile,  nullum  esse  pilum  omnibus  rebus  talem, 
qualis  sit  pilus  alius,  nullum  granum  etc. 

'  Am  meisten  hat  dafür  Plotin  gewirkt. 


286  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

moderne  Philosophie,  um  in  Leibnizens  Monadenlehre  eine  präzisere 
Gestalt  zu  gewinnen.  In  engem  Zusammenhange  damit  steht  die 
hohe  Schätzung  von  Individualität  und  Persönlichkeit  in  unserer 
klassischen  Literatur.  So  führt  auch  hier  eine  fortlaufende  Kette 
vom  Ausgang  des  Altertums  bis  zur  Höhe  der  Neuzeit. 

Zwischen  der  organischen  und  der  hierarchischen  Fassung  einer- 
seits, der  mikrokosmischen  andererseits  besteht  ein  voller  Gegensatz, 
der  einen  Kampf  unvermeidlich  macht.  Dort  ist  das  Individuum 
ein  bloßes  Glied,  hier  ist  es  ein  selbständiges  Ganzes,  dort  hat  es 
an  den  geistigen  Gütern  nur  durch  die  Vermittlung  einer  Gemein- 
schaft teil,  hier  vermag  es  sie  unmittelbar  bei  sich  selbst  zu  erreichen. 
Damit  muß  auch  der  Inhalt  des  Lebens  grundverschieden  aus- 
fallen. Dort  wird  zur  Hauptsache  die  Leistung  für  die  Gemein- 
schaft, hier  die  Entfaltung  des  Individuums  selbst  in  seiner  Inner- 
lichkeit. Auch  die  Gemeinschaft  wird  hier  ihre  Gestalt  und  ihre 
Kraft  erst  von  den  Individuen  empfangen  und  ihnen  nie  als  Selbst- 
zweck entgegentreten  dürfen.  Es  wird  aber  bei  solcher  Befreiung 
das  Individuum  seinem  Leben  einen  bedeutenden  Inhalt  vornehm- 
lich durch  ein  unmittelbares  Verhältnis  zur  Utiendlichkeit,  zu  den 
schaffenden  Quellen  des  Lebens,  geben,  sei  es,  daß  sich  das  mehr 
wissenschaftlich  oder  mehr  künstlerisch  oder  mehr  religiös  gestaltet. 
So  verschlingt  sich  mit  dem  Kampf  zwischen  Individuum  und  Ge- 
sellschaft das  Problem,  ob  wir  die  Hauptaufgabe  unseres  Lebens 
mehr  beim  menschlichen  Zusammensein  oder  im  Verhältnis  zum 
All  zu  suchen  haben,  ob  an  erster  Stelle  eine  soziale  oder  eine  kos- 
mische Lebensführung  zu  erstreben  ist.  Diese  Fragen  durch  den 
Wandel  der  Zeiten  zu  verfolgen,  ist  hier  nicht  wohl  möglich;  wenden 
wir  uns  daher  sofort  zur  Lage  und  Stimmung  der  Gegenwart. 

Es  unterliegt  aber  unsere  Zeit  dem  Einfluß  dreier  Strömungen 
von  verschiedener  Stärke  und  Breite:  es  sind  das  die  Gesamtbewegung 
der  Neuzeit  zum  Individuum,  der  Rückschlag  des  19.  Jahrhunderts 
zu  gunsten  der  Gesellschaft,  die  Wiederbelebung  des  Individualismus 
gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts. 

Die  Emanzipation  des  Individuums  ist  wohl  der  hervorstechendste 
Zug  des  gesamten  modernen  Lebens.  Der  Einzelne  erstrebte  und 
gewann  dabei  sowohl  ein  unmittelbares  Verhältnis  zur  Gottheit  und 
zum  All,  als  eine  selbständige  Stellung  gegenüber  dem  sozialen 
Ganzen.  Allmählich  hat  sich  das  von  der  Renaissance  und  von  der 
Reformation  aus  über  das  ganze  Dasein  verbreitet,  sich  immer  tiefer 


Gesellschaft  und  Individuum.  287 

darin  eingegraben,  es  durchgängig  frischer,  kraftvoller,  bewegter 
gemacht.  Wie  die  neue  Wissenschaft  in  ihre  aufsteigende  Bahn  nur 
gekommen  ist  unter  Zerlegung  der  überkommenen  Größen,  wie  Zeit, 
Raum,  Masse  u.  s.  w.,  in  diskrete  Elemente,  so  ist  auch  dem  modernen 
Leben  eine  wachsende  Selbständigkeit  und  Sonderung  der  Individuen 
wesentlich.  Von  der  Behandlung  der  innerlichsten  Fragen  bis  zu 
den  Äußerlichkeiten  von  Sitte  und  Verkehr^  hat  sich  das  immer 
mehr  durchgesetzt.  Es  will  das  keineswegs  alle  gegenseitige  Beziehung 
aufheben,  aber  die  Verbindung  soll  den  Individuen  nicht  von  draußen 
her  aufgedrängt  werden,  sondern  aus  ihrer  eignen  Entscheidung 
und  freien  Vereinbarung  hervorgehen.  Noch  weniger  bedeutet  die 
Individualisierung  des  Daseins  einen  Verzicht  auf  alle  inneren  Zu- 
sammenhänge. Vielmehr  ist  auf  der  Höhe  der  geistigen  Arbeit,  bei 
Männern  wie  Luther  und  Kant,  das  Selbständigwerden  des  Menschen 
gegen  die  Menschen  nur  die  eine  Seite  des  Lebensprozesses,  dessen 
andere  die  unbedingte,  aber  freie  Unterwerfung  unter  unsichtbare 
Gewalten  bildet..  Wer  solche  Männer  als  Verfechter  bloßer  Willkür 
lobt  oder  tadelt,  der  zeigt  nur  wie  wenig  er  den  Kern  der  Sache 
erfaßt  hat. 

Im  breiteren  Strome  der  Zeit  ist  die  Sache  minder  frei  von 
Verwicklungen  und  Bedenken.  In  Deutschland  gewann  die  Bewegung 
zum  Individuum  seit  der  Sturm-  und  Drangzeit  vorwiegend  einen 
künstlerisch-literarischen  Charakter;  wie  das  Individuum  jener  Zeit 
sich  durch  künstlerisches  Schaffen  über  den  Durchschnitt  hinaushob 
und  als  »Genie"  allem  «Philistertum"  weit  überlegen  fühlte,  so  hat 
sich  öfter  die  selbstbewußte  Erhebung  des  künstlerischen  Individuums 
wiederholt.  So  zunächst  in  der  Romantik,  welche  eben  darin  die 
Größe  des  Menschen  fand,  eine  Individualität  zu  sein  (Schleiermacher), 
und  in  Überspannung  dieser  Denkweise  das  unumschränkte  Recht 
der  «unendlich  freien  Subjektivität"  verkündete,  zugleich  geneigt  Kunst 
und  Wissenschaft  dem  politischen  Leben  weit  voranzustellen,-  ähn- 


'^  Z.  B.  findet  Ihering  (Der  Zweck  im  Recht  II,  S.  43Q)  bei  der  ästhetischen 
Gestaltung  des  gem.einsamen  Mahles  einen  höchst  beachtenswerten  Fortschritt 
der  modernen  Zeit  gegenüber  der  Vergangenheit  in  der  »Erhebung  vom 
Kommunismus  zum  Individualismus".  Während  früher  die  Geräte  der  Tisch- 
genossen gemeinsam  waren,  erhält  sie  heute  jeder  für  sich  allein  zu  aus- 
schließlichem Gebrauch. 

'  Bezeichnend  dafür  sind  die  Worte  Fr.  Schlegels:  „Nicht  in  die  poli- 
tische Welt  verschleudere  du  Glauben  und  Liebe,  aber  in  der  göttlichen  Weil 


288  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens, 

liehe  Erscheinungen  zeigt  später  das  junge  Deutschland,  zeigt  der 
heutige  Individualismus.  Die  Hochschätzung  des  Individuums  teilt 
unsere  klassische  Zeit,  und  die  leitenden  Pädagogen,  Pestalozzi  wie 
Herbart,  übertragen  diese  Denkweise  auf  die  Erziehung.  ^  Aber  hier 
strebt  das  Individuum  nicht  zur  Selbständigkeit  auf,  um  in  einem 
Gegensatz  zur  Welt  und  sozialen  Umgebung  zu  bleiben  und  sich 
in  das  Bewußtsein  stolzer  Überlegenheit  einzuspinnen,  sondern  es 
kehrt  freudig  dorthin  zurück,  dehnt  seinen  Lebenskreis  weiter  und 
weiter  aus,  wächst  schließlich  in  Versöhnung  mit  aller  Umgebung 
zur  weltumspannenden  Persönlichkeit  So  stellt  es  namentlich  die 
geistige  Art  und  das  Lebenswerk  Goethes  vor  Augen, 

Der  erste  Widerstand  gegen  den  Vorrang  des  Individuums  ent- 
sprang dem  Idealismus  selbst,  indem  der  Gedanke  eines  weltum- 
spannenden, durch  seine  eigne  Bewegung  getriebenen  Prozesses  den 
Schwerpunkt  des  menschlichen  Daseins  von  den  Individuen  in  das 
Ganze  der  Menschheit  verlegte.  Dann  aber  kam  der  Realismus  mit 
seiner  Wendung  zur  anschaulichen  Welt.  Damit  erschien  eine  un- 
absehbare Fülle  von  Aufgaben,  deren  Lösung  eine  Verbindung  der 
zerstreuten  Kräfte  verlangte,  die  Menschen  aus  der  bisherigen  Ver- 
einzelung heraus  zu  engerem  Zusammenschluß  trieb  und  ein  Arbeiten 
in  Reih  und  Glied  ihnen  auferlegte.  Dahin  wirkte  das  Verlangen 
politischer  Freiheit,  das  Streben  nach  einer  von  eigner  Kraft  und 
Gesinnung  der  Bürger  getragenen  Ordnung,  dahin  die  Ausbildung 
nationaler  Kreise,  die  alle  Individuen  mit  überlegener  Art  umspannen 
und  zu  großen  Aufgaben  verbinden,  dahin  der  ungeahnte  Aufschwung 
der  Technik,  der  die  Verkettungen  der  Arbeit  ausdehnt  und  die 
Arbeiter  fester  zusammenhält,  dahin  endlich  das  moderne  Wirtschafts- 
leben mit  seinen  Riesenbetrieben,  seiner  Erzeugimg  schroffer  Gegen- 
sätze, seiner  Ansammlung  gewaltiger  Massen.  Auch  die  moderne 
Beschleunigung  des  Lebens,  das  Einandernäherrücken  der  Menschen, 


der  Wissenschaft  und  der  Kunst  opfere  dein  Innerstes  in  den  heiligen  Feuer- 
strom ewiger  Bildung". 

*  Namentlich  Pestalozzi  verficht  mit  großer  Energie  die  Überlegenheit 
des  Individuellen  gegen  das  bloß  Kollektive,  er  spottet  über  „Kollektivhand- 
lungen", über  ein  „Kollektivgewissen",  über  „R^mentsbekenntnisse"  und 
meint :  „Die  kollektive  Existenz  unseres  Geschlechts  kann  dasselbe  nur  zivili- 
sieren, sie  kann  es  nicht  kultivieren"  (Wke.  XII,  154).  Hier  muß  immer  der 
große  Einfluß  Rousseau's  gegenwärtig  sein,  der  für  das  Ganze  des  Lebens 
zuerst  den  Gegensatz  von  Individuum  und  Gesellschaft  mit  voller  Klarheit 
herausgestellt  hat. 


Gesellschaft  und  Individuum.  289 

die  tausendfache  Verschlingung  der  Lebenskreise  trägt  viel  dazu  bei, 
die  individuellen  Züge  abzuschleifen  und  der  Summierung  zu  Massen- 
erscheinungen eine  überwältigende  Macht  zu  verleihen.  Im  Zeitalter 
der  Presse,  der  Telegraphen  und  Eisenbahnen  bildet  sich  rascher 
eine  öffentliche  Meinung  und  gewinnt  sie  eine  größere  Stärke;  sie 
umfängt  das  Individuum  schon  in  seinem  Werden  und  läßt  ihm  so 
als  eignes  Werk  erscheinen,  was  in  Wahrheit  die  Umgebung  ihm 
zugeführt  hat. 

Endlich  steigert,  empfangend  und  zurückwirkend,  auch  die  Theorie 
die  Abhängigkeit  des  Individuums.  Denn  die  neuere  Gesellschafts- 
lehre, die  „Soziologie"  (Comte,  Quetelet  u.  s.  w.),  ist  eifrigst  bemüht, 
die  völlige  Bedingtheit  des  Menschen  durch  seine  soziale  Umgebung, 
das  „Milieu",^  zu  zeigen;  bis  in  seine  Wünsche  und  Träume  scheint 
er  ihr  durch  das  beherrscht,  was  die  Gesellschaft  an  ihn  bringt; 
selbst  ein  heftiger  Kampf  des  Individuums  gegen  sie  wurzelt  schließ- 
lich in  den  Bedürfnissen  des  Ganzen  und  liegt  damit  innerhalb 
des  öanzen.  Zugleich  tritt  der  Begriff  des  gesellschaftlichen  Durch- 
schnitts, des  mittleren  Menschen,  in  den  Vordergrund;  es  wird  nach- 
gewiesen, daß  die  Abweichungen  des  Individuums,  soweit  meßbar, 
sich  innerhalb  weit  engerer  Grenzen  bewegen,  als  der  erste  Eindruck 
uns  annehmen  läßt.^  So  verweilt  die  Aufmerksamkeit  weit  mehr 
bei  der  Gleichheit  als  bei  der  Verschiedenheit  der  Individuen,^  und 
die  Analyse  des  individuellen  Seelenlebens,  diese  Stärke  unserer 
großen  Dichter,  weicht  der  Massenbeobachtung,  die  sich  in  der 
Statistik  ein  handliches  Werkzeug  schafft. 


*  Milieu  in  präziser  Zuspitzung  dürfte  zuerst  von  Lamarck  in  seiner 
Philos.  zoologique  verwandt  sein,  Comte  hat  es  von  der  Zoologie  der  Qesell- 
schaftslehre  zugeführt,  Taine  aber  es  hier  «mit  besonderer  Vorliebe  verwandt. 
Erst  von  ihm  aus  ist  es  in  Deutschland  zu  einem  Modewort  geworden. 

^  Hierfür  sei  namentlich  Quetelets  „Anthropometrie"  erwähnt. 

*  Der  Gedanke  der  Gleichheit  samt  dem  des  gleichen  Wertes  und 
Rechtes  aller  Menschen  hat  ältere  Wurzeln,  zur  vollen  Entwicklung  aber  ist 
er  erst  in  den  letzten  Jahrhunderten  gelangt.  Dem  klassischen  Altertum  ist 
er  fremd,  und  auch  was  sich  zu  seinen  Gunsten  im  späteren  Altertum  regte, 
kam  gegen  die  tatsächlichen  Unterschiede  der  Menschen  nicht  auf.  Die  Wurzel 
der  Gleichheitsidee  liegt  in  der  Religion,  für  unseren  Kulturkreis  im  Christen- 
tum. Es  war  das  Verhältnis  zu  Gott,  in  dem  alle  Abstände  der  Menschen 
verschwanden,  es  war  die  Unendlichkeitsidee,  der  gegenüber  alle  endlichen 
Unterschiede  gleichgültig  wurden.  Aber  Konsequenzen  für  das  irdische  Da- 
sein wurden  daraus  zunächst  recht  wenig  gezogen,  und  in  der  weiteren  Ge- 
schichte des  Christentums  trat  der  Gedanke  des  allgemeinen  Priestertums  weit 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  19 


290  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Das  alles  war  nicht  bloß  eine  äußere  Verschiebung,  es  war 
auch  eine  innere  Wandlung  des  Lebens.  Denn  nunmehr  wurde 
zur  Hauptsache  an  ihm,  was  wir  für  die  Gemeinschaft  leisten,  nicht 
was  wir  im  eignen  Bereiche  denken  und  tun.  Energischer  wird 
alle  Kraft  zur  Betätigung  aufgerufen,  deutlicher  die  Bindung  des 
Individuums  an  das  Ganze  hervorgekehrt.  Auch  eine  eigentümliche 
Gestaltung  des  Geisteslebens  geht  davon  aus.  Die  Verbesserung 
der  gesellschaftlichen  Lage  wird  das  allüberragende  Ziel.  Die  Moral 
wird  zum  Wirken  für  die  Gesellschaft,  zum  Altruismus,  die  Kunst 
findet  keine  höhere  Aufgabe  als  die  eindringliche  Vergegenwärtigung 
der  gesellschaftlichen  Zustände,  die  Erziehung  erstrebt  mehr  die 
Hebung  des  gemeinsamen  Bildungsstandes  als  die  Entwicklung  in- 
dividueller Art.  Einen  Zusammenhalt  gibt  hier  dem  Individuum 
namentlich  die  Arbeit,  die  Arbeit,  welche  weite  Komplexe  und  feste 
Methoden  entwickelt,  damit  aber  stark  genug  wird,  um  einen  Kampf 
mit  aller  Unvernunft  des  Daseins  aufzunehmen  und  die  Bedingungen 
des  Daseins  wesentlich  zu  verbessern.  Daß  das  Ja  auch  ein  Nein 
in  sich  trug,  der  Gewinn  von  einem  Verluste  begleitet  war,  das 
kam  einstweilen  kaum  zur  Empfindung. 

Wirkt  solches  Zusammenstreben  der  Kräfte  mit  seinen  engeren 
Verschlingungen  gegen  das  Individuum  in  versteckterer  Weise,  so 
tut  es  offensichtlich  die  mächtige  Verstärkung,  die  der  Staat  im  Lauf 
des  19.  Jahrhunderts    erlangt    hat.     Am  zwingendsten  trieben   dazu 


zurück  hinter  dem  der  Hierarchie.  Was  von  einzelnen  Nebenströmungen  das 
Mittelalter  mühsam  genug  bewahrt  hatte,  das  gelangte  zu  vollerem  Durchbruch 
in  der  Reformation,  und  es  war  namentlich  ihr  calvinistischer  Zweig,  der 
daraus  energische  Folgerungen  für  die  Gestaltung  des  Gemeindelebens  zog. 
Von  hier  aus  fand  sich  auch  der  Übergang  in  das  politische  Gebiet:  unter 
Cromwell  zuerst  enthält  ein  Verfassungsentwurf  das  Verlangen  des  allgemeinen 
Stimmrechts  (1647).  Weiter  wirkt  dann  für  die  Idee  der  Gleichheit  die  Auf- 
klärung mit  ihrer  Berufung  auf  die  allen  Menschen  gleiche  Veniunft.  So 
sagt  z.  B.  Descartes  (de  methodo  zu  Anfang):  Rationem  quod  attinet,  quia 
per  illam  solam  homines  sumus,  aequalem  in  omnibus  esse  facile  credo. 
Rousseau  hat  endlich  mit  besonderer  Energie  den  Gedanken  der  Gleichheit 
ins  allgemeine  Leben  geworfen;  der  Gedanke  der  Menschenrechte  dürfte  aus 
Amerika  stammen.  Die  Formel  von  der  „Gleichheit  alles  dessen,  was  Menschen- 
gesicht trägt",  hat  Fichte  aufgebracht,  s.  z.  B.  IV,  423,  VII,  673.  —  Das 
18.  Jahrhundert  bringt  auch  die  Zusammenstellung  von  Freiheit  und  Gleich- 
heit, und  zwar  wohl  zuerst  für  das  Gebiet  des  geselligen  Verkehrs.  So  sagt 
z.  B.  schon  Montesquieu  in  seinen  lettres  Persanes  (erschienen  zuerst  1721), 
Bch.  II:  A  Paris  regne  la  liberte  et  l'egalite. 


Gesellschaft  und  Individuum.  291 

die  wirtschaftlichen  Entwicklungen,  da  ihnen  gegenüber  alle  An- 
strengung des  bloßen  Individuums  verloren  dünkte.  Aber  dieser 
Punkt  ist  nur  der  Höhepunkt  einer  durchgehenden  Erscheinung. 
Es  ist  die  wachsende  Komplikation,  die  technischere  Gestaltung  der 
Kultur,  welche  mehr  Ineinandergreifen  der  einzelnen  Kräfte  und 
mehr  Organisation  des  Ganzen  verlangt,  damit  aber  nach  einer  leiten- 
den Spitze  ruft.  Das  erzeugte  z.  B.  mit  Notwendigkeit  eine  stärkere 
Zentralisation  im  Unterrichtswesen.  Und  es  fehlte  dieser  Bewegung 
des  Kulturlebens  nicht  die  beseelende  Kraft  einer  Gedankenwelt. 
Die  Erhebung  des  Staates  zum  Hauptträger  der  Kulturarbeit  ent- 
spricht der  modernen  Überzeugung  von  einem  Innewohnen  abso- 
luter Vernunft  in  unserer  Wirklichkeit;  es  ist  kein  Zufall,  daß  die 
leitenden  Systematiker  des  Pantheismus,  Spinoza  und  Hegel,  ent- 
schiedenste Vorkämpfer  der  Staatsidee  waren,  daß  Spinoza  nicht  bei 
Gott,  sondern  beim  Heil  des  Vaterlandes  geschworen  haben  wollte, 
Hegel  'aber  den  Staat  »wie  ein  Irdisch-Göttliches"  verehrte.  So  ver- 
bünden sich  gegen  die  Selbständigkeit  des  Individuums  die  sichtbare 
Macht  des  Staates  und  die  unsichtbare  der  Gesellschaft;  wer  der 
einen  entflieht  oder  zu  entfliehen  glaubt,  verfällt  leicht  um  so  mehr 
der  anderen. 

Aber  wie  der  volle'  Sieg  leicht  eine  Überspannung  und  damit 
einen  Rückschlag  ergibt,  so  hat  auch  hier  die  Umklammerung  des 
Menschen  durch  Staat  und  Gesellschaft  gegen  Ausgang  des  19.  Jahr- 
hunderts eine  Neuerhebung  des  Individuums  hervorgerufen.  Was 
sich  davon  geflissen  hervordrängt,  ist  oft  unerquicklich  genug,  so 
die  Selbstvergötterung  unechter  Genies  und  das  Sichaufbauschen 
subjektiver  Stimmung  zu  vermeintlicher  Weltüberlegenheit.  Aber 
mit  der  Verspottung  jener  Auswüchse  ist  nicht  schon  die  Sache  er- 
ledigt. Denn  hinter  allem  Problematischen  steckt  eine  Gegenwehr 
des  Individuums  und  Subjekts  gegen  die  drohende  Einengung  und  Ver- 
kümmerung; was  jene  Bewegung  zur  Gesellschaft  an  Begrenzungen 
und  Verneinungen  enthält,  das  bringt  der  Widerspruch  jetzt  zu  deut- 
lichem Bewußtsein.  Eine  Abschleifung  der  individuellen  Züge,  eine 
Gefährdung  der  Selbständigkeit,  ein  Stocken  ursprünglichen  Lebens 
und  Schaffens,  sie  scheinen  mit  jener  Gesellschaftskultur  untrennbar 
verbunden.  Ähnlich  wie  die  Geschichte  die  Gegenwart  unter- 
drückte, eine  kleine  Gegenwart  aber  auch  in  der  Geschichte  nichts 
Großes  mehr  sieht,  so  scheint  die  Gesellschaft  mit  der  Verkleinerung 
der  Individuen    unvermeidlich  auch  bei  sich  selbst  zu  sinken.     Ge- 

19» 


292  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

wahren  wir  nicht  deutlich  genug,  wie  inmitten  aller  glänzenden 
Triumphe  technischer  Arbeit  uns  ausgeprägte  Persönlichkeiten  mehr 
und  mehr  entschwinden,  zugleich  aber  das  Niveau  des  gemeinsamen 
Lebens  niedriger  wird?  Die  Arbeit,  der  Kern  der  neuen  Lebens- 
gestaltung, sollte  die  Seele  kräftigen;  nun  kommt  zur  Empfindung, 
daß  sie  mit  ihrer  riesenhaften  Entwicklung  sie  schwächt,  ja  unter- 
drückt; das  muß  die  Seele  zur  Gegenwehr  reizen,  sie  der  Gesell- 
schaftskultur widerstehen  und  den  Wert  ihrer  Erfolge  bestreiten 
lassen.  Zugleich  sucht  das  Individuum  sich  von  der  gesellschaft- 
lichen Bindung  möglichst  abzulösen,  es  will  sich  mit  voller  Freiheit 
entfalten  und  gänzlich  „ausleben",  es  kehrt  sein  Unterscheidendes 
hervor  und  strebt  sich  vom  Durchschnitt  irgend  abzuheben. 

Wie  viel  in  dem  allen  überspannt  und  verkehrt  sein  mag,  es 
hat  eine  Macht  über  unsere  Zeit;  mag  es  arm  an  positiver  Leistung 
sein,  in  der  Kritik  ist  es  stark,  und  den  Glauben  an  die  Allgenug- 
samkeit  einer  bloßgesellschaftlichen  Kultur  hat  es  schwer  erschüttert. 
Aber  trotz  solcher  Erschütterung  geht  die  Arbeit  mit  ihrer  Richtung 
auf  den  Stand  der  Gesellschaft  fort,  so  wächst  ihr  Druck  auf  das 
Individuum  und  mehr  noch  unsere  Empfindung  dafür.  Demnach 
werden  wir  nach  widerstreitenden  Richtungen  gezogen:  die  gesell- 
schaftliche Kultur  behei"rscht  unsere  Arbeit,  eine  Individualkultur 
verlangt  unsere  Seele.  Müssen  wir  uns  solcher  Spaltung  wehrlos 
ergeben,  oder  läßt  sich  ihr  widerstehen  und  nach  irgendwelcher 
Einheit  des  Lebens  streben? 

ß.   Die  Probleme  der  Gegenwart. 

aa.  Die  Unzulänglichkeit  einer  bloßgesellschaftlichen  Kultur. 
Etwas  anderes  ist  es,  die  Bedeutung  einer  gesellschaftlichen 
Kultur  anzuerkennen,  etwas  anderes,  in  sie  das  ganze  Dasein  des 
Menschen  zu  setzen.  Für  das  erstere  wirkt  in  unserer  Zeit  das 
Mannigfachste  zusammen.  Deutlich  steht  uns  vor  Augen,  wie  von 
Anfang  an  der  Mensch  die  eigentümlichen  Züge  seines  Wesens  nur 
in  der  Gemeinschaft  entwickeln  konnte,  wie  auch  später  alles  Be- 
finden wesentlich  von  der  Gestaltung  des  Zusammenseins  abhing, 
deutlich  auch,  wie  die  Wirkung  des  Zusammenseins  weit  tiefer  in 
das  Leben  des  Einzelnen  und  den  Grund  seiner  Seele  hineinreicht, 
als  man  früher  anzunehmen  pflegte.  Daß  der  Mensch  ein  gesell- 
schaftliches Wesen  ist,  das  hat  erst  jetzt  seine  volle  Anerkennung  ge- 
funden.   Aus  den  neuen  Einsichten  aber  erwachsen  sofort  Aufgaben 


Gesellschaft  und  Individuum.  293 

fruchtbarster  Art  Sind  wir  so  sehr  auf  die  Gesellschaft  angewiesen 
und  hängt  unser  Glück  so  sehr  an  ihrem  Gedeihen,  so  wird  es  be- 
sonders wichtig,  den  Stand  der  Gesellschaft  zu  heben  und  alle  in 
ihr  vorhandene  Kraft  zur  vollen  Wirkung  zu  bringen.  Der  engere 
Zusammenschluß  hat  die  Menschheit  im  Kampf  gegen  die  Unver- 
nunft unaufhaltsam  vordringen  laäsen  und  mehr  Glück  in  ihr  Da- 
sein gebracht,  die  straffere  Organisation  hat  jedes  Einzelne  gehoben, 
das  Handeln  hat  festere  Angriffspunkte  gewonnen,  indem  es  den 
Hebel  bei  den  allgemeinen  Verhältnissen  ansetzt,  nicht  auf  die  Zu- 
fälligkeit der  bloßen  Individuen  angewiesen  bleibt.  Die  engere  Ver- 
bindung im  unmittelbaren  Zusammensein  hat  reiche  Quellen  mora- 
lischer Gesinnung  erschlossen,  die  Teilnahme  für  einander  gesteigert, 
ein  Bewußtsein  durchgängiger  Solidarität  erzeugt.  Auch  hat  das 
Miteinanderarbeiten,  die  Notwendigkeit,  sich  gegenseitig  zu  halten 
und  zu  einander  zu  fügen,  mehr  Disziplin  und  zugleich  mehr 
Mannheit  und  Kraft  in  das  Leben  gebracht,  das  in  der  Vereinzelung 
leicht  verweichlicht. 

War  es  bei  solchen  Erfolgen  ein  Wunder,  daß  die  Hoffnungen 
und  Gedanken  die  tatsächliche  Leistung  weit  überflogen,  daß  was 
soviel  geleistet  hatte,  alles  leisten  zu  können  vermeinte,  daß  die  ge- 
sellschaftliche Lebensführung  das  ganze  Dasein  des  Menschen  aus- 
zufüllen und  alle  Wünsche  zu  befriedigen  sich  zutrauen  konnte. 
Indem  sie  das  versuchte,  hat  sie  allen  einzelnen  Lebensgebieten  eine 
eigentümliche  Gestalt  gegeben.  Zum  Inhalt  der  Ethik  wird  hier  die 
Leistung  für  die  soziale  Umgebung,  der  Altruismus,  zum  Ziel  der 
Erziehung  die  Bildung  des  Einzelnen  für  die  Zwecke  der  Gesell- 
schaft, die  Kunst  macht  die  gesellschaftlichen  Zustände  zum  Haupt- 
vorwurf ihrer  Arbeit  und  will  mit  ihr  den  weitesten  Kreisen  dienen, 
die  Wissenschaft  sucht  den  Menschen  nicht  als  isoliertes  Individuum, 
sondern  vom  Ganzen  der  Gesellschaft  her  «sozialpsychologisch"  zu 
verstehen;  selbst  zum  Maßstab  der  Wahrheit  macht  der  Pragmatis- 
mus die  Leistung  für  das  Wohlbefinden  der  Menschheit.  Indem  in 
dem  allen  das  Leben  und  Handeln  direkter  auf  den  lebendigen  und 
empfindenden  Menschen  als  Ganzes  bezogen  wird,  scheint  es  eine 
größere  seelische  Nähe  zu  gewinnen,  wird  es  mehr  ins  Unmittelbare, 
Frische,  ja,  so  scheint  es.  Wahrhaftige  gestaltet;  im  Hintergrunde 
liegen  hier  alle  Verwicklungen  der  Religion  wie  der  Metaphysik; 
je  unsicherer  die  Neuzeit  über  diese  Fragen  wurde,  desto  will- 
kommener muß  ihr  solche  Befreiung  sein. 


294  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Aber  mag  diese  Bewegung  noch  so  fruchtbare  Ausblicke  und 
Aufgaben  eröffnen,  nur  so  lange  kann  sie  auf  volle  und  freudige 
Zustimmung  rechnen,  als  das  Nein  unbeachtet  bleibt,  das  dem  von 
ihr  vertretenen  Ja  zur  Seite  geht;  dieses  Nein  aber  ist  sehr  be- 
stimmter Art.  Das  Leben  läßt  sich  nicht,  wie  es  dort  geschieht, 
gänzlich  in  das  Verhältnis  zur  Umgebung,  in  die  Entwicklung  der 
gegenseitigen  Beziehungen  verlegen,  ohne  daß  zugleich  die  Selbständig- 
keit des  einzelnen  Punktes  aufs  stärkste  herabgesetzt  wird.  Nun  aber 
ist  das  Individuum  die  einzige  Stelle,  wo  geistiges  Leben  ursprüng- 
lich aufquillt,  während  das  gesellschaftliche  Zusammensein  nicht 
mehr  als  verbinden  und  verwerten  kann.  Die  Freihaltung  und 
Kräftigung  dieses  ursprünglichen  Lebens  wäre  nun  minder  bedeut- 
sam und  eine  Einengung  ließe  sich  eher  ertragen,  wenn  das  mensch- 
liche Leben  auf  fester  Grundlage  stünde  und  nur  eine  naturgewiesene 
Richtung  ruhig  zu  verfolgen  brauchte.  In  Wahrheit  steckt  es  nicht 
nur  voller  Probleme  im  Einzelnen,  sondern,  zwischen  bloßer  Natur 
und  geistiger  Welt  befindlich,  hat  es  eine  durchgehende  Wendung, 
einen  Aufstieg  von  halbgeistiger  zu  echtgeistiger  Lebensführung  erst 
zu  vollziehen;  so  liegen  große  Entscheidungen  in  ihm,  die  nicht 
ohne  eine  Aufrüttelung  und  kräftige  Belebung  des  gesamten  Seelen- 
standes erfolgen  können,  die  notwendig  auf  eine  ursprüngliche 
Tiefe  zurückgreifen  und  damit  auf  das  Individuum  kommen. 

Die  soziale  Lebensführung  dagegen  ist  vorwiegend  auf  eine 
Verbesserung  der  äußeren  Verhältnisse  gerichtet,  sie  hebt  und  fördert, 
sie  mildert  und  glättet,  aber  wenn  sie  das  Leben  angenehmer  und 
freundlicher  macht,  am  Kern  wirkt  sie  zerstörend,  indem  sie  den 
geistigen  Gehalt  des  Lebens  als  ein  Mittel  für  das  menschliche 
Wohlsein  behandelt.  Denn  unvermeidlich  sinkt  alle  geistige  Be- 
tätigung, wo  sie  nicht  als  völliger  Selbstzweck  behandelt  wird;  der 
Utilitarismus,  welche  Form  er  auch  annehmen  mag,  ist  ein  unversöhn- 
licher Feind  aller  echten  Geisteskultur.  Als  ein  bloßes  Mittel  kann 
geistiges  Leben  für  den  Menschen  nie  die  innere  Notwendigkeit 
einer  Selbsterhaltung  erlangen,  mit  solcher  die  Seele  ergreifen  und 
sie  zu  ursprünglichem  Schaffen  treiben.  Daher  kann  auf  diesem 
Wege  bei  aller  äußeren  Erweiterung  keine  innere  Erhöhung  des 
Menschen  erfolgen,  hier  fehlt  alle  Urerzeugung,  alles  unmittelbare 
Verhältnis  zum  All,  alle  innere  Selbständigkeit.  Ein  derartiges  Leben 
kann  nie  etwas  wesentlich  Neues  bringen,  nie  hohe  Ziele  weisen, 
an    denen   sich    das  Dasein    heben   könnte,   sondern  es  bannt  den 


Gesellschaft  und  Individuum.  295 

Menschen  an  seine  eigne  Zuständlichkeit  und  macht  ihn  zum  Sklaven 
seiner  selbst,  es  läßt  ihn  sein  Dasein  zieren  und  schmücken,  aber 
es  vollzieht  keine  gründliche  Scheidung  zwischen  Höherem  und 
Niederem,  es  vermag  daher  nicht  den  Menschen  aus  der  Trägheit 
des  Durchschnitts  aufzurütteln,  nicht  der  Vermengung  von  Natur 
und  Geist,  von  Kleinmenschlichem  und  Allgemeingültigem  kräftig 
entgegenzuwirken,  die  das  gewöhnliche  Dasein  kennzeichnet;  bei 
unermeßlicher  Emsigkeit  und  Betriebsamkeit  fehlt  diesem  Leben  der 
rechte  Tatcharakter,  fehlt  ihm  ein  unerbittliches  Entweder  -  oder, 
fehlt  ihm  ein  wahrhaftiger  Gehalt  und  Sinn.  Dies  Leben  der  bloßen 
Menschenkultur  mag  erträglich  scheinen,  solange  der  Blick  und 
das  Streben  nur  vom  Einzelnen  aufs  Einzelne  geht  und  von  der 
bunten  Fülle  wechselnder  Anregungen  eingenommen  wird.  Aber  man 
denke  darüber  hinaus  und  frage  nach  dem  Ertrage  des  Ganzen,  dann 
muß  die  Dürftigkeit,  die  Leere  dieses  Lebens  augenscheinlich  werden. 
Wenn  die  Sozialkultur  solcher  innern  Leere  entrinnen  zu  können 
glauhjt,  so  pflegt  sie  das  in  der  Überzeugung  zu  tun,  daß  die  Ver- 
bindung der  Elemente  etwas  wesentlich  Höheres  entstehen  läßt  als 
in  der  Vereinzelung  vorliegt;  so  scheint  z.  B.  das  Wohl  der  Ge- 
sellschaft das  des  Einzelnen  weit  zu  überragen,  so  scheint  dem 
Durcheinander  der  individuellen  Meinungen  gegenüber  in  der 
öffentlichen  Meinung  sich  ein  Träger  der  Wahrheit  zu  bilden.  In 
Wirklichkeit  kommt  der  Schein  einer  inneren  Erhöhung  nur  zu 
Stande,  indem  aus  andersartigen  Zusammenhängen  Neues  zugeführt 
wird;  aus  dem  bloßen  Durch-  und  Nebeneinander  könnte  nun  und 
nimmer  eine  neue  Stufe  des  Lebens  hervorgehen;  zu  Unrecht  wird 
hier,  wie  es  freilich  in  der  Neigung  der  Gegenwart  liegt,  Quantita- 
tives unvermerkt  in  Qualitatives  umgesetzt.  Gibt  es  kein  anderes 
Ziel  als  das  der  natürlichen  Selbsterhaltung,  gibt  es  keine  geistige 
Wesensbildung,  so  kann  auch  die  Verflechtung  der  einzelnen  Kreise 
im  gesellschaftlichen  Zusammensein  nichts  wesentlich  Neues  ent- 
stehen lassen,  auch  bei  größter  Ausdehnung  nähert  sich  das  Nütz- 
liche und  Angenehme  der  natürlichen  Lebensstufe  in  keiner  Weise 
dem  Guten.  Ebensowenig  ergibt  die  Bildung  gewisser  Durchschnitte 
der  Meinungen,  mögen  sie  sich  noch  so  festlegen  und  noch  so 
selbstbewußt  auftreten,  nicht  die  mindeste  Annäherung  an  den  Be- 
griff einer  echten  Wahrheit,  die  alles  menschliche  Streben  mißt. 
Gutes  und  Wahres  werden  immer  schon  vorausgesetzt,  wo  man 
glaubt,   sie   aus   der  Verbindung   der  Elemente  ableiten  zu  können. 


296  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Solche  Überzeugung  zwingt  zu  starker  Skepsis  gegenüber  der 
bekannten  Lehre  von  einer  Summierung  der  Vernunft  in  der  Ge- 
sellschaft. Sie  ist  zuerst  philosophisch  von  Aristoteles^  vertreten. 
Die  Gesamtheit  erscheint  ihm  befähigter  zu  politischem  wie  zu  künst- 
lerischem Urteil  als  die  Individuen,  weil  der  eine  dies,  der  andere 
anderes  besser  beurteile,  im  Zusammentreten  aber  eine  gewisse  Aus- 
gleichung erfolge;  auch  scheint  ihm  das  Ganze  minder  dem  Zorn 
und  anderen  Affekten  unterworfen  als  das  Individuum.  Dabei  denkt 
er  aber  an  den  begrenzten  Kreis  eines  Stadtstaates,  den  gemeinsame 
Überlieferungen  und  Ordnungen  auch  innerlich  zusammenhalten, 
nicht  an  jede  beliebige  und  unübersehbare  Masse.  So  bleibt  er 
auch  in  seinem  Demokratismus  vom  Volksglauben  eines  Rousseau 
weit  geschieden.  —  Für  die  Sache  spricht  zunächst  die  alte,  auch 
Aristoteles  gegenwärtige  Erfahrung,  daß  hervorragende  literarische 
Leistungen  gewöhnlich  nicht  durch  das  Urteil  der  Techniker,  son- 
dern durch  das  große  Publikum  zur  Anerkennung  gelangt  sind, 
nicht  wegen  eines  moralischen  Defektes  jener,  sondern  weil  sie  sich 
zu  fest  in  einen  geschlossenen  Gedankenkreis  eingesponnen  hatten. 
Die  Unbefangenheit  weiterer  Kreise  wiegt  namentlich  ungewöhn- 
lichen Erscheinungen  gegenüber  hier  mehr  als  die  höhere  technische 
Bildung.  —  Weiter  steht  in  einer  gewissen  Verwandtschaft  mit  jener 
Lehre  von  der  Summierung  der  Vernunft  die  Überzeugung,  daß  es 
eine  Berufung  von  der  Zufälligkeit  der  Augenblicke  und  der  Indi- 
viduen, im  besonderen  auch  von  der  Enge  der  Parteien,  an  das 
Ganze  der  Menschheit  gibt,  das  Vertrauen  auf  irgendwelchen  Sieg 
des  Guten  auch  innerhalb  des  menschlichen  Kreises.  Ohne  solchen 
Glauben  müßte  ja,  wer  in  der  Minderheit  ist,  alles  Wirken  nach 
außen  als  zwecklos  einstellen;  so  durchdringt  jener  Glaube  nament- 
lich das  politische  Streben.  Auch  liefert  die  geschichtliche  Er- 
fahrung Zeugnisse  dafür  genug,  daß  Großes  zum  Siege  kam  trotz 
anfänglicher  schroffer  Verfolgung,  der  Stein,  den  die  Bauleute  ver- 
warfen, hat  sich  oft  als  ein  Eckstein  erwiesen;  was  anders  aber  war 
es,  das  dazu  verhalf  als  das  größere  Ganze,  die  weiteren  Kreise,  die 
sich  minder  festgelegt  hatten  und  neuen  Anregungen  zugänglicher 
waren?  Aber  solches  Durchdringen  des  Wahren  vollzog  sich  kaum 
durch  eine  bloße  Summierung  menschlicher  Meinungen,  sondern 
unter    dem   Zwange    einer    geistigen    Notwendigkeit,    welche   jenes 

*  S.  Pol.  1281b,  8,  34.    Näheres  s.  in  meinen  gesammelten  Aufsätzen 
S.  62  ff. 


Gesellschaft  und  Individuum.  297 

Höhere  immer  deutlicher  abhob  und  es  schließlich  unwiderstehlich 
machte.  So  ist  es  nicht  der  Glaube  an  die  Masse,  sondern  an  eine 
innerhalb  der  Menschheit  waltende  geistige  Notwendigkeit,  welcher 
jene  Hoffnung  auf  einen  Sieg  der  Vernunft  auch  im  Bereich  des 
Menschen  rechtfertigt.  Erst  in  Berührung  mit  einer  solchen  geisti- 
gen Notwendigkeit  und  als  ihre  Vertreterin  gewinnt  die  öffentliche 
Meinung  ein  gutes  Recht  und  eine  sichere  Überlegenheit;  sonst 
kann  sie  leicht  hinter  dem  Stande  der  einzelnen  Individuen  zurück- 
bleiben und  weniger  zur  Vernunft  als  zur  Unvernunft  wirken.  Es 
gibt  Zeiten,  wo  der  Durchschnitt  den  Menschen  erhöht,  es  gibt 
aber  auch  solche,  wo  er  ihn  herabdrückt.  Jedenfalls  tut  die  bloße 
Masse  es  nicht. 

Indem  die  Sozialkultur  sich  ganz  und  gar  in  das  unmittelbare 
Dasein  hineinstellt,  wird  sie  unvermeidlich  die  Masse  zum  Haupt- 
träger des  Lebens  machen,  wird  sie  wohl  oder  übel  der  Art  huldigen, 
mit  der  jene  die  großen  Kulturfragen  betreibt:  hastig  und  aufgeregt, 
maßlos  im  Ja  wie  im  Nein,  haftend  am  sinnfälligen  Eindruck,  mög- 
lichst starke  Erregung  suchend,  zwischen  Gegensätzen  hin-  und  her- 
geworfen, aller  Besonnenheit  und  Gerechtigkeit  abgeneigt.  Zugleich 
wird  das  Individuum  mehr  und  mehr  zurückgestellt;  selbst  wo  es 
unbestreitbar  Großes  wirkt,  gilt  es  hier  als  ein  bloßes  Werkzeug 
der  Gesellschaft,!  als  gleichgültig  in  allem,  was  es  an  Eigentüm- 
lichem hat.  Nun  hat  gewiß  auch  die  größte  Leistung  ihre  geschicht- 
lichen und  gesellschaftlichen  Bedingungen  und  Zusammenhänge,  alles 
Schaffen  wächst  aus  einer  besonderen  geistigen  Atmosphäre  her- 
aus, es  trägt  damit  unvermeidlich  die  Färbung  seiner  Zeit;  ein 
Augustin  wäre  nicht  möglich  zur  Zeit  Kants  noch  ein  Kam  zur  Zeit 
Augustins,  ein  Goethe  nicht  inmitten  der  Kreuzzüge.  Aber  solche 
Bedingtheit  anerkennen  heißt  nicht  das  Ganze  für  die  erzeugende 
Kraft  erklären  und  das  Individuum  zu  einem  seiner  Besonderheit 
nach  völlig  gleichgültigen  Werkzeuge  machen.  Bei  allem  inneren 
Zusammenhang  stand  das  Große  zum  Durchschnitt  seiner  Zeit  ge- 
wöhnlich im  Verhältnis  des  Gegensatzes,  meist  hat  es  seine  Größe  in  der 
Art  entu'ickelt,  daß  es  eine  Notwendigkeit  seines  eignen  Wesens  dem 
Ganzen  der  Zeit  gegenüber  siegreich  durchzusetzen  wußte,  sieg- 
reich nicht  in  der  Breite  des  Daseins,  aber  siegreich  in  der  Sphäre 


^  S.  z.  B.  Comte,  cours  de  phil.  pos.  IV,  269:  Les  hommes  de  genie 
ne  se  presentaient  essen tiellement  que  conime  les  organes  d'un  niouvement 
predetermine,  qui,  ä  leur  defaute,  se  tut  ouvert  d'autres  issues. 


298  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

der  geistigen  Arbeit.  Was  dabei  seine  Leistung  auszeichnet,  ist  vor 
allem  das  Individuelle,  Unvergleichliche  und  Unableitbare.  Nur  mit 
Hilfe  dessen  ward  es  möglich,  das  Geistige,  das  in  der  Zeit  sich 
regte  und  aufquoll,  das  aber  in  ihrer  Breite  mit  Niederem  und 
Fremdartigem  untrennbar  zusammenfloß,  davon  abzulösen  und  zu 
klarer  wie  kräftiger  Gestalt  zu  bringen,  es  zu  einer  aufrüttelnden 
und  erhöhenden  Kraft  zu  erheben.  Dabei  erfuhr  das  Geistige  selbst 
eine  Individualisierung,  welche  die  Geschicke  der  Menschheit  in 
eigentümliche  Bahnen  trieb.  Nirgends  ist  das  deutlicher  als  auf  dem 
Gebiete  der  Religion.  Denn  das  steht  wohl  außer  Zweifel,  daß  ein 
Augustin  und  ein  Luther  nicht  bloß  zusammenfaßten,  was  die  Um- 
gebung ihnen  darbot,  sondern  daß  sie  die  Probleme  der  weltge- 
schichtlichen Lage  in  durchaus  eigentümlicher  Weise  gelöst  und  zu- 
gleich ihre  geistige  Art  ganzen  Jahrhunderten  zwingend  auferlegt 
haben.  Jede  Zeit  von  kräftigerer  geistiger  Regung  enthält  verschie- 
dene Möglichkeiten;  welche  von  ihnen  zur  Wirklichkeit  wird,  das 
hängt  vor  allem  an  den  führenden  Individuen.  Schon  das  verbietet 
eine  Konstruktion  der  Geschichte  aus  einer  Formel. 

War  das  Große  einmal  da,  so  konnte  es  alles  irgend  Entgegen- 
kommende an  sich  ziehen,  Aufstrebendes  verstärken,  Zerstreutes  ver- 
binden, eine  Gesamtbewegung  erzeugen.  Aber  es  war  dabei  nicht 
ein  Ergebnis  der  Summierung,  vielmehr  hat  es  seinerseits  die 
Summierung  erst  möglich  gemacht.  Denn  die  Summierung,  das 
Sichzusammenfinden,  das  den  Vertretern  der  gesellschaftlichen  Kultur 
als  so  leicht  erscheint,  ist  in  Wahrheit  ein  überaus  schweres  Pro- 
blem. In  einer  Zeit  kann  viel  Verschiedenes,  ja  Widersprechendes 
liegen  und  eine  Summierung  in  mannigfacher  Richtung,  auch 
in  sehr  abweichender  Höhenlage  möglich  sein;  was  an  Tüchtigem 
an  einzelnen  Stellen  aufstrebt,  das  findet  sich  oft  nicht  zusammen 
und  ist  daher  für  das  Ganze  wie  verloren.  Daß  die  Verbindung  der 
aufstrebenden  Kräfte  nicht  gelingen  will,  das  kann  eine  Zeit  mit 
einem  schweren  Druck  belasten;  ein  solcher  Druck  liegt  auf  unserer 
eignen  Zeit.  Das  eben  ist  das  Werk  der  Großen,  durch  glückliche 
Ausprägung  eines  geistigen  Charakters  und  mutiges  Vordringen  eine 
Summierung  in  bestimmter  und  erhöhender  Richtung  anzubahnen 
und  durchzusetzen;  so  waren  sie  die  Herren,  nicht  die  Diener  der 
Zeit.  Sprechen  wir  von  einer  Goethezeit,  weil  in  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  eine  humane  und  künstlerische  Denkweise 
in  der  Art  Goethes  massenhaft  verbreitet  war,  oder  weil  seine  über- 


Gesellschaft  und  Individuum.  299 

ragende  Persönlichkeit  Gestalten  schuf  und  Ziele  vorhielt,  an  denen 
sich  minder  Ausgeprägtes  in  die  Höhe  hob  und  zugleich  mitein- 
ander zusammenfand? 

Wenn  dem  gegenüber  die  Sozialkultur  die  Abstufungen  zurück- 
stellt und  nach  möglichster  Gleichheit  strebt,  so  ist  gewiß  die  Ab- 
sicht der  Besten,  das  Gesamtniveau  zu  steigern,  möglichst  viele, 
möglichst  alle  auf  die  Höhe  zu  führen,  ohne  daß  diese  irgendwelche 
Minderung  erfährt.  Aber  auch  hier  ist  die  Natur  der  Dinge  stärker 
als  die  Absicht  (ier  Menschen.  Unvermerkt  wird  der  Stand  des 
Aufnehmenden  zum  Maß  der  geistigen  Bewegung,  und  es  sinkt 
damit  unvermeidlich  die  Höhe  des  Ganzen,  es  läßt  sich  die  Arbeit 
nicht  vorwiegend  auf  die  Wirkung  bei  anderen  richten,  ohne  daß 
sie  eine  Einbuße  bei  sich  selbst  erfährt.  Schopenhauer  teilte  die 
Denker  in  solche  ein,  die  für  andere,  und  solche,  die  für  sich  selber 
denken,  und  erklärte  nur  diese  für  Denker  echter  Art;  hat.  er  damit 
Recht,  wie  wir  meinen,  so  kann  über  die  Gefahr  einer  vorwiegend  auf 
Mitteilung  und  Wirkung  gerichteten  Arbeit  keinerlei  Zweifel  sein; 
aus  der  Verbreiterung  muß  eine  Verflachung  werden,  wenn  nicht 
eine  Urerzeugung  erfolgt,  welche  jener  die  Wage  hält. 

Dazu  gesellt  sich  die  Neigung,  sich  nicht  nur  des  Schwächeren 
anzunehmen,  was  sicherlich  edel  und  recht  ist,  sondern  sich  mög- 
lichst auf  seinen  Standort  zu  versetzen  und  das  Ganze  des  Lebens 
nach  seinen  Interessen  einzurichten.  Zeiten  harter  und  weicher  Denk- 
weise pflegen  miteinander  abzuwechseln,  heute  herrscht  unzweifel- 
haft die  weiche  Art  und  erzeugt  die  Neigung,  den  Schwachen  als 
gut,  den  Starken  als  schlecht  zu  denken,  daher  beim  Zusammenstoß 
jenem  ohne  weiteres  Recht  zu  geben.  So  nimmt  eine  weitverbreitete 
Zeitströmung  Partei  für  die  Kinder  gegen  die  Eltern,  für  die  Schüler 
gegen  den  Lehrer,  durchgängig  für  den  Untergebenen  gegen  den 
Gebietenden,  als  sei  alle  Ordnung  und  alle  Strenge  nur  ein  Ausfluß 
selbstischer  und  brutaler  Gesinnung.  Der  kantische  Satz:  «Wenn 
die  Gerechtigkeit  untergeht,  so  hat  es  keinen  Wert  mehr,  daß 
Menschen  auf  Erden  leben"  würde  hier  schwerlich  Zustimmung 
finden.  Auch  der  drohende  Feminismus  hängt  damit  zusammen, 
der  nicht  nur  den  Frauen  zu  ihrem  gebührenden  Recht  verhelfen, 
sondern  die  Erziehung  wie  die  ganze  Kultur  möglichst  ihren  Inter- 
essen gemäß  gestalten  möchte.  So  wird  die  höchst  problematische 
»Coeducation"  vornehmlich  deshalb  empfohlen,  damit  die  Frauen 
nur  ja  genau  so  viel  und  genau  dasselbe  erhalten  wie  die  Männer! 


300  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Auf  solchem  Wege  der  Qleichmacherei  muß  die  Kultur  unvermeid- 
lich ins'  Welke  und  Matte  geraten,  sie  wird  vor  aller  kräftigen  Art 
und  aller  ausgeprägten  Individualität  wie  vor  einem  Übel  und  Un- 
recht zurückscheuen,  sie  wird,  was  noch  schwerer  wiegt,  das  ver- 
lieren, was  nach  Ooethe's  Wort  »niemand  mit  auf  die  Welt  bringt, 
und  worauf  doch  alles  ankommt,  damit  der  Mensch  nach  allen 
Seiten  zu  ein  Mensch  sei":  die  Ehrfurcht.^ 

Derartige  Bewegungen  in  die  Breite  und  Fläche  lassen  sich 
eine  Zeit  lang  ertragen,  der  überkommene  Lebensstand  liefert  einst- 
weilen eine  Ergänzung,  für  einige  Zeit  läßt  sich  ganz  wohl  vom  er- 
erbten Kapitale  zehren.  Aber  schließlich  erschöpft  sich  auch  das 
reichste  Kapital,  die  Frage  der  Urerzeugung  ist  nicht  dauernd  ab- 
zuweisen; sobald  sie  aber  erscheint,  werden  die  Schranken  der  ge- 
sellschaftlichen Kultur  unverkennbar.  Die  gesellschaftliche  Kultur 
konnte  das  Geistesleben  auf  den  Menschen  nicht  stellen,  ohne  ihn 
innerlich  zu  erhöhen;  sie  konnte  der  Gesellschaft  die  höchsten  Güter 
nicht  anvertrauen,  ohne  mehr  aus  ihr  zu  machen.  Aber  mit  eignen 
Mitteln  kann  sie  eine  solche  Erhöhung  nicht  bewirken,  vielmehr 
zerstört  sie  mit  der  Schwächung  und  Stagnation  des  Geisteslebens 
die  Bedingungen  echter  Größe  und  kann  daher  nicht  verhindern, 
daß  eine  bloße  Menschen-  und  Massenkultur  eine  wesenhafie  Geistes- 
kultur überflutet  und  unterdrückt 

Treten  nicht  schon  heute  solche  Erfahrungen  deutlich  und 
schmerzlich  hervor?  Würden  wir  unsere  eigne  Zeit  von  innen  her 
und  im  Ganzen  sehen,  wie  hervorragende  Geschichtsschreiber  uns 
frühere  Zeiten  sehen  lassen,  so  möchte  sich  inmitten  alles  Glanzes 
einer  Außenkultur  ein  bewegendes  Bild  vor  Augen  stellen.  Die 
Menschheit  wollte  durch  einen  engeren  Zusammenschluß  und  eine 
vollere  Entfaltung  der  Kräfte  das  Leben  erhöhen,  sie  dünkte  sich 
stark  genug,  alles  Geistesleben  selbst  zu  erzeugen,  in  rastlosem 
Wirken  wollte  sie  einen  Turm  bis  zum  Himmel  führen.  Nun  aber 
erfährt  sie  bei  allen  äußeren  Triumphen  einen  inneren  Niedergang, 


^  Der  kräftige  Widerspruch  gegen  die  Mattheit  und  Schlaffheit  jener 
Qleichmacherei  ist  es  vornehmlich,  welcher  Nietzsche  Macht  über  die  Seelen 
gibt.  „In  die  Höhe  will  es  sich  bauen  mit  Pfeilern  und  Stufen,  das  Leben 
selber:  in  weite  Femen  will  es  blicken  und  hinaus  nach  seligen  Schönheiten, 
—  darum  braucht  es  Höhe!  Und  weil  es  Höhe  braucht,  braucht  es  Stufen 
und  Widerspruch  der  Stufen  und  Steigenden!  Steigen  will  das  Leben  und 
steigend  sich  überwinden".  (Also  sprach  Zarathustra.) 


Gesellschaft  und  Individuum.  301 

ja  sie  vermag  sich  selbst  nicht  mehr  zusammenzufinden,  sich  selbst 
zu  verstehen,  es  droht  ihr  ein  innerer  Zerfall.  Überall  Gegensatz 
und  Streit,  eine  wachsende  Leidenschaft  des  Kampfes,  eine  Auf- 
lösung in  Parteien,  ein  Entschwinden  gemeinsamer  Ideen  und  Ziele. 
Wo  wir  unter  Zurückstellung  aller  Weltprobleme  bei  uns  selber 
einig  werden  wollten  und  von  solcher  Einigung  die  schönsten 
Früchte  hofften,  da  ist  eine  Sprachverwirrung  erfolgt,  und  wir  werden 
immer  mehr  der  Zerstreuung  und  Zerstückelung  verfallen,  wenn  es 
nicht  gelingt,  jener  Bewegung  Einhalt  zu  gebieten,  das  menschliche 
Dasein  wieder  in  größere  Zusammenhänge  zu  stellen  und  ihm  einen 
festeren  Grund  zu  geben. 

Bis  dahin  beschäftigte  uns  das  Problem  der  Sozialkultur  über- 
haupt, es  sei  nun  auch  mit-  einigen  Worten  der  Stellung  des  Staates 
im  modernen  Geistesleben  gedacht.  Die  stärkere  Machtentwicklung 
des  Staates  steht  heute  uns  allen  vor  Augen,  und  es  drängen  nament- 
lich die  sozialen  Verwicklungen  zu  noch  weiterer  Steigerung;  damit 
aber  erwächst  die  Gefahr,  daß  mehr  und  mehr  das  ganze  Geistes- 
leben unter  den  Einfluß  des  Staates  gerät  und  seine  Stemplung  er- 
fährt, und  diese  Gefahr,  die  Gefahr  eines  Politismus,  wir  wir  sie 
nennen  möchten,  ist  nicht  gering  anzuschlagen.  Die  leitende  Idee 
des  Staates  ist  und  bleibt  die  Entwicklung  der  Macht;  nun  ist  die 
Macht  keineswegs,  wie  wohl  gesagt  ist,  an  sich  etwas  böses,  aber 
sie  ist  sittlich"^  indifferent,  sie  kennt  kein  höheres  Ziel  als  sich  selbst. 
Sie  hat  aus  ihrer  Natur  das  Streben,  alle  geistige  Betätigung  als  ein 
bloßes  Mittel  für  ihre  Zwecke  zu  behandeln,  sie  anerkennt  keine 
Selbständigkeit  anderer  Lebensgebiete.  Wenn  aber  diese  Gebiete 
vor  allem  daraufhin  angesehen  und  danach  gemessen  werden,  was 
sie  für  das  staatliche  Leben  leisten,  so  verlieren  sie  ihren  Selbst- 
wert und  müssen  zugleich  an  der  Ursprünglichkeit  ihres  Schaffens 
schweren  Schaden  erleiden.  Zugleich  muß  bei  einer  Beherrschung 
des  ganzen  Lebens  durch  die  Staatsidee  die  eigne  Art  und  die  freie 
Bewegung  des  Individuums  aufs  stärkste  eingeengt  werden.  Wenn 
der  Mensch  sein  Sinnen  und  Denken  vor  allem  darauf  richtet,  einen 
Platz  im  Staatsgefüge  zu  erringen  und  in  diesem  weiter  zu  kommen, 
wenn  sein  Wert  daran  hängt,  was  er  in  ihm  bedeutet  und  leistet, 
so  wird  damit  der  Schwerpunkt  seines  Lebens  nach  außen  verlegt, 
die  Selbständigkeit  und  Ursprünglichkeit  des  Lebens  muß  unver- 
meidlich Schaden  erleiden.    Ob  das  Gefüge  des  Staates  mehr  demo- 


302  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

kratischer  oder  aristokratischer  Art  ist,  besagt  dabei  wenig.  Wie 
politische  Größe  mit  geistiger  Unproduktivität  Hand  in  Hand  gehen 
kann,  dafür  liefert  die  römische  Geschichte  das  schlagendste  Bei- 
spiel. Denn  höchst  merkwürdig  ist  und  bleibt  es,  daß  bei  so  viel 
politischer  FCraft,  Weisheit  und  Disziplin  jenes  Volk  nicht  einen 
einzigen  großen  philosophischen  Gedanken,  nicht  eine  einzige  große 
künstlerische  Tat  aus  eignem  Vermögen  hervorgebracht  hat. 

Auch  wir  Deutschen  müssen  der  Gefahren  eingedenk  sein, 
welche  unsere  Entwicklung  bei  diesem  Probleme  mit  sich  bringt. 
Jene  alles  zurückdrängende  Macht  der  Staatsidee,  jener  Politismus, 
tritt  uns  namentlich  im  preußischen  Staat  entgegen.  Gewiß  war  eine 
zeitweilige  Unterordnung  aller  Aufgaben  unter  die  Staatsidee  eine 
zwingende  Notwendigkeit,  wenn  dieser  Staat  seine  große  weltge- 
schichtliche Aufgabe  lösen  sollte;  dabei  hat  sich  hier  der  Ge- 
danke der  Macht  aufs  engste  mit  dem  der  Pflicht  verbunden  und 
damit  innerlich  veredelt.  Die  Verbindung  beider  Ideen  hat  herr- 
liche Leistungen  hervorgebracht,  die  das  Deutschland  der  Gegenwart 
erst  haben  entstehen  lassen.  Aber  alles  dies  darf  die  Gefahr  einer 
geistigen  Unproduktivität,  auch  eines  Einschnürens  der  Individuen, 
einer  typischen  und  schablonenhaften  Gestaltung  des  Lebens  nicht 
übersehen  lassen.  Geistiges  Schaffen  und  ursprüngliche  Lebens- 
führung wollen  schlechterdings  als  Selbstzwecke  behandelt  sein,  der 
Politismus  aber,  mag  er  noch  so  veredelte  Formen  annehmen,  mit 
seinem  Utilitarismus  setzt  sie  unvermeidlich  zu  bloßen  Mitteln  und 
Werkzeugen  herab. 

ßß.    Die  Unzulänglichkeit  einer  bloßen  Individualkultur. 

Die  Gegenbewegung  gegen  die  gesellschaftliche  Kultur,  die  das 
moderne  Individuum  vollzieht,  entsprang  zunächst  weniger  einer 
Sorge  um  den  geistigen  Gehalt  des  Lebens,  als  sie  die  Schädigungen 
abwehren  wollte  womit  das  Vordringen  jener  Kultur  das  Individuum 
bedrohte;  doch  standen  tiefere  Probleme  im  Hintergrunde  und  ver- 
schärften den  Gegensatz.  —  Die  gesellschaftliche  Kultur  behandelt 
das  Individuum  als  ein  Stück  ihres  großen  Räderwerkes,  sie  schätzt 
es  lediglich  nach  seinen  Leistungen,  sie  muß  es  für  ihre  Zwecke 
vielfach  beengen  und  einschränken.  Dazu  wirkt  sie  mit  ihren  Ver- 
zahnungen der  Elemente,  mit  ihrer  Anhäufung  von  Massen,  ihrem 
lauten  und  fabrikmäßigen  Getriebe  übermächtig  zur  Unterdrückung 
und  Abschleifung   der  individuellen  Züge,    sie  gewährt  keine  stille 


Gesellschaft  und  Individuum.  303 

Ruhe  zur  Bildung  eigentümlicher  Art,  sie  erzeugt  gewisse  Durch- 
schnitte, die  sich  selbst  zum  Maßstab  für  Gut  und  Böse,  für  Wahr 
und  Unwahr  machen.  Gegen  solche  Bindung  und  Gleichmachung 
erhebt  sich  schließlich  das  Individuum  kräftigerer  Art  und  tritt  dafür 
ein,  daß  keineswegs  der  Mensch  in  das  Verhältnis  zur  gesellschaft- 
lichen Umgebung  aufgeht,  daß  vielmehr  das  Beste  an  ihm:  die  Ein- 
heit und  die  Innerlichkeit  des  Lebens,  jenseit  jenes  Verhältnisses 
liegt.  Dabei  kann  es  das  Zeugnis  der  Weltgeschichte  dafür  anrufen, 
daß  alle  vorwiegend  gesellschaftliche  Gestaltung  der  Kultur  eine 
Veräußerlichung  und  Mechanisierung  bewirkte,  und  daß  es  keines- 
wegs bloß  ein  trotziges  Selbstgefühl  der  Individuen,  sondern  das 
unabweisbare  Verlangen  nach  mehr  Seelenhaftigkeit  des  Lebens  war, 
was  einen  Bruch  damit  erzwang.  Namentlich  auf  dem  Gebiet  der 
Religion  bringt  die  gesellschaftliche  Gestaltung  zur  Kirche  unver- 
meidlich die  Neigung  mit  sich,  die  Leistung  (Gottesdienst,  fromme 
Werke,  korrekte  Bekenntnisse,  überhaupt  die  sog.  religiösen  Ver- 
pflichtungen) vor  die  Gesinnung,  vor  das  persönliche  Leben,  vor 
das  Beisichselbstsein  des  Innern  zu  stellen;  so  hat  das  eigenste 
Interesse  der  Religion  immer  von  neuem  einen  Kampf  gegen  die 
Kirche  nötig  gemacht.^  Zu  solcher  Verfechtung  der  Selbständigkeit 
des  Individuums  gesellt  sich  ein  flammender  Protest  gegen  die 
gleichförmige  und  schablonenhafte  Gestaltung  der  Kultur,  womit  die 
Gesellschaft  das  Leben  bedroht.  Sind  die  Durchschnitte,  die  dabei 
entstehen,  nicht  recht  geringer  Art,  und  führen  sie  nicht  leicht  zur 
Festlegung  des  Lebens  auf  einer  nicht  beträchtlichen  Mittelhöhe? 
Sind  nicht  in  Wahrheit  geistige  Kraft  und  edle  Gesinnung  selten, 
und  bedürfen  sie  nicht  zu  ihrer  Ausbildung  voller  Freiheit,  zu  einer 
Wirkung  auf  das  Ganze  aber  einer  scharfen  Ausprägung  und 
sicheren  Befestigung  in  kleinen  Kreisen  einer  engeren  Jüngerschar? 
So  gab  es  keinen  wesentlichen  Fortschritt  der  Kultur  ohne  eine 
Scheidung  der  Menschheit,  ein  Höheres  mußte  vorausgeworfen 
werden,  um  das  übrige  nach  sich  ziehen  zu  können,  eine  Feuer- 
säule mußte  dem  großen  Haufen  voranleuchten  und  ihm  den  Weg 
durch  die  Wüste  zeigen.  Trotz  aller  Bedenken  und  Verwahrungen 
ist  immer  wieder  ein  Gegensatz  esoterischer  und  exoterischer  Lebens- 


'  Beim  Begräbnis  eines  Zentrumsführers  wurde  seitens  eines  hohen 
Prälaten  rühmend  hervorgehoben,  der  Verewigte  habe  die  Sorge  für  seine 
Seele  gänzlich  den  Händen  der  Kirche  überlassen.  —  Ist  es  nicht  entsetzlich, 
daß  eine  derartige  innere  Preisgebung  des  Lebens  auch  noch  belobt  wird? 


304  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

führung  entstanden,  auch  die  radikalste  politische  Verfassung  hat  die 
Bildung  schroffer  sozialer  Unterschiede  nicht  verhindert,  ja  bis  in 
die  Äußerlichkeiten  des  Anstandes  und  der  Sitte  ist,  wie  einmal  die 
Menschen  sind,  der  Ehrgeiz,  es  Höherstehenden  gleichzutun,  eine 
unentbehrliche  Triebkraft  der  Bewegung.  Und  bleibt  nicht  für  jeden 
Einzelnen  alle  geistige  Tätigkeit  matt  und  wie  von  außen  angeweht, 
wenn  sie  sich  nicht  mit  seiner  individuellen  Art  verflicht  und 
damit  selbst  individuell  gestaltet,  wenn  er  nicht  bei  ihr  um  sein 
eignes  Wesen  kämpft?  Bilden  heißt  scheiden,  differenzieren,  indivi- 
dualisieren; so  war  die  Scheidung  überall  ein  unentbehrliches  Mittel 
für  Bewegung  und  Weiterkommen. 

Aus  solchen  Erwägungen  gehen  die  Individuen  von  der  Abwehr 
zum  Angriff  vor  und  rücken  der  gesellschaftlichen  Kultur  ihre 
Schranken  deutlich  vor  Augen.  Der  Mensch,  als  denkendes  Wesen, 
ist  eines  unmittelbaren  Verhältnisses  zur  Wirklichkeit  fähig,  er  ist 
kein  bloßes  Glied  einer  Verkettung,  er  kann  sich  der  Unendlichkeit 
gegenüberstellen  und  mit  ihr  ringen,  er  wird  der  Enge  der  bloßen 
Zuständlichkeit  bewußt  und  kann  von  ihr  zur  eignen  Wahrheit  der 
Dinge  streben.  Gewiß  stößt  solches  Streben  auf  Hemmungen  über 
Hemmungen,  aber  schon  als  Streben  erweist  es  eine  Überlegenheit 
des  Menschen  über  den  Kreis  der  bloßen  Gesellschaft.  Ist  es  nun 
nicht  ein  Widersinn,  einem  solchen  Weltwesen  das  Geistesleben  erst 
durch  die  Gesellschaft  vermitteln  und  es  dabei  an  das  Maß  dessen 
binden  zu  wollen,  was  der  Zusammenschluß  der  Kräfte  an  Geistig- 
keit erreicht  hat?  Soll  das  Wesen,  das  aus  seinem  Grundverhältnis 
zur* Geisteswelt  einen  unendlichen  Wert  besitzt,  sich  seinen  Wert  erst 
von  menschlicher  Schätzung  zusprechen  lassen,  soll  es  von  Gnaden 
der  Menschen  leben  und  damit  alle  Unabhängigkeit  der  Gesinnung 
verlieren?  Soll  der  Mensch  sich  einer  Wahrheit,  ja  einer  geistigen 
Existenz  erst  froh  und  sicher  fühlen,  nachdem  die  Gesellschaft  sie 
ihm  mit  Brief  und  Siegel  verbürgt  hat?  Soll  die  Erzeugung  geistiger 
Güter,  wenn  nicht  auf  dem  Markt  des  Lebens,  so  doch  für  ihn 
erfolgen,  und  sollen  damit  jene  Güter  zu  bloßen  Marktwaren  sinken? 

In  dem  allen  erscheint  das  Individuum,  d.  h.  das  geistig  be- 
wegte Individuum,  als  der  Vertreter  der  Geisteskultur  gegenüber 
einer  bloßen  Menschenkultur,  einer  inneren  Unendlichkeit  gegen  alle 
äußere  Begrenzung,  es  erscheint  als  eine  Kraft,  die  der  Verflachung 
widersteht,  aus  der  Erstarrung  aufrüttelt,  notwendige  Ziele  vorhält, 
das  menschliche  Streben   immer  neu  auf  seine  wahren  Grundlagen 


Gesellschaft  und  Individuum.  305 

zurückführt.  Und  wenn  solche  Schätzung  des  geisterfüllten  Indivi- 
duums notwendig  eine  Abhebung  vom  gesellschaftlichen  Durchschnitt 
mit  sich  bringt,  so  wird  sie  auch  die  diesem  Durchschnitt  eigne 
Unduldsamkeit  gegen  alles  irgend  Überragende  mit  sicherem  Stolze 
abweisen.  Es  gibt  einen  gemeinen  Neid  und  Haß  des  Mittelmäßigen 
gegen  das  Höhere  als  gegen  eine  Überschreitung  und  Herabsetzung 
der  eignen  Dürftigkeit;  dies  Höhere  wird  leidlich  geduldet  nur  dann, 
wenn  es  sich  bescheiden  duckt,  für  sein  Dasein  höflichst  um  Ent- 
schuldigung bittet,  alle  Äußerung  des  Kraftgefühls  behutsam  unter- 
drückt. Daher  steht  die  Tugend  der  Bescheidenheit  beim  Philister- 
tum so  hoch  in  Ehren.  Nahe  verwandt  ist  dem  das  Unterordnen 
des  Verschiedenartigsten  und  Verschiedenwertigsten  unter  die  gleichen 
Begriffe,  das  Operieren  mit  nichtssagenden  Schablonen  von  Lob  und 
Tadel,  jene  laue  und  matte  Art,  die  keiner  kräftigen  Liebe  und  keines 
kräftigen  Hasses  fähig  ist,  der  Licht  und  Dunkel  in  einen  grauen  Nebel 
zusammenfließen.  Demgegenüber  zur  Kräftigung  des  Empfindens, 
zur  'Schärfung  des  Urteils,  zur  Scheidung  der  Geister  zu  wirken, 
das  ist  ein  gutes  Recht,  ja  eine  heilige  Pflicht  des  Individuums. 

Freilich  kann  das  Individuum  in  rechtem  Sinne  überlegen  nur 
werden,  wenn  es  eine  Geisteswelt  hinter  sich  hat  und  aus  ihrer  Kraft 
zu  schöpfen  vermag.  Dies  aber  ist  keineswegs  die  Meinung  des 
modernen  Individualismus,  wie  er  sich  im  Durchschnitt  ausnimmt. 
Er  stellt  das  Individuum  gänzlich  auf  sein  unmittelbares  Dasein 
und  heißt  es  von  da  das  Leben  gestalten;  er  ist  besonders  be- 
flissen, alle  unsichtbaren  Zusammenhänge  zu  lockern,  nicht  nur  die 
Bindung  an  Menschen,  sondern  auch  die  an  eine  Geisteswelt  abzu- 
streifen. So  verbleibt  ihm  nichts  anderes  als  der  unmittelbare 
seelische  Zustand,  das  subjektive  Befinden;  indem  dies  zum  Kern 
alles  Lebens  wird,  verschmilzt  der  Individualismus  mit  dem  Sub- 
jektivismus. Augenscheinlich  entsteht  damit  eine  gewisse  Art  von 
Wirklichkeit.  Jene  Zuständlichkeit  läßt  sich  fixieren  und  steigern. 
Eigentümliches  vermag  sich  schrankenlos  auszubilden,  Leben  immer 
neu  aufzuquellen,  sein  Stand  sich  unablässig  zu  verändern.  So 
eine  große  Leichtigkeit,  Frische  und  Flüssigkeit,  das  Leben  scheint 
hier  ganz  auf  sich  selbst  gestellt,  und  bei  solcher  Freiheit  feiner, 
zarter,  intimer  geworden  als  irgendwo  sonst.  Auch  der  Begriff  der 
Wahrheit  verliert  seine  sonstige  Schwere  und  Starrheit.  Denn  als 
wahr  gilt  nunmehr  nur  das,  was  die  Seele  des  Einzelnen  erlebt  und 
was  sie  eben  jetzt  erlebt;  so  weicht  der  Begriff  einer  einzigen  Wahr- 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  20 


306  Zii  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

heit  dem  unzähliger  Wahrheiten,  jeder  Mensch  hat  hier  seine  eigne 
Wahiheit.  Eine  besondere  Freude  und  Bewußtheit  gibt  dem  der 
Kontrast  zur  Gesellschaft,  deren  Einrichtungen  und  Anordnungen 
dem  Lebensgefühle  des  Individuums  oft  widerstreiten;  so  heißt  es 
denn  demgegenüber  das  Leben  stets  in  Freiheit  und  Fluß  zu  er- 
halten, das  Eigentümliche  möglichst  zu  stärken  und  deutlich  her- 
vorkehren. 

Das  alles  konnte  aber  den  Stand  einer  formlosen  Erregung  und 
unklaren  Bewegung  nicht  überschreiten  ohne  sich  irgend  in  geistige 
Arbeit  umzusetzen,  es  fand  solche  Umsetzung  durch  die  Wendung 
zur  Kunst  und  Literatur.  Die  Kunst  in  ihrer  mannigfachen  Ver- 
zweigung wird  hier  zum  Hauptmittel,  das  sonst  unstet  wogende  und 
wallende  Leben  irgend  zu  fassen  und  festzulegen,  durch  die  Fassung 
aber  es  zu  verstärken,  es  bei  sich  selbst  voll  durchzubilden  und 
nach  außen  hin  unabhängig  zu  machen.  Konzentration  des  Lebens 
in  sich  selbst  und  Steigerung  seiner  Kraft,  das  wird  damit  zur  Haupt- 
aufgabe der  Kunst.  Sie  wird  die  Seele  einer  individuell -aristokra- 
tischen Kultur,  die  sich  als  die  vornehmere  einer  praktisch-sozialen' 
weit  überlegen  fühlt;  die  Kunst  kann  das  werden,  weil  sie  selbst 
über  aller  bloßen  Zweckmäßigkeit  liegt  und  den  Menschen  vor- 
wiegend auf  sein  individuelles  Vermögen  stellt,  weiter  aber  deshalb, 
weil  sie  aus  aller  Verworrenheit  und  Vergriffenheit  des  Durch- 
schnittslebens die  einfachen  Grundzüge  menschlichen  Seins  heraus- 
sehen. Ewigjunges  in  ihm  ergreifen  und  es  damit  aus  aller  Erstarr- 
ung im  Konventionellen  aufrütteln  kann. 

Leicht  überträgt  sich  aber  solche  Abstufung  des  Lebens  auf 
das  Bewußtsein  der  Individuen  und  gerät  dabei  rasch  auf  eine  ab- 
schüssige Bahn.  Nicht  nur,  wer  an  der  neuen  Art  mit  eignem 
Wirken  teilnimmt,  sondern  auch,  wer  sich  bloß  dazu  bekennt,  glaubt 
sich  der  übrigen  Menschheit  und  der  gesellschaftlichen  Kultur  über- 
legen; es  entsteht  eine  Neigung,  den  Abstand  hervorzukehren,  das 
Gegenteil  des  Landläufigen  zu  tun,  in  der  Absonderung  ein  Ge- 
fallen, ja  eine  Größe  zu  suchen.  Und  zugleich  greift  der  An- 
spruch um  sich,  unbekümmert  um  alles,  was  da  gilt,  um  Sitte  und 
Gesetz,  die  eigne  Art  nach  Lust  und  Laune  zu  entfalten,  sich  rück- 
sichtslos M auszuleben".  Die  Individualkultur  mag  das  alles  nicht 
wollen,  unter  menschlichen  Verhältnissen  ist  solche  Folge  schwer  zu 
vermeiden. 

Derartige  subjektivistische  Strebungen  und  Stimmungen  spielen 


Gesellschaft  und  Individuum.  307 

bekanntlich  eine  große  Rolle  in  der  neuesten  Gestaltung  des  Lebens. 
Neu  ist  dabei  freilich  nur  der  Name,  die  Sache  ist  alt,  uralt.  Denn 
wie  in  periodischer  Wiederkehr  kommen  immer  wieder  Lagen,  wo 
das  unmittelbare  Lebensgefühl  von  der  dargebotenen  Kultur  nicht 
befriedigt  war  und  nun  als  Hülfe  und  Heil  die  völlige  Emanzipation 
des  Individuums  verkündet  wurde,  wo  seine  unmittelbare  Empfindung, 
sein  selbstgefundenes  Urteil,  sein  künstlerischer  Geschmack  eine 
Wendung  zum  Besseren  bringen  sollte.  Wer  Piatos  Gorgias  kennt,  der 
kennt  auch  die  nahe  Verwandtschaft  der  Sophisten  mit  den  heutigen 
Subjektivisten;  in  Deutschland  brachte  zuerst  die  Geniezeit,  die  Vor- 
läuferin der  klassischen  Literaturepoche,  eine  derartige  Emanzipation 
des  Einzelnen;  damals  waren  »Genie",  »Kraftgenie«,  «Originalgenie" 
Modewörter  wie  heute  «Übermensch";  auch  »schöne  Seele"  steht  in 
Verwandtschaft  mit  dieser  Bewegung.^  Dann  kam  eine  neue  Welle 
in  der  Romantik,  deren  nahe  Verwandtschaft  mit  dem  ästhetischen 
Subjektivismus  der  Gegenwart  deutlich  zutage  liegt. 

Das  Ganze  gerecht  zu  beurteilen  ist  schwer,  weil  es  sich  offenbar 
um  eine  Übergangserscheinung  handelt,  die  um  so  mehr  Vernunft 
und  Recht  besitzt,  je  mehr  sie  sich  weiteren  Zusammenhängen  einfügt 
und  über  sich  selbst  hinausweist,  die  um  so  mehr  ins  Unrecht  gerät, 

^  Über  das  Aufkommen  und  die  Schicksale  des  Ausdrucks  Genie  handelt 
in  mustergültiger  und  erschöpfender  Weise  Hildebrand  in  Grimms  deutschem 
Wörterbuch.  Hinzufügen  möchten  wir  nur  eine  Stelle  aus  dem  kürzlich  ver- 
öffentlichten Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Lavater,  die  für  die  schärfere 
Abgrenzung  von  „Genie"  gegenüber  „Talent"  von  Bedeutung  ist.  Goethe 
schreibt  (Schriften  der  Goethe-Gesellschaft,  Bd.  16,  S.  125)  24.  Juli  1780:.  „Bei 
Gelegenheit  von  Wielands  Oberon  brauchst  du  das  Wort  Talent,  als  wenn  es 
der  Gegensatz  von  Genie  wäre,  wo  nicht  gar,  doch  wenigstens  etwas  sehr 
subordiniertes.  Wir  sollten  aber  bedenken,  daß  das  eigentliche  Talent  nichts 
sein  kann  als  die  Sprache  des  Genies."  Lavater  antwortet  darauf  (unterm 
5.  August  1780)  mit  einer  längeren  Auseinandersetzung  über  den  Untei- 
schied  von  Talent  und  Genie  (S.  130ff.),  woraus  nur  folgendes  angeführt  sei: 
„Nur  Ein  Wort  von  Talent  und  Genie.  Zwei  Worte,  die  ihrem  Sinn  und 
Gehalte  nach  ungefähr  so  verschieden  sein  mögen  wie  schön  und  erhaben. 
Talent,  mein'  ich,  macht  mit  Leichügkeit,  was  tausend  andere  nur  mit  äußerster 
Mühe  und  Langsamkeit  machen  können;  oder  es  macht  mit  Frohmut  und 
Grazie,  was  andere  nur  gerecht  und  korrekt  machen;  Genie  macht,  was  nie- 
mand machen  kann.  Alle  Werke  des  Talentes  erregen  bewunderndes  Wohl- 
gefallen; Genie  erweckt  Ehrfurcht,  erregt  ein  Gefühl,  das  der  Anbetung 
nahekommt."  —  Über  „schöne  Seele"  bringen  die  beste  Aufklärung  die 
neuesten  von  Ippel  besorgten  Auflagen  von  Büchmanns  Geflügelten  Worten. 

20* 


308  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

je  starrer  sie  sich  festlegt  und  in  sich  selber  einspinnt.  Dazu  ver- 
hindert hier  die  Verpönung  aller  bindenden  Normen  alle  scharfe 
Scheidung  zwischen  Höherem  und  Niederem,  zwischen  geistiger 
Notwendigkeit  und  menschlicher  Willkür,  bunt  wirbelt  Mannigfachstes 
durcheinander,  kaum  vermeidlich  ist  die  Gefahr,  in  Anerkennung 
des  Höheren  nachgiebig  gegen  das  Niedere,  in  Abwehr  des  Niederen 
ungerecht  gegen  das  Höhere  zu  werden.  Trotzdem  läßt  sich  auf 
irgendwelche.  Würdigung  nicht  wohl  verzichten. 

Warum  kann  eine  auf  das  bloße  Individuum  und  seine  Zu- 
standlichkeit  gestellte  Kultur  nicht  genügen?  Aus  zwei  Hauptgründen 
nicht:  1.  weil  das  Individuum  des  unmittelbaren  Daseins  —  und 
das  allein  steht  hier  in  Frage  —  weder  unabhängig  noch  selbst- 
genugsam  ist,  2.  weil  das  von  ihm  entwickelte  Leben  um  so  leerer 
und  hohler  wird,  je  mehr  es  seine  Folgen  hervortreibt.  —  Das 
empirische  Individuum  ist  in  Wahrheit  alles  eher  als  unabhängig. 
Denn  Vererbung,  Umgebung,  Erziehung  bedingen  es  nicht  nur  aufs 
mannigfachste,  sie  scheinen  es  gänzlich  hervorzubringen;  sie  flechten 
ein  so  dichtes  Netz,  daß  ihm  weder  List  noch  Gewalt  entrinnen 
kann.  Sicherlich  reicht  diese  Bindung  auch  in  jenes  Innerste  der 
Seele,  das  der  Individualismus  für  völlig  freischwebend  ausgibt. 
Jedenfalls  ist  es  nicht  deshalb  schon  frei,  weil  der  unmittelbare  Ein- 
druck keine  Bindung  empfindet.  Denn  mag  sich  der  Individualist 
der  Welt  noch  so  keck  entgegenwerfen  und  sich  völlig  von  ihr  ab- 
zulösen scheinen,  er  bleibt  doch  im  Schatten  und  Bannkreis  dieser 
Welt  Seine  vermeintliche  Unabhängigkeit  ist  gewöhnlich  nur  eine 
andere  Art  der  Abhängigkeit,  eine  indirekte  Abhängigkeit  Der  Indi- 
vidualist ist  geneigt,  das  Gegenteil  dessen  zu  sagen  und  zu  tun,  was 
die  Umgebung  sagt  und  tut,  so  ist  es  diese,  we'.he  ihm  die  Richt- 
ung vorschreibt;  die  Kette  ist  nicht  zerbrochen.  Der  Individualist 
fühlt  sich  der  Umgebung  überlegen,  aber  den  Abstand  ermessen  und 
genießen  kann  er  nur,  sofern  er  die  anderen  im  Auge  behält;  so 
bleibt  er  auch  hier  an  sie  gebunden.  Er  wonnt  im  stolzen  Gefühl 
der  Unabhängigkeit,  aber  er  muß  dabei  unablässig  die  anderen  als 
Zuschauer  und  Bewunderer  solcher  Größe  denken.  Das  Leben 
kommt  also  nicht  zu  einer  festen  Ruhe  und  einem  freudigen  Schaffen 
bei  sich  selbst,  es  steht  nicht  auf  seinen  eignen  Notwendigkeiten.  So 
kann  es  die  Beziehung  zum  Menschen  nicht  aufgeben,  so  muß  es 
vom  Kontraste  leben,  vom  Kontraste  zehren,  so  überwindet  es  nie 
den  Stand  einer  inneren  Abhängigkeit 


Gesellschaft  und  Individuum.  309 

Auch  gerät  bei  solcher  Wendung  das  Bewußtsein  der  Größe 
in  Gefahr,  einen  Zusatz  von  Eitelkeit  aufzunehmen.  Starke  Unter- 
schiede des  Lebens  und  Wesens  sind  da,  der  Grad  der  Belebung 
der  Geistigkeit  zeigt  weiteste  Abstände,  die  ordinäre  Gleichmacherei, 
deren  Stumpfheit  alles  zusammenwirft,  wird  mit  Recht  verworfen. 
Auch  sei  ja  nicht  die  Individualität  irgend  verdunkelt  oder  abge- 
schwächt! Denn  sie  ist  dem  geistigen  Schaffen  zu  seiner  vollen 
Wahrheit  und  Durchbildung  unentbehrlich;  gelangt  es  an  der 
einzelnen  Stelle  nicht  auf  den  Punkt  seiner  eigentümlichen  Stärke, 
wo  es  vollauf  seine  eigne  Natur  entfaltet,  so  wird  es  nie  der  Wider- 
stände Herr  werden.  Aber  in  dem  allen  muß  eine  überlegne  Not- 
wendigkeit des  Lebensprozesses  walten,  ein  geistiger  Zwang  den 
Menschen  treiben  und  leiten;  nyr  dann  verbleibt  die  Sache  gesund 
und  wahr.  Sie  verfällt  sofort  ins  Künstliche  und  Ungesunde,  wenn 
das  Individuum  darauf  ausgeht,  sich  möglichst  an  jeder  Stelle  indi- 
viduell und  groß  zu  zeigen,  wenn  es  den  Abstand  geflissentlich 
hervorkehrt,  wenn  es  gar  zur  Sache  reflektierenden  Genusses  macht, 
dessen  Ausführung  reine  Hingebung  und  selbstlose  Liebe  verlangt. 
Jedes  Zurücktreten  hinter  die  Sache,  jedes  Aufkommen  eitler  Selbst- 
bespiegelung  schwächt  die  geistige  Kraft  und  lockert  den  Zusammen- 
hang mit  den  inneren  Notwendigkeiten,  an  dem  alles  Gelingen  liegt. 
«Originalität  muß  man  haben,  nicht  danach  streben"  (J.  Burckhardt). 

Gewiß  kämpft  unter  der  Fahne  des  modernen  Individualismus 
vieles,  was  solchen  reflektierenden  Subjektivismus  mit  seinem  epikure- 
ischen Selbstgenusse  weit  überragt;  namentlich  läßt  sich  der  Ernst 
und  der  Eifer  der  modernen  bildenden  Kunst,  sowie  die  unverkenn- 
bare Größe  ihrer  Leistung  nur  verstehen  aus  dem  Erscheinen  neuer 
sachlicher  Aufgaben,  frischer  Antriebe  des  Schaffens,  welche  der 
Wirklichkeit  neue  Seiten  abgewinnen  und  ein  innerlicheres  Verhältnis 
zu  ihr  eröffnen.  Aber  je  bedeutender  die  Arbeit,  desto  mehr  ver- 
setzt sie  in  innere  Zusammenhänge  und  Notwendigkeiten,  unterwirft 
sie  das  Schaffen  einer  überlegenen  Wahrheit,  befreit  sie  vom  bloßen 
Subjektivismus  und  Individualismus.  Unvermerkt  wird  hier  aus  einem 
Individuum  gegenüber  der  Geisteswelt  ein  Individuum  mit  der  Geistes- 
welt; einem  solchen  aber  kann  der  heutige  Sturm  und  Drang  nur 
einen   Übergang   zu   einer   höheren   Stufe   der  Wahrheit    bedeuten. 

Ähnlich  bewahrt  auch  bei  der  Frage  des  Lebensinhalts  den 
reinen  Individualismus  und  Subjektivismus  nur  eine  unablässige  Er- 
gänzung vor  unerträglicher  Leere.     Streng  genommen  muß  er  die 


310  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Seele  in  lauter  einzelne  Vorgänge,  schließlich  in  bloße  Stimmungen 
auflösen,  die  in  rascher  Flucht  einander  jagen  und  vertreiben.  Da 
jeder  Augenblick  genau  so  viel  Recht  wie  der  andere  hat,  so  hätte 
jeder  seine  eigne  Wahrheit;  was  dabei  zunächst  ein  Gewinn  scheinen 
mag,  das  stellt  sich  schließlich  als  ein  schwerer  Verlust  heraus. 
Das  menschliche  Leben  erschöpft  sich  keineswegs  ganz  in  lauter 
einzelne  Augenblicke.  Die  Augenblicke  mit  ihren  Erlebnissen  ver- 
sinken nicht  völlig,  sie  kehren  zurück,  sie  stellen  sich  uns  vor  die 
Seele;  so  muß  der  Mensch  sie  vergleichen  und  verbinden,  sie  be- 
urteilen und  messen,  so  steht  er  über  den  bloßen  Augenblicken. 
Daher  muß  er  auch  das  Unwahrwerden  dessen  erleben,  was  ihm 
heute  als  wahr  gilt,  daher  empfindet  er  die  Flüchtigkeit  und  Nichtig- 
keit des  ganzen  Getriebes,  daher  überzeugt  er  sich,  daß  eine  Wahr- 
heit für  gestern  oder  heute  überhaupt  keine  Wahrheit  ist,  daß  sein 
Leben  alle  und  jede  Wahrheit  verliert^  wenn  es  an  die  bloßen  Augen- 
blicke gebunden  bleibt  Gibt  es  etwas,  das  mehr  ermüdet  und  tiefer 
niederdrückt,  als  der  unablässige  Umschlag  der  Meinungen  und 
Stimmungen,  das  eifrige  Verketzern  dessen,  was  eben  noch  begeistert 
verehrt  wurde,  die  Herabsetzung  aller  geistigen  Bewegung  zu  einer 
Sache  bloßer  Laune  und  Mode? 

Der  Individualismus  möchte  dem  menschlichen  Leben  zur  vollen 
Entwicklung  seiner  Kraft  verhelfen  und  ihm  möglichst  den  Charakter 
der  Größe  geben.  Das  ist  ein  Streben,  das  sich  vollauf  verstehen 
und  würdigen  läßt.  Steht  der  Mensch  an  einem  Wendepunkt  des 
Alls,  beginnt  in  ihm  eine  höhere  Stufe  der  Wirklichkeit,  so  gilt  es 
dies  Höhere  zu  ergreifen  und  gegen  allen  Widerspruch  des  Alltages 
durchzusetzen,  es  gilt,  um  mit  Marc  Aurel  zu  sprechen,  wie  auf 
einem  Berge  zu  leben.  So  hat  sich  von  alters  her,  wo  immer  der 
Abstand  zwischen  den  Forderungen  des  Geisteslebens  und  der  Durch- 
schnittslage der  Menschheit  zur  deutlichen  Empfindung  gelangte,  mit 
zwingender  Notwendigkeit  der  Gedanke  einer  höheren  Art  des  Lebens, 
einer  inneren  Größe  des  Menschen  entwickelt;  er  läßt  sich  von  der 
Höhe  der  griechischen  Kultur  durch  mannigfaltigste  Wandlungen  hin- 
durch bis  zur  Gegenwart  verfolgen. ^    Aber  wird  der  moderne  Indi- 


^  Eine  solche  Verfolgung  des  Problems  durch  die  verschiedenen  Zeiten 
hindurch  wäre  eine  anziehende  Aufgabe.  Den  wissenschaftlichen  Ausgangs- 
punkt würden  dabei  die  eindringenden  Untersuchungen  des  Aristoteles  über 
den  Großgesinnten  (jjLEYaXdlu/o;)  bilden.  Hier  sind  die  Begriffe  noch  mitten 
im  Fluß,  der  Gedanke  einer  Größe  innerhalb  des  menschlichen  Kreises  ver- 


Gesellschaft  und  Individuum.  311 

vidualismus  zu  einer  wahrhaftigen  Größe  gelangen,  wenn  er  alle 
inneren  Zusammenhänge  und  damit  alle  Möglichkeit  einer  Erweiter- 
ung des  Menschen  zu  einem  Weltwesen  aufgibt?  Es  gibt  kaum 
einen  härteren  Widerspruch,  als  den  Menschen  zu  einer  überlegenen 
Innerlichkeit  führen  zu  wollen  und  zugleich  eine  selbständige  Innen- 
welt schroff  und  erbittert  zu  bekämpfen.  Mag  der  heutige  Stand 
der  Religion,  die  ja  an  erster  Stelle  jene  selbständige  Innenwelt  ver- 
tritt, vielfach  unerfreulich  sein,  wir  sollten  doch  als  freie  Menschen 
unsere  Begriffe  und  Überzeugungen  von  höchsten  Dingen  nicht  nach 
dem  bilden,  was  die  Umgebung  uns  zuführt,  sondern  nach  dem, 
was  die  Notwendigkeit  des  eignen  Lebens  verlangt.  Ohne  eine  Um- 
kehrung der  ersten  Lage,  ohne  Metaphysik  gibt  es  keine  selbständige 
Innenwelt,  keine  wahrhaftige  Größe  des  Lebens.  Wo  immer  daher 
aus  dem  Gemenge  des  modernen  Lebens  Gestalten  merklich  hervor- 
ragen, da  ist  eine  Wendung  zur  Metaphysik  mit  im  Spiel.  So  z.  B. 
bei  Nietzsche..  In  seinen  Begriffen  hat  er  alle  Metaphysik  nach- 
drücklichst bekämpft,  in  seinen  Stimmungen  wirkt  eine  völlig  andere 
Welt  als  die  des  nächsten  Anblicks,  und  eben  als  künstlerischer 
Bildner  dieser  Welt,  als  Metaphysiker  der  Stimmung,  hat  er  die 
hinreißende  Gewalt  über  die  Gemüter  gewonnen.  Ähnlich  geht 
es  der  gesamten  modernen  Strömung  zur  Romantik.  Die  bloße 
Stimmung  aber  reicht  nun  und  nimmer  aus,  eine  Größe  gegenüber 
den  verflachenden  und  niederdrückenden  Wirkungen  der  Umgebung 
auszubilden  und  durchzusetzen,  sie  gibt  nur  eine  Größe  der  Mein- 
ung, nicht  der  Wirklichkeit.  Aus  nichts  läßt  sich  nichts  bauen,  und 
die  bloße  Stimmung  hat  nichts  hinter  sich. 

Nicht  anders  steht  es  mit  dem  Verlangen  nach  Kraft.  Ja  gerade 
heute  bedürfen  wir  gegenüber  schweren  Verwicklungen  und  großen 
Aufgaben  des  Qesamtlebens  viel  Kraft,  mehr  Kraft,  als  die  bloß- 
gesellschaftliche  Kultur  zu  bereiten  vermag,  aber   durch   ein  bloß- 


wandelt sich  fast  unvermerkt  in  den  einer  Größe  im  Gegensatz  zu  allem 
Menschlichen.  Die  alte  Weit  denkt  bei  der  Größe  namentlich  an  eine  dem 
menschlichen  Getriebe  überlegene  Ruhe  und  Selbständigkeit,  die  Neuzeit 
mehr  an  ein  überlegenes  Leistungsvermögen  und  eine  geistige  Schöpfungs- 
kraft; so  auch  hier  der  Gegensatz  der  Ideale  von  Beharren  und  Bewegung. 
Das  viele  Gerede  von  Größe  dürfte  namentlich  aus  der  Zeit  Ludwigs  XIV. 
stammen,  wenigstens  berauschen  sich  die  Schriftsteller  jener  Zeit  besonders 
an  jenem  Begriffe.  Die  bedeutendste  neuere  Untersuchung  über  historische 
Größe  dürfte  die  von  Jakob  Burckhardt  in  seinen  „Weltgeschichtlichen 
Betrachtungen"  sein. 


312  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

subjektives  Sichemporheben,  ein  Sicheinreden  der  Kraft,  ein  Sichr 
distanzieren  von  den  anderen  Menschen  kommen  wir  nun  und  nimme: 
zu  wahrhaftiger  Kraft  Die  eigne  Erfahrung  der  Gegenwart  zeigt 
das  deutlich  genug.  Mehr  reden  von  Kraft,  als  wir  es  heute  tun, 
läßt  sich  schwerlich;  sind  wir  dadurch  kräftig  geworden,  zeigt  unser 
literarisches  und  unser  politisches  Leben  eine  Fülle  starker,  selbst- 
wüchsiger,  ausgeprägter  Persönlichkeiten,  eine  Fülle  großer,  erhöhender 
Schöpfungen  ? 

XX-  Die  Notwendigkeit  einer  inneren  Überwindung  des  Gegensatzes. 

Wenn  weder  die  bloßgesellschaftliche  noch  die  individualistische 
Kultur  den  Aufgaben  gewachsen  ist,  wenn  keine  von  beiden  dem 
Leben  einen  wesenhaften  Inhalt  gibt,  und  wenn  zugleich  außer  Zweifel 
steht,  daß  nur  eine  klägliche  Stumpfheit  einen  direkten  Kompromiß 
zwischen  beiden  versuchen,  das  Leben  zwischen  hier  und  dort  ver- 
teilen kann,  so  müssen  wir  unbedingt  dem  Gegensatz  überlegen 
werden.  Individuum  und  Gesellschaft  sind  notwendige  Seiten  und 
Erscheinungsweisen  des  Geisteslebens,  zu  seiner  Ursprünglichkeit  be- 
darf es  der  Individuen,  zu  seiner  Befestigung  der  Gesellschaft;  Indi- 
viduum und  Gesellschaft  aber  ziehen  ihre  Kraft  und  Wahrheit  nicht 
aus  sich  selbst,  sondern  aus  den  geistigen  Zusammenhängen,  die  sie 
umfangen.  Das  Verhältnis  von  Individuum  und  Gesellschaft  wird 
sich  auf  dem  Boden  der  Geschichte  verschieden  gestalten;  die  Ge- 
sellschaft hat  für  sich  den  Zug  des  Lebens,  wo  es  nach  Auflösungen 
und  Erschütterungen  vor  allem  einer  Befestigung  bedarf,  wie  z.  B. 
beim  Ausgang  des  Altertums.  Was  damals  auch  die  kräftigsten 
Individuen  zwingend  zur  Anlehnung  an  die  Gemeinschaft  trieb, 
das  stellt  uns  Augustin  mit  voller  Klarheit  vor  Augen.  Die  Be- 
wegung zum  Individuum  erhält  dagegen  die  Oberhand,  wo  frisch 
aufstrebende  Kräfte  die  überkommenen  Ordnungen  als  zu  eng  und 
starr  empfinden  und  nur  in  Befreiung  von  ihnen  neue  Bahnen  zu 
suchen  vermögen.  Das  war  der  Haupttrieb  der  Neuzeit  bis  ins 
19.  Jahrhundert  hinein.  Daß  dann  ein  Rückschlag  kam,  und  daß  in 
der  Gegenwart  zugleich  die  Gesellschaft  und  das  Individuum  eine 
Verstärkung  verlangen,  daß  eine  praktisch-soziale  und  eine  künstlerisch- 
individuale  Art  um  den  Menschen  kämpfen,  das  zeigt  mit  besonderer 
Deutlichkeit  die  innere  Zerklüftung  unserer  Zeit,  das  muß  aber  zu- 
gleich als  ein  zwingender  Antrieb  zur  Erhebung  über  jenen  Gegen- 
satz,  zur    Wendung   von    einer   bloßen    Menschenkultur   zu    einer 


Gesellschaft  und  Individuum.  313 

Geistes-  und  Wesenskultur  wirken,  die  jenen  zu  umspannen  vermag. 
Nur  durch  ein  inneres  Vordringen  des  Lebens  läßt  sich  jener  Zer- 
klüftung begegnen;  denn  was  überall  von  den  echten  Problemen, 
das  gilt  besonders  hier,  daß  nicht  Meinungen  gegen  Meinungen, 
sondern  Lebensentfaltungen  gegen  Lebensentfaltungen  stehen. 

b)  Die  sozialdemokratische  Bewegung. 

Von  geistigen  Strömungen  der  Gegenwart  läßt  sich  nicht  wohl 
handeln,  ohne  der  Sozialdemokratie  zu  gedenken;  da  aber  über  sie 
so  viel  bis  zum  Überdruß  verhandelt  und  geschrieben  wurde,  so 
empfiehlt  sich  die  strengste  Beschränkung  auf  das,  was  die  philo- 
sophische Betrachtung  an  Eigentümlichem  vorzubringen  hat. 

Ihr  muß  aber  für  die  sozialdemokratische  Bewegung  am  meisten 
charakteristisch  scheinen,  daß  sie  drei  verschiedene  Strömungen  zu- 
sammenfaßt und  zur  Wirkung  verbindet:  die  demokratische,  die  öko- 
nomische, die  politistische;.es  handelt  sich  einmal  um  die- Verlegung 
des  Schwerpunktes  des  gemeinschaftlichen  Lebens  in  die  Massen, 
sodann  um  die  Erhebung  des  wirtschaftlichen  Problems  zur  be- 
herrschenden Seele  jenes  Lebens,  endlich  um  die  Anerkennung  des 
Staates  als  des  einzigen  Trägers  von  Vernunft  und  Macht.  Durch 
den  Staat  zu  gunsten  der  Massen  eine  ökonomische  Umwälzung 
herbeizuführen  und  aufrecht  zu  erhalten,  das  ist  der  Zentralgedanke, 
bei  dem  alle  einzelnen  Fäden  zusammenlaufen.  Das  Ganze  aber 
schöpft  namentlich  daraus  Kraft,  daß  die  einzelnen  Bewegungen 
schon  vor  ihrer  Vereinigung  die  Menschheit  geweckt  und  begeistert 
hatten,  und  daß  ihre  Verschmelzung  nur  zu  vollenden  scheint,  was 
sonst  bei  unbestimmter  Fassung  verbleibt  und  vor  seinen  eignen 
Konsequenzen  zurückschreckt.  Der  weltgeschichtliche  Verlauf  jener 
Strömungen  sei  in  Kürze  betrachtet. 

Bei  Demokratie  denken  wir  keineswegs  bloß  an  den  Staat, 
sondern  an  alles  Zusammenleben  der  Menschheit  und  an  alles  Ver- 
hältnis der  Individuen  zu  den  gemeinsamen  Lebensgütern.  Die  Neu- 
zeit ist  schon  deswegen  jener  Richtung  günstig,  weil  schwere  Hemm- 
ungen früherer  Epochen  in  Wegfall  kamen.  Im  Altertum  widerstand 
einer  Anerkennung  der  Gleichheit  aller  Menschen  die  Beschränkung 
der  Kultur  auf  einzelne  Völker,  so  daß  die  Sklaverei  auch  den 
Besten  keinen  Anstoß  erregte;  was  dem  Christentum  die  Eröffnung 
eines  unmittelbaren  und  eines  gleichen  Verhältnisses  aller  Individuen 


314  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

zu  Gott  an  Demokratischem  einpflanzte,  das  wurde  sowohl  durch 
die  bis  in  die  Anfänge  zurückreichende  hierarchische  Gestaltung  als 
durch  die  transzendente  Lebensstimmung  recht  weit  zurückgedrängt. 
Erst  in  einzelnen  Zweigen  der  Reformation  kam  es  zu  stärkerer 
Entfaltung,  um  dann  aber  bald  in  die  moderne  Bewegung  überzu- 
gehen. Die  Neuzeit  richtet  den  Menschen  immer  mehr  und  immer 
ausschließlicher  auf  das  Diesseits,  und  zugleich  macht  ihr  Hauptzug, 
die  Aufklärung,  zur  Hauptsache  an  ihm  etwas,  das  jenseit  aller  Unter- 
schiede der  Individuen  liegt:  die  abstrakte  Vernunft,  das  reine  Denken. 
Je  mehr  sich  das  zu  voller  Bewußtheit  erhebt  und  auch  in  die  Über- 
zeugung der  Individuen  eindringt,  desto  unwiderstehlicher  wird  es; 
immer  mehr  läßt  damit  das  Menschsein  alle  gesellschaftlichen  Unter- 
schiede verblassen,  immer  unabweisbarer  wird  die  Anerkennung  der 
Gleichheit  alles  dessen,  was  Menschengesicht  trägt.  Wohl  enthält 
auch  die  Neuzeit  Gegenwirkungen  zu  gunsten  eines  Aristokratismus. 
Große  Unterschiede  von  politischer  Stellung,  von  Besitz  und  von 
Bildung  übermittelt  die  Geschichte;  aristokratischer  als  alle  Geschichte 
erweist  sich  bleibend  die  Natur  mit  ihren  Unterschieden  der  körper- 
lichen und  seelischen  Ausstattung;  eine  eigentümliche  Aristokratie 
schafft  auch  die  moderne  Kultur  mit  der  technischen  Gestaltung  und 
der  wachsenden  Verzweigung  der  Arbeit.  Denn  je  mehr  diese  zu- 
nimmt, desto  mehr  Gliederung  und  Abstufung  erzeugt  sie,  desto 
mehr  Anordnung  und  Beherrschung  bedarf  sie,  desto  stärker  wirkt 
sie  zu  gunsten  eines  neuen  Aristokratismus.  Alle  solche  Wider- 
stände der  Dinge  hindern  jedoch  nicht  das  Vordringen  der 
demokratischen  Strömung  in  der  menschlichen  Überzeugung;  die 
Abstufung  wird  bald  als  künstlich  oder  doch  künstlich  geworden 
bekämpft,  bald  als  nebensächlich  beiseite  geschoben;  jedenfalls  wird 
sie  nicht  wie  ein  starres  Schicksal  hingenommen,  sondern  durch 
menschliche  Gegenwirkung  tunlichst  verringert.  Mögen  bei  dieser 
Bewegung  die  kleinen  Wogen  vielfach  zurücklaufen,  die  große  Woge 
geht  noch  immer  in  der  Richtung  der  Demokratie. 

Auch  die  Selbständigkeit  und  das  Übergewicht  der  wirtschaft- 
lichen Fragen  ist  erst  auf  dem  Boden  der  Neuzeit  erwachsen.  Ge- 
wiß war  die  Sorge  um  das  Mein  und  Dein  den  Individuen  zu 
allen  Zeiten  die  alles  überragende  Hauptsache;  nur  ein  arger  Fehl- 
schluß konnte  früher  das  antike  Leben  lediglich  idealen  Aufgaben 
zugewandt  denken,  weil  die  Philosophen  das  übermächtige  Verlangen 
nach  Geld  und  Gut  aufs  stärkste  zu  brandmarken  suchten.     Aber 


Gesellschaft  und  Individuum.  315 

eine  prinzipielle  Würdigung  fand  das  wirtschaftliche  Gebiet  in  der 
antiken  Lebensordnung  nicht.  Es  fand  es  einmal  nicht,  weil  die 
volle  Glückseligkeit  von  der  Entfaltung  einer  festen  und  begrenzten 
Natur  erwartet  wurde,  diese  Entfaltung  aber  nur  eines  beschränkten 
Aufwandes  äußerer  Mittel  bedarf;  es  fand  es  auch  deshalb  nicht, 
weil  jenes  ethisch-künstlerische  Lebensideal  unbedenklich  vom  Indi- 
viduum auf  die  Gemeinschaft  übertragen  und  auch  bei  dieser  jene 
Grenze  gezogen  wurde.  Das  Christentum  mit  seiner  Richtung  der 
Gedanken  auf  eine  übersinnliche  Welt  widerstand  noch  mehr  einer 
Schätzung  der  wirtschaftlichen  Güter.  Die  Theorie  aber  blieb  bei 
ihm  durchaus  unter  dem  Einfluß  des  Altertums.  Die  Neuzeit  da- 
gegen mit  ihrem  Verlangen  nach  Entwicklung  aller  Kraft  und  ihrem 
Streben  zur  unmittelbaren  Welt  stand  von  vornherein  anders  zur 
Sache.  Die  materiellen  Güter  gelten  hier  als  ein  unentbehrlicher 
Hebel  zur  Bewegung  der  Kräfte,  sie  scheinen  den  Fortschritt  sowohl 
einzuleiten  als  weiterzuführen.  Dazu  wird  das  wirtschaftliche  Streben 
durfch  die  Bildung  nationaler  Einheiten  verstärkt  und  veredelt,  die 
alten  Bedenken  verblassen,  indem  sich  die  Ökonomie  zur  National- 
ökonomie gestaltet.  Schon  die  Renaissance  zeigt  die  veränderte 
Schätzung,  die  dann  im  Frankreich  des  17.  Jahrhunderts  den  Über- 
gang in  die  Politik  eines  Großstaats  findet.  So  war  es  in  den  all- 
gemeinen Verhältnissen  vorbereitet,  wenn  schließlich  die  Theorie  in 
A.  Smith  die  wirtschaftliche  Bewegung  zum  Kern  und  zum  maß- 
gebenden Typus  des  gesamten  Kulturlebens  machte  und  als  die 
Haupttriebkraft  aller  Bewegung  auch  in  Wissenschaft,  Kunst,  Er- 
ziehung, Religion  das  Streben  nach  besserer  Lebenshaltung  erklärte. 
An  entschiedenem  Widerspruch  gegen  solche  Führerstellung  des 
Ökonomischen  hat  es  nicht  gefehlt,  aber  andererseits  hat  das  unab- 
lässige Wachstum  einer  technischen  und  verfeinerten  Kultur  die  Be- 
deutung der  materiellen  Güter  immer  weiter  gesteigert;  auch  das 
Anschwellen  des  Realismus,  der  die  Abhängigkeit  des  Geisteslebens 
von  Naturbedingungen  deutlich  vor  Augen  stellt  und  alles  Innere 
von  außen  her  ableiten  möchte,  unterstützt  das  weiter.  Erzeugt  nun 
in  vollem  Gegensatz  zu  A.  Smiths  Optimismus  die  neueste  Gestalt- 
ung der  Arbeit  schwere  Verwicklungen  auf  wirtschaftlichem  Gebiet, 
so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  von  der  Lösung  dieser 
Verwicklungen,  von  der  Herstellung  einer  neuen  ökonomischen  Ord- 
nung Heil  für  das  ganze  Leben  erwartet  wird. 

Die    dritte  Strömung    ist   der   Politismus,    die  Schätzung    und 


316  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Überschätzung  des  Staates.  Wie  viel  im  1 9.  Jahrhundert  dazu  trieb, 
das  hat  uns  schon  früher  beschäftigt;  die  Neigung,  in  allen  Dingen 
den  Staat  voranzustellen  und  ihm  die  Leitung  aller  Kulturarbeit  zu- 
zuweisen, ist  sichtlich  noch  immer  im  Wachsen.  Auch  hier  bringt 
die  Sozialdemokratie  nur  zu  vollem  und  starkem  Ausdruck,  was, 
verblaßt  und  abgeschwächt,  die  meisten  beherrscht  Zufällig  ist  es 
jedenfalls  nicht,  daß  in  Deutschland  mit  seiner  Neigung  zur  Staats- 
omnipotenz  die  Sozialdemokratie  besonders  rasch  vordrang,  während 
sie  bei  den  angelsächsischen  Völkern  langsamer  Boden  gewinnt. 

Die  Verbindung  des  Demokratismus,  Ökonomismus,  Politismus 
ist  an  sich  keineswegs  nötig,  ja  die  Frage  liegt  nahe,  ob  sie  nicht 
harte  Widersprüche  enthalte,  ob  im  besondem  nicht  die  vom  Demo- 
kratismus verfochtene  Freiheit  der  Individuen  mit  der  Zwangsgewalt 
des  Staates  unversöhnlich  zusammenstoße.  Wie  immer  es  aber  mit 
der  Berechtigung  jener  Verbindung  stehen  mag,  zunächst  ist  sie  eine 
geschichtliche  Tatsache,  und  mit  der  Macht  einer  Tatsache  ergreift  sie 
die  Zeitgenossen.  Auch  haben  jene  Hauptrichtungen  trotz  aller  Differenz 
eine  innere  Verwandtschaft,  die  namentlich  in  der  Verneinung  be- 
merklich wird.  Abgelehnt  wird  durchgängig  alles  Jenseitige  und 
Metaphysische,  also  auch  eine  selbständige  Qeisteswelt;  das  Ganze 
will  durchaus  immanent,  will  bloße  Diesseitskultur  sein  und  wird 
damit  bloße  Menschenkultur.  Diese  Grundüberzeugung  spricht  aus 
dem  Glauben  an  die  Masse,  sie  spricht  aus  der  Voranstellung  der 
wirtschaftlichen  Güter,  sie  erscheint  in  der  Erhebung  des  Staates  zum 
Träger  der  Vernunft.  Daher  ist  die  Meinung  verfehlt,  mit  jener 
Gedankenwelt  eine  religiöse  Überzeugung  verbinden,  sie  wohl  gar 
in  das  religiöse  Fahrwasser  überleiten  zu  können.  Denn  der  säkulare, 
bloßmenschliche  Charakter  ist  jener  Bewegung  wesentlich,  er  ist 
ihr  keineswegs  von  den  Individuen  nur  nebenbei  angehängt.  Es 
handelt  sich  hier  nicht  um  partielle  Theorien,  die  so  oder  so  zu 
wenden  sind,  sondern  um  eine  Gesamtgestaltung  des  Lebens  und 
eine  allumfassende  Gedankenwelt,  die  zum  ganzen  Menschen  sprechen 
und  seine  ganze  Seele  verlangen.  Das  vornehmlich  gibt  der  Be- 
wegimg heute  ihre  Kraft,  daß  sie  den  ganzen  Menschen  fordert  und 
alle  Mannigfaltigkeit  seines  Strebens  einer  allbeherrschenden  Idee 
unterwirft 

Lebensentfaltungen  sind  nur  Lebensentfaltungen  gewachsen,  alle 
bloße  Kritik,  mag  sie  noch  so  geschickt  und  geistreich  sein,  verhält 
sich   ihnen   gegenüber   wie  der  flüchtige  Schatten  zu  einem  festen 


Gesellschaft  und  Individuum.  317 

Körper.  So  sei  auch  hier  die  Kritik  auf  das  Notdürftigste  dessen 
beschränkt,  was  besonders  die  Philosophie  und  die  Lebensanschau- 
ung betrifft.  —  Augenscheinlich  ist  zunächst  der  schroffe  und  unver- 
söhnliche Gegensatz  des  Ganzen  unserer  Überzeugung  mit  dem  in 
jener  Bewegung  wirksamen  Lebensideal.  Wir  widersprechen  aufs 
entschiedenste  aller  bloßen  Menschenkultur;  wir  tun  das,  weil  wir 
im  Menschen  zwei  Welten  zusammentreffen  sehen,  und  weil  nur  die 
Ergreifung  der  höheren  unserem  Leben  einen  Sinn  und  Wert  zu 
geben  und  es  in  rechte  Bewegung  zu  setzen  vermag.  Jene  Er- 
greifung aber  verlangt  eine  energische  Umwandlung  nicht  nur  des 
ersten  Weltanblicks,  sondern  mehr  noch  des  eignen  Wesens  des 
Menschen,  kräftige  Aufrüttelungen,  Erhöhungen,  Erneuerungen;  nur 
so  ist  zu  einer  Geistes-  und  Wesenskultur  zu  gelangen  und  dadurch 
dem  Menschen  eine  innere  Größe  zu  geben.  Aus  solcher  Überzeug- 
ung widerstehen  wir  dem  Demokratismus,  weil  er  eine  fälschliche 
Idealisierung  des  sinnlichen  Menschen  vollzieht  und  die  Geisteswelt 
dem  bloßen  Menschentum  unterzuordnen  geneigt  ist,  widerstehen 
wir  ferner  dem  Ökonomismus,  weil  sein  Bauen  von  außen  nach 
innen  eine  Leugnung  selbständiger  Probleme  des  Innenlebens  ent- 
hält, und  weil  er  mit  der  Herstellung  eines  sorgenfreien,  behäbigen 
Zustandes  das  volle  Glück  des  Menschen  gesichert  glaubt,  verwerfen 
wir  endlich  den  Politismus,  weil  er  die  Selbständigkeit  der  Persön- 
lichkeit unterdrückt  und  damit  die  Ursprünglichkeit  des  geistigen 
Schaffens  gefährdet,  auch  den  Selbstwert  der  geistigen  Güter  bloßen 
Zweckmäßigkeiten  aufzuopfern  bereit  ist.  Überall  hier  in  allem 
äußeren  Vordringen  ein  inneres  Sinken,  eine  Behandlung  der  Haupt- 
sachen als  Nebendinge,  ein  geistiges  Kleinwerden  des  Menschen. 

So  ein  voller  Gegensatz  und  eine  entschiedene  Verneinung. 
Aber  die  bloße  Verneinung  läßt  unerklärt,  wie  das  Ganze  so  viel 
Macht  über  die  Menschheit  gewinnen  konnte,  wie  es  nicht  bloß  die 
Leidenschaften  erregen,  sondern  auch  viel  Aufopferung  erzeugen, 
viel  edle  Gemüter  gewinnen  konnte.  Es  müssen  hinter  dem,  dessen 
nähere  Zuspitzung  das  Leben  gefährdet,  allgemeinere  Probleme 
wirken,  die  auch  wir  anderen  nicht  ablehnen  können,  die  uns  nicht 
ruhen  und  rasten  lassen,  bis  sie  irgendwelche,  wenn  nicht  Lösung, 
so  doch  Beschwichtigung  gefunden  haben. 

Ein  solches  allgemeineres  Problem  steckt  in  dem  Demokratis- 
mus; es  ist  die  Frage  einer  größeren  Verbreitung  der  Kultur  und 
einer  gleichmäßigeren  Verteilung  ihrer  Güter,  einer  kräftigeren  Teil- 


318  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

nähme  der  einzelnen  Individuen  am  Geistesleben.  Nach  aller  Arbeit 
der  Jahrtausende  steht  es  damit  noch  immer  kümmerlich  genug. 
Wie  gering  ist  trotz  aller  Fortschritte  noch  immer  das,  was  der  weit 
überwiegenden  Mehrheit  von  den  Schätzen  der  Bildung  zufällt,  wie 
dünn  ist  die  Schicht,  die  an  der  Bewegung  zu  einer  höheren  und 
innerlicheren  Kultur  teilnimmt!  Über  tausend  Jahre  wirkt  bei  uns 
das  Christentum,  wie  wenig  ist  es  uns  in  dieser  nach  mensch- 
lichem Maße  langen  Zeit  zu  einer  umgestaltenden  Macht,  zu  festem 
inneren  Besitz,  zu  wesendurchdringender  Überzeugung  geworden! 
Viel  zu  sehr  ist  es  bei  allem  Gerede  von  Fortschritt  und  Geistesleben 
ein  bloßer  Überwurf  über  ein  von  bloßen  Naturtrieben  beherrschtes 
Dasein  geblieben,  viel  zu  wenig  sind  die  großen  Gegensätze  und 
Spannungen,  aber  auch  die  großen  Möglichkeiten,  die  unser  Leben 
enthält,  für  das  Bewußtsein  der  Einzelnen  herausgearbeitet.  Nun- 
mehr beginnen  wir  -  schon  das  ist  eine  Wendung  zum  Besseren  — 
es  als  eine  Unwahrheit  zu  empfinden,  daß  eine  höhere  Art  des 
Lebens  in  der  Menschheit  wohl  irgend  wirksam  ist,  aber  der 
Mehrzahl  der  Individuen  innerlich  fem  und  fremd  bleibt;  ist  ein 
solches  Gefühl  einmal  wach  geworden,  so  wird  es  irgendwie  zu  be- 
friedigen sein;  selbst  wenn  im  Kampfe  nach  solchen  Zielen  die 
Schranken  menschlichen  Vermögens  sich  noch  so  bemerklich  machen, 
es  besagt  einen  gewaltigen  Unterschied,  ob  die  bisherige  Lage  wie 
ein  Schicksal  hingenommen,  oder  ob  ein  Kampf  für  eine  stärkere 
Teilnahme  aller  aufgenommen  und  damit  die  Menschheit  der  Schuld 
möglichst  entlastet  wird. 

Diese  Erwägungen  werden  durch  eine  Wahrnehmung  verstärkt, 
der  sich  kein  Unbefangener  verschließen  kann.  Unsere  Zeit  enthält 
manche  Zeichen  eines  Oreisenhaftwerdens:  ein  raffinierter  Epikureis- 
mus  des  Lebens  greift  weiter  und  weiter  um  sich,  manche  zur 
Führung  berufene  Kreise  zeigen  sich  geistesträge  und  abgestumpft; 
ohne  ihrem  Leben  einen  wertvollen  Inhalt  zu  geben,  halten  sie  hohe 
Ansprüche  aufrecht;  ist  es  verwunderlich,  daß  die  Überzeugung 
immer  mehr  Boden  gewinnt,  daß  es  heute  fast  mehr  noch  als  neuer 
Ideen  neuer  Menschen,  frischer  und  einfacher  Individuen,  aufstreben- 
der und  geistesdurstiger  Bevölkerungsschichten  bedarf?  Wer  das 
anerkennt,  braucht  noch  keineswegs  sich  zur  Sozialdemokratie  zu 
bekennen  und  die  von  ihr  erstrebte  Erneuerung  für  die  richtige  zu 
halten,  das  Verlangen  nach  Erneuerung  aber  wird  er  verstehen. 

Der  Ökonomismus  droht  mit  seinem  Anspruch  auf  die  Führung 


Gesellschaft  und  Individuum.  319 

des  Lebens  es  in  eine  problematische  und  abschüssige  Bahn  zu 
leiten,  er  kann  nur  da  die  Gemüter  gewinnen,  wo  ein  selbständiges 
Innenleben  und  wo  seelische  Probleme  fehlen.  Aber  die  wirtschaft- 
liche Hebung  ließe  sich  nicht  als  eine  Befreiung  von  aller  Not  be- 
grüßen, lastete  nicht  die  Sorge  um  die  Lebenserhaltung  mit  pein- 
licher Schwere  auf  vielen  Menschen.  Es  wäre  gewiß  kein  Glück, 
wenn  der  Tisch  des  Lebens  den  Menschen  fertig  bereitet  würde  und 
sie  nur  zu  genießen  brauchten,  wenn  alle  Sorge  und  aller  Kampf 
entfiele.  Aber  es  bleibt  tieftraurig,  daß  diese  eine  Sorge  um  die 
Lebenserhaltung  so  sehr  überwiegt  und  das  menschliche  Sinnen  und 
Denken  so  zwingend  festhält,  wie  es  gewöhnlich  geschieht.  Es 
kommt  damit  ein  schwerer  Druck  auf  das  Leben,  der  zu  innerer 
Kleinheit  und  Erniedrigung  wirkt  und  mit  seiner  stumpfen  Alltäg- 
lichkeit alles  frische  und  freie  Aufstreben  hemmt.  Gewiß  hat  die 
Not  viel  Großes  geboren.  Aber  mit  Recht  sagt  Pestalozzi:  »Es 
gibt  eine  Armut,  die  zur  Emporbildung  der  menschlichen  Kräfte 
und  'zur  Grundlage  seines  Glückes  und  seiner  inneren  Größe  dient. 
Aber  es  gibt  auch  eine  Armut,  die  zur  Verzweiflung  führt"  (Wke. 
VIII,  98).  Vieles  ist  in  der  Neuzeit  zur  Bekämpfung  solches  Druckes 
und  solcher  inneren  Erniedrigung  geschehen;  dürfen  wir  behaupten, 
daß  nicht  noch  viel  mehr  geschehen  könnte,  daß  nicht  bloß  in  den 
Gesinnungen  der  Individuen,  sondern  auch  in  den  allgemeinen  Ver- 
hältnissen nicht  manches  sich  anders  und  besser  gestalten  ließe? 

Das  Bedenkliche  des  Politismus  kam  wiederholt  zu  Erwähnung; 
nicht  nur  der  Freiheit  der  Einzelnen,  auch  der  Seele  des  Gesamt- 
lebens drohen  von  daher  Gefahren.  „Wenn  alles  nach  Vorschriften 
gehen  sollte,  so  müßte  das  Leben,  das  so  schon  schwer,  völlig  un- 
erträglich werden",  so  meinte  schon  Plato  vor  mehr  als  zweitausend 
Jahren.  Aber  warum  dringt  denn  die  Staatsidee  heute  so  mächtig 
vor,  gerade  auch  in  Kreisen,  welche  besonders  um  die  Freiheit  be- 
sorgt sind?  Doch  wohl,  weil  das  Individuum  bei  der  Zerreibung 
der  überkommenen  Zusammenhänge  und  dem  völligen  Unsicher- 
werden der  eignen  Stellung  irgend  welchen  festen  Halt  ersehnt,  weil 
es  seine  Existenz  irgendwie  auch  vom  Ganzen  geschätzt  und  ge- 
schützt sehen  will.  Das  greift  weit  über  alle  wirtschaftliche  Fragen 
hinaus  auch  in  das  Innere  und  Ganze  des  Lebens.  Ein  solches 
Verlangen  nach  mehr  Halt  und  Schätzung  hat  beim  Zusammenbruch 
des  Altertums  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  der  christlichen  Kirche 
die   Herzen    zu    gewinnen;    heute  aber  scheint  es  sich  wieder  mit 


320  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

neuer  Kraft  zu  erheben.  Hüten  wir  uns,  solche  Bewegungen  gering 
zu  achten,  weil  sie  still  und  verborgen  im  Untergrunde  des  Lebens 
erfolgen.  Denn  sie  sind  es,  in  denen  sich  die  seelischen  Lagen 
bereiten,  die  dann  plötzlich  mit  unwiderstehlicher  Kraft  hervorbrechen 
und  das  Ganze  des  sichtbaren  Lebens  in  völlig  neue  Bahnen  treiben. 
Innere  Verschiebungen,  molekulare  Umwandlungen,  wenn  dieser 
Ausdruck  gestattet  ist,  sind  heute  im  Gange;  welche  Gestaltung 
menschlicher  Verhältnisse  daraus  hervorgehen  wird,  das  liegt  einst- 
weilen in  tiefem  Dunkel. 

Auch  die  Einheit  der  Gedankenwelt,  die  in  der  sozialdemokra- 
tischen Bewegung  wirkt,  sei  nicht  zu  gering  angeschlagen.  Wohl 
muß  bei  unserer  Abweisung  aller  bloßen  Menschenkultur  die  be- 
sondere Art  dieser  Einheit  mit  ihrer  Vergötterung  des  Menschen  als 
eine  verhängnisvolle  Irrung  erscheinen.  Aber  Einheit  bleibt  Einheit, 
sie  allein  macht  es  möglich,  daß  die  Verzweigungen  der  Arbeit  sich 
gegenseitig  unterstützen,  und  daß  an  jeder  einzelnen  Stelle  der  ganze 
Mensch  in  Tätigkeit  tritt.  Das  einzige  System,  das  außerdem  heute 
eine  allumfassende  Einheit  bietet,  ist  der  kirchliche  Katholizismus,  der 
aber  mit  seiner  strengen  Bindung  an  die  mittelalterliche  Denkweise 
unvermeidlich  in  einen  immer  schrofferen  Gegensatz  zu  den  Beweg- 
ungen der  Zeit  und  den  Bedürfnissen  des  modernen  Menschen,  ja 
zu  den  inneren  Notwendigkeiten  des  Geisteslebens  gerät.  Auf  dem 
eignen  Boden  der  Neuzeit  besaß  die  Aufklärung  eine  Art  von  Lebens- 
einheit und  zugleich  ein  allumfassendes  Ideal;  seit  ihrer  Erschütter- 
ung befinden  wir  uns  in  starker  innerer  Zerklüftung,  die  immer 
unerträglicher  wird.  Im  besonderen  pflegen  die,  welche  von  der 
Freiheit  aus  das  Leben  gestalten  möchten,  dem  wunderlichen  Wider- 
spruch zu  verfallen,  daß  sie  praktisch  die  Größe,  Würde,  Leistungs- 
fähigkeit des  Menschen  nicht  genug  rühmen  können,  daß  sie  da- 
gegen eine  Weltanschauung,  welche  eine  solche  Schätzung  des 
Menschen  allein  zu  begründen  vermag,  mit  Feuereifer  bekämpfen 
und  sich  ihrer  Freiheit  um  so  sicherer  dünken,  je  negativer,  je 
leerer  sich  ihre  *  Gedankenwelt  gestaltet.  Indem  sie  so  aller  Vernein- 
ung und  Verflachung  in  der  Weltanschauung  ihre  Sympathie  ent- 
gegenbringen, untergraben  sie  selbst  den  Boden,  der  ihr  Streben 
trägt.  Solche  Unklarheit  oder  vielmehr  Gedankenlosigkeit  ist  keiner 
durchgreifenden  Wirkung  fähig. 

So  ist  eine  schwere  Krise  nicht  zu  verkennen;  es  wird  sich 
entscheiden   müssen,   ob   die   heutige  Kultur   und  Gesellschaft  die 


Gesellschaft  und  Individuum.  321 

Kraft  enthält,  eine  innere  Zusammenfassung  und  geistige  Erhöhung 
des  Lebens  zu  vollziehen  und  damit  der  Auflösung  Widerstand  zu 
leisten,  oder  ob  sie  eine  solche  nicht  aufzubringen  vermag.  Ersteren 
Falls  könnte  der  Angriff  nur  dazu  dienen,  die  Kultur  auf  ihre  eigne 
Tiefe  zu  bringen  und  sie  der  Kleinheit  des  menschlichen  Getriebes 
zu  entwinden;  im  anderen  Falle  müßte  die  heutige  Kultur  und  Ge- 
sellschaft untergehen,  und  sie  würde  solchen  Untergang  dann  ver- 
dienen. Die  geistige  Welt  selbst,  .sowie  ihr  Wirken  zur  Mensch- 
heit steht  sicher  und  fest  über  solchen  Wandlungen,  wie  die  Ge- 
stirne über  den  Wandlungen  der  bloßen  Erdoberfläche.  Ja  es 
könnte  sein,  daß  erst  eine  krasse  Verneinung  aller  selbständigen 
Geistigkeit  und  eine  Auflösung  aller  unsichtbaren  Zusammenhänge 
erforderlich  wäre,  um  der  Menschheit  auf  dem  Wege  eines  indirekten 
Beweises  ihre  Unentbehrlichkeit  wieder  nachdrücklich  zum  Bewußt- 
sein zu  bringen  und  dadurch  dem  Leben  wieder  zu  dem  Wahr- 
heitsgehalt zu  verhelfen,  der  heute  schmerzlich  vermißt  wird. 


Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  21 


4.  Probleme  der  Moral. 

a)  Die  unsichere  Stellung  der  Moral  in  der  Gegenwart. 

I  |ie  Fassung  wie  die  Schätzung  der  Moral  ist  heute  voller  Un- 
■'-^  Sicherheit.  Einmal  erscheint  gegenüber  der  Erschütterung  der 
religiösen  und  philosophischen  Überzeugungen  die  Moral  als  ein  fester 
Punkt,  an  dem  sich  alles  zusammenfinden  kann,  was  sonst  aus- 
einanderfällt. Denn  wenn  alles  ins  Wanken  gerät,  es  bleibt  der 
Mensch  und  das  Verhältnis  zum  Menschen,  unser  Zusammensein 
stellt  uns  Aufgaben,  die  niemand  bestreiten  kann.  So  entstand  eine 
Bewegung  zur  ethischen  Kultur,  über  den  besonderen  Kreis  hinaus 
findet  sich  viel  Bewegung,  das  Wohlsein  der  Mitmenschen  zu  fördern 
und  zugleich  dem  eignen  Leben  einen  wertvollen  Inhalt  zu  geben. 
Als  Moral  erscheint  hier  der  Altruismus,  das  Wirken  für  andere,  das 
Zurückstellen  der  eignen  Interessen  vor  denen  der  anderen.  Diese 
Bewegung  bildet  ein  Hauptstück  der  gegenwärtigen  Kultur,  breite 
Wirkungen  zur  Hebung  von  Not  und  Leid,  zur  Milderung  von 
Strenge  und  Härte,  zur  Humanisierung  des  menschlichen  Daseins 
sind  von  ihr  ausgegangen  und  gehen  unablässig  von  ihr  aus. 

Aber  inmitten  solcher  Leistungen  verbleibt  im  Prinzipiellen  viel 
Bedenken  und  Widerspruch.  Vielleicht  finden  wir  uns  bei  der 
Moral  als  Altruismus  nur  deshalb  so  leicht  zusammen,  weil  die 
tieferen  Probleme  der  Sache  zurückgeschoben,  wenn  nicht  geleugnet 
werden.  Ist  es  denn  ausgemacht,  daß  Moral  mit  Altruismus,  mit 
einem  Handeln  für  andere  zusammenfällt?  Der  Ausdruck  Altruismus 
stammt  aus  der  Gedankenwelt  Comtes,  das  heißt  aus  einem  Systeme, 
das  alles  Beisichselbstsein  der  Seele  preisgibt  und  das  Leben  ganz 
und  gar  in  das  Verhältnis  zur  Umgebung  aufgehen  läßt;  sollte 
die  hier  der  Moral  gegebene  Fassung  ohne  weiteres  auch  für  uns 
anderen  gelten?  In  Wahrheit  heißt  Moral  und  Altruismus  gleich- 
setzen die  Moral  im  Umfang  einengen  und  im  Inhalt  verflachen. 
Erschöpft  denn   das  soziale  und  humane  Wirken  den  ganzen  Um- 


Probleme  der  Moral.  323 

kreis  der  Moral,  tragen  wir  nicht  auch  große  Aufgaben  in  uns  selbst, 
in  der  Bildung  der  eignen  Seele,  auch  in  dem  Verhältnis  zur  Welt 
und  zu  den  Dingen  ?  Durch  das  Ganze  unseres  Lebens  geht  das  Ent- 
weder— oder,  ob  das  Handeln  unserer  eignen  Lust,  oder  ob  es  einem 
sachlichen  Ziele  dient.  Es  kann  z.  B.  das  Schaffen  eines  Künstlers 
durch  Beweggründe  verschiedenster  Art  geleitel  sein.  Der  Schaffende 
kann  Vorteil,  Ruhm,  Anerkennung  suchen,  er  kann  die  Wünsche 
und  Launen  des  ihn  umgebenden  Publikums  zu  befriedigen  trachten, 
er  kann  endlich  lediglich  und  allein  der  inneren  Notwendigkeit  des 
Schaffens  folgen  und,  wenn  es  sein  muß,  diese  mit  heroischer  Kraft 
gegen  allen  Widerspruch  der  Umgebung  bis  zu  eigner  Gefährdung 
durchsetzen;  ist  solche  Treue  gegen  sich  selbst  und  die  Sache 
nicht  auch  ein  Handeln  moralischer  Art?  Ähnlich  kann  den  Forscher, 
ähnlich  den  religiös  Überzeugten  die  geistige  Selbsterhaltung  in  den 
härtesten  Widerspruch  zur  Umgebung  führen  und  ihn  ihre  Ruhe,  ihr 
Behagen  gründlich  zu  erschüttern  zwingen;  ja  es  mag  die  ganze  Be- 
wegung zur  Geistigkeit  mit  ihren  Ansprüchen,  Sorgen  und  Zweifeln 
als  eine  Störung  des  Gleichgewichts  und  als  eine  Feindin  des  un- 
mittelbaren Wohlseins  erscheinen;  ist  trotzdem  nicht  in  ihr  eine 
moralische  Aufgabe  anzuerkennen?  Trifft  aber  dieses  zu,  so  ist  die 
Moral  sicherlich  etwas  tieferes  und  besseres  als  der  bloße  Altruismus. 
Auch  das  spricht  wider  diesen,  daß  er  die  Moral  nicht  aus 
der  eignen  Tiefe  der  Seele  zu  begründen,  nicht  sie  zu  einer  Sache 
geistiger  Selbsterhaltung  zu  machen  versteht  Zu  Gute  kommt  ihm 
aber  bei  den  Menschen  die  Unsicherheit,  die  heute  über  einer  solchen 
Begründung  waltet.  Von  der  Vergangenheit  her  wirken  auf  uns 
zwei  Gedankenwelten  mit  einer  innerlicheren  Art  der  Moral:  die  der 
Religion  und  die  eines  immanenten  Idealismus.  Dort  war  es  das 
Verhältnis  zu  einem  weltüberlegenen  Sein,  hier  war  es  die  eigne 
Vernunft  des  Menschen,  woraus  lebenumspannende  Aufgaben  und 
eine  ethische  Bewertung  all  unseres  Handelns  hervorgehen  sollte. 
Beide  Arten  aber  sind  dem  Geistesleben  der  Gegenwart  nicht  nur 
in  ihrer  Grundlage  erschüttert,  sondern  auch  ihrem  Inhalt  nach 
vielfach  bedenklich  geworden.  Die  Welt  der  Religion  ist  für  viele 
gänzlich  verschwunden,  aber  auch  die  einer  immanenten  Vernunft 
ist  mehr  und  mehr  verblaßt;  zugleich  aber  erscheint  dem  Hauptzuge 
der  Zeit  die  religiöse  Moral  als  zu  weich  und  zu  passiv,  die  Ver- 
nunftmoral aber  als  zu  abstrakt  und  mit  ihrer  strengen  Pflichtidee 
auch  als  zu  rauh.   So  bleibt  als  der  einzige  unbestrittene  Punkt  die 

21* 


324  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

soziale  Moral  mit  ihrem  Altruismus,  dieser  aber  hat  sich  uns  als  viel 
zu  eng  und  flach  erwiesen.  Demnach  bleibt  zunächst  nur  die  Tatsache 
festzustellen,  daß  unsere  Zeit  überhaupt  keine  Moral  besitzt,  welche 
dem  in  ihr  vorhandenen  Stande  der  weltgeschichtlichen  Evolution 
des  Geisteslebens  entspricht,  daß  sie  einer  charakteristischen,  ihre 
innersten  Bedürfnisse  befriedigenden  Moral  entbehrt.  Ihrem  innersten 
Wesen  nach  angesehen,  ist  die  Moral  uns  heute  mindestens  ebenso 
unsicher  als  die  Religion. ^  Wie  sehr  solcher  Mangel  an  einer  eignen 
Moral  die  Kraft  der  Moral  in  unserer  Zeit  herabsetzt,  wie  sehr  er 
es  den  Gegnern  der  Moral  erleichtert,  Karikaturen  von  ihr  zu  ent- 
werfen und  mit  der  Verspottung  dieser  sie  selbst  für  widerlegt  und 
abgetan  zu  halten,  das  stellen  uns  zahlreiche  Eindrücke  der  Gegen- 
wart mit  voller  Klarheit  vor  Augen.  Wir  werden  solchen  Verwick- 
lungen nicht  gewachsen  werden,  wenn  es  nicht  gelingt,  durch  Selbst- 
besinnung und  Selbstvertiefung  des  Lebens  wieder  zu  einer  eignen, 
selbsterlebten  Moral  zu  gelangen.  Hier  liegt  vielleicht  das  alier- 
dringendste  Bedürfnis  der  Zeit. 

b)  Moral  und  Metaphysik. 

Weithin  reicht  heute  die  Neigung,  die  Moral  von  den  Problemen 
der  Weltanschauung  gänzlich  abzulösen  und  unmittelbar  bei  sich 
selbst  zu  erfassen.  Viele  sehen  darin  eine  große  Befreiung  und 
zugleich  eine  Vereinfachung  des  Lebens,  manche  geschichtliche  Vor- 
bilder werden  zur  Unterstützung  dessen  herangerufen,  im  besondern 
ist  es  der  große  Name  Kants,  der  dies  Unternehmen  sanktionieren  soll. 

Gewiß  bestand  von  altersher  die  Neigung,  alle  Verwicklungen 
der  Weltprobleme  von  sich  zu  werfen  und  sich  auf  ein  rechtschaffenes 
Leben  zurückzuziehen;  der  Einzelne  mag  ein  gutes  Recht  haben, 
das  zu  tun,  aber  hat  es  auch  das  Ganze  der  Menschheit  ?  Setzt  nicht 
die  Wendung  des  Einzelnen  voraus,  daß  unabhängig  von  ihm  eine 
Moral  gesichert   und  anerkannt  ist?     Im  besondern  kann  nur  eine 


^  Trotz  solcher  Unsicherheit  im  Fundament  bietet  unsere  Zeit  Lehr- 
bücher und  Kompendien  der  Moral  in  Hülle  und  Fülle.  Und  warum  auch 
nicht?  Lichtenberg  hat  wohl  recht,  wenn  er  zu  dem  Worte  Hamlets,  es  gäbe 
eine  Menge  Dinge  im  Himmel  und  auf  der  Erde,  wovon  nichts  in  unseren 
Kompendien  stünde,  bemerkt:  «Gut,  aber  dafür  stehen  auch  wieder  eine 
Menge  von  Dingen  in  unseren  Kompendien,  wovon  weder  im  Himmel  noch 
auf  der  Erde  etwas  vorkommt«  (s.  Vermischte  Schriften  [1801]  II,  356). 


Probleme  der  Moral.  325 

gänzliche  Verkennung  Kants  ihm  die  Absicht  zuschieben,  alle  Welt- 
probleme von  sich  zu  werfen  und  in  den  sicheren  Hafen  der  prak- 
tischen Arbeit  zu  flüchten.  Denn  sein  Denken  bewegt  sich  nicht 
um  den  Gegensatz  von  Theorie  und  Praxis,  sondern  um  den  von 
theoretischer  und  praktischer  Vernunft;  wo  aber  die  Vernunft  in 
Frage  kommt,  da  handelt  es  sich  immer  um  Weltzusammenhänge; 
so  verzichtet  Kant  nicht  auf  letzte  Überzeugungen  vom  Ganzen  der 
Wirklichkeit,  er  sucht  nur  den  Punkt,  der  über  sie  entscheidet,  an 
einer  anderen  Stelle  als  die  alte  Spekulation,  er  macht  die  Moral 
nicht  zum  Mittelpunkt  seiner  Gedankenwelt,  ohne  sie  zur  Erscheinung 
einer  neuen  Ordnung  der  Dinge,  eines  intelligiblen  Reiches  der  Ver- 
nunft zu  machen.  Kant  ist  ein  Metaphysiker  eigner  Art,  aber  er  ist 
ein  Metaphysiker  durch  und  durch,  die  Alltagsweisheit  von  dem 
Vorrang  der  praktischen  Arbeit  über  das  Denken  hat  an  ihm  keinen 
Bundesgenossen. 

In  Wahrheit  brauchen  wir  das  Phänomen  der  Moral  nur  etwas 
genauer  zu  betrachten,  um  zu  gewahren,  daß  es  mit  dem  nächsten 
Weltanblick  aufs  schroffste  zusammenstößt  Wie  verschieden  die 
Moral  gefaßt  werden  mag,  immer  enthält  sie  eine  Ablösung  des 
Lebens  und  Strebens  vom  bloßen  Ich,  ein  Hinauswachsen  über  die 
natürliche  Selbsterhaitung.  Sobald  wir  an  einer  als  moralisch  ge- 
priesenen Handlung  entdecken,  daß  die  Gesinnung,  wenn  auch 
versteckt  und  auf  Umwegen,  zu  den  Zwecken  der  Selbsterhaltung 
wieder  zurücklenkt,  gilt  ihr  moralischer  Charakter  uns  als  ver- 
nichtet. Nun  zeigt  freilich  schon  die  Natur  gewisse  Ansätze  einer 
Befreiung  des  Lebens  von  der  bloßen  Selbsterhaltung,  aber  diese 
bleiben  zerstreut  und  mit  fremdem  verquickt;  so  bedeutet  es  eine 
Wendung,  ja  eine  Umwälzung,  wenn  die  neue  Art  des  Handelns 
eine  reine  Ausbildung  erlangt  und  die  Herrschaft  über  das  Leben 
fordert  Neue  Größen,  neue  Werte  treten  damit  ein;  bedarf  es  nicht 
einer  neuen  Welt,  um  ihnen  Kraft  und  Zusammenhang  zu  geben? 

Einen  moralischen  Charakter  kann  ferner  das  Handeln  nur  be- 
haupten, wo  es  aus  freiem  Entschlüsse  hervorgeht  und  ein  ursprüng- 
liches Leben  betätigt.  Wo  irgend  sich  daher  herausstellt,  daß  ein 
vermeintlich  moralisches  Tun  aus  bloßer  Gewöhnung,  mechanischem 
Zwange,  autoritativem  Drucke  hervorgeht,  nicht  eine  eigne  Ent- 
scheidung und  Zuwendung  in  sich  trägt,  da  verliert  es  sofort  seine 
auszeichnende  Art  und  fällt  aus  der  moralischen  Sphäre  heraus. 
Nun  aber  bietet  jener  Selbsttätigkeit  und  jener  freien  Entscheidung 


326  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

die  natürliche  Welt  mit  ihrer  durchgängigen  Kausalverkettung  nicht 
den  mindesten  Platz,  ihr  Gefüge  widerstrebt  jeder  Lockerung.  Be- 
steht also  nur  ein  Reich  der  Natur,  und  bleiben  seine  Ordnungen 
maßgebend  auch  für  das  Geistesleben,  so  ist  kein  Platz  für  irgend- 
welche Moral,  die  mehr  als  eine  Polizei  des  gesellschaftlichen  Lebens 
sein  will. 

Wo  die  moralische  Forderung  volle  Selbstbewußtheit  gewinnt, 
da  erhebt  sie  den  Anspruch,  allen  übrigen  Zwecken  unvergleichlich 
überlegen  zu  sein,  da  "verwirft  sie  alle  Erwägung  der  bloßen  Zweck- 
mäßigkeit und  stellt  ein  Absolutes  unmittelbar  in  das  menschliche 
Leben  hinein.  Sie  steht  und  fällt  mit  dem  Wort:  «Was  hülfe  es 
dem  Menschen,  wenn  er  die  ganze  Welt  gewönne  und  litte  Schaden 
an  seiner  Seele?"  Aber  wie  ist  das  möglich,  und  bedeutet  es  nicht 
eine  ungebührliche  Überspannung,  wenn  hinter  jener  Schätzung  nicht 
eine  neue  Art  der  Wirklichkeit  steht?  Denn  im  nächsten  Dasein 
müssen  sich  alle  Zwecke  zueinander  fügen  und  nacheinander  be- 
messen; hier  gibt  es  nichts  Absolutes,  das  sich  unvergleichlich  über 
alles  andere  hinaushöbe. 

So  enthält  die  Moral,  von  welchen  Seiten  her  wir  sie  be- 
trachten, die  Forderung  einer  neuen  Welt,  es  liegt  in  ihr  eine  Um- 
kehrung des  nächsten  Anblicks  der  Dinge  und  damit  eine  Meta- 
physik. Wir  werden  also  die  Metaphysik  nicht  los,  wenn  wir  uns 
zur  Moral  begeben;  machen  wir  Ernst  damit,  von  ihr  alles  Meta- 
physische fernzuhalten,  so  drücken  wir  sie  unvermeidlich  zu  kläg- 
licher Flachheit  herab.  Andererseits  hat  es  gewiß  einen  guten  Grund, 
die  Moral  nicht  an  die  verwickelten  Gedankengänge  der  älteren  Speku- 
lation zu  binden,  sie  nicht  als  ein  sekundäres  Phänomen  von  einer 
jenseit  ihrer  begründeten  Weltanschauung  abhängig  zu  machen. 

Einen  Weg  zwischen  solcher  Scylla  und  Charybdis  hindurch 
bietet  uns  wiederum  unser  Begriff  des  Geisteslebens  als  der  Wendung 
der  Wirklichkeit  zu  einem  Eigen-  und  Innenleben,  dem  Zusichselbst- 
kommen  des  Weltprozesses,  der  Erringung  eines  Wesens  und  Sinnes 
gegenüber  allem  sinnlosen  Gewebe  der  Beziehungen  und  Selbst- 
erhaltungen der  bloßen  Punkte.  Mit  Anerkennung  dieser  neuen 
Welt  sinkt  die  Natur  notwendig  zur  zweiten,  zu  einer  niedrigeren 
Form  des  Seins.  Wie  aber  die  höhere  von  unablässiger  Selbstttätig- 
keit  getragen  werden  muß,  so  ist  sie  auch  an  jeder  einzelnen  Stelle 
erst  zu  erwecken  und  von  ihr  selbsttätig  anzueignen.  Nichts  anderes 
aber  als  solche  selbsttätige  Aneignung  der  Geisteswelt  ist  die  Moral, 


Probleme  der  Moral.  327 

sie  ist  damit  ein  Durchdringen  des  Lebens  zur  Wesen-  und  Wahrhaf- 
tigkeit, das  Gewinnen  eines  neuen,  unendlichen  Selbst,  ein  Unendlich- 
verden  von  innen  her.  Denn  das  erkannten  wir  als  der  Geistesstufe 
wesentlich,  daß  hier  jedes  Einzelne  unmittelbar  am  Gesamtleben  teil 
hat,  nicht  erst  durch  die  Vermittlung  des  Punktes  es  zugefiihrt  erhält. 

Bei  solcher  Fassung  ist  die  Moral  an  erster  Stelle  eine  Beweg- 
ung innerhalb  des  eignen  Lebenskreises,  ein  Streben  zu  unserem 
Selbst,  eine  Erringung  des  eignen  Wesens.  Aber  indem  dies  Wesen 
jetzt  einen  Weltcharakter  erweist,  erscheint  in  der  Arbeit  an  uns 
selbst  unmittelbar  eine  Bewegung  der  Welten.  Das  ist  es,  was  uns 
die  engste  Verbindung  von  Moral  und  Metaphysik  verlangen  heißt, 
was  uns  eine  Moral  ohne  Metaphysik  als  ein  Unding  erscheinen 
läßt.  Die  Moral  verlangt  nicht  etwa  bloß  zu  ihrer  Erklärung  Welt- 
begriffe, sondern  durch  ihr  eignes  Dasein  entwickelt  sie  unmittelbar 
eine  neue  Welt  und  umfängt  uns  damit  in  einleuchtender  Gegen- 
wart. Die  Verbindung  der  Moral  mit  der  Metaphysik  verwerfen 
kann  nur,  wer  entweder  unter  Metaphysik  jene  alte  Schulmetaphysik 
versteht,  die  aus  vermeintlicher  Denknotwendigkeit  zur  vorhandenen 
Welt  eine  neue  hinzu  ersann,  oder  wer  die  Moral  zu  einer  bloß- 
gesellschaftlichen Ordnung,  zu  einer  Polizei  des  Lebens  herabdrückt. 
Denn  dafür  bedarf  es  allerdings  keiner  neuen  Welt,  aber  es  ist  dann 
auch  jene  Lebenspolizei  nur  dem  Worte  nach  Moral.  Nach  unserer 
Überzeugung  sinkt  alle  Moral  zu  einem  bloßen  Schein,  wenn  nicht 
das  Geistesleben,  dessen  Aneignung  sie  vollzieht,  den  Kern  der 
Wirklichkeit  bildet. 

Die  dargebotene  Fassung  der  Moral  ist  den  Problemen  und 
Schwierigkeiten  gewachsen,  mit  denen  die  Moral  zu  tun  hat,  und 
an  die  sich  viel  Irrung  und  Mißverständnis  knüpft.  Die  Moral  ist 
hier  an  erster  Stelle  Lebenserhöhung,  Gewinn  eines  wahren  Selbst 
gegenüber  einem  nur  scheinbaren,  Aneignung  der  ganzen  Unendlich- 
keit. Aber  diese  Erhöhung  entwickelt  sich  nicht  vom  unmittelbaren 
Dasein  aus  durch  eine  bloße  Steigerung  der  Natur,  sondern  sie  will 
im  Gegensatz  zu  jenem  ergriffen  sein,  sie  erscheint  damit  als  eine 
Aufgabe,  eine  Forderung,  ein  Gebot.  Aber  was  dies  Gebot  an  Be- 
grenzungen und  Verneinungen  enthält,  dient  letzthin  der  Lebens- 
bejahung; der  Pflichtgedanke,  der  hier  entsteht,  entspringt  dem  eignen 
Wesen,  nicht  von  außen  her.  So  eine  Bejahung  des  Lebens,  die 
keine  Vergötterung  der  bloßen  Natur  und  Selbstheit  bedeutet,  sondern 
sich  durch  ein  entschiedenes  Nein  davon  abgrenzt. 


328  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Bei  dieser  Fassung  besagt  die  Moral  nicht  eine  bloße  Leistung 
in  einer  gegebenen  Welt,  sondern  das  Erringen  einer  neuen  Welt, 
nicht  einen  Kampf  innerhalb  der  Welt,  sondern  einen  Kampf  um 
ganze  Welten;  es  handelt  sich  nicht  um  eine  neue  Art  des  Wirkens, 
sondern  um  eine  neue  Art  des  Seins,  die  sich  freilich  unablässig 
in  ein  entsprechendes  Wirken  umsetzen  muß.  Im  Menschen 
begegnen  sich  nunmehr  verschiedene  Stufen  der  Wirklichkeit,  ja 
ganze  Welten,  und  seine  Entscheidung  gehört  dazu,  welche  davon 
für  ihn  zur  Hauptwelt  werde.  Ja,  indem  er  nunmehr  an  seiner  be- 
sonderen Stelle  die  höhere  Stufe  der  Wirklichkeit  zu  behaupten  hat, 
indem  die  neue  Welt  hier  nur  durch  seine  Tat  zur  vollen  Verwirk- 
lichung kommt,  wächst  sein  Handeln  über  den  einzelnen  Punkt 
hinaus  und  gewinnt  Bedeutung  auch  für  den  Weltstand.  So  die 
sicherste  Befreiung  von  der  bloßen  Ichheit,  ein  Weitwerden  der 
Seele,  die  Erhebung  über  alle  bloße  Zweckmäßigkeit,  eine  unvergleich- 
liche Größe  und  Würde  des  Menschen. 

Mit  der  Größe  zusammen  freilich  auch  schwere  Verwicklungen. 
Denn  in  jener  Weise  läßt  sich  die  Aufgabe  nicht  steigern,  ohne  daß 
in  der  menschlichen  Lage  weiteste  Abstände  und  härteste  Wider- 
stände ersichtlich  werden.  Vor  allem  hält  die  natürliche  Welt  den 
Menschen  fest  beim  bloßen  Ich,  die  Bewegung  zur  Geistigkeit  dringt 
demgegenüber  wenig  durch,  sie  droht  ein  bloßer  Vorsatz  zu  bleiben, 
zu  bloßem  Scheine  zu  sinken.  Deutlich  erhellt,  wie,  an  der  Kraft 
des  bloßen  Menschen  gemessen,  etwas  Unmögliches  gefordert  wird; 
so  muß  der  Mensch  mehr  werden  als  bloßer  Mensch;  wie  könnte 
eine  Wendung  im  Weltleben  erfolgen  ohne  die  Kraft  einer  Welt? 
So  muß  eine  Weltkraft  von  vornherein  im  Menschen  wirken,  es 
muß  dem  Tun  ein  Empfangen,  dem  Aufsteigen  ein  Gehobenwerden 
entsprechen,  in  der  Freiheit  selbst  muß  eine  Gnade  ersichtlich  werden. 
In  dem  allen  vollziehen  sich  große  Wandlungen  des  ersten  Anblicks; 
das  anfängliche  Ja  wird  unerträglich,  aber  aus  dem  Nein  erhebt  sich 
ein  neues  Ja.  Große  Forderungen  und  schwere  Erschütterungen, 
gewaltige  Lebensfluten  den  Menschen  ergreifend  und  verwandelnd, 
viel  Unfertigkeit  und  viel  Unsicherheit,  viel  starrer  Widerstand  und 
lähmende  Hemmung.  Aber  inmitten  der  Zweifel  und  Widerstände 
ein  Aufrechterhalten  des  Lebens,  die  Eröffnung  größerer  Tiefen,  das 
Gewißwerden  einer  inneren  Unendlichkeit.  Wenn  irgend  etwas,  so 
zeigt  die  Moral,  daß  unser  Leben  nicht  gleichgültig  ist,  daß  Be- 
deutendes in  ihm  vorgeht. 


Probleme  der  Moral,  329 

c.  Moral  und  Kunst. 

(Ethische  und  ästhetische  Lebensanschauung.) 

Daß  Kunst  und  Moral  von  altersher  in  feindlicher  Spannung 
und  vielfachem  Zusammenstoß  stehen,  ist  keineswegs  bloß  eine 
Folge  menschlicher  Irrung,  es  hat  einen  Grund  in  der  Sache. 
Beide  Gebiete  scheinen  das  Leben  unter  entgegengesetzte  Aufgaben 
und  Schätzungen  zu  stellen.  Die  Moral  verlangt  eine  Unterordnung 
unter  allgemeingültige  Gesetze,  die  Kunst  dagegen  die  freieste  Ent- 
faltung der  eignen  Individualität;  die  Moral  spricht  mit  dem  strengen 
Gebote  der  Pflicht,  die  Kunst  beruft  zum  freien  Spiel  der  Kräfte; 
die  Moral  hat  ihre  Stätte  in  der  reinen  Innerlichkeit  und  ist  geneigt 
von  der  sichtbaren  Leistung  gering  zu  denken,  die  Kunst  schätzt 
nur,  was  den  Weg  zur  Verkörperung  findet  Zur  richtigen  Wür- 
digung dieses  Gegensatzes  und  Streites  wird  es  vorteilhaft  sein, 
ein^n  Blick  auf  die  geschichtliche  Bewegung  zu  werfen,  schon  des- 
halb, weil  das  zur  Ablösung  des  Problems  von  der  Zufälligkeit 
augenblicklicher  Stimmungen  dienen  mag. 

a.  Die  Geschichte  des  Problems. 

Merkwürdigerweise  hat  das  alle  anderen  Völker  in  künstlerischer 
Leistung  überragende  griechische  Volk  in  seiner  Gedankenarbeit  der 
Kunst  keinen  bedeutenden  Platz  gegeben.  Kein  Geringerer  führt 
die  Anklagen  gegen  die  Kunst  als  der  größte  Künstler  unter  den 
Denkern:  Plato.  Die  verschiedensten  Richtungen  seines  Strebens 
verbinden  sich  ihm  zur  Bemänglung  der  Kunst.  Sein  Verlangen  nach 
einem  wesenhaften  und  unsinnlichen  Sein  drückt  ihm  die  Kunst 
zum  Schein  des  bloßen  Scheines  herab,  anstößig  wird  ihm  femer 
der  bunte  Wechsel  ihrer  Gestalten,  wie  ihn  vornehmlich  das  Drama 
zeigt,  anstößig  die  Unlauterkeit  des  mjrthologischen  Vorstellungs- 
kreises, der  sie  beherrschte,  anstößig  endlich  die  fieberhafte  Erregung 
des  Gefühlslebens,  die  er  immer  weiter  vordringen  sah.  Unbeirrt 
durch  solche  Anklagen  ging  die  Kunst  ihren  Weg  und  behielt  die 
Führung  des  antiken  Lebens.  Aber  je  mehr  sie  sich  in  subjektive 
Virtuosität  verlief,  bald  in  barocke  Überspannung,  bald  in  weich- 
liche Spielerei,  und  je  mehr  die  Glätte  der  Form  einen  bedeutenden 
Inhalt  verdrängte,  desto  stärker  wurde  der  Rückschlag  einer  herben 
und  harten  Moral,   desto  mehr  wurden   Kynismus  und  Stoizismus 


330  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

eine  Zuflucht  stolzer  Seelen,  die  dem  Genüsse  des  Schönen  zu 
huldigen  verschmähten. 

Die  volle  Anerkennung  eines  selbständigen  Wertes  hat  die 
Kunst  erst  in  Verbindung  mit  der  aufsteigenden  religiösen  Beweg- 
ung, hat  sie  namentlich  bei  Plotin  erreicht;  die  Verinnerlichung, 
welche  die  Wirklichkeit  dabei  erfuhr,  hat  auch  die  Aufgabe  der 
Kunst  vertieft.  Nach  Plotin  vollzieht  sich  beim  Schönen  ein  Be- 
wältigtwerden des  Niedern  durch  das  Höhere,  des  Körpers  durch 
die  Seele,  des  Stoffes  durch  den  Gedanken;  das  Schaffen  versenkt 
sich  nicht  in  den  Stein,  sondern  es  bleibt  bei  sich  selbst  und  geht 
von  Seele  zur  Seele;  nur  als  Übermittlung  des  seelischen  Standes 
hat  das  sichtbare  Werk  einen  Wert.  Die  Kunst  ist  nicht  eine  bloße 
Nachahmung  der  Natur  wie  bei  Plato,  sondern  sie  sucht  die  in 
jener  wirksame  höchste  Vernunft  abzubilden  und  kann  dabei  ganz 
wohl  mehr  erreichen  als  die  Natur.  Aber  die  religiöse  Grund- 
stimmung läßt  solche  Schätzung  des  Schönen  weit  mehr  der  Be- 
trachtung des  Alls  zugute  kommen,  als  daß  sie  zu  künstlerischem 
Schaffen  triebe.  Eine  künstlerische  Stimmung  durchwaltet  hier  das 
Ganze  des  Lebens,  aber  sie  scheut  vor  greifbarer  Gestaltung  eher 
zurück,  als  daß  sie  dieselbe  suchte. 

Das  Christentum  konnte  den  Schwerpunkt  des  Lebens  nicht 
vom  Künstlerischen  ins  Moralische  verlegen,  ohne  daß  die  Schätzung 
und  Stellung  der  Kunst  zunächst  den  schwersten  Abbruch  erfuhr. 
Auch  die  besondere  Art  der  Kunst  des  ausgehenden  Altertums  konnte 
die  Abwendung  von  ihr  nur  unterstützen.  Aber  was  in  der  Breite 
des  Daseins  sich  oft  recht  unerquicklich  ausnimmt  und  nicht  selten 
in  eine  Geringachtung  aller  Form  verfallen  läßt,  das  hat  auf  den  Höhe- 
punkten die  entschiedenste  Gegenwirkung  gefunden;  die  Verinner- 
lichung des  Seelenlebens  durch  die  Religion  hat  auch  hier  die  Kunst 
in  neue  Bahnen  geführt.  So  vornehmlich  bei  Jesus  selbst.  Was 
überhaupt  von  den  Begründern  der  geschichtlichen  Religionen  gilt, 
daß  nur  das  Vermögen  einer  hervorragenden  schöpferischen  Phantasie 
sie  einer  unsichtbaren  Welt  eine  anschauliche  und  überwältigende 
Gegenwart  geben,  ja  sie  zur  Hauptwelt  des  Menschen  machen  ließ, 
das  gilt  ganz  besonders  von  Jesus;  bei  ihm  gewinnt  jenes  Bilden  eine 
besondere  Wärme,  Zartheit  und  Innigkeit.  Daß  er  der  Menschheit  ein 
Reich  Gottes  als  ein  Reich  echter  Liebe  und  kindlichen  Vertrauens  mit 
deutlichen  Zügen  vorhielt,  damit  schlummernde  Gefühle  erweckte  und 
den  Gemütern  eine  tiefe  Sehnsucht  einpflanzte,  das  hat  dem  mensch- 


Probleme  der  Moral.  331 

liehen  Dasein  auch  eine  künstlerische  Verklärung  gebracht;  eine 
solche  tritt  mit  besonderer  Klarheit  hervor  in  dem  Entdecken  der 
Reinheit,  Unschuld  und  Hingebung  des  kindlichen  Lebens  und  in 
dem  wunderbaren  Gestalten  einfachster  Naturvorgänge  zu  Gleich- 
nissen menschlicher  Seelenstände.  So  ist  hier  bei  Zurückstellung  aller 
sinnlichen  Kunst  der  seelischen  Kunst  eine  sichere  Bahn  bereitet. 
Später  wirkte  der  Schönheitsgedanke  immer  stärker  vom  Griechen- 
tum her.  So  bei  Gregor  von  Nyssa,  so  auch  bei  Augustin.  Wohl 
haben  über  diesen  kunstfeindliche  Stimmungen  eine  große  Macht 
gewonnen,  seine  Wendung  zum  Christentum  ward  zum  guten  Teil 
durch  einen  tiefen  Überdruß  an  einer  formalliterarischen  Bildung, 
durch  ein  Verlangen  nach  einem  Inhalt  des  Lebens  hervorgetrieben. 
Aber  in  der  eignen  Gedankenwelt  hält  er  am  Schönen  fest,  das 
einen  Aufstieg  zur  allumfassenden  Einheit  bildet  und  alle  Vielheit 
als  ein  Werk  und  Zeugnis  dieser  Einheit  verstehen  lehrt.  So  ge- 
staltet sich  ihm  schließlich  das  ganze  Weltall  zu  einem  Kunstwerk 
ethischer  Art,  zu  einer  Ordnung,  die  Gerechtigkeit  und  Liebe  zu 
voller  Ausgleichung  bringt;  zugleich  ist  Augustin  selbst  ein  hervor- 
ragender Meister  des  Worts,  seine  Sprache  hat  die  ganze  Kraft  und 
Weichheit  eines  zwischen  den  Gegensätzen  des  Daseins  hin-  und  her- 
bewegten Geistes  in  sich  aufgenommen,  durch  ihn  hat  die  lateinische 
Sprache  einen  wunderbaren  musikalischen  Klang  erhalten,  und  ist  sie 
zu  einem  angemessenen  Gefäß  einer  in  sich  selbst  vertieften  Inner- 
lichkeit geworden. 

Wie  das  mittelalterliche  Kirchensystem  durchgängig  eine  gewisse 
Ausgleichung  der  großen  Gegensätze  brachte,  so  hat  es  auch  dem 
Schönen  einen  Platz  innerhalb  seiner  Ordnung  gegeben.  So  im 
Gesamtbau  des  Lebens,  indem  die  Sorge  für  die  Ordnung  und 
Harmonie  des  Ganzen  hier  sehr  hervortritt,  so  auch  in  der  näheren 
Gestaltung,  indem  die  Kunst  der  Verherrlichung  der  Religion  und 
der  Kirche  in  mannigfachster  Weise  zu  dienen  hat. 

Die  Neuzeit  mit  ihrer  größeren  Lebensenergie  und  ihrer  Schärf- 
ung aller  Gegensätze  zersprengt  die  mittelalterliche  Ausgleichung, 
während  ihres  ganzen  Verlaufes  hat  der  Kampf  und  Gegensatz  nicht 
aufgehört.  Ihr  Beginn  in  Renaissance  und  Reformation  gibt  dem 
Gegensatz  sofort  den  stärksten  Ausdruck.  In  der  Renaissance  ge- 
winnt eine  ästhetische  Welt-  und  Lebensanschauung  zuerst  eine  volle 
Bewußtheit.  Das  Schöne  wird  hier  zum  Hauptwerkzeug  der  Ent- 
wicklung des  Lebens,  das  wichtigste  Mittel  zur  Herausarbeitung  aller 


332  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Kraft,  zur  Selbstaneignung  und  Selbstgenießung  des  Menschen;  die 
Kunst  lehrt  das  Leben  sich  selber  finden,  seine  eigene  Höhe  er- 
reichen. Zugleich  wirft  das  Leben  alle  unsichtbaren  Bindungen  von 
sich;  überwiegend  der  nächsten  Wirklichkeit  zugewandt,  erstrebt  es 
in  ihrer  äußeren  und  inneren  Unterwerfung  ein  volles  und  schran- 
kenloses Glück.  Bei  starkem  Lebensdurst  und  stolzem  Selbstgefühl 
empfindet  man  leicht  die  Moral  als  eine  von  draußen  auferlegte 
Fessel,  als  eine  starre  Satzung"  und  widerwärtige  Hemmung;  je  kräf- 
tiger die  Individualität,  desto  berechtiger  scheint  sie,  solche  Hemm- 
ung abzuschütteln  und  allein  der  eignen  Neigung  zu  leben.  So  der 
Immoralismus  der  Renaissance,  ein  Hauptgrund  ihres  Zusammen- 
bruchs als  weltbeherrschender  Macht.  Auf  ihrer  Höhe  aber  fehlt 
es  nicht  an  Gestalten,  welche  den  Gegensatz  überwunden  haben, 
und  denen  die  Kunst,  mit  Einsetzung  des  ganzen  Wesens  erfaßt, 
sich  zugleich  zu  einem  ethischen  Lebenswerke  gestaltet;  es  genügt 
dafür  eines  Michelangelo  zu  gedenken.  —  Von  der  Renaissance 
pflanzt  die  künstlerische  Bewegung  sich  in  das  Barock  und  Rokoko 
fort,  auch  zieht  die  Renaissance  die  Geister  immer  von  neuem  zu 
sich  zurück. 

Die  Reformation  hat  ihre  Stärke  in  der  entschiedenen  Hervor- 
kehrung der  Moral  und  der  Steigerung  der  persönlichen  Verant- 
wortlichkeit, weit  über  den  Kreis  ihres  eignen  Bekenntnisses  hinaus 
hat  sie  damit  einen  gewaltigen  Ernst  in  das  Leben  gebracht.  War 
schon  solche  Verinnerlichung  unmittelbar  der  Kunst  nicht  günstig, 
so  kam  hinzu,  daß  jene  mit  der  Fülle  ihrer  sinnlichen  Gestalten  dem 
Menschen  den  Zugang  zu  Gott  zu  erschweren  schien,  zu  dem  ein 
unmittelbares  Verhältnis  zu  gewinnen  die  allüberragende  Hauptsache 
wurde.  So  konnte  ein  heftiger  Zorn  gegen  alles  Bild  und  allen 
Schmuck  als  gegen  eine  Verdunklung  der  lebendigen  Gegenwart  Gottes 
in  der  Seele  und  als  eine  Veräußerlichung  und  Verweichlichung  des 
Lebens  entstehen.  Aber  wenn  damit  kunstfeindliche  Stimmungen 
weithin  Boden  gewannen,  so  hat  auch  hier  auf  der  Höhe  des 
Schaffens  die  Kunst  in  anderer  Richtung  mannigfachste  Förderung 
empfangen,  sie  ist  nur  mehr  von  der  sinnlichen  Anschauung  abge- 
löst und  tiefer  in  die  Seele  zurückverlegt.  Die  Namen  eines  Luther 
und  eines  Bach  genügen,  um  das  zu  zeigen. 

Die  verstandesmäßige  Art  der  Aufklärung  mit  ihrem  Dringen 
auf  logische  Klarheit  und  kluge  Zweckmäßigkeit,  auch  mit  ihrer  un- 
geschichtlichen Denkweise  war  der  Kunst  wenig  günstig  und  stellte 


Probleme  der  Moral.  333 

sie  weit  hinter  die  Moral  zurück.  Diese  selbst  aber  gewann  dabei 
keine  besondere  Tiefe.  Um  so  stärker  wurde  das  Verlangen  nach 
Schönheit,  als  durch  das  Aufsteigen  des  Neuhumanismus  eine  neue 
Epoche  begann.  Es  strebt  aber  auf  seiner  Höhe,  bei  den  führenden 
deutschen  Dichtern  und  Denkern,  Gutes  und  Schönes  zusammen  und 
fördert  sich  gegenseitig.  Daß  Kant  die  moralische  Idee  zum  Eck- 
stein des  Lebens  machte,  hat  ihn  nicht  verhindert,  dem  Schönen  eine 
Selbständigkeit  und  einen  Selbstwert  zuzuerkennen;  er  zuerst  hat  es 
gegen  das  Gute  wie  das  Angenehme  mit  voller  Deutlichkeit  abge- 
grenzt, er  hat  es  im  eignen  Innern  der  Seele  begründet  und  es  über 
allen  bloßen  Nutzen  und  Genuß  sicher  hinausgehoben.  So  konnte 
ein  Goethe  «die  großen  Hauptgedanken  der  Kritik  der  Urteilskraft 
seinem  bisherigen  Schaffen,  Tun,  Denken  ganz  analog"  finden.  Goethe 
selbst  aber  war  bei  aller  Größe  seines  künstlerischen  Schaffens  von 
einer  Geringschätzung  der  Moral  und  zugleich  von  dem  Bekenntnis 
zu  einer  ästhetischen  Weltanschauung  weit  entfernt  Dazu  war  ihm 
viel  zu  sehr  sein  künstlerisches  Schaffen  ein  ernstes  und  mühsames 
Suchen  seines  eignen  innersten  Wesens,  ein  gewissenhaftes  Arbeiten 
an  sich  selbst;  eine  laxe  Auffassung  dieser  Probleme  hat  kein  Recht, 
sich  auf  Goethe  zu  berufen,  wenn  man  ihn  im  Ganzen  seines 
Wesens  nimmt,  nicht  auf  einzelne  Äußerungen  festlegt  So  wenig 
er  die  Kunst  und  eine  künstlerische  Kultur  durch  »konventionelle 
Sittlichkeiten",  durch  „Pedanterie  und  Dünkel"  beschränkt  wissen 
wollte,  er  gab  dem  Menschen  in  der  Forderung,  die  Ordnung  der 
Welt  mit  Freiheit  zu  ergreifen  und  sich  selbst  seine  Grenze  zu 
setzen,  eine  moralische  Aufgabe,  die  sein  ganzes  Leben  umspannt 
und  ihm  überall  eine  hohe  Aufgabe  stellt  Schiller  endlich,  zwischen 
dem  Dichter  und  dem  Denker  stehend,  war  unablässig  um  eine  Ver- 
söhnung von  Gutem  und  Schönem,  der  „Freiheit  in  der  Erschein- 
ung" bemüht;  „die  hohe  Reinheit  des  sittlichen  Standpunktes  bei 
der  vollsten  Anerkennung  des  künstlerischen  Lebens  in  seiner  Selb- 
ständigkeit ist  das  Eigenartige,  ja  Einzigartige  der  Schillerschen 
Denkweise"  (Kühnemann).  Die  Ströme  haben  sich  dann  wieder 
geschieden,  die  Romantik  gab  dem  Vorrang  der  Kunst  und  der  ästhe- 
tischen Lebensanschauung  einen  besonders  zugespitzten  und  selbst- 
bewußten Ausdruck,  Fichte  und  die  anderen  Führer  der  nationalen 
Bewegung  wirkten  kräftig  zur  Verstärkung  der  Moral.  Die  soziale 
und  technische  Kultur,  die  im  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  immer 
mehr  zur  Herrschaft  kam,  ist  mit  ihrer  Richtung  auf  die  gesellschaft- 


334  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

liehe  Wohlfahrt  und  auf  die  Zweckmäßigkeit  des  Lebens  die  Kunst 
als  einen  nebensächlichen  Anhang  zu  behandeln  geneigt.  Dagegen 
erhebt  sich  nun  die  moderne  Kunst,  erstrebt  einen  Einfluß  auf 
das  Ganze  des  Lebens,  dem  sie  mehr  Leichtigkeit,  mehr  Freude, 
mehr  Individualität  verheißt,  und  hält  oft  der  Moral  eine  ästhetische 
Lebensanschauung  als  allein  berechtigt  entgegen.  So  hat  zur  Zeit 
einmal  wieder  die  Entzweiung  der  beiden  Gebiete  die  Oberhand. 

Die  geschichtliche  Betrachtung  zeigte,  daß  der  Gegensatz  durch 
die  Jahrtausende  geht,  nicht  eine  Stimmung  des  bloßen  Tages  be- 
deutet. Immer  wieder  rückte  die  Moral  der  Kunst  eine  Verweich- 
lichung, Ermattung,  Auflösung  des  Lebens  vor,  aber  zugleich  mußte 
sie  dafür  den  Vorwurf  der  Härte,  Schabion enhaftigkeit,  Seelenlosig- 
keit  entgegennehmen.  Aber  auch  davon  überzeugten  wir  uns,  daß, 
was  in  der  Breite  des  Lebens  einander  floh,  auf  seiner  Höhe  sich 
suchte;  bei  den  schaffenden  Geistern  war  der  Gegensatz,  wenn  auch 
nicht  völlig  aufgehoben,  so  doch  sehr  gemildert;  in  ihnen  ward 
deutlich,  daß  das  geistige  Leben  keiner  Seite  entbehren  kann,  und 
daß  die  Schuld  des  Zwistes  weniger  an  der  Sache  als  am  Menschen 
liegt.  In  Wahrheit  können  Moral  und  Kunst  die  eigne  Aufgabe 
nicht  in  großem  Sinne  nehmen,  ohne  sich  gegenseitig  als  bedeutend, 
ja  unentbehrlich  anzuerkennen,  sie  können  jenes  nicht,  ohne  sich  in 
ein  umfassendes  Ganzes  des  Geisteslebens  hineinzustellen  und  dort 
eine  Verständigung  anzustreben. 

Wo  die  Moral  unmittelbar  das  ganze  Leben  einnehmen  wollte, 
da  pflegte  sie  zu  einem  System  von  Regeln  und  Vorschriften  zu 
werden,  die  streng  zum  Menschen  sprachen,  ihm  zugleich  aber  für 
ihre  Erfüllung  einen  hohen  Lohn  verhießen.  Viel  Aufrüttelung, 
auch  viel  straffe  Konzentration  ist  damit  geleistet  worden,  aber  die 
überwiegende  Fassung  als  eines  Gebotes  ließ  hier  die  Moral  nicht 
zu  voller  innerer  Aneignung  kommen,  sowie  Liebe  und  Freude 
entzünden.  Leicht  ward  hier  der  Mensch  zwischen  einem  Bewußt- 
sein hülfloser  Schwäche  und  einem  selbstbewußten  Pharisäismus 
hin-  und  hergeworfen.  In  der  Tat  war  es  immer  nur  eine  gewisse 
Mittelhöhe  des  bürgerlichen  oder  kirchlichen  Lebens,  der  die  bloße 
Moral  genügte;  weder  der  Durchschnitt  der  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderte noch  der  der  Aufklärung  hatte  bei  allem  moralischen  Eifer 
einen  bedeutenden  geistigen  Gehalt.  Die  Moral  selbst  konnte  die 
Gefahr  eines  Starr-  und  Äußerlichwerdens  erst  überwinden,  wenn 
sie  in  weitere  Zusammenhänge  hineingestellt  wurde.     Geschah  dies 


Probleme  der  Moral.  335 

aber  und  wurde  sie  ein  Weg  zur  Aneignung  einer  neuen  Wirklich- 
keit, galt  es  in  ihr  nicht  eine  korrekte  Erfüllung  von  Geboten,  son- 
dern eine  innere  Erneuerung  des  Menschen,  ein  Vordringen  zu 
ursprünglichem  Leben,  so  konnte  sie  der  Kunst  in  keiner  Weise 
entbehren.  Denn  jenes  Neue  ließ  sich  nur  mit  Hülfe  einer  künstler- 
ischen Tätigkeit  als  Ganzes  fassen  und  in  lebendige  Gegenwart 
stellen,  auch  konnte  es  die  Breite  des  Lebens  nicht  gewinnen  ohne 
das  bildende,  Inneres  und  Äußeres  zusammenflechtende  Wirken  der 
Kunst.  Ja  wenn  alles  daran  liegt,  eine  neue  Welt  und  ein  neues 
Leben  gegenüber  den  kleinen  Zwecken  des  bloßen  Menschen  und 
dem  Alltagsleben  zu  erreichen,  so  muß  die  Kunst  mit  ihrem  stillen 
und  sicheren  Wirken  aus  der  inneren  Notwendigkeit  der  Dinge, 
mit  ihrer  inneren  Befreiung  der  Seele,  mit  ihrem  Vermögen,  uns  die 
ganze  Unendlichkeit  innerlich  nahe  zu  bringen  und  zu  eignem 
Leben  zu  machen,  unmittelbar  als  moralisch  gelten. 

Ebenso  wenig  kann  eine  Kunst,  die  groß  von  sich  selbst  und 
ihrfer  Aufgabe  denkt,  die  Moral  verachten.  Schwerlich  war  je  ein 
schaffender  Künstler  ersten  Ranges  einer  ästhetischen  Lebensanschau- 
ung zugetan,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  er  nicht  die  Kunst  als 
ein  Sondergebiet  vom  übrigen  Leben  ablösen  konnte,  weil  er  in  das 
Schaffen  seine  ganze  Seele,  nicht  nur  eine  gewisse  Technik  hinein- 
legen mußte,  und  weil  er  die  Mühen,  ja  die  Unzulänglichkeit  dieses 
Schaffens  viel  zu  stark  empfand,  um  daraus  einen  bloßen  Genuß 
zu  saugen.  In  Wahrheit  hat  die  ästhetische  Lebensanschauung  ihre 
Heimat  weniger  bei  den  Künstlern  als  bei  den  reflektierenden  und 
genießenden  Dilettanten;  diese  haben  sie  oft  genug  auch  den 
Künstlern  aufgedrängt,  die,  theoretischen  Erörterungen  wenig  hold, 
ja  ihnen  gegenüber  wehrlos,  kaum  empfinden,  daß  jene  Ablösung 
der  Kunst  vom  Ganzen  des  Lebens  sie  nicht  sowohl  erhöht  als 
erniedrigt. 

Das  Angewiesensein  von  Kunst  und  Moral  aufeinander  wird 
namentlich  da  zu  voller  Anerkennung  gelangen,  wo  unsere  Welt 
nicht  als  eine  fertig  abgeschlossene,  sondern  als  eine  erst  im  Werden 
befindliche,  ja  als  eine  solche  gilt,  in  der  nicht  nur  Vorhandenes 
auszubauen,  sondern  eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit  zu  erreichen 
ist.  Dazu  bedarf  es  eines  selbständigen  Entscheidens,  einer  Auf- 
rüttelung des  Wesens,  eines  energischen  Tuns,  welches  das  ganze 
Dasein  umfaßt;  deutlich  ist  hier,  daß  wir  nicht  an  erster  Stelle  zu 
behaglichem  Genießen,  zur  Kontemplation,  sondern  zu  Wirken  und 


336  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Schaffen,  zur  Aktivität  berufen  sind.  Aber  zugleich  bedarf  es  eines 
kräftigen  und  glücklichen  künstlerischen  Bildens,  wenn  die  neue 
Welt  uns  nicht  in  vagem  Umriß  verbleiben,  und  wenn  sie  das  Ganze 
unserer  Seele  gewinnen  soll;  auch  die  Kunst  ist  eine  unentbehrliche 
Helferin  zum  Aufbau  eines  neuen  Lebens. 


ß.  Die  Probleme  der  Gegenwart, 
aa.  Der  moderne  Ästhetizismus. 

Wie  wir  prinzipiell  über  den  Ästhetizismus  denken,  bedarf 
nach  diesen  Darlegungen  keiner  weiteren  Erörterung.  Den  Ästheti- 
zismus der  Gegenwart  aber  klagen  wir  einer  inneren  Unwahrhaftig- 
keit  an.  Uns  zeigen  heute  die  Welt  und  das  Leben  viel  zu  viel 
Dunkel  und  viel  zu  viel  Unvernunft,  und  es  regen  uns  die  großen 
Widersprüche  des  Daseins  viel  zu  sehr  auf,  als  daß  wir  aus  tiefster 
Seele  und  mit  voller  Hingebung  unser  Dasein  überwiegend  in  Ge- 
nuß verwandeln  und  eine  Harmonie  des  Ganzen  mit  reiner  Freude 
erleben  könnten.  Der  Ästhetizismus  ist  weniger  ein  wahrer  Aus- 
druck des  heutigen  Lebensgefühls  als  ein  Versuch,  seiner  Schwere 
und  seinem  Ernst  zu  entfliehen.  Das  aber  kann  er  nur,  indem  er 
sich  mit  dem  modernen  Subjektivismus  verbindet  und  in  solcher 
Verbindung  Stimmungen  erzeugt,  die  gewiß  als  Zeichen  der  Zeit 
beachtenswert  sind,  denen  aber  alles  schöpferisches  Vermögen  und 
alle  seelenerhöhende  Kraft  gebricht. 

Ein  Zusammenwirken  von  Individualismus  und  Ästhetizismus 
ließ  das  Schlagwort  einer  «neuen  Ethik"  entstehen,  das  namentlich 
in  weiblichen  Kreisen  viel  Einfluß  gewonnen  hat.  Auch  eine  der- 
artige Bewegung  sei  nicht  von  vornherein  verschrieen,  sondern  in 
ihren  Gründen  unbefangen  gewürdigt.  Was  die  Gesellschaft  Moral 
nennt,  ist  nicht  mehr  als  eine  gewisse  Ordnung  des  Zusammenlebens, 
der  Sitte  und  Gewöhnung  einen  Heiligenschein  verliehen  haben,  die 
daher  bei  aller  Unzulänglichkeit  leicht  mit  starker  Selbstbewußtheit 
auftritt,  wie  Diener  leicht  arroganter  als  Herren  sind.  Nun  ändert 
der  geschichtliche  Lauf  der  Dinge  die  Art  des  Zusammenseins, 
Änderungen  können  notwendig  werden,  die  starre  Festhaltung  der 
überkommenen  Art  kann  einen  peinlichen  Druck  erzeugen,  kann  Recht 
in  Unrecht,  Unrecht  in  Recht  verwandeln.  Die  Neuzeit  aber  hat  in 
den  gegenseitigen  Verhältnissen  und  in  der  Art  der  Arbeit  so  viel 
verschoben,   daß   eine  Revision   jener   gesellschaftlichen   Ordnungen 


Probleme  der  Moral.  337 

und  damit  der  konventionellen  Moral  in  verschiedener  Richtung  not- 
wendig ist. 

Aber  dieses  anerkennen  heißt  nicht  der  hastigen  und  summa- 
rischen Art  beipflichten,  mit  der  von  den  Vertretern  und  vielleicht 
noch  mehr  den  Vertreterinnen  eines  ästhetischen  Subjektivismus  die 
schwierigen  und  verantwortungsvollen  Fragen  erledigt  werden.  Zu- 
nächst ist  Moral  selbst  etwas  anderes  als  ihre  sichtbare  Vertreterin, 
die  gesellschaftliche  Ordnung,  und  moralisches  Verhalten  etwas  anderes 
als  soziale  Korrektheit  Wie  gering  wurde  auf  der  Höhe  des  moralischen 
Schaffens  von  jener  Korrektheit  gedacht,  wie  entschieden  wurde  hier 
abgelehnt,  das  bloße  Mittel  zum  beherrschenden  Zweck  zu  machen! 
Aber  auch  das  Mittel  ist  bei  aller  Unzulänglichkeit  keineswegs 
wertlos.  Weil  gewisse  Einrichtungen  problematisch  geworden  sind, 
sollte  nicht  alle  gesellschaftliche  Ordnung  wie  ein  ungebühriicher 
Druck  verrufen  werden.  Denn  wie  die  menschlichen  Dinge  stehen, 
ist  sie  ein  unentbehrliches  Mittel,  das  Leben  auf  ein  gewisses  Niveau 
zu  heben  und  den  zerstörenden  Kräften,  die  unablässig  am  Werke 
sind,  genügenden  Widerstand  zu  leisten.  Nur  ein  grenzenloser,  man 
möchte  sagen  kindlichnaiver  Optimismus,  den  man  liebenswürdig 
nennen  möchte,  wenn  er  nicht  mit  seiner  die  Halbgebildeten  be- 
stechenden Flachheit  gefähriich  wäre,  kann  wähnen,  daß  man  dem 
Menschen  nur  schrankenlose  Freiheit  zu  gewähren  brauche,  um  das 
ganze  Leben  zu  seliger  Harmonie  zu  führen.  Daß  der  Mensch  zur 
Zügelung  seiner  Begierden  sozialer  Ordnungen  bedarf,  mag  be- 
klagenswert sein,  es  ist  aber  doch  nicht  die  Schuld  der  Ordnungen; 
wer  über  sie  klagt,  müßte  auch  alle  Medizin  verwerfen,  die  nicht 
angenehm  schmeckt;  würden  wir  nicht  leicht  das  Gegenteil  der 
Absicht  erreichen,  wenn  wir  einem  verschönernden  Bilde  zuliebe 
alle  Schranken  einreißen  wollten?  L'homme  n'est  ni  ange  ni  bete; 
et  le  malheur  veut  que  qui  veut  faire  Tange  fait  la  bete  (Pascal). 

Wenn  von  »neuer  Ethik"  geredet  wird,  so  müssen  wir  auch 
einem  solchen  Mißbrauch  des  Wortes  Ethik  widersprechen.  Ganz 
gleichgültig  sind  die  Wörter  nicht,  ihr  Mißbrauch  kann  zu  einer 
Verdunklung  echter  Probleme  wirken.  Unter  Moral  hatten  wir  uns 
gewöhnt  an  die  Anerkennung  einer  willkürentzogenen  Ordnung, 
die  Hochhaltung  von  Pflicht  und  Gewissen  zu  denken.  Was  aber 
der  ästhetische  Subjektivismus  mit  seiner  „neuen  Ethik"  bietet,  ist 
nichts  anderes  als  ein  feinerer  Epikureismus,  als  ein  Selbstgenuß 
des  Individuums,   das  sich  von  aller  Hemmung  befreit;  wer  darin 

Eucken,  Orundbegriffe.    4.  Aufl.  22 


338  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

sein  Genüge  findet,  der  sollte  die  Ethik  genau  so  gut  wie  die  Reli- 
gion in  Bausch  und  Bogen  für  eine  Verirrung  erklären  und  aus 
seiner  Gedankenwelt  streichen,  nicht  aber  sollte  er  durch  ihren  Namen 
seiner  andersgearteten  Denkweise  einen  schimmernden  Aufputz  geben. 
Ein  schroffer  Gegensatz  ist  hier  unverkennbar.  Ist  der  Mensch  nicht 
mehr  als  die  Summe  seiner  natürlichen  Neigungen  und  kommt  alle 
Lebensweisheit  darauf  hinaus,  diese  Neigungen  in  ein  leidliches 
Gleichgewicht  zu  bringen,  oder  steckt  in  uns  eine  geistige  Kraft, 
unser  Dasein  in  freie  Tat  zu  verwandeln  und  zugleich  unser  selber 
Herr  zu  werden?  Ist  unser  Verhältnis  zur  Wirklichkeit  vorwiegend 
rezeptiver  oder  ist  es  aktiver  Art?  Ist  unser  subjektives  Glück  das 
Höchste  aller  Güter,  oder  treibt  uns  eine  innere  Notwendigkeit 
über  solchen  Abschluß  hinaus?  Dieser  Gegensatz  steht  seit  den 
Stoikern  und  den  Epikureern  mit  voller  Klarheit  vor  Augen,  und  er 
schließt  jede  Vermittlung  aus.  Die  alten  Epikureer  aber  dachten 
präziser  als  die  modernen,  sie  haben  sich  nicht  als  Vertreter  einer 
neuen  Ethik  gegeben.^ 

Der  Punkt,  an  dem  der  moderne  Subjektivismus  mit  anderen 
Überzeugungen  am  härtesten  zusammenstößt,  ist  die  Behandlung 
des  Sinnlichen,  besonders  in  der  geschlechtlichen  Sphäre.  Daß  hier 
Verwicklungen  vorliegen,  wird  niemand  bestreiten  können.  Im 
Christentum,  namentlich  in  seinen  katholischen  Fassungen,  wirkt 
vielfach  noch  eine  Geringachtung,  ja  eine  Verachtung  der  Sinnlich- 
keit fort,  die  in  den  Stimmungen  des  ausgehenden  Altertums  und 
seinem  Kampf  gegen  eine  entartete  Sinnlichkeit  wurzelt;  ja  es  ist 
hier  ein  Stück  Manichäismus  in  das  Christentum  eingedrungen  und 
wirkt  bei  aller  äußeren  Strenge  zu  innerer  Verflachung.  Denn  eine 
Verflachung  ist  es,  wenn  die  Hauptsorge  des  Lebens  darin  gesetzt 


*  Mit  besonderer  Kraft  und  Tiefe  hat  sich  über  diese  Probleme  der  aus- 
gezeichnete schwedische  Philosoph  Vitalis  Norström  in  seinem  Buch  „Das 
tausendjährige  Reich"  (deutsch  1907)  ausgesprochen;  er  sagt  z.  B.  S.  31 :  „Selt- 
same Schwärmerei,  die  auf  der  Ersättigung  der  Sinne  ein  stabiles  seelisches 
Gleichgewicht  zu  begründen  meint!  Armselige  Weisheit,  die  kein  höheres 
Ziel  kennt,  als  sich  dauernd,  wenn  man  so  sagen  kann,  einen  guten  Tag  zu 
machen!  Diese  Welt  des  allgemeinen  Genießens  —  wofern  sie  überhaupt 
möglich  wäre  —  würde  das  Beste  nicht  aufkommen  lassen,  dessen  der 
Mensch  fähig  ist:  die  Erhebung  über  den  Genuß,  die  Selbstüberwindung. 
Sie  würde  das  ausschalten,  was  unsrem  gewiß  verbesserungsbedürftigen 
Dasein  doch  eine  gewisse  Weihe  gibt;  das,  was  ein  Landsmaim  Zolas,  der 
edle  Alfred  de  Vigny,  gefeiert  hat  als  die  „majeste  dessouffrances  humaines.« 


Probleme  der  Moral.  339 

wird,  einen  Kampf  mit  dem  Sinnlichen  zu  führen,  das  Sinnliche 
möglichst  abzuschwächen,  zu  erniedrigen,  zu  kasteien,  wenn  wer  es 
in  solchem  Ertöten  der  Sinnlichkeit  weit  gebracht  hat,  und  sei  er 
ein  noch  so  leerer  und  harter  Mensch,  als  ein  Held  gefeiert  und 
als  Vorbild  erwählt  wird.  Denn  was  wird  denn  mit  solcher  Miß- 
handlung der  Sinnlichkeit  für  eine  innere  Läuterung  der  Seele  und 
für  den  Aufbau  geistigen  Lebens  gewonnen?  Dazu  muß  jene  Unter- 
drückung der  Sinnlichkeit,  wie  alles  Naturwidrige,  schlimmere  Schäden 
herbeiführen,  als  sie  zu  heilen  unternimmt;  die  Natur  pflegt  sich  für 
eine  Mißhandlung  schwer  zu  rächen.  Aber  mit  der  Abweisung  einer 
derartigen  Askese  ist  die  Sache  nicht  schon  erledigt,  sie  liegt  nicht 
so  einfach,  wie  es  oft  dem  ästhetischen  Subjektivismus  scheint.  Die 
sinnliche  und  geschlechtliche  Seite  zeigt  den  Menschen  der  Natur 
aufs  engste  verwachsen,  mehr  als  irgendwie  sonst  hält  hier  die  Natur 
ihn  fest.  Aber  zugleich  hat  er  sich  mit  der  Entwicklung  geistigen 
Lebens  weit  über  sie  erhoben  und  damit  die  schlichte  Naivität  auch 
auf  jenem  Gebiete  verloren;  so  wird  ihm  das  Sinnliche  zum  Problem, 
das  vom  Geistesleben  aus  sich  verschieden  beantworten  läßt;  soll 
es  sich  in  voller  Freiheit,  unbekümmert  um  höhere  Zwecke  des 
Geistes,  nach  Lust  und  Laune  des  Einzelnen  ausleben,  oder  hat 
es  sich  den  Zwecken  des  Geisteslebens  unterzuordnen  und  in  ihnen 
ein  Maß  zu  finden?  Wer  unter  Berufung  auf  das  unantastbare 
Recht  der  Natur  sich  für  jenes  entscheidet,  der  pflegt  zu  übersehen, 
daß  wir  bei  unserer  gesteigerten  und  vielfach  überspannten  KuUur 
nicht  mit  der  reinen  Natur  zu  tun  haben,  daß  die  heutige  Sinnlichkeit 
vielfach  eine  raffinierte,  ja  entartete  ist  So  können  wir  schon  zur 
Scheidung  dessen,  was  an  der  Natur  echt  oder  unecht  ist,  geistiger 
Arbeit  nicht  entbehren,  eine  einfache  Kapitulation  vor  dem,  was  sich 
heute  sinnlich  nennt,  ist  schlechterdings  ausgeschlossen. 

bb.  Die  Stellung  der  Kunst  im  modernen  Leben. 

Siegreich  dringt  im  modernen  Leben  die  Kunst  wieder  vor  und 
mächtig  bewegt  sie  die  Geister;  so  ist  es  kein  Wunder,  daß  sie  alle 
Abhängigkeit  verschmäht  und  auf  voller  Selbständigkeit  besteht.  Ein 
solches  Verlangen  findet  einen  Ausdruck  in  der  bekannten  Formel 
l'art  pour  l'art.*   In  dem  was  sie  an  Verneinung  enthält,  wird  ihr  kein 

^  Der  Ausdruck  (s.  darüber  Büchmanns  Geflügelte  Worte,  21.  Aufl., 
S.  326)  hatte,  wie  ihn  zuerst  Victor  Cousin  1818  in  Vorlesungen  an  der 
Sorbonne  gebrauchte,  einen  ganz  unverfänglichen  Sinn :  II  faut  de  la  religion 

22» 


340  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Freund  der  Kunst  widersprechen.  Die  Kunst  soll  nicht  fremden  Zwecken 
dienen,  sie  darf  nicht  der  Moral,  der  Politik,  der  Religion  Hand- 
reichung leisten  und  damit  zu  einer  Tendenzkunst  sinken,  die  nur 
für  einen  Augenblick  blenden  mag,  nie  aber  wahre  Förderung  bringt 
Schwieriger  ist  es,  jenem  Wort  einen  positiven  Sinn  zu  geben.  Heute 
geschieht  das  nicht  selten  mit  der  Behauptung,  die  Kunst  müsse 
gleichgültig  gegen  allen  Stoff  und  Inhalt  sein  und  sich  allein  mit 
der  Vollendung  ihrer  Form  befassen;  so  allein  sei  sie  ganz  bei  sich 
selbst  und  könne  völlig  ungehindert  ihre  eignen  Wege  verfolgen. 
Aber  liegt  eine  solche  Ablösung  vom  übrigen  Leben  in  ihrem  eignen 
Interesse,  kann  sie  bei  ihr  das  Höchste  leisten,  dessen  sie  fähig 
ist?  Die  Gefahr  liegt  nahe,  daß  mit  dieser  Wendung  die  Kunst  zur 
bloßen  Formbeherrschung,  zu  virtuosenhafter,  glänzender,  blendender 
Technik  wird,  daß  sie  so  weder  den  ganzen  Menschen  hinter  sich 
hat,  noch  zum  ganzen  Menschen  und  zur  Menschheit  zu  wirken 
vermag.  Eine  solche  Kunst  mag  weit  mehr  in  der  sinnlichen  Er- 
fahrung entdecken,  sie  mag  unser  Empfinden  in  ungeahnter  Weise 
bereichern  und  verfeinern,  sie  mag  in  Überwindung  von  Widerständen 
schwelgen,  aber  seelisch  kann  sie  uns  wenig  bieten,  und  das  Geistes- 
leben wird  sie  kaum  erhöhen.  War  nicht  dies  den  großen  Kunst- 
werken, die  dauernd  zur  Menschheit  sprechen,  eigentümlich,  daß 
aller  Gegensatz  von  Inhalt  und  Form  in  ihnen  überwunden  wurde, 
haben  sie  nicht  in  der  Vollendung  der  Form  zugleich  zu  vollem 
Ausdruck  gebracht,  was  das  Innere  des  Lebens  erfüllte?  Muß  nicht 
die  Kunst  die  Probleme  der  Menschheit  aufnehmen  und  in  ihrer 
Weise  zu  lösen  suchen  ?i  Auf  jene  Innerlichkeit  kann  am  wenigsten 


pour  la  religion,  de  la  morale  pour  la  morale,  de  l'art  pour  l'art.  Erheblich 
später  erst  wurden  die  letzten  Worte  zum  Bekenntnis  einer  Schule  und  zu 
einem  Zankapfel  der  Parteien.  —  Hinzufügen  möchten  wir  nur,  daß  auch 
Comte  sich  einmal  mit  jenem  Schlag\i'ort  befaßt,  aber  es  sehr  äußerlich 
wendet.  Cultiver  l'art  pour  l'art  lui-meme  bedeutet  ihm  nichts  anderes  als 
ne  se  proposer  habituellement  d'autre  bout  reel  que  de  divertir  le  public 
(cours  de  phil.  pos.  VI,  167). 

^  Auch  über  dies  Problem  hat  sich  Norström  in  vorzüglicher  Weise 
geäußert.  So  bemerkt  er  z.  B.  über  das  oft  als  Beispiel  eines  bloßen  Schön- 
heitskultus angeführte  Griechentum  (Das  tausendjährige  Reich,  S.  73):  »Man 
bildet  sich  oft  ein,  die  Grundkraft  des  griechischen  Lebens  sei  ein  unwider- 
stehlicher, zwangloser  Trieb  zur  schönen  Form  gewesen,  also  ein  Bedürfnis, 
das  an  sich  schon  schöne  Dasein  noch  mehr  zu  verschönern.  Statt  dessen 
aber  dienten  bei  ihnen  die  Gebilde  der  Kunst  wesentlich  dazu,  gefesselte 
sittliche   Kräfte   zu    befreien,    dunkle  Bewußtseinsinhalte    aufzuhellen    und 


Probleme  der  Moral.  341 

der  nordische  Mensch  verzichten.  Er  besitzt  nicht  die  natürliche 
Leichtigkeit  der  sinnlichen  Darstellung  wie  der  Bewohner  des  Südens, 
er  findet  schwer  den  Weg  von  innen  nach  außen;  so  bleibt  ihm 
leicht  das  Innerste  der  Seele  unausgesprochen  und  seine  eigne 
Tiefe  verschlossen.  Daher  wird  ihm  die  Kunst  ein  unentbehrliches 
Mittel,  sich  selbst  zu  finden,  sein  Eigentum  in  vollen  Besitz  zu 
nehmen,  die  Kluft  im  eignen  Wesen  irgend  zu  schließen.  So  kann 
ihm  auch  die  vollendetste  Form  als  bloße  Form  nun  und  nimmer 
genügen. 

Wer  einen  Inhalt  der  Kunst  als  etwas  ihr  fremdes  und  gefähr- 
liches verschmäht,  der  pflegt  dabei  an  eine  Gedankenleistung,  eine 
abstrakte  Idee  zu  denken.  Aber  fällt  denn  Geistesleben  mit  dem 
Denken  zusammen,  gibt  es  keinen  anderen  geistigen  Inhalt  als  eine 
Gedankengröße?  Der  alte  Intellektualismus  mochte  das  meinen,  heute 
aber  wollen  wir.  nicht  mehr  Intellektualisten  sein;  wie  könnten  uns 
also  jetzt  die  veralteten  Maße  binden  und  uns  hindern,  in  tieferem 
und'  weiterem  Sinne  nach  einem  Inhalt  für  den  ganzen  Menschen  zu 
streben? 

Ja  wir  sehen  sogar  in  der  Zurückstellung  des  Inhalts  eine  Ge- 
fahr für  eben  die  Selbständigkeit  der  Kunst,  zu  deren  Gunsten  sie 
verlangt  wird.  Mit  dem  Unabhängigwerden  vom  Stoffe  wird  nicht  eine 
Unabhängigkeit  schlechthin  erreicht.  Eine  überwiegende  Formkunst 
wird  leicht  zu  einem  Virtuosentum,  das  vor  allem  darauf  bedacht 
ist,  wenn  nicht  anderen,  so  doch  sich  selbst  das  eigne  Vermögen 
zu  zeigen;  das  aber  erzeugt  eine  Vorliebe  für  das  Abweichende, 
Paradoxe,  Überspannte,  und  mit  dem  Suchen  dessen  gerät  man  leicht, 
indem  man  seine  Freiheit  beteuert,  nur  in  eine  andere  Art  der  Ab- 
hängigkeit, eine  Abhängigkeit  von  anderen  und  auch  von  der  eignen 
Stimmung.  Nur  da  besteht  wahrhaftige  Unabhängigkeit,  wo  das 
Schaffen  ganz  und  gar  aus  einer  innem  Notwendigkeit  des  eignen 
Wesens  hervorgeht;  dazu  aber  muß  der  Mensch  etwas  auszusprechen, 


zersplitterte  Arbeit  um  gemeinsame  praktische  Ziele  zu  sammeln."  -  Und 
weiter:  „Tatsächlich  gilt  von  aller  großen,  echten  Kunst,  daß  sie  die  Form 
dem  Inhalte,  den  sie  wiederzugeben  sucht,  mehr  oder  weniger  unterordnet 
und  gegen  die  Lust  oder  Unlust,  die  sie  —  bei  dem  Künstler  und  anderen 
—  erweckt,  sich  gleichgültig  verhält,  wenn  nur  die  Bilder  den  Inhalt  mit- 
teilen. Die  echte  Kunst  öffnet  uns  die  Tiefe  der  schöpferischen  Phantasie 
eher,  um  uns  von  dem  ,heiteren'  Dasein  zu  befreien,  als  um  uns  tiefer  in 
dasselbe  hineinzuführen.« 


342  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

ja  zu  offenbaren  haben.    Der  bloßen  Virtuosenkunst  aber  fehlt  eine 
solche  Notwendigkeit. 

Mit  einem  Worte  sei  auch  des  Verhältnisses  der  modernen 
Kunst  zur  geschlechtlichen  Sphäre  gedacht.  Daß  die  Kunst  sich 
nicht  von  ihr  zurückzieht,  sondern  sich  eingehend  mit  ihr  befaßt, 
kann  ihr  nur  eine  unkünstlerische  Denkweise  verargen.  Daß  sie 
oft  aber  jenes  mit  sichtlicher  Vorliebe  in  den  Vordergrund  rückt 
und  möglichst  lange  bei  ihm  verweilt,  es  so  reflektiert  und  so  raffi- 
niert bis  zur  Eckelhaftigkeit  ausmalt,  das  ist  mehr  ein  Zeichen  sitt- 
licher Fäulnis  als  technischen  Könnens,  das  kann  durch  keine  ästhe- 
tische Theorie  verteidigt  werden. 

Wie  viel  bei  der  bildenden  Kunst  im  Fluß  und  im  Streit  sein 
mag,  an  hervorragenden  Persönlichkeiten  und  an  glänzenden  Leist- 
ungen fehlt  es  hier  wahrlich  nicht.  Minder  günstig  steht  die  Sache 
auf  dem  Gebiete  der  Literatur.  Anregungen  und  Aufgaben  bietet 
hier  die  Zeit  in  Hülle  und  Fülle.  Alte  Qedankenmassen  versinken 
und  neue  steigen  auf,  über  seine  Stellung  im  All  ist  der  Mensch 
höchst  unsicher  geworden,  der  eigne  Kreis  der  Menschheit  ist  voller 
Bewegungen  und  Wandlungen,  dazu  gestattet  die  wachsende  Hast 
des  Lebens  keine  genügende  Selbstbesinnung;  so  ist  uns  das  Dasein 
verworren  und  wir  selbst  sind  uns  vielfach  ein  Rätsel.  Hätte  hier 
nicht  das  literarische  Schaffen  die  Aufgabe  einer  Klärung,  hätte  es 
nicht,  was  auf  uns  eindringt  und  sich  in  uns  regt,  zur  deutlichen 
Aussprache  zu  bringen,  aus  dem  Chaos  der  Erscheinungen,  das  uns 
umwogt  einfache  Grundlinien  herauszuheben,  uns  das  Leben  mög- 
lichst in  ein  Ganzes  zu  fassen  und  zugleich  es  weiterzuführen?  Dazu 
aber  bedürfte  es  einer  inneren  Überlegenheit  über  die  Gegensätze 
der  Zeit,  einer  energischen  Synthese,  die  nicht  aufnähme  ohne  auch 
auszuschließen,  eines  mutig  und  kräftig  vordringenden  geistigen 
Schaffens.  An  Ansätzen  dazu  fehlt  es  nicht,  aber  im  allgemeinen 
ist  zu  sagen,  daß  unsere  Literatur,  die  Literatur  eines  der  größten 
Kulturvölker,  nicht  auf  der  Höhe  der  Zeit  steht,  daß  sie  dem  modernen 
Menschen  in  dem  Kampf  um  eine  geistige  Selbsterhaltung  und  um 
einen  Sinn  seines  Lebens  wenig  Hilfe  gewährt.  Es  ist  eine  Pflicht, 
dies  offen  auszusprechen. 


5.  Persönlichkeit  und  Charakter. 

a)  Persönlichkeit. 

a.  Zur  Geschichte  des  Ausdrucks. 

I  |en  Ausdruck  Person,  einen  der  wenigen  Termini  lateinischen 
*-^  Ursprungs,  von  seinem  Ursprung  an  in  seine  schon  im  Alter- 
tum reiche  Verzweigung  zu  verfolgen,  seine  Bedeutung  im  römischen 
Recht  wie  in  der  christlichen  Theologie  darzulegen,  das  würde  uns 
zu  weit  von  unserer  Aufgabe  entfernen.^  So  halten  wir  uns  an  die 
Philosophie  und  streben  auch  hier  möglichst  rasch  zur  Gegenwart. 
Die  neuere  Philosophie  empfing  den  Ausdruck  von  der  Scholastik, 
diese  aber  folgte  der  Definition  des  Boethius,  Person  sei  ein  ver- 
nünftiges Einzelwesen.2  Aus  der  Anwendung  dieser  Definition  auf 
die  Trinitätslehre  entstanden  ernste  Verwicklungen  (Roscellin),  aber 


^  Über  das  Technische  des  Ausdrucks  berichtet  näher  die  Realenzyklo- 
pädie von  Pauly.  Über  seine  Anfänge  und  seine  Schicksale  bis  ins  Mittel- 
alter schrieb  einen  anregenden  Aufsatz  Max  Müller  in  Good  Words,  Juni 
1866,  bedeutender  ist  eine  Untersuchung  Trendelenburgs,  die  ich  aus  seinem 
Nachlaß  in  den  Kant-Studien  Bd.  XIII,  Heft  1  u.  2  veröffentlicht  habe. 

^  Näher  lautet  die  Definition  (in  der  Schrift  de  duabus  naturis,  ed. 
R.  Peiper,  pag.  193,  4):  persona  est  rationalis  naturae  individua  substantia. 
Im  früheren  Mittelalter  ward  Person  wohl  etymologisch  erklärt  als  per  se 
una.  Über  die  verschiedenen  Fassungen  des  Begriffes  bei  den  wichtigsten 
mittelalterlichen  Denkern  s.  Baumgartner,  die  Philosophie  des  Alanus  de 
insulis,  S.  45.  Indem  Thomas,  namentlich  in  seiner  Untersuchung  über  die 
Dreieinigkeit  (im  1.  Buch  der  summa  theologiae),  die  Lehre  des  Boethius 
weiter  entwickelt,  betont  er,  daß  Personen  non  solum  aguntur,  sed  per  se 
agunt.  Er  verteidigt  die  Anwendung  des  Ausdrucks  auf  Gott,  obwohl  sie 
sich  nicht  in  der  Bibel  finde.  Wie  andere  Scholastiker,  so  hat  auch  Thomas 
personalitas,  dem  schon  Eckhardt  in  personlicheit  ein  deutsches  Gewand  gab, 
wie  er  auch  personlich  öfter  verwendet.  In  der  späteren  Scholastik  war  die 
gebräuchlichste  Definition  von  Person  suppositum  intelligens,  suppositum 
aber  bedeutete  dabei  eine  substantia  singularis  viva.  Zesen  übersetzte  persona 
mit  Selbstand  (s.  Paul  Piur,  Studien  zur  sprachlichen  Würdigung  Christian 
Wulffs,  S.  58),  Clauberg  (Wke.  1691,  S.  321)  mit  „selbständig  verständig  Ding." 


344  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

sie  haben  ihren  Gebrauch  in  der  Scholastik  nicht  gehindert.  Philo- 
sophische Probleme  bedeutender  Art  werden  dabei  nicht  aufgenommen. 

Erst  die  Neuzeit  brachte  die  Sache  in  regeren  Fluß.  Der  Be- 
griff Person  wird  hier  ein  Hauptmittel,  gegenüber  dem  Zuge  nach 
einer  gemeinsamen  und  gleichförmigen  Weltordnung  dem  Menschen 
eine  ausgezeichnete  Stellung  zu  wahren.  Die  von  der  Scholastik^ 
übernommenen  Begriffe  Person  und  Persönlichkeit  werden  dabei 
psychologisch  genauer  durchgebildet.  Leibniz  führt  diese  Bewegung, 
indem  er  das  Wesen  der  Persönlichkeit  in  das  Selbstbewußtsein, 
d.  h.  das  Bewußtsein  der  Identität  in  den  verschiedenen  Zeitpunkten 
des  eignen  Daseins,  setzt  und  daraufhin  die  Unsterblichkeit  des 
Menschen  von  der  Unzerstörbarkeit  der  niederen  Wesen  abhebt^ 
Wolff  wie  die  Aufklärungsphilosophie  nehmen  diese  Fassung  auf, 
Herbart  führt  sie  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein.^ 

Das  auszeichnende  Merkmal  der  Persönlichkeit  war  bis  dahin 


^  Wie  eng  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  der  Zusammenhang 
mit  der  Scholastik  noch  war,  und  wie  sehr  die  Ausdrücke  als  bloße  Termini 
der  Schule  galten,  zeigt  das  weitverbreitete  philosophische  Lexikon  von  Walch. 
Es  heißt  dort  (auch  noch  in  der  vierten,  von  Hennings  besorgten  Ausgabe 
von  1775)  unter  Person:  «Person  heißt  in  der  Metaphysik  eine  besondere, 
vollkommene  und  vernünftige  Substanz,  welche  ihr  Wesen  und  ihre  Subsistenz 
vor  sich  hat.  Das  Abstraktum  davon  oder  die  Subsistenz  eines  solchen  Wesens 
ist  Personalitas  genannt  worden." 

^  Theodic^e  I,  §  89:  l'immortalite,  par  laquelle  on  entend  dans  l'homme, 
non  seulement  que  l'äme,  mais  encore  que  la  personalitesubsiste:  c'est-ä-dire, 
en  disant  que  l'äme  de  l'homme  est  Immortelle,  on  fait  subsister  ce  qui  fait 
que  c'est  la  meme  personne,  laquelle  garde  ses  qualites  morales,  en  conser- 
vant  la  conscience  ou  le  sentiment  reflexif  interne  de  ce  qu'elle  est:  ce  qui 
Ja  rend  capable  de  chätiment  et  de  recompense.  Femer  in  dem  Briefe  an 
Wagner  (de  vi  activa  corporis  et  de  anima  brutorum)  S.  466  b  der  Erdraannschen 
Ausgabe:  Itaque  non  tantum  vitam  et  animam,  ut  bruta,  sed  et  conscientiam 
sui  et  memoriam  pristini  status,  et,  ut  verbo  dicam,  personam  servat. 

'  So  sagt  Wolff  (psych,  rationalis,  §741):  Persona  dicitur  ens,  quod 
memoriam  sui  conservat,  hoc  est,  meminit,  se  esse  idem  illud  ens  quod  ante 
in  hoc  vel  isto  fuit  statu.  Femer  in  den  »vemünftigen  Gedanken  von  Gott, 
der  Welt  und  der  Seele  des  Menschen"  §  924  (angeführt  von  Trendelenburg): 
»Da  man  nun  eine  Person  nennet  ein  Ding,  das  sich  bewußt  ist,  es  sei  eben 
dasjenige,  was  vorher  in  diesem  oder  jenem  Zustande  gewesen:  "?o  sind  die 
Tiere  auch  keine  Personen.  Hingegen  weil  die  Menschen  sich  bewußt  sind, 
daß  sie  eben  diejenigen  sind,  die  vorher  in  diesem  oder  jenem  Zustande 
gewesen:  so  sind  sie  Personen."  Herbart  aber  sagt:  (Wke.  III,  60):  »Persön- 
lichkeit ist  Selbstbewußtsein,  worin  das  Ich  sich  in  allen  seinen  mannig- 
faltigen Zuständen  als  Eins  und  Dasselbe  betrachtet." 


Persönlichkeit  und  Charakter.  345 

die  Intelligenz.  Nun  aber  beginnt  eine  neue,  eine  ethische  Phase. 
Nach  mannigfacher  Vorbereitung  hat  Kant  mit  seiner  Voranstellung 
der  praktischen  Vernunft  sie  durchgesetzt  BPersönHchkeit«  ist  einer 
der  Hauptpunkte,  welche  die  neue  Denkweise  zu  greifbarem  Ausdruck 
bringen,  es  wächst  bei  Kant  weit  über  die  bloße  Intelligenz  hin- 
aus, in  ihr  erscheint  eine  wesentlich  höhere,  in  Freiheit  gegründete 
Ordnung.  Persönlichkeit  bedeutet  nämlich  »die  Freiheit  und  Unab- 
hängigkeit von  dem  Mechanismus  der  ganzen  Natur",  das  »was  den 
Menschen  über  sich  selbst  (als  einen  Teil  der  Sinnenwelt)  erhebt, 
was  ihn  an  eine  Ordnung  der  Dinge  knüpft,  die  nur  der  Verstand 
denken  kann,  und  die  zugleich  die  ganze  Sinnenwelt,  mit  ihr  das 
empirisch -bestimmbare  Dasein  des  Menschen  in  der  Zeit  und  das 
Ganze  aller  Zwecke,  unter  sich  hat«  (V,  91  Hart).  Als  Personen 
sind  Vemunftswesen  Zwecke  an  sich  und  dürfen  nie  als  bloße  Mittel 
gebraucht  werden.  Ja  es  wird  in  uns  neben  der  Tierheit  und 
Menschheit  noch  die  Persönlichkeit  unterschieden;  der  Mensch  ist 
zunächst  ein  lebendes,  dann  ein  lebendes  und  zugleich  vernünftiges, 
als  Persönlichkeit  endlich  ein  vernünftiges  und  zugleich  der  Zurech- 
nung fähiges  Wesen  (VI,   120). 

Spätere  Denker,  wie  der  ältere  Schelling,  auch  J.  H.  Fichte, 
haben  diese  ethische  Fassung  des  Persönlichkeitsbegriffes  nach  der 
metaphysischen  Seite  zu  ergänzen  und  vertiefen  gesucht,^  im  großen 
und  ganzen  aber  ist  man  bei  Kant  verblieben.  Zum  mindesten  steht 
seit  ihm  fest,  daß  das  allen  einzelnen  Handlungen  überlegene,  als 
Persönlichkeit  bezeichnete  Subjekt  auch  mit  praktischer  Vernunft 
auszustatten  ist,  daß  zu  seinem  Wesen  nicht  bloß  das  Selbstbewußt- 
sein, sondern  auch  die  Selbstbestimmung  gehört 

ß.  Zur  Geschichte  des  Begriffs. 

Die  letzterrungene  Fassung  des  Begriffs  als  des  selbstbewußten 
und  selbsttätigen  Subjekts  ist  es,  deren  Geschichte  wir  nunmehr  in 


^  Dne  Geschichte  des  Persönlichkeitsbegriffes  im  19.  Jahrhundert  wäre 
eine  Aufgabe,  die  manchen  Ertrag  verspricht.  Über  den  Gebrauch  des  Aus- 
drucks bei  den  verschiedenen  Völkern  bemerkt  Alexander  Chamberlain  in 
Harpers  Monthly  (1003,  Juli,  pag.  281):  The  word  personality  is  not  a  natrve 
English  term,  but  has  been  borrowed,  ultiraately  frora  mediacN-al  Latin  and 
subsequently  rescued  from  the  lau^-ers.  The  corresponding  French  term, 
personnalite,  was  admitted  to  the  Academy's  dictionary  so  recendy  as  1762. 
The  German  Persönlichkeit  was  once  entirely  in  the  possession  of  the  mystics. 


346  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Kürze  aufrollen  möchten.  Die  griechische  Philosophie  gelangte  nicht 
zu  einem  deutlichen  Begriff  der  Persönlichkeit,  sowohl  weil  die  Frage 
der  Einheit  des  Seelenlebens  nicht  im  Vordergrunde  stand,  als  weil 
dem  vorwaltenden  Intellektualismus  das  Denken  als  der  Kern  und 
das  wahre  Selbst  des  Menschen  galt.  Immerhin  arbeitet  sich  den 
großen  Durchforschern  des  Menschenwesens,  fast  im  Widerspruch 
mit  ihren  Hauptlehren,  ein  gewisser  Begriff  der  Persönlichkeit  her- 
aus und  wirkt  in  ihrer  Gedankenwelt.  So  bei  Plato,  so  mehr  noch 
bei  Aristoteles,  dessen  Ethik  deutlich  genug  über  einzelne  Hand- 
lungen zu  einem  Wesen  vordringt,  das  sich  selbst  im  Handeln  er- 
lebt. Das  spätere  Altertum  hat  mehr  und  mehr  den  Menschen  auf 
sein  eignes  Innere  gestellt  und  auch  den  Begriff  des  Selbstbewußt- 
seins entwickelt,^  aber  zu  einem  vollen  Begriff  der  Persönlichkeit  ist 
es  nicht  gelangt.  Eine  unserem  Begriff  der  Persönlichkeit  ent- 
sprechende Fassung  der  Gottheit  wurde  von  hervorragenden  Denkern 
nachdrücklich  abgelehnt.^ 


1  S.  Siebeck,  Geschichte  der  Psychologie  I,  2,  S.  331—342:  „Die  Her- 
ausbildung des  Bewußtseinsbegriffes."  Trendelenburg  hat  in  dem  angeführten 
Aufsatz  näher  dargelegt,  wie  sehr  die  Stoiker  die  Entwicklung  dieses  Begriffs 
gefördert  haben;  er  zeigt,  wie  »wir  bei  ihnen,  die  im  Leben  auf  die  Über- 
einstimmung mit  sich  selbst,  auf  die  Konsequenz  des  mit  sich  einigen 
Charakters  gerichtet  waren,  das  r.po'jujxo^j ,  die  persona  zum  Ausdruck  des 
Ethischen  werden  sehen";  und  weiter:  »die  gut  gedichtete  Rolle  ist  der  Natur 
gemäß,  wie  der  erste  Grundsatz  der  Stoiker  verlangt,  der  Natur  gemäß  zu 
leben,  d.  h.  der  Vernunft,  die  der  Natur  zum  Grunde  liegt,  zu  folgen,  und 
die  gut  gedichtete  Rolle  individualisiert  ferner  das  Allgemeine  der  eigen- 
tümlichen Natur  des  Einzelnen  gemäß  und  gründet  es  in  einem  vernünftigen 
Mittelpunkt". 

*  Zuerst  tat  das,  so  weit  bekannt,  der  Akademiker  Karneades  (213/4  bis 
129  V.  Chr.),  später  mit  größter  Kraft  und  Schärfe  Plotin.  S.  darüber  neben 
Zellers  großem  Werk  seinen  Grundriß  der  Gesch.  d.  griech.  Philosophie. 
Karneades  suchte  zu  zeigen  (s.  Grundr.  6.  Aufl.,  S.  242 ff.):  „daß  man  sich 
die  Gottheit  nicht  als  ein  lebendes,  vertiünftiges  Wesen  (Cwov  Xoyizo'v)  denken 
könne,  ohne  ihr  Eigenschaften  und  Zustände  beizulegen,  die  ihrer  Ewigkeit 
und  Vollkommenheit  widerstreiten."  Besonders  energisch  aber  kämpft  Plotin 
aus  dem  Ganzen  einer  Weltanschauung  dagegen,  dem  schlechthin  Unend- 
lichen und  aller  Besonderheit  überlegenen  Urwesen,  wie  er  es  faßt,  Denken 
oder  Wollen  und  weiter  auch  Selbstbewußtsein  zuzuschreiben  (s.  Zeller  a.  a.  O., 
S.  293  ff.).  „So  tritt  die  von  Karneades  vorbereitete  Leugnung  der  Persön- 
lichkeit Gottes  hier  zuerst  mit  grundsätzlicher  Entschiedenheit  auf«  (Zeller). 
Plotins  Gründe  sind  für  die  spekulative  Ablehnung  einer  Persönlichkeit 
Gottes  maßgebend  geblieben,  auch  Spinoza  hat  ihnen  kaum  etwas  neues 
hinzugefügt. 


Persönlichkeit  und  Charakter.  347 

Die  kräftigere  Belebung  und  größere  seelische  Nähe,  welche 
die  Gottesidee  im  alten  Christentum  gewann,  gestattet  hier  weit  eher, 
von  einer  Persönlichkeit  Gottes  und  einem  persönlichen  Verhältnis 
des  Menschen  zu  Gott  zu  sprechen.  Die  darin  liegende  Gefahr 
eines  Anthropomorphismus  blieb  nicht  unbemerkt:  das  zeigt  schon 
der  heftige  Streit  darüber,  ob  sich  dem  höchsten  Wesen  ein  Affekt 
wie  der  Zorn  zuschreiben  lasse.  Eine  Lösung  fanden  die  Probleme 
im  Gottesbegriff  unter  Augustins  Führung  schließlich  in  der  Weise, 
daß  eine  menschlich -persönliche  Fassung  auf  die  Grundlage  einer 
spekulativ-mystischen  aufgetragen  wurde.  Gott  ist  zugleich  sittliche 
Persönlichkeit  und  absolutes  Sein.  Die  mattere  Denkweise  des 
Mittelalters  empfand  in  dem  Nebeneinander  beider  Fassungen  keinen 
Widerspruch.  Der  Neuzeit  verwandelte  sich  auch  hier  alsbald  in 
ein  Entweder -oder,  was  das  Mittelalter  als  ein  Sowohl  — als  auch 
ruhig,  ja  willig  ertragen  hatte. 

So  erfolgt  denn  in  der  Neuzeit  eine  energische  Scheidung  der 
Geister  beim  Gottesbegriff.  Was  immer  dem  Zuge  zur  Immanenz 
folgt  und  auf  universalen  Weltbegriffen  besteht,  das  bekämpft  die 
persönliche  Fassung  der  Gottesidee  als  einen  unerträglichen  Anthro- 
pomorphismus. Der  Widerstand  und  Widerspruch  gegen  den  Pan- 
theismus dagegen  stützt  sich  in  seinem  Verlangen  nach  einem  leben- 
digen göttlichen  Sein  auf  die  Idee  der  Persönlichkeit  und  gibt  auch 
dem  Wort  einen  besonderen  Nachdruck.  Bis  dahin  hatte  man  viel 
von  dem  Verhältnis  der  drei  Personen  im  göttlichen  Wesen,  aber 
wenig  von  der  Persönlichkeit  Gottes  gesprochen.^  Nun  aber  wird 
Persönlichkeit  ein  Bekenntnis  und  Lieblingswort  der  Antipantheisten. 
So  beteuert  z.  B.  Jakobi  in  dem  bekannten  Gespräch  mit  Lessing 
seinen  Glauben  an  eine  «verständige  persönliche  Ursache  der  Welt" 
und  vermißt  an  der  Substanz  Spinozas  „eine  eigne,  besondere,  indi- 
viduelle Wirklichkeit",  „Persönlichkeit  und  Leben".  Von  da  aus 
zieht  sich  der  Streit  durch  das  19.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart. 
Wo  immer  der  Lebensprozeß  sich  vorwiegend  künstlerisch  oder  in- 
tellektuell gestaltet,  da  dünkt  leicht  die  Idee  der  Persönlichkeit  zu  eng 
und  zu  klein,  um  das  Ganze  der  Wirklichkeit  zu  beherrschen;  wo 
dagegen    der  ethische  Zug  die  Führung  hat,    da  möchte  man  den 


*  Wiederum  sei  hier  Walch  als  Zeuge  angeführt,  der  im  Artikel  Person 
wohl  von  Personen  der  Dreieinigkeit,  nicht  aber  von  einer  Persönlichkeit 
Gottes  spricht  und  in  einer  ausführlichen  Erörterung  des  Wesens  Gottes 
»Persönlichkeit"  mit  keinem  Worte  berührt. 


348  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Begriff  nicht  missen  und  strebt  nach  einer  Fassung,  die  auch  die 
Gottesidee  zu  umspannen  vermag  (so  Lotze  und  Ritschi).  —  Die 
neueste  Zeit  Spricht  besonders  viel  von  Persönlichkeit,  die  Wendung 
zu  dieser  erscheint  oft  als  ein  sicheres  Heilmittel  aller  Schäden. 
Eine  kräftigere  Belebung  der  Persönlichkeit  will  die  Kunst,  die  Re- 
ligion, die  Moral,  das  allgemeine  Leben;  sie  dünkt  eine  unentbehr- 
liche Hilfe  gegen  die  drohende  Entseelung  des  Daseins,  ein  Mittel 
zur  Abstoßung  von  Veraltetem  und  Überlebtem,  der  einzige  Weg 
zur  ersehnten  Verjüngung  und  Vereinfachung  des  Lebens;  mit  der 
Persönlichkeit  hofft  man  gegenüber  der  Erschütterung  der  Weltbegriffe 
einen  sicheren  Halt  im  eignen  Innern  zu  gewinnen,  auch  einen 
Punkt,  auf  den  sich  die  Menschen  inmitten  unerträglicher  Spaltung 
und  Zersplitterung  einigen  können. 

Wo  so  viel  zusammentrifft,  läßt  sich  viel  Verworrenheit  er- 
warten; es  müßte  wunderbar  zugehen,  wenn  eine  so  leichte  Wend- 
ung, eine  einfache  Selbstbesinnung,  uns  den  unermeßlichen  Verwick- 
lungen entwinden  könnte,  die  uns  heute  umfangen.  Vermutlich  ist 
entweder  die  Hilfe  ein  bloßer  Schein,  oder  der  Gedanke  der  Persön- 
lichkeit enthält  mehr  und  fordert  mehr,  als  die  übliche  Fassung  ihm 
beilegt.     Sehen  wir,  wie  es  damit  steht. 

y.  Untersuchung  des  Problems. 

An  dem  Streit  über  Persönlichkeit  ist  ohne  Zweifel  viel  Wort- 
streit; so  lange  der  eine  dem  Ausdruck  eine  engere  und  niedrigere, 
der  andere  eine  weitere  und  höhere  Bedeutung  gibt,  ist  eine  Ver- 
ständigung ausgeschlossen.  Aber  wie  oft,  so  ist  auch  hier  der  Streit 
um  das  Wort  nur  die  Erscheinung  eines  sachlichen  Gegensatzes. 
Nicht  deshalb  schätzen  hervorragende  Denker  bis  zur  Gegenwart 
»Persönlichkeit",  weil  ihnen  das  Wort  in  die  Ohren  klingt,  sondern 
weil  sie  in  ihm,  wenn  auch  unvollkommen,  einen  Gedanken  be- 
zeichnet, eine  Tatsache  behauptet  finden,  auf  die  sie  nicht  glauben 
verzichten  zu  dürfen.  Wie  Person  und  Persönlichkeit  von  alters  her 
den  Vorrang  des-  Menschen,  des  geistigen  Wesens,  zum  Ausdruck 
brachte,  so  ist  es  eine  Grundüberzeugung  vom  Geistesleben,  von 
seinem  Inhalt  und  seiner  Bedeutung,  die  in  ihm  sich  ein,  wenn  auch 
unzulängliches  Werkzeug  schuf.  Wer  im  Zusammenhang  einer  Welt- 
anschauung für  Persönlichkeit  eintritt,  behauptet  damit,  daß  das 
Geistesleben  keinen  bloßen  Anhang  der  Natur,  sondern  eine  eigen- 
tümliche Art  des  Seins  besagt;  er  behauptet,  daß  es  nicht  in  einzelne 


Persönlichkeit  und  Charakter.  349 

Betätigungen  und  Vermögen  aufgeht,  sondern  eine  ihnen  überlegene 
und  sie  umfassende  Einheit  enthält  und  damit  zu  einem  Beisich- 
selbstsein,  einem  Selbstleben  wird;  er  behauptet  endlich,  daß  dies 
Selbstleben  kein  bloßer  Sammelpunkt  ihm  zugeführter  Elemente, 
sondern  aktiver  Art  ist,  eine  umwandelnde  Kraft  an  allem  Empfan- 
genen übt  und  das  ganze  Dasein  auf  eine  höhere  Stufe  hebt.  Nur 
wenn  dieses  alles  zutrifft,  bringt  Persönlichkeit  etwas  wesentlich 
Neues  in  unser  Dasein  und  rechtfertigt  damit  den  Affekt,  mit  dem 
sie  von  vielen  ergriffen  wird. 

Nun  aber  ist  das  Ganze  jener  Behauptungen  nur  im  Recht, 
wenn  im  Gesamtbilde  der  Wirklichkeit  und  unserer  Stellung  in  ihr 
sich  eingreifende  Wandlungen  vollziehen.  An  der  besonderen  Stelle 
kann  keine  Wahrheit  haben,  was  nicht  im  Ganzen  wahr  und  in 
seinen  Zusammenhängen  begründet  ist;  wäre  jene  Bewegung  zur 
Persönlichkeit  eine  bloße  Privatangelegenheit  des  Menschen,  so  wäre 
sie  mit  ihrem  Weltbilde  eine  bloße  Illusion,  so  würde  sie  ins  Leere 
fallen.  Ein  Durchdringen  zur  Wahrheit  wird  sie  nur,  wenn  das  Geistes- 
leben die  Tiefe  der  Wirklichkeit  bildet,  in  der  sie  ihr  eignes  Wesen 
erreicht.  Nur  auf  Grund  einer  neuen  Weltstufe  und  im  Zusammen- 
hang mit  ihr  kann  der  Einzelne  die  Wendung  zur  Persönlichkeit 
vollziehen  und  die  Menschheit  persönliches  Leben  entfalten.  Ja  es 
muß  jenes  neue  Leben,  um  den  Menschen  über  die  naturhafte  Ord- 
nung hinauszuheben,  die  ihn  zunächst  umfängt  und  beherrscht,  als 
Ganzes  seiner  Seele  zugegen  sein  und  in  ihm  wirken;  er  muß  an 
einer  inneren  Unendlichkeit  teilhaben,  um  der  äußeren  gewachsen 
zu  sein.  So  handelt  es  sich  bei  Persönlichkeit  um  ein  neues  Grund- 
verhältnis zur  Welt,  um  eine  neue  Art  des  Lebens  und  Seins. 

Steht  aber  die  Sache  so,  so  ist  Persönlichkeit  für  den  Menschen 
keine  fertige  Tatsache,  die  er  bequem  und  hurtig  sich  aneignen 
könnte,  kein  sicherer  Ausgangspunkt,  der  sich  mühelos  einnehmen 
ließe,  sondern  sie  bedeutet  für  ihn  eine  große  und  schwere 
Aufgabe,  sie  verlangt  eine  völlige  Umwälzung  der  vorgefundenen 
Lage.  Nicht  die  Entfaltung  oder  Ausschmückung  des  natürlichen 
Selbst,  sondern  der  Gewinn  eines  neuen  Selbst  steht  hier  in  Frage. 
Die  Wendung  wird  nur  da  den  vollen  Ernst  und  Nachdruck  er- 
langen, wo  sie  auch  ein  entschiedenes  Nein  umfaßt,  eine  Ver- 
neinung der  naturhaften  Selbsterhaltung,  ein  Hinausstreben  über  die 
bloßmenschliche  Form  des  Geisteslebens.  Und  es  darf  solches  Nein 
keinen   flüchtigen  Durchgangspunkt  bilden,   es  muß  stets  zugegen 


350  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

bleiben  und  energisch  festgehalten  werden,  wenn  nicht  das  Streben 
nach  dem  neuen  Sein  immer  wieder  zur  naturhaften  Lebensform 
zurücksinken  soll. 

Ja  auch  innerhalb  des  Geisteslebens  bildet  Persönlichkeit  einen 
Anstieg  und  eine  Konzentration,  die  erst  durch  Erfahrungen  und 
Entscheidungen  des  ganzen  Menschen  hindurch  erreicht  wird.  Das 
Leben  durchläuft  die  drei  Stufen  einer  grundlegenden,  kämpfenden, 
überwindenden  Geistigkeit.  Zuerst  gilt  es  die  Anerkennung  einer 
geistigen  Aufgabe  überhaupt,  eine  Erhebung  des  Lebens  über  die 
Natur,  eine  Entwicklung  geistiger  Größen  und  Güter  jenseit  der 
natürlichen  Selbsterhaltung.  Das  ergibt  die  Scheidung  eines  Idealis- 
mus vom  Naturalismus,  der  alles  Geistesleben  als  eine  Weiterführung 
der  bloßen  Natur  behandelt,  und  damit  die  erste  Scheidung  der 
Geister.  Aber  der  Boden  des  Idealismus  erzeugt  alsbald  ein  neues 
Problem:  das  Reich  d£r  Erfahrung  zeigt  starke  Widerstände  gegen 
die  vom  Idealismus  geforderte  Ordnung;  es  fragt  sich,  ob  diese 
Widerstände  die  Bewegung  zum  Stocken  bringen,  oder  ob  sie  von 
ihr  überwunden  werden.  Dort  entsteht  der  Pessimismus  mit  seiner 
Preisgebung  der  Sache;  hier  muß  irgendwelche  Verstärkung,  irgend- 
welche Weiterbildung  des  Geisteslebens  erfolgen.  Diese  aber  ist  es, 
die  in  der  Wendung  zum  Persönlichsein  behauptet  wird.  Das 
Persönlichsein  erscheint  hier  als  der  Höhepunkt  einer  geistigen  Be- 
wegung, und  zwar  als  ein  solcher,  der  sie  zu  einem  Ganzen  ver- 
bindet, indem  er  die  früheren  Stufen  als  beharrende  Momente  fest- 
hält. Denn  das  Leben  bleibt  unablässig  in  Fluß,  immer  neu  ist  der 
Aufstieg  von  der  Natur  zum  Geist  zu  vollziehen,  immer  neu  der 
Widerstand  gegen  die  Vergeistigung  des  Daseins  zu  durchleben, 
immer  neu  eine  innere  Überwindung  zu  suchen.  So  bleibt  das 
Ganze  eine  fortlaufende  Tat,  ein  unablässiger  Aufstieg;  es  läßt  sich 
erwarten,  daß  nicht  der  ganze  Umfang  des  Daseins  darin  eingeht, 
daß  das  Persönlichsein  bei  uns  selbst  einen  inneren  Widerstand  be- 
hält; es  ist  nicht  sowohl  unser  ganzes  Dasein  als  seine  bewegende 
Kraft,  die  Seele  der  Seele.  Augenscheinlich  ist  es  so  nicht  ein 
Besitz,  sondern  das  höchste  Ziel,  nicht  sowohl  ein  Persönlich- 
sein als  ein  Persönlichwerden.  Wie  dabei  das  Streben  einem  Ein- 
strömen des  naturhaften  Ich  unablässig  zu  widerstehen  hat,  so  haben 
die  Begriffe  immerfort  ein  Zurücksinken  zur  bloßmenschlichen  Vor- 
stellung abzuweisen,  womit  eine  Ermattung  des  Denkens  sie  unab- 
lässig bedroht. 


Persönlichkeit  und  Charakter.  35I 

Wer  solche  Aufgaben  und  Verwicklungen  im  Persönlich>x'erden 
anerkennt,  der  wird  auch  die  Kämpfe  zu  würdigen  wissen,  die  art 
dies  Problem  sich  knüpfen.  In  der  Religion  ward  die  Idee  der 
Persönlichkeit  zugunsten  eines  unpersönlichen  Geisteslebens  oft  be- 
kämpft, weil  mit  jener  das  natürliche  Ich  des  Menschen  starr  fest- 
gelegt und  zugleich  das  höchste  Wesen  zu  menschenartig  gefaßt 
schien;  die  Wendung  zu  einem  unpersönlichen  Sein  mit  der  For- 
derung einer  völligen  Auflösung  des  Einzelnen  in  den  Ozean  der 
Unendlichkeit  dünkte  demgegenüber  eine  größere,  reinere,  vor- 
nehmere Denkart.  So  die  pantheistische  Spekulation  und  die  Mystik, 
so  die  Höhe  der  indischen  Religionen,  so  Spinoza  mit  seinem  Worte, 
daß,  wer  Gott  wahrhaft  liebt,  nicht  verlangen  könne,  daß  Gott  ihn 
wieder  liebe.  Solche  Denkweise  hat  ihr  Recht  in  der  Abweisung 
der  kleinmenschlichen  Daseinsform,  aber  mit  dieser  Verneinung,  dem 
Versinken  in  den  Abgrund  der  Ewigkeit,  kann  nur  abschließen,  wer 
dem,  Geistesleben  keine  neue,  selbständige  Wirklichkeit  zuerkennt, 
wer  in  ihm  wohl  eine  Befreiung  von  den  Wirren  und  Mühen  der 
menschlichen  Existenz,  von  der  Unruhe  und  Flucht  der  Zeit,  von 
der  Enge  und  Starrheit  des  kleinen  Ich  erblickt,  nicht  aber  das  Auf- 
steigen und  den  Gewinn  eines  neuen  Lebens.  Beruhigen  beim 
Nein  kann  sich  nur  eine  kontemplative  und  vorwiegend  passive 
Lebensführung,  eine  weichere,  mattere,  schlaffere  Denkart;  wo  immer 
das  Geistesleben  mehr  Kraft  und  Zuversicht  entwickelt,  da  wird  es 
das  scheinbar  Unmögliche  wagen  und  über  das  Nein  hinaus  nach 
einem  Ja  verlangen,  da  wird  es  die  Bahnen  einschlagen,  welche  die 
Idee  der  Persönlichkeit  angibt.  Nun  aber  wird  dies  Streben  stets 
von  der  Gefahr  eines  Zurücksinkens  in  die  natürliche  Lebensform 
begleitet  sein;  in  der  Tat  pflegt  bei  den  Religionen  eine  höhere  und 
eine  niedere  Art  durcheinanderzulaufen:  dort  das  Aufstreben  zu  einer 
neuen  Welt,  einem  neuen  Leben  und  auch  einem  neuen  Gedanken- 
reiche, für  das  unser  menschliches  Dasein  nicht  mehr  als  Sym- 
bole liefert;  hier  dagegen  die  Neigung,  innerhalb  des  gegebenen 
Daseins  möglichst  gut  auszukommen,  die  neue  Welt  ein  bloßes 
Gegenstück  der  alten,  die  höchsten  Begriffe  anthropomorph  gestaltet, 
in  dem  allen  weit  mehr  eine  Festlegung  des  Kleinmenschlichen  als 
ein  Aufklimmen  zu  neuen  Höhen.  Als  Abweisung  dieser  Art  mit 
ihrer  Verdunklung  des  unentbehrlichen  Nein  ist  der  Widerstand 
gegen  das  Persönlichsein  in  gutem  Recht  und  gewiß  dem  Ganzen 
der  weltgeschichtlichen   Bewegung  unentbehrlich;  er  gerät  aber  ins 


352  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Unrecht,  wenn  er  mit  der  niederen  Art  auch  die  höhere  abweist  und 
damit  alle  Hoffnung  einer  positiven  Gestaltung  des  Geisteslebens 
aufgibt.  An  dem  Gewinn  einer  solchen  Gestaltung  liegt  schließlich 
auch  alle  Hoffnung  einer  gründlichen  Überwindung  des  niederen 
Lebenstriebes.  Denn  letzthin  ist  positivem  Streben  nur  ein  anderes 
positive  Streben  gewachsen;  alle  Energie  der  Verneinung,  alles  Ver- 
schwimmenwollen in  die  Unendlichkeit  wird  die  Selbstsucht  nicht 
so  gründlich  brechen  als  die  Bildung  eines  neuen  geistigen  Selbst 
mit  großen  und  zwingenden  Aufgaben.  So  steht  hier  in  Frage, 
ob  der  positive  Lebens-  und  Glücksdrang  sich  der  bloßen  Natur 
entwinden  und  der  Stufe  des  Geistes  zuführen  läßt  oder  nicht.  Im 
Fall  des  Nein  ist  alle  unsägliche  Mühe  schließlich  verloren. 

Ahnliche  Probleme  wie  die  Religion  zeigt  an  dieser  Stelle  auch 
die  Kultur.  Künstlerische  und  intellektuelle  Weltbilder  treffen  in  der 
Abneigung  gegen  eine  leitende  Stellung  der  Persönlichkeit  zusammen. 
Denn  sie  sehen  darin  ein  Zurückziehen  der  geistigen  Arbeit  zum 
bloßen  Menschen  und  eine  widrige  Störung  ihres  eignen  Fortgangs 
durch  eine  Einmischung  seiner  kleinen  Sorgen.  Sich  rein  und  voll- 
ständig entfalten  zu  können  scheint  das  Geistesleben  nur,  wenn  es 
unter  völliger  Ablösung  vom  Menschen  und  seinen  Zwecken  ledig- 
lich der  eignen  sachlichen  Notwendigkeit  folgt  und  sich  im  eignen 
Kreise  zu  einem  selbständigen  Lebensganzen  mit  eigentümlichen  Ge- 
setzen zusammenschließt 

Auch  hier  aber  wird  eine  niedere  und  eine  höhere  Fassung 
der  Persönlichkeitsidee  zusammengeworfen  und  mit  dem,  was  herab- 
zieht, etwas  aufgegeben,  dessen  die  Kulturarbeit  zur  Erreichung  ihrer 
vollen  Höhe  notwendig  bedarf.  Recht  verstanden  liegt  das  Sein  und 
die  Einheit,  die  dem  Streben  nach  Persönlichkeit  vorschwebt,  nicht 
neben  der  Arbeit,  sondern  innerhalb  ihrer.  Diese  selbst  ist  dahin 
zu  bringen,  das  ein  Selbstleben  in  ihr  durchbricht,  daß  ein  geistiges 
Sein  sich  in  ihr  erfaßt,  die  Erfahrungen  in  Erlebnisse  umsetzt,  dem 
Geschehen  allererst  einen  Inhalt  verleiht.  Denn  es  gibt  schlechter- 
dings keinen  Inhalt  ohne  ein  Selbst,  das  im  Wirken  und  Geschehen 
sich  entfaltet.  Nur  ein  solches  innerhalb  des  Geisteslebens  befindliches 
Selbst  gewährt  diesem  eine  Seele  und  einen  Halt,  behütet  es  vor 
der  Gefahr,  ein  leerer  Mechanismus  oder  ein  seelenloser  Kulturprozeß 
zu  werden,  gibt  ihm  die  Kraft,  seine  eigne  Arbeit  zu  bewältigen,  statt 
von  ihr  bewältigt  und  erdrückt  zu  werden.  Auch  kann  nur  mit 
einem   solchen  Selbst  das  Leben  eine  volle  Wirklichkeit  gewinnen 


Persönlichkeit  und  Charakter.  353 

und  sich  einer  Wirklichkeit  sicher  fühlen,  während  es  ohne  einen 
solchen  Kern  ein  schatten-  und  traumhaftes  Dasein  führt  und  darin 
alles  Empfangene  verwandelt.  Die  Inder  zeigen  uns  solche  Ver- 
flüchtigung in  klassischem  Bilde.  -  Augenscheinlich  handelt  es  sich  hier 
nicht  um  eine  eifrigere  subjektive  Aneignung  einer  gegebenen  Wirk- 
lichkeit, sondern  um  eine  reale  Erhöhung  und  Umwandlung  der 
gesamten  Wirklichkeit,  es  handelt  sich  um  den  letzten  Abschluß  der 
Kultur,  um  die  Möglichkeit  eines  neuen,  wesenhafteren  und  seelen- 
volleren Kulturideals.  Das  Entscheidende  dabei  ist  für  Menschen 
und  Völker  schließlich  die  Energie  des  Lebensaffekts,  die  kräftigere 
oder  mattere  Erfassung  des  Lebens;  die  sachliche  Entscheidung  aber 
liegt  nicht  bei  begrifflichen  Erwägungen,  sondern  bei  der  Möglich- 
keit der  Entwicklung  einer  neuen  Wirklichkeit  Nirgends  mehr  als 
hier  stehen  wir  bei  den  letzten  Axiomen  unserer  geistigen  Existenz. 
Von  solchen  Überzeugungen  aus,  die  für  ein  Persönlichwerden 
das  Aufsteigen  einer  neuen  Welt  und  eine  Umwälzung  des  natür- 
lichen Seins  verlangen,  muß  uns  dje  heutige  Bewegung  zum  Per- 
sönlichsein als  verworren,  ja  in  mancher  Hinsicht  verfehlt  erscheinen. 
Die  übliche  Behandlung  der  Sache  erschöpft  sich  in  das  Verlangen 
einer  kräftigeren  Konzentration,  einer  Verstärkung  des  Subjekts,  einer 
größeren  Selbständigkeit  gegenüber  der  Umgebung.  Aber  wie  soll 
das  geschehen,  wenn  der  Mensch  ein  bloßes  Stück  der  vorhandenen 
Welt  bleibt,  nicht  von  innen  her  an  einer  neuen  Welt  teil  gewinnt? 
Ohne  eine  Umkehrung  des  nächsten  Anblicks  der  Wirklichkeit  und 
ohne  den  Gewinn  eines  neuen  Lebensbodens  könnte  leicht  die  Sache 
mehr  schaden  als  nützen,  indem  sie  in  eine  bloße  Verbrämung  des 
natürlichen  Lebenstriebes,  eine  Überspannung  des  Selbstgefühls,  ein 
bloßes  Genießen  und  Fürsichzurechtlegen  aller  Dinge  auslaufen 
müßte.  Und  wenn  gar  die  Bewegung  zur  Persönlichkeit  als  eine 
Abwendung  von  den  Weltfragen  und  eine  Zurückziehung  auf  einen 
Sonderkreis  verstanden  wird,  so  wäre  das  kaum  etwas  anderes  als 
eine  Verherrlichung  eines  engen  und  öden  Spießbürgertums.  Man 
macht  dadurch  nichts  Neues  aus  dem  Menschen,  daß  man  ihm  die 
Etiquette  der  Persönlichkeit  anklebt.  Ohne  den  Gewinn  einer  neuen 
Welt  und  eine  Erhöhung  des  eignen  Lebens  bleibt  das  Ganze  eines 
jener  bequemen  Surrogate,  welche  die  Probleme  des  Menschenwesens 
und  den  Ernst  der  Zeitlage  verdecken.^ 

^  Es  wäre  endlich  wohl  an  der  Zeit,  das  unablässige  Zitieren  des  Qoethe- 
schen  Wortes:    „Höchstes  Glück  der  Erdenkinder  sei  nur  die  Persönlichkeit« 
Eucken,  Qrundbegriffe.    4,  Aufl.  23 


354  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Nach  unserer  Überzeugung  muß  das  persönliche  Leben  einen 
neuen  Weltanblick  entwickeln,  aus  seiner  eignen  Belebung,  seinen 
Erfahrungen,  seinen  Weiterbildungen  ein  Reich  von  Grund-  und 
Lebenswahrheiten  erzeugen.  Mögen  sich  diese  nicht  in  angemessene 
Vorstellungsbilder  umsetzen  lassen,  sie  bleiben  die  Wahrheiten,  die 
schließlich  wie  alles  geistige  Leben,  so  auch  das  Erkennen  tragen, 
sie  sind  die  zentralen  Wahrheiten,  denen  gegenüber  alle  anderen 
Einsichten  nur  periphere  bedeuten.  Nun  behält  unsere  intellektuelle 
und  überhaupt  unsere  geistige  Lage  dadurch  eine  starke  Spannung, 
daß  ein  Spalt  zwischen  den  zentralen,  persönlichen  und  den  peri- 
pheren, unpersönlichen  verbleibt,  daß  sich  jene  nicht  unmittelbar  in 
diese  überleiten  lassen.  Aber  trotzdem  dürfen  wir  die  Wirklichkeit 
nicht  in  zwei  endgültig  getrennte  Gebiete  zerlegen  und  das  Reich 
persönlichen  Lebens  gegen  die  große  Welt  starr  abschließen.  Denn 
das  wäre  nichts  anderes,  als  das  Leben  zwischen  leerer  Subjektivität 
und  seelenloser  Arbeit  zerteilen,  es  wäre  ein  Verzicht  auf  seine  innere 
Einheit  und  zugleich  seine  volle  Wahrheit.  Von  beiden  Seiten  ist 
daher  nach  einer  Einigung  zu  streben,  es  gilt,  das  Ziel  als  eine 
treibende  und  richtende  Kraft  tapfer  festzuhalten,  obschon  wir  keine 
Aussicht  haben,  es  gänzlich  zu  erreichen  und  die  beiden  Ausgangs- 
punkte zu  völliger  Berührung  zu  bringen. 

Bei  solcher  Überzeugung  treten  eine  persönliche  und  eine  sub- 
jektive Gestaltung  von  Arbeit  und  Kultur  uns  deutlich  auseinander. 
Die  subjektive  Art  stellt  sich  der  Wirklichkeit  gegenüber  und  trägt, 
sobald  sie  über  sich  hinausgeht,  ihre  Besonderheit  in  alle  Dinge 
hinein;  die  persönliche  möchte  zum  eignen  Leben  der  Dinge  vor- 
dringen, nicht  als  zu  etwas  Fernem  und  Fremdem,  sondern  als  zu 
dem,  worin  das  geistige  Wesen  sich  selber,  die  Wahrheit  seines  eignen 
Seins  erreicht.  Mit  der  Verwandlung  der  Dinge  in  ein  Selbstleben 
vollzieht  sich  hier  die  Überwindung  des  Gegensatzes  einer  subjektiv- 
istischen  und  einer  objektivistischen  Behandlung  zu  gunsten  einer 
solchen,  die  souverän  oder  eigenständlich  heißen  könnte.  Denn 
hier  allein  erlangt  das  Schaffen  eine  volle  Selbständigkeit  und  wird 
die  Notwendigkeit  der  Sache  unmittelbar  ein  eigner  Antrieb  des 
Menschen,  hier  erst  wird  die  volle  Einigung  mit  der  Sache  erreicht, 
auf  Grund  derer  sie  ihre  eigne  Natur  rein  und  einfach  aussprechen 


einzustellen.    Die   liebenswürdige   und   anmutige  Stelle,   an  der  es  sich  im 
Westöstlichen  Divan  findet,  will  gar  nicht  so  schwer  genommen  sein. 


Persönlichkeit  und  Charakter,  355 

kann.  Erst  die  persönliche,  die  souveräne  Art  ist  über  das  hinaus, 
was  sich  zwischen  den  Menschen  und  die  Sache  zu  stellen  pflegt. 
Der  Mensch  kann  die  Sache  nicht  ohne  weiteres  ergreifen,  er  be- 
darf vielfacher  Mittel,  um  an  sie  zu  gelangen,  er  bedarf  dazu  tech- 
nischer Zurüstung,  Übung,  Gelehrsamkeit  u.  s.  w.  Aber  nun  entsteht 
die  Gefahr,  daß,  was  nur  Mittel  und  Weg  ist,  zum  Zwecke  und 
Ziele  wird,  daß  es  den  Menschen  bei  sich  festhält  und  von  der 
Hauptsache  ablenkt.  Kaum  dürfte  ein  Volk  dieser  Gefahr  so  aus- 
gesetzt sein  wie  das  deutsche  mit  der  Gründlichkeit,  aber  auch 
Schwerfälligkeit  seiner  Art;  besonders  mühsam  gelangt  es  zu  voller 
Überwindung  der  Technik  durch  das  Schaffen,  zu  jenem  Sichselbst- 
leben in  den  Dingen,  ohne  das  die  Werke  keine  reinmenschliche 
Größe  und  schlichte  Einfalt  erlangen  können.  So  besteht  eben  heute 
in  unserem  Leben  ein  arges  Mißverhältnis  zwischen  dem  Aufgebot 
intellektueller  und  künstlerischer  Arbeit  und  der  Erzeugung  von 
Schöpfungen,  die  zum  ganzen  Menschen  sprechen  und  den  ganzen 
Menschen  fördern.  Wenn  das  Verlangen  nach  einer  mehr  persön- 
lichen Kultur  dies  heißen  soll,  daß  es  einfache  Grundzüge  aus  der 
Verwirrung  herauszusehen  und  damit  zum  Ganzen  des  Menschen- 
wesens zu  wirken  gilt,  so  ist  dem  nur  freudig  zuzustimmen.  Aber 
dieses  ist  keineswegs  eine  Sache  raschen  Entschlusses,  sondern  das 
Allerschwerste,  etwas,  wozu  es  nicht  nur  der  höchsten  Anspannung 
aller  Kraft,  sondern  auch  vielfacher  Gunst  des  Schicksals  bedarf.  So 
erfahren  wir  es  auch  heute:  wie  wenig  hat  alle  subjektive  Beteuer- 
ung des  Wertes  der  Persönlichkeit  uns  innerlich  weitergeführt,  wie 
wenig  hat  sie  starke  und  selbstwüchsige  Persönlichkeiten  erzeugt! 


b)  Charakter, 
a.  Geschichtliches  zum  Ausdruck  und  Begriff. 

Charakter  bedeutete  bei  den  Griechen  sowohl  das  Werkzeug 
zum  Zeichnen  und  Prägen  als  das  Gepräge  selbst,  das  Merkzeichen; 
es  hat  schon  im  Altertum  den  naheliegenden  Übergang  auf  das 
geistige  Gebiet  gefunden.  Es  geschah  das  aber  sowohl  in  ethischer 
als  in  ästhetisch-literarischer  Richtung.  Die  ethischen  Charaktere, 
die  den  Namen  Theophrasts,  des  Schülers  und  Nachfolgers  des 
Aristoteles,  tragen,  sind  freilich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  eine 
spätere  Zusammenstellung  aus  größeren  Werken   des  Mannes,  aber 

23* 


356  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

die  Neigung  zu  genauer  Beobachtung  und  scharf  umrissener  Zeich- 
nung verschiedener  menschlicher  Typen  ^  geht  auf  Aristoteles,  den 
großen  Kenner  und  Freund  alles  Wirklichen,  zurück  und  blieb 
seiner  Schule  eigentümlich.  Nach  derselben  Richtung  wirkten  die 
neuere  Komödie  und  die  Rhetoren;  so  war  dem  späteren  Altertum 
der  Blick  für  die  Eigentümlichkeit  verschiedener  menschlicher  Arten 
und  Handlungen  geschärft.^  Zugleich  aber  bezeichnet  Charakter 
auch  die  Eigentümlichkeit  schriftstellerischer  und  künstlerischer  Dar 
Stellung,  das  individuelle  Gepräge  u.  s.  w.  Im  kirchlichen  Sprach- 
•gebrauch  wurde  es  seit  Augustin  der  technische  Ausdruck  für  ein 
der  Seele  durch  gewisse  Sakramente  (im  Mittelalter  Taufe,  Firmung, 
Priesterweihe)  unverlierbar  eingeprägtes  geistiges  Zeichen  (später 
character  sacramentalis,  auch  spiritualis  genannt).  So  findet  es  sich 
vereinzelt  auch  im  Mittelhochdeutschen,  ebenso  vereinzelt  ist  hier  die 
Bedeutung  Schriftzeichen  (der  karakter  a  b  c).  Wie  das  bis  in  die 
Gegenwart  hineinreicht,  so  erinnert  es  auch  an  jenen  älteren  Ge- 
brauch, wenn  der  amtliche  Stil  von  der  Beilegung  eines  »Charakters" 
(Titels  und  Ranges)  spricht. 

Zu  allgemeinerer  Verwendung  im  psychologischen  und  ethischen 
Sinn  ist  bei  uns  das  Wort  wohl  von  Theophrast  her  und  durch  die 
Vermittlung  der  Franzosen  gelangt.^  Im  Jahre  1687  erschien  von 
La  Bruyere:    ies  caracteres  de  Theophraste,  avec  les  caracteres  ou 

^  Typus  und  typisch  im  jetzt  üblichen  Sinne  als  Bezeichnung  gemein- 
samer Seins-  und  Lebensformen  dürfte  aus  der  Medizin  stammen.  Es  bemerkt 
darüber  Dilthey  (Sitzungsberichte  der  K.  Preuß.  Akademie  der  Wissenschaften 
1896,  XIII,  S.  18):  „In  diesem  Sinne  finden  wir  auch  den  Ausdruck  zunächst 
technisch  gebraucht,  wenn  der  Arzt  Coelius  (wahrscheinlich  im  2.  Jahrh.  n.  Chr.) 
vom  Typus  des  Wechselfiebers  spricht  und  darunter  die  Regel  seines  Ablaufs 
versteht.    So  sprechen  wir  überhaupt  von  einem  typischen  Verlauf." 

*  S.  über  das  Ganze  Sauppe,  Philodemi  de  vitiis  1.  X,  pag.  7:  Peripa- 
tetici  disciplinae  suae  principis  et  auctoris  exemplum  nulla  in  re  magis  secuti 
sunt,  quam  ut  omnia  quae  vel  in  natura  rerum  existerent  vel  in  vita  hominum 
et  publica  et  privata  usu  venirent  accuratissime  observarent  et  observata  sive 
libris  singularibus  explicarent  sive  ad  sententias  suas  firmandas  et  illustran- 
das  adhiberent.  pag.  8:  neque  vita  ipsa  tantum  exempla  suppeditabat,  sed 
maximam  notationum  copiam  nova  comoedia  habebat.  Quae  ut  eidem  saeculi 
ingenio  originem  debebat,  atque  aristoteleum  illud  Studium  vitam  quotidianam 
moresque  hominum  observandi,  ita  quaedam  fortasse  ex  Aristotelis  vel  Theo- 
phrasti  libris  desumta  in  usum  suum  converterat,  sed  multa  plura  certe, 
quam  acceperat,  deinde  philosophis  et  rhetoribus  suppeditavisse  censenda  est. 

^  Wir  besitzen  darüber  eine  ebenso  feinsinnige  wie  tiefdringende  Unter- 
suchung von  R.  Hildebrand:  „Charakter  in  der  Sprache  des  vorigen  Jahr- 


Persönlichkeit  und  Charakter.  357 

les  moeurs  de  ce  siede,  ein  Buch,  das  auch  bei  anderen  Völkern 
viel  Beachtung  und  Einfluß  gewann.  Sicherlich  stehen  damit  im 
Zusammenhang  wie  andere  deutsche  Werke  zur  Charakterschilderung, 
so  auch  Qellerts  «Moralische  Charaktere",  eine  Zugabe  zu  seinen 
moralischen  Vorlesungen.  Hier  wie  sonst  bedeutet  Charakter  soviel 
wie  Bildnis,  welches  Wort  bisweilen  zu  seiner  Übersetzung  dient, 
Zeichnung,  Porträt  (so  spricht  z.  B.  Rabener  in  seinen  Satiren  von 
w Originalen  zu  meinen  Charakteren").  In  dem  Ausdruck  „charak- 
terisieren" lebt  das  fort  bis  zur  Gegenwart.  Von  dem  Bild  über- 
trägt sich  der  Ausdruck  auf  die  Sache  und  wird  zur  Bezeichnung 
der  seelischen,  namentlich  der  moralischen  Art,  der  Orundbeschaffen- 
heit  des  Menschen.  In  diesem  Sinne  kann  es  eine  Fülle  verschiedener 
Charaktere  geben,  guter  und  böser  Art;  keinen  Charakter  haben, 
das  heißt  hier  einer  scharfen  Ausprägung  entbehren.  Woher  der 
Charakter  entstanden  sei,  ob  als  Gabe  der  Natur  oder  als  Werk 
freier  Tat,  das  bleibt  dabei  unentschieden. 

Erst  Kant  hebt  den  Begriff  auf  die  Höhe,  die  ihn  zu  einer 
wichtigen  ethischen  These  und  einem  schweren  Probleme  macht. 
Er  zieht  eine  scharfe  Grenze  zwischen  einem  physischen  und  einem 
moralischen  Charakter.  Charakter  schlechthin  ist  nur  dieser;  jener, 
Naturell  und  Temperament  umfassend,  zeigt  an,  was  sich  aus  dem 
Menschen  machen  läßt,  der  eigentliche  Charakter  hingegen,  was  er 
aus  sich  selbst  zu  machen  bereit  ist.  „Einen  Charakter  schlechthin 
zu  haben,  bedeutet  diejenige  Eigenschaft  des  Willens,  nach  welcher 
das  Subjekt  sich  selbst  an  bestimmte  praktische  Prinzipien  bindet, 
die  es  sich  durch  seine  eigne  Vernunft  unabänderlich  vorgeschrieben 
hat"  (VII,  614).  „Es  kommt  hierbei  nicht  auf  das  an,  was  die 
Natur  aus  dem  Menschen,  sondern  was  dieser  aus  sich  selbst  macht." 
„Die  Gründung  eines  Charakters  ist  absolute  Einheit  des  inneren 
Prinzipes  des  Lebenswandels  überhaupt"  (617).  In  diesem  Sinne 
wollte  Kant  nicht  sagen,  der  Mensch  habe  diesen  oder  jenen  Charakter, 
sondern  er  habe  überhaupt  einen  Charakter,  „der  nur  ein  einziger 
oder  gar  keiner  sein  kann." 

Diese  kantische  Fassung  mit  ihrer  Erhebung  des  Lebens  auf 
die   Stufe   geistiger  Selbsttätigkeit   ist   rasch   durchgedrungen;  ^   der 


Hunderts«    (Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht,   6.  Jahrgang,   7.  Heft.)    Ihr 
folgt  unsere  Darstellung  jener  Zeit. 

'  Wie   rasch,   zeigt   u.  a.   eine  Abhandlung   von  E.  Biester   über  den 
Charakter  (in  den  Abh.  d.  K.  Pr.  Akad.  d.  Wiss.  1803). 


358  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

hohe  Ton,  in  dem  die  Folgezeit  von  Charakter  spricht,  und  die 
Wertschätzung,  die  sie  der  Charakterbildung  beilegt,  sie  weisen  auf 
Kant  zurück.  Aber  neben  seiner  ethischen  Fassung  erhält  sich  auch 
die  ältere,  empirisch-psychologische;  sonst  könnte  man  nicht  so  viel 
von  einem  ererbten,  einem  durch  Anpassung  und  Gewöhnung  er- 
worbenen u.  s.  w.  Charakter  sprechen.  So  laufen  wiederum  in  einem 
alltäglichen  Wort  die  Wirkungen  verschiedener  Zeiten  und  Welt- 
anschauungen bunt  durcheinander. 

ß.  Die  Lage  der  Zeit. 

Der  Begriff  des  Charakters  im  ethischen  Sinne  steht  in  engem 
Zusammenhange  mit  dem  der  Persönlichkeit,  nur  hebt  er  die  Selbst- 
tätigkeit des  Menschen  mit  besonderer  Stärke  hervor.  So  gewiß 
dieser  Begriff  eine  präzise  Bezeichnung  erst  spät  gefunden  hat,  der 
Gedanke  einer  durch  eigene  Willensenergie  erreichbaren  Selbständig- 
keit und  Weltüberlegenheit  reicht  weit  zurück;  besonders  hoch 
hielten  ihn  Zeiten,  wo  die  Auflösung  überkommener  gesellschaft- 
licher Zusammenhänge  die  Individuen  ihren  Halt  in  sich  selbst  zu 
suchen  zwang.  Seinen  klassischen  Ausdruck  hat  das  bei  den 
Stoikern  gefunden,  ein  eigentümlicher  Lebenstypus  zieht  sich  von 
dort  durch  die  ganze  Geschichte,  er  ist  namentlich  von  hervorragen- 
den Persönlichkeiten  der  Aufklärung  aufs  neue  bekräftigt  worden. 
Auch  Kants  Erörterungen  über  den  Charakter  haben  viel  Verwandt- 
schaft damit  und  benutzen  mit  Vorliebe  Wendungen  aus  dem 
stoischen  Gedankenkreise.  Die  Entwicklung  nach  dieser  Richtung 
enthält  die  Gefahr  einer  schroffen  Isolierung  und  stolzen  Selbst- 
genügsamkeit des  Individuums,  einer  Verkennung  der  Bedingtheit 
des  Einzelnen,  wenn  nicht  durch  sichtbare,  so  doch  durch  unsicht- 
bare Zusammenhänge,  aber  bei  solcher  Gefahr  blieb  sie  in  beson- 
deren Zeitlagen  das  einzige  Mittel  zur  geistigen  Selbsterhaltung  des 
Menschen. 

Der  Begriff  des  Charakters  reicht  aber  über  solche  Zuspitzung 
hinaus;  als  Bezeichnung  des  Selbstwertes  und  der  Selbständigkeit 
des  Innenlebens  gegenüber  aller  bloßen  Außenwelt,  als  Bekenntnis 
zur  Überlegenheit  der  inneren  Güter  über  alle  äußeren  kann  er 
auch  da  in  Ehren  stehen,  wo  jene  Isolierung  des  Individuums  ver- 
worfen wird.  Es  berührt  sich  dann  aber  der  Begriff  so  eng  mit 
dem  der  Persönlichkeit,  daß  er  hier  nicht  noch  einer  besonderen 
Erörterung  bedarf.     So  sei   nur  mit  einigen  Worten  darauf  hinge- 


Persönlichkeit  und  Charakter.  359 

wiesen,  wie  das  Problem  des  Charakters  und  der  Charakterbildung 
vom  Standort  unserer  eignen  Zeit  sich  ausnimmt 

Diese  Zeit  beschäftigt  sich  viel  mit  dem  Problem  des  Charakters, 
sie  klagt  zugleich  viel  über  den  heutigen  Mangel  an  festen  Charak- 
teren und  ausgeprägten  Persönlichkeiten,  sie  fordert  von  der  Kultur- 
arbeit, namentlich  von  der  Erziehung,  mehr  Fürsorge  für  die  Bildung 
von  Charakteren.  Aber  in  dem  allen  erscheint  wieder  die  Unklar- 
heit und  Halbheit,  die  solchen  Durchschnittsbestrebungen  eigen  ist 
Nicht  selten  sieht  es  aus,  als  ob  unversehens  ein  moralisches  Sinken 
erfolgt  sei,  und  es  nun  nur  einer  eindringlichen  Zuspräche  oder  ge- 
schickten Einrichtung  bedürfe,  um  die  Sache  wieder  in  Stand  zu 
bringen.  So  einfach  steht  es  doch  nicht.  Der  Mangel  an  selbst- 
wüchsigen  und  selbständigen  Menschen,  den  wir  heute  schmerzlich 
empfinden,  hat  sicherlich  tiefere  Gründe,  Immer  mehr  ist  in  den 
Wandlungen  der  Jahrhunderte  der  Menschheit  die  mühsam  erkämpfte 
Innenwelt  erschüttert  oder  verdunkelt,  immer  weniger  Anziehungs- 
kraft üben  daher  ihre  Güter,  immer  leerer  werden  zugleich  die 
Seelen.  Dazu  die  stürmische  Okkupation  des  modernen  Menschen 
durch  die  Außenwelt,  die  Streberei  nach  sichtbaren  Erfolgen,  der 
wachsende  Kampf  ums  Dasein  und  die  unheimliche  Beschleunigung 
des  Lebens,  die  Zerstückelung  des  Menschen  durch  die  immer  tech- 
nischer, immer  komplizierter  gestaltete  Arbeit,  die  abschleifende 
Wirkung  einer  Durchschnitts-  und  Massenkultur.  Kann  ein  solches 
Getriebe  einen  Sinn  und  einen  Platz  für  die  Ausbildung  selbstän- 
diger Charaktere  haben? 

Wer  im  Vertrauen  auf  die  innere  Notwendigkeit  der  Sache  jenes 
Ziel  festhält,  der  wird  seine  Erreichung  sich  keinenfalls  so  leicht 
denken  dürfen,  wie  manche  Strömungen  der  Zeit,  die  ihre  Schätzung 
von  Persönlichkeit  und  Charakter  mit  möglichstem  Nachdruck  be- 
teuern, zugleich  aber  die  Bedingungen  zerstören,  unter  denen  allein 
für  jene  Größen  ein  Platz  ist  Dies  tut  z.  B.  oft  ein  radikaler  Libe- 
ralismus, indem  er  bei  den  Weltfragen  mit  besonderer  Lust  und 
Liebe  alles  begrüßt,  was  den  Menschen  als  klein  und  als  ein  gleich- 
gültiges, unselbständiges  Stück  einer  seelenlosen  Natur  erscheinen 
läßt,  zugleich  aber  auf  praktischem  Gebiet  für  die  Größe  und  Würde 
des  Menschen  schwärmt,  sich  für  Humanität  begeistert  und  entrüstet 
ist,  wenn  er  einen  Mangel  an  selbständigen  Charakteren,  ein  Über- 
wuchern der  Streberei  gewahrt  Ein  solches  Überwuchern,  wie  wir 
es   heute   in   den   mannigfachsten    Formen   gewahren,   ist   schlimm 


360  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

genug,  aber  wird  ihm  kräftig  zu  begegnen  sein,  wenn  dem  Menschen 
alle  selbständige  Innenwelt  fehlt,  wenn  er  gar  nichts  anderes  ist  als 
ein  etwas  höher  geartetes  Tier  und  daher  keine  anderen  Ziele  kennt 
als  die  der  natürlichen  Lebenserhaltung? 

Wir  werden  an  dieser  Stelle  in  einen  sicheren  Fortgang  nur 
kommen,  wenn  die  Probleme  des  inneren  Menschen  wieder  zur 
Hauptsache  werden,  und  wenn  sie  sich  zum  Ganzen  einer  Lebens- 
überzeugung zusammenfassen,  das  mit  aufrüttelnder,  richtender,  er- 
höhender Macht  die  Gemüter  zu  ergreifen  vermag.  Davon  sind  wir 
einstweilen  noch  weit  entfernt.  Aber  so  sehr  es  abzulehnen  ist,  daß 
die  Bildung  von  Persönlichkeit  und  Charakter  als  eine  Sache  be- 
handelt werde,  die  sich  so  nebenbei  abmachen  läßt,^  einigermaßen 
wirken  dafür  läßt  sich  unmittelbar  auch  auf  dem  Boden  unserer 
eignen  Zeit;  erwägen  wir  also  in  Kürze,  in  welchen  Richtungen 
vornehmlich  das  geschehen  kann  und  geschehen  muß. 

Zunächst  ist  notwendig  mehr  Anerkennung  und  Hochhaltung 
der  echten  Werte  des  Lebens,  mehr  Zurückstellen  und  Durchschauen 
der  bloßen  Aufmachung  und  des  bloßen  Scheins.  Was  uns  daran 
hindert,  ist  namentlich  der  Epikureismus  einer  reifen,  ja  überreifen 
Kultur,  der  jeden  Einzelnen  möglichst  seinem  individuellen  Behagen 
nachgehen,  ihn  ängstlich  allen  Zusammenstoß  scheuen  und  willfährig 
vor  aller  sozialen  Konvention  sich  ducken  läßt.  Der  Mensch  stellt 
alsdann  sich  weniger  auf  sich  selbst  und  gibt  sich  selbst  seinen 
Wert,  als  daß  er  das  Gelingen  seines  Lebens  an  die  Anerkennung 
durch  andere  setzt,  damit  aber  sich  unvermeidlich  zu  ihrem  Diener 
erniedrigt.  Jedes  Volk  hat  hier  seine  besonderen  Gefahren,  bei  uns 
Deutschen  nehmen  unverkennbar  künstliche  Abstufungen,  Fragen  des 
Ranges,  Dekorationen  wie  Titel  und  Orden,  alles  dieses  bloße  Bei- 
werk des  Lebens,  einen  viel  zu  breiten  Platz  ein  und  schädigen 
damit  das  Aufsichselbststehen  des  Lebens  und  seine  volle  Mann- 
haftigkeit. Unmöglich  lassen  sich  Nebensachen  wie  Hauptsachen 
behandeln,  ohne  daß  Hauptsachen  zu  Nebensachen  herabgesetzt 
werden.  Jeder  Beruf  und  auch  jeder  Mensch  hat  ein  Recht  auf 
Achtung  und  Anerkennung;  er  muß  es  sich  erstreiten,  wenn  es  ihm 
versagt  wird.    Aber  er  erringt  es  nicht  dadurch,  daß  von  außen  her 


1  Es  sei  hier  an  das  derbe,  aber  nicht  unberechtigte  Wort  Pestalozzis 
erinnert  (Wke.  XII,  217):  „Wohl  wachsen  Schwämme  leicht  aus  dem  Mist, 
wenn  es  nur  regnet,  aber  Menschenwürde,  Geistestiefe  und  Charaktergröße 
wächst   nicht   aus  der  Routine  hervor,   wenn  ihr  auch  die  Sonne  scheint." 


Persönlichkeit  und  Charakter.  361 

ihm  Rangklassen  oder  Dekorationen  bewilligt,  sondern  dadurch,  daß 
seine  Arbeit  bei  sich  selbst  gestärkt,  unabhängig  gestaltet,  zu  vollem 
Einfluß  auf  das  Ganze  des  Lebens  gebracht  wird. 

Das  führt  schon  auf  den  zweiten  Punkt,  dessen  die  Charakter- 
bildung bedarf.  Das  ist  die  Selbständigkeit,  die  freie  Entscheidung 
und  die  eigne  Verantwortung  innerhalb  unseres  Lebenskreises.  Wir 
pflegen  über  Vielregiererei  und  über  Schädigung  freier  Entfaltung 
durch  die  Bureaukratie  zu  klagen,  gewiß  insofern  mit  Recht,  als 
jener  die  Tendenz  innewohnt,  nur  eine  einzige  Stelle  zu  voller 
Selbständigkeit  zu  berufen  und  alles  andere  von  ihr  abhängig  zu 
machen^  alle  Befugnis  als  von  ihr  übertragen  zu  verstehen.  Aber 
es  hätte  die  Bureaukratie  nimmer  eine  solche  Macht  bei  uns  er- 
langt, entspräche  sie  nicht  einer  uns  innewohnenden  Neigung,  stäcke 
nicht  in  uns  eine  Lust  zu  regulieren  und  zu  schabionisieren,  über 
den  anderen  eine  Polizei  zu  üben,  unsere  Denkweise  eigensinnig 
auch  den  anderen  aufzudrängen.  Es  fehlt  uns  vielfach  die  Bereitschaft, 
den  anderen  in  seiner  Art  gewähren,  ihn  auch  da  frei  schalten  zu 
lassen,  wo  er  uns  schroff  widerspricht;  ein  solches  Gewährenlassen 
erscheint  uns  leicht  als  eine  Mattheit  der  eignen  Gesinnung,  ein 
Verleugnen  der  eignen  Überzeugung.  Auch  stehen  uns  leicht  bei 
dem  Gedanken  der  Freiheit  vorwiegend  die  Gefahren  eines  mög- 
lichen Mißbrauclis  vor  Augen;  um  ihnen  vorzubeugen,  drücken  wir 
lieber  den  Gesamtstand  des  Lebens  herab,  gestalten  es  nicht  sowohl 
von  der  Regel  als  von  der  Ausnahme  her,  schnüren  und  engen  es 
möglichst  ein.  So  erhalten  wir  leicht  konventionelle  Gestalten, 
t)'pische  Menschen,  Exemplare  einer  bloßen  Gattung,  während  die 
Ausbildung  individueller  Art  unterdrückt  wird  und  damit  etwas  ver- 
loren geht,  dessen  die  Aufrechterhaltung  innerer  Selbständigkeit 
dringend  bedarf.  Wie  vieles  wirkt  im  Leben  der  Gegenwart  zu- 
sammen, um  den  Menschen  abzuschleifen  und  ihn  gleichförmig  zu 
gestalten,  wie  sehr  bedrohen  Massenwirkungen  die  Entfaltung  unserer 
Individualität,  Massenwirkungen  namentlich  auch  da,  wo  das  Recht 
der  Individualität  mit  besonderem  Nachdruck  betont  wird!  Denn 
unsere  Individualisten  sind  oft  gar  nichts  anderes  als  eine  besondere 
Art  von  Gattungsmenschen  mit  durchaus  uniformen  Zügen. 

Zur  freien  Entwicklung  der  Individualität  bedarf  es  aber  mehr 
Muße,  mehr  innerer  Sammlung,  als  die  Hast  des  gegenwärtigen 
Lebens  zu  gestatten  pflegt.  Die  Überbürdung  mit  Arbeit,  die  nicht 
nur  zahllose  Individuen,   sondern   ganze  Stände  bedrückt,   wird  zu 


362  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

einer  ernstlichen  Gefahr  für  eine  innere  Bildung,  indem  sie  alle 
ruhige  Selbstbesinnung,  alle  beharrende  Konzentration,  allen  zu- 
sammenhängenden Aufbau  des  Lebens  hemmt.  Wir  haben  einen 
ausgezeichneten  Lehrstand,  den  besten  auf  der  Erde,  den  gebornen 
Vertreter  einer  Innen-  und  Wesenskultur.  Aber  dieser  Lehrstand 
ist  schwer  überbürdet,  zürn  Teil  mit  mechanischen  Geschäften,  die 
ihm  ganz  wohl  abzunehmen  wären;  daß  frische  und  freudige 
Menschen  einer  ganz  anderen  Wirkung  fähig  sind  als  müde  und 
abgestumpfte,  das  wird  nicht  genügend  erwogen,  oder  es  findet, 
wenn  erwogen,  keine  durchgreifende  Abhilfe.  Wer  hier  wie  auf 
anderen  Gebieten  mehr  freien  Raum  für  eine  innere  Bildung,  für 
ein  Beisichselbstsein  des  Lebens  schafft,  der  hilft  auch  zur  Förder- 
ung jener  Ziele,  die  das  Problem  des  Charakters  vorhält.  Wo  so 
Großes  auf  dem  Spiele  steht,  da  gewinnt  auch  das  Bedeutung,  was, 
für  sich  selbst  betrachtet,  klein  scheinen  mag. 


6.  Freiheit  des  Willens. 

a)  Einleitung. 

\/\  an  kommt  nie  zu  Ende,  wenn  man  sich  auf  die  Fragen  der 
"*^*  Freiheit  einläßt;  jede  Partei  hat  unbegrenzte  Hilfsmittel", 
so  sagte  der  große  Kritiker  Bayle  bei  Erörterung  des  Willensproblems.* 
Ein  angesehener  deutscher  Gelehrter  der  Gegenwart  erklärt  da- 
gegen die  Akten  in  Sachen  des  Determinismus  gegen  den  Indetermi- 
nismus für  M geschlossen ".2  Wer  hat  nun  Recht?  Haben  wirklich 
die  letzten  Jahrhunderte  so  viel  Neues  gebracht  und  die  Sache  so 
aufgeklärt,  daß  für  uns  völlig  erledigt  ist,  was  früher  die  Geister 
unversöhnlich  entzweite?  Oder  erscheint  uns  vielleicht  nur  deshalb 
die  Sache  als  ausgemacht,  weil  wir  sie  unter  dem  Einfluß  besonderer 
Gedankenmassen  nur  von  einer  besonderen  Seite  zu  betrachten  pflegen? 
Sehen  wir,  wie  es  damit  steht,  und  ob  der  Sieg  des  Determinismus 
schon  als  entschieden  gelten  darf. 

Der  Determinismus  ist  seinem  Grundgedanken  nach  alt,  ver- 
ändert ward  nur  das  Nähere  seiner  Fassung  und  Begründung.  Bei 
den  Stoikern,  die  als  die  ersten  bewußten  Deterministen  gelten 
dürfen, 3  ist  es  der  Gedanke  eines  durchgängigen  Kausalzusammen- 


^  Oeuv.  div.  (Haag  1727)  III,  794a:  On  ne  finit  point  quand  on  s'en- 
gage  aux  questions  de  la  liberte,  chaque  parti  a  des  ressources  infinies. 

'  S.  Meinong,  Psychologisch-ethische  UntersuchuTigen  zur  Werttheorie, 
S.  209.  Es  heißt  dort:  »Es  ist  aber  nicht  die  Kontroverse  des  Determinismus, 
die  hier  aufgenommen  werden  soll :  in  ihr  sind  die  Akten  längst  geschlossen 
oder  sollten  es  doch  meines  Erachtens  sein,  indem,  wer  an  das  Kausalgesetz 
glaubt,  konsequenter  Weise  auch  nicht  Indeterminist  sein  kann."  Höffding 
meint  bei  Anführung  dieser  Stelle  (Ethik,  2.  deutsche  Aufl.,  102),  daß  man 
bei  Betrachtung  der  dänischen  Literatur  über  diese  Frage  einen  anderen 
Eindruck  erhalte. 

^  Daß  Aristoteles  keineswegs  Indeterminist  war,  aber  das  Problem  noch 
nicht  zu  voller  Klarheit  brachte,  hat  in  sorgfältigster  Untersuchung  R.  Löning 
gezeigt  (in  dem  Werk  »Die  Zurechnungslehre  des  Aristoteles",  1903). 


364  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

hanges  der  Welt,  der  alle  Willkür  an  den  einzelnen  Stellen  aufhebt; 
es  drängt  hier  weniger  die  psychologische  Analyse  als  das  Ganze 
der  Weltansicht  zu  jener  Behauptung.  Nachdem  die  praktisch- 
moralische Richtung  des  ältesten  Christentums  der  Willensfreiheit 
das  entschiedene  Übergewicht  gegeben  hatte,  ohne  sie  aber  wissen- 
schaftlich irgend  zu  begründen,  verficht  Augustins  theozentrische  Be- 
trachtung der  Wirklichkeit  einen  völligen  Determinismus;  jede  eigne 
Entscheidung  des  Menschen  erscheint  hier  als  eine  Aufhebung  der 
Allmacht  und  der  Allwissenheit  Gottes.  Die  Milderung,  welche  die 
Kirche  und  das  Mittelalter  daran  vollzogen,  wurde  von  der  Refor- 
mation, namentlich  ihren  Anfängen,  aufs  schroffste  abgewiesen  und 
der  religiöse  Determinismus  wieder  in  voller  Stärke  aufgenommen. 
Die  Höhe  der  Aufklärung  bringt  einen  kosmischen  Determinismus 
und  gibt  ihm  bei  Spinoza  seine  klassische  Gestalt.  Ein  scheinbarer 
Gegner  des  Determinismus  wie  Leibniz  bildet  diesen  in  Wahrheit  nur 
feiner  durch,  und  die  kantische  Rettung  der  Freiheit  in  ein  intelli- 
gibles  Reich  gewährt  unserm  inmitten  der  Zeit  befindlichen  Leben 
und  Handeln  keine  genügende  Hilfe.^ 

So  überwog  schon  vor  dem  19.  Jahrhundert  in  der  geistigen 
Arbeit  entschieden  der  Determinismus,  gerade  an  ihren  Höhepunkten 
gewann  er  besondere  Klarheit  und  Kraft,  er  scheint  hier  die  Lebens- 
energie nicht  zu  mindern,  sondern  zu  steigern.  Paulus  stand  dem 
Determinismus  näher  als  irgend  ein  anderer  zu  Beginn  des  Christen- 
tums und  durfte  zugleich  von  sich  sagen,  daß  er  mehr  gearbeitet 
habe  als  die  anderen  alle;  auch  Augustin  war  eine  unablässig  tätige 
Natur  und  von  gewaltigem  Organisationsvermögen.  Und  in  den 
Kämpfen  der  Reformationszeit  war  die  Überzeugung,  im  Tun  und 
Ergehen  ganz  und  gar,  aber  auch  lediglich  und  allein  von  Gott, 
nicht  von  irgendwelcher  menschlichen  Macht,  abhängig  zu  sein,  die 
Hauptquelle  festen  Vertrauens  und  unbeugsamer  Willenskraft. 

Zu  diesem  allen  kommt  die  neueste  Phase  des  Determinismus 
im  19.  Jahrhundert.  Ging  er  früher  aus  religiösen  oder  spekulativen 
Überzeugungen  hervor,  so  ist  es  jetzt  die  gründlichere  Durchforsch- 
ung der  Erfahrung,  welche  von  den  verschiedensten  Punkten  her 
zu  ihm  drängt  und  ihn  sowohl  anschaulicher  als  eindringlicher 
macht     Immer  dichter  sehen  wir  jetzt  das  Netz  der  Kausalität  den 


*  Streng  genommen,  müßte  jene  intelligible  Freiheit  das  ganze  Leben 
in  der  Zeit  zur  Untätigkeit  verdammen,  ihm  alle  Möglichkeit  eigner  Be- 
wegung rauben. 


Freiheit  des  Willens.  365 

Menschen  umschlingen,  alte  Erfahrungen  gelangen  dabei  durch  die 
präzisere  Fassung  zu  neuer  und  gesteigerter  Wirkung.    Den  Grund- 
stock   seiner  Natur   hat   der  Mensch  augenscheinlich  ererbt,   seine 
weitere  Entwicklung  hängt  an  der  gesellschaftlichen  Umgebung  und 
an  der  Erziehung;  wenn  er  zu  klarer  Bewußtheit  erwacht,  findet  er 
sich  im  wesentlichen  schon  fertig,  das  Schicksal,   nicht  sein  eigenes 
Wollen,  hat  ihn  gebildet.     Die  neuere  Gesellschaftslehre  zeigt,  daß 
unser  Handeln  bis  in  seine  Wurzeln  hinein   dem  Einfluß  der  Ge- 
samtverhältnisse unterliegt,   die  geschichtliche  Betrachtung,  daß  wir 
ganz  und  gar  Kinder  der  Zeit  sind,  selbst  da,  wo  wir  ihr  wider- 
sprechen.    Die   moderne  Psychologie  aber  läßt  uns  genauer  in  das 
Gewebe  des  Innenlebens  blicken,  sie  zeigt  jede  einzelne  Handlung 
verkettet  und  bedingt,  ja  ringsumher  festgelegt,  sie  duldet  nirgends 
ein  Geschehen  unvermittelter  Art.    Dabei  aber  hofft  man  der  moral- 
ischen Seite  des  Lebens  ihr  volles  Recht  gewähren  zu  können.    Man 
sucht    darzutun,    daß,    was    ihr  notwendig  ist,  wie  z.  B.  die  Ver- 
antwortlichkeit, auch  nach  Aufhebung  der  Freiheit  verbleibt;  ja  die 
moralische  Aufgabe  scheint  dadurch  erheblich  zu  gewinnen,  daß  die 
einzelne  Handlung  einem  Ganzen  des  Lebens  und  dies  Ganze  wieder 
geschichtlich-gesellschaftlichen  Zusammenhängen  fester  eingefügt  wird. 
Denn    wenn    damit   die   Verbesserung   dieser   Zusammenhänge   die 
Hauptaufgabe  des  Handelns  wird,  so  erhält  es  eine  breitere  Basis 
sowie  festere  Angriffspunkte.   Zugleich  entfaltet  sich  stärker  das  Ge- 
lühl  einer  moralischen  Solidarität  und  läßt  die  Verfehlung  des  Indi- 
viduums milder  beurteilen.   So  zeigt  namentlich  das  moderne  Straf- 
recht bedeutende  Bewegungen  zu  größerer  Humanität  unter  dem  Einfluß 
des  Determinismus.   Wenn  in  dieser  Weise  ^Ue  Interessen  zusammen- 
streben und  die  engere  Verflechtung  mit  dem  unmittelbaren  Dasein  dem 
alten  Gedanken  der  Jahrtausende  eine  gesteigerte  Wirkung  gibt,  so 
scheint  aller  Widerspruch  verstummen  zu  müssen  und  an  dem  end- 
gültigen Siege  des  Determinismus  sich  nicht  mehr  zweifeln  zu  lassen.  So 
reicht  denn  das  Bekenntnis  zum  Determinismus  weit  über  die  Kreise 
der  Wissenschaft  hinaus  und  gehört,  wenigstens  in  Deutschland,  zu 
den  Ausrüstungsstücken  des  Menschen,  der  sich  »auf  der  Höhe  der 
Bildung"  fühlt   Von  hier  aus  glaubt  der  Adept  moderner  Weisheit 
auf  alle,  die  gegen  den  Determinismus  noch  irgend  welche  Bedenken 
haben,    als  auf  arg  Zurückgebliebene  stolz  herabsehen  zu  dürfen. 
Zu   einiger   Behutsamkeit   demgegenüber   könnte    wohl   die   Wahr- 
nehmung  stimmen,   daß   es   noch    immer   eine  ganze  Anzahl  von 


366  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

tüchtigen  Forschern  gibt,  welche  dem  Determinismus  widerstehen, 
und  daß  sie  eher  zu  wachsen  als  abzunehmen  scheint, ^  sowie  die 
andere  Wahrnehmung,  daß  bei  anderen.  Kulturvölkern  der  Determi- 
nismus keineswegs  in  so  argem  Verruf  steht  wie  bei  uns  Deutschen. 
Das  gilt  namentlich  von  Frankreich,  wo  die  «Diskontinuitätsphilosophie" 
bewußt  und  energisch  den  Determinismus  ablehnt,  wo  ein  Boutroux 
selbst  die  „Kontingenz"  der  Naturgesetze  verteidigt,^  wo  ein  Bergson 
in  ein  lebensvolles  Gemälde  des  Seelenlebens  die  Freiheit  als  wesent- 
lich einschließt.  Das  bezeugt  doch  vielleicht,  daß  die  Sache  weniger 
schon  endgültig  erledigt  ist  als  unter  besonderen  Strömungen  des 
deutschen  Lebens  als  erledigt  erscheint.^ 


b)   Erwägungen   zur  Behauptung  des  Determinismus. 

Ein  Problem,  das  so  viel  Verwicklung  in  sich  trägt,  und  das 
so  sehr  die  Zeiten  wie  die  Geister  entzweit,  in  raschem  Fluge  neben- 
bei behandeln  zu  wollen,  das  müßte  als  unbescheiden,  ja  vermessen 
gelten.  Aber  wer  sich  mit  den  geistigen  Strömungen  der  Gegenwart 
befaßt,  der  muß  irgend  auch  der  Bewegungen  gedenken,  welche  in 
der  Behandlung  jenes  Problems  zutage  treten.  Die  Art,  wie  sich 
heute  der  Determinismus  in  der  Breite  des  Lebens  ausnimmt,  scheint 
uns  an  einem  starken  Dogmatismus  zu  leiden  und  das  alte  Problem 
viel  zu  einseitig  aus  dem  Gesichtswinkel  der  besonderen  Zeit  zu 
behandeln.  Wer  auf  die  Geschichte  blickt,  der  erhält  nicht  den 
Eindruck,  daß  der  Determinismus  sich  zu  seinem  Gegner  wie  Höheres 
zu  Niederem  verhält,  und  daß  bei  wachsender  Aufklärung  der  Wider- 
stand mehr  und  mehr  verschwunden  ist.  Denn  schon  vor  Jahr- 
tausenden lag  die  deterministische  These  deutlich  vor  Augen,  es  sind 
dann  immer  wieder  Gegenströmungen  gekommen,  und  zwar  nicht 
nur  in  den  Niederungen  des  Durchschnittslebens,  sondern  auch  auf 


^  Es  seien  u.  a.  von  Werken  der  letzten  Jahre  erwähnt:  von  Rohland 
»Die  Willensfreiheit  und  ihre  Gegner"  (1905),  Froehlich  «Freiheit  und  Not- 
wendigkeit" (1908),  Joel  „Der  freie  Wille"  (1908). 

"^  E.  Boutroux  „Über  den  Begriff  des  Naturgesetzes  in  der  Wissenschaft 
und  in  der  Philosophie  der  Gegenwart"  (deutsche  Übers.  1907),  s.  auch 
Boelitz  „Die  Lehre  vom  Zufall  bei  Emile  Boutroux"  (1907). 

^  In  vortrefflicher  Weise  hat  zur  Klärung  des  Problems  neuerdings 
Windelband  gewirkt  („Über  Willensfreiheit",  2.  Aufl.  1905),  indem  er  die 
Notwendigkeit  einer  Scheidung  verschiedener  Formen  zeigte,  „die  in  dem 
Worte  ,Willensfreiheit'  kritiklos  zusammengefaßt  zu  werden  pflegen"  (s.  S.  222). 


Freiheit  des  Willens.  367 

der  Höhe  der  geistigen  Arbeit,   ja,  was  am  schwersten  wiegt,   bei 
den    leitenden    Deterministen    selbst.     Zur   vollen    Konsequenz   der 
Durchführung  ist  der  Determinismus  wohl  an  keiner  Stelle  gelangt. 
Wenn  die  Stoiker  das  All  in  ein   kausales  Gefüge  verwandeln   und 
dieses  auch  das  Schicksal  des  Menschen  gänzlich  bestimmen  lassen,  so 
bleibt  seiner  eignen  Entscheidung  vorbehalten,  ob  er  den  Weltlauf  an- 
erkennt und  in  die  eigne  Überzeugung  aufnimmt,  oder  ob  er  sich 
widerwillig  von  ihm  fortschleppen  läßt;  die  Möglichkeit  einer  solchen 
Entscheidung,  dieser  Kern  der  stoischen  Moral,  durchbricht  aber  augen- 
scheinlich den  Determinismus.    Augustin  ist  strenger  Determinist  nur 
so  lange,  als  ihn  gänzlich  die  theozentrische  Betrachtung  erfüllt;   so- 
bald er  das  menschliche  Handeln,  im  besondern  das  praktisch-kirch- 
liche Leben,  ins  Auge  faßt,  gilt  ihm  der  Mensch  als  zu  selbstständiger 
Mitarbeit   und  zu  eigner  Entscheidung  berufen.     Auch  Luther  hat 
die  anfängliche  Strenge  seines  Determinismus  später  beträchtlich  ge- 
mildert.    Spinoza  endlich  mag  den   Menschen  noch  so  sehr  einer 
lückenlosen  Weltverkettung  angehörig  zeigen,  für  ihre  Anerkennung 
ist   er   erst   zu    gewinnen;    mit    ihr    ergibt   sich   aber   eine   völlige 
Wendung  des  Lebens,  eine  Wendung  von  einem  Gewebe  mensch- 
licher  Illusionen   zu   einem    Reiche   lauterer   Wahrheit     Macht    es 
nicht  endlich  auch  bei  einer  mehr  empirischen  Fassung  des  Deter- 
minismus wie  in  der  Gegenwart  einen  großen  Unterschied,  ob  die 
Verkettung  uns  gänzlich  unbewußt  wirkt,  oder  ob  sie  von  uns  durch- 
schaut  und    in  unser  Handeln  aufgenommen  wird?     Durchgängig 
sehen    wir  die  Tatsache  einer  kausalen   Ordnung  nicht  schon  ihre 
Anerkennung   mit  sich  bringen,  nach  dem  Ja  oder  Nein  an  dieser 
Stelle  aber  das  Leben  sich  grundverschieden  gestalten.   Ganz  gleich- 
gültig scheint  die  Entscheidung  des  Menschen  also  nicht  zu  sein. 

Auch  die  Stellung  Kants  zu  unserem  Problem  könnte  die 
heutigen  Deterministen  vor  einem  allzu  sicheren  Auftreten  warnen. 
Kant  pflegt  auch  ihnen  als  ein  großer  Denker  zu  gelten  und  sein 
System  als  die  gewaltigste  philosophische  Leistung  der  Neuzeit  Die 
Freiheit  aber  ist  ein  unentbehrlicher  Eckstein  dieses  Systems,  ihn 
entfernen  heißt  seinen  Gesamtbau  zerstören.^     Hat  doch  Kant  die 


^  Man  sehe  nur  die  Äußerungen  Kants  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der 
praktischen  Vernunft:  »Der  Begriff  der  Freiheit,  sofern  dessen  Realität  durch 
ein  apodiktisches  Gesetz  der  praktischen  Vernunft  bewiesen  ist,  macht  nun 
den  Schlußstein  von  dem  ganzen  Gebäude  eines  Systems  der  reinen,  selbst 
der  spekulativen  Vernunft  aus«  (V,  3,  Hart.).    Femer:  „Freiheit  ist  aber  auch 


368  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

Idealität  von  Raum  und  Zeit  und  die  Realität  des  Freiheitsbegriffes 
die  beiden  Angeln  genannt,  um  welche  sich  die  Vernunftkritik  drehe, 
und  ist  auch  seiner  Erkenntnislehre  der  Freiheitsgedanke  von  Anfang 
an  gegenwärtig.  Mag  man  der  besonderen  Art,  wie  Kant  das  Frei- 
heitsproblem löste,  noch  so  kritisch  gegenüberstehen,  es  gibt  doch 
zu  denken,  daß  dieser  große  Philosoph  auf  Freiheit  glaubte  unmög- 
lich verzichten  zu  können. 

Was  ist  es  wohl,  das  trotz  aller  Häufung  anscheinend  unwider- 
leglicher Gründe  immer  wieder  über  den  Determinismus  hinaustreibt? 
Dieses  wohl,  daß  seine  konsequente  Durchführung  alles  zerstören 
müßte,  was  dem  geistigen  Leben  des  Menschen  eigentümlich  ist. 
Dem  Determinismus  ist,  wie  die  Dinge  draußen,  so  auch  die  Seele 
des  Menschen  eine  gegebene  Größe;  aus  dem  Zusammentreffen 
beider  geht  ihm  ein  gewisses  Ergebnis  mit  zwingender  Notwendig- 
keit hervor.  Aber  läßt  sich  im  Grunde  dann  noch  von  eignem 
Handeln  reden,  und  können  wir  uns  innerlich  irgend  dafür  verant- 
wortlich fühlen?  Wird  die  Sache  in  ihren  eignen  Grenzen  gehalten 
und  nicht  unvermerkt  durch  das  überkommene  Bild  unseres  Lebens 
und  Wesens  verändert  oder  ergänzt,  so  müßten  wir  bloße  Zuschauer 
dessen  werden,  was  an  uns  vorgeht,  an  der  Seele  genau  wie  an  dem 
Körper;  was  je  aus  uns  werden  wird,  das  liegt  mit  sicherem  Zuge 
schon  vorgebildet,  wir  spielen  eine  zugewiesene  Rolle,  wir  müssen 
eine  vorgezeichnete  Landstraße  geduldig  weiter  und  weiter  wandeln 
als  völlige  Sklaven  des  Schicksals.  Verschwinden  würde  damit  alle 
wahrhaftige  Gegenwart,  denn  wo  es  keinen  Aufruf  zur  Entscheidung, 
keine  Spannung,  kein  ursprüngliches  Handeln  gibt,  wo  die  Zukunft 
aus  der  Vergangenheit  wie  die  Frucht  aus  dem  Samen  hervorgeht, 
da  gibt  es  nur  den  Schein  einer  Gegenwart.  Auch  verschwindet 
zugleich  aller  innere  Zusammenhang  und  alle  beherrschende  Einheit 
des  Lebens,  denn  eine  solche  läßt  sich  nicht  überliefern,  sie  kann 
nur  aus  eigner,  ursprünglicher  Tätigkeit  hervorgehen,  sie  muß  immer 
von  neuem  geschaffen  werden;  so  verwandelt  sich  unsere  Seele  dort 
in  ein  Nebeneinander  einzelner  Elemente,  das  nach  außen  hin  ein 
Ganzes  scheinen  mag,  das  in  Wahrheit  aller  inneren  Verbindung 
entbehrt.  In  Summa  ist  es  namentlich  die  Leugnung  aller  Ursprüng- 
lichkeit, welche  jener  Denkweise  anhaftet,  und  dieser  Verzicht  auf 


die  einzige  unter  allen  Ideen  der  spekulativen  Vernunft,  wovon  wir  die 
Möglichkeit  a  priori  wissen,  ohne  sie  doch  einzusehen,  weil  sie  die  Be- 
dingung des  moralischen  Gesetzes  ist,  welches  wir  wissen"  (V,  4). 


Freiheit  des  Willens.  35g 

Ursprünglichkeit,  dies  gänzliche  Geschoben-  und  Getriebenwerden 
durch  ein  dunkles  Geschick,  ist,  näher  erwogen,  etwas  ganz  Ent- 
setzliches, schlechterdings  Unerträgliches.  Das  Entsetzliche  einer 
Verstrickung  in  ein  allgewaltiges,  unentrinnbares  Schicksal,  das  uns 
nun  und  nimmer  losläßt,  haben  namentlich  die  tieferen  Geister  unter 
den  Indern  mit  erschütternder  Stärke  empfunden;  so  ward  ihnen  die 
Befreiung  von  solchem  Schicksal,  von  dem  Rad  der  Wiedergeburt, 
zum  dringendsten  Anliegen,  zur  sehnlichsten  Hoffnung. 

Aber,  so  wird  uns  eingewandt,  was  hilft  alles  Sträuben  gegen 
eine  eherne  Notwendigkeit?  Ergebung  und  Resignation  ist  das  einzige, 
das  dem  Menschen  bleibt  und  ziemt.  Erhält  er  nicht  in  Wahrheit 
seine  Natur  als  ein  unabweisbares  Erbe  mitgeteilt,  haben  ihn  zusammen 
mit  diesem  nicht  seine  nähere  und  seine  weitere  Umgebung  zu  dem 
gemacht,  was  er  heute  ist?  Und  ist  es  nicht  das  Schicksal,  das  den 
Fertigen  hieher  oder  dorthin  stellt,  ihn  dieses  oder  jenes  wirken 
läßt?  Bedarf  ferner  nicht  das  menschliche  Handeln  bestimmter 
Motive,  und  würde  nicht  das  Leben  in  ein  wirres  Chaos  zerfallen, 
wenn  unter  diesen  Motiven  willkürlich  zu  wählen  wäre,  wenn  sich 
ohne  allen  Zusammenhang  mit  dem  bisherigen  Tun  der  Gute  zum 
Bösen,  der  Böse  zum  Guten  entschließen  könnte? 

Sicherlich  verlangen  solche  Wahrheiten  eine  gewissenhafte 
Würdigung;  ob  sie  aber  die  Sache  erschöpfen,  ob  sie  das  Eigen- 
tümliche des  Menschen  mit  seiner  geistigen  Art  vollauf  zur  Geltung 
bringen,  das  ist  nicht  so  leicht  zu  sagen.  Es  ist  eine  unbestreitbare 
Tatsache,  daß  der  Mensch,  zunächst  mit  seinem  Denken,  nicht  einfach 
innerhalb  der  Verkettungen  des  Daseins  verbleibt,  wie  das  Tier, 
sondern  daß  er  aus  diesen  Verkettungen  heraustritt,  sich  ihnen 
gegenüberzustellen  und  sie  als  Ganzes  zu  überschauen  vermag.  Ohne 
das  gäbe  es  kein  Fragen  nach  Wahrheit,  und  schon  daß  eine  solche 
Frage  überhaupt  gestellt  wird,  enthält  eine  erhebliche  Weiterbildung 
des  Lebens.  Steht  es  mit  dem  Tun  nicht  ähnlich?  Wir  gehen  nicht 
auf  in  ein  Nebeneinander  einzelner  Antriebe,  wir  erheben  uns  zu 
einer  überlegenen  Einheit  und  gewinnen  damit  eine  Selbsttätigkeit 
als  eine  neue  Stufe  des  Lebens;  von  hier  aus  können  wir  jene  Viel- 
heit überblicken  und  jedes  Stück  nach  seinem  Werte  schätzen;  dieser 
Wert  ist  nicht  schlechthin  gegeben  und  ausgemacht,  er  gestaltet  sich 
erst  von  jener  Einheit  aus,  und  ihre  Umgestaltung  muß  auch  ihn 
verändern.  Fragt  man  uns,  wie  jene  Selbsttätigkeit,  wie  jenes  Hervor- 
brechen ursprünglichen  Geisteslebens  im  Menschen  möglich  sei,  wie 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  24 


370  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

sie  sich  aus  dem  Ganzen  des  Alls  erkläre,  so  bekennen  wir  offen 
und  ehrlich  das  Unvermögen  einer  Antwort  darauf.  Aber  wie  arm 
würden  wir  werden,  wenn  wir  alles  leugnen  wollten,  was  wir  nicht 
zu  erklären  vermögen  ?  Wir  sehen  um  uns  in  unerschöpflicher  Fülle 
bewußte  und  fühlende  Wesen,  eigentümliche  Lebenseinheiten,  immer 
von  neuem  entstehen.  Ist  uns  das  irgend  erklärlich,  könnte  man 
nicht,  wenn  es  nicht  eine  unbestreitbare  Tatsache  wäre,  es  ebenso 
als  unmöglich  verwerfen  wie  ein  Erwachen  von  Selbsttätigkeit? 
Denn  eine  Lebenseinheit  scheint  weder  durch  eine  Zusammensetzung 
von  Leblosem  noch  durch  eine  Teilung  von  Lebendigem  entstehen 
zu  können.  Also  kann  es  neue  Lebenseinheiten  in  keiner  Weise 
geben.  Aber  sie  quellen  unablässig  auf,  wir  können  sie  unmöglich 
leugnen.  So  müssen  wir  doch  wohl  unsere  Begriffe  von  Möglich- 
keit der  Wirklichkeit  der  Dinge  unterordnen,  nicht  diese  in  ein  von 
unserm  engen  und  kleinen  Verstände  gebildetes  Maß  hineinzwängen. 
Im  Grunde  ist  es  der  Intellektualismus,  der  dem  Determinismus  die 
stärksten  Wurzeln  liefert 

Dazu  sei  bei  diesem  Problem  auch  die  besondere  Lage  des 
Menschen  mit  ihrer  Verwicklung  nicht  vergessen.  Daß  er  einerseits 
zur  Natur  gehört  und  andererseits  den  Beginn  einer  neuen  Stufe 
der  Wirklichkeit,  eines  Reiches  des  Beisichselbstseins,  bildet,  das  ver- 
wandelt sein  ganzes  Leben  in  eine  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  es 
unbedingt  seiner  eignen  Entscheidung  bedarf.  Das  stellt  es  unter 
entgegengesetzte  Antriebe,  das  macht  die  Motive  hie  und  da 
schlechterdings  unvergleichlich.  Dort  das«  natürliche  oder  auch  das 
gesellschaftliche  Dasein  mit  seiner  Lust,  hier  die  geistige  Ordnung 
mit  ihrem  neuen  Selbst  und  seiner  Unendlichkeit,  Läßt  sich  direkt 
miteinander  vergleichen,  und  aneinander  messen,  was  ein  Handeln 
an  selbstischem  Glück,  und  was  es  an  Erhöhung  des  Wesens  in 
Erfüllung  von  Pflicht  und  Entwicklung  von  Liebe  bringt?^  Augen- 
scheinlich stehen  hier  nicht  einzelne  Leistungen,  sondern  es  steht 
die  Hauptrichtung  des  Lebens  in  Frage,  es  handelt  sich  nicht  so- 
wohl um  das,  was  wir  tun,  als  um  das,  was  wir  sind,  oder  vielmehr 


*  So  müssen  wir  auch  die  Vorstellung  ablehnen,  als  ob  die  Motive 
feste  und  gegebene  Größen  wären,  die  in  der  Seele  wie  Gewichte  auf  einer 
Wagschale  zusammenträfen  und  eine  Entscheidung  bewirkten.  Muß  denn 
alles  Handeln  aus  gegebenen  Motiven  erfolgen,  können  bei  innerer  Wandlung 
des  Lebens  nicht  neue  entstehen?  Und  muß  die  Seele  den  Motiven  ihren 
Wert  nicht  immer  von  neuem  erteilen? 


Freiheit  des  Willens.  371 

um  das,  worin  wir  unser  Wesen  setzen.  Die  Seele  des  Menschen 
bildet  nicht  einen  bloßen  Schauplatz,  an  dem  zwei  Stufen  der  Wirk- 
lichkeit sich  begegnen,  sondern  sie  wird  selbst  zur  Mitwirkung  auf- 
gerufen, nur  durch  selbsttätige  Aneignung  hindurch  kann  das  Geistes- 
leben an  dieser  Stelle  zur  vollen  Wirklichkeit  kommen.  Was  aber 
darin  an  Entscheidung  liegt,  das  vollzieht  nicht  ein  besonderer 
Augenblick,  sondern  das  vollzieht  unser  ganzes  Leben,  das  will  un- 
ablässig bejaht  und  bekräftigt  sein.  Geistiges  Leben,  so  sahen  wir, 
verbleibt  nicht,  wie  es  einmal  sich  findet,  es  muß  immer  von  neuem 
entstehen,  soll  es  nicht  aufs  rascheste  sinken.  So  behält  unser  Leben 
stets  eine  Spannung,  es  wird,  geistig  angesehen,  nie  zu  ruhigem  Besitz. 
Damit  erscheint  freies  Wirken  nicht  als  eine  Sache  des  bloßen 
Augenblicks,  die  Wendung  nicht  als  ein  plötzlicher  Einfall.  Denn 
so  gewiß  auch  der  Augenblick  eine  hervorragende  Bedeutung  ge- 
winnen kann,  er  kann  das  nur  in  weiteren  Zusammenhängen,  nur  als 
der  Höhepunkt  eines  durchgehenden  Strebens.  An  erster  Stelle  geht 
die  Frage  auf  das  Ganze,  auf  die  Hauptrichtung  des  Lebens,  nicht 
auf  einzelne  Punkte. 

Wie  in  unserem  Leben  Freiheit  und  Schicksal  zusammenwirken, 
wie  das  eine  auf  das  andere  angewiesen  ist,  das  zeigt  mit  beson- 
derer Anschaulichkeit  die  Bildung  einer  geistigen  Individualität  Un- 
möglich kann  eine  solche  aus  bloßem  Entschlüsse  entstehen,  das 
Schicksal  geht  hier  voran  und  weist  uns  die  Richtung  des  Weges. 
Aber  sofern  dieses  Individuelle  geistiger  Art  ist,  muß  es  von  uns 
erst  errungen,  in  eigne  Tätigkeit  aufgenommen,  von  Fremdem 
geschieden,  als  Mittelpunkt  anerkannt  sein.  Der  Punkt  unserer 
Stärke  muß  erst  freigelegt  und  ergriffen  werden.  Das  Suchen 
des  eignen  Wesens,  der  Seele  der  Seele,  kann  harte  Mühen  und 
schwere  Irrungen  kosten,  wir  können  uns  weit  verlaufen,  ehe  wir 
zu  jenem  Punkte  gelangen.  Und  wenn  wir  ihn  gefunden  haben, 
so  bedarf  es  weiterer  Mühe  und  Arbeit,  um  ihn  festzuhalten 
und  durchzusetzen;  so  verwandelt  der  Verlauf  des  Lebens  mehr 
und  mehr  die  Gabe  des  Schicksals  in  ein  eignes  Werk  des 
Menschen,  so  erhebt  sich  unser  Leben  immer  mehr  zur  Selbst- 
tätigkeit 

Ähnliches  gilt  von  ganzen  Völkern  und  Zeiten.  Was  an  Ge- 
gebenem vorliegt,  ist,  geistig  angesehen,  nur  eine  Möglichkeit,  die 
zur  Verwirklichung  und  zugleich  zur  konkreten  Gestaltung  immer 
nur  durch   unsere   eigne   Tat   gelangt.     Wir  können  uns  willenlos 

24« 


372  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

treiben  lassen  von  dem,  was  wir  empfangen  und  was  uns  umgibt, 
wir  können  ihm  gegenüber  eine  Selbständigkeit  gewinnen  und  von 
ihr  aus  erst  ihm  entringen,  was  an  Geistigem  in  ihm  angelegt  ist. 
Die  Geschichte  baut  sich  ihrem  Geistesgehalt  nach  nicht  auf  einer 
gegebenen  und  gesicherten  Grundlage  auf,  sondern  immer  von 
neuem  mag  über  ihr  Ganzes  Zweifel  entstehen,  immer  von  neuem 
gilt  es,  ihr  eine  Grundlage  eret  zu  sichern,  immer  neu  ist  sie  in  ein 
Ganzes  zusammenzuschließen. 

Solche  Überzeugungen  ergeben  ein  wesentlich  anderes  Bild  der 
Wirklichkeit,  als  es  dem  Determinismus  vorschwebt.  Vor  allem  ein 
anderes  Bild  von  unserem  eignen  Seelenleben.  Dem  Determinismus 
scheint  bei  ihm  alles  in  einer  einzigen  Fläche  zu  liegen  oder  doch  aus 
einem  gegebenen  Grundstock  hervorzugehen,  in  Wahrheit  ist  unser 
Leben  nicht  so  einfach  und  sein  Inhalt  nicht  so  gleichartig.  Ver- 
schiedene Möglichkeiten  und  verschiedene  Höhenlagen  durchkreuzen 
einander  und  ziehen  bald  hierher  bald  dorthin.  Eine  von  ihnen  ist 
durch  den  Verlauf  des  Lebens  zur  Herrschaft  gelangt  und  gilt  leicht 
als  das  Ganze  unseres  Lebens  und  Seins.  Aber  es  brauchen  nur 
wesentlich  neue  Aufgaben,  nur  große  Erschütterungen  und  Umwälz- 
ungen zu  kommen,  und  es  steigt  etwas  völlig  neues,  etwas  uner- 
wartetes in  uns  auf,  während  altes  verblaßt  und  versinkt,  es  wird 
anderes  in  uns  belebt,  und  es  verändern  sich  alle  Werte;  es  kann 
uns  unsäglich  klein  und  nichtig  erscheinen,  was  früher  unsere  Seele 
erfüllte.  Das  alles  aber  nicht  durch  ein  mechanisches  Vorgehen 
an  uns,  sondern  durch  unsere  eigne  Erregung  und  Bewegung  hin- 
durch. Alsdann  wird  deutlich,  daß  was  uns  vorher  das  Ganze 
dünkte,  nur  eine  gewisse  Schicht,  nur  eine  besondere  Möglichkeit 
war,  daß  wir  nur  ein  Stück  unseres  Wesens  erlebten.  Das  gesell- 
schaftliche Dasein  und  der  Zwang  der  Lebenserhaltung  drängen  zu 
einer  Festlegung  auf  eine  solche  Besonderheit,  hier  gilt  der  Mensch 
nur  als  Träger  eines  eigentümlichen  Berufes,  hier  soll  er  möglichst 
darin  aufgehen,  hier  wird  ihm  alles  verübelt,  was  nicht  die  dadurch 
gezogene  Linie  einhält.  Wer  sich  aber  ganz  einer  solchen  Vereng- 
ung ergibt,  seinem  Leben  nicht  eine  größere  Weite  mit  offnen  Mög- 
lichkeiten wahrt,  dem  muß  es  erstarren  und  verknöchern,  der  handelt 
weniger  als  durch  ihn  gewirkt  wird,  der  geht  in  Wahrheit  jene 
abgesteckte  Chaussee,  in  die  der  Determinismus  unser  aller  Leben 
verwandeln  möchte.  Das  ist  der  Segen  des  Leides  und  aller  großen 
Erschütterung,  daß  es  den  Menschen  solcher  Erstarrung  zu  entreißen 


Freiheit  des  Willens.  373 

und  ihm  neue  Lebensquellen  zu  eröffnen  vermag.  Und  darin  hat 
auch  die  Kunst  eine  hervorragende  Aufgabe,  der  üblichen  Einpferch- 
ung des  Lebens  den  weiteren  Kreis  mit  seinen  offnen  Möglichkeiten 
entgegenzuhalten  und  dadurch  der  Bindung  der  Verhältnisse  gegen- 
über zur  Befreiung  der  Seele  zu  wirken.  Immer  ist  dies  der  Scheide- 
punkt, ob  unser  Leben  sich  aus  fertigen  Daten  zusammensetzt,  oder 
ob  es  noch  mitten  im  Fluß  ist. 

Was  vom  Einzelnen,  das  gilt  auch  von  der  Menschheit  im 
Ganzen.  Wie  jenen  die  Besonderheit  seines  Berufes  und  seines  Ge- 
schickes festlegt  und  einspinnt,  so  ist  es  bei  der  Menschheit  eine 
besondere  Art  der  Kultur,  auf  welche  die  gewöhnliche  Denkweise 
sie  festlegt,  und  in  die  man  sie  einspinnen  möchte.  Das  aber  bringt 
zur  Verengung  auch  eine  Erstarrung  des  Lebens.  Die  Menschheit 
hätte  dann  nur  eine  gewiesene  Bahn  zu  verfolgen,  sie  würde  ein 
bloßes  Mittel  zu  irgendwelcher  Leistung;  wer  sich  auf  der  Höhe 
einer,  solchen  Kultur  fühlt,  der  mag  glauben,  mit  voller  Sicherheit 
nachweisen  zu  können,  wie  alles  gekommen  ist,  wie  alles  so  kommen 
mußte,  dem  stellt  sich  die  ganze  Geschichte  als  eine  Kette  der  Not- 
wendigkeit dar.  Aber  auch  Kulturen  leben  sich  aus,  welken  und 
altem;  es  wäre  schlimm,  wenn  die  Menschheit  in  ihrem  Verhältnis 
zum  All  nicht  andere  Möglichkeiten  als  die  durchlaufenen  in  sich 
trüge  und  sie  ergreifen  wie  ausbilden  könnte.  Ist  nun  dies  Neue 
von  dem  Alten  her  irgendwie  ableitbar?  Konnte  das  griechische 
Altertum  die  Gestaltung  irgend  voraussehen,  die  sich  durch  das 
Christentum  und  den  Aufstieg  neuer  Völker  vollzogen  hat?  Oder 
war  vom  Mittelalter  aus  die  Wendung  zu  erwarten,  welche  die 
Neuzeit  brachte?  Und  wenn  wir  jetzt  innere  Schranken  der 
modernen  Kultur,  ein  Greisenhaftwerden  ihres  inneren  Bestandes 
immer  stärker  empfinden,  was  anderes  läßt  uns  freudig  am  Streben 
und  Wirken  festhalten,  als  die  Hoffnung,  daß  die  Menschheit  sich 
auf  den  bisherigen  Bahnen  nicht  schon  ausgelebt  hat,  daß  noch 
offne  Möglichkeiten  vor  ihr  liegen?  Aber  ohne  unsere  Selbsttätig- 
keit werden  solche  Möglichkeiten  sich  schwerlich  beleben  lassen; 
wir  dürfen  dabei  nicht  bloße  Zuschauer  sein,  wir  müssen  Mitarbeiter 
werden. 

Sollte  eine  derartige  Denkweise  mit  ihrer  Erweiterung  und  Be- 
lebung des  Wirklichkeitsbildes  nicht  auch  für  das  Ganze  des  Welt- 
alls gelten?  Viel  zu  sehr  neigen  wir  Modernen  dahin,  die  Welt 
und  den  Weltstand,   der  uns  umfängt,   als  die  einzige  Möglichkeit, 


374  Zu  den  Problemen  des  Menschenlebens. 

als  den  Inbegriff  alles  Wirklichen  anzusehen.  Ist  jene  nicht  viel- 
leicht nur  eine  besondere  Art,  neben  der  andere  bestehen  können, 
ja  bestehen  müssen?  Als  ein  Anzeichen  dessen  könnten  die  mannig- 
fachen Unfertigkeiten,  Verwicklungen,  Widersprüche  gelten,  in  denen 
unsere  Welt  sich  befindet,  das  Gemenge  von  Vernunft  und  Unver- 
nunft, das  sie  aufweist.  Von  hier  aus  muß  es  als  ein  starrer  und 
einengender  Dogmatismus  erscheinen,  alle  Wirklichkeitsbildung  an  das 
»Gegebene"  zu  binden.  Dies  «Gegebene"  ist  ein  höchst  unglück- 
licher und  irreleitender  Begriff,  da  es  eine  höchst  problematische 
Behauptung  als  selbstverständlich  gibt,  und  da  es  alle  Selbsttätigkeit 
mit  ihrer  Ursprünglichkeit  leugnet.  Eine  eingeschüchterte  Denk- 
weise empfindet  heute  kaum,  welche  Herabsetzung  der  geistigen 
Energie  in  der  völligen  Bindung  an  die  Gegebenheit  liegt.  »Der 
Geist  geht  auf  alle  Arten  an  die  Kost  und  schmiegt  sich  an  das  Ge- 
gebene" (J.  Burckhardt). 

Wie  sich  von  unseren  Überzeugungen  aus  das  Problem  der 
Freiheit  und  Gebundenheit  des  Handelns  darstellt,  das  läßt  sich  in 
der  hier  gebotenen  Kürze  unmöglich  erörtern,  das  hoffen  wir  bald 
in  einer  Grundlegung  der  Ethik  näher  darlegen  zu  können.  Hier  galt 
es  nur  bemerklich  zu  machen,  daß  der  Determinismus  auf  ganz  be- 
stimmten Voraussetzungen  von  der  Wirklichkeit  ruht,  und  daß  die 
Erkenntnis  dessen  seine  Selbstverständlichkeit  sofort  zerstört.  Er  be- 
handelt die  Welt  als  gegeben  und  geschlossen  und  uns  Menschen 
als  ein  bloßes  Stück  dieser  Welt;  hat  er  damit  Recht,  so  wird  es 
zu  einer  kaum  verständlichen  Torheit,  an  seiner  Wahrheit  noch 
irgend  zu  zweifeln;  ist  aber  die  Welt  noch  im  Fluß  und  können 
wir  selbst  an  vordringendem  Schaffen  teilnehmen,  so  wird  jemand, 
der  andere  Wege  versucht,  nicht  schon  als  ein  intellektuell  Verlorener 
anzusehen  sein.  Schlimmsten  Falles  freilich  müßte  er  sich  dessen  in 
Gemeinschaft  mit  einem  Plato  und  einem  Kant  vertrösten. 

Die  große  Klärung  und  Förderung,  welche  der  moderne  De- 
terminismus dem  Freiheitsprobleme  gebracht  hat,  wird  damit  keines- 
wegs verkannt,  er  hat  das  ganze  Problem  der  Freiheit  aufs  wesent- 
lichste vertieft  und  ihre  naive  Bejahung  schlechterdings  unmöglich 
gemacht.  Daß  viel  Notwendigkeit  in  unserem  Leben  waltet,  daß 
zum  guten  Teil  das  Schicksal  es  bereitet,  ist  nicht  zu  verkennen; 
nur  das  bleibt  in  Frage,  ob  dieses  das  Ganze  ist,  ob  nicht  zugleich 
auch  die  Freiheit  ein  Recht  behält,  und  ob  nicht  eben  der  Zu- 
sammenstoß von  Freiheit  und  Notwendigkeit  unserem  Leben  seinen 


Freiheit  des  Willens.  375 

eigentümlichen  Charakter  verleiht,  ob  er  nicht  Leben  in  vollem 
Sinne  erst  möglich  macht  Wir  stehen  zu  Schelling,  wenn  er  sagt: 
»Ohne  den  Widerspruch  von  Notwendigkeit  und  Freiheit  würde  nicht 
Philosophie  allein,  sondern  jedes  höhere  Wollen  des  Geistes  in  den 
Tod  versinken." 


D 


E.  Letzte  Probleme. 

1.  Der  Wert  des  Lebens. 

a)  Einleitendes. 

en  Wert  des  Lebens  nach  der  individuellen  Empfindung  mit 
ihrer  Zufälligkeit  und  ihren  Schwankungen  abzuschätzen,  ist 
ein  Ding  der  Unmöglichkeit;  hat  die  Frage  des  Optimismus  oder 
Pessimismus*  keinen  anderen  Sinn,  so  ist  sie  von  vornherein  abzu- 
weisen. Aber  unmöglich  läßt  sich  alles  Urteil  über  das  Leben  ein- 
stellen, schon  deshalb  nicht,  weil  dies  uns  nicht  mit  schlichter  und 
unwiderstehlicher  Tatsächlichkeit  einnimmt,  sondern  weil  es  eine 
Entscheidung  unsererseits  verlangt,  diese  aber  entgegengesetzt  aus- 
fallen kann.  Denn  entweder  mögen  wir  uns  seinem  Strome  freudig 
anschließen  und  ihn  möglichst  durch  unsere  Kraft  verstärken,  oder 
aber  wir  mögen  uns  ihm  entgegenstemmen  und  ihn  bei  uns  zum 


^  Die  Ausdrücke  Optimismus  und  Pessimismus  sind  neueren  Ursprungs, 
jenes  ist  zuerst  zur  Bezeichnung  der  Leibnizischen  Lehre  von  der  besten 
Welt  verwandt  worden.  Brucker  (IV,  2,  S.  385)  bemerkt  darüber:  Non 
tacendum  vero,  ipsos  Jesuitas  Trivaltinos,  magnos  cetera  Leibnizii  admiratores, 
cum  recensione  Theodiceae  facta  sententiam  dicerent  (wie  eine  Anmerkung 
hinzufügt  1737,  Febr.  art.  1),  laudata  ingenti  lectionis  et  judicii  copia,  et 
tractationis  ordine,  accuratione  et  concinnitate  systematica,  fateri  tamen,  multos 
errores  philosophum  summum  admisisse,  maxime  vero  optimi  mundi  asser- 
tionem  (optimismum  vocant)  non  nisi  larvatum  materialismum  et  spiritualem 
Spinozismum  involvere,  s.  auch  S.  415.  Zu  seiner  Verbreitung  hat  wohl  nament- 
lich Voltaire  mit  seinem  Candide  ou  l'optimisme  beigetragen.  —  Bei  Pessimismus 
pflegen  wir  zuerst  an  Schopenhauer  zu  denken,  aber  dieser  selbst  gebraucht 
das  Wort  nur  spärlich;  Caldwell  in  seinem  vortrefflichen  Werke  über  Schopen- 
hauer bemerkt  darüber  (S.  522):  He  rarely  uses  the  word  pessimism  —  perhaps 
three  or  four  times  at  all  —  and  than  only  about  the  philosophy  of  others, 
and  generally  in  the  adjective  form  as  opposed  to  an  optimistic  view  of 
things. 


Der  Wert  des  Lebens.  377 

Stillstand  zu  bringen  suchen.  Große  geschichtliche  Entwicklungen 
stellen  uns  beide  Antworten  deutlich  vor  Augen.  Die  Höhe  des 
indischen  Lebens  war  von  der  Überzeugung  beseelt,  daß  das  Leben 
mit  seiner  endlosen  Sorge,  Mühe  und  Not  vornehmlich  ein  Leiden 
sei,  und  daß  das  Streben  nach  Befreiung  von  ihm  oder  doch  nach 
Herabsetzung  seiner  Stärke  die  Summe  der  Lebensweisheit  bilde. 
Entgegen  solcher  Lebensverneinung  folgt  unser  westlicher  Kultur- 
kreis einer  anderen  Schätzung:  hier  dünkt  das  Leben  ein  hohes 
Gut,  das  man  eifrig  festhalten  und  steigern  möchte;  so  bemühen 
sich  auch  die  Denker,  jene  Bejahung  zu  begründen  und  die  Wirk- 
lichkeit als  wertvoll  zu  erweisen.  Die  geschichtliche  Bewegung  nach 
dieser  Richtung  zerfällt  aber  in  drei  Hauptphasen.  Die  griechischen 
Denker  suchten  den  Dunkelheiten  und  Widersprüchen  der  Welt 
überlegen  zu  werden,  indem  sie  diese  als  ein  vollendetes  Kunstwerk, 
eine  allumfassende  Harmonie  erweisen;  die  christlichen  Denker, 
soweit  das  Problem  sie  beschäftigte,  wie  z.  B.  einen  Augustin,  sahen 
in  der  Wirklichkeit  eine  sittliche  Ordnung,  die  den  Gegensatz  von 
Gerechtigkeit  und  Liebe  zu  voller  Ausgleichung  bringe;  den 
modernen  Denkern  endlich  ward  die  Welt  ein  vordringender  Lebens- 
strom, ein  unaufhörliches  Anschwellen  der  Kraft;  als  ein  Reiz  und 
Antrieb  dafür  schien-  sich  auch  das  zu  rechtfertigen,  was  zunächst 
als  Störung  und  Widerspruch  erscheint 

Diese  Versuche  der  Denker  sind  oft  hart  angegriffen,  ja  arg  ver- 
spottet worden;  sie  möchten  eine  solche  Behandlung  verdienen,  wenn 
nur  spielende  Reflexion  sie  hervorgebracht  hätte,  nicht  tiefere  Beweg- 
ungen hinter  ihnen  stünden.  Dieses  aber  war  in  der  Tat  der  Fall.  Denn 
jene  Versuche  einer  Rechtfertigung  des  Lebens  wurzelten  in  einer  tatsäch- 
lichen Gestaltung  seiner,  in  einer  Selbstkonzentration,  die  einen  Kern 
vom  übrigen  Dasein  schied  und  von  ihm  aus  eine  Weiterbildung  des 
Ganzen  erstrebte.  So  wären  die  griechischen  Versuche,  die  Welt  als 
ein  Kunstwerk  darzustellen,  ohne  Saft  und  Kraft  gewesen,  hätte  nicht 
die  großartige  künstlerisch-plastische  Gestaltung  des  Lebens  und  der 
ganzen  Wirklichkeit,  die  wir  an  den  Griechen  bewundern,  sie  ge- 
tragen und  getrieben;  dies  künstlerische  Schaffen  mit  der  ihm  eignen 
Kraft  und  Freude  war  es,  was  die  griechische  Welt  gegen  die  Unver- 
nunft des  Daseins  wappnete,  die  sie  keineswegs  gering  anschlug,  und 
was  ihr  die  Zuversicht  gab,  dem  Dunkel  und  Leid  gewachsen  zu  sein. 
Das  Leben  zerlegte  sich  damit  in  eine  höhere  und  eine  niedere  Stufe,  in 
Gestalt  und  Ungestalt;  der  Mensch  aber  vermochte  sich  auf  die  Seite 


378  Letzte  Probleme. 

des  Höheren  zu  stellen  und  in  seinem  Bereiche  dafür  zu  wirken. 
Nicht  anders  stand  es  auf  dem  Boden  des  Christentums.  An  stärkster 
Empfindung  des  Bösen  fehlte  es  hier  wahrhaftig  nicht,  aber  das 
Bewußtsein,  ein  unverlierbares  Glied  einer  weltbeherrschenden  sitt- 
lichen Ordnung  zu  sein,  verlieh  dem  Menschen  eine  Größe  und 
Zuversicht,  es  gab  ihm  viel  zu  tun,  es  stählte  ihn,  den  schweren 
Kampf  gegen  die  überwuchernde  Unvernunft  getrost  zu  beginnen. 
Daß  es  sich  in  der  Neuzeit  ähnlich  verhält,  daß  hinter  dem  Glauben 
an  das  Vermögen  der  Entwicklung  eine  tatsächliche  Steigerung  des 
Lebens,  eine  rastlose  Arbeit  zur  Verbesserung  des  menschlichen 
Daseins  steht,  das  haben  wir  alle  deutlich  vor  Augen;  ohne  solche 
Erfahrung  des  Fortschritts  hätte  der  Glaube  an  die  Entwicklung  die 
Gemüter  wohl  nur  flüchtig  berührt. 

So  waren  es  durchgängig  eigentümliche  Lebensgestaltungen,  es 
waren  Konzentrationen  des  Lebens  bei  sich  selbst,  Tatsynthesen, 
nicht  bloße  Begriffsklaubereien,  Tatsynthesen,  Lebensenergien,  welche 
dem  Menschen  die  Überzeugung  einflößten,  den  Gründen  der  Wirk- 
lichkeit verbunden  zu  sein  und  aus  ihnen  Kraft  zu  empfangen,  die 
ihn  aus  dem  Stande  eines  bloßen  Übersichergehenlassens  in  den 
der  Aktivität  versetzten  und  ihn  zugleich  mit  freudigem  Mute  er- 
füllten. Die  Unvernunft  verschwand  damit  keineswegs,  sie  mochte 
eher  noch  gesteigert  scheinen.  Aber  nun  stand  der  Mensch  ihr 
nicht  mehr  einsam  und  wehrlos  gegenüber,  nun  durfte  er  mitarbeiten 
am  Bau  der  Wirklichkeit,  nun  hatte  sein  Leben  einen  Sinn  und  zu- 
gleich einen  Wert  gewonnen.  Wer  solche  Zusammenhänge  vor 
Augen  hat,  der  wird  jene  Versuche  der  Denker  minder  gering- 
schätzig ansehen,  wie  unzulänglich  er  das  Nähere  ihrer  Beweis- 
führung finden  mag.  Aus  Beweisen  hat  das  Leben  nie  seine  Kraft 
gezogen. 

b)  Die  Verwicklung  der  Gegenwart. 

Heute  ergeht  es  uns  bei  diesem  Problem  wie  bei  vielen  an- 
deren; aus  vermeintlichem  Besitz  sind  wir  wieder  in  ein  tastendes 
Suchen  geworfen.  Alle  jene  Lebenskonzentrationen  sind  in  ihrem 
Bestände  und  in  ihrer  Herrschaft  aufs  schwerste  erschüttert:  von  der 
künstlerischen  und  der  ethischen  ist  es  augenscheinlich,  aber  auch 
der  Fortschrittsgedanke  hat  nicht  mehr  die  alte  Kraft  und  den  alten 
Zauber;  wir  wissen  nicht  recht,  wohin  uns  der  Fortschritt  führt  und 


Der  Wert  des  Lebens.  379 

wem  er  zugute  kommt,  auch  seine  Tatsächlichkeit  ist  uns  bei  den 
tieferen  Lebensfragen  stark  ins  Wanken  geraten;  ein  hohles  Phrasen- 
tum  umspinnt  hier  oft  den  Kern  der  Behauptung  und  zieht  das 
Ganze  herab.  Fehlt  demnach  dem  heutigen  Leben  überhaupt  ein 
fester  Zusammenschluß  und  mit  ihm  ein  allbeherrschendes  Ziel,  so 
fehlt  zugleich  die  Kraft,  dem  Zustrom  der  Wirklichkeit  gewachsen 
zu  werden,  ihn  innerlich  zu  bewältigen  und  in  solcher  Verwandlung 
des  Daseins  in  Aktivität  das  Bewußtsein  einer  Größe  zu  finden. 
Dieser  Mangel  muß  um  so  empfindlicher  werden,  als  eben  die  Be- 
wegung der  Neuzeit  die  Außenwelt  aufs  gewaltigste  anschwellen 
läßt,  sie  uns  unvergleichlich  größer  vor  Augen  stellt  und  stärker 
auf  uns  eindringen  läßt  als  je  zuvor.  Indem  so  immer  mehr  die 
Welt  uns  besiegt  und  uns  zu  ihrem  bloßen  Anhange  herabsetzt, 
verfallen  wir  bei  aller  Ausdehnung  des  Lebens  einer  inneren  Schwäche 
und  Kleinmütigkeit;  immer  mehr  greift  die  Neigung  um  sich,  in 
den  mannigfachen  Erfahrungen  vor  allem  das  zu  sehen,  was  den 
Menschen  als  klein  darstellt  und  ihm  alle  Besonderheit  raubt; 
durchgängig  scheint  es,  als  ob  sich  mehr  ein  Schicksal  an  uns  voll- 
ziehe, als  daß  wir  zu  Herren  der  Dinge  werden  und  ein  inneres 
Verhältnis  zur  Wirklichkeit  ausbilden  können.  Weniger  daß  die 
Außenwelt  größer  geworden  ist,  als  daß  wir  ihr  nichts  entgegenzu- 
setzen haben,  ist  es,  was  unseren  Lebensmut  niederdrückt  und  uns 
am  Inhalt  der  Wirklichkeit  vor  allem  die  Verneinung  gewahren  läßt 
So  erfahren  wir  es  zunächst  im  Verhältnis  zur  großen  Natur. 
Ins  Auge  fällt  uns  vor  allem  ihre  Unermeßlichkeit,  ihre  Unendlich- 
keit in  Raum  und  Zeit,  ihre  Grenzenlosigkeit  im  Großen  wie  auch 
im  Kleinen.  Dieser  Gedanke  der  Unendlichkeit  hat  frühere  Zeiten 
freudig  ergriffen  und  innerlich  erhöht,  indem  er  ihnen  ein  Aus- 
druck der  unbegrenzten  Lebensfülle  der  Wirklichkeit  war;i  auch 
fanden  sie  darin  einen  besonderen  Vorzug  des  Menschen,  daß  sein 
Denken  ihn  über  alle  Begrenzung  hinaus  zum  Unendlichen  und 
Ewigen  führe  und  ihn  daran  teilnehmen  lasse.  Heute  aber  denken 
wir  weniger  an  die  innere  Gegenwart  der  Unendlichkeit,  als  daß 
sie  ausgebreitet  in  Raum  und  Zeit  um  uns  liegt  und  zugleich  unser 
ganzes  Dasein  zu  verschwindender  Kleinheit  herabsetzt  Zu  voller 
Gleichgültigkeit  scheint  es  damit  zu  sinken.     Denn   was   bedeutet. 


^  Die  klassische  Zeit  des  Altertums  scheut  das  Unendliche  als  etwas 
Grenzenloses  und  damit  einer  künstlerischen  Gestaltung  Entzogenes,  zu  posi- 
tiver Schätzung  hat  den  Begriff  erst  Plotin  gebracht. 


380  Letzte  Probleme. 

so  hören  wir,  alles,  was  auf  dieser  winzigen  Erde  vorgeht,  gegen- 
über der  unermeßlichen  Fülle  der  Welten,  die  das  geschärfte  Auge 
der  Neuzeit  uns  wahrnehmen  läßt?  Die  äußere  Größe  gibt  hier 
das  Maß,  ein  anderes  kennen  wir  nicht  —  Dazu  bleibt  die  Natur 
uns  innerlich  fremd  und  verschlossen,  sie  scheint,  indem  die  Forsch- 
ung ihr  immer  mehr  Boden  abgewinnt,  ihrem  Grunde  nach  ferner 
und  ferner  zu  rücken.  Denn  es  fehlt  uns  ein  inneres  Verhältnis 
zu  ihr,  wie  es  früheren  Zeiten  eine  religiöse  oder  eine  künstlerische 
Überzeugung  gab.  Uns  erfüHt  ganz  und  gar  der  Gedanke  der  Be- 
grenztheit des  Menschen,  wir  scheinen  einem  besonderen  Kreise  an- 
zugehören und  ihn  in  keiner  Weise  überschreiten  zu  können.  Sind 
wir  derart  von  den  großen  Zusammenhängen  abgeschnitten,  so 
wird  es  zu  einem  vermessenen  Unterfangen,  zu  einem  eingebildeten 
Anthropomorphismus,  die  Natur  mit  ihrem  Gestalten  irgendwie 
deuten  und  verstehen  zu  wollen.  Sie  bleibt  uns  ein  tiefes  Geheim- 
nis, ein  ganz  unlösbares  Rätsel.  In  unermeßlicher  Fülle  erzeugt 
sie  Bildungen,  die  wir  uns  nur  durch  die  Analogie  eines  zweck- 
tätigen Handelns  irgend  vorstellbar  machen  können,  aber  wenn  sich 
überhaupt  von  Zwecken  der  Natur  reden  läßt,  so  scheinen  diese 
einander  zu  widersprechen  und  sich  gegenseitig  aufzuheben.  In- 
dem nämlich  die  Natur  mit  bewunderungswürdiger  Sorgfalt  eine 
Art  von  Wesen  bereitet,  bereitet  sie  mit  gleicher  Sorgfalt  eine  andere, 
die  jene  zu  zerstören  vermag,  so  scheint  sie  hier  zu  verneinen,  was 
sie  dort  bejaht,  sie  hetzt  ihre  eignen  Geschöpfe  gegeneinander  und 
treibt  sie  in  einen  unerbittlichen  Daseinskampf.  Massenhaft  werden 
Individuen,  oft  auf  mühsamen  Umwegen,  gebildet,  aber  ebenso 
massenhaft  werden  sie  aufgeopfert.  Inmitten  alles  Kampfes  ist  ein 
aufsteigender  Zug  des  Lebens  nicht  zu  verkennen,  immer  kompli- 
zierter wird  der  Bau  der  Organismen,  immer  abgewogener  die  Diffe- 
renzierung der  Teile,  immer  größer  die  seelische  Leistung.  Aber 
auf  dem  eignen  Gebiet  der  Natur  sehen  wir  keinen  rechten  Gewinn 
dieses  Forttriebs.  Denn  wenn  auch  die  höchste  Stufe  über  die 
Lebenserhaltung  Im  Kampf  ums  Dasein  nicht  hinauskommt,  so  wird 
im  Grunde  nur  dasselbe  Ziel,  was  auch  schon  die  niedere  Stufe 
hat,  in  weit  umständlicherer  Weise  erreicht;  ist  das  nicht  eher  ein 
Rückschritt  als  ein  Fortschritt  zu  nennen?  Der  ungeheure  Drang 
nach  Leben  und  die  völlige  Leere  des  mühsam  errungenen  Lebens 
bilden  den  härtesten  Widerspruch.  Gierig  klammern  sich  die  Indi- 
viduen  an   das  Dasein,   zu   seiner   Festhaltung   bieten   sie    höchste 


Der  Wert  des  Lebens.  381 

Kraft  und  Leidenschaft  auf.  Aber  was  liefert  dieses  Dasein  den  Lebe- 
wesen selbst,  was  gewinnen  sie  damit,  welchen  Sinn  hat  dies  ganze 
Getriebe?  Wir  finden  darauf  keine  Antwort,  und  weil  wir  keine 
finden,  so  fühlen  wir  uns  verwirrt  und  niedergeschlagen,  sobald 
wir  die  Frage  aufs  Ganze  richten.^  Irgendwelche  Vernunft  scheint 
zu  walten,  aber  sie  scheint  gehemmt  und  gebunden,  ja  sie  scheint 
unablässig  sich  selbst  zu  durchkreuzen,  sie  scheint  in  eine  Breite 
aufgelöst,  die  sich  innerlich  nicht  zusammenfindet.  Dazu  zeigt  die 
Entwicklungslehre  uns  diesem  dunklen  Getriebe  weit  enger  verkettet, 
als  der  Vorstellung  früherer  Zeiten  gegenwärtig  war,  immer  enger 
ziehen  sich  die  Fäden  zwischen  uns  und  dem  was  unter  uns  liegt; 
nicht  nur  körperlich,  auch  seelisch  scheinen  uns  ganz  dieselben 
Kräfte  zu  beherrschen,  die  dort  das  Leben  bestimmen;  so  wird  das 
Dunkel  der  Welt  auch  zum  Dunkel  für  unser  eignes  Leben,  eine 
Notwendigkeit  drängt  und  treibt  uns,  aber  wie  weit  sie  einer  Ver- 
nunft dient,  ist  nicht  zu  ersehen. 

Nun  verbleibt  dem  Menschen  die  Wendung  von  der  Natur 
zur  Kultur,  er  kann  sich  ein  eignes  Reich  aufbauen  und  in  ihm  sich 
eine  Größe,  sowie  seinem  Leben  einen  Wert  bereiten.  Aber  auch 
hier  sieht  heute,  wer  die  Sache  ins  Ganze  faßt,  mehr  Verwicklung 
als  reinen  Gewinn.  Daß  die  Kultur  den  Einzelnen  nicht  unmittelbar 
befriedigt  und  glücklich  macht,  daran  zweifeln  wir  heute  nicht;  so 
muß  sie  ihm  etwas  über  das  Glück  hinaus  gewähren;  was  aber  dies 
sei,  das  wissen  wir  nicht.  Gewiß  wächst  unaufhörlich  unsere  Macht 
über  die  Umgebung,  sicherlich  verbessern  sich  unablässig  die  Be- 
dingungen unseres  Daseins,  Schmerz  und  Not  werden  siegreich  be- 
kämpft, Genüsse  eröffnen  sich  in  reichster  Fülle,  selbst  an  Dauer 
gewinnt  unser  Leben.  Aber  alles  zusammen  gibt  ihm  als  einem 
Ganzen  noch  keinen  Gehalt  und  Sinn;  nach  einem  solchen  zu  fragen, 
kann  aber  ein  denkendes  und  überschauendes  Wesen  nicht  lassen. 
Es  fehlt  unserer  Kultur  bei  aller  Größe  der  Leistung  jene  Konzen- 
tration des  Lebens  bei  sich  selbst,  die,  wie  wir  sahen,  dem  Menschen 
einen  festen  Halt  und  das  Bewußtsein  eines  inneren  Zusammen- 
hanges mit  dem  Ganzen  der  Wirklichkeit  gab,  die  ihm  das  Leben 
zu  einer  großen  und  aussichtsreichen  Aufgabe  gestaltete.  Damit 
aber  fehlt  uns  die  Möglichkeit,  uns  über  die  Verwicklungen  hinaus- 


^  So  mag  sich  wohl  bei  Erwägung  des  Ganzen  das  aristotelische  Wort 
aufdrängen:  r  «püm?  SatjjLovia,  aXX'  ou  ö-£(«  (463b,  14). 


382  Letzte  Probleme. 

zuheben  und  ihnen  kräftig  zu  begegnen,  die  jeder  Kultur  anhaften, 
die  aber  unsere  moderne  Kultur  in  besonderem  Maße  zeigt  Große 
Komplexe  entstehen,  die  Kräfte  verbinden  und  verweben  sich,  mit 
solchem  Zusammenschluß  befreit  sich  die  Arbeit  von  der  Zufälligkeit 
der  bloßen  Individuen  und  gewinnt  eine  Selbständigkeit;  kraft  solcher 
kann  sie  eigne  Wege  verfolgen  und  glänzende  Triumphe  feiern. 
Aber  zugleich  sinkt  der  Einzelne  immer  mehr  zu  einem  bloßen 
Mittel  und  Werkzeug,  und  je  mehr  er  das  tut,  desto  mehr  wird 
das  Ganze  der  Kultur  seiner  Seele  fremd,  desto  weniger  kann  er 
im  Wirken  für  sie  ein  geistiges  Selbst  behaupten.  So  kann  mit 
größter  Betriebsamkeit  nach  außen  hin,  mit  atemloser  Hast  des 
Lebens  eine  innere  Gleichgültigkeit  verbunden  sein  und  dem  Leben 
die  rechte  Kraft  und  Freude  fehlen.  Wird  es  doch  in  lauter  ein- 
zelne Erscheinungen  aufgelöst  und  beinahe  sich  selbst  entfremdet. 
Auch  das  ist  schwer  zu  vermeiden,  daß,  wo  der  Kultur  eine  be- 
herrschende und  bewegende  Seele  fehlt,  das  Kleinmenschliche,  das 
alle  Kulturentwicklung  begleitet,  besonders  aufwuchert  und  besonders 
stark  zur  Empfindung  kommt:  die  Verquickung  alles  Strebens  mit 
kleinmenschlichen  Zwecken,  die  durchgängige  Unwahrhaftigkeit  des 
gewöhnlichen  Betriebes,  der  hohe  Ziele  verkündet,  zugleich  aber 
die  Handelnden  in  erster  Linie  ihr  eignes  Wohl  verfolgen  lehrt; 
dazu  die  vielfache  Eitelkeit,  die  allen  Erfolg  zum  Preise  des  kleinen 
Ich  verkehrt;  alles  das  braucht  nur  ins  Ganze  gefaßt  zu  werden, 
und  es  kann  uns  eine  starke  Unlust  an  diesem  Ganzen  befallen; 
wir  haben  das  Gefühl,  hier  Mächten  gegenüberzustehen,  denen  wir 
das  Feld  unmöglich  überlassen  dürfen,  und  denen  gegenüber  wir 
doch  nichts  rechtes  vermögen.  Auch  der  Fortschrittsgedanke,  der 
zeitweilig  eine  Hülfe  zu  bieten  schien,  verblaßt  uns  bei  diesen  Pro- 
blemen mehr  und  mehr;  denn  augenscheinlich  reicht  der  Fortschritt 
nicht  in  diese  elementaren  Verhältnisse  hinein;  allem  Aufstreben 
scheinen  hier  natürliche  Triebe  und  Leidenschaften  eine  Grenze  zu 
setzen,  die  wir  doch  als  Schranke  peinlich  zu  empfinden  nicht  auf- 
hören können.  So  läßt  sich  nicht  sagen,  daß  der  Mensch  der 
Gegenwart  in  der  Kultur  einen  genügenden  Sinn  und  Wert  seines 
Lebens  findet,  und  daß  ihn  die  Arbeit  für  sie  über  die  Zweifel  und 
Nöte  des  Daseins  sicher  hinaushebt 

Die  Kultur  bildet  nicht  die  äußerste  Grenze  menschlichen 
Strebens.  In  kühnem  Aufschwung  kann  der  Mensch  sich  über  ihr 
ganzes  Gebiet  erheben,  sich  auf  seine  eigne  Innerlichkeit  stellen,  in 


Der  Wert  des  Lebens.  383 

Ausbildung  weltumspannender  Persönlichkeit  jenem  ganzen  Gewirr 
und  Schein  überlegen  werden,  von  dort  aus  ein  unmittelbares  Verhältnis 
zur  Wirklichkeit  suchen.  Das  haben  mit  bewußtem  Streben  zuerst  die 
Stoiker  unternommen,  von  ihnen  zieht  diese  Denkweise  sich  als  ein 
bleibender  Typus  durch  die  weitere  Geschichte,  sie  hat  besonders 
in  der  Aufklärungszeit  stark  auf  die  Seelen  gewirkt.  In  anderer 
Weise  sucht  die  Religion  durch  die  Entwicklung  eines  unmittelbaren 
Verhältnisses  zu  Gott  den  Menschen  über  alle  Verwicklungen  des 
nächsten  Daseins  hinauszuheben.  Wir  wollen  hier  nicht  erörtern, 
ob  die  dabei  empfohlene  Ablösung  von  der  Welt  und  Zurück- 
ziehung in  die  eigne  Seele  mit  ihrer  Spaltung  des  Daseins  nicht 
Gefahren  und  Schranken  hat,  wir  fragen  nur,  ob  uns  heute  dieser 
Weg  zu  betreten  möglich  ist  Jene  Ablösung  von  der  sichtbaren 
Welt  und  vom  Kreise  des  Menschen  verlangt,  um  nicht  ins  Leere 
zu  fallen,  den  sicheren  Besitz  einer  Innenwelt,  und  ein  solcher  kann 
nur  aus  einem  unmittelbaren  Verhältnis  zu  einer  überlegenen  Macht, 
möge  sie  als  Gottheit,  möge  sie  als  Weltvemunft  vorgestellt  werden, 
hervorgehen.  Dem  modernen  Menschen  aber  ist  alle  Wirklichkeit  einer 
solchen  Macht  unsicher  geworden.  So  hat  bei  ihm  auch  eine  selb- 
ständige Innenwelt  keinen  festen  Grund,  und  er  verliert  damit 
die  Möglichkeit  eines  Selbständigwerdens  gegen  die  sichtbare  Welt 
und  das  menschliche  Getriebe.  Das  Sichgroßfühlen  der  Persönlich- 
keit wird  mit  solchem  Schwinden  des  Grundes  zu  einem  eitlen 
Dünkel  und  zu  einer  leeren  Phrase;  was  hat  denn  der  Mensch  ohne 
ein  Reich  selbstwüchsiger  Innerlichkeit  der  Welt  entgegenzusetzen, 
die  mit  überwältigender  Macht  ihn  umklammert?  Ja  die  besondere 
Art  der  modernen  Kultur  steigert  noch  das  Gefühl  der  Abhängig- 
keit, indem  sie  den  Menschen  in  seiner  Arbeit  in  wachsendem  Maße 
an  seine  Umgebung  bindet,  ihn  immer  mehr  auf  ein  Wirken  und 
Schaffen  in  Reih  und  Glied  verweist  Wo  aber  das  Vermögen  des 
Einzelnen  als  engbegrenzt  und  gering  erscheint,  da  muß  zugleich 
der  Antrieb  zu  eignem  Beginnen  sinken;  dazu  stellt  bei  mattem 
Seelenstande  unsere  eigne  Meinung  uns  oft  noch  abhängiger  dar, 
als  wir  es  in  Wahrheit  sind,  wir  neigen  dahin,  überall  Anschluß  an 
andere  zu  suchen,  unser  Wollen  dadurch  bestätigen  zu  lassen,  nur 
das  gibt  uns  ein  Gefühl  der  Sicherheit;  auch  erwarten  wir  vieles 
vom  Vermögen  gemeinsamer  Einrichtungen,  wo  die  Hauptsache 
bei  der  Gesinnung  des  Einzelnen  liegt,  kurz  wir  drücken  die 
Energie  des  Lebens  ohne  zwingende  Not  herab.   Ist  bei  Überwiegen 


384  Letzte  Probleme. 

solcher  Gesinnung   von    einem  Aufruf  zur  Selbständigkeit  viel    zu 
hoffen  ?i 

So  ist  der  Anblick  des  Ganzen  wenig  erfreulich.  Ein  undurch- 
sichtiges Reich  der  Natur  umschließt  und  beherrscht  uns,  ein  Reich 
der  Kultur  strebt  darüber  hinaus,  aber  es  fällt  unter  den  Gegensatz 
seelenloser  Arbeit  und  kleinmenschlicher  Subjektivität  und  befriedigt 
daher  unser  Glücksverlangen  nicht,  gesteigerte  Anspannung  geistiger 
Kraft  möchte  uns  darüber  erheben  und  uns  einen  sicheren  Grund 
im  eignen  Wesen  geben,  aber  dem  Wunsche  entspricht  nicht  das 
Vermögen,  und  der  Versuch  der  Befreiung  läßt  unsere  Bindung  nur 
noch  stärker  empfinden.  Die  unsägliche  Mühe  und  Arbeit  ver- 
wandelt sich  uns  nicht  in  einen  reinen  Ertrag,  ja  sie  scheint  alles 
Sinnes  zu  entbehren;  was  in  der  Erfahrung  des  Lebens  besonders 
schmerzlich  berührt:  innerlich  Überlegenes  von  Niederem  abhängig 
zu  sehen,  das  scheint  die  Gesamtgestaltung  unseres  Daseins  uns  auf- 
zuerlegen. Denn  wohl  regt  sich  in  ihm  aufsteigende  Kraft,  das 
Leben  dringt  vor  und  neue  Ausblicke  tun  sich  auf.  Aber  das  Neue 
und  Aufstrebende  gelangt  nicht  zur  Selbständigkeit,  es  bleibt  an 
eben  das  gebunden,  worüber  es  hinaus  will,  oft  wird  es  dadurch  zurück- 
gezogen und  in  seinem  Wirken  gelähmt.  Ist  es  ein  Wunder,  wenn 
bei  Erfahrung  dessen,  namentlich  v/enn  diese  Lage  als  unveränder- 
lich gilt,  eben  den  tieferen  Seelen  der  Lebensmut  schwindet,  und 
ein  trüber  Pessimismus  um  sich  greift?  Wir  hören  ja  heute  viel  von 
Lebensbejahung  reden,  ja  Hymnen  auf  das  Leben  singen,  aber  es 


*  Jenen  Mangel  an  Selbstvertrauen,  jenes  Hoffen  und  Karren  auf  andere 
schildert  vorirefflich  ein  Artikel  im  Spectator  über  English  Pessimism  (11.  Aug. 
1906);  es  heißt  dort  S.  190:  If  we  were  to  suggest  the  spirit  which,  when 
we  try  to  correct  our  pessimism,  would  be  most  efficacious;  it  would  be  an 
increase  in  individual  self-reliance.  We  are  not  beaten  in  public  affairs  as 
we  imagine  we  are,  and  there  is  no  necessity  in  carrying  out  our  works  of 
philanthropy  for  relying  so  entirely  upon  associations.  We  establish  far  too 
many  societies.  Everybody  seems  too  feel  that  before  he  can  do  anything 
he  needs  the  protection  of  a  crowd.  He  cannot  even  denounce  or  defend 
motor-cars  unless  hundreds  will  join  him  to  protect  him  from  the  conse- 
quences  of  thinking  independently.  The  result  is  that  every  one  who  wants 
to  do  something  good  devotes  to  it  some  fraction  of  his  mind,  some  little 
Chip  of  his  energy,  and  that  the  slrength  which  we  would  derive  from  the 
strong  will  of  a  leader  is  seldom  or  nfever  present.  We  develop  some  new 
and  small  group,  not  a  Loyola  or  a  Wesley.  This,  always  the  danger  of 
democracy,  is  the  danger  also  of  the  mental  processes  of  our  time,  and  de- 
prives  us  first  and  foremost  of  all  help  from  mdividual  genius. 


Der  Wert  des  Lebens.  385 

gehört  das  zu  den  vielen,  innerlich  hohlen  Schaustücken  der  Zeit- 
oberfläche, es  ist  das  eine  erkünstelte  Lebensbejahung,  die  dem  Grunde 
der  Seele  fremd  bleibt,  es  ist  wie  ein  Rausch,  der  ein  unbefriedigen- 
des Dasein  zeitweilig  vergessen  machen  soll.  Ein  derartiges  Schein- 
wesen kann  dem  Pessimismus  kaum  etwas  anhaben. 

Aber  jede  eingehendere  Erwägung  des  Pessimismus  zeigt,  daß 
er  in  sich  selbst  einen  Widerspruch  trägt,  daß  sich  daher  unmöglich 
mit  ihm  abschließen  läßt  Ein  wahrhaftiger  Schmerz  kann  nur  ent- 
stehen, wo  es  etwas  wertvolles  zu  verlieren  gibt;  wo  alles  nichtig  und 
gleichgültig  wäre,  da  könnte  auch  die  Versagung  oder  der  Verlust  in 
keiner  Weise  erregen.  Das  ausgehende  Altertum  und  mit  ihm  das 
alte  Christentum  verfochten  die  Lehre,  daß  das  Böse  keine  selb- 
ständige Wirklichkeit,  sondern  nur  die  Wegnahme  eines  Guten  sei, 
wie  z.  B.  erblinden  nur  könne,  wer  von  Natur  das  Augenlicht  besitzt; 
sie  schöpften  daraus  die  Überzeugung  von  einem  sicheren  Über- 
wiegen des  Guten. ^  So  einfach  ist  nun  freilich  über  die  Klippe 
nicht  hinwegzukommen,  das  Böse  bedeutet  wohl  mehr  als  einen 
bloßen  Mangel.  Aber  richtig  ist,  daß  eine  Empfindung,  und  gar 
eine  starke  Empfindung  des  Bösen  ohne  irgendwelches  Gegengewicht 
schlechterdings  undenkbar  wäre.  »Wer  anders  findet  sich  unglück- 
lich darüber,  nicht  König  zu  sein,  als  ein  entthronter  König",  so 
meint  Pascal  gewiß  mit  Recht;  würden  z.  B.  die  Menschen  die  Ver- 
gänglichkeit der  Dinge  und  den  raschen  Flug  des  Lebens  so  un- 
ablässig beklagen,  wenn  sie  bloße  Eintagsfliegen  wären,  nicht  in  ihnen 
irgend  etwas  wirkte,  was  in  sich  die  Forderung  ewiger  Dauer  trägt? 

So  ist  inmitten  aller  Bedrängnisse  der  Zeit  die  tiefe  Empfindung 
dieser  Bedrängnisse  ein  vollgültiges  Zeugnis  dafür,  daß  der  Mensch 
in  jene  Lage  nicht  ganz  und  gar  aufgeht,  daß  sein  Wesen  etwas 
enthält,  was  ihr  Widerstand  leistet.  Könnten  wir  so  sehnlich  eine 
Befreiung  von  dem  bloßen  Kulturgetriebe  erstreben,  wenn  nicht 
etwas  an  uns  ihm  überlegen  wäre?  Könnte  uns  in  der  Kultur  der 
Mangel  innerer  Zusammenhänge  und  reiner  Sachlichkeit  so  sehr 
schmerzen,  wenn  unsere  Natur  nicht  solche  verlangte?  Könnte  das 
tiefe  Dunkel  der  Welt  unserem  Leben  zur  Einengung  werden,  wenn 
wir  nicht  auf  irgendwelchem  inneren  Verhältnis  zu  ihr  bestehen 
müßten?    Unmittelbar  mag  uns  das  alles  an  Positivem  kaum  etwas 


*  Mit  besonderem  Nachdruck  hat  Augustin  jene  Lehre  vertreten,  nament- 
lich in  dem  enchiridion  ad  Laurentium  de  fide,  spe  et  caritate.    Nach  seiner 
Bezeichnung  ist  das  Böse  nicht  causa  efficiens,  sondern  nur  causa  deficiens. 
Eucken,  Grundbeg^riffe.    4.  Aufl.  25 


386  Letzte  Probleme. 

liefern,  wohl  aber  überzeugt  es  uns,  daß  die  glatte  Verneinung  die 
Sache  nicht  erschöpft,  daß  jenseit  ihrer  manches  zu  fragen  bleibt. 
Aber  wir  dürfen  noch  einen  Schritt  weiter  gehen,  wenn  wir 
uns  das  Ganze  des  gegenwärtigen  Lebens  vor  Augen  stellen.  Auch 
wie  es  vorliegt,  geht  es  nicht  auf  in  das  Bild,  das  eine  von  der 
grenzenlosen  Ausdehnung  des  modernen  Lebens  überwältigte  Ge- 
sinnung von  ihm  entwirft;  schon  das,  was  wir  haben,  nicht  erst  er- 
streben, enthält  mehr,  als  dort  den  Blick  und  die  Schätzung  be- 
herrscht. Ein  Leben  aus  weltumspannender  Persönlichkeit  ist  uns 
mehr  als  ein  frommer  und  matter  Wunsch;  wohl  können  wir  es 
nicht  mit  Einem  Schlage  erreichen,  aber  wir  bemühen  uns  eifrig 
darum,  wir  suchen  auf,  was  solches  Streben  verstärken  könnte,  wir 
möchten  im  besondern  die  großen  Persönlichkeiten,  welche  das  ge- 
schichtliche Leben  bietet,  uns  näher  rücken  und  mit  ihnen  das  eigne 
Leben  verknüpfen;  mag  das  alles  unvollkommen  und  unfertig  sein, 
eine  Bewegung  zu  jenem  Ziele  ist  zweifellos  im  Gange. 

Noch  deutlicher  sind  die  Schranken  der  pessimistischen  Be- 
trachtung gegenüber  der  Kultur.  Es  ist  nicht  richtig,  daß  uns  heute 
nur  der  Mechanismus  der  Arbeit  verbindet  und  uns  ganz  und  gar 
zu  Stücken  seines  Räderwerkes  macht;  wir  besitzen  inmitten  alles 
Streites  auch  eine  gemeinsame  Gedankenwelt  —  ohne  eine  solche 
wäre  überhaupt  nicht  zu  streiten  — ,  uns  umfängt  mit  geistigen  In- 
halten und  Werten  eine  gemeinsame  Atmosphäre,  wir  sehen  bei 
näherer  Betrachtung  dessen  eine  innere  Weiterbildung  und  Erhöhung 
des  Menschen  durch  die  Kultur;  wir  überzeugen  uns,  daß  in  ihr 
eine  neue  Stufe  der  Wirklichkeit  aufsteigt,  daß  hier  die  Welt  aus 
einem  bloßen  Neben-  und  Gegeneinander  ein  innerer  Zusammenhang 
wird,  und  daß,  was  hier  geschieht,  über  die  Zwecke  des  bloßen 
Menschen  weit  hinausreicht.  So  läßt  sich  auch  die  Leistung  der 
Gegenwart  unmöglich  verstehen  vom  kleinen  Ich  des  Menschen  her. 
Das  gewaltige  Vordringen  der  Wissenschaft  und  das  unermüdliche 
Gestalten  der  Kunst  ist  nur  begreiflich  als  das  Werk  von  inneren 
Notwendigkeiten,  die  den  Menschen  packen  und  ins  Schaffen  treiben; 
mag  kleinmenschliche  Art  dies  Schaffen  noch  so  umspinnen,  seine 
Überlegenheit  wird  dadurch  nicht  gebrochen.  Nicht  anders  steht 
es  mit  dem  praktischen  Wirken  der  Gegenwart.  Eine  Zeit,  die  an 
Erweisung  humaner  Gesinnung  alle  früheren  Zeiten  weit  überflügelt, 
die  zugleich  das  Recht  jedes  Einzelnen  auf  Entwicklung  seiner  geistigen 
Kraft  und  auf  Teilnahme  an  den  Lebensgütern  bereitwillig  anerkennt, 


Der  Wert  des  Lebens.  387 

die  der  sozialen  Idee  so  viel  Macht  über  die  Gemüter  gfewährt,  ist 
keineswegs  ganz  und  gar  odec  auch  nur  überwiegend  vom  bloßen 
Egoismus  beherrscht.  Wir  sehen  dieses  Große  nicht  klar,  weil  wir 
die  einzelnen  Erscheinungen  nicht  kräftig  genug  in  ein  Ganzes 
fassen,  aber  es  ist  da,  wir  müssen  es  gewahren,  sobald  uns  durch 
die  trübe  Oberfläche  des  Alltags  hindurch  die  richtenden  Grundlinien 
hervorscheinen. 

Die  Anerkennung  einer  in  der  Menschheit  aufsteigenden  Geistes- 
welt verändert  aber  auch  den  Gesamtanblick  des  Alls  und  unsere 
Aufgabe  ihm  gegenüber.  Nun  bildet  die  Natur  nicht  mehr  das  Ganze 
der  Wirklichkeit,  nun  gewinnt  diese  eine  größere  Tiefe.  Denn  dar- 
über kann  kein  Zweifel  sein,  daß,  wenn  eine  solche  Wendung  zur 
Innerlichkeit  statthat,  das  Ganze  von  Haus  aus  mehr  sein  muß,  als 
es  dem  ersten  Anblick  erscheint.  Auch  die  Entwicklung  nimmt  sich 
anders  aus,  wenn  das  Geistesleben  kein  Erzeugnis  der  bloßen 
Natur  ist,  sondern  es  aus  der  Natur  nur  hervorgehen  kann,  weil 
diese  eine  tiefere  Wirklichkeit  hinter  sich  hat;  die  engere  Verbindung 
des  Menschen  mit  der  Natur  wird  dann  nicht  sowohl  ihn  herab- 
drücken als  die  Natur  erhöhen.  Solche  Wandlung  der  Grund- 
anschauung muß  auch  der  Arbeit  neue  Aufgaben  stellen.  Ist  der 
Mensch  mit  seiner  Geistigkeit  kein  bloßes,  auf  einen  Sonderkreis 
beschränktes  Einzelwesen,  sondern  wirkt  ein  Weltleben  in  ihm,  so 
tritt  auch  sein  Erkenntnisstreben  unter  günstigere  Bedingungen. 
Denn  nun  läßt  sich  fragen,  ob  sich  bei  ihm  nicht  zwischen  Echt- 
geistigem und  Kleinmenschlichem  scheiden  läßt,  und  ob  sich  von 
jenem  aus  nicht  eine  Brücke  finden  mag,  die  uns  enger  mit  der 
Welt  verbindet  und  sie  uns  mehr  zur  Heimat  macht. 

Doch  solche  Gedankengänge  lassen  sich  hier  nicht  weiter  ver- 
folgen. Hier  galt  es  nur  festzustellen,  daß  das  Weltbild  des 
Pessimismus  nicht  das  Ganze  der  Wirklichkeit  aufnimmt,  sondern 
nur  eine  gewisse  Durchsicht  bietet,  die  einer  eigentümlichen  Seelen- 
lage entspricht,  einer  Seelenlage,  die  uns  keineswegs  endgültig 
bindet.  Es  steckt  weit  mehr  in  unserer  Wirklichkeit,  als  der  Durch- 
schnitt des  Zeitlebens  uns  sehen  läßt. 

Freilich  ist  nicht  zu  bestreiten,  daß  solches  Mehr  erst  zu- 
sammengefaßt und  vollauf  angeeignet  werden  muß,  um  den  Wider- 
ständen gewachsen  zu  sein;  jenes  aber  kann  nur  geschehen,  wenn 
es  gelingt,  wieder  zu  einer  Selbstkonzentration  des  Lebens,  damit  zu 
einem  ausgeprägteren   Charakter    und    zugleich   zu   einem   aktiveren 

25' 


388  Letzte  Probleme. 

Verhalten  zur  Wirklichkeit  zu  gelangen.*  Mit  einer  Wendung  des 
bekannten  Dürerschen  Wortes  könnten  wir  sagen:  «Die  Vernunft 
steckt  in  der  Wirklichkeit;  wer  sie  herausreißt,  der  hat  sie."  Aber 
wir  können  sie  nicht  herausreißen,  bevor  sich  uns  selbst  das  Leben 
zusammenschließt  und  sich  damit  unsere  inneren  Organe  weiter- 
bilden. 

Es  kann  sich  uns  aber  unmöglich  das  Positive  in  Leben  und 
Wirklichkeit  zusammenschließen,  ohne  daß  sich  uns  das  Dasein  zer- 
legt, Licht  und  Dunkel  sich  schärfer  scheiden,  sich  das  ganze  Leben 
des  Menschen  wie  der  Menschheit  in  eine  durchgehende  Aufgabe 
verwandelt.  So  verschwindet  mit  dieser  Wendung  die  Unvernunft 
keineswegs,  wohl  aber  gewinnen  wir  die  Möglichkeit,  ihr  innerlich 
überlegen  zu  werden  und  damit  ihrem  lähmenden  Druck  zu 
entrinnen.  Woher  der  Widerstand  stamme,  woher  die  Herab- 
ziehung des  Höheren  zum  Niedern,  woher  die  scheinbare  Gleich- 
gültigkeit des  Weltlaufs  gegen  das,  was  er  selbst  als  Ziel  hervor- 
zubringen scheint,  das  können  wir  Menschen  unmöglich  enträtseln; 
die  Philosophie  wie  die  Religion  haben  das  Problem  beim  Versuch 
einer  Lösung  nur  immer  weiter  verwickelt.  So  muß  uns  genügen  und 
kann  uns  genügen,  daß  bedeutendes  bei  uns  vorgeht,  und  daß  wir 
nicht  als  tatenlose  Zuschauer  das  Weltgeschick  über  uns  ergehen 
lassen  müssen,  sondern  daß  wir  uns  auf  die  Seite  der  Vernunft  zu 
stellen  und  zu  ihrer  Förderung  zu  wirken  vermögen.  Damit  be- 
kommt das  Wort  von  Vauvenargues  ein  gewisses  Recht:  «Die 
Welt  ist,  was  sie  für  ein  tätiges  Wesen  sein  muß,  voll  von  Hinder- 
nissen." Je  mehr  wir  uns  wieder  einer  vollen  Lebenssynthese  nähern, 
desto  mehr  läßt  sich  auch  der  Lebensmut  wiedergewinnen,  desto  mehr 
wird  uns  das  innere  Gefüge  des  Lebens  selbst  einen  sicheren  Halt 
gegen  die  Unvernunft  des  Daseins  gewähren. 

Wenn  so  unsere  Zeit  mit  der  Ergreifung  tieferer  Zusammen- 
hänge der  Wirklichkeit  wieder  zu  einer  positiven  Schätzung  des 
Daseins  zurückkehren  muß,  so  bleibt  dabei  aller  Optimismus,  alle 
Abschwächung  des  Dunkels  fern;  wir  müssen  im  besondern  eine 
nicht  geringe  Differenz  zwischen  der  hier  gewonnenen  Lebensstimmung 
und  derjenigen  anerkennen,  welche  die  Höhe  unserer  klassischen 
Literatur  beherrschte.      Dort  schien  die  Welt  ein  Reich  ungetrübter 

^  Daß  der  von  uns  geforderte  Aktivismus  keineswegs  mit  der  Wendung 
zur  praktischen  Vernunft  oder  gar  zur  moralischen  Betätigung  zusammen- 
fällt, kam  schon  oben  zur  Sprache. 


Der  Wert  des  Lebens.  339 

Vernunft  zu  bilden,  der  Mensch  aber  die  Höhe  seines  Lebens  in  der 
künstlerischen  Anschauung  oder  im  denkenden  Begreifen  der  Welt- 
harmonie zu  finden;  die  Hauptaufgabe  der  Menschheit  war  hier,  zu 
voller  Bewußtheit  zu  bringen,  was  uns  mit  unbewußtem  Wirken  von 
allen  Seiten  umfängt.  Uns  Neueren  haben  sich  in  der  Natur  wie 
im  menschlichen  Leben  die  Probleme  viel  zu  sehr  verschärft,  als 
daß  wir  so  rasch  einen  Abschluß  wagen  und  aus  dem  Kampf 
heraustreten  dürften.  Aber  wenn  wir  mit  solcher  Erschwerung  des 
Daseins  vieles  verloren  haben,  wir  haben  eines  gewonnen,  das  alle 
Verluste  mehr  als  aufwiegt:  wir  dürfen  selbst  zur  Förderung  des 
Ganzen  wirken,  weit  mehr  sind  wir  aus  Zuschauern  zu  Mitarbeitern 
am  großen  All  geworden. 


2.  Das  Problem  der  Religion. 

(Immanenz  —  Transzendenz.) 

I  |ie  Behandlung  des  Gegensatzes  von  Immanenz  und  Transzen- 
*-^  denz  könnte  zur  Aufrollung  des  gesamten  religiösen  Problemes 
führen;  sie  soll  es  um  so  weniger,  als  wir  uns  über  dies  neuerdings 
wiederholt  geäußert  haben ;i  so  sei  nur  das  der  Gegenwart  eigen- 
tümliche Verhalten  zu  diesem  Problem  in  Kürze  erörtert.  Auch 
hier  mag  das  Wort  uns  zur  Sache  leiten. 

a)  Zur  Geschichte  der  Ausdrücke. 

Die  jetzt  übliche  Zusammenstellung  von  immanent  und  trans- 
zendent reicht  nicht  hinter  Kant  zurück.^  Bis  dahin  standen  ein- 
ander immanens  (auch  permanens)  und  transiens  gegenüber;  seit 
dem  13.  Jahrhundert  nannte  man  eine  Handlung  oder  eine  Ursache 
immanent,  sofern  sie  innerhalb  des  wirkenden  Subjekts  verbleibt, 
transeunt,  sofern  sie  darüber  hinaus  auf  etwas  anderes  geht.^  So 
ist  das  berühmte  Wort  Spinozas  zu  verstehen,  daß  Gott  die  imma- 


^  S.  „Der  Wahrheitsgehalt  der  Religion",  2.  Aufl.  1905,  »Hauptprobleme 
der  Religionsphilosophie  der  Gegenwart",  1907. 

"^  S.  z.  B.  III,  245  (Hart.):  „Wir  wollen  die  Grundsätze,  deren  Anwen- 
dung sich  ganz  und  gar  in  den  Schranken  möglicher  Erfahrung  hält,  imma- 
nente, diejenigen  aber,  welche  diese  Grenzen  überfliegen  sollten,  transzendente 
Grundsätze  nennen." 

^  So  unterscheidet  z.  B.  Thomas  v.  Aquino  eine  actio  manens  und  actio 
transiens;  s.  Thomaslexikon  von  Schütz  unter  actio:  duplex  est  actio,  una 
quae  transit  in  exteriorem  materiam,  ut  calefacere  et  secare,  alia,  quae  manet 
in  agente,  ut  intelligere,  sentire  et  velle.  Das  erstreckt  sich  bis  in  die  Neuzeit. 
Clauberg  (op.  omn.  1691,  S.  322)  gibt  der  Sache  die  Fassung:  si  ipsius  rei, 
quae  dicitur  agere,  Status  mutetur,  est  actio  immanens,  sin  alterius,  est  actio 
transiens.  Es  stammt  aber  diese  Unterscheidung,  wie  der  gesamte  Grund- 
stock der  scholastischen  Terminologie,  von  Aristoteles.  S.  z.  B.  Met.  1050a,  24: 
TtTv  [i£v  eoyaTov  r\  y^r'jii,  oTov  oJ/ew?  ri  opaat;,  xa\  ouO'kv  yiYvexat  jrapa  Tau"n)v 
£T£pov  aKo  T^;  o'ieo)«;  epyov,  aTi'Evi'wv  8e  Yt^vexai  Tt,  o!ov  axo  xf?  o?xo5o[itxf? 
ot/.t'a  napa  x;^v  oiy.oo6[xri^v/.    In  soIcher  Unterscheidung  eines  Tuns,  das  gegen 


Das  Problem  der  Religion.  39I 

nente,  nicht  aber  die  transeunte  Ursache  aller  Dinge  sei.^  Es 
bedeutet,  daß  Gott  nicht  aus  sich  selbst  heraustritt,  wenn  er  zu  den 
Dingen  wirkt,  sondern  daß  er  dabei  bei  sich  selbst  verbleibt,  die 
Welt  also  in  sich  trägt.  Demnach  ist  hier  nicht  sowohl  Gott  in 
der  Welt  als  die  Welt  in  Gott.  Neu  .gegenüber  der  Scholastik  ist 
dabei  nur  die  Ausschließiichkeit  der  Immanenz,  ein  immanentes 
Wirken  neben  dem  transeunten  hat  auch  jene  bereitwillig  aner- 
kannt -  Einen  anderen  Ausgangspunkt  hat  transzendent  und  trans- 
zendental. Transzendent  (transzendentia)  hießen  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Mittelalters  die  allgemeinsten  Eigenschaften  der  Dinge, 
welche  nach  neuplatonischer  Lehre  jenseit  der  einzelnen  Kategorien 
liegen. 2  Von  hier  aus  ergab  sich  leicht  eine  Beziehung  auf  Gott 
als  das  allen  menschlichen  Begriffen  überlegene  Sein;  so  wirkt  der 
Sprachgebrauch  auch  bis  in  die  Neuzeit.^  Kant  hat  dann  transzendent 
und  transzendental  geschieden  und  unter  Umprägung  der  Bedeutung 
zu  "V^erkzeugen  seiner  eigentümlichen  Denkweise  gemacht.* 


sich  selbst  und  eines  anderen,  das  auf  die  Hervorbringung  eines  Werkes  ge- 
richtet ist,  begründet  sich  das  deutliche  Auseinandertreten  von  praktischer 
und  künstlerischer  Wirksamkeit.  Für  den  Ausdruck  Immanenz  sei  noch  die 
von  Heman  (Kantstudien  VIII,  1,  S.  58)  angeführte  Stelle  des  Augustin  er- 
wähnt (epist.  268  ad  Nebr.):  In  se  habeat  haec  tria  et  prae  se  gerat,  primo 
ut  sit,  deinde  ut  hoc  vel  illud  sit,  tertio,  ut  in  eo  quod  est  maneat,  quantum 
potest.  Primum  illud  causam  ipsam  naturae  ostentat,  ex  qua  sunt  omnia. 
Alterum  speciem,  per  quam  fabricantur  et  quodammodo  formantur  omnia. 
Tertium  manentiam  quandam,  ut  ita  dicam,  in  qua  omnia  sunt. 

^  Ethic.  pars  I,  prop.  XVIII:  deus  est  omnium  rerum  causa  immanens, 
non  vero  transiens.  In  der  Begründung  heißt  es:  om.nia  quae  sunt  in  deo 
sunt  et  per  deum  concipi  debent,  adeoque  deus  rerum,  quae  in  ipso  sunt, 
est  causa. 

'  Als  solche  gelten  auf  Grund  der  Schrift  de  causis  zuerst  die  vier  Be- 
griffe ens,  unum,  verum,  bonum,  später  außerdem  res  und  aliquid;  so  sprach 
man  von  einer  unitas,  veritas  transcendentalis  u.  s.  w. 

'  S.  z.  B.  Bayle  oeuv  div.  (Haag  1727)  III,  871a:  Si  l'Origeniste  repond 
que  les  vertus  de  Dieu  sont  transcendentelles,  qu'elles  ne  peuvent  point  etre 
dans  la  meme  categorie  que  Celles  de  l'homme.  Transzendental  im  älteren 
Sinne  verwenden  noch  Ch.  Wolff  und  Lessing.  Lambert  nennt  transzendente 
Begriffe  solche,  die  „das  Allgemeine  der  Körper-  und  Geisterwelt  zusammen- 
nehmen". 

*  Über  transzendent  s.  0.,  über  transzendental  sagt  er  (Kritik  d.  r.  V.  III,  49) : 
»Ich  nenne  alle  Erkenntnis  transzendental,  die  sich  nicht  sowohl  mit  Gegen- 
ständen, sondern  mit  unserer  Erkenntnis  von  Gegenständen  sofern  diese 
a  priori  möglich  sein  soll,  überhaupt  beschäftigt." 


392  Letzte  Probleme, 

b)  Die  Bewegung  der  Neuzeit  zur  Immanenz. 

Der  Gesamtverlauf  der  Neuzeit  zeigt  einen  Zug  zur  Immanenz, 
dessen  Eigentümlichkeit  durch  eine  Vergleichung  mit  der  Haupt- 
bewegung der  griechischen  Kultur  besonders  deutlich  erhellt.  Das 
Griechentum  wurde  durch  die  Erfahrungen  seiner  Arbeit  immer 
weiter  über  die  sinnliche  Welt  hinausgetrieben.  Von  der  Außenwelt, 
von  der  die  Forschung  begann,  verlegte  sich  ihr  der  Schwerpunkt 
schrittweise  zurück  in  die  Innenwelt,  bis  in  der  abschließenden 
religiösen  Gestaltung  der  Wirklichkeit  bei  Plotin  die  nächste  Welt 
zum  bloßen  Gleichnis  einer  unsichtbaren  wurde.  Die  Neuzeit  ver- 
folgt die  gerade  entgegengesetzte  Richtung.  Galt  im  Mittelalter  der 
religiösen  Überzeugung  das  Jenseits  als  das  wahre  Vaterland  und 
gab  nur  die  Beziehung  darauf  dem  Diesseits  einen  Wert,  so  beginnt 
die  Neuzeit  mit  dem  Verlangen,  das  Wirken  des  Göttlichen  mehr 
innerhalb  der  Welt  aufzusuchen,  ja  diese  als  einen  Ausdruck  und 
Abglanz  des  göttlichen  Wesens  zu  verstehen.  Das  ergibt  zunächst 
einen  Panentheismus,  das  Bekenntnis  der  edelsten  Geister  der  Re- 
naissance. Bald  aber  verschiebt  sich  das  weiter  dahin,  daß  mehr 
und  mehr  die  Welt  zur  Hauptsache  wird,  daß  die  Gottesidee  mehr 
dahin  wirkt,  ihr  eine  größere  Tiefe  zu  geben  als  eine  neue  Wirk- 
lichkeit zu  eröffnen.  So  der  Pantheismus  eines  Giordano  Bruno 
und  eines  Spinoza.  Er  hat  die  klassische  Zeit  der  deutschen  Lite- 
ratur überwältigend  angezogen,  indem  er  alle  Gegensätze  zu  über- 
brücken, im  besondern  die  weiteste  und  freieste  Behandlung  der 
sichtbaren  Welt  mit  aufrichtiger  Anerkennung  einer  unsichtbaren  zu 
verbinden  versprach.  Solche  pantheistische  Denkweise  ist  auch  im 
19.  Jahrhundert  keineswegs  erloschen;  aber  wo  dies  seine  eigentüm- 
liche Art  vollauf  entfaltet,  da  neigt  es  weit  mehr,  wenn  nicht  zum 
Atheismus,  so  doch  zu  einem  Agnostizismus,^  einer  Ablehnung  aller 
transzendenten    Fragen    als    schlechterdings    unlösbarer    Probleme. 


*  Über  den  Ursprung  des  Ausdrucks  berichtet  genau  R.  Flint  in  seinem 
hervorragenden  Werke  Agnosticism  (1903).  Der  Schöpfer  des  Wortes  agnostic, 
aus  dem  dann  bald  agnosticism  hervorging,  ist  Huxley.  „According  to  Mr. 
R.  S.  Hutton  this  latter  word  (d.  h.  agnostic)  was  suggested  by  Professor 
Huxley,  at  a  party  held  previous  to  the  now  defunct  Metaphysical  Society, 
at  iVlr.  James  Knowles's  house  on  Clapham  Common,  one  evening  in  1869, 
in  my  Hearing.  He  took  it  from  St.  Paul 's  mention  of  the  altar  to  ,the 
unknown  God'"  (s.  Hint,  S.  Iff.). 


Das  Problem  der  Religion.  393 

Praktisch  ergibt  das  eine  wie  das  andere  eine  Ausscheidung  der 
Religion  aus  dem  Leben.  War  also  das  Göttliche  zuerst  unserem 
Dasein  angenähert,  dann  als  beseelende  Kraft  ihm  aufs  engste  ver- 
bunden, so  verschwindet  es  schließlich  gänzlich  oder  wird  zu  einer 
unzugänglichen  Ferne;  so  ist  die  Religion  dem  modernen  Menschen 
aus  der  allesbeherrschenden  Macht  zu  einer  Nebensache,  ja  zu 
einer  bloßen  Illusion  gesunken,  und  es  hat  die  unmittelbar  gegen- 
wärtige Welt  immer  ausschließlicher  alles  Sinnen  und  Denken  an 
sich  gezogen.  Natürlich  fehlte  und  fehlt  es  nicht  an  Widerständen 
gegen  eine  solche  Bewegung,  schon  deshalb  nicht,  weil  jede  frühere 
Phase  sich  gegen  die  späteren  behauptet;  aufgehalten  aber  haben 
sie  jene  nicht. 

So  tiefgehende  Wandlungen  bloß  dem  Unglauben  und  bösen 
Willen  der  Individuen  schuldgeben  kann  nur  eine  flache  Denkweise; 
sicherlich  hatte  die  Sache  tiefere  Gründe  in  den  allgemeinen  Verhält- 
nissen, Gründe,  die  unbefangen  gewürdigt  sein  wollen.  —  Die  ältere 
Art  der  Religion  stieß  zunächst  mit  einem  wesentlich  veränderten  Lebens- 
gefühle der  Menschheit  hart  zusammen.  Sie  entsprach  einer  Zeit, 
wo  aller  Lebensmut,  aller  Glaube  an  eine  irdische  Zukunft  ge- 
brochen war,  und  wo  man  zur  Religion  seine  Zuflucht  nahm,  um 
dort  Ruhe,  Frieden  und  Sicherheit  zu  finden.  Nun  aber  hatten 
lange  Jahrhunderte  bei  jugendfrischen  Völkern  einen  neuen  Lebens- 
mut erzeugt;  ein  solcher  wollte  nicht  sowohl  Ruhe  als  Betätigung, 
nicht  sowohl  ein  sicheres  Geborgensein  als  Wagnis,  Gefahr  und 
Kampf;  er  konnte  die  Welt  nicht  verschmähen,  ihn  trieb  es  mächtig 
in  sie  hinein,  um  seine  Kraft  an  ihr  zu  erproben  und  durch  sie  zu 
steigern.  Zu  solcher  Wandlung  der  Grundstimmung  kamen  die 
Erfolge  einer  Arbeit,  die  ihr  entsprach  und  zu  ihrer  Verstärkung 
wirkte.  Nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  ist  die  sinnlich- 
nächste Welt  dem  Menschen  bedeutender  geworden,  hat  sie  ihm  sich 
tiefer  erschlossen  und  zugleich  einen  engeren  Zusammenhang  bei 
sich  selbst  gefunden,  hat  sie  sein  Handeln  stärker  bewegt  und  zu 
größeren  Leistungen  geführt.  Die  Wissenschaft  zeigt  die  Natur  unter 
allgemeinen  Gesetzen  und  in  festen  Zusammenhängen,  sie  entfernt 
auch  aus  der  Geschichte  das  Wunderbare  und  versteht  sie  aus  ihren 
eignen  Verkettungen.  Das  gesellschaftliche  Zusammensein  der  Mensch- 
heit nimmt  mehr  geistige  Aufgaben  an  sich  und  sucht  mit  Ein- 
setzung gewaltiger  Kraft  aus  unserm  Dasein  ein  Reich  der  Vernunft 
zu  machen.    Alles  zusammen  hat  diese  Welt  mehr  als  je  zuvor  dem 


394  Letzte  Probleme. 

Menschen  auch  geistig  zur  Heimat  gemacht.  Zugleich  aber  wird 
seine  Sonderstellung  aufs  ärgste  bedroht.  Je  größer  und  selb- 
ständiger nämlich  die  Welt  wird,  je  mehr  sie  durch  alles  Wirken 
und  Walten  eigne  Gesetze  erweist,  desto  kleiner,  desto  verschwinden- 
der wird  ihr  gegenüber  der  Mensch.  Bei  solcher  Kleinheit  können 
unmöglich  die  ihm  eigentümlichen  Größen  die  Wirklichkeit  fassen 
und  seelisch  nahebringen.  Rückt  so  die  Welt  bei  aller  äußeren 
Annäherung  innerlich  in  weite  Ferne,  so  entfällt  alles  innere  Ver- 
hältnis zu  ihren  Gründen,  so  droht  alle  Religion  ein  bloßer  Anthro- 
pomorphismus  zu  werden  und  zur  Mythologie  zu  sinken.  Auch 
wo  die  Religion  sich  behauptet,  rückt  sie  leicht  aus  dem  Zentrum 
des  Lebens  in  seine  Peripherie,  und  wird  sie  aus  einer  natürlichen, 
beinahe  selbstverständlichen  Überzeugung  zu  einer  kühnen,  mühsam 
haltbaren  Behauptung.  So  ist  es  kein  Wunder,  daß  die  Stimmen 
derer,  die  alles  Überschreiten  der  Erfahrung  verwerfen  und  alle  Auf- 
gaben «immanent"  fassen  wollen,  sich  immer  lauter  erheben  und 
ein  wachsendes  Echo  finden;  nie  dürfte  die  Verneinung  der  Religion 
so  in  die  Massen  gedrungen  sein,  nie  so  viel  Antipathie  gegen  sie 
gewaltet  haben,  wie  es  heute  der  Fall  ist  Mag  der  eine  in  ihr 
mehr  eine  Hemmung  klarer  Einsicht,  der  andere  eine  Lähmung  der 
Tatkraft,  der  dritte  eine  Unterdrückung  freudigen  Lebensgefühls  er- 
blicken: hier  wie  dort  dünkt  sie  ein  verderblicher  Wahn,  der  mit 
allen  Kräften  auszutreiben  sei.  Ist  das  der  endgültige  Abschluß  des 
alten  Problems,  oder  ist  es  eine  bloße  Woge  der  Zeit,  die  vorbeigehen 
und  vielleicht  das  gerade  Gegenteil  der  eignen  Absicht  bewirken  wird? 

c)  Die  Verwicklungen  im  Begriffe  der  Immanenz. 

Ihre  Stärke  hat  die  Bewegung  gegen  die  Religion  vornehmlich 
im  Angriff;  sobald  sie  ihr  eignes  Vermögen  zeigen  und  von  sich 
aus  das  Leben  gestalten  soll,  erscheinen  Verwicklungen  über  Ver- 
wicklungen. Erschreckend  dürftig  pflegt  zu  sein,  was  als  Ersatz  der 
Religion  geboten  wird,  und  selbst  dies  Dürftige  ist  zum  guten  Teil 
auf  fremdem  Boden  gewachsen  und  von  dort  aus  zugeführt.  Die 
«immanente"  Lebensführung  und  Weltanschauung  pflegt  keineswegs 
aus  reiner  Erfahrung  zu  schöpfen,  sondern  sie  idealisiert  diese  un- 
vermerkt, sie  mischt  ihr  etwas  bei,  was  einer  ganz  anderen,  nämlich 
der  pantheistischen  Denkweise  angehört;  ein  Pantheismus  verblaßter 
Gestalt  hat  sich  der  einzelnen  Gebiete  bemächtigt  und  gilt  dort 
als  selbstverständlich.     Er  pflegt  dabei   kein   offenes  Bekenntnis  zu 


Das  Problem  der  Religion.  395 

wagen,  sondern  seine  Erhöhung  der  Dinge  eher  zu  verstecken,  er  ist 
mit  solcher  Unklarheit  gegenüber  dem  Pantheismus  eines  Spinoza  und 
eines  Goethe  ein  unechter  und  schlechter  Pantheismus.  Ein  solcher 
schlechter  Pantheismus  erscheint  in  einer  monistischen  Naturphilo- 
sophie, welche  unbedenklich  die  Natur  beseelt  und  als  einen  hohen 
Wertbegriff  behandelt;  er  erscheint  in  einer  Geschichtsphilosophie, 
welche  bloße  Massenbewegungen  Vernunft  erzeugen  läßt  und  eine 
Evolution  zur  Vernunft  verkündet,  obwohl  dieser  Begriff  in  ihrer  Ge- 
dankenwelt keinerlei  Grundlage  hat;  er  erscheint  in  politischsozialen 
Bewegungen,  die  den  Menschen  wie  er  leibt  und  lebt  als  edel  und 
groß  behandeln.  Überall  ein  verstecktes  Idealisieren  der  Erfahrung, 
zugleich  aber  ein  Abschleifen  der  Gegensätze,  ein  Verkümmern  der 
eigentümlich  geistigen  Art,  ein  Einschläfern  aller  Selbsttätigkeit. 

Auch  wissenschaftlich  angesehen  ist  der  Begriff  der  Immanenz 
nicht  so  einfach  wie  er  sich  zu  geben  pflegt.  Was  ist  denn  die 
nächste  Wirklichkeit,  die  uns  ganz  und  gar  einnehmen  soll,  was  ist 
wirklich  an  uns  selbst?  Ist  es  der  unmittelbare  Befund  des  Neben- 
einander, wenn  er  völlig  rein  herausgestellt  wird?  Dann  müßten 
wir  uns  in  einen  Haufen,  ein  Bündel  einzelner  Empfindungen  auflösen; 
das  aber  geht  aus  dem  einfachen  Grunde  nicht,  weil  es  freischwebende 
Empfindungen  überhaupt  nicht  gibt,  sondern  immer  nur  Empfind- 
ungen eines  Ich,  meine  und  deine  Empfindungen,  nicht  Empfind- 
ungen an  sich.  So  werden  wir  von  der  Empfindung  immer  wieder  auf 
eine  zusammenhaltende  Einheit  gewiesen,  es  erscheint  in  unserem 
eignen  Bereich  ein  Gegensatz,  und  es  wird  zur  Frage,  wo  der  Kern 
des  Lebens  liegt.  Reicht  aber  das  Problem  so  weit  zurück,  und 
erscheint  bei  uns  selbst  eine  Abstufung,  so  erhellt  deutlich,  wie 
wenig  mit  dem  Schlagwort  der  Immanenz  gewonnen  wird. 

Beim  religiösen  Problem  im  besondern  geht  gewiß  mit  gutem 
Recht  der  Zug  der  Neuzeit  gegen  die  mittelalterliche  Transzendenz 
mit  ihrer  Verdopplung  der  nächsten  Welt,  aber  damit  ist  keineswegs 
entschieden,  daß  unser  ganzes  Leben  eine  einzige  Fläche  bildet.  Es 
könnten  Abstufungen  notwendig  werden,  ja  es  könnte  eine  Um- 
kehrung dahin  erfolgen  müssen,  daß,  was  uns  zunächst  als  der 
sichere  Boden  unseres  Lebens  und  Wirkens  gilt,  selbst  einen  Halt 
in  einer  tiefer  gegründeten  Welt  erst  zu  suchen  hätte.  Was  ist  denn 
die  Wirklichkeit,  die  unser  ganzes  Leben  und  Streben  umfassen  soll? 
Die  Welt  des  unmittelbaren  Sinneseindrucks  dafür  zu  erklären,  das 
hieße  den  großen  Vorkämpfern  der  Im.manenz,   einem  Spinoza  und 


396  Letzte  Probleme. 

einem  Goethe,  schroff  widersprechen,  das  hieße  die  seeHsche  Tiefe 
der  gesamten  modernen  Kultur  verkennen.  Die  Anerkennung  einer 
von  geistigem  Leben  getragenen  WirkHchkeit  aber  erzeugt  sofort  die 
Frage,  ob  jenes  den  ganzen  Umkreis  unmittelbar  an  sich  zieht,  ob 
es  nicht  draußen  und  drinnen  auf  Hemmungen  stößt,  deren  Über- 
windung, ja  Bekämpfung  es  erst  nach  weiterer  Kräftigung  und  mit 
Hilfe  weiterer  Zusammenhänge  unternehmen  kann.  Namentlich  ist  es 
die  Tatsache  der  vielfachen  Unvernunft  im  Natur-  und  Menschenleben, 
an  der  jedes  System  ausschließlich  immanenter  Vernunft  mit  seinem 
Pantheismus  scheitert.  Denn  hier  bleibt  nur  die  Wahl,  entweder 
die  Unvernunft  wegzudeuten  und  abzuschwächen,  sie  möglichst 
aus  den  Augen  zu  rücken,  oder  sie  als  ein  Grundelement  der 
Wirklichkeit  anzuerkennen  und  damit  für  unangreifbar  zu  erklären. 
Entweder  also  eine  Tendenz  zum  Optimismus  mit  seiner  verflachen- 
den Art,  oder  zum  Pessimismus  mit  seiner  Verneinung  und  schließ- 
lichen Verzweiflung.  So  einfach  liegen  demnach  die  Dinge  nicht, 
wie  das  Verlangen  nach  Immanenz  es  darstellt.  Hüten  wir  uns,  ein 
Weltbild  deshalb  für  wahr  zu  erklären,  weil  es  sich  unserer  Vor- 
stellung als  das  glatteste  und  bequemste  empfiehlt.  Denn  was  anderes 
wäre  das  als  eine  neue  Art  von  Anthropomorphismus,  die  das  mensch- 
liche Wollen  und  Wünschen  zum  Maßstab  der  Wirklichkeit  macht? 

d)  Das  Wiedererwachen  des  religiösen  Problems. 

So  erscheinen  arge  Verwicklungen  beim  Versuch  eines  Aufbaues 
des  Lebens  ohne  alle  Religion.  Aber  das  würde  eine  derartige  Be- 
wegung noch  keineswegs  hemmen;  sehr  viel  Unklarheit  und  Wider- 
spruch läßt  sich  ertragen,  wenn  der  Zug  des  Lebens  kräftig  und 
selbstbewußt  ist.  Nun  aber  ist  ein  Wiederaufsteigen  des  religiösen 
Problems  inmitten  aller  leidenschaftlichen  Befehdung  der  Religion 
heute  nicht  zu  verkennen;  das  Vordringen  der  Verneinung  in  immer 
breitere  Massen  hindert  nicht,  daß  auf  der  Höhe  des  Geisteslebens 
die  Religion  wieder  weit  mehr  das  Denken  beschäftigt  und  Leiden- 
schaften erregt;  es  ist  einmal  so,  daß  in  derselben  Zeit  verschiedene 
Strömungen  durch-  und  gegeneinandergehen  können,  und  daß  dabei 
der  Unterstrom  dem  Zuge  der  Oberfläche  direkt  widersprechen  mag. 
Um  aber  der  Tatsache  eines  Wiederaufsteigens  der  Religion  gewiß 
zu  werden,  brauchen  wir  nur  unsere  Zeit  mit  der  unserer  Klassiker 
zu  vergleichen;  dort  war  die  Religion  mehr  eine  freundliche  Um- 
säumung des  Lebens,  heute  ist  sie  in  seinen  Mittelpunkt  getreten, 


Das  Problem  der  Religion.  397 

entzweit  sie  die  Menschen  bis  zu  härtestem  Kampf,  fließt  sie  in  die 
Behandlung  aller  Angelegenheiten  ein,  übt  sie  im  Ja  wie  im  Nein 
eine  gewaltige  Kraft.  Denn  auch  die  Verneinung  ist  heute  nicht 
der  Art,  daß  die  Religion  als  etwas  welkes  und  greisenhaftes  ruhig 
bei  Seite  geschoben  würde,  sondern  die  stürmische  Leidenschaft  des 
Angriffs  zeigt  sie  deutlich  genug  als  etwas  noch  sehr  Reales,  Kräf- 
tiges und  Wirksames.  Vielleicht  besagt  sogar  die  Verneinung  selbst 
oft  weniger  eine  völlige  Ablehnung  der  Religion,  als  sie  ein  Verlangen 
nach  einer  anderen,  einfacheren,  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  an- 
gemesseneren Art  der  Religion  bekundet.  Jedenfalls  erscheint  danach 
die  Religion  nicht  wie  ein  mattes  Licht,  das  langsam  und  still  verglimmt. 
Was  mag  es  sein,  das  diesen  Umschlag  herbeigeführt  hat? 
Schwerlich  war  er  die  Frucht  von  apologetischer  Arbelt.  Denn 
diese  pflegt  vorwiegend  auf  solche  zu  wirken,  welche  schon  ge- 
wonnen sind;  sie  mag  befestigen  und  zusammenhalten,  vorzudringen 
ist  nicht  ihre  Art.  In  Wahrheit  ist  es  ein  Rückschlag  im  modernen 
Lebeh  selbst,  in  dem  die  Bewegung  wurzelt;  eben  indem  jenes  Leben 
mit  seiner  Weltfreudigkeit  sich  frei  entfalten  und  sein  volles  Ver- 
mögen einsetzen  konnte,  sind  seine  Schranken,  ja  ist  seine  Ohnmacht 
gegenüber  den  letzten  Fragen  deutlich  geworden;  wieder  einmal 
erfahren  wir  jene  indirekte  Beweisführung  der  Weltgeschichte, 
welche  durch  die  Verneinung  hindurch,  durch  das  ungehemmte 
Sichausleben  des  Gegenteils,  die  Unerläßlichkeit  einer  Behauptung 
zwingend  erweist.  Die  Richtung  des  Lebens  auf  das  unmittelbare 
Dasein  hat  viel  Wahn  und  Aberglauben  ausgetrieben,  viel  sonst 
schlummernde  Kraft  erweckt,  jenes  Dasein  in  mannigfachster  Weise 
gefördert  und  weitergebildet.  Aber  was  immer  in  dieser  Richtung 
geleistet  wurde,  das  ist  vorwiegend  peripherer  Art,  es  hat  die  Be- 
dingungen unseres  Lebens  verbessert,  nicht  aber  das  Leben  selbst 
vertieft;  aus  aller  unsäglichen  Arbeit  steigt  daher  schließlich  eine 
innere  Leere  auf,  und  damit  muß  alles  jenes  Bemühen  als  unzu- 
länglich erscheinen.  Die  Ablehnung  aller  und  jeder  unsichtbaren 
Zusammenhänge  gestaltete  die  Kultur  mehr  und  mehr  zu  einer 
bloßen  Menschenkultur;  das  mochte  so  lange  keinen  Anstoß  erregen, 
als  das  Menschsein  selbst  als  ein  hoher  Idealbegriff  galt  und  in  ver- 
klärter Gestalt  gesehen  wurde.^     Das  aber  geschah  unter  dem  Ein- 

^  So  machte  in  vornehmster  Weise  Herder  die  „Humanität"  zum  all- 
umfassenden Ideal.  „Der  Mensch  hat  kein  edleres  Wort  für  seine  Bestimmung, 
als  Er  selbst  ist." 


398  Letzte  Probleme. 

fluß  derselben  Denkweise,  die  jetzt  als  eine  Verfälschung  der  Wirk- 
lichkeit abgelehnt  wird;  so  muß  mit  ihrem  Schwinden  auch  jene 
Verklärung  fallen,  der  Mensch  in  seiner  natürlichen  Beschaffenheit 
ohne  Hülle  erscheinen  und  zum  einzigen  Maß  alles  Wahren  und 
Guten  werden.  Nun  hat  aber  eben  das  moderne  Leben  mit  seiner 
Entfesselung  aller  Kräfte  so  viel  Unerquickliches,  Trübes  und 
Niederes  aufgewühlt,  es  stellt  uns  das  Kleine  und  Scheinhafte  einer 
bloßen  Menschenkultur  so  sichtlich  vor  Augen,  daß  die  Hoffnung 
immer  geringer  wird,  von  hier  aus  einen  zusagenden  Lebensstand 
erreichen  und  dem  menschlichen  Dasein  einen  Sinn  und  Wert  ver- 
leihen zu  können.  Immer  mehr  greift  die  Empfindung  um  sich,  daß 
im  Menschen  etwas  steckt,  was  durch  jenes  immanente  Kulturleben 
nicht  belebt  wird,  und  daß  jenes  Verkümmerte  etwas  Unentbehr- 
liches, vielleicht  das  Beste  von  allem  ist. 

So  erwächst  ein  Verlangen  nach  einer  inneren  Wandlung  des 
Menschen,  nach  einer  Befreiung  von  der  kleinen  Art,  die  ihn. 
festhält  und  niederdrückt;  eine  neue  Zeit  ist  gekommen,  es  treibt 
einmal  wieder  von  einer  bloßen  Menschenkultur  zu  einer  wesen- 
erhöhenden und  umbildenden  Geisteskultur;  das  aber  führt  mit  Not- 
wendigkeit zur  Forderung  einer  neuen  Wirklichkeit  und  damit  auf 
den  Weg  der  Religion. 

Zunächst  freilich  ergibt  es  eine  höchst  verworrene  Lage.  Während 
von  innen  her  eine  neue  Art  des  Lebens  und  Seins  verlangt  wird, 
hält  unser  Verstand  und  unsere  Arbeit  uns  beim  unmittelbaren  Da- 
sein fest;  wir  möchten  etwas  Höheres,  aber  wir  finden  keinen  Weg 
dahin  und  können  doch  vom  Ziele  nicht  lassen.  So  werden  wir 
vom  einen  zum  andern  hin-  und  hergeworfen  und  widersprechen 
unablässig  uns  selbst.  Aber  bei  aller  Unfertigkeit  und  allem  Unbehagen 
ist  wenigstens  das  eine  gewonnen,  daß  wir  aus  dem  vermeintlichen 
Besitz  wieder  in  ein  Suchen,  ein  redliches  und  eifriges  Suchen 
gekommen  sind,  daß  die  alten  und  ewigen  Fragen  mit  frischer 
Kraft  wieder  aufsteigen.  Wie  sich  das  freilich  weitergestalten  wird, 
das  liegt  an  vielfachsten  Bedingungen  des  Menschen  und  des  Ge- 
schicks; darüber  kann  erst  die  Zukunft  entscheiden. 

e)  Forderungen  für  die  gegenwärtige  Lage  der 
Religion. 

Beim  Überblick  der  gegenwärtigen  Lage  der  Religion  fällt  als 
bemerkenswert  besonders  die  Tatsache  ins  Auge,  daß  zwischen  der 


Das  Problem  der  Religion.  399 

überkommenen  kirchlichen  Form  der  Religion  und  einer  univer- 
saleren Bewegung  zur  Religion  aus  dem  eignen  Streben  der  Zeit 
eine  schroffe  Spannung  besteht;  es  gibt  heute  viele,  welche  religiös, 
aber  durchaus  nicht  kirchlich  sein  wollen,  welche  sich  ebenso  sehr 
von  der  Kirche  abgestoßen  als  von  der  Religion  angezogen  fühlen. 
Den  nächsten  Grund  dessen  mag  man  darin  suchen,  daß  zwischen 
der  überkommenen  Form  des  Christentums  und  dem  Kulturleben  der 
Gegenwart  eine  weite  Kluft  besteht,  die  ein  gegenseitiges  Verständnis 
aufs  Äußerste  erschwert.  Das  Weltbild  hat  sich  wesentlich  ver- 
ändert, namentlich  ins  Große  und  Außermenschliche  verschoben,  die 
ältere  Gefühlslage  erscheint  dem  modernen  Menschen  als  zu  weich 
und  zu  matt,  die  Zeit  stellt  ihm  neue  praktische  Aufgaben,  die  seine 
ganze  Kraft  verlangen;  während  das  alte  Christentum  einer  ermüdeten 
und  eingeschüchterten  Menschheit  neue  Kraft  und  frischen  Lebens- 
mut zuzuführen  suchte,  hat  jetzt  die  Religion  mit  einer  Menschheit 
starken  Lebensdranges  und  rastlosen  Wirkens  zu  tun.  Die  Haupt- 
sache aber  und  was  vornehmlich  dem  Widerspruch  seine  Schärfe 
gibt,  ist  dieses,  daß  sich  der  Zeit  nicht  mehr  aus  eigner  Erfahrung 
das  Leben  in  die  eine  Frage  zusammenfaßt,  deren  Beantwortung 
den  Kern  des  Christentums  bildet:  in  die  Frage  der  moralischen 
Rettung,  der  inneren  Befreiung  und  Erneuerung  der  Menschheit. 
Vor  all  dem  Wirken  und  Schaffen  in  die  sichtbare  Welt  hinein  und 
vor  jugendlich  frischem  Kraftgefühl  ist  jene  Frage  der  modernen 
Menschheit  verblaßt;  wo  aber  der  Frage  die  volle  Kraft  und  Ur- 
sprünglichkeit fehlt,  da  muß  auch  die  Antwort  die  Herzen  gleich- 
gültig finden,  da  verdunkelt  sich  das  Recht  und  die  Notwendigkeit  der 
Sache,  da  wird  hingegen  alles  grell  in  die  Augen  fallen  und  leicht 
die  Schätzung  beherrschen,  was  die  überlieferte  Fassung  an  Un- 
voUkommnem  enthält.  Endlich  hat  wohl  auch  bei  uns  Deutschen 
die  Abhängigkeit  der  Kirche  vom  Staate  und  die  ihr  vom  Staate 
gewährte  Hilfe  viel  dazu  beigetragen,  jener  die  Gemüter  innerlich 
zu  entfremden.  Denn  bei  den  anderen  germanischen  Völkern  ist 
die  Entfremdung  anscheinend  nicht  so  groß. 

So  ist  es  begreiflich,  daß  die  neu  aufsteigende  religiöse  Be- 
wegung ihre  eignen  Bahnen  sucht.  Vor  allem  erstrebt  sie  der 
älteren  Art  gegenüber,  die  ihr  zu  eng  und  gebunden  dünkt,  eine 
größere  Weite,  eine  möglichste  Universalität,  mehr  Offenheit 
für  die  Weltumgebung;  sie  sorgt  sich  weniger  um  die  Verwick- 
lungen im  eignen  Innern  des  Menschen  als  um  sein  Verhältnis  zum 


400  Letzte  Probleme. 

All;  dieses  möchte  sie  ihm  innerlich  naherücken,  seine  Unendlich- 
keit ihn  miterleben,  seine  Schönheit  ihn  genießen  lassen;  in  solcher 
künstlerischen  Stimmung  scheint  sich  eine  Befreiung  von  allem 
Kleinmenschlichen  zu  vollziehen  und  die  Seele  im  reinen  Äther  des 
Alls  sicher  und  selig  zu  schweben. 

Solches  Streben  gegen  ein  Sicheinspinnen  des  Menschen  in  die 
bloße  Menschlichkeit,  solches  Verlangen  zum  All  bedeutet  eine 
wesentliche  Seite  der  Religion  und  hat  in  ihrer  Geschichte  be- 
deutende Wirkungen  geübt.  Aber  eine  andere  Frage  ist,  ob,  was 
hier  aufstrebt,  die  Gesamtaufgabe  der  Religion  zu  lösen  und  damit 
alle  geschichtliche  Gestalt  zu  verdrängen  und  ersetzen  vermag.  Wird 
nämlich  das  Neue  streng  auf  sein  eignes  Vermögen  beschränkt  und 
nicht  stillschweigend  durch  das  von  der  geschichtlichen  Religion  ge- 
botene Leben  in  mannigfachster  Weise  ergänzt,  so  kann  alle  Weite 
und  Freiheit  eine  starke  Vagheit  und  Leere  nicht  wohl  verdecken. 
Diese  Art  der  Religion  dringt  über  feine  und  zarte  Stimmungen 
nicht  vor  zu  einer  echten  Tatsächlichkeit;  statt  dem  Menschen  eine 
neue  Welt  zu  eröffnen,  stellt  sie  ihm  nur  die  vorhandene  Welt  in 
eine  liebenswürdigere  Beleuchtung,  oder  umsäumt  sie  sein  Leben 
mit  gefälligen  Stimmungen,  welche  Mußestunden  angenehm  ausfüllen 
mögen,  die  aber  gegenüber  dem  Ernst  des  Lebens  in  kläglicher  Weise 
versagen.  Denn  nun  und  nimmer  wird  damit  eine  Weiterbildung 
der  Seele  erreicht,  werden  Kräfte  entbunden,  die  von  Not  und 
Schuld  befreien,  wird  dem  Leben  ein  fester  Halt  geboten,  wird  die 
Menschheit  durch  eine  bei  sich  selbst  befindliche  Innenwelt  zu- 
sammengeführt. Schöne  Bilder,  schöne  Aussichten,  aber  Bilder,  die 
den  bloßen  Entwurf  nicht  überschreiten  können !  Die  hier  erwachsende 
ästhetisch -pantheistische  Stimmung  mag  wertvolle  Anregungen  und 
Vorbereitungen  liefern,  der  Hauptaufgabe  der  Religion  ist  sie  nicht 
gewachsen;  was  sie  an  Wahrheit  enthält,  das  muß  sich  mit  anderem 
und  festerem  verbinden,  um  zur  Förderung  zu  wirken. 

Aber  so  wenig  jene  neue  Art  der  Religion  befriedigen  kann, 
es  bleibt  die  Tatsache  des  Widerspruchs  gegen  die  kirchliche  Form, 
es  bleibt  ein  Spalt  im  religiösen  Leben  und  Streben  der  Gegenwart; 
unabweisbar  wird  damit  die  Frage,  ob  und  wie  sich  zu  seiner 
Überwindung  arbeiten  läßt.  Sollen  sich  die  Zeit  und  die  Religion 
wieder  zusammenfinden,  so  muß  die  Zeit  der  Religion  eine  Frage 
entgegenbringen,  so  muß  diese  sie  aber  in  einer  Weise  beantworten, 
welche  anzunehmen   der  Zeit  nicht  unmöglich  ist;    dazu  aber  wird 


Das  Problem  der  Religion.  401 

es  auf  beiden  Seiten  erheblicher  Wandlungen  oder  doch  Weiter- 
bildungen bedürfen.  Nur  dann  wird  das  Verlangen  der  Zeit  nach 
Religion  wieder  stark  und  überwältigend  werden,  wenn  jene  im 
menschlichen  Leben  große  innere  Verwicklungen  erkennt  und  zum 
eignen  Erlebnis  macht,  und  wenn  sie  zugleich  die  Spitze  dieser 
Verwicklungen  im  moralischen  Probleme  findet.  Aber  andererseits 
muß  auch  die  Religion  das  moralische  Problem  nicht  nach  der  Enge 
des  unmittelbaren  Eindrucks,  sondern  als  den  Gipfel  einer  allum- 
fassenden Bewegung  verstehen  und  behandeln;  damit  wird  sie  selbst 
eine  breitere  Grundlage  gewinnen  und  der  Partikularität  entgehen, 
die  ihr  sonst  unvermeidlich  anhaftet.  Hat  an  diesem  Zentralpunkt 
die  Religion  einen  sicheren  Kontakt  mit  dem  innersten  Streben 
der  Zeit  gewonnen,  und  ist  sie  dabei  ihrer  eignen  Grundtatsache 
klar  und  sicher  geworden,  so  kann  sie  ohne  Gefahr  ihren  über- 
kommenen Bestand  einer  Prüfung  daraufhin  unterziehen,  was  in 
ihm  wesentlich  und  unwandelbar,  was  aber  nebensächlich  und  den 
Wa'ndlungen  der  Zeit  unterworfen  ist.  Vor  allem  muß  die  Religion 
sich  kräftig  auf  ihr  eignes  Wesen  besinnen  und  sich  fest  in  ihm 
verschanzen.  Ihrer  letzten  Absicht  nach  bringt  sie  dem  Menschen 
nicht  intellektuelle  Aufklärungen  über  die  Welt,  sie  erweckt  auch 
nicht  bloß  neue  Gefühle  oder  stellt  neue  praktische  Aufgaben,  sondern 
sie  eröffnet  aus  einem  direkten  Verhältnis  zum  tiefsten  Grunde  des 
Seins,  zur  beherrschenden  Urkraft  des  Lebens  ein  neues  Leben, 
ja  eine  neue  Welt;  sie  führt  den  Beweis  dieses  neuen  Lebens  an 
erster  Stelle  durch  die  Tatsächlichkeit  seiner  weltgeschichtlichen  Ent- 
wicklung, durch  die  Umgestaltung  der  Wirklichkeit,  die  unablässig 
von  ihm  ausgeht;  darauf  freilich  muß  sie  dringen,  daß  das  hier  ge- 
botene Leben  als  die  beherrschende  Seele  alles  Lebens,  als  die  un- 
erläßliche Bedingung  aller  Geistigkeit  anerkannt  wird.  Aber  so  sehr 
dies  Leben  seinem  Grunde  nach  überzeitlicher  Art  ist,  seine  Ent- 
faltung auf  dem  Boden  der  Menschheit  steht  unter  den  Bedingungen 
der  Zeit  und  Geschichte;  es  muß  sich  mit  ihnen  auseinandersetzen, 
es  kann  das,  ohne  sich  selbst  zu  verlieren,  nur,  wenn  bei  ihm 
zwischen  Substanz  und  Daseinsform  deutlich  geschieden  wird;  denn 
dann  wird  eine  Unwandelbarkeit  der  Substanz  mit  einer  geschicht- 
lichen Bewegung  der  Daseinsform  vereinbar.  Hier  nun  liegt  eine 
besonders  wichtige  und  schwierige  Aufgabe  der  Gegenwart,  es  gilt 
eine  der  weltgeschichtlichen  Lage  des  Geisteslebens  —  nicht  den 
bloßen  Strömungen  der  Zeitoberfläche  -  entsprechende  Daseinsform 

Eucken,  Grundbegriffe.    4.  Aufl.  26 


402  Letzte  Probleme. 

der  Religion  zu  gewinnen,  ohne  darüber  ihre  Substanz  zu  verlieren 
oder  auch  nur  irgend  abzuschwächen.^ 

Diese  Verständigung  zwischen  Christentum  und  Neuzeit  ist  aber 
minder  leicht,  als  sie  manchen  erscheint.  Vor  allem  ist  dazu  nötig, 
daß  der  große  Wandel  der  Zeiten  mit  allem,  was  in  ihm  an  inneren 
Notwendigkeiten  liegt,  volle  Anerkennung  und  Würdigung  finde. 
In  der  gewöhnlichen  Apologetik  geschieht  das  nicht  Sie  faßlr  nicht 
die  Sache  ins  Ganze,  sondern  sje  verbleibt  bei  zerstreuten  Punkten, 
sie  versetzt  sich  nicht  in  den  anderen  hinein,  sondern  behandelt 
ihn  gänzlich  von  außen  her,  sie  operiert  mit  bloßen  Möglichkeiten, 
indem  sie  zeigt,  daß  die  moderne  Bewegung  noch  immer  gewisse 
Wege  offen  lasse,  die  bei  gutem  Willen  wohl  mit  dem  kirch- 
lichen Glauben  vereinbar  seien,  sie  gerät  damit  immer  mehr  ins 
Künstliche  hinein,  ja  sie  kommt  in  die  Gefahr  einer  inneren  Unwahr- 
haftigkeit;  man  mag  hier  des  Hume'schen  Wortes  von  der  Vergeb- 
lichkeit eines  Unternehmens  gedenken,  einen  Durchbruch  des  Ozeans 
mit  Strohwischen  verstopfen  zu  wollen.  Auf  diesem  Wege  wird 
nun  und  nimmer  die  Religion  die  erstrebte  Stellung  im  Ganzen  des- 
Lebens wiedererringen,  nun  und  nimmer  kann  sie  so  die  schlichte 
Einfalt,  die  seelische  Nähe,  die  sichere  Überzeugungskraft  erlangen,  ohne 
die  ihre  Aufgabe  sich  nicht  lösen  läßt.  Ein  Unsicherwerden  der 
Religion  in  der  Gegenwart  ist  nicht  zu  verkennen  und  sei  nicht  ver- 
dunkelt. Der  christliche  Lebenstypus  ist  heute  der  Menschheit  keines- 
wegs mit  solcher  überzeugenden  Nähe  gegenwärtig,  daß  ihn  sowohl 
jeder  einzelne  unmittelbar  ergreifen  und  erfahren,  als  von  ihm  die 
Gesamtgestaltung  des  Lebens  mächtige  Einflüsse  empfangen 
könnte.  Wo  die  Religion  so  viel  Fremdes  und  Veraltetes  mit  sich 
schleppt,  wo  vielfach  der  Schutt  von  Jahrtausenden  die  ewigen  Wahr- 
heiten verdeckt,  da  kann  die  Religion  nicht  ihre  volle  Kraft  mit 
siegesgewisser  Zuversicht  entfalten,  da  kann  sie  keine  axiomatische 
Gewißheit  haben,   da  wird  sie  selbst  durch  Angriffe  von  kläglicher 


^  Weshalb  uns  das  Christentum  bei  allem,  was  an  ihm  vergänglich  ist, 
einen  unvergänglichen  Kern  zu  enthalten,  und  es  daher  keines  Bruches  mit 
ihm  zu  bedürfen  scheint,  darüber  haben  wir  uns  in  den  religionsphiloso- 
phischen Werken  näher  geäußert.  Hier  sei  nur  noch  gesagt,  daß  uns  kaum 
ein  Unterfangen  so  töricht  erscheint  als  das,  eine  Religion  durch  bewußte 
Reflexion  bereiten  zu  wollen.  In  allen  anderen  Gebieten  haben  wir  eine 
derartige  Denkweise  der  sich  verflachenden  Aufklärung  glücklich  über- 
wunden, gerade  das  allerinnerlichste  Gebiet  aber,  das  sie  am  wenigsten  ver- 
trägt, muß  sich  ihrer  noch  immer  erwehren. 


Das  Problem  der  Religion.  403 

Flachheit  beunruhigt,  die  an  einer  gefestigten  und  selbsterlebten  Über- 
zeugung ohne  weiteres  abprallen  müßten.  So  bedarf  sie  dringend 
einer  durchgreifenden  Revision,  einer  energischen  Freilegung  ihrer 
beherrschenden  Grundlinien,  einer  Abstoßung  alles  dessen,  was  welk 
und  morsch  ward,  sie  bedarf  dessen  besonders  in  ihrem  eignen 
Interesse.  Eine  solche  Aufgabe  aber  kann  nur  im  Elemente  voller 
Freiheit  gelingen. 

Aber  zugleich  muß  auch  die  Substanz  der  Religion  energisch 
gewahrt,  zu  kräftiger  Betätigung  aufgerufen,  zur  Scheidung  von  Echtem 
und  Unechtem,  von  Wesen  und  Schein  im  Befunde  der  Zeit  ver- 
wandt werden.  Ohne  eine  Selbständigkeit  gegen  die  Zeitlage  kann 
die  Religion  nichts  Bedeutendes  leisten;  im  besonderen  steht  das 
Christentum  mit  seiner  Verneinung  nicht  freilich  der  nächsten  Welt 
schlechthin,  wohl  aber  eines  letzten  Abschließens  bei  dieser  Welt  in 
unversöhnlichem  Gegensatze  zu  einer  bloßen  Daseins-  und  Menschen- 
kultur, wie  sie  den  Hauptzug  des  modernen  Lebens  beherrscht.  Hier 
ist  "keinerlei  Ausgleichung  möglich,  sondern  nur  ein  ehrlicher  Kampf; 
gewiß  muß  auch  er  einen  schließlichen  Frieden  ins  Auge  fassen,  aber 
es  macht  für  das  Ergebnis  einen  gewaltigen  Unterschied,  ob  der  Gegen- 
satz vor  allem  zunächst  mit  voller  Klarheit  herausgestellt,  oder  ob  er 
von  vornherein  abgeschwächt  wird.  Hier  findet  sich  nun  auf  dem 
Boden  des  Protestantismus  viel  schwächliche  Konnivenz  und  viel  ängst- 
liche Reverenz  gegen  die  moderne  Kultur,  als  sei  sie  im  Ganzen  ihres 
Seins  schon  eine  ausgemachte  Wahrheit  und  nicht  selbst  voll  schwerer 
Probleme;  man  scheut  alles  kräftige  Nein,  als  könne  ein  Ja  von  Wert 
sein,  aus  'dem  nicht  ein  Nein  hervorspringt;  man  denkt  zu  klein  von 
der  eignen  Sache  und  kommt  daher  natürlich  nicht  weiter.  Bescheiden- 
heit mag  den  Menschen  zieren,  für  die  Sache  kann  sie  zum  Unrecht 
werden.  Eine  Religion  von  Gnaden  der  bloßen  Kultur,  eine  Religion, 
die  gar  allen  Wandlungen  der  Zeitoberfläche  folgeleistet,  ist  ein  kläg- 
liches und  haltloses  Ding.  So  muß  das  Verlangen  nach  mehr 
Freiheit  und  Ursprünglichkeit  sich  mit  dem  nach  mehr  Tiefe  ver- 
binden; in  der  Sache  ist  das  möglich,  es  liegt  nur  am  Menschen,  es 
zu  erreichen.  So  zeigt  sich  auch  hier,  daß  freilich  die  Lage  der 
Gegenwart  voller  Verwicklungen  und  Widersprüche  ist,  daß  wir 
aber  diesen  keineswegs  wehrlos  ausgeliefert  sind,  sondern  bei  Auf- 
bietung geistiger  Kraft  über  sie  hinauskommen  können. 


26* 


Schlußwort 

\ V/ir  haben  verschiedene  Gebiete  durchwandert  und  verschiedene 
^^  Probleme  behandelt,  soweit  es  im  Plan  unserer  Arbeit  lag.  Wir 
überzeugten  uns  dabei  von  der  überströmenden  Fülle  des  Lebens, 
das  unsere  Zeit  durchdringt;  eine  greisenhafte  Zeit  ist  es  wahrlich 
nicht,  die  so  bedeutende  Probleme  hat  und  so  h-ervorragende 
Arbeit  leistet.  Aber  es  ist,  auf  den  geistigen  Gehalt  und  die  Haupt- 
richtung angesehen,  eine  durchaus  unfertige  Zeit;  sie  ist  das 
aber  namentlich  deshalb,  weil  dem  unermeßlichen  Zustrom  des 
Stoffes  die  Kraft  des  Zusammenfassens  nicht  entspricht,  weil  die 
Expansion  des  Lebens  seine  Konzentration  bei  weitem  überwiegt. 
Aber  wir  sahen  zugleich,  daß  das  nicht  wie  ein  starres  Schicksal 
hingenommen  zu  werden  braucht,  daß  vielmehr  das  Leben  der  Gegen- 
wart auch  voller  Möglichkeiten  ist,  die  eine  Synthese  vorbereiten 
und  fördern  können;  nur  muß  ein  vordringendes  Schaffen  diese 
Möglichkeiten  ergreifen  und  weiterführen.  Wir  sahen  dabei  weiter, 
daß  das  nicht  unmittelbar  aus  der  «gegebenen"  Lage  heraus  ge- 
schehen kann,  daß  es  vielmehr  dazu  eines  Überlegenwerdens  gegen 
diese  Lage,  der  Erreichung  eines  neuen  Standorts  des  Lebens,  einer 
Umkehrung  des  nächsten  Daseins  bedarf;  eine  solche  Umkehrung 
aber  geigte  sich  möglich  und  nicht  anders  möglich  als  durch  ein  Selb- 
ständigwerden des  Geisteslebens;  so  führten  alle  einzelnen  Punkte 
darauf  zurück,  und  an  jeder  Stelle  kam  zur  Sprache,  wie  die  Über- 
zeugung von  solcher  Selbständigkeit  die  Aufgabe  verändert  und  ihre 
Lösung  anbahnt. 

Bei  solchem  Gedankengange  drängt  die  Betrachtung  der  Zeit 
über  den  eignen  Befund  der  Zeit  hinaus  zum  Ausblick  in  die  Zu- 
kunft; daß  wir  aber  aus  der  Zerstreuung  in  vielfache  Aufgaben  zu  einer 
allumfassenden  Aufgabe,  von  betrachtender  und  zerlegender  Reflexion 
zu  mehr  schöpferischer  Synthese,  von  überwiegender  Hingabe  an 
die  Außenwelt  zu  mehr  Leben  bei  uns  selbst  und  mehr  innerer 
Selbständigkeit  gelangen,  dazu  nach  bestem  Vermögen  mitzuwirken 
ist  auch  die  Philosophie  berufen. 


Sachregister 


Abstrakt,  Geschichte  des  Begriffes 
55 ;  —  Macht  abstrakter  Begriffe  in 
der  Gegenwart  55. 

Agnostizismus,  Ursprung  des  Aus- 
drucks 392. 

Aktivismus,  sein  Unterschied  vom 
Pragmatismus  51. 

Aktuell,  Geschichte  des  Wortes  220 ; 
—  Zurückweisung  der  landläufigen 
Aktualität  220. 

Allegorische  Deutung,  ihre  Wirk- 
ung auf  das  logische  Denken  58. 

Allgemeinbegriffe,  ihre  einge- 
wurzelte Überschätzung  54  ff. 

Allgemeines  Stimmrecht,  wann 
zuerst  gefordert  290. 

Altertum  (s.  Griechentum)  sein  In- 
tellektualismus 39;  —  was  an  ihm 
zu  verschiedenen  Zeiten  geschätzt 
263  ff. 

A  priori  —  a  posteriori,  Aus- 
druck und  Begriff  84 ff.;  —  mo- 
derne Verflachung  abgewiesen  86. 

Arbeit,  Eigentümlichkeit  und  Pro- 
bleme der  modernen  Arbeit  18  ff., 
73  ff. 

Arbeitswelt  (des  Menschen)  113ff. 

Ästhetizismus  336ff. 

Aufklärung,  ihr  Intellektualismus 
41;  —  ihre  Scheidung  von  Natur 
und  Seele  173;  —  ihre  Stellung  zur 
Geschichte  254;  —  Folgen  ihrer 
Ungeschichtlichkeit  261  ff.;  —  ihre 
Fassung  des  Geisteslebens  271. 


Ausgangspunkt  der  Erkenntnis- 
arbeit, wo  gesucht  64ff.,  222. 

Beharrungslehre  (im  Altertum 
und  Mittelalter)  194  ff. 

Beharrungs-  und  Bewegungs- 
lehre, ihr  Kampf  216;  —  drei  ver- 
schiedene Lebenstypen  dabei  223  ff. 

Bevölkerungszunahme,  ihre  Be- 
deutung für  die  Auffassung  der 
Geschichte  214. 

Bildung,  Geschichte  des  Begriffs 
und  Ausdrucks  232  ff. 

Charakter,  Geschichte  des  Aus- 
drucks 355 ff.;  —  Erörterung  aus 
der  Lage  der  Zeit  358  ff. 

Christentum,  seine  Stellung  zum 
Intellektualismus  39 ff.;  —  seine 
Steigerung  der  Geschichte  197. 

Demokratismus,  seineEntwicklung 
313ff.;  —  seine  Bedeutung  und 
seine  Schranke  317  ff. 

Denken,  Verschiedenheit  seiner  ge- 
schichtlichen Stniktur  58. 

Denknotwendigkeit,  Kritik  ihres 
Vermögens  94  ff. 

Determinismus,  seine  verschiede- 
nen geschichtlichen  Formen  363  ff. 
—  sein  Wachstum  im  19.  Jahr- 
hundert 364 ff.;  —  seine  Voraus- 
setzungen 368;  —  sein  Bild  der 
Wirklichkeit  372. 

Diskontinuitätsphilosophie  (in 
Frankreich)  146. 


406 


Sachregister. 


Dualismus,  das  Wort  170;  —  sein 
Hervortreten   in  der  Neuzeit  173; 
—  Dualismus  innerhalb  des  Monis- 
mus der  Gegenwart  190. 
Empirismus,    sein    Erkenntnisbild 
88,  90;  —  sein  Recht  und  sein  Un- 
recht 117ff.;    —    sein   Ungenügen 
für  die  Gegenwart  124. 
Energie,    Definition    von    Ostwald 
141 ;  —  geistige  Energie  =  Lebens- 
konzentrationen 60,  62. 
Entwicklung,  Ausdruck  192ff.;  — 
ihr   Aufkommen   und   Vordringen 
197 ff.;    —   drei   Hauptphasen  der 
Entwicklungslehre  (religiöse,  künst- 
lerische,    empirische)     198  ff.;    — 
neuer  Lebenstypus  204 ff.;  —  Schei- 
dung von  Entwicklung  und  Evolu- 
tionismus 204  ff.,  226;  —  Gefahren 
des  Evolutionismus  210,  215. 
Erfahrung,  Ausdrücke  84;  —  ihre 
zwiefache  Bedeutung  für  das  Er- 
kennen  114 ff.;  —  ihre  Schwierig- 
keit auf  dem  Gebiet  des  Geistes- 
lebens 120. 
Erfahrung    und    Denken,     irre- 
leitender Sprachgebrauch  119. 
Erkennen,  seine  Abhängigkeit  vom 
Lebensprozesse  56  ff. ;  100  ff .;  1 1 1  ff. ; 
—  Kampf   über  seinen    Ursprung 
87;  —  Erkennen  unterschieden  vom 
Kennen  99;    —   inwiefern    imma- 
nenter Art  113;  —   inwiefern  auf 
Erfahrung  angewiesen  114,  — ver- 
schiedene Stufen  116;    —   wo  die 
letzte  Entscheidung  darüber  121  ff. 
Erkenntnislehre    (moderne),     ihr 

Einfluß  auf  das  Weltbild  187. 
Evolution  (s.  Entwicklung),  Aus- 
druck 192ff.;  —  evolutionistische 
Ästhetik,  Ethik,  Rechtslehre  212  ff. 
Fortschritt,  Ausdruck  200;  —  Auf- 
kommen und  Durchdringen  der 
Idee  199ff.;  —  seine  Verschieden- 
heit in  verschiedenen  Lebensgebieten 
215;  —  vager  Fortschrittsglaube 
213;  —  Schranken  382. 


Freiheit  und  Gleichheit,  ihre  Ver- 
bindung 290. 

Freiheit  und  Schicksal  371  ff. 

Gefühl,  Kritik  des  Zurückgehens 
auf  das  Gefühl  20  ff. 

Gegebenes,  das  Bedenkliche  dieses 
Begriffes  374. 

Geistesleben,  sein  Grundbegriff 
30ff.,  111;  —  sein  Verhältnis  zum 
geschichtlich  -gesellschaftlichen  Da- 
sein lOOff.,  103ff. 

Geistigkeit,  ihre  drei  Stufen  (grund- 
legende, kämpfende,  überwindende) 
350  ff. 

Genie,  zur  Geschichte  d^s  Ausdrucks 
307. 

Geschichte,  Zusammentreffen  von 
Zeitlichem  und  Zeitlosem  in  ihr  5, 
103;  —  ihre  Bedeutung  für  die 
Philosophie  65;  —  Bedingungen 
der  menschlichen  Geschichte  21 7 ff.; 
—  Bedeutung  und  Schranke  der 
Geschichte  253 ff.;  —  Gründe  der 
Bewegung  zur  Geschichte  254  ff ;  — 
der  Bewegung  gegen  die  Geschichte 
260ff.;  —  Bedeutung  der  Geschichte 
für  das  Geistesleben  265  ff. 

Geschichte  der  Philosophie, 
Forderungen  für  ihre  Behandlung 
66  ff. 

Geschichtliche  Gesetze  166ff. 

Geschichtsforschung  und  Ge- 
schichtsphilosophie 256. 

Geschlechtliches,  seine  Behand- 
lung im  modernen  Subjektivismus 
338;  —  in  der  modernen  Kunst  342. 

Gesellschaft  und  Individuum, 
283 ff.;  —  Art  der  gesellschaftlichen 
Kultur  288. 
Gesetz,  Geschichte  und  Problem 
154 ff.;  —  Kampf  darum  in  den 
verschiedenen  Gebieten  159ff. 
Gleichheitsidee,     ihr     Ursprung 

und  ihre  Geschichte  289. 
Gleichmacherei,  ihre  Gefahren  in 
der  Gegenwart  299 ff. 


Sachregister. 


407 


Gottesidee,  der  Streit  über  ihre 
Fassung  346ff.;  —  zweierlei  Fass- 
ungen innerhalb  des  Christentums 
347. 

Griechische  Denkweise  (s.  Alter- 
tum), ihr  Verhältnis  zum  Wahrheits- 
problem 12;  —  ihr  Intellektualis- 
mus 39;  —  Eigentümlichkeit  ihres 
logischen  Verfahrens  58;  —  ihr  Vor- 
anstellen des  Beharrens  194  ff. 

Größe,  ihr  Problem  auf  geistigem 
Gebiet  31  Off. ;  —  große  Persön- 
lichkeit, ihr  Verhältnis  zur  Zeitum- 
gebung 297  ff. 

Hierarchische  Ordnung  285. 

Historismus,   seine  Gefahr  258ff.; 

—  Abwägung  von  Historismus  und 
Rationalismus  271  ff. 

Humanismus,  als  moderner  Ter- 
minus 48. 

Höher,  Ausdruck  und  Begriff  78. 

Idealismus,  Ausdruck  68ff.;  — 
Kritik  der  überkommenen  Formen 
des  Idealismus  76 ff.;  —  Forder- 
ungen für  einen  neuen  Idealismus 
81  ff.;  —  kritischer  und  positiver 
Idealismus  124  ff. 

Immanenz,  Ausdruck  390;  —  Be- 
wegung der  Neuzeit  zur  Immanenz 
392;  —  VePÄ'icklungen  im  Begriff 
der  Immanenz  394  ff. 

Individualkultur  302ff. 

Individuum  und  Individualität, 
Ausdruck  283 ff.;  —   Begriff  284 ff . ; 

—  verschiedene  geschichtliche  Ge- 
staltungen(organische,  hierarchische, 
mikrokosmische)  284 ff.;  —  Bild- 
ung der  geistigen  Individualität 
371;  —  Bedeutung  der  Individuen 
in  der  Geschichte  297 ff.;  —  mo- 
derner Individualismus  306 ff. 

Intellekt,  seiner  Geringschätzung 
widersprochen  52  ff. 

Intellektualismus,  Wort  und  Sache 
37 ff.; —  Überflutung  des  modernen 
Lebens  durch  ihn  53 ff.;    —  seine 


Brechung  durch  Kant  41  ff.;  — 
intellektualistischer  Lebenstypus  39. 

Kultur,  Geschichte  des  Ausdrucks 
und  Begriffs  228ff.;  —  unterschie- 
den von  Zivilisation  231  ff.;  —  ihr 
Wesen  und  Wert  235 ff.;  —  ihre 
geschichtlichen  Arten  237 ff.;  — 
das  Verhälthis  von  Mensch  und 
Kultur  240 ff.;  —  Kultur  und 
Geistesleben  243  ff.;  —  Teilkulturen 
und  Gesamtkultur  249;  —  Probleme 
der  gegenwärtigen  Kultur  250  ff., 
381  ff. 

Kulturstaat,  bei  Fichte  231. 

Kunst,  ihr  Verhältnis  zur  Moral 
329 ff.;  —  ihre  Stellung  im  mo- 
dernen Leben  339;  —  Verhältnis 
von  Inhalt  und  Form  340;  —  Be- 
deutung der  Kunst  für  den  nordi- 
schen Menschen  341. 

Künstlerischer  Individualis- 
mus 306ff. 

L'art  pour  l'art,  Geschichte  des 
Ausdrucks  339  ff. 

Leben,  wissenschaftliche  Versuche 
einer  näheren   Bestimmung   145  ff. 

Lebensbejahung  und  Lebens- 
verneinung 376 ff.;  —  gegen  er- 
künstelte Lebensbejahung  384  ff. 

Lebensenergien  60. 

Lebensprozeß  als  Ausgangspunkt 
der  Untersuchung  31. 

Literatur,  ihre  gegenwärtige  Stell- 
ung zum  Geistesproblem  342. 

Logik,  Überschätzung  ihrer  Form 
54ff. ;  —  ihre  Abhängigkeit  vom 
Lebensprozeß  58  ff. 

Materialismus,  Ausdruck  und 
Lehre  175  ff. 

Mechanismus,  zur  Geschichte  des 
Ausdrucks  126;  —  zur  Geschichte 
des  Problems  133 ff.;  —  unzulängr 
lieh  als  philosophische  Weltanschau- 
ung 142. 

Mechanismus  und  Teleologie, 
ihre  Ausgleichung  bei  Leibniz  134; 
—  bei  Lotze  138. 


408 


Sachregister. 


Metaphysik,  der  Ausdruck  108; 
das  Problem  104 ff.;  —  Metaphysik 
und  Kultur  108;  —  Metaphysik 
und  Moral  324  ff. 

Mikrokosmos,  Ausdruck  285. 

Milieu,  Geschichte  des  Ausdrucks 
289. 

Mittelalter,  Art  seines  logischen 
Verfahrens  58;  —  Hauptstätte  der 
organischen  Lehre  151 ;  —  sein  Ord- 
nungssystem 196  ff.;  —  Bekämpf- 
ung dieses  Begriffes  277  ff. 

Mittlerer  Mensch  289. 

Modern,  Verschärfung  des  Begriffes 
durch  die  Entwicklungslehre  205; 

—  Ausdruck  und   Begriff   273 ff.; 

—  echtes    und    falsches    Moderne 
280ff. 

Monismus,  Wort  170ff.;  —  Lehre 
179ff.;  _  Monismus  der  Gegen- 
wart 183  ff. 

Moral,  gegenwärtiger  Mangel  einer 
genügenden  Begründung  322ff.;  — 
überkommene  Typen  323 ff.;  — 
Moral  und  Metaphysik  324 ff.;  — 
Moral  und  Kunst  329 ff.;  —  Ab- 
lehnung der  ;neuen  Ethik"  336ff. 

Natur,  der  Ausdruck  angegriffen 
von  Boyle  127;  —  Definition  des 
Aristoteles  172;  —  Naturbild  der 
Gegenwart  380ff. 

Naturgesetz,  zur  Geschichte  154  ff.; 
Naturgesetz    und    Sittengesetz 

163. 

Naturkultus,  seit  Giordano  Bruno 
158. 

Naturwissenschaft  und  Ge- 
schichte 168. 

Neunzehntes  jahrhundert,  seine 
innere  Bewegung  18ff.;  —  seine 
Bewegung^  gegen  den  Intellek- 
tualismus 43 ff.;  —  sein  Realismus 
72  ff. 

Neuzeit,  ihre  zwiefache  Stellung 
zum  Geistesproblem  13ff.;  —  ihre 
Behandlung  des  Denkens  41ff.;  — 
ihr  wissenschaftliches  Verfahren  59, 


156 ff.;   —   ihr  Eintreten  für  Ent- 
wicklung  197 ff.;   —    ihre   Befrei- 
ung des  Individuums  151,   286 ff. 
Noologische  Betrachtung, unter- 
schieden von  psychologischer  33. 
Normen  24,  163. 
Objektiv,  Wort  lOff.;  —  Problem 
12 ff.;  —  Bedeutung  bei  Kant  16, 
bei  Goethe  28. 
Öffentliche  Meinung  297. 
Ökonomismus  311ff.,  318ff. 
Ontologie,  Ausdruck  109. 
Optimismus,    Ausdruck  und  Pro- 
blem 376ff. 
Organisch     und     Organismus, 
Geschichte   des    Ausdrucks  128ff., 
des  Problems  130 ff.;  —  Organische 
Natur-    und    Geschichtsauffassung 
136 ff.;   —   Unterschied    der  alten 
und   der  neuen  Fassung   139;  — 
organische  Gesellschaftslehre  149  ff. 
Panentheismus  392. 
Pantheismus,  der  Neuzeit  392;  — 
sein  Verblassen  in  der  Gegenwart 
394  ff. 
Persönlichkeit,     Geschichte     des 
Ausdrucks  343 ff.;  —  des  Begriffes 
345 ff.;  —  Problem  der  Persönlich- 
keit  Gottes  346;    —    Motive   des 
Kampfes  gegen  die  Persönlichkeits- 
idee 347 ff.;  —  Persönlichkeit  und 
Metaphysik  349 ff.;   —   Kritik  der 
h^tigen  Bewegung  zur  Persönlich- 
keit 353;  —  persönliche  Gestaltung 
der  Arbeit  unterschieden  von  sub- 
jektiver 354 ff.;  —  Bedeutung  der 
Persönlichkeiten  im  geschichtlichen 
Leben  297  ff. 
Pessimismus,  Ausdruck  und   Pro- 
blem 376ff. 
Phantasie,   ihre   Unentbehriichkeit 

für  die  Philosophie  98,  106  ff. 
Philosophie,  ihre  Aufgabe  und  Me- 
thode 63;  —  das  Recht  einer  selb- 
ständigen Philosophie  63 ff.;  93 ff.; 
—    ihr    Zusammenhang   mit    der 


Sachre 

Bewegung  der  Weltgeschichte  62, 
100  ff.;  —  philosophia  perennis 
278. 

Politismus,  301  ff.,  305 ff. 

Pragmatismus,  Darstellung  und 
Kritik  47. 

Praktische  und  theoretii^che 
Vernunft,  ihre  Scheidung  durch 
Aristoteles  37;  —  Geschichte  der 
Begriffe  37  ff.;  —  verschiedene 
Lebenstypen  39  ff. 

Psychologismus,  abgelehnt  19. 

Rationalismus,  sein  Recht  und 
sein  Unrecht  11 7 ff.;  —  sein  Er- 
kenntnisbild 88;  —  sein  Geschichts- 
bild 118. 

Realismus  (s.  Idealismus)  Ausdruck 
69;  —  im  19.  Jahrhundert  72ff.; 
—  seine  Schranken  74  ff. 

Reformation,  ihre  Stellung  zum 
Intellektualismus  und  zum  Volun- 
tarismus 40 ff.;  —  ihre  Stellung 
zur  Kunst  332. 

Rein  (reiner  Verstand,  reine  Ver- 
nunft) 86. 

Religion,  Bewegung  gegen  sie  in 
der  Neuzeit  392 ff.;  —  ihr  Wieder- 
aufsteigen 395ff.;  —  Forderungen 
für  ihre  gegenwärtige  Lage  398 ff. 

Renaissance,  ihre  Stellung  zur 
Kunst  und  zur  Moral  331  ff. 

Romantik,  ihre  Schätzung  des  Or- 
ganischen 136 ff.;  —  ihre  Entwick- 
lungsidee 204,  215;  —  ihre  Ge- 
schichtsauffassung 255. 

Schöne  Seele  307. 

Scholastik,  ihre  Fassung  der  Wahr- 
heit 12 ff.;  —  ihre  Stellung  zum 
Intellektualismus  40;  —  Grenze 
ihrer  Leistung  57;  —  ihr  Mangel 
an  disjunktiver  Kraft  58ff. 

Selektionslehre  208ff. 

Souverän,  souveräne  Art  der 
geistigen  Arbeit  354  ff. 

Sozialdemokratische  Bewegung 
313ff. 


gister. ^9 

Soziale  Gesetze  164. 

Soziale  Lebensführung  292ff. 

Spiritualismus  178ff. 

Staatsidee,  ihr  stärkeres  Hervor- 
treten im  19.  Jahrhundert  290,  301, 
318. 

Stufen  des  Lebens  und  des  Er- 
kennens  102,  350. 

Subjektiv,  Wort  10;  —  Wendung 
der  Gegenwart  zum  Subjekt  19  ff. 

Summierungder  Vernunft  296 ff. 

System,  Bedeutung  und  Grenze  67. 

Teleologie  135ff.;  —  empirische 
Teleologie  141. 

Theoretische  Vernunft  (s.  prak- 
tisch) 37  ff. 

Transzendenz,  Ausdruck  391. 

Typus  und  typisch,  Ursprung  des 
Ausdrucks  356, 

Unendlichkeitsgedanke,  seine 
verschiedene  Schätzung  und  Be- 
handlung 379. 

Vitalismus  144ff. 

Volltätigkeit  31. 

Voluntarismus,  Wort  und  Problem 
37 ff.;  —  seine  Entwicklung  43. 

Von  vornherein  86. 

Wahrheitsbegriff  und  Wahr- 
heitsproblem 12ff.;  —  nicht 
bloß  intellektuell  35ff.,  64,  122; 
—  unsere  Fassung  35  ff. 

Weltgeschichtlicher  Stand  der 
Arbeit,  als  Maßstab  267. 

Wert,  Erörterung  22ff. 

Wert  des  Lebens  376ff. 

Wertschätzungen  in  der  Ge- 
schichte 257. 

Werturteile  20ff. 

Willensfreiheit,  Erörterung  des 
Problems  363  ff. 

Wirklichkeitsproblem  79ff. 

Wirtschaftliche  Frage,  ihre  ge- 
schichtliche Entwicklung  314  ff. 

Wirtschaftliche    Gesetze    104ff. 


410 


Sachregister. 


Zeitgeist,  Aufkommen  des  Begriffs 
und  Problems  273. 

Zivilisation,  Urspnmg  des  Aus- 
drucks 229;  —  unterschieden  von 
Kultur -231  ff. 


Zufall,  Grenze  seines  Vermögens 
nach  Aristoteles  132. 

Zweck,  sein  Recht  in  der  Weltan- 
schauung 143  ff. 


Verlag  von  VEIT  &  COMP,  in  Leipzig 


GESCHICHTE  DER  MEÜEREH  PHILOSOPHIE 

VON  NIKOLAUS  VON  KUES  BIS  ZUR  GEGENWART. 

Im  Grundriß  dargestellt  « 

von 

Richard  Faickenberg, 

o.  Professor  an  der  Universität  Erlangen. 

Sechste,   verbesserte  und   ergänzte  Auflage, 
gr.  8,     1908.    geh.  9  M.,  geb.  in  Ganzleinen  10  M. 

,,Ein  Buch  von  mäßigem  Umfange  und  doch  ein  großartiges  Werk.  Großartig  durch  die 
Fülle  des  verarbeiteten  Stoffes,  da  nicht  allein  alle  Philosophen  von  Fach,  sondern  alle  Männer, 
deren  Denkarbeit  bestimmend  auf  das  Geistesleben  der  modernen  Völker  eingewirkt  hat,  Berück- 
sichtigung gefunden  haben." 

Durch  die  Gediegenheit  des  Inhaltes,  die  geschickte  Anordnung  und  die  Klarheit  der  Darstellung, 
durch  vorzügliche  bibliographische  Nachweise  hat  sich  Falckenbergs  Geschichte  der  neueren  Philo- 
sophie allgemeine  Anerkennung  erworben,  nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  auch  im  Auslande.  — 
Den  Schluß  des  Werkes  bildet  eine  Erläuterung  der  wichtigsten  philosophischen  Kunstausdrücke. 

GRIECHISCHE^  DENKER, 

Eine  Geschichte  der  antiken  Philosophie. 

Von 

Theodor  Gomperz. 

»  Vollständig  in  drei  Bänden. 

Erster  und  zweiter  Band. 
Zweite  Auflage. 
Lex.  8.    1903.    geh.  23  M,  geb.  in  Halbfranz  28  M. 
In  diesem  einzig  dastehenden,  die  Summe  seiner  durch  zahllose  Einzel- 
forschungen   ausgefüllten  Lebensarbeit   ziehenden  Werke   behandelt   der  große 
Gelehrte  nicht  die  Gedanken  oder  die  Systeme  oder  die  Geschichte  der  grie- 
chischen Philosophie,  sondern  die  „Denker",  die  Individuen.  Der  Werdegang  ihrer 
Ideen  wird  auf  dem  Hintergrund  ihrer  Zeit  geschildert,  und  die  geistige,  Jahrtausende 
überspannende  Brücke,  die  sie  mit  der  Gegenwart  verbindet,  wird  geschlagen. 

Der  dritte  Band,  dessen  erste  bis  dritte  Lieferung  erschienen  sind,  wird 
Aristoteles  behandeln. 

GESCHICHTE  DES  GELEHRTEN  UNTERRICHTS 

auf  den  deutschen  Schulen  und  Universitäten 

vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur  Gegenv^^art. 

Mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  klassischen  Unterricht. 

Von 

Dr.  Friedrich  Paulsen, 

o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Berlin. 

Zweite,  umgearbeitete  und  sehr  erweiterte  Auflage. 
Zwei  Bände. 

gr.  8.     1896  u.  1897.    geh.  30  M,  geb.  in  Halbfranz  34  M. 

Erster  Band:    Der  gelehrte  Unterricht  im  Zeichen  des  alten  Humaniimus.    1450—1740. 
Zweiter  Band :  Der  gelehrte  Unterricht  Im  Zeichen   des   Neuhumanismus.    1740—1892. 

„Wenn  diese  Deutung  der  historischen  Tatsachen  nicht  gänzlich  fehlgeht, 
so  wäre  hieraus  für  die  Zukunft  zu  folgern,  daß  der  gelehrte  Unterricht  bei  den 
modernen  Völkern  sich  immer  mehr  einem  Zustande  annähern  wird,  in  welchem 
er  aus  den  Mitteln  der  eigenen  Erkenntnis  und  Bildung  dieser  Völker  bestritten 
wird." 


Verlag  von  VEIT  &  COMP,  in  Leipzig 


JOHANN  HEINRICH  PESTALOZZI. 

Seine  Ideen  in  systematischer  Würdigung. 

Von 

Dr.  Hermann  Leser, 

Professor  an  der  Universität  Erlangen, 
gr.  8.     1908.    geh.  3  M  50  Pf. 

VORLESünQEM  ÜBER  HRTÜRPHILOSOPHIE, 

gehalten  im  Sommer  1901  an  der  Universität  Leipzig 

von 

Wilhelm  Ostwaid. 

Dritte,  vermehrte  Auflage. 

Lex.  8.  1905.  geh.  12  M,  geb.  in  Halbfranz  14  M  50  Pf. 
Die  „Vorlesungen  über  Naturphilosophie"  des  berühmten  Chemikers  sind 
eine  der  interessantesten  neuzeitlichen  Erscheinungen.  Die  „Vorlesungen"  stellen 
kein  Lehrbuch  oder  System  dar,  sondern  sind  das  Ergebnis  umfassender  Erfahr- 
ung bei  Forschung  und  Unterricht,  das  durch  die  schöne  Form,  in  der  es  ge- 
boten wird,  eine  außergewöhnliche  Anziehungskraft  auf  den  Leser  ausübt. 


PSYCHOLOGIE  DER  NATURVOLKER. 

ENTWICKLUNGSPSVCHOLOOISCHE  CHARAKTERISTIK 

DES  NATURMENSCHEN 

IN  INTELLEKTUELLER,  AESTHETISCHER,  ETHISCHER  UND 

RELIGIÖSER  BEZIEHUNG. 

Eine  natürliche  Schöpfungsgeschichte  des  menschl.  Vorstellens,  Wollens  und  Glaubens 

von 

Dr.  Fritz  Schultze, 

ordentlicher  Professor  der  Philosophie  an  der  Technischen  Hochschule  zu  Dresden, 
gr.  8.    1900.    geh.  10  M. 

WIRTSCHAFT  UND  RECHT 

nach  der  materialistischen  Geschichtsauffassung. 
Eine  sozialphilosophische  Untersuchung 

von 

Dr.  Rudolf  Stammler, 

o.  5.  Professor  an  der  Universität  Halle  a.  S. 

Vitam  impendere  vero. 
Zweite,  verbesserte  Auflage. 
Lex.  8.     1906.    geh.  15  M,  geb.  in  Halbfranz  17  M  50  Pf. 
Die  Erforschung  der  allgemein  gültigen  Gesetzmäßigkeit,  unter  der  das 
soziale  Leben  des  Menschen  steht,  bildet  den  Inhalt  dieses  Werkes.    Der  Ver- 
fasser gelangt  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  allgemein  gültige  Richtschnur  für  das 
dem  sozialen  Ideal  entsprechende  Recht  nur  die  Herstellung  einer  Gemeinschaft  von 
Menschen  sein  kann,  deren  Wollen  von  bloß  subjektivem  Begehren  frei  ist,  von 
denen  vielmehr  jeder  die  objektiven  Zwecke  der  anderen  zu  den  seinigen  macht.