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BOOK 190.EU22G 1913 c. 1
EUCKEN # GEISTIGE STROEMUNGEh
DERGEGENWART
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(B
Geistige Strömungen
Geistige Strömungen ^^-
DER Gegenwart
VON
RUDOLF EUCKEN
DER GRUNDBEGRIFFE DER GEGENWART
VIERTE UMGEARBEITETE AUFLAGE
Neue Ausgabe
VERLAG VON VEIT&COMP. IN LEIPZIG
1913
Druck von Fr. Richter, O. m. b. H., Leipzig.
Vorwort zur dritten Auflage
----- Die dritte Auflage ist gegen die zweite noch mehr verändert
S als diese gegen die erste; bildete bei ihr die geschichtliche Dar-
C: legung den Grundstock, den die sachliche Erörterung nur um-
säumte, so ist diese in der zweiten Auflage weit selbständiger
geworden und hat in der dritten die volle Herrschaft erlangt;
das Buch ist nun vor allem ein Ausdruck einer eigentümlichen
ß philosophischen Gesamtüberzeugung und will als solcher ge-
4 würdigt sein. Das mußte auch die Darstellung wesentlich ver-
j ändern, das verlangte namentlich eine präzisere Anordnung und
Einteilung des Stoffes bis in die einzelnen Abschnitte hinein.
j Den Grundgedanken der früheren Behandlungen: die Ver-
<5^ knüpfung von Historischem und Sachlichem einerseits, die Zer-
-V legung in einzelne Abschnitte andererseits glaubte ich dabei
festhalten zu können. Daß das Geschichtliche mir mehr ist
i
als ein Gegenstand gelehrter Beschäftigung, daß es, freilich
f^ unter bestimmten Voraussetzungen, zur Erhöhung der eignen
-J Arbeit kräftig beizutragen vermag, dafür kämpft das Buch ebenso
als Ganzes wie in besonderen Erörterungen, die sich hier nicht
vorwegnehmen lassen. Das Ausgehen von einzelnen Problemen
aber gewährte den Vorteil greifbarer Angriffspunkte, von denen
l/l sich rasch zu irgendwelcher Entscheidung vordringen ließ.
Allerdings verblieb dabei der Mißstand, daß das Ganze der
y Überzeugung nicht als solches volle Rechenschaft geben und
-^ sich in einem fortlaufenden Zusammenhange darlegen kann.
VI Vorwort
Dieser Mangel sei bereitwillig zugestanden, er ist zu eng mit
dieser Behandlungsweise verbunden, als daß sich ihm hier ab-
helfen ließe. Gewisse Ergänzungen bieten in dieser Hinsicht
meine früheren Bücher, die größte Lücke liegt in dem Mangel
einer genügenden erkenntnistheoretischen Fundamentierung,
mein nächstes Buch wird einer prinzipiellen Erörterung dieses
Problems gewidmet sein.
Mehr noch als die Art der Behandlung aber ist es eine
durchgehende Grundüberzeugung, welche die verschiedenen
Auflagen zusammenhält, die Überzeugung von der Unsicherheit
des Bodens, auf dem unser ganzes Kulturleben und mit ihm
auch unsere wissenschaftliche Arbeit steht, die Überzeugung,
daß dieses Leben nicht nur einzelne Probleme in Hülle und
Fülle enthalte, sondern daß es auch als Ganzes einer energischen
Revision und einer gründlichen Erneuerung bedürfe. Am
Streben danach aber schien mir auch die Philosophie sich be-
teiligen zu müssen, ja sie besonders schien hier zu eifriger
Mitarbeit berufen. Das brachte mich in Gegensatz zum Haupt-
zuge der heutigen deutschen Philosophie, der seine wissen-
schaftliche Arbeit unbeirrt durch jene Fragen und Zweifel ruhig
fortführen zu können meint. Wie viel Wertvolles diese Arbeit,
namentlich in der genaueren Durchbildung der einzelnen Er-
kenntnisgebiete, geleistet hat und weiter leistet, das sei freudig
und dankbar anerkannt. Aber zugleich sei auch auf dem Rechte
und der Notwendigkeit jenes allgemeineren Problems mit aller
Entschiedenheit bestanden; wir werden uns in der Arbeit dafür
in keiner Weise durch die Sorge um die Stellung anderer dazu
beirren lassen, sondern lediglich und allein der inneren Not-
wendigkeit der Sache vertrauen.
Aber es sprechen neuerdings auch Zeichen in Hülle und
Fülle dafür, daß weitere Kreise den Problemen, für die wir
eintreten, ihre Teilnahme zuwenden. Die inneren Verwicklungen
unserer Kultur, ja unserer gesamten geistigen Lage werden
Vorwort VII
immer augenscheinlicher, mehr und mehr empfinden wir darin
schwere Unwahrheiten, Phrasen, wo wir Wirklichkeiten, Steine,
wo wir Brot suchten. Nun steht dabei das Glück und der
Sinn unseres eignen Daseins auf dem Spiele; so erhebt sich
immer dringender das Verlangen nach Klärung wie nach Be-
festigung, so wird auch die Philosophie immer zwingender
zur Arbeit an diesen Lebensfragen aufgerufen. Neue Wogen
des Lebens steigen auf, neue Stimmungen ergreifen die Gemüter
und heißen sie neue Ziele suchen.
Diese inneren Wandlungen haben auch meinen Büchern
mehr und mehr Freunde zugeführt und mir das Bewußtsein
eines engen geistigen Kontaktes mit der Zeit gegeben, das ich
früher nicht haben konnte. Mit besonderer Freude begrüße
ich die unerwartet rasch wachsende Teilnahme des aufsteigenden
jüngeren Geschlechts; möchte solche Teilnahme auch diesem
Buche zugute kommen, und möchte sie namentlich zu einer
Weiterführung der hier bloß entworfenen und sicherlich oft
sehr unvollkommen behandelten Probleme wirken. Denn was
uns gemeinsam vorschwebt, ist schließlich nichts geringeres
als die Idee eines neuen Menschen und einer neuen Kultur;
nur ein Zusammenschluß der Kräfte, nur eine Überwindung
alles bloß Individuellen, nur das Entstehen einer durchgehenden
Bewegung kann uns bei einer so gewaltigen Frage weiter-
bringen.
Jena, im Februar 1Q04.
Rudolf Eucken
Vorwort zur vierten Auflage
Die vierte Auflage ist gegen die dritte nicht so umge-
wandelt worden wie diese gegen die zweite, immerhin bringt
sie manche Veränderung. Mehrere Abschnitte sind völlig um-
gearbeitet, einer (über den Wert des Lebens) neu hinzugefügt
worden; durchgängig aber war das Bemühen, die Darstellung
flüssiger, den Inhalt gesättigter, die Hauptthesen präziser zu ge-
stalten, die Probleme der Zeit unmittelbarer zu erfassen, mit
dem allen das Ganze anschaulicher und eindringlicher zu
machen; auch wurden diesmal weit mehr die Bewegungen des
Auslandes in die Betrachtung hineingezogen. So hoffe ich; daß
die neue Auflage als Ganzes einen merklichen Fortschritt bringt.
Jena, Ende August 1Q08.
Rudolf Eucken
Inhaltsübersicht
Einleitung. Seite
'Die Zeitlage und unsere Aufgabe ihr gegenüber 1
A. Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
1. Subjektiv -Objektiv.
a) Geschichtliches • . 10
b) Das 19. Jahrhundert 18
c) Die positive Behauptung.
a. Einführung 27
ß. Der Grundbegriff des Geisteslebens 30
Y. Das Verhältnis des Menschen zum Geistesleben .... 33
o. Ergebnisse für den Wahrheitsbegriff 35
2. Theoretisch - praktisch (Intellektualismus -Voluntarismus).
a) Geschichtliches 37
b) Die Behauptung des Voluntarismus 43
c) Der Pragmatismus . 47
d) Die eigene Behauptung: der Aktivismus 51
e) Intellekt und Intellektualismus 52
a. Die Überflutung des modernen Lebens durch den Intellek-
tualismus 53
ß. Die Begründung des Erkennens im Lebensprozesse ... 56
y. Die bewegende Kraft im Wahrheitsstreben 59
o. Konsequenzen für die Erkenntnisarbeit 63
£. Konsequenzen für die Behandlung der Geschichte der
Philosophie 65
Inhaltsübersicht
3. Idealismus- Realismus. Seite
a) Die Ausdrücke 68
b) Zum Kampf der Lebensgestaltungen 70
a. Der Realismus des 19. Jahrhunderts 72
ß. Die Schranken des neuen Realismus 74
y. Kritik der überkommenen Formen des Idealismus ... 76
o. Erörterung des Wirklichkeitsproblemes 79
£. Die Forderungen eines neuen Idealismus 81
B. Zum Erkenntnisproblem.
1. Denken und Erfahrung (Metaphysik).
a) Geschichtliches 84
b) Das Recht einer selbständigen Philosophie 93
c) Die Wendung zur Metaphysik 104
d) Der Gesamtanblick der menschlichen Erkenntnisarbeit . . . 111
e) Würdigung des Rationalismus und des Empirismus. ... 117
2. Mechanisch - organisch (Teleologie).
a) Zur Geschichte der Ausdrücke und Begriffe 126
b) Zur Geschichte des Problems 130
c) Erwägungen zum Kampf der Gegenwart
a. Das Problem im Gebiet der Philosophie 142
ß. Das Problem in der Naturwissenschaft 144
y. Das Problem auf gesellschaftlichem Gebiet 149
3. Gesetz.
a) Zur Geschichte 154
b) Der Kampf um das Gesetz in der Neuzeit 159
C. Zum Weltproblem.
1. Monismus und Dualismus.
a) Zur Geschichte und Kritik der Begriffe 170
b) Der Monismus der Gegenwart 183
2. Entwicklung.
a) Zur Geschichte des Ausdrucks 192
b) Zur Geschichte des Begriffs und Problems 193
c) Die Verwicklungen und Schranken der bloßen Entwicklungs-
lehre 206
d) Forderungen für einen neuen Lebenstypus 221
D. Zu den Problemen des Menschenlebens.
1. Kultur.
a) Zur Geschichte des Ausdrucks und Begriffs 228
Inhaltsübersicht XI
b) Kritische Erwägung. Seite
a. Das Problem des Wesens und Wertes der Kultur . . . 235
ß. Das Problem des Inhalts der Kultur 237
y. Das unsichere Verhältnis des Menschen zur Kultur . . . 240
c) Forderungen für ein wahrhaftiges Kulturleben.
a. Die Notwendigkeit einer tieferen Begründung 243
ß. Die Notwendigkeit einer inneren Weiterbildung der Kultur 247
2. Geschichte.
a) Zur Entwicklung des Problems 253
b) Forderungen und Ausblicke 262
Anhang: zum Begriff des Modernen 273
3. Gesellschaft und Individuum (Sozialismus).
a) Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum.
a. Geschichtliches 283
ß. Die Probleme der Gegenwart.
aa. Die Unzulänglichkeit einer bloßgesellschaftlichen Kultur 292
, ßß. Die Unzulänglichkeit einer bloßen Individualkultur . 302
ff. Die Notwendigkeit einer inneren Überwindung des
Gegensatzes 312
»
b) Die sozialdemokratische Bewegung 313
4. Probleme der Moral.
a) Die unsichere Stellung der Moral in der Gegenwart . . . 322
b) Moral und Metaphysik 324
c) Moral und Kunst (ethische und ästhetische Weltanschauung)
a. Die Geschichte des Problems 329
ß. Die Probleme der Gegenwart.
aa. Der moderne Ästhetizismus 336
ßß. Die Stellung der Kunst im modernen Leben .... 339
5. Persönlichkeit und Charakter.
a) Persönlichkeit.
a. Zur Geschichte des Ausdrucks 343
ß. Zur Geschichte des Begriffs 345
y. Untersuchung des Problems 348
b) Charakter.
a. Geschichtliches zum Ausdruck und Begriff 355
ß. Die Lage der Zeit 358
6. Freiheit des Willens.
a) Einleitung 363
b) Erwägungen zur Behauptung des Determinismus .... 366
XII Inhaltsübersicht
E. Letzte Probleme. Seite
1. Der Wert des Lebens.
a) Einleitendes 376
b) Die Verwicklung der Gegenwart 378
2. Das Problem der Religion (Immanenz und Transzendenz).
a) Zur Geschichte der Ausdrücke 390
b) Die Bewegung der Neuzeit zur Immanenz 392
c) Die Verwicklungen im Begriffe der Immanenz 394
d) Das Wiedererwachen des religiösen Problems 396
e) Forderungen für die gegenwärtige Lage der Religion . . . 398
Schlußwort 404
Sachregister 405
Einleitung.
Die Zeitiage und unsere Aufgabe ihr gegeniiber.
VV /er die geistige Lage der Zeit überblickt und prüft, der wird
• '^ vor allem eine starke Verworrenheit und eine peinliche Un-
sicherheit über das Hauptziel des Strebens empfinden; überall ein
Auseinandergehen der Menschheit in Parteien, oft auch ein Ge-
spaltensein des Menschen bei sich selbst. Dieser verworrene und
unsichere Stand mag zunächst als eine Wirkung der geschichtlichen
Überlieferung erscheinen. Denn von der Vergangenheit her um-
fangen uns verschiedenartige, ja einander feindliche Strömungen, ein
Erbe und eine Last aus tausendjähriger Arbeit; nichts unterscheidet
die moderne Kultur mehr von der einfacheren des Altertums als
solches Durchtränktsein von Gegensätzen. Das Mittelalter überlieferte
ein Lebensganzes, das die grundverschiedene antike und altchrist-
liche, künstlerische und religiöse, weltfreudige und weltfeindliche
Denkweise weniger gegenseitig ausglich als geschickt zusammenfügte.
Diesem Gefüge setzte die Neuzeit einen neuen Lebensdrang, ein Ver-
langen nach unbegrenzter Entfaltung der Kraft und voller Beherrschung
der Dinge entgegen, aber die nähere Ausführung dessen entzweite
das Neue alsbald bei sich selbst: einerseits verlangte das Seelenleben
mit seinem Denken, andererseits die Natur mit ihrem Mechanismus
die Herrschaft über Leben und Welt (Intellektualismus und Naturalis-
mus). Alle solche Gegensätze läßt das 19. Jahrhundert mit seiner
historischen Bildung und seiner grüblerischen Reflexion in greller
Deutlichkeit sehen und mit voller Stärke empfinden, es drängt zwingend
zu einer schärferen Scheidung der verschlungenen Gedankenmassen, es
verbietet ihnen immer strenger ein friedliches Zusammengehen. Und
wie viel hat das 1 9. Jahrhundert bei sich selbst erlebt, wie eingreifende
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 1
2 Einleitung.
Wandlungen hat es durchgemacht, deren einzelne Phasen auch bei
äußerer Zurückdrängung uns innerlich nahe bleiben und nach wider-
streitenden Richtungen ziehen: die künstlerische Geisteskultur unserer
klassischen Literaturepoche, ein kraftvoller und selbstbewußter Realis-
mus, ein Rückschlag gegen diesen Realismus in einem Subjektivismus
seelischen Fürsichseins, schwebender Stimmung! Wie viele Gegen-
sätze tragen wir aus altem und neuem Bestände in uns, wie viel
haben wir zu tun, um ihrer innerlich Herr zu werden!
Um diese verschiedenartigen Anregungen zu verarbeiten und
mit einander auszugleichen, bedürfte es überlegener geistiger Kraft.
Da diese fehlt, so erscheinen alle Mißstände, welche das Be-
wältigtwerden des Menschen von seinen eignen Erlebnissen, das
Unterliegen unter die Zerstreutheit des Daseins herbeiführen muß.
Keine festen Ziele beherrschen das Streben, keine einfachen Ideen
entwinden sich dem Chaos und befreien von seinen Wirren und
Zweifeln. Vielmehr bewältigen uns die unmittelbaren Eindrücke und
zerreiben das Leben unter ihren Widersprüchen. So treiben mr
unsicher auf den Wogen der Zeit einher, wehrlos gegen alles, was
uns mit starkem Bewußtsein und kecker Behauptung naht, wehrlos
auch gegen die eigenen Einfälle und Leidenschaften, ein Spiel von
wechselnden Lagen und Launen.
Diese Lage wird namentlich dadurch gespannt, daß die Wand-
lungen, die wir erfahren, sich schließlich zu Einer Frage verbinden
und uns vor ein einziges Entweder-Oder stellen, das keine Ver-
schleierung duldet und eine Entscheidung des ganzen Menschen
verlangt Das stille, aber unablässige und unwiderstehliche Wirken
der modernen Arbeit hat an der überkommenen Lebensführung nicht
nur alle einzelnen Punkte verändert, es hat sie als Ganzes unter-
graben und unhaltbar gemacht Die ältere Denkweise behandelte,
offen oder versteckt, gröber oder feiner, sinnlicher oder geistiger,
den Menschen als das Maß und den Mittelpunkt des Alls, verwandelte
die Wirklichkeit in ein Reich von menschenartigen Größen und
machte das Wohlergehen des Menschen zum Ziele alles Geschehens.
Diesen Anthropismus hat das Ganze der modernen Arbeit gründlich
zerstört; nicht nur die unermeßliche Erweiterung der äußeren Welt,
auch die Aufdeckung innerer Notwendigkeiten und sachlicher Zu-
sammenhänge im eigenen Bereich der Menschheit, ein weites Hinaus-
wachsen des geistigen Schaffens über das bloße Subjekt machen jenes
Sicheinspinnen in das Menschliche zu einer unerträglichen Enge, sie
Einleitung. 3
erwecken zugleich ein glühendes Verlangen nach einem weiteren,
freieren, gehaltvolleren Sein, einen starken Durst nach einem Leben
mit der Unendlichkeit und der Wahrheit des Alls. Diese Wand-
lungen treten immer mehr auch in das Bewußtsein der Menschheit
und verlangen stürmisch ihr Recht.
Aber aus dem Nein entspringt dabei keineswegs rasch ein Ja,
und der Erschütterung entspricht nicht eine Befestigung. Denn die
neue Lage eröffnet zwei Möglichkeiten, die, als schroffe Gegensätze,
keinerlei Ausgleichung dulden. Hat jene weltgeschichtliche Bewegung
gegeii das Beharren beim Bloßmenschlichen den Sinn, daß der Mensch
sich als ein bloßes Naturwesen zu verstehen und all sein Sinnen und
Tun dem Rahmen der Natur einzufügen habe? Dann wäre alles
unterscheidend und auszeichnend Menschliche als ein verderblicher
Wahn zu entfernen, alle Größen und Güter unseres Lebens hätten
ihr Gesetz und ihre Gestalt von der Natur zu empfangen. Oder besagt
jene Bewegung, daß innerhalb des Menschen selbst eine neue Weib
eine geistige Welt emporsteigt und ihn wie über die Natur auch
über sich selbst hinaushebt? Beginnt mit ihm eine neue Stufe der
Wirklichkeit, und kann sein Seelenleben sich von innen her zu einer
Welt erweitern? Dann würde zur Hauptaufgabe die Ergreifung,
Aneignung und Ausbildung dieser Welt, dann müßte der Mensch
vor allem hier sich befestigen und all sein Sinnen und Streben
nicht sowohl rückwärts als vorwärts richten. So ist der Mensch
entweder weniger oder mehr, als er sich heute einzuschätzen pflegt;
je nach der Entscheidung für dieses oder jenes muß aber das Leben
sich vom Größten bis zum Kleinsten verschieden gestalten. Aber
so unerläßlich die hier gebotene Entscheidung ist, jene Schwäche des
Einheitsstrebens läßt die Zeit unsicher zögern und schwanken, nach
wechselnden Eindrücken neigt sie bald hieher bald dahin; indem
sie im Gesamturteil das eine billigt, will sie zugleich von dem anderen
nicht lassen; so bejaht sie hier, was sie dort verneint, so setzt sie an
keiner Stelle ihr ganzes Wollen und Wesen ein. Oft genug ist diese
Lage geschildert worden, ihr rascher Wechsel der Strömungen und
Stimmungen, ihr Mangel an Logik, wie ihn sowohl die Unempfind-
lichkeit auch für die härtesten Widersprüche und das Ineinander-
schieben verschiedenartigster Gedankenmassen, als die Schwäche des
Ausdenkens, des Verfolgens der Behauptungen in ihre Voraussetzungen
wie ihre Konsequenzen zeigt. In allem diesem erscheint ein starkes
Sinken des inneren Lebensstandes, ja eine innere Verarmung des
Einleitung.
Lebens, das aber inmitten staunenswerter Fortschritte an seiner Peri-
pherie, inmitten nie gesehener, nie geahnter Virtuosität von technischen
Leistungen, inmitten überströmenden Reichtums an äußeren Erfolgen !
Augenscheinlich befinden wir uns in einer geistigen Krise, die
uns zu übermannen droht. Aber es ist diese Krise nicht der Bos-
heit oder der Zweifelsucht Einzelner, sondern sie ist dem Ganzen
der weltgeschichtlichen Lage entsprungen. Sollten wir nicht hoffen
dürfen, daß die Notwendigkeit, welche eine solche Krise erzeugte,
uns auch irgendwelche Mittel und Hülfen gewährt, die über sie
hinausführen könnten?
In Wahrheit fehlt es nicht an Widerständen und Gegen-
wirkungen gegen jene chaotische Lage, an Versuchen, ihr eine ein-
heitliche Gestaltung des Lebens, ein einheitliches Bild der Wirklich-
keit entgegenzusetzen; leider bleiben aber diese Versuche meist unter
dem Einfluß dessen, das sie überwinden möchten. Die Zeit des selbst-
bewußten Spezialismus, den die Arbeit an der endlosen Breite der
Dinge alle Sorge um das Ganze vergessen ließ, hat ihren Gipfel
hinter sich. Aber das Streben zur Einheit gestaltet sich zunächst
meist so, daß die einzelnen Lebens- und Wissensgebiete die Sache
an sich reißen und das Bild vom Ganzen nach ihren besonderen
Eindrücken, Erfahrungen, Zwecken entwerfen. Mehr als es sonst
geschah, erzeugen sie innerhalb ihres besonderen Kreises geschlossene
Gedanken massen, dringen damit kühnlich über die Grenzen jenes
Kreises hinaus und möchten die ganze Wirklichkeit meistern. Ihre
besonderen Aufgaben werden vor alle übrigen gestellt, ihre Begriffe,
Maßstäbe, Methoden sollen schlechtweg gelten, ihr Gebiet wird ihnen
zum beherrschenden Mittelpunkt der gesamten Wirklichkeit. So bildet
sich die Religion, so oft auch die Kunst ihre eigene Welt, so erzeugt
die soziale Bewegung ihre besondere Weltanschauung, so erweitern
sich auf intellektuellem Gebiet namentlich oft die Naturwissenschaften
zu einer allumfassenden Philosophie. Das tat zunächst die Zoologie
unter dem Einfluß des Darwinismus, das sehen wir jetzt auch von
Physikern, Physiologen u. s. w. unternommen. Die Kühnheit des
Weltgedankens ist jetzt von den Philosophen zu den Naturforschern
gewandert, und es fehlt hier nicht an kecken Husarenritten in das
Land der Wahrheit; die Verquickung der philosophischen Behauptung
mit tüchtiger Forschungsarbeit läßt dabei manche das Ungeheuerliche
des Wagnisses kaum empfinden.
So entstehen eigentümliche Durchblicke, Partialweltbilder, deren
Einleitung. 5
sinnliche Nähe und leichte Faßlichkeit die Geister gewinnt und ein
gutes Stück mit sich fortreißt. Jedoch immer nur ein Stück. Denn
schließlich wird die Wahrheit der Dinge Widerstand leisten und
das aufgedrängte, viel zu knappe Maß zersprengen; sie wird es um
so eher, als jene Bewegung die verschiedenen Ansprüche bald zu-
sammenstoßen und sich ihr Recht gegenseitig bestreiten läßt. Nun
wird offenbar, daß sich nicht wohl vom Teil zum Ganzen bauen
läßt, und daß die Teilwahrheiten mit ihrer Überspannung zur Ge-
samtwahrheit sich in Irrung verkehren. Soweit aber jene Partial-
bewegungen Macht behaupten, einander hemmen und durchkreuzen,
müssen sie die Verwirrung, die sie bekämpfen, vielmehr steigern;
vielleicht wirkt heute kaum etwas so sehr zur Entzweiung als jenes
unzulängliche Streben nach Einheit. Nie war so viel die Rede von
Monismus wie heute, und nie ging die Menschheit so weit ausein-
ander wie heute.
Aber so unzulänglich jene Versuche sind, sie bleiben wertvoll
durch ihre Lehren. Namentlich zeigt ihr Scheitern mit voller Klar-
heit, daß sich nichts von den einzelnen Punkten her ausrichten läßt,
sondern es eine der Zerstreuung überlegene Einheit zu suchen gilt;
ohne eine Erhebung über das Ganze der Zeitlage, ohne ein Er-
greifen neuer Anfänge gibt es keine Hoffnung, der Krise gewachsen
zu werden. Aber warum sollte jenes unmöglich sein? Die Ge-
schichte ist für das Innere des Lebens kein fortlaufender Anstieg
zur Höhe; da wesenhaftes Geistesleben sich in der Geschichte nicht
nur entwickelt, sondern sich auch in ihr auslebt, so kommen immer
wieder Zeiten, wo es aus der Wirkung im menschlichen Dasein zu sich
selbst zurückkehren und die Wurzeln seiner Kraft neu beleben muß.
So allein kann es der Zeit überlegen werden und dahin wirken, das
Wahre in ihr von dem Problematischen zu befreien, das uns beirrt
und entzweit. Eine solche Zeit ist einmal wieder gekommen, es
gilt eine Selbstbesinnung auf die Grundlagen unseres Daseins, auf
unser Grundverhältnis zur Welt, es gilt eine Berufung von der
bloßen Zeit an das Ewige in der Zeit, vom bloßen Menschen an
die überlegenen Gewalten und Ordnungen, die aus dem Menschen
mehr als ein bloßes Naturwesen machen.
Bei solcher Lage hat jeder, der den Notstand durchschaut, nach
dem Maße seines Vermögens für jenes Ziel der Vertiefung des Lebens
und der Erneuerung der Kultur zu wirken. Der Weg, den unser Werk
dabei einschlagen soll, wird namentlich durch drei Merkmale bestimmt.
Einleitung.
1. Unsern nächsten Vorwurf sollen die der Zeit charakteristischen
Hauptbewegungen, die geistigen Strömungen, bilden, wie es in Kürze
heißen mag. Wir sprechen von solchen und nicht von Begriffen
oder Ideen, um von Anfang an die Meinung fernzuhalten, als ob
es sich an erster Stelle um bloß intellektuelle Vorgänge handle und
bei diesen die Entscheidung liege. Mag sich äußerlich der Streit
vorwiegend auf intellektuellem Gebiet abspielen, dahinter stehen
Lebensbewegungen aus dem Ganzen, dahinter steht eine eigentüm-
liche Absteckung der Wirklichkeit, eine eigentümliche Gestaltung
des Lebens; inmitten vielfachen Streites und durch verschiedene
Probleme hindurch kann bei diesen Voraussetzungen der Zeit eine
Gemeinschaft walten; so ist ihre Heraushebung besonders geeignet,
zu einem Gesamtbilde der Zeit zu verhelfen und das Eigentümliche
der Zeit klar erkennen zu lassen. Das Ausgehen von der Vielheit
aber hat den Vorteil, uns die Behauptungen und Probleme der Zeit
greifbarer und anschaulicher zu machen; es hat den weiteren Vorteil,
die Erörterung rasch auf einen bestimmten Punkt zu führen, an
dem sachliche Notwendigkeiten hervorzubrechen und unserem
Denken Wege zu weisen vermögen. Die Untersuchung wird
zeigen, daß wir überall auf dieselben Fragen kommen, ja daß ein
und dasselbe Hauptproblem durch alle Mannigfaltigkeit wirkt, auch
wird sie zeigen, daß, wie an jeder Stelle um das Ganze gekämpft
wird, so die Entscheidung über das Ganze in alle Verzweigung
hineinreicht. Der eignen Behauptung darüber dürfen wir uns aber
um so sicherer fühlen, je mehr die Erfahrungen und Forderungen
der einzelnen Punkte zu ihr drängen und sie als die einzige Möglich-
keit einer glücklichen Lösung zeigen.
2. Was wir aber näher bei den einzelnen Strömungen ermitteln
und wonach wir sie prüfen wollen, das ist der von ihnen behauptete
oder doch in ihnen enthaltene Lebensprozeß; namentlich soll uns
die Frage beschäftigen, ob dieser Lebensprozeß ein selbständiges
Geistesleben möglich macht. Ein gewisser Tatbestand des Geistes-
lebens pflegt, wenn auch oft widerwillig, von jedem anerkannt zu
werden; wie viel aber in ihm liegt, und was er über die nächste
Erscheinung hinaus verlangt, an welche Voraussetzungen und Be-
dingungen er geknüpft ist, das bleibt meist in völligem Dunkel.
Wie sich die Bewegungen der Zeit zu diesem Problem, zum Problem
der Möglichkeit des Geisteslebens, stellen, und was sie dafür leisten,
darauf sei vornehmlich das Augenmerk gerichtet. So soll uns nicht
Einleitung^
die Breite der Leistungen festhalten, sondern wir streben rasch zu
dem sie durchwaltenden Leben, als dem letzten Punkt, der erreich-
bar ist und von dem aus sich unsere Gedankenwelt aufzubauen
hat; es bringt uns solche Wendung zum Lebensprozesse wohl am
sichersten an den Punkt, wo die Probleme dem Einzelnen zum eignen
Erlebnis werden, wo er am ehesten eigene Erfahrungen einsetzen
und am wenigsten eine eigne Entscheidung ablehnen kann.
3. Wo der Gehalt der Zeit den Ausgangs- wie den Endpunkt
bildet, da empfiehlt sich ein Heranziehen der geschichtlichen Be-
trachtung zur Unterstützung der philosophischen Arbeit. Jene Be-
trachtung helfe zunächst dazu, die geistige Art der Gegenwart durch
Aufdeckung ihres Werdens und ihrer Zusammenhänge heller zu
beleuchten und deutlicher abzugrenzen. Für die Fassung und
Schätzung dessen, was die Zeit beherrscht, kann es nicht gleichgiltig
sein, ob wir in ihm eine Woge des bloßen Augenblickes oder
einen bleibenden Lebensstrom erkennen, ob das heutige Erlebnis
schon öfter erlebt wurde und einem wiederkehrenden Rhythmus an-
gehört, oder ob in ihm etwas völlig Neues und Eigenartiges auf-
steigt, auch ob es mehr eine Wirkung oder eine Gegenwirkung,
mehr einen Vorstoß oder einen Rückschlag bedeutet. Diese ge-
schichtliche Betrachtung hat bei den verschiedenen Punkten ver-
schieden weit in die Vergangenheit zurückzugreifen. Oft wird die
Bewegung in ihren Hauptphasen durch das Ganze der europä-
ischen Kulturentwicklung zu verfolgen sein, an anderen Stellen
wird die nächstvorangehende Epoche zur Aufklärung der Gegenwart
genügen.
Solche hellere Beleuchtung des Tatbestandes an der Hand der
Geschichte mag eine selbständige Untersuchung vorbereiten, wenn
anders ein Ding in seiner Eigentümlichkeit schärfer sehen, zugleich
seine Grenzen deutlicher sehen und ein Problem in ihm erkennen
heißt Aber nicht nur die Behauptung der Gegenwart, auch die
geschichtlichen Zusammenhänge, ja die Geschichte als Ganzes ver-
wandeln sich bei Aufdeckung des in ihnen wirksamen Lebenspro-
zesses in ein Problem; der Lebensprozeß mit seiner Bewegung läßt
sich aus dem Chaos der Erscheinungen nicht wohl heraussehen
ohne eine Versetzung aus der geschichtlichen Betrachtung in eine
zeitlose und unmittelbare, ohne ein Aufnehmen der Frage nach
Seiner Wahrheit und seinem Rechte; das Ganze läßt sich nicht
durchleuchten, ohne daß sich ursprüngliche, eigene, letzte Tatsachen
Einleitung.
von den übermittelten scheiden. Es mag sich so eine Umkehrung,
eine Wendung zu einer unmittelbaren Betrachtung und Erörterung
der Sache vollziehen; erst diese Umkehrung mit ihrer Verwandlung
der Geschichte in die Entfaltung eines zeitlosen Lebens macht es
möglich, den Befund des Daseins von innen her zu durchschauen,
von der Erscheinung zur Tatsache, vom bloßen Faktum zur be-
gründenden Wahrheit vorzudringen, in den Bewegungen der Ge-
schichte innere Notwendigkeiten und durchgehende Richtungen zu
erkennen, ja ihrem Ganzen irgendwelchen Sinn zu entringen.
Auf Grund solcher Betrachtung aus bleibender Wahrheit läßt sich
erst die Bedeutung der einzelnen Epochen ermessen, sowie an der
Leistung der Gegenwart eine immanente Kritik üben. Die Be-
hauptung der Zeit werde an dem weltgeschichtlichen Stande der
geistigen Evolution geprüft; hat die Geschichte schon mehr Gehalt
und Tiefe erschlossen, als jene Behauptung in sich aufnehmen kann,
so wird das Streben notwendig über sie hinausgetrieben, auch mag
es zugleich eine Anweisung über die Richtung empfangen, in der
es weiter zu suchen hat. Bei solcher Verflechtung der philosoph-
ischen Arbeit mit der weltgeschichttichen Erfahrung braucht die
Kritik nicht zurückschauend und reflektierend zu bleiben, sie kann
produktiv und vordringend werden, sie kann die Weiterbewegung,
die sie fordert, von sich aus fördern.
Eine solche Untersuchung hat darauf vor allem ihr Augenmerk
zu richten, die Selbstverständlichkeit zu zerstören, mit der sich die
Bestrebungen einer Zeit zu geben gewohnt sind, und zugleich von dem
Dogmatismus zu befreien, der jenen anzuhaften pflegt. Die erste
Bedingung dafür bildet ein präziseres Sehen dessen, was die Zeit
unternimmt und erreicht, präzise sehen heißt hier zugleich den
Umfang der Leistung sehen, und das allein macht es möglich, zu
einem Urteil zu gelangen, das selbständiger und kräftiger Art ist,
ohne ungerecht zu werden und Paradoxie für Unabhängigkeit zu
geben. Darauf vornehmlich sei also das Augenmerk gerichtet, in
der Mannigfaltigkeit und dem scheinbaren Durcheinander der Be-
wegungen durchgehende Züge, einfache Grundlinien aufzudecken;
von hier aus am ehesten werden wir hoffen dürfen, den Wahrheits-
gehalt der Zeit, ihre inneren Notwendigkeiten von der entstellenden
Zutat menschlicher Irrung und Leidenschaft zu befreien, zugleich
aber Anhaltspunkte für das eigne Streben zu gewinnen. Die Zeit
zutreffend beurteilen kann nur, wer sie innerlich mitzuerleben ver-
Einleitung. 9
mag; wer sich ihr von vornherein krittelnd und nörgelnd entgegen-
stellt, dessen Urteil hat keinen Wert.
Endlich sei noch hinzugefügt, daß, wie in den früheren Auf-
lagen des Buches, so auch in dieser die Bezeichnungen der Haupt-
begriffe sorgfältig beachtet werden sollen. Ihr schwankender
Gebrauch verschuldet zum nicht geringen Teil die Verwirrung der
Gegenwart. Indem einmal oft bei demselben Ausdruck laxere und
strengere Fassungen durcheinanderlaufen, erschleichen leicht Be-
hauptungen mehr Sicherheit und mehr Gehalt, als ihnen in Wahr-
heit gebührt; indem ferner nicht selten dasselbe Wort wesentlich
verschiedene Bedeutungen hat, verwirrt sich leicht der Anblick der
Sache und versteckt sich der Punkt der Entscheidung. Zu allen
Zeiten decken die Ausdrücke und die Begriffe sich nur in annähernder
Weise, heute aber gehen sie besonders weit auseinander. Zur
Bekämpfung eines solchen Mißstandes bedarf es auch eines Blickes
auf die Geschichte der Ausdrücke; so sei auch dieser ein bescheidner
Platz gewährt.
A. Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
1. Subjektiv - Objektiv.
a) Geschichtliches.
I |as Verhältnis von Subjekt und Objekt steht heute im Mittel-
*— ^ punkte der Arbeit und des Kampfes; je nach dem Vorwiegen
des einen oder des anderen gestalten sich die Bilder vom Leben,
die Begriffe von der Wirklichkeit, die Fassungen der Wahrheit ver-
schieden, geht die Hauptbewegung des Lebens entweder vom Men-
schen zur Welt, oder von der Welt zum Menschen. Wie in dies
Problem alle übrigen Probleme einmünden, so trägt sein heutiger
Stand die Wirkungen der gesamten Geschichte in sich, und es
müssen bei seiner Behandlung ihre Hauptphasen gegenwärtig sein.
In diesen Phasen werden wir die wichtigsten Möglichkeiten der
Lösung erkennen und zugleich eine durchgehende Bewegung ge-
wahren, welche, die Arbeit in eine gewisse Richtung drängt.
Eigentümliche Verwicklungen der Sache verrät schon die merk-
würdige Geschichte der Ausdrücke subjektiv und objektiv; sie haben
im Lauf der Jahrhunderte ihre Bedeutung geradezu vertauscht.
Bei Duns Scotus (f 1308), der zuerst sie als Kunstausdrücke ein-
ander gegenüberstellte, »/hieß subjectivum dasjenige, was sich auf
das Subjekt der Urteile, also auf die konkreten Gegenstände des
Denkens bezieht; hingegen objectivum jenes, was im bloßen obicere,
d. h. im Vorstelligmachen, liegt und hiemit auf Rechnung des Vor-
stellenden fällt" (s. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande,
IIL 208). In diesem Sinne gehen die Ausdrücke bei den Philo-
sophen bis in das 17. und 18. Jahrhundert, doch bildet das Gegen-
stück des gebräuchlicheren objektive öfter formaliter oder auch
Subjektiv — Objektiv. U
realiter. 1 Auch zeigen die Ausläufer der Scholastik bei objectivus
schon ein Schwanken, das die Wendung zum neueren Sprach-
gebrauch vorbereitet. 2
Die völlige Umkehrung der Bedeutung erfolgte aber erst beim
Übergang in die deutsche Sprache, und zwar innerhalb der Woffi-
schen Schule, so z. B. bei A. F. Müller (Einleitung in die philo-
sophische Wissenschaft, 1733), Baumgarten und Gottsched. Doch
bleiben die Ausdrücke (man sagt übrigens «subjektivisch" und » ob-
jektivisch") zunächst an die Schule gebunden, so erscheinen sie
z. B. noch in dem Streit zwischen Lessing und Goetze als gelehrte
Termini; erst die Kantische Philosophie hat sie dem allgemeinen
Sprachgebrauch zugeführt, in dem sie zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts einen breiten Raum erlangen. Von Deutschland aus ist die
neue Bedeutung zu den anderen Völkern gewandert und von ihnen
zunächst oft als fremdartig empfunden worden.
Der heutige Sprachgebrauch ist, so deutlich er sich vom
mittelalterlichen abhebt, bei sich selbst voll Schwankung und Un-
sicHerheit. »Subjektiv bezeichnet zunächst das, was der bloßen
Vorstellung des Individuums angehört, nicht selten aber auch, nament-
ich bei Naturforschem, alles und jedes, was das denkende und
fühlende Wesen bei sich selbst erlebt, auch wird wohl alle Über-
zeugung, die den unmittelbaren Tatbestand überschreitet, subjektiv
genannt und damit für eine nachträgliche Zutat erklärt. Tiefstes
und Flachstes erscheinen damit als gleichen Rechtes. »Objektiv
leidet namentlich an der Zweideutigkeit, daß es das Gegenständliche
bald als aller seelischen Betätigung gegenüber, bald als innerhalb
ihrer befindlich bezeichnet. Gegenständlich wollte Goethe, gegen-
ständlich will auch der moderne Naturalismus sein.
^ In den Erörterungen zwischen Descartes und Qassendi findet sich
subjective = formaliter in se ipsis, objective =: idealiter in intellectu. Bayle
unterscheidet (oeuv. div. 1727, III. 334a) objectivement dans notre esprit und
reellement hors de notre esprit, und noch bei Berkeley heißt es (Ausgabe von
Fräser II. 477): „Natural phaenomena are only natural appearances. They
are, therefore, such as we see and perceive them. They real and objective
nature are, therefore, the same."
' So heißt es z. B. in Chauvins lexicon rationale (1692) unter certitudo:
objectiva nonnullis est ipsa necessitas objecti, seu propositio necessaria objec-
tiva. AHis autem nihil aliud est quam denominatio quae sumitur ab actu
intellectus per quem objectum repraesentatur. Goclen (lex. philos. 1613)
nimmt ratio objectiva = res ipsa quatenus definitioni respondet.
12 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
In der Sache handelt es sich augenscheinHch um das Verhältnis
des Menschen und seines Gedankenkreises zur Welt, der er angehört.
Soweit das Denken selbständig wird, stellt es sich der Welt gegen-
über, aber zugleich kann es nie vergessen, daß es zu ihr gehört
und sich mit ihr unablässig beschäftigen muß; so entsteht mit der
Scheidung selbst zugleich ein unabweisbares Verlangen, sie irgend
zu überwinden, das Geschiedene wieder zusammenzubringen und
fest zusammenzuhalten. Diese Aufgabe aber scheint sich immer mehr
zu verwickeln, je mehr wir uns mit ihr befassen. Die Verwick-
lungen hat schon das griechische Altertum stark empfunden, aber
es hat sich mit ihnen noch leichter abgefunden, als uns Späteren
möglich ist. Die Lösung, welche die Höhe der klassischen Zeit
versuchte, ist am meisten zu geschichtlicher Wirkung gelangt; was
hier die leitenden Denker, ein Plato und ein Aristoteles, an Lehren
entwickeln, das schöpft vornehmlich daraus eine Überzeugungskraft,
daß es ein Ganzes der Lebensführung hinter sich hat. Diese alt-
griechische Lebensführung hat ihre Eigentümlichkeit und ihre Stärke
darin, das naive Verhältnis des Menschen zur Natur ohne einen schroffen
Bruch ins Geistige zu heben und zugleich zu veredeln, den Menschen
in die Welt hineinzusehen, aber aus der Spiegelung ihn geläutert
zu sich selbst zurückzuführen. Mensch und Welt, Inneres und
Äußeres, haben die anfängliche Vermengung überwunden, aber sie
sind noch nicht so schroff geschieden, um sich nicht durch geistige
Arbeit rasch wieder zusammenzufinden. Denn beides scheint ein-
ander wesensverwandt und innerlich zugetan, jedwedes bedarf zu
seiner eigenen Vollendung der Ergänzung durch das Gegenstück:
die von innerem Leben erfüllte Natur erreicht ihre Höhe in der
Aneignung durch den Menschen; was aber in diesem an Kräften
schlummert, das wird erst durch die Berührung mit der Welt zu
vollem Leben geweckt. In der Einigung, wie sie Anschauung und
Liebe bewirken, gewinnt das Leben die Höhe und Seligkeit geistigen
Schaffens. Eine solche Überzeugung kann unbedenklich die Wahr-
heit als eine Übereinstimmung unseres Denkens mit dem Gegenstande
(adaequatio intellectus et rei) fassen.
Diese Fassung genügt aber nur für einen Stand des Lebens,
wo die Natur noch seelischer und der Mensch noch natürlicher
schien, wo weder jene eine volle Selbständigkeit in eigentümlichen
Kräften und Gesetzen gewonnen, noch das Innenleben sich zu einer
eignen Welt vertieft hatte. So gewiß jene größere Nähe und jene
Subjektiv — Objektiv. 13
fruchtbare Wechselwirkung beider Seiten eine großgesinnte, lebens-
frohe, künstlerische Kultur hat bilden helfen, jener enge Anschluß
des Geisteslebens an das naive Weltbild war für die Dauer nicht
zu erhalten.
So hat denn schon das spätere Altertum in der Stoa und im
Neuplatonismus neue Wege versucht, aber stärker als diese hat auf
die Neuzeit jene ältere Art gewirkt, da sie eine nicht unbedeutende
Nachblüte in der mittelaltedichen Scholastik fand und durch diese
unmittelbar die Neuzeit berührte; namentlich in Auseinandersetzung
mit ihr hat diese ihre Eigentümlichkeit gefunden.
Es erscheint aber die neue Art zunächst in einer kräftigeren
Entfaltung des Subjektes, einer trotzigen Losreißung von der Um-
gebung, einem kühnen Versuch, vom Menschen und seinem Denken
her die Welt zu bilden und das Leben zu gestalten, statt aus der
Welt zu empfangen und an sie Anschluß zu suchen. Gewaltiger
als je hat die Wissenschaft den Anblick der Dinge verändert; indem
sie alles ausscheidet, was ihre Prüfung nicht besteht, das Ver-
bleibende aber durchleuchtet und enger verbindet, wird das ganze
Dasein des Menschen in das Element des Gedankens getaucht und
ins Gedankenhafte, Begriffliche, Ideelle gehoben. Das Innere erkennt
seine Einheit und befestigt sich sicher im eigenen Kreise, die Außen-
welt weicht davor zurück, sie verliert alles innere Leben, indem sie
zur räumlichen Bewegung keiner Seele mehr zu bedürfen scheint,
sie verliert alle bunte Farbe, indem die ganze Fülle der sinnlichen
Eigenschaften aus einem eigenen Besitz der Dinge zu einem bloßen
Gewände wird, womit sie die Seele umkleidet. So wird nunmehr
die Natur als ein Reich von leblosen Massen und Bewegungen der
Seele innerlich fremd; die Seele aber, als auf sich selbst gestellt
und mit ihrer Denkkraft die Unendlichkeit bezwingend, fühlt sich
ihr weitaus überlegen.
Das ist ein Hauptstück, vielleicht das Hauptstück des Lebens
der Neuzeit, nicht aber ist es das Ganze dieses Lebens. Denn
unverkennbar hat die Neuzeit neben dem Drange zur Steigerung
des Subjektes auch den entgegengesetzten Zug, aus der Kleinheit
des Menschen heraus zur Größe der umgebenden Welt zu flüchten,
gegenüber dem wirren Getriebe und der dumpfen Enge des
menschlichen Kreises ein weiteres, gehaltvolleres, reineres Leben
aus dem unermeßlichen All zu schöpfen. So ein Trieb zum Objekt,
ein Streben, sich in sein Wesen zu versenken, seinen Gehalt ohne
14 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Trübung in sich aufzunehmen. Hier wird von der Mitteilung der
Dinge, der Erfahrung, alles Heil erwartet; der Mensch darf seine
Art der Welt nicht irgendwie aufdrängen wollen, er muß sich ihr
dienstwillig einfügen, um seinem Leben Wahrheit zu sichern. Selbst
die Verstärkung des Subjekts unterstützt indirekt diese Wendung.
Denn indem das Subjekt bei kräftigerer Konzentration auf sich
selbst alle den Dingen geliehenen Eigenschaften von ihnen zurück-
fordert und damit der alten Vermenschlichung des Weltbildes ein
Ende bereitet, kann das Objekt seine eigene Natur mit voller Rein-
heit entfalten, seine Vielheit enger verbinden und fester zu einem
Ganzen verketten; jetzt erst, nachdem jener trübende Schleier ge-
fallen, erlangt die Natur eine volle Autonomie und wird sie ein
Reich von lückenlosen Zusammenhängen wie unverbrüchlichen
Gesetzen. Das alles entwickelt sich zunächst gegenüber dem Men-
schen, aber schließlich muß es sich zu ihm zurückwenden, ihn um-
klammern, ihn ganz und gar sich zu unterwerfen suchen. Von
hier aus erscheint mehr und mehr alles Fürsichsein des Subjekts
als ein leerer Wahn, und es wird gefordert, daß das Leben sich
den Dingen willig anschmiege und lediglich ihren Geboten folge.
So ein engerer Zusammenschluß des Menschen mit der Umgebung,
ein neuer Lebenstypus unter der Herrschaft des Objekts.
Demnach ist es nicht eine einzige, sondern es sind zwei Be-
wegungen, die durch die Neuzeit gehen und auf ihrem Boden ein
gleiches Recht behaupten. So ist sie innerlich bei sich selbst ent-
zweit, und ihr Leben enthält von Haus aus eine starke Spannung
und Unruhe. Diesen Doppelcharakter der Neuzeit werden auch
die meisten der von uns behandelten Probleme erkennen lassen.
Solcher Zwiespalt stellt der geistigen Arbeit eine schwere, aber un-
abweisbare Aufgabe; nicht aus der unmittelbaren Lage heraus, sondern
nur durch ihre Weiterbildung, nur durch Aufdeckung eines neuen
Grundgefüges der Wirklichkeit läßt sich eine überlegene Einheit und
zugleich eine sichere Wahrheit erhoffen.
Daher war es kein bloßer Eigensinn der Spekulation, es war
eine innere Notwendigkeit, welche große Forscher auf neue Bahnen
trieb und sie eine vom Denken getragene Wirklichkeit dem ersten
Lebens- und Weltbilde entgegenstellen hieß. Von diesen Versuchen
sind als Ausdrücke eines neuen Lebenstypus besonders wichtig die
von Spinoza und Kant; um den Gegensatz zu überwinden, verstärkt
jener das Objekt, dieser das Subjekt, jenem dringt das Objekt in
Subjektiv — Objektiv. 15
das Subjekt, diesem das Subjekt in das Objekt vor. Spinoza ver-
bindet den Menschen und die Welt durch die Aufdeckung einer
Weltkraft im Menschen und ihre scharfe Abhebung von aller bloß-
menschlichen Art; diese Weltkraft ist das von aller Bindung an die
sinnliche Umgebung befreite, lediglich auf sich selbst gestellte und
von seiner eigenen Notwendigkeit getriebene Denken, wie z. B. die
Mathematik es zeigt, das Kleinmenschliche dagegen besteht in dem
bloßsubjektiven Fürsichsein mit seinen Affekten und Zwecken. Die
Wendung von seiner Enge und Befangenheit zur Klarheit und
Weite des Denkens läßt den Menschen ein Weltleben gewinnen;
denn wie das Denken in einem auch die Dinge tragenden Allleben
gegründet ist, so erfaßt es in seiner Bewegung zugleich die Wahr-
heit der Dinge und teilt unmittelbar ihre Ewigkeit und Unendlich-
keit Die Seele des Lebens und die Erlöserin von allen Nöten
wird damit die Wissenschaft, die Wissenschaft, die sich in ihrer
Vollendung zu religiöser und künstlerischer Kontemplation gestaltet.
So ,waren es auch vor allem künstlerische und kontemplative Naturen,
welche dieser Lebenstypus mit seiner herben und stillen Größe
anzog; aber weit über den Kreis der Anhänger hinaus wirkte diese
Denkweise durch das Scheiden von Kosmischem und Kleinmensch-
lichem innerhalb des Menschen selbst, durch die energische Be-
kämpfung des Anthropismus des Denkens nicht nur, sondern auch
der Gesinnung, der sich im Mittelalter so fest eingenistet hatte.
Die Kleinheit des gewöhnlichen Glückverlangens und die Enge des
landläufigen Vorstellungskreises kommen jetzt zu deutlicher Emp-
findung; einmal empfunden und als unzulänglich befunden, können
sie die alte Selbstverständlichkeit nun und nimmer wieder erlangen.
Das aber bleibt eine Frage, ob unser geistiges Leben gänzlich
in Denken aufgeht, ob nicht die Wendung vom Schein der Sinne
zur Wahrheit des Denkens selbst eine Tat des ganzen Menschen
verlangt, die jenseit des bloßen Denkens liegt. Auch die Voraus-
setzung dieser Lösung: das Zusammenstimmen unseres Denkens mit
der Welt um uns, das Umfangensein beider von einem einzigen
Leben des Alls, ist keineswegs zweifellos; wo aber der Weltcharakter
unseres Denkens unsicher wird, da ist sofort die Wahrheit des ge-
botenen Lebens erschüttert.
Dieses Bedenken wirkte auch Jbei Kant, als er einen gerade
entgegengesetzten Weg einschlug. Denn bei ihm weicht die Welt
der Dinge in eine unzugängliche Feme zurück, und es fällt alle
16 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Möglichkeit, einer Übereinstimmung mit ihnen gewiß zu werden.
Soll also irgendwelche Wahrheit für uns bestehen bleiben, so ist
sie innerhalb des Subjektes selbst, nicht in einem Verhältnis
zum Objekt zu suchen. Das bedeutet ein entschiedenes Nein, aber
von diesem Nein findet sich für Kant ein Weg zu einem Ja, indem
er innerhalb unseres Lebenskreises große Gesamtleistungen aufzeigt,
vornehmlich die Bildung einer wissenschaftlichen Erfahrung und die
eines Reichs des sittlichen Handelns. Was immer an diesen Leist-
ungen von geistiger Art ist, das wird vom Subjekt geleistet; so
muß es auch bei sich selbst der herkömmlichen Fassung entwachsen.
Es ist nun nicht sowohl Einzelpunkt, individuelle Existenz, als
geistige Struktur, geistiges Gewebe; was es von sich- und seiner
Tätigkeit erfaßt, gewinnt damit eine Giltigkeit für alle Einzelnen;
so entsteht eine neue Art von Objektivität,^ ein neuer Begriff der
Wahrheit. Sein näherer Inhalt bestimmt sich nach der Beschaffen-
heit und der Bedeutung der Tätigkeit, er ist daher grundverschieden
bei der theoretischen und bei der praktischen Vernunft. Alle
menschliche Erkenntnis bleibt nach Kant an eine undurchsichtige
Welt gebunden; die Gedankenwelt, die wir auf ihre Anregung hin
entwickeln, gilt nur für uns selbst und unser Vorstellen, unser
Weltbild reicht nicht über uns hinaus, nicht nur die Formen der
sinnlichen Anschauung, auch die des Denkens sind und bleiben
bloßmenschlicher Art. Anders auf praktischem Gebiet. Hier erlangt
das Tun des Menschen eine volle Ursprünglichkeit und vermag es
aus sich selbst eine Welt zu erzeugen; hier, wo das Unterscheidende
in der Unterordnung aller menschlichen Besonderheit unter allgemeine
Normen liegt, ist die Wahrheit nicht bloßmenschlicher, sondern ab-
soluter Art. Der Mensch steht hier unmittelbar in den tiefsten
Gründen der Dinge, als moralisches Wesen wächst das Subjekt bei
sich selbst zum Träger einer Welt. So wird hier die Moral zu
' Dieser neue Begriff der Objektivität ist freilich voller Verwicklung
und wurde von den Gegnern Kants hart angegriffen. So sagt z. B. Plattner,
Philosophische Aphorismen I, § 6Q9 Anmerkung: „Wenn nun aber damit
bewiesen werden soll, daß unsere Erkenntnis objektive Giltigkeit hat: so übt
man doch fürwahr an dem Worte Objektiv eine Gewalttätigkeit aus, die
bisher in dem philosophischen Sprachgebrauche unerhört war; denn man
deutet damit gerade den entgegengesetzen Begriff Subjektiv an. Wirklich
hat sich Herr Schmid, der nie von seiner Liebe zur Wahrheit abweicht, in
der Notwendigkeit gesehen, die Kantische Objektivität subjektive Objektivität
zu nennen. Wörterb., Art. Objektiv."
Subjektiv — Objektiv. 17
einem selbständigem Reich und zugleich zum Kern des Lebens, die
Erkenntnisarbeit rückt in die Peripherie und bekommt zur höchsten
Aufgabe, die moralische Welt vor Störungen zu bewahren. Es
entsteht damit ein neuer Typus des Lebens in vollem Gegensatz
zu dem Spinozas: dort die Ruhe der Kontemplation, hier der Auf-
ruf zur Aktivität; dort ein Vordringen zu den Grundlagen einer
vorhandenen Welt, hier das Schaffen einer neuen Welt; dort die
Ausgleichung aller Gegensätze in einer allumfassenden Einheit, hier
eine Spaltung der Wirklichkeit und eine Verschärfung aller Gegen-
sätze. Beiden ist aber das Streben gemeinsam, unserem Leben irgend-
wie einen Weltcharakter zu geben, den Menschen aus sich selbst
herauszureißen und ihn zu neuen Tiefen zu führen.
Eine Erörterung des Kantischen Denk- und Lebenstypus bleibe
der Betrachtung der Gegenwart vorbehalten, die ihn zu neuem
Leben erweckt hat. Die unmittelbaren Nachfolger nahmen, als Söhne
einer Zeit von kräftigem und freudigem Lebensgefühl, schweren An-
stoß- an dem Belassen eines Dinges an sich und der Begrenzung
menschlichen Vermögens, die daraus hervorgeht Mit dem Ding an
sich fiel die Scheidung von theoretischer uud praktischer Vernunft,
und es stand nichts mehr im Wege, das Leben in einen einzigen
Zusammenhang zu verwandeln. So wurde denn kühnen Mutes
unternommen, alle Wirklichkeit aus unserer geistigen Tätigkeit, im
besonderen aus dem mit innerer Bewegung ausgestatteten Denken
hervorzubringen. Das Denken, so hatte schon Plotin gezeigt, ver-
mag im eigenen Kreise den Gegensatz von Subjekt und Objekt zu
überwinden, indem es sich gegen sich selbst kehrt, das Denken selbst
zum Vorwurf des Denkens macht Das brauchte nur mit voller
Konsequenz entwickelt, vom bloßen Individuum abgelöst und auf
das Ganze der weltgeschichtlichen Arbeit übertragen zu werden, und
es entstand das Hegeische System, das die ganze Wirklichkeit in
eine Selbstentwicklung des Denkens verwandelt, die Wahrheit als
ein Selbstbewußtwerden des Geistes versteht und den Menschen
an dieser absoluten Wahrheit vollauf teilnehmen läßt Nur muß er
alle Eigenwilligkeit eines subjektiven Meinens aufgeben und allein
den Notwendigkeiten des Denkprozesses folgen.
Dies Unternehmen ergriff nicht nur wie ein brausender Sturm
seine eigne Zeit, es hat sich mit seinem Flüssigmachen aller Größen
und seinem Zusammenschweißen aller Mannigfaltigkeit tief in den
Bestand des Geisteslebens eingegraben. Aber auch ein Rückschlag
Eucken , Orundbegriffe. 4. Aufl. 2
18 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
konnte nicht fehlen, sobald jener kühne Aufschwung nachließ, und
das Ausleben selbst die Grenzen des Unternehmens zur Empfindung
brachte. Unabweisbar wurde nun die Frage, ob der Prozeß nicht
über sich selbst hinausweist, da er als geistiger wieder erlebt sein
will und es dazu eines überlegenen Punktes bedarf; unabweisbar
die andere, ob die ausschließliche Verwandlung des Lebens in Denken
nicht der Wirklichkeit allen Inhalt raubt und aus ihr ein bloßes
Gewebe von logischen Formen und Formeln macht; unabweisbar
endlich die, ob hier nicht viel zu rasch die menschliche Geistigkeit
zur absoluten erhoben ist, — Wie immer dem sein mag, das Ganze
ist weniger durch eine wissenschaftliche Gegenarbeit überwunden
als durch eine tatsächliche Wendung des Lebens zurückgedrängt
worden. Damit aber betreten wir den Boden, der dem 19. Jahr-
hundert eigentümlich ist.
b) Das 19. Jahrhundert.
Das 1 9. Jahrhundert hat das Problem und den Gegensatz mehr
zum Bewußtsein gebracht als irgendwelche frühere Zeit, es läßt sie
unmittelbarer zur Empfindung wirken und sich breiter entfalten. Für
den Versuch einer Überwindung aber hat es kaum etwas neues
gebracht, wie schon das stete Zurückgehen auf Kant bekundet.
Das Problem erfährt zunächst den Einfluß der Wendung von
den Zielen der inneren Bildung zur Beherrschung der sichtbaren
Welt durch Naturwissenschaft, Technik und politisch-soziales Wirken.
Solche Richtung des Lebens heißt den Menschen stets den engsten
Anschluß an die Dinge suchen und nur von der Bindung seiner
Kräfte an sie eine Realität und Wahrheit erwarten, während ein
davon abgelöstes Leben zu einem bloßen Schattenreich, einer leeren
Einbildung sinkt. So verlegt das Leben seinen Schwerpunkt ins
Objektive und findet seinen Kern in der mit den Gegenständen be-
faßten und durch ihre Natur bedingten Arbeit; diese Arbeit vollzieht
eine Emanzipation von den bloßen Individuen, entwickelt bei sich
selbst Zusammenhänge ausgedehntester Art und macht mit ihrem
unaufhörlichen Anschwellen den Menschen mehr und mehr zu einem
bloßen Diener und Werkzeug. So zunächst in der technischen
Arbeit mit ihren Fabriken, so mehr und mehr auch in den anderen
Lebensgebieten. Je mehr überall das Sinnen und Streben sich auf
gemeinsame und sichtbare Leistungen richtet, desto nebensächlicher
Subjektiv — Objektiv. 19
wird, was in der Seele des Einzelnen vorgeht, desto gleichgültiger
erscheint sein Ergehen und Befinden, desto mehr wird das Subjekt
zu einem bloßen Tropfen am Eimer, zu einer Größe, die sich ohne
Schaden zurückstellen und ausschalten läßt. Einen wissenschaftlichen
Ausdruck findet das in der Theorie des Positivismus, soweit sie
ihre Grundsätze folgerichtig durchführt, sie nicht mit andersartigen
Gedankenmassen verquickt
Dieser Zug überwiegt noch immer im Leben der Zeit. Aber
stärker und stärker empfinden wir die Grenzen eines solchen Strebens,
und immer deutlicher steigt das Gefühl der Leere auf; bekundet nicht
schon das ein Wiedererwachen des Subjekts und die Unmöglich-
keit eines Verzichtes auf alle innere Befriedigung? Ein jäher Um-
schlag nach dieser Richtung tritt damit nahe, das Subjekt beginnt
sich in seiner Zuständlichkeit als das Erste und Überlegene an-
zusehen, es entwickelt die Neigung, alle Bindung nach außen auf-
zugeben, alles Geschehen nach der Wirkung auf das eigne Befinden
zu messen, schließlich das Leben möglichst in freischwebende Stimmung
zu verwandeln. So geht es neuerdings in breiten Wogen durch die
Literatur, das künstlerische Schaffen und auch durch das gesellschaft-
liche Zusammensein. Aber um die Seele zu befriedigen und den
Gegner zu besiegen, dazu entbehrt diese Bewegung viel zu sehr
eines Gehalts. All ihr Aufrufen der individuellen Kräfte ergibt
keineswegs eine zusammenhängende Innenwelt und eine gemeinsame
Wahrheit; schließlich führt dieser Weg in dieselbe Leere zurück,
von der er befreien wollte. Als wissenschaftlicher Vertreter dieses
Subjektivismus darf am ehesten der Psychologismus gelten, der un-
mittelbar von der Seele des Einzelnen her zu einer Gedankenwelt
strebte. Zeitweise hat dies viele überwältigend fortgerissen, aber der
Rückschlag ist rasch gekommen und immer deutlicher wird uns,
daß sich von dieser schwankenden Grundlage aus zu einer Wissen-
schaft, zu einem Reich der Wahrheiten nun und nimmer gelangen
läßt^ Auch jenseit der Wissenschaften erkennen wir mehr und
mehr die Schranken des Subjektivismus. Aber da wir zugleich
zum Objektivismus im geschilderten Sinne unmöglich zurückkehren
können, so verbleiben wir in peinlichem Zwiespalt, und es drohen
* Die durchschlagendste Widerlegung des Psychologismus enthalten die
Logischen Untersuchungen von Husserl, 1900 und 1901; im besonderen wird
hier überzeugend erwiesen, wie tief der Psychologismus auch in die Ge-
dankenwelt solcher Forscher eingedrungen ist, die ihn prinzipiell verwerfen.
2*
20 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
sich Arbeit und Seele einander immer mehr zu verfeinden. Ein
solcher Zerfall des Lebens läßt sich unmöglich als endgültig hin-
nehmen, irgendwie muß die Kluft überwunden werden.
An Bemühungen darum fehlt es nicht, am meisten verbindet
die Geister ein Streben, das Subjekt von innen her so zu verstärken
und auszuweiten, daß damit ein neuer Weltdurchblick und ein neues
Leben gewonnen wird. Es geschieht das aber in engem, wenn auch
keineswegs völligem Anschluß an Kant. Ein derartiges Streben zeigt
sowohl die Theologie als die Philosophie, es gestaltet sich aber hier
und dort in verschiedener Weise. In der Theologie — es handelt
sich hier namentlich um die von Ritschi ausgehende Bewegung —
wird unternommen, die religiöse Wahrheit von der Unsicherheit der
Spekulation und der Metaphysik zu befreien und ihr im innersten
Wesen der Seele einen festen Grund zu geben. Vornehmlich in
der Moral, in der Ausbildung der sittlichen Persönlichkeit, scheint
das Geistesleben ein eignes Reich zu erzeugen und sich mit ihm
sicher über alles andere Dasein hinauszuheben. Nach diesem Ge-
dankengange bedarf, was zur geistigen Selbstbehauptung nötig ist,
keiner Bestätigung von außen her, es erweist seine Wahrheit durch
sein eignes Vermögen, durch die Steigerung des ethisch-religiösen
Lebens. Die nähere Entwicklung der Gedankenwelt wird hier vor-
nehmlich durch die „Werturteile" bestimmt, die jene Beziehung zum
Kern des Lebens vertreten und damit aller theoretischen Beweis-
führung überlegen werden; das moralischreligiöse Leben entwirft
nach den ihm innewohnenden Notwendigkeiten ein Ganzes von
Überzeugungen, das freilich keine Welterklärung sein will und seine
Geltung nur in steter Zurückbeziehung auf die Grundwahrheiten
jenes Lebens hat.
Dieses Streben, dessen nähere Durchführung übrigens recht
verschiedene Färbungen hat, ist insofern gewiß in gutem Recht, als
es die letzten Überzeugungen des Menschen fester und unmittel-
barer begründen will, als das durch theoretische Erwägungen ge-
schehen kann, als es dem Leben in höherem Grade einen Tatcharakter
verleiht. Aber die nähere Lösung dieser Aufgabe ruft manche Be-
denken hervor. Als Kern des Lebens pflegt hier das Gefühl be-
handelt und von ihm aus ein Aufbau versucht zu werden. „Das
Gefühl ist nun einmal die geistige Funktion, in welcher das Ich bei
sich selbst ist". (Ritschi, Christi. Lehre von der Rechtfertigung und
Versöhnung III, 142). Aber läßt in Wahrheit das Gefühl schon
Subjektiv - Objektiv. 21
ein Beisichselbstsein des Lebens erreichen? Kann das Gefühl nicht
flach und leer sein? Es erzeugt doch nicht von sich aus einen
Inhalt, sondern es gewinnt ihn nur in weiteren Zusammenhängen
des Lebens. Wie das Gefühl in stetem Fluß und der verschieden-
artigsten Deutung fähig ist, so läßt sich von ihm aus unmöglich
dem Leben ein Halt wie ein Inhalt geben. Der Versuch eines
Aufbaues einer Gedankenwelt vom Gefühl und damit vom Subjekt
würde sich vom bloßen Subjektivismus kaum unterscheiden, wenn
sich nicht das Gefühl als notwendig und der von ihm bejahte Inhalt
als der natürlichen Besonderheit des Menschen überlegen dartun
ließe? Wie aber sollte das von der bloßen Tatsächlichkeit des Seelen-
lebens her geschehen können? Mag ein Gefühl noch so unabweis-
bar scheinen, es ist das zunächst nur für das besondere Subjekt; mag
es mit einem bestimmten Inhalt noch so verwachsen scheinen, diese
Verbindung besagt mehr als der unmittelbare Eindruck enthält, sie
ist das Ergebnis einer Deutung, und eine solche Deutung kann irre
gehen. So leistet die Stärke eines Gefühls nicht die mindeste Ge-
währ für die Wahrheit des aus ihm entwickelten Gedankengehaltes.
Das bekundet u. a. die Vielheit und der Streit der Religionen. Jede
von ihnen glaubt ihres Grundgefühles mindestens ebenso sicher zu
sein als die anderen, und doch gelangen sie zu grundverschiedenen
Wahrheiten. So bedarf es notwendig einer höheren Instanz, um
über das Recht der verschiedenen Ansprüche zu entscheiden, und
diese kann nicht das Gefühl sein. Überhaupt aber läßt sich vom
Menschen aus zu einer Wahrheit nur gelangen, wenn in ihm ein
seiner natürlichen Besonderheit überlegenes Leben durchbricht; eine
an jene Besonderheit geknüpfte Wahrheit ist keine Wahrheit. Schon
das bringt es mit sich, daß der Mensch das Problem seines Grund-
verhältnisses zur Wirklichkeit nun und nimmer aufgeben oder auch
nur zurückschieben kann. Dies Problem wird ihm nicht erst nach-
träglich aufgedrängt, es gehört von vornherein zu seiner geistigen
Art Das Leben eines geistigen Wesens erschöpft sich einmal nicht
in die bloße Zuständlichkeit, es umspannt auch das Gegenständliche
und muß sich mit ihm auseinandersetzen, es muß auf einer Über-
windung jener Spaltung zwingend bestehen, während ihm die Be-
schränkung auf die bloße Zuständlichkeit zu einer unerträglichen
Enge wird.
Was hier an Verwicklung vorliegt, das verdunkelt und vergißt
sich namentlich deshalb leicht, weil die Regung des Gefühls durch
22 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
eine geschichtlich überlieferte Gedankenwelt ergänzt zu werden pflegt,
der Halt scheint damit fester und der Inhalt reicher zu werden. In
der Tat aber ist die Wahrheit der geschichtlichen Überlieferung erst
zu erweisen, und das kann in diesem Zusammenhange nur vom
Gefühl her geschehen; ebenso könnte auch nur dieses darüber
entscheiden, was vom Gehalt jener Überlieferung als wertvoll zu
gelten hätte. So kommen wir hier auf Umwegen immer wieder auf
das Gefühl zurück und bleiben an seinen Kreis gebannt. Je mehr
es aber auf sich selbst gestellt wird, desto weniger Inhalt gewährt es,
desto mehr droht es sich in einzelne zerstreute und sinnlose Vorgänge
aufzulösen. So führt dieser Weg mehr in die Verwicklung hinein als aus
ihr heraus. Was immer aber uns von der hier gebotenen Gedanken-
entwicklung trennt, es kann uns nicht verhindern, die entschiedene
Kräftigung des ethisch-religiösen Lebens anzuerkennen, die mit jenem
Streben erreicht ist; nur können wir die wissenschaftliche Fassung
dessen nicht glücklich finden.
Wesentlich anders gestaltet die Sache sich auf dem Gebiet der
Philosophie, wo der Begriff des Wertes^ den Mittelpunkt einer be-
deutenden und fruchtbaren Bewegung bildet Diese Bewegung vertritt
^ Über den Begriff und die Bedeutung des Wertes ist in den letzten
Jahrzehnten eine ausgedehnte Literatur entstanden, deren Betrachtung und
Würdigung hier nicht wohl möglich ist; nur das Werk Meinongs „Psycho-
logisch-ethische Untersuchungen zur Wert-Theorie", 1894, möge hier angeführt
sein. Wünschenswert wäre eine Gesamtgeschichte des Wertproblems und
Wertbegriffes; hier seien nur aus Höffdings Religionsphilosophie folgende
Stellen hervorgehoben : „Der Philosophie Kants verdanken wir die Selbständig-
keit des Wertproblems dem Erkenntnisproblem gegenüber. Er lehrte uns die
Schätzung von der Erklärung unterscheiden." (S. IL) Femer „Kant redet häufiger
von Zwecken als von Werten. Es ist aber klar (obschon Kant dies weder
in seiner Psychologie, noch in seiner Ethik recht beachtete), daß der Begriff
des Zweckes den Begriff des Wertes voraussetzt, da ich zum Zwecke nur das
machen kann, dessen Wert ich erfahren habe. Wenn Kant von dem , Reiche
der Zwecke' im Gegensatz zur kausalen Naturordnung redet, so meint er
hiermit dasselbe, was spätere Philosophen ,das Reich der Werte' nannten.
Der Kantianer Fries geht von dem Begriff des Wertes aus (System der Philo-
sophie, Leipzig 1804; §§ 238, 255, 330. — Neue Kritik der Vernunft. Heidel-
berg 1807. III. S. 14). Vorzüglich sind es aber Herbart und Lotze, die dem
Begriffe des Wertes in weiteren Kreisen Eingang verschafften. Nach Lotze
nahmen der Theolog Albrecht Ritschi und dessen Schüler denselben auf."
Über den Wertbegriff bei Fries ist neuerdings eine Schrift von Pöschmann
erschienen. Es ist aber der Begriff mit seinem Problem keineswegs ausschließ-
lich modern ; er tritt hervor, sobald das Subjekt eine größere Selbständigkeit
Subjektiv - Objektiv. 23
als Ganzes angesehen die moderne Denkweise gegenüber der antiken,
namentlich sofern diese durch Plato bestimmt ist. Wo den Hauptgegen-
satz der Wirklichkeit der des beharrenden Seins und des flüchtigen Wer-
dens bildet, wie bei diesem, da liegt es nahe, das wesenhafte Sein zugleich
als das Gute und Wertvolle zu fassen, beide Begriffe möglichst zusammen-
zuschmelzen. Diesem Gedankengange kann das Gute als etwas von der
Tätigkeit Abgelöstes, dem Menschen Gegenüberliegendes erscheinen.
Die moderne Denkweise verficht dagegen, daß von einem Guten nur
in Beziehung auf ein lebendtätiges Wesen die Rede sein kann, und
daß nur nach der Bedeutung für dieses sich die Schätzung näher be-
stimmen läßt; damit empfahl es sich, statt von Gütern von Werten zu
reden. Dieser Grundgedanke kann aber sehr verschiedene Fassungen
annehmen und hat das in Wahrheit getan. Gilt als der Träger des
Lebens lediglich das empfindende und fühlende Einzelsubjekt, und
wird sich* demnach der Wert der Geschehnisse nach der Leistung
für dessen Befinden und Behagen bemessen, wird Lust und Unlust
zum entscheidenden Maßstab gemacht, so sieht man nicht, wie davon
fruchtbare Bewegungen oder gar Erhöhungen des Lebens ausgehen
könnten. Denn die Lust schmiedet den Menschen an die eigne dunkle
Zuständlichkeit, sie macht das Leben innerlich eng bei aller Weite
nach außen, sie verwehrt alle innere Erhöhung des Wesens, alle
unmittelbare Freude an Menschen und Dingen, alles Aufnehmen des
Gegenstandes in den Lebensprozeß. Diesen Mißstand wird nament-
lich derjenige schwer nehmen, der in dem seelischen Stande des
Menschen große Aufgaben und Verwicklungen erkennt Denn eine
solche Lage bringt die Forderung eines kräftigen Emporklimmens,
ja einer inneren Umwälzung mit sich ; diese aber sind ausgeschlossen,
wenn das Leben starr an den bloßen Zustand gebannt bleibt.
Unvergleichlich viel höher steht eine andere Art, welche die
kritisch-idealistische Denkweise Kants auf den Boden der Gegenwart
versetzt und sie den Erfahrungen der Zeit gemäß weiterzuführen
bestrebt ist ^ Hier bildet die Tatsache den Ausgangspunkt, daß unser
gewinnt. So zuerst bei den Stoikern, die auch einen Terminus (a^ia) für ihn
bildeten. Nikolaus von Kues, der erste moderne Deiiker, nennt Gott den
Wert der Werte (valor valorum).
^ Einen besonders klaren und bedeutenden Ausdruck findet diese Be-
wegung in den „Präludien" Windelbands, namentlich in den Abschnitten
„Was ist Philosophie?", „Normen und Naturgesetze", „Kritische oder gene-
tische Methode".
24 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Leben und Tun nicht in eine bloße und blinde Tatsächlichkeit des
Geschehens aufgeht, sondern daß unsere geistige Art uns zu steter
Beurteilung zwingt; diese Beurteilung aber erfolgt nach bestimmten
Normen, die aller Willkür überlegen und auch von der Verwirk-
lichung beim Menschen unabhängig sind. In diesen Normen werden
Werte ersichtlich, die jenseit alles bloßen Nutzens, jenseit aller
Lust und Unlust liegen, die eine innere Erhöhung des Lebens
vollziehen und für sich eine Unbedingtheit in Anspruch nehmen
dürfen. ^ So erkennen wir hier ein bedeutendes Streben, dem Leben des
Menschen von innen her einen Halt und einen Inhalt zu geben, ihn
durch kritische Selbstbesinnung dem Naturgetriebe überlegen zu
machen, ohne ihn in die Fährnisse einer spekulativen Metaphysik
zu verwickeln, zugleich auch der Philosophie eine eigentümliche
Aufgabe abzustecken. In der Tat ist nicht zu ersehen, wie auf einem
anderen Wege als dem der Selbstbesinnung und der Selbstvertiefung
der Mensch die durch die Verfeindung von Subjekt und Objekt
drohende Spaltung des Lebens überwinden könne.
Was uns Bedenken erregt, ist lediglich dieses, ob man an der
hier gewiesenen Stelle abschließen könne, ob nicht die Bewegung
selbst mit innerer Notwendigkeit über sie hinaustreibe. Verschiedene
Fragen mögen sich dabei erheben. Können die Werte als einzelne
Erlebnisse die genügende Sicherheit erlangen, wird nicht ihre Ur-
sprünglichkeit anfechtbar sein, so lange sie ein bloßes Nebeneinander
bilden, sich nicht zur Einheit eines Ganzen zusammenfassen ? 2 Wird
ferner die in den Werten eröffnete höhere Stufe des Lebens gegen
die bestrickende Macht der natürlichen und sozialen Selbsterhaltung
aufkommen und sich durchsetzen können, wenn sie uns nicht ein
neues geistiges Selbst verschafft, das sich in den Werten wie ent-
faltet so behauptet? Dieses aber wird schwerlich ohne eine Um-
kehrung der vorgefundenen Lage möglich sein, und das führt doch
^ Diese Überlegenheit der Werte vertritt namentlich Münsterberg in
seiner „Philosophie der Werte" (1908) mit großer Kraft und Wärme.
" Die Notwendigkeit einer solchen Verbindung hebt auch Münsterberg
nachdrücklich hervor; er sagt im Vorwort zu seiner „Philosophie der Werte":
„Die Gesamtheit der Werte muß grundsätzlich geprüft und aus einer Grund-
tat einheitlich abgeleitet werden. Das, was unserem Philosophieren heute
fehlt, ist ein in sich geschlossenes System der reinen Werte; erst dann kann
die Philosophie auch wieder aufs neue zur wirklichen Lebensmacht werden,
wie es zu lange ausschließlich die Naturwissenschaft gewesen ist" (VI).
Subjektiv — Objektiv. 25
wieder zu irgendwelcher Metaphysik, mag sie von der alten noch
so verschieden sein.
So erblicken wir in der Lehre von den Werten weniger einen
fertigen Abschluß als eine aussichtsreiche Bewegung. Über die
Philosophie kommt einstweilen diese Bewegung wenig hinaus, und
die Menschheit verbleibt in dem peinlichen Hin- und Herschwanken
zwischen Arbeit und Seele, zwischen der Absorbierung des Subjekts
durch das übermächtige Objekt und der Verflüchtigung des Objekts
durch die Selbstherrlichkeit des Subjekts.
Diese Lage mit ihrer Verwicklung treibt die Frage hervor, ob
nicht die ganze Scheidung von Subjekt und Objekt, ob nicht alle
Anerkennung eines inneren Bereiches neben der Außenwelt von
Haus aus verfehlt sei, ob nicht bei solcher Fassung das Wahrheits-
streben den unlösbaren Widerspruch enthalte, zugleich scheiden und
verbinden, auseinanderhalten und zusammenführen zu wollen. Von
entgegengesetzten Ausgangspunkten her sind neuerdings Avenarius
und Mach zu dem gleichen Ergebnis gekommen, jene Scheidung als
eine unnütze und irreleitende Verdoppelung aufzugeben. Die Ver-
setzung der Empfindungen in ein Inneres, die Introjektion, erschien
ebenso verfehlt, wie die Herausstellung von Bewußtseinsvorgängen
nach außen, die Projektion. Statt zweier Welten ergab sich damit
eine einzige, und es verbot sich jedes Hinausgehen über die un-
mittelbare Erfahrung zu jenseitigen Dingen. ^ Diese scharfsinnige
Wendung des Problems, deren Streben nach Vereinfachung einen
sichtlichen Eindruck auf die Zeit macht, nach ihrer technischen Seite
zu prüfen, liegt außerhalb unserer Aufgabe; daß sie auf ihrem
^ Siehe Mach, Die Analyse der Empfindungen. 2. Aufl. S. 206: «Es
gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und
Draußen, keine Empfindung, der ein äußeres, von ihr verschiedenes Ding
entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente, aus welchen sich das vermeintliche
Drinnen und Draußen zusammensetzt, die eben nur, je nach der temporären
Betrachtung, drinnen oder draußen sind. — Die sinnliche Welt gehört dem
physischen und psychischen Gebiet zugleich an." S. 33: »Ich sehe keinen
Gegensatz von Psychischem und Physischem, sondern einfache Identität in
bezug auf diese Elemente." Siehe auch Wlassak (in der »Zukunft" 1902,
Nr. 18, S. 202): »Kein naiver Mensch findet einen Baum irgendwie als Emp-
findung in seinem Bewußtsein, sondern immer nur als Bestandteil seiner
Umgebung. Dies gilt auch dann, wenn der Baum nicht gesehen, sondern
nur erinnert wird; auch das blasse Gedankenbild steht in keinem anderen
Verhältnis zum Beschauer als der gesehene Baum."
26 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
nächsten Gebiet der physiologisch-psychologischen Wahrnehmungs-
lehre scheinbar abgeschlossene Fragen wieder in Fluß bringt und den
problematischen Charakter des landläufigen wissenschaftlichen Natur-
bildes aufdeckt, ist sicherlich ein Verdienst. Der Grundbehauptung
aber beizutreten verbietet uns schon die Erwägung, daß unser Ich
in Wirklichkeit mehr ist als ein Strom von sinnlichen Empfindungen,
daß schon unser Erkennen ein selbständiges Verarbeiten enthält,
daß namentlich aber jenseit aller intellektuellen Vorgänge sich ein
Innenleben entwickelt, das gegenüber aller Mannigfaltigkeit und
durch allen Wechsel und Wandel hindurch eine beharrende Art
erweist.^ Für solche Selbständigkeit des Inneren spricht auch das
Ganze der geschichtlichen Bewegung; denn durch alle Arbeit und
Verwicklung hindurch hat sich der Mensch immer weiter von der
bloßen Sinnlichkeit entfernt, immer mehr das äußere Begegnis in
ein inneres Erlebnis verwandelt, immer mehr Gegenwirkung gegen
die zuströmende Fülle geübt. Das alles ist kein bloß intellektuelles
^ Wenn Mach das Ich als etwas Unbeständiges und Unselbständiges
behandelt, so liegt das zum guten Teil an einer Vermengung von Bewußtsein
des Ich und lebendigem Ich selbst. So heißt es z. B. a. a. O. S. 3: »Die
scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der Kontinuität,
in der langsamen Änderung. Die vielen Gedanken und Pläne von gestern,
welche heute fortgesetzt werden, an welche die Umgebung im Wachen fort-
während erinnert (daher das Ich im Traume sehr verschwommen, verdoppelt
sein oder ganz fehlen kann), die kleinen Gewohnheiten, die sich unbewußt
und unwillkürlich längere Zeit erhalten, machen den Grundstock des Ich aus.
Größere Verschiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der
Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaym geben. Wenn ich mich
heute meiner frühen Jugend erinnere, so müßte ich den Knaben (einzelne
wenige Punkte abgerechnet) für einen anderen halten, wenn nicht die Kette
der Erinnerung vorläge." S. 17: „Man wird dann auf das Ich, welches schon
während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Ver-
sunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glück-
lichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen
Wert legen." Aber besteht denn nicht mit lebendiger Kraft eine Einheit
geistiger Art gegenüber allen Wandlungen und Verdunklungen des Bewußt-
seins, und wirkt nicht aus solcher Einheit geistiger Individualität alles vor-
dringende wissenschaftliche und künstlerische Schaffen, entspringt aus ihr nicht
alle durchgreifende Leistung auch auf praktischem und technischem Gebiete?
Diese Erfahrungen des geistigen Lebens bestätigen gegenüber jener Ver-
flüchtigung des Ich vielmehr die Überzeugung Goethes:
„Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
Subjektiv — Objektiv. 27
Phänomen, kein bloßer Erklärungsversuch, sondern eine Eröffnung
reicher Tatsächlichkeit, der nächsten und sichersten, die wir kennen,
die allein uns die sinnlichen Eindrücke denken und überdenken lehrt.
So wenig sich eine solche Tatsächlichkeit für eine bloße Illusion
erklären und das Rad der Weltgeschichte zurückdrehen läßt, so gewiß
behauptet jene Scheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen
Innenwelt und Natur eine unabweisbare Notwendigkeit.
c) Die positive Behauptung.
a. Einführung.
In welcher Richtung sollen wir nun weiter suchen? Ist die
Scheidung nicht zurücknehmbar und führt kein Weg von der einen
Seite zur anderen, so bleibt keine andere Möglichkeit, als den Gegen-
satz in den Lebensprozeß selbst aufzunehmen, diesen von innen her
so zu erweitern, daß er sich nicht erst nachträglich auf eine neben
ihm befindliche Welt bezieht, sondern daß er selbst eine Welt enthält;
innerhalb des Menschen selbst muß das Ganze einer Welt zur
Wirkung kommen, die dem Gegensatz überlegen ist, und diese Welt
muß nicht durch die Besonderheit des Punktes hindurch, sondern
unmittelbar uns zugänglich sein; dann und nur dann kann es für
den Menschen irgendwelche Wahrheit geben.
Diese Wendung mag beim ersten Anblick auffallend dünken,
in Wahrheit fehlt es ihr nicht an geschichtlichen Anknüpfungen,
die nur einer Zusammenfassung bedürfen, um in dem scheinbar
Neuen Altes entdecken zu lassen. Wie kam denn die Menschheit
dazu, die Begriffe des Wahren und des Guten zu bilden und sie von
der bloßen Tatsächlichkeit und Nützlichkeit abzuheben, wie konnte
sie überhaupt über die Meinungen und Neigungen des bloßen
Menschen irgend hinausstreben? Ein merkwürdiges Phänomen ist
hier nicht zu verkennen. Denn mag noch so viel Streit darüber
sein, was als wahr urtd als gut zu gelten habe, vor aller Ungewißheit
der Antwort steht die Tatsache der Frage, und diese ist unmittelbar
etwas Großes und Folgenreiches. Denn sie enthält eine Durch-
brechung des bloßpunktuellen Seins, sie bezeugt eine innere Weite
des Wesens, die in dem scheinbar Fremden etwas Eigenes sieht und
sucht Sicherlich nämlich kann sich der Mensch um nichts ernstlich
kümmern und bekümmern, was nicht irgendwie zu seinem Leben
28 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
und Wesen in Beziehung steht, ja schHeßlich zu ihm gehört; ein
vöUiges Jenseits kann ihn nicht im mindesten erregen. Nun geht
beim Wahren und Guten das Streben auf eine Welt, die jenseit
des nächsten Lebenskreises liegt; müssen wir dann nicht von Haus
aus auch an einem weiteren Kreise teilhaben, muß unser Leben
nicht die Welt umspannen, wenn ihr Inhalt so viel Anziehung auf
uns üben, so viel Bewegung in uns erzeugen soll? Freilich muß
sich dann der Begriff unseres Selbst verändern, aber die Begriffe haben
den Tatsachen und nicht die Tatsachen den Begriffen zu dienen, warum
sollten wir uns also gegen eine solche Veränderung sträuben?
Eine schwere Frage und Aufgabe bleibt es freilich, jenem Ge-
danken einer Weltnatur des Menschen eine präzisere Fassung zu
geben, aber auch dafür haben die letzten Jahrhunderte auf der Höhe
ihrer Leistungen deutlich genug einen Weg gezeigt. Es ist ein
Hauptstück der Größe Kants, von der bloß psychologischen Er-
klärung die Erforschung der Möglichkeit geistiger Inhalte abzuheben,
z. B. von der Frage, wie der einzelne Mensch zum Erkennen, zur
Moral u. s. w. kommt, die zu unterscheiden, welche inneren Be-
dingungen das Bestehen von Wissenschaft und Moral hat. So wird
sowohl die logische als die ethische Betrachtung selbständig gegen-
über der psychologischen. Das mag zunächst bloß als eine neue
Methode erscheinen, aber diese Methode wäre hinfällig ohne ein
neues Leben, ein Leben jenseit der Einzelvorgänge des seelischen
Daseins, ein Leben aus dem Ganzen, ein Leben mit einem Welt-
charakter. Was sich aber von- solchem Leben nach einzelnen Rich-
tungen entwickelt, das hat keinen festen Grund und Halt, wenn es
sich nicht zu einem Ganzen zusammenfaßt und als Erweisung einer
neuen Stufe anerkannt wird, die nicht unter, sondern über dem
Gegensatz von Subjekt und Objekt steht.
In anderer Art und doch zu verwandtem Ziele wirkt die moderne
Kunst auf der Höhe ihres Schaffens. Die Objektivität eines Goethe
wird gefeiert, er selbst begrüßte es mit freudigem Dank, als Heinroth
sein Denken ein gegenständliches nannte. Eine solche Gegenständ-
lichkeit bedeutet aber keineswegs eine Unterdrückung und möglichste
Aufsaugung des Subjekts durch das Objekt, ein bloßes Wieder-
geben des äußeren Eindrucks der Dinge, sondern eine Begegnung
und gegenseitige Durchdringung von Objektivem und Subjektivem
auf dem gemeinsamen Boden des Innenlebens; die Dinge empfangen
dabei selbst eine Seele und vermögen ihre eigene Art getreulich mit-
Subjektiv — Objektiv. 29
zuteilen; das menschliche Leben aber wird von der anfänglichen
Leere zu einem Inhalt geführt. Hier wird nicht eine subjektive
Stimmung den Dingen aufgedrängt, sondern ihnen ihr eigenes Leben
und Weben abgelauscht oder abgerungen; der Dichter „erscheint
damit wie ein Zauberer, der die sonst stummen Wesen zum Sprechen
bringt, dem sich die ganze Unermeßlichkeit der Welt seelisch er-
öffnet, der alle Mannigfaltigkeit ihrer eigenen Natur zuführt und
zugleich das Lebendige, Wesentliche, Wirksame aus den Dingen heraus-
sieht" (s. Lebensanschauungen der großen Denker, 7. Aufl., 446).
Goethe nennt das eine Synthese von Geist und Welt, „die von der
ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt«; in
Wahrheit erfolgt diese Synthese nicht zwischen der Seele und der
Außenwelt, sondern innerhalb der zu einer Innenwelt erweiterten
Seele, zwischen Seiten und Polen ihres Lebens. So bestehen nicht
bloß zwei, sondern drei Arten künstlerischen Schaffens: dem Gegen-
satz einer objektivistischen und einer subjektivistischen Behandlung
stellt sich eine überlegene Art entgegen, die wir eine souveräne
nannten. ^ Erst diese souveräne Behandlung dringt sowohl über die
seelenlose Gegenständlichkeit, als über die formlose Zuständlichkeit
zu einer Eigenständlichkeit vor, bei welcher der Lebensprozeß eine
Welt nicht nachträglich sucht, sondern sie aus sich selbst entfaltet;
damit erst gewinnt er einen Inhalt, nicht als Abbildung eines vor-
handenen Daseins, sondern durch schöpferische Synthese einer neuen
Welt. Sollle, was so in der Kunst eine unbestreitbare Wirklichkeit
hat, nicht auch für das Ganze des Geisteslebens gelten, könnte über-
haupt die Kunst sich darum bemühen, wenn nicht hinter ihr ein Ganzes
des Geisteslebens stünde? So sollten wir getrost den hier gewiesenen
Weg verfolgen und ihn mutig zu Ende gehen, mag er uns noch
so weit von dem üblichen Welt- und Lebensbilde entfernen. Denn
daran ist nicht zu zweifeln, daß nur im Widerspruch damit sich eine
Welt von innen her aufbauen und das Leben und Wirken eigen-
tümlich gestalten läßt. Erwägen wir also, wie sich 1. der Grund-
begriff des Geisteslebens, 2. das Verhältnis des Menschen zur
Geistigkeit und zugleich der Anblick des geschichtlichen Lebens,
3. das Problem der Wahrheit ausnimmt, wenn wir jenen Weg be-
treten und damit die Voraussetzungen dessen entwickeln, was im
Ergebnis jeder irgendwie festhalten muß.
^ S. „Wahrheitsgehalt der Religion". 2. Aufl., S. 95.
30 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
ß. Der Grundbegriff des Geisteslebens.
Ein Leben geistiger Art gilt als das, was den Menschen aus-
zeichnet und über die Stufe des bloßen Tieres hinaushebt So muß
es wohl mehr sein als das natürliche, uns mit den Tieren gemein-
same Seelenleben; in Wahrheit zeigt schon eine flüchtige Betrachtung
alsbald einen wesentlichen Unterschied. Das Seelenleben der niederen
Stufe ist nicht mehr als eine Begleiterscheinung und eine Hülfe des
Naturprozesses; alle Entwicklung von Intelligenz und Geschicklich-
keit bleibt hier ein bloßes Werkzeug zur Erhaltung des Individuums
oder der Gattung; als solches Werkzeug gelangt es nicht zu einem
inneren Zusammenhange, einem sicheren Beisichselbstsein, einem
eigentümlichen Inhalt. Dies aber ist es, was die Wendung zur
geistigen Stufe des Lebens bringt. Hier erscheint ein neuer Lebens-
prozeß: das Innere, bisher eine bescheidene Zutat, ein Anhang einer
fremden Welt, will jetzt auf sich selber stehen und eine eigne
Wirklichkeit bilden. Zu einem Ganzen verbunden wäre demnach
geistiges Leben selbständig gewordene und zu einem Inhalt gelangte
Innerlichkeit; die sonst in eine unermeßliche Vielheit zerstreute und
in lauter Abhängigkeitsverhältnisse verstrickte Wirklichkeit erreicht
hier einen inneren Zusammenhang und ein Leben, das allererst ein
Selbstleben heißen kann.
Aber aus solcher Behauptung erwächst sofort eine Frage. Wird
mit jenem Selbstleben ein Sonderreich erstrebt, das neben der Wirk-
lichkeit der Dinge liegt, zufrieden und sicher bei sich selbst, oder
verbleibt auch in jener Wendung ein Zusammenhang mit der großen
Welt? Nur dies letztere entspricht dem Befunde des Lebens. Denn
im Streben zu sich selbst bleibt das Geistesleben zugleich mit der
großen Welt befaßt, es kann sich selbst nicht finden, ohne diese an
sich zu ziehen, es kann nicht ruhen und rasten, bis es sie vollauf
überwunden und in sich aufgenommen hat Darum ist all sein
Gehalt zugleich eine Behauptung, die Behauptung, das Letzte, Ganze,
Allumfassende, der Kern der gesamten Wirklichkeit zu sein. Dies
aber kann es nur sein, wenn die Weiterbildung, die es an den
Drngen durch die Aneignung bewirkt, diese zur Höhe ihres eigenen
Wfesens führt, wenn der Gehalt des Geisteslebens die eigene Wahr-
heit der Dinge bedeutet Das Geistesleben wird in sich selbst ein
unerträglicher Widerspruch, wenn es neben und gegenüber der
Subjektiv — Objektiv. 31
Welt, nicht innerhalb ihrer steht, wenn nicht in der Wendung zu
ihm sich die Wirklichkeit selbst vollendet.
Die Anerkennung dessen versetzt unsere Welt in Fluß und
verwandelt sie in ein Reich von aufsteigender Bewegung. Die An-
fangsstufe bildet die Natur, aus ihr quillt das natürliche Seelenleben
auf. Aber dies Leben bildet einen durchgängigen Widerspruch,
indem es eine gewisse Innerlichkeit entwickelt und sie zugleich durch
die völlige Bindung an ein Äußeres, durch die Versagung alles
Selbstlebens wieder aufhebt Diesen Widerspruch stellt das in aller
Stärke des Lebensaffektes gehalt- und sinnlose Getriebe der Tierwelt
jedem denkenden Beobachter eindringlich, ja erschütternd vor Augen.
Erst im Geistesleben beginnt eine Lösung des Widerspruches, indem
sich nun das Leben nicht mehr bloß nach außen hin, sondern auch
gegen sich selber kehrt.
Als eine solche Stufe des Alls kann das Geistesleben nicht eine
bloße Eigenschaft einzelner Punkte sein und erst nachträglich aus
einzelnen Betätigungen zu einem Ganzen zusammenschießen, es muß
vielmehr von Haus aus ein Ganzes, ein selbständiges und sich selbst
angehöriges Leben sein. Zu einem solchen Ganzen gehört eine wie
aller Mannigfaltigkeit so auch dem Gegensatz von Subjekt und
Objekt überlegene Einheit. Dies Ganze entwickelt sich mittels des
Gegensatzes von Subjekt und Objekt, von Kraft und Gegenstand,
aber es bleibt ihm überlegen und hält beide Seiten auch in der
Scheidung zusammen, auf geistigem Boden kann jede einzelne sich
nur zusammen mit der anderen entfalten und ihre eigene Höhe
finden. So sind hier nicht sowohl die beiden Seiten einander ent-
gegengesetzt, als vielmehr der Stand ihrer Einigung, der Stand der
Volltätigkeit dem der Spaltung, dem des halbseitigen und zugleich
leeren Lebens. Das bloße Subjekt ist vom Geistesleben aus ange-
sehen ebenso etwas äußerliches wie das Objekt; nicht die Beziehung
der einen Seite auf die andere, sondern nur die schöpferische
Synthese erzeugt eine Innerlichkeit und zugleich eine volle, bei sich
selbst befindliche Wirklichkeit; eine solche kann nie von draußen
dargeboten werden.
Es hat aber solche Überwindung des Gegensatzes von Subjekt
und Objekt eine unerläßliche Bedingung und Voraussetzung: die
Betrachtung darf ihren Ausgangspunkt nicht in einem gegebenen
Sein, sie muß ihn im Lebensprozeß selber nehmen. Geschieht
nämlich jenes, so wird entweder die Welt oder das Subjekt als
32 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
etwas für sich bestehendes und bei sich abgeschlossenes festgelegt;
dann aber läßt sich nie vom einen zum anderen gelangen, dann
verbleiben wir immer unter der Macht des Gegensatzes. Im Lebens-
prozeß dagegen kann von vornherein das eine auf das andere an-
gewiesen sein, und die Beschaffenheit jeder Seite sich nach dem
bemessen, was im Ganzen geschieht und erreicht wird; dann ver-
schwindet die Starrheit des Gegensatzes, dann kann der Scheidung
ein Zusammenhang überlegen bleiben.
Endlich diene zur Aufhellung und Abgrenzung dieser Fassung
des Geisteslebens noch eine Bemerkung historischer Art. Die Auf-
klärung kannte neben dem Mechanismus der Natur keine andere
Wirklichkeit als das Nebeneinander einzelner Seelen, sie sprach nicht
von einer Geisteswelt, sondern nur von einer Geisterwelt. Erst
Kant brachte die Wendung in Fluß, welche die geistige Arbeit des
19. Jahrhunderts beherrscht, die deutliche Abhebung eines Geistes-
lebens vom bloßseelischen Getriebe. Denn bei ihm erscheint jenseit
des Unterschiedes der Individuen eine gemeinsame geistige Struktur,
ein Grundgewebe, das alle geistige Betätigung beherrscht und ge-
staltet. Aber die Sache blieb bei ihm insofern noch unvollendet,
als sich weder das Neue fest genug bei sich selbst zusammenschloß,
noch eine deutliche Abgrenzung des Geistigen erfolgte. Die speku-
lativen Nachfolger erhoben das Geistesleben zur vollen Selbständig-
keit, aber zugleich behandelten sie unbedenklich das menschliche
Geistesleben als absolutes Geistesleben und machten jenes zum Er-
zeuger aller Wirklichkeit. Das konnten sie nicht wohl ohne ein
besonderes Tun, und mehr und mehr ward dies das Denken, für
das Ganze des Geisteslebens einzusetzen; daraus entstand nicht nur
ein viel zu knappes, auch zu anthropomorphes Bild der Welt, es
drohte sich zugleich alle Wirklichkeit in einen rastlosen Prozeß zu
verflüchtigen. Dementgegen sei entschieden das Geistesleben über
das menschliche Dasein hinausgehoben: der Mensch erzeugt nicht
das Geistesleben, sondern er gewinnt teil am Geistesleben und da-
mit an einer höheren Stufe der Wirklichkeit. Zugleich erscheint
das Geistesleben nicht als eine besondere Betätigung, nicht als eine
besondere Seite des Lebens, sondern als bei sich selbst befindliches,
wirklichkeitbildendes Leben, das unser menschliches Tun keineswegs
ganz erfüllt, sondern als ein hohes Ziel zu ihm wirkt.
Subjektiv — Objektiv. 33
y. Das Verhältnis des Menschen zum Geistesleben.
Dieses Selbständigwerden des Geisteslebens mit seiner Abhebung
vom bloßen Menschen verwandelt dessen Verhältnis zum Geistes-
leben aus einer scheinbar selbstverständlichen Tatsache in ein schweres
Problem. Wie kann der Mensch, für die nächste Betrachtung ein
verschwindender Punkt, am Ganzen einer Welt, einer bei sich selbst
befindlichen Welt teilhaben, als welche sich nunmehr das Geistes-
leben darstellt? Er kann es sicherlich nur, wenn von vornherein
das Geistesleben als Möglichkeit in seinem Wesen angelegt, er ihm
irgendwie unmittelbar verbunden ist. Das Geistesleben darf ihm
nicht durch die Vermittlung seiner besonderen Natur zugeführt und
dabei sich selbst entfremdet werden, es muß ihm als Ganzes mit
all seiner Unendlichkeit irgend gegenwärtig sein, es muß ihn damit
von innen her, wenn auch zunächst nur der Möglichkeit nach, zu
einem Weltleben und Weltwesen erweitern. Ohne ein solches Inne-
wohnen der Geistigkeit gibt es für den Menschen keine Hoffnung
des Weiterkommens; würde er in dem Geistesleben nicht sein echtes
Selbst ergreifen, so könnte es nie eine Macht für ihn werden; böte
jenes nicht einen unwandelbaren Pol und hielte es nicht mit richten-
der Kraft allem menschlichen Unternehmen Ziele und Maße vor, so
wären wir dem Wechsel und Wandel der Erscheinungen wehrlos
preisgegeben, so entfiele für uns alle Möglichkeit einer Wahrheit
Nur das Geistesleben, nicht der bloße Mensch, kann eine absolute
Festigkeit gewähren.
Solches Teilhaben des Menschen am Geistesleben verändert den
Gesamtanblick seines Wesens. Jenes ist nur möglich jenseit des
unmittelbaren Daseins, so gewinnt sein Leben einen tieferen geistigen
Grund; zugleich scheidet sich von der empirisch-psychologischen
Betrachtung, welche mit den unmittelbaren Vorgängen des Seelen-
lebens zu tun hat, eine noologische, welche sich jene geistige Grund-
lage mit ihrer Selbsttätigkeit zum Vorwurf macht.
Bei solchem zwiefachen Anblick erscheint der Mensch in sich
selbst als ein Gegensatz und ein Problem. Das Geistesleben ist
bei ihm zugleich eine Tatsache und eine Aufgabe, unerschütterliche
Ruhe und nie befriedigtes Streben, innerster Kern und fernes Ziem-
er selbst aber erscheint zugleich als groß in der Verbindung, als
klein im Abstände, sein Leben wird ein unablässiges Suchen des
eigenen Wesens und wird damit erst einer wahrhaftigen Geschichte
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 3
34 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
fähig. Denn wie i<önnte eine solche entstehen, wo das Streben
lediglich von außen abhängig wäre, nicht von innen her durch ein
festes Ziel gelenkt und gerichtet würde?
Auf dem Boden der menschlichen Geschichte überwindet das
Geistesleben langsam die anfängliche Zerstreutheit und Ohnmacht;
es geschieht das, indem unter besonders günstigen Umständen eine
Kernbildung innerhalb des Lebensprozesses erfolgt, indem Tätigkeits-
komplexe geistiger Art zusammenschießen und sich durchzusetzen
suchen, indem schließlich ein charakteristisches Lebenssystem, der
Aufbau einer geistigen Wirklichkeit, unternommen wird. Kein deut-
licheres Beispiel gibt es davon als das griechische Schaffen, wie es
mit ausgeprägter Art Leben und Welt umspannt. Wie eine solche
Synthese eine ausschließliche Wahrheit des von ihr dargebotenen
Lebensinhaltes behauptet, so zerlegt sie das Dasein in ein Für und ein
Wider, sie kann nichts dulden, was ihr fremd oder feindlich entgegen-
steht. So erwächst Bewegung und Kampf, diese erschließen Erfahr-
ungen und treiben das Leben dadurch weiter; so mögen sich neue
Konzentrationen vorbereiten, die ähnliche Schicksale haben, so mag
durch Werden und Vergehen der einzelnen Phasen der Wahrheits-
gehalt des Ganzen wachsen. Das freilich nur, wenn alle Bewegung
von einem begründenden und richtenden Geistesleben umspannt
wird, während sich ohne das gegenüber den starren Widerständen
und den schweren Hemmungen der menschlichen Lage nun und
nimmer irgendwelche Wahrheit durchsetzen könnte. Damit erscheint
der geschichtliche Prozeß als eine fortschreitende Verinnerlichung
nicht subjektiver, sondern substantieller Art; es muß sich damit eine
immer größere Entfernung von der unmittelbaren Lage vollziehen,
die unter dem Gegensatz steht und daher einer vollen Innerlichkeit
wie einer echten Wirklichkeit entbehrt.
Innerhalb dieser Bewegung findet sich auch ein Platz für den
Gegensatz, den die Ausdrücke „subjektiv" und „objektiv" recht un-
zulänglich bezeichnen. Das Geistesleben ist Selbstleben und Welt-
leben zugleich, ein Selbst entfaltet sich hier zur Welt und die Welt
gewinnt ein Selbst, das eine gehört zum anderen. Aber solche Zu-
sammengehörigkeit verhindert nicht, daß in der geschichtlichen Be-
wegung das Leben bald mehr zur Konzentration, bald mehr zur
Expansion geht; dort das Streben nach Verinnerlichung und Ver-
tiefung in sich selbst, hier das nach Weite und Sachlichkeit, dort
die Gefahr eines Einströmens bloß menschlicher Elemente, hier die
Subjektiv — Objektiv. 35
des Vordringens einer seelenlosen Welt; vielleicht besteht ein Rhyth-
mus des Geschehens, der bald diesem, bald jenem die Führung
gibt. Aber durch alle Wandlungen hindurch beharrt das Streben
des Geisteslebens nach einer den Gegensätzen überlegenen Einheit.
Auch bleibt von jenem subjektiven oder objektiven Zuge innerhalb
des Geisteslebens grundverschieden ein Subjektivismus oder Objek-
tivismus gegenüber dem Geistesleben, ein Subjektivismus, der aus
den Zuständen des bloßen Subjekts eine Welt hervorspinnen möchte,
ein Objektivismus, der eine Wahrheit glaubt von den bloßen Dingen
her durch Austreibung des Geistes erreichen zu können. Das eine
wie das andere muß rasch ins Leere sinken, wenn sie nicht ver-
steckt aus eben dem überlegenen Geistesleben schöpfen, dessen An-
erkennung sie ablehnen.
S. Ergebnisse für den Wahrheitsbegriff.
' Was an Wandlungen ersichtlich wurde, das muß sich auch auf
den Begriff der Wahrheit erstrecken und ihn eigentümlich gestalten.
Wahrheit bedeutet jetzt nicht mehr die Übereinstimmung mit einem
draußen befindlichen Gegenstande, sondern ein Aufsteigen zu einem
Leben, das aller menschlichen Willkür überlegen ist, und das den
Gegensatz von Subjekt und Objekt durch tätiges Schaffen umspannt.
Es handelt sich hier um eine Verwandlung des Daseins in Selbst-
tätigkeit, die mit ihrem umbildenden Wirken von aller bloßen Be-
tätigung innerhalb eines gegebenen Daseins wesentlich verschieden
ist. Dies Wahrheitsstreben hat nichts mit einem ruhenden Sein zu
tun, das unabhängig von allem Leben bestünde, vielmehr liegt die
Wahrheit innerhalb des Lebens, und sie ist nur erreichbar durch
das Leben. Aber das Leben, das hier in Frage steht, ist nicht eine
Sache des bloßen Menschen, sondern in ihm gelangt das Ganze der
Wirklichkeit zu einem Beisichselbstsein und zugleich allererst zu
Inhalten und Werten, die Wahrheit aber ist nicht ein bloßes Mittel
zur Erhöhung dieses Lebens, sondern sie gehört zu seinem Wesen.
Alle intellektuelle Wahrheit prinzipieller Art ruht schließlich auf
einer gesamtgeistigen Wahrheit, aller wesentliche Fortschritt der
Wahrheitserkenntnis auf einer Weiterbildung des Lebens. So ist
der Gewinn der Wahrheit nicht Sache eines einzigen Augenblicks,
sondern nur durch den Lauf der weltgeschichtlichen Arbeit mit ihren
Versuchen, Erfahrungen, Wandlungen dringt der Mensch allmählich
3*
36 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
zu ihr vor, es gibt kaum etwas so törichtes als der Anspruch philo-
sophischer Systeme, in einem gegebenen Zeitpunkt die ganze Fülle
der Wahrheit erschöpfen und alle Rätsel lösen zu wollen. Daß
wir so im Suchen verbleiben und zugleich unvermeidlich im Irren,
das kann uns in keiner Weise erschrecken, wenn wir der Über-
zeugung sind, daß alles menschliche Streben eine Welt des Geistes-
lebens hinter sich hat, die sich nur durch Freiheit aneignen läßt,
die aber nicht auf unsere Willkür gestellt ist.
Theoretisch - praktisch.
(Intellektualismus — Voluntarismus.)
a) Geschichtliches.
I |ie Frage des Intellektualismus und Voluntarismus steht mit der
*-^ eben behandelten in engstef Verbindung, es wird bei ihr nur
direkter ins Seelische gewandt, was uns dort als Weltanblick beschäftigte.
Auch hier ein Gegensatz von Lebenstypen, auch hier eine Bewegung
der Jahrtausende. Nur der Unterschied, daß sich hier unsere Zeit
ihres eigenen Zieles weit sicherer fühlt. Denn entschieden überwiegt
hier das Streben, den Schwerpunkt des Lebens in das Wollen zu
verlegen als in dasjenige, was allein ihm Wärme, Kraft und Festigkeit
geben könne. Wie mag es kommen, daß eine alte Streitfrage uns
plötzlich so einig findet? Sehen wir, ob die Geschichte zur Auf-
klärung dessen einiges beitragen kann.
Die Ausdrücke Intellektualismus und Voluntarismus sind mo-
dernster Prägung; jenes taucht in den philosophischen Kämpfen zu
Beginn des 19. Jahrhunderts auf, es findet sich z. B. in Schellings
Bruno (s. Werke IV, 309), als Gegensatz zu Materialismus; Voluntarismus
ist erst in den letzten Jahrzehnten aufgekommen.'^ Dagegen führen
die Ausdrücke theoretisch — praktisch bis in die Blütezeit der
griechischen Philosophie zurück; der Gegensatz der theoretischen
und der praktischen Vernunft erscheint zuerst bei Aristoteles (voG?
^ewpTjTixd; und 7rpaxTi>cd?). Jene hat die Aufgabe, die große Welt
^ Gebildet ist das Wort von Tönnies, der darüber in der Wiener „Zeit"
vom 23. März 1901 folgendes berichtet: „Diese Termini (d. h. Voluntarismus
und voluntaristisch) sind zuerst vom Verfasser dieses Memoire gebraucht
worden in seiner Abhandlung »Zur Entwicklungsgeschichte Spinozas", Viertel-
jahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1883. Von Paulsen, der sie bald
adoptierte, hat Wundt sie angenommen und durch seine Autorität in Umlauf
gebracht. Der Begriff der „voluntaristischen" Psychologie ist mehr und mehr
zu allgemeiner Geltung gelangt".
38 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
mit ihren ewigen Ordnungen zu erkennen, die praktische Vernunft
dagegen befaßt sich mit den menschlichen Dingen, die dem Wechsel
und Wandel unterliegen. Sie ist nicht bloß Einzelerkenntnis (An-
wendung der allgemeinen Sätze auf den einzelnen Fall), sondern sie
hat auch eigentümliche Prinzipien, aber ihre Gesamtleistung wird
der theoretischen Vernunft entschieden untergeordnet. So auch in der
Gedankenwelt und dem Sprachgebrauch der Scholastik; wenn Thomas
von Aquino von cognitio practica redet, so versteht er darunter einfach
eine Erkenntnis, die sich auf das Handeln bezieht. Für die Neuzeit
hat namentlich Ch. Wolff die Unterscheidung von theoretischer und
praktischer Philosophie in Umlauf gebracht und dabei jener den
unbedingten Vorrang gegeben. ^ Wie in der Einteilung der Philosophie
so folgt ihm auch im Sprachgebrauch Kant, in der Sache aber voll-
zieht er die bekannte Umwälzung dahin, daß nunmehr das Praktische
als das, »was durch Fi-eiheit möglich ist", das Übergewicht gewinnt
und zugleich einen selbständigen Gedankenkreis hervorbringt. «Die
praktische Vernunft greift bei ihm in das Gebiet des Theoretischen
zurück, indem sie Postulate erzeugt, also theoretische Voraussetzungen,
welche der Kritik der reinen Vernunft zweifelhaft waren" (s. Trendelen-
burg, Logische Untersuchungen, 3. Aufl. II, 457). Da nach ihm
nur auf diesem Gebiet die Vernunft eine volle Selbsttätigkeit erreicht,
so ergeben sich von hier die tiefsten Einblicke in die Wirklichkeit,
und es eröffnet sich nirgend anders als hier dem Menschen eine
absolute Wahrheit.^ Von Kant ist nur ein Schritt zu Fichtes Lehre:
»die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft". So wird
einmal das Praktische als bloße Anwendung untergeordnet, sodann
aber als Quell neuer Wahrheiten übergeordnet.
Es spiegelt sich aber in der Geschichte der Ausdrücke ein
' So z. B. Logica § 92 : Palam igitur est, philosophiam practicam uni-
versam ex Metaphysica principia petere debere. § 93: Metaphysica philo-
sophiam practicam praecedere debet.
" Die Art, wie Kant aus der praktischen Vernunft Überzeugungen ab-
leitet, ist nicht ohne Bedenken und fand manchen Widerspruch. So sagt
z. B. Harms (Gesch. der Philosophie seit Kant S. 247): »Kant nennt die
Ideen Postulate der praktischen Vernunft, sie sind aber gar keine Postulate
der praktischen, sondern sie sind Postulate der theoretischen Vernunft in der
Erkenntnis der praktischen, der handelnden Vernunft im sittlichen Leben des
Geistes. Das Wort praktische Vernunft ist bei Kant selbst zweideutig; denn
einerseits wird darunter verstanden die handelnde Vernunft, dann aber auch
die Erkenntnis von der praktischen Vernunft."
Theoretisch — praktisch. 39
fundamentaler Gegensatz, die Frage, ob der Welterkenntnis oder dem
moralischen Handeln, — denn dies vornehmlich wird unter praktischer
Vernunft verstanden — , die Führung unseres Lebens und die Leitung
unserer Überzeugungen gebühre. Die Antwort darauf entscheidet
zugleich über unsere Stellung zur Wirklichkeit und damit über das
Bild der Wirklichkeit selbst. Es entstehen zwei widerstreitende Lebens-
typen, der eine vornehmlich auf Weite und Klarheit, der andere auf
Wärme und Kraft bedacht, der eine mehr um Gesetzlichkeit, der
andere mehr um Freiheit bemüht.
Die griechischen Denker erteilen einmütig den Vorzug dem
Intellekt, es unterscheidet sie lediglich die schroffere oder maßvollere
Ausführung des Grundgedankens. Diese Schätzung des Intellekts
war der naturgemäße Ausdruck der hier vorhandenen Überzeugung,
daß der Mensch einer unwandelbaren Weltordnung angehöre, die ihn
mit sicherem Dasein und herrlicher Pracht umfängt.. Nichts Größeres
gab es hier zu erstreben als die Anschauung eines solchen Kosmos
mit .ihrer Befreiung von aller Kleinheit des Alltages und allem Wirrwarr
der menschlichen Verhältnisse. So verficht Aristoteles, dieser reinste
Ausdruck der griechischen Kultur, die unbedingte Überlegenheit des
forschenden Lebens über das handelnde, das den Menschen mit
veränderlichen Dingen befasse und ihn von seiner Umgebung ab-
hängig mache. Nur soweit die Forschung reicht, soweit reicht nach
ihm echte Glückseligkeit. Auch die Wendung zur Moral, welche
die Stoa brachte, bedeutet nicht sowohl eine Ablösung des Lebens
vom Denken, als ein Aufnehmen tätiger Energie in das Denken,
eine Steigerung des Denkens zur Denkhandlung. Und das letzte
Aufleuchten des griechischen Geistes in Plotin bringt eine Erhebung
des Denkens zu voller Souveränität und weltschaffender Größe; im
Untergange selbst steigert das Griechentum das Bekenntnis zu der
Geisteskraft, der seine Kulturarbeit eine unermeßliche Weite und
eine wunderbare Klarheit verdankt.
Das Christentum mußte nach seiner innersten Natur mit jener
Schätzung brechen. Denn wo sich das Hauptproblem des Lebens
in das Verhältnis des Menschen zu Gott verlegt, und wo mit dem
Erscheinen neuer Tiefen auch schwere Verwicklungen, ja dunkle
Abgründe im Menschenwesen zur Empfindung kommen, wo es dem-
nach einen Aufstieg und eine Erneuerung gilt, da muß sich das
Streben des Menschen von der Erkenntnis der Welt auf den Stand
seiner Seele und weiterhin auf den Aufbau eines neuen Zusammen-
40 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
hanges der Menschheit richten. Der Intellektualismus wird damit in
der Wurzel gebrochen. Aber diese innere Wandlung ist in der Ge-
staltung und den allgemeinen Verhältnissen wenig zum Ausdruck
gekommen ; was die Herzen erfüllte, fand nicht die Kraft zur Schöpfung
einer entsprechenden Gedankenwelt Lediglich bei Augustin erscheinen
bemerkenswerte Ansätze dazu, wie er denn alle Wirklichkeit auf Wollen
zurückführt (nihil aliud quam voluntates) und in seiner Psychologie
dem Willen als der die Seele einigenden Kraft die leitende Stellung
gibt. Aber ein durchgebildetes Lebenssystem und eine entsprechende
Gedankenwelt hat auch Augustin daraus nicht entwickelt; so ist die
Gestaltung des Christentums unter einem starken Einfluß derselben
Denkweise verblieben, die es überwinden wollte, so leidet das Christen-
tum bis zum heutigen Tage an einem Zwiespalt innerster Gesinnung
und greifbarer Ordnung. Der griechische Intellektualismus beherrscht
auch das christliche Dogma; mögen an die Stelle der Lehren von
der Welt Lehren von Gott getreten sein, es bleibt dabei, daß die
richtige Erkenntnis über die Wahrheit und den Wert des Lebens
entscheidet. Auf der Höhe der Scholastik wächst noch der Einfluß
des griechischen Intellektualismus, ein logisches Räsonnement dringt
bis in die letzten Tiefen der christlichen Gedankenwelt vor.^ Es
fehlt nicht an Gegenwirkungen zu gunsten des Willens, so bei Duns
Scotus,2 dem Nominalismus, der praktisch gerichteten Mystik; die
Reformation bringt diesen Zug zum siegreichen Durchbruch. Luther
bemüht sich mit höchstem Eifer, das Christentum von der Macht
des griechischen Intellektualismus sowohl aristotelischer als neu-
platonischer Prägung zu befreien, der, wie er meint, seinen echten
Tatbestand verdunkelt oder verflüchtigt hat; Melanchthon aber nennt
«das Herz mit seinen Affekten« «den wichtigsten und den Haupt-
teil des Menschen". Aber bei aller Verstärkung des Willens hat auch
der Protestantismus nicht die Kraft gefunden, den innersten Lebens-
trieb in ein Lebenssystem zu verwandeln, auch er hat schließlich
wieder der Macht des Intellektualismus gehuldigt. Denn mochte die
^ Nur äußerlich angesehen dient im Mittelalter die Philosophie als Magd
der Theologie, innerlich hat damals weit mehr die Philosophie der Theologie
ihren Stempel aufgedrückt,
" Er sagt z. B. (s. Stöckl, Philos. d. Mittelalt. II, S. 788): Fides non
est habitus speculativus, nee credere est actus speculativus, nee visio sequens
credere est visio speculativa, sed practica. Nata est enim ista visio conformis
fruitioni.
Theoretisch — praktisch. 41
Spekulation für die Dauer abgelehnt werden, ein Wissen anderer
Art, ein Wissen von geschichtlichen Daten, aber immerhin ein Wissen
erschien als unerläßlich zur Rettung der Seele; auch der Begriff des
Glaubens erhielt eine stark intellektualistische Färbung, die neue
Kirche aber wurde vornehmlich eine Gemeinschaft der Lehre, eine
Schule des reinen Wortes. Es entstand eine neue Orthodoxie, an
Selbstgerechtigkeit und Unduldsamkeit der griechischen voll gewachsen.
Die Neuzeit beginnt mit voller und freudiger Ergreifung der
Denkarbeit; das Denken ist es, von dem sie eine Befreiung vom
Druck der geschichtlichen Überlieferung hofft, das Denken, das eine
Klärung des unerträglich gewordenen Chaos verspricht, das Denken
endlich, welches das Gewebe kleinmenschlicher Interessen zerreißt und
die Unendlichkeit des Weltalls eröffnet. Gegenüber der griechischen
Art ist das Denken aus ruhigem Anschauen weit mehr rastlose Arbeit,
ja stürmisches Vordringen, aus Aneignung einer gegebenen Welt zum
Aufbau einer neuen geworden. Eine solche beherrscht die Aufklärung
vom, Großen bis ins Kleine, sie beherrscht nicht nur ihre spekulative
Richtung mit der Kühnheit ihrer Weltentwürfe, sondern auch die
empiristische mit ihrer Richtung auf das Menschenleben. Denn auch
hier wird von def klaren und deutlichen Erkenntnis alles Heil er-
wartet, es ist eine andere Art des Erkennens, aber es ist ein Erkennen,
das den Kern der Arbeit bildet.^ Wie jede große Bewegung, so
trug freilich auch die Aufklärung in sich selbst einen Rückschlag:
die Steigerung und Überspannung des Erkennens erzeugte mit Not-
wendigkeit einen Zweifel an seinem Vermögen gegenüber der Welt
und seiner Herrschaft über den Menschen.^ Aber ein bloßer Rück-
schlag hat noch nie die Herrschaft über die Geister gewonnen, es
bedurfte positiver Wandlungen, um die Menschheit in eine andere
Bahn zu lenken.
Solche Wandlungen erfolgten auf philosophischem Boden in Kant;
sowohl sein Nein als sein Ja hatten bei diesem Problem eine unver-
^ S. z. B. Locke zu Beginn seines Essay: Our business here is not to
know all things, but those which concem our conduct.
^ So z. B. bei Pascal, so mehr noch bei Bayle, dem bedeutendsten Skep-
tiker der Aufklärung. Er sagt z. B. oeuv. div. 1727, III, 89 b: Ce ne sont
pas les opinions generales de l'esprit, qui nous determinent ä agir mais les
passions presentes du coeur. Wie bei Bayle die Moral allein dem Leben eine
Festigkeit verleiht, so sagt auch Friedrich II., sein getreuer Schüler: Les sciences
doivent etre considerees comme des moyens qui nous donnent plus de capa-
cite pour remplir nos devoirs (s. Zeller, Fr. d. Gr. als Philosoph S. 183).
42 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
gleichlich größere Wucht als eine andere wissenschaftliche Leistung
je zuvor. Schärfer und gründlicher als je wird das Vermögen des
bloßen Erkennens geprüft und werden die Bedingungen seines Ge-
lingens ermittelt; das Ergebnis ist eine schwere Erschütterung, aber
diese Erschütterung wird mehr als ausgeglichen durch die Steigerung
des moralischen Tuns zu einer moralischen Welt und die Anerkennung
dieser Welt als des Kernes aller Wirklichkeit. Erst mit solcher Um-
wälzung erhielt der Intellektualismus eine ebenbürtige Gegenwirkung,
nun erst gelangte ein seit Jahrtausenden vorhandenes Streben zu
wissenschaftlicher Klärung und Durchbildung. Wir wissen, daß trotz-
dem der Intellektualismus im Panlogismus Hegels noch einmal sein
Haupt erhob, so kühn erhob wie nur je, aber wir wissen auch, daß nur
ein rasches Hinwegeilen über Kant dies möglich machte, und daß
bald ein um so stärkerer Rückschlag kam. Seitdem geht der Haupt-
zug der Zeit gegen den Intellektualismus. Wir gewahren das in dem
Einfluß Schopenhauers und seiner Willenslehre, wir gewahren es in
der Neigung der Religion und Theologie, ihren Schwerpunkt in
praktische Aufgaben und Forderungen zu verlegen, wir gewahren
es in dem Zuge des gesamten Lebens, das Grübeln über Weltprobleme
hinter die praktisch -sozialen Fragen zurückzustellen, die sich mit
immer größerer Dringlichkeit erheben. Auf dem eigenen Gebiet der
Wissenschaft aber wirkt zu gunsten der neuen Überzeugung nament-
lich die Psychologie, indem sie die beherrschende Macht der Triebe
und Interessen auch über das Vorstellungsleben aufdeckt, ja seine
eigne Bewegung als vom Willen geleitet aufweisen möchte.
Solcher Schätzung des Willens entspricht die Neigung, dem
Überwiegen des Verstandes alle möglichen Schäden der gegenwärtigen
Lage aufzubürden. Die Grundlage unserer geistigen Existenz und
die Hauptrichtung unseres Strebens sind unsicher geworden: das ver-
schuldet, so heißt es, der Intellekt, der alles beweisen, d. h. auf Um-
wegen ermitteln möchte und damit alles unmittelbare Leben mit seiner
Gewißheit verscheucht; uns umfängt eine unsägliche Zersplitterung
der Meinungen und Schätzungen: das kommt, so sagt man, vom
Vorwalten der Verstandesarbeit, welche die Individuen auf ihre eigene
Reflexion stellt und sie damit unvermeidlich auseinandertreibt; beklagt
wird ein Mangel an Ehrfurcht vor göttlichen und heiligen Dingen:
das liegt, so hören wir, an einer Überhebung des menschlichen Selbst-
bewußtseins, und die Haupttriebkraft dabei ist der Intellekt mit seinem
Kraftgefühl und seinem Wissensdünkel. Trägt demnach der Intellekt
Theoretisch — praktisch. 43
die Hauptschuld aller Irrung, so läßt die Befreiung von seiner Herr-
schaft eine Gesundung des gesamten Lebens erwarten. Hat der heutige
Voluntarismus die Kraft zu solcher Befreiung?
b) Der Voluntarismus.
Der Voluntarismus ist keine Erscheinung einfacher Art, die
Hauptepochen der Geschichte haben ihn ihrer Hauptrichtung gemäß
verschieden gestaltet, jede hat ihren besonderen Voluntarismus. —
In der religiösen Gedankenwelt ging die Behauptung dahin, daß
sowohl die Offenbarung Gottes als ihre Annahme durch den Menschen
eine Sache des Willens sei, der sich nicht weiter ableiten lasse.
Darin lag eine Betonung der Selbständigkeit, Ursprünglichkeit und
reinen Tatsächlichkeit des religiösen Geschehens, die Abweisung aller
Versuche, es aus weiteren Zusammenhängen verständlich zu machen.
Zum Ausdruck bringt den Gegensatz die bekannte Formel, daß
nach, Thomas von Aquino Gott das Gute gebietet, weil es gut ist,
nach Duns Scotus das Gute gut ist, weil Gott es gebietet. Das
Spezifische der Religion, ihre Unabhängigkeit und ihre Unver-
gleichlichkeit kam bei dieser Denkweise voll zur Geltung, aber zu-
gleich entstand die Gefahr einer Ablösung vom übrigen Leben,
eines Herausfallens aus allen Zusammenhängen; wie es hier nicht
2u einer vollen geistigen Durchdringung und Aneignung des Wahr-
heitsgehaltes kam, so konnte leicht die Tatsächlichkeit in starre und
äußerliche Positivität und die Ursprünglichkeit und Freiheit in blinde
Willkür umschlagen. Man möchte hier an Plotins Wort denken,
daß, wer über die Vernunft hinausstrebt, leicht in Gefahr kommt,
aus ihr herauszufallen.
Auf dem Gebiete der Philosophie stellt der Voluntarismus sich
anders dar: hier gilt es eine Verlegung des Zentrums des Lebens
aus dem Erkennen ins Wollen, namentlich in das moralische Wollen.
Den Antrieb dazu gab vornehmlich ein Irrewerden am Vermögen
des Erkennens; wie es unfähig dünkte, zum letzten Grunde der
Dinge durchzudringen, so schien es auch dem Leben keinen sicheren
Halt gewähren zu können. Sollte also nicht auf alle Wahrheit in
vollem Sinne verzichtet werden, so war eine andere Quelle zu suchen,
und eine solche schien nach Erschütterung des religiösen Glaubens
nichts anderes zu bieten als des Menschen sittliches Handeln. In
dem großen Sinne, wie Kant dies versteht, wird dies zur Offen-
44 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
barung einer neuen Welt, welche die letzte Tiefe der Wirklichkeit
bildet. Diese Welt aber läßt sich ebenso wie das sittliche Handeln
selbst nicht jedem theoretisch demonstrieren oder als ein Vorhandenes
aufweisen, sondern sie besitzt eine Überzeugungskraft nur für den,
der das sittliche Grundgeschehen anerkennt und auf sich nimmt;
so geht eine Tat dem Erkennen voran, und was aus ihr an leitenden
Überzeugungen hervorgeht, das hat nicht den Charakter theoretischer
Erkenntnisse, sondern den praktischer Postulate. Die gewaltige Er-
regung und eingreifende Wandlung, die das bewirkt hat, stehen uns
allen deutlich vor Augen.
Die richtige Würdigung dieser Wendung ist namentlich deshalb
schwer, weil notwendige und fruchtbarste Wahrheiten hier mit
problematischen Fassungen aufs engste verquickt sind. Ein solche
Wahrheit liegt vor allem in der deutlichen Einsicht, daß unsere
letzten Überzeugungen nicht durch den Befund der uns umgebenden
Welt, sondern durch das bestimmt werden, was im Bereich des
Innenlebens vorgeht und an Wirklichkeit ersichtlich wird; das macht
allen Versuchen ein Ende, durch Spekulation in ein inneres Wesen
der Dinge einzudringen und von ihm her die Wirklichkeit zu ver-
stehen. In enger Verbindung mit dieser Wahrheit steht aber die
andere, daß der Bestand des Innenlebens nicht mühelos und ge-
schlossen allen vor Augen liegt, sondern daß dieses Leben erst
geweckt und entfaltet sein will, und daß nach dem Maße, wie das
geschieht, dem Einzelnen auch das Bild der Welt sich gestaltet.
Die Entzweiung der Menschen im Streit um die Wahrheit, sowie
der persönliche Faktor im Wahrheitsstreben können hier ihre volle
Würdigung finden.
Aber sobald wir vom Allgemeinen des Gedankens zur n;iheren
Ausführung fortschreiten, erwachen Zweifel über Zweifeln. Es ist
etwas anderes, die Grundtatsachen des Innenlebens in den Mittel-
punkt der Erkenntnisarbeit zu stellen und in ihnen die entscheidenden
Daten zu finden, etwas anderes, jene direkt zu einer eignen Erkennt-
nisquelle zu machen. Ebenso notwendig wie jenes, ebenso unmöglich
ist dieses. Denn der Befund des Innenlebens läßt sich nicht un-
mittelbar, wie er vorliegt, als sicherer Ausgangspunkt ergreifen, sondern
er ist erst durch die Erkenntnisarbeit zu klären und zu durchleuchten;
was dabei aber in ihm als Grundtatsache und als Wahrheit befunden
wird, das hat eine Allgemeingültigkeit und zugleich einen inneren
Zwang, das läßt sich unmöglich auf eine persönliche Zustimmung
Theoretisch — praktisch. 45
stellen. Es gibt mathematische Wahrheiten von solcher Schwierig-
keit, daß nur ein kleiner Teil der Menschen sie klar zu durchschauen
vermag, tut das ihrer Allgemeingültigkeit auch nur den mindesten
Abbruch? Wenn daher auch die Lebenswahrheiten ihre volle Über-
zeugungskraft erst bei Entwicklung des entsprechenden Lebens er-
langen können, ja wenn die Wendung zu ihnen eine Entscheidung
des Menschen in sich trägt, so werden sie dadurch in keiner Weise
zu bloßen Möglichkeiten, die der eine annehmen, der andere ver-
werfen könnte, sondern sie behalten die volle Notwendigkeit und
Allgemeingültigkeit; die Subjektivität liegt nicht in der Sache, sondern
nur im Verhältnis des Menschen zu ihr, nichts kann volle Wahrheit
besitzen, das innerlich mit einem subjektiven Faktor behaftet ist.
Von solchen Erwägungen aus müssen wir den Begriff der praktischen
Vernunft als schief und irreleitend grundsätzlich ablehnen, es gibt nicht
eine theoretische und eine praktische Vernunft nebeneinander, son-
dern es gibt nur eine einzige Vernunft, die mit dem ganzen Leben
zu t)an hat; in den Begriff dieser Vernunft aber ist als wesentliches
Merkmal das der Selbsttätigkeit aufzunehmen. Und es schwebt die
Vernunft nicht frei in der Luft, sondern sie ist die Vertreterin eines
bei sich selbst befindlichen Lebens, eines Beisichselbstseins der Wirk-
lichkeit Ohne ein solches gibt es keinerlei Wahrheit.
Dazu behauptet der Begriff der praktischen Vernunft meist nicht
die Höhe, die er bei Kant einnahm. Hier vollzieht er eine Um-
wälzung des ganzen Lebens, bewirkt er eine Versetzung in ein ur-
sprüngliches Schaffen, und gibt er dem Leben in besonderer Richtung
einen Weltcharakter mit strenger Allgemeingültigkeit; wenn irgend
etwas, so ist dies Metaphysik, wenn auch eine andere Metaphysik
als die der ontologischen Spekulation. Je mehr sich aber dieser
metaphysische Charakter verwischt, desto mehr wird das Reich der
praktischen Vernunft aus der Tiefe der ganzen Wirklichkeit zu etwas
besonderem neben anderem, desto weniger läßt sich hier zu einer
allgemeingültigen Wahrheit gelangen. Die Lebensgestaltung aber,
die daraus hervorgeht, wird leicht ein Gebiet des praktischen und
moralischen Lebens gegen die Kulturarbeit isolieren, damit aber jenes
zu subjektiv und empfindungsmäßig, dieses zu äußerlich und auf
die bloße Leistung gerichtet gestalten, den Gesamtstand des Lebens
aber durch solche Spaltung stark herabdrücken. In Wahrheit dürfen
die Kulturarbeit und die letzten Überzeugungen des Menschen nicht
auseinanderfallen; je mehr sie es tun, desto mehr muß unserem
46 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Leben eine durchwaltende Seele und zugleich alle Größe ent-
weichen.
Wieder anders gestaltet sich der Voluntarismus im Leben der
Gegenwart. Hier erscheint er als wissenschaftliche Theorie zunächst
auf psychologischem Gebiet in dem Streben, die Abhängigkeit des
Vorstellungslebens von den Trieben und Neigungen aufzuweisen,
auch den gesamten Verlauf des Vorstellungslebens als durch ein
Willensmoment bedingt zu zeigen, wie das vornehmlich in Wundts
Apperzeptionslehre geschieht. Viel neue und fruchtbare Erkenntnis
ist auf diesem Wege gewonnen, ja der Gesamtanblick der Sache ver-
tieft. Nur in der Richtung mögen hier noch Fragen und Zweifel
entstehen, ob dabei nicht oft weniger ein Gegensatz zwischen Intellekt
und Wille als zwischen zentraler und peripherer Seelentätigkeit vor-
liegt, der durch den ganzen Umfang des Lebens geht.
Für das Ganze des Lebens gestaltet sich auf modernem Boden
der Voluntarismus und das Überwiegen der praktischen Aufgaben
dahin, daß in weitem Zuge das Befinden der Menschheit, und zwar
der Menschheit des unmittelbaren Daseins, für das Ziel der Ziele
erklärt und auch das Erkennen zu einem bloßen Mittel dafür ge-
macht wird; es erscheint als eine unnütze Grübelei, wenn es nicht
zur Förderung des Wohlseins der Menschen wirkt. Daß dies der
Richtung des modernen Lebens entspricht, ließ schon der Blick auf
die Geschichte ersehen. Eine Ermüdung an dem Kampf um die
Weltprobleme ist eingetreten, und die Fragen der inneren Bildung, der
Bildung des ganzen Menschen zu einer weltumspannenden Persön-
lichkeit, werden durch die unablässig anschwellenden politischen,
wirtschaftlichen, technischen Probleme weit zurückgedrängt, im be-
sondern nimmt der Kampf um die ökonomische Selbsterhaltung
immer mehr alle Kräfte in Anspruch und stellt immer mehr das
Leben und Handeln unter den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit;
wie sollte in solchen Zusammenhängen noch irgendwelcher Platz
für einen Selbstwert des Wissens bleiben? Ein Versuch, von jener
praktischen Haupttendenz aus eine eigentümliche Theorie des Wissens
zu entwickeln, ist namentlich im Pragmatismus gemacht, der von
Amerika und England aus immer mehr die Kulturwelt beschäftigt;
so sei er etwas genauer betrachtet.
Theoretisch — praktisch. 47
c) Der Pragmatismus.
Der Pragmatismus ist in Deutschland noch so wenig bekannt,
daß es vor aller Erörterung einer kurzen Orientierung bedarf; wir
halten uns dabei namentlich an die Vorlesungen von William James,
die eben den Zweck einer Aufklärung über den Pragmatismus ver-
folgen.^ Der Ausdruck und der Begriff Pragmatismus im hier ge-
meinten Sinne stammt von Charles Pierce, der ihn zuerst in der
amerikanischen Zeitschrift „Populär Science" vom Jahre 1878 ver-
wandte. Zwanzig Jahre später hat James die Sache aufgenommen
und in glänzender Weise weitergebildet. Als weitere Führer sind
Dewey (New York) und Schiller (Oxford) zu nennen; von letzterem
stammt der Ausdruck «Humanismus." Es ist nicht ohne ein kultur-
geschichtliches Interesse, daß hier wohl zuerst in einer philosoph-
ischen Bewegung Amerika vorangeht, wie denn auch dort vornehm-
lich der Pragmatismus eine weitverbreitete Strömung geworden ist.
Was, Europa anbelangt, so hat er außer in England namentlich in
Italien Einfluß gewonnen.
Über das Verhältnis des Pragmatismus zu anderen. Denkricht-
ungen äußert James sich folgendermaßen: »Der Pragmatismus
repräsentiert eine uns durchaus vertraute Richtung in der Philo-
sophie, nämlich die empirische Richtung, allein er repräsentiert sie
in einer radikaleren und zugleich einwandfreieren Form als die war,
die sie bisher angenommen hatte" (S. 31 a. a. O.), ferner, »er stimmt
mit dem Nominalismus darin überein, daß er sich überall an das
Einzelne hält, mit dem Utilitarismus darin, daß er überall den
praktischen Standpunkt betont, mit dem Positivismus in der Ver-
achtung, die er den bloß sprachlichen Problemlösungen, überflüssigen
Fragestellungen und metaphysischen Abstraktionen entgegenbringt"
(a. a. O. S. 33). Der Pragmatismus legt Wert darauf, kein System,
sondern eine Methode zu sein, diese Methode aber besteht in der
Beziehung alles Erkenntnisstrebens auf das menschliche Dasein und
seine Förderung; nur was hier sich bewährt, kann als Wahrheit
gelten. Das Wahre wird damit ein Teil des Guten, „wahr heißt
* „Der Pragmatismus". Ein neuer Name für alte Denkmethoden. Volks-
tümliche philosophische Vorlesungen. Ans dem Englischen übersetzt von
Wilhelm Jerusalem, 1908. — Beachtenswert ist auch der Aufsatz von Jerusalem
in der Deutschen Literaturzeitung vom 25. Januar 1908: „Der Pragmatismus.
Eine neue philosophische Methode."
48 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
alles, was sich auf dem Gebiete der intellektuellen Überzeugung
aus bestimmt angebbaren Gründen als gut erweist" (S. 48). «Alle
Theorien sind nur Werkzeuge, nur Anpassungen der Gedanken an
die Tatsachen, und keineswegs Offenbarungen oder intellektualistische
Lösungen eines göttlichen Welträtsels" (S. 122). In solchem Ge-
dankengange gelten dem «Humanismus" die Wahrheiten als Erzeug-
nisse des Menschengeschlechts. «Die Wahrheit macht keinen anders-
gearteten Anspruch und legt keine andere Pflicht auf als Gesund-
heit und Reichtum, Alle diese Ansprüche sind bedingter Art« (S. 146).
Solche Fassung gibt der Forschung insofern eine durchaus
eigentümliche Richtung, als es nunmehr nicht sowohl die Begründung
von Prinzipien als die Entwicklung in ihre Konsequenzen gilt,
als jetzt nicht die Sache in einer eignen Natur gegenüber dem
Menschen betrachtet, sondern alles auf den Menschen gerichtet und
nach der Leistung für ihn bemessen wird.
Was das besagt und welche Wandlung es bewirkt, wird am
ehesten deutlich durch die Beispiele, welche James selbst bringt.
Der Streit des Materialismus und des Spiritualismus tritt in eine
völlig neue Beleuchtung und wird zugleich einer Entscheidung zu-
geführt, wenn nicht das Recht der Prinzipien erörtert, sondern die
Leistung eines jeden der Gegner für das Wohl der Menschheit er-
wogen wird. Materialismus bedeutet in diesem Zusammenhange die
Denkweise, welche* die höheren Phänomene durch die niederen er-
klärt und die Geschicke der Welt durch ihre blinden Teile und ihre
blinden Kräfte bestimmen läßt, Spiritualismus diejenige, welche die
Leitung dem höheren Elemente zuweist und damit den Geist nicht
zu einem bloßen Zeugen und Berichterstatter des Weltlaufs macht,
sondern ihn tätig in denselben eingreifen läßt. Stellen wir nun die
Frage, welche der beiden Beleuchtungen mehr das Leben fördert,
so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Denn die letzten prak-
tischen Ergebnisse des Materialismus sind trostlos, während der
Spiritualismus mit seiner Bejahung einer sittlichen Weltordnung
unseren Hoffnungen freien Spielraum gibt. «Der Glaube an geistige
Wesen in all seinen Formen hat es immer mit einer Welt der Ver-
heißung zu tun, während die Sonne des Materialismus in einem
Meer der Enttäuschung untergeht" (a. a. O. S. 67). Dem entspricht
die Erörterung des religiösen Problems: statt von spekulativen
Prinzipien her wird es vom Bedürfnis des Menschen aus behandelt.
»Nach pragmatischen Grundsätzen ist die Hypothese von Gott wahr,
Theoretisch — praktisch. 49
wenn sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt. Was
nun immer noch die restlichen Schwierigkeiten dieser Hypothesen
sein mögen, die Erfahrung zeigt, daß sie wirkt, und das Problem
besteht darin, die Hypothese so auszubauen, daß sie sich mit
den andern wirkenden Wahrheiten in Einklang bringen läßt"
(a. a. O. S. 192).
Wer sich in das Ganze einlebt, kann wohl verstehen, daß es
weite Kreise der Zeit zu gewinnen vermochte. Indem es etwas,
was sonst nur nebenbei und an einzelnen Stellen beachtet wurde,
zur Hauptsache macht, wird eine Beleuchtung der Dinge gewonnen,
die den Vorzug der Einfachheit und der leichten Verständlichkeit
hat. Eine große Vereinfachung ist augenscheinlich, indem alle
Fragen, die keine Beziehung zur Lebenshaltung haben, als unnütz
ausscheiden müssen; diese Beziehung aber scheint einen Maßstab
zu gewähren, der die verschiedenen Behauptungen in voller Unbe-
fangenheit zu würdigen und damit die Sache dem Streit der Par-
teien zu entziehen gestattet; die Wahrheit erhält hier mehr Unmittel-
barkeit und Fruchtbarkeit, mehr Beweglichkeit und Flüssigkeit, indem
sie so in die Bewegung des Lebens hineingestellt wird und zu ihrer
Förderung mitzuwirken hat; gerade unsere Zeit mit ihrer Zersplitter-
ung der Überzeugungen scheint eine derartige Lösung zu empfehlen.^
Das Positive der Leistung wird aber durch eine scharfe Kritik des
überkommenen Wahrheitsbegriffes wesentlich unterstützt.
Aber so viel Anregung das alles, vertreten von bedeutenden
und geistvollen Männern, bringen mag, als Letztes und Ganzes an-
gesehen muß es uns doch als ein Irrtum gelten. Der starke Ein-
druck des Pragmatismus stammt namentlich daher, daß hier die
gewöhnliche Betrachtungsweise umgekehrt wird; wie aber, wenn da-
bei der Begriff der Wahrheit selbst auf den Kopf zu stehen kommt?
So aber geschieht es in Wahrheit Das eben ist das Wesentliche
des Wahrheitsbegriffes, und das ist die bewegende Seele des Wahr-
heitsstrebens, daß der Mensch dabei etwas erreicht, was jenseits aller
seiner Meinungen und Neigungen liegt, und was völlig unabhängig
von seiner, ja von aller Menschen Zustimmung gilt. Damit scheint
'■ James (a. a. O. S. 122) bemerkt in dieser Hinsicht: „Die tatsächliche
Unruhe, die jetzt in der theoretischen Philosophie herrscht, der Wert, den
jeder Denktypus für gewisse Zwecke besitzt, die Unfähigkeit eines jeden dieser
Denktypen, alle anderen zu verdrängen, alles das legt die pragmatische An-
schauung nahe."
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 4
50 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
dem Menschen ein wesentlich neues Leben zu winken, ein Weit-
und Großwerden des Wesens, eine innere Gemeinschaft mit der
Wirklichkeit, eine Befreiung von aller bloßmenschlichen Art. Wo
dagegen das Wohl des Menschen und der Menschheit zum höchsten
Ziel und zum richtenden Maß gemacht wird, da sinkt die Wahrheit
zu einer bloßnützlichen Meinung herab, und das ist eine innere
Zerstörung. Was immer sie an Überzeugungskraft hätte, das müßte
sie in dem Augenblick verlieren, wo sie als ein bloßes Mittel durch-
schaut würde. Wahrheit ist nur als Selbstzweck möglich, eine
»instrumentale" Wahrheit ist keine Wahrheit.
Das heißt nicht behaupten, daß die Wirkung der verschiedenen
Lehren auf den Zustand des Menschen ein unwichtiger Gegenstand
sei; sicherlich kann viel Aufklärung und Anregung davon ausgehen,
wenn jene Wirkung mehr beachtet und ihren Gründen nachgeforscht
wird. Aber zunächst haben wir es dabei mit einem bloßen Phänomen
zu tun; was in ihm Kern und Schale, Recht und Unrecht sei, das
ist erst herauszustellen.
Dem Pragmatismus löst sich die Wahrheit in lauter einzelne
Wahrheiten auf, und er selbst sieht darin einen Vorteil. Aber ist
es so sicher, daß diese Wahrheiten sich friedlich und freundlich
gegenseitig vertragen, daß sie nicht in schwere Konflikte mit ein-
ander geraten? Wer sollte wohl bei solchen Konflikten der Schieds-
richter sein?
Endlich ist das, was der Pragmatismus als höchstes Ziel
betrachtet, das Gelingen und Gedeihen des Lebens, keineswegs
allem Zweifel enthoben. Denn das Leben ist hier nichts anderes
als das Kulturleben, wie es sich in der Breite des Daseins aus-
nimmt; um dieses Leben aber als ein sicheres Gut zu betrachten,
muß man von dem Kulturenthusiasmus und der optimistischen
Stimmung beherrscht sein, die früheren Zeiten näher als der unsrigen
lagen. Denn ist dies Leben, wenn es für sich selbst als das Letzte
genommen wird, all der Mühe und Arbeit, all der Sorgen und Auf-
regungen, all der Schmerzen und Entsagungen wert, die es kostet?
Ist dies Leben, genauer betrachtet, mit all seinem prunkenden Schein
und seiner inneren Leere, mit seiner durchgängigen Unlauterkeit und
Unwahrhaftigkeit nicht ein schwerer Widerspruch? Und ein Mittel
zur Aufrechterhaltung dieses problematischen Lebens sollte das Streben
nach Wahrheit sein? Uns will von allen Arten des Glaubens keiner
gewagter erscheinen als ein derartiger unfundierter Lebensglaube.
Theoretisch — praktisch. 51
d) Die eigne Behauptung: der Aktivismus.
Jerusalem hebt im Vorwort zur Übersetzung von James' »Pragma-
tismus" meine Annäherung an die neue Richtung hervor und be-
merkt dabei: »Euckens Aktivismus ruht auf bestimmten meta-
physischen Voraussetzungen, während der Pragmatismus rein empirisch
ist" (S. VII). In Wahrheit begrüße ich sympathisch das Streben,
die Wahrheit in eine engere Beziehung mit dem Leben zu bringen,
sie nicht als eine Sache des bloßen Intellektes zu verstehen, nicht
minder teile ich die Ablehnung eines Wahrheitsbegriffes, dem die
Wahrheit als Übereinstimmung mit einem neben uns befindlichen
Sein gilt. Es fragt sich nur, was unter Leben verstanden wird, und
da dürfte zwischen dem, was in jenen Worten „empirisch" und
„metaphysisch" genannt wird, eine weite Kluft bestehen. Dort be-
sagt Leben die menschliche Zuständlichkeit, das menschliche Befinden
— ob des Einzelnen oder der Gattung, kommt schließlich auf das-
selbe hinaus — , wir aber denken beim Suchen einer engeren Ver-
bindung der Wahrheit mit dem Leben an das Geistesleben als ein
Beisichselbstsein des Lebens, das mit seinen Inhalten und Werten
aller menschlichen Zuständlichkeit gegenüber etwas wesentlich Neues
bildet, ja eine völlige Umkehrung des nächsten Standes besagt.
Daher bedeutet auch die Verbindung der Wahrheit mit dem Leben
dem Pragmatismus und dem Aktivismus etwas sehr verschiedenes:
dort wird die Wahrheit ein bloßes Mittel für ein höheres Ziel, und
das gilt uns als eine innere Zerstörung, hier wird sie ein wesent-
licher Bestandteil des Lebens selbst und darf daher nie ein bloßes
Mittel werden.
So hat es auch hier und dort einen wesentlich anderen Sinn,
wenn die verschiedenen Leistungen im Kampf um die Wahrheit
nach ihrer Fruchtbarkeit für die Lebensentfaltung bemessen werden.
Dort bildet das Maß der Nutzen des Menschen mit all seiner Wandel-
barkeit, hier wird es das Bestehen und der lühalt des Geisteslebens,
und die verschiedenen Behauptungen werden daraufhin zu prüfen
sein, was sie dafür an sachlicher Vertiefung und Erweiterung bringen.
Beides kann bis zu vollem Gegensatz auseinandergehen. Eine Denk-
weise kann dem Menschen als Menschen harte Opfer auferlegen
und ihm das Leben eher schwerer als leichter machen — von allem
wahrhaft Großen läßt sich dieses behaupten -, aber zugleich kann
es das geistige Leben gehaltvoller und größer machen, während um-
52 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
gekehrt, was dem Menschen ein behagliches Dasein gewährt, das
Geistesleben arg herabdrücken kann. Daß Zeiten voller Leistung
und Genuß geistig recht leer sein können, zeigt die Gegenwart
deutlich genug. ^
Mit dem Pragmatismus wollen auch wir eine Versetzung des
Lebens in Tätigkeit, aber diese Versetzung dünkt uns nicht möglich
vom gegebenen Dasein mit seinen festen Verkettungen aus, sondern
nur durch eine Umkehrung dieses Daseins, durch die Ergreifung
eines neuen Ausgangspunktes und die Entfaltung eines neuen Lebens.
Das ist eine Art von Metaphysik: wir leugnen es nicht, vielmehr
verlangen wir aufs entschiedenste eine Metaphysik, da nur in Um-
kehrung der ersten Lage ein ursprüngliches und selbsttätiges Leben
möglich wird, und es daher keine geistige Selbsterhaltung ohne
irgendwelche Metaphysik gibt Wiederum kommen wir damit auf
die Notwendigkeit eines selbständigen Geisteslebens als einer neuen
Stufe der Wirklichkeit, als der Entfaltung ihrer eignen Tiefe.
Nach dem allen scheint uns der Gegensatz des Intellektualismus
und des Voluntarismus nicht den Kern der Sache zu treffen. Es
genügt nicht, den Schwerpunkt des Lebens von der einen seelischen
Tätigkeit in eine andere zu verlegen, da dies keine wesentliche Ver-
änderung und Erhöhung bewirkt und den abgesteckten Kreis nicht
überschreiten läßt. Vielmehr handelt es sich um den Gegensatz
eines selbsttätigen, freien und eines bei aller Emsigkeit innerlich ge-
bundenen Lebens. Damit aber tritt die ganze Frage unter einen
wesentlich neuen Anblick.
e) Intellekt und Intellektualismus.
Die Eigentümlichkeit der aktivistischen Behauptung dürfte am
ehesten erhellen durch eine Betrachtung ihrer Stellung sowohl zum
Intellektualismus als zur intellektuellen Arbeit. Diese Arbeit irgend
herabzusetzen, dazu hat sie nicht den mindesten Anlaß, ihr kann
sie nicht als etwas neben dem Hauptleben Befindliches und ganz
wohl Entbehrliches gelten. Denn die geforderte Umkehrung des
Lebens, die Wendung zur Selbsttätigkeit, wird sich ohne energische
intellektuelle Arbeit nun und nimmer vollziehen und behaupten lassen.
* Für eine weitere Erörterung des Wahrheitsbegriffs sei auf meine
„Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" (1907) verwiesen.
Theoretisch — praktisch, 53
Hierfür sei auch das Zeugnis der Geschichte beachtet, welche zeigt,
daß überall da, wo von der Erkenntnisarbeit groß gedacht wurde,
sie nicht als eine bloße Begleitung des Lebens oder als eine nach-
trägliche Deutung eines „gegebenen" fertigen Tatbestandes erschien,
sondern vielmehr als ein wesentliches Stück des Lebens, ohne dessen
Entfaltung es seine eigene Höhe nicht erreichen könne. So • bei
Plato, so bei Kirchenvätern, wie Clemens und Origenes, so bei
Spinoza und Leibniz; überall schien erst das Wissen den Geistes-
gehalt des Lebens seiner ganzen Tiefe nach zu eröffnen und ihn
dem Menschen zu vollem Besitze zu machen. Mochte dabei zu
Unrecht das Wissen als das Ganze des Lebens erscheinen, jedenfalls
war es mehr als ein bloßes Abbild, jedenfalls stand es nicht neben,
sondern in dem Leben. Aber so entschieden wir es demnach ab-
lehnen müssen, den Intellekt zum Sündenbock für alles zu machen,
was an der Gegenwart uns mißfällt: wer ein bei sich selbst befind-
liches Geistesleben verlangt und nur von ihm einen wesenhaften In-
halt des menschlichen Lebens erwartet, der ist gegen alle Hinneig-
ung zu einer intellektualistischen Lebensgestaltung gesichert, der wird
vielmehr die Überflutung namentlich der Neuzeit und Gegenwart
von intellektualistischen Strömungen besonders stark empfinden. Es
wird ihn aber die Sorge für das Ganze des Geisteslebens diese
Überflutung in anderer Weise betrachten und beurteilen lassen als
den Voluntaristen. So sei zunächst auf diese Machtentwicklung des
Intellektualismus das Auge gerichtet; erst dann läßt sich ermessen,
ob die erstrebte Gegenwirkung ihr in Wahrheit gewachsen ist.
a. Die Überflutung des modernen Lebens durch den Intellektualismus.
Der Intellektualismus wirkt auf uns zunächst von der Ge-
schichte her in mannigfacher Gestalt: er wirkt aus dem Altertum, das
Geist und Intellekt als gleichbedeutend zu behandeln pflegte, aus
dem christlich- kirchlichen Leben, dem der Glaube trotz aller Gegen-
wirkung immer wieder eine überwiegend intellektuelle Tätigkeit
wurde, aus der Neuzeit, welche die von ihr erstrebte Lebenserhöh-
ung namentlich von der Tätigkeit des Intellektes erwartete. Sie ver-
ficht aber solche Schätzung bis in die Gegenwart hinein nicht nur
in der Richtung, welche als Aufklärung, Spekulation u. s. w. vom
Innenleben ausging, sie tut es fast noch stärker in der vom Natur-
erkennen beherrschten Denkweise. Denn noch immer pflegen die
54 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Naturforscher Geist und Bewußtsein einander gleichzusetzen und das
Geistesleben als eine bloße Abspiegelung einer draußen befindlichen
Welt zu verstehen. Dem entspricht es, alles Heil, auch alle Er-
höhung des moralischen Standes, vornehmlich von einer Berichtigung
der Begriffe zu erwarten.^
Nichts aber dürfte die Macht des Intellektualismus deutlicher
zeigen als die Tatsache, daß selbst die Gegenwirkung gegen ihn
oft wieder zu ihm zurückgekehrt ist und ihn nur verstärkt hat. Man
wollte einen neuen Inhalt, aber man gab ihn in der alten Form und
unterlag damit alsbald der feindlichen Macht. So zieht es sich durch
die ganze Geschichte des Christentums, so reicht es auch in das
19. Jahrhundert hinein. Der spätere Schelling z. B. sucht mit Ein-
setzung aller Kraft den eingewurzelten Rationalismus durch eine
positive und irrationale Denkweise zu verdrängen. Aber er bringt
das Neue als eine bloße Lehre; die Annahme dieser Lehre, das Be-
kenntnis zu ihr, scheint das ganze Leben ins Wahre zu stellen.
Was ist das anders als Rationalismus und Intellektualismus? Viel-
leicht macht es mancher heutige Gegner des Intellektualismus ähnlich
wie Schelling.
Gefährlicher noch, weil tiefer eindringend und mehr versteckt,
sind die Wirkungen des Intellektualismus durch sein Festwurzeln in
alten und neuen Gewöhnungen des Denkens. Als der Kern der
Erkenntnisarbeit gaU von alters her die Heraushebung allgemeiner
Größen aus der grenzenlosen Vielheit der Erscheinungen, im Alter-
tum in vollem Einklang mit der Gesamtauffassung der Wirklichkeit,
indem einfache und unwandelbare Formen ihr Grundgerüst zu bilden
schienen; seit dem Verlassen solcher Überzeugung mit entschiedenem
Unrecht, indem das Heraussehen der großen Züge aus der Erfahr-
ung und die Verbindung der Mannigfaltigkeit zu einem Ganzen weit
^ So zeigt es mit besonderer Anschaulichkeit das gi'ößte realistische
System des 19. Jahrhunderts, das System Comtes. Es seien nur einige be-
zeichnende Stellen aus dem cours de philosophie positive (4. Aufl. 1877) an-
geführt. I, 40/41 heißt es: le mecanisme social repose finalement sur des
opinions. Nach IV, 113 trägt die Hauptschuld an der unerquicklichen Lage
der Gegenwart die anarchie intellectuelle; so ist das dringendste Bedürfnis
eine philosophie convenable. Als der tiefste Grund der politischen Korruption
erscheint l'impuissance et le discredit des idees generales. Überhaupt ent-
sprechen bei Comte die Epochen der Geschichte den Stufen des Erkennens.
Auch der heutige Monismus glaubt durch eine Berichtigung der Begriffe das
ganze Leben heben zu können.
Theoretisch — praktisch. 55
mehr besagt und weit mehr verlangt als ein bloßes Abstrahieren
gleicher Züge.^
Der intellektualistischen Überschätzung des Strebens zum All-
gemeinen entspricht ein merkwürdiger Kultus abstrakter Begriffe, der
im 19. Jahrhundert eine besondere Höhe erreicht hat. Wie viel
Macht üben jetzt Begriffe wie Vernunft, Kultur, Gesetz, Wert, Fort-
schritt, Humanität u. s. w., Begriffe höchst vager Art! Gerade ihre
Unbestimmtheit scheint sie zu empfehlen, indem sie uns einer un-
liebsamen Entscheidung enthebt; sie sind oft wie leere Anweisungen,
die jeder nach seinem Belieben ausfüllt. Dabei wird Hegel getadelt,
dessen Begriffen doch eine zusammenhängende Gedankenwelt einen
bestimmten Inhalt gab!
Den Einfluß intellektualistischer Denkweise verrät auch die land-
läufige Neigung, unser Handeln nach Art eines logischen Schlusses als
eine Subsumtion eines einzelnen Falles unter ein allgemeines Gesetz
zu verstehen. In Wahrheit würde die wissenschaftliche Arbeit selbst
nicht viel vermögen, im besonderen nichts neues erreichen, wären die
logischen Formen nicht das bloße Gefäß eines sie belebenden und
erfüllenden Denkprozesses. Jenseit der Wissenschaft aber wird die
Verkehrung noch augenscheinlicher, wenn z. B. das politische Leben,
die richterliche Tätigkeit, ja alle menschliche Handlung nach jenem
Schema der Anwendung allgemeiner Sätze auf den besonderen Fall
^ Auch der Terminus Abstraktion bekundet jene Wandlung; ihr ent-
sprechend hat er zwei Hauptphasen durchlaufen, eine logisch-metaphysische
und eine psychologische, von denen jene auf Aristoteles, diese auf Locke
zurückgeht. Abstrakt (s? äipatpEaew? Xeyo'tAeva) heißen bei Aristoteles die von
der Materie abgesonderten Formen, namentlich die mathematischen Größen;
so hält es auch das Mittelalter fest (abstrahere formam a materia intellectu).
Erst die moderne Auffassung sieht im Abstrahieren ein allmähliches Heraus-
heben gemeinsamer Eigenschaften aus der Breite der Erscheinungen. Die
alte Bedeutung überdauert die Herrschaft der antiken Formenlehre; so heißt
es z. B. in Baumeisters definitiones philosophicae ex systemate Wolfii collectae,
def. DCCXXXV: absü-ahere ea dicimur, si ea, quae in percepüone distingu-
untur, tanquam a re percepta sejuncta intuemur. Kant versteht in seiner
Logik (s. VIII, 92, Hartenst.) unter Absü-aktion „die Absonderung alles Übrigen,
worin die gegebenen Vorstellungen sich unterscheiden." Er will daher nicht
sagen „etwas abstrahieren" (abstrahere aliquid), sondern „von etwas abstra-
hieren" und meint „abstrakte Begriffe sollte man eigentlich abstrahierende
(conceptus abstrahentes) nennen." Das Schwanken des heutigen Sprach-
gebrauches erklärt sich zum guten Teil aus dem Durcheinanderlaufen beider
Bedeutungen.
56 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
verstanden wird. Denn das heißt sie in eine starre Schablone
pressen und sowohl der Ursprünglichkeit als der Individualität be-
rauben. Das ist auch eine Wurzel des viel bestrittenen und in-
mitten aller Bestreitung unablässig anschwellenden Bureaukratismus.
Schließlich sei noch daran erinnert, daß der Intellektualismus
mit seiner Neigung, Denken und Geist einander gleichzusetzen und
die Welt hauptsächlich als einen Vorwurf der Betrachtung zu be-
handeln, tief in die Sprache, namentlich in die der Wissenschaft,
eingesickert ist. Die Ausdrücke aber, so unverbindlich sie scheinen,
führen leicht unter die Macht der Sache.
So umfängt uns der Intellektualismus von allen Seiten mit einem
dichten und feingewobenen Netz; aller subjektive Affekt vermag
daraus nicht zu befreien, selbst die Behauptung des direkten Gegen-
teiles lenkt, wie wir sahen, auf Umwegen leicht in die alte Bahn
zurück. Eine Wendung könnte nur aus der Anerkennung dessen
hervorgehen, daß die eigene Arbeit des Intellektes einen positiven
und produktiven Charakter erst erlangt, wenn sie sich einem Ganzen
des Geisteslebens empfangend und fördernd einfügt, wenn sie von
gesamtgeistigen Synthesen geleitet und von solchen Energien getrieben
wird. Daß es aber in Wahrheit so steht, läßt sich sowohl direkt
als indirekt erweisen: alle echte Leistung intellektueller Art stand in
engem Zusammenhange mit Gesamtbewegungen des Geisteslebens; wo
immer hingegen die Arbeit solchen Zusammenhang fallen ließ, da ist sie
rasch zu leerem Formalismus oder schwankender Reflexion gesunken.
Ein solches Verfechten der Abhängigkeit des Intellektes vom Ganzen
ist mit der Anerkennung einer Größe und Bedeutung innerhalb des
Ganzen aufs beste vereinbar.
ß. Die Begründung des Erkennens im Lebensprozesse.
Wer vom Erkennen gering denkt, wer in ihm nicht mehr als
ein Registrieren bloßer Erscheinungen sieht, der braucht sich über
seine nähere Gestaltung und über sein Verhältnis zum Ganzen des
Geisteslebens keinerlei Sorge zu machen. Wer aber in ihm eine
Durchleuchtung und innere Aneignung der Wirklichkeit sucht, dem
wird jenes zu einem schweren Probleme. Wie läßt sich eine fremde
Wirklichkeit unterwerfen und aneignen, wenn die Arbeit nicht
irgendwelches Vermögen an sie heranbringt, nicht eine Kraft gegen
die Widerstände der Dinge einzusetzen hat, wie kann eine Erfahr-
ung uns wertvoll werden, wenn sie nicht eine von innen kommende
Theoretisch — praktisch. 57
Bewegung aufnimmt und weiterführt, wie kann sie eine Antwort er-
teilen, wenn ihr nicht zuvor eine Frage gestellt ist? Woher aber
soll das Erkennen die Kraft zu jener Leistung finden, wenn nicht
der gesamte Lebensprozeß eine innere Konzentration vollzieht, seine
Tätigkeiten zu einem Ganzen verbindet und aus ihm den Kampf
gegen die Umgebung aufnimmt? Eine derartige Bewegung würde
wie aller Betätigung, so auch dem Erkennen eine eigentümliche Art
und Richtung erteilen. Ein solches Zusammenschießen des Lebens
zu einem charakterhaften Ganzen steckt einen eigentümlichen Da-
seinsraum ab und gestaltet eigentümlich wie die Erfahrung, so das
Grundverhältnis des Menschen zur Wirklichkeit und seine Arbeits-
welt. Daraus hat auch das Erkennen seine Ziele und Wege zu
empfangen. Wie könnte einer die griechische Philosophie in dem
Großen und Unterscheidenden ihrer Art verstehen, der sie nicht als
die Wendung derjenigen Lebenssynthese zur Wissenschaft verstünde,
die dem Ganzen der griechischen Kultur zugrunde liegt? Diese
Synthese erfolgte nicht unabhängig von der intellektuellen Arbeit,
sie bedurfte vielmehr ihrer unablässigen Hülfe; aber sie war nicht
ein Werk des bloß auf seine eigene Kraft gestellten Erkennens. So
besitzt überhaupt nur ein Erkennen, das in einer Lebenssynthese
gegründet ist und aus ihrer Tiefe schöpft, sichere Richtungen und
zwingende Notwendigkeiten, nur ein solches vermag den Gegenstand
zu erfassen und zu durchdringen, nur ein solches kann der Wirk-
lichkeit einen lebendigen Zusammenhang geben. Warum macht die
Scholastik bei allem Fleiß und allem Geschick einen so dürftigen
Eindruck, warum hat sie, trotz breitester Wirkung im menschlichen
Kreise, geistig nichts Erhebliches- gefördert? Weil ihr die gestaltende
Kraft eines charakteristischen Lebens fehlte, weil sie daher ihren Be-
griffen keine innere Nähe und keine zwingende Überzeugungskraft
zu geben, vermochte. Schon deshalb mußte sie der neueren Philo-
sophie erliegen, weil in dieser und durch sie ein neues Leben empor-
stieg. Eben dieses ist es auch, was schöpferische Denker, wie
Leibniz und Kant, von tüchtigen Schulgelehrten, wie Wolff und
Herbart, unterscheidet, daß jene neue Lebenssynthesen zum Durch-
bruch bringen und in ihrer Arbeit eine Erhöhung der Wirklichkeit
vollziehen. So sind siö Mehrer im Reich des Geistes, nicht bloße
Bearbeiter und Zergliederer eines gegebenen Befundes, sie reflektieren
nicht bloß über die Wirklichkeit, sie erweitern unsere Wirklichkeit.
Es bekräftigt aber solchen Zusammenhang des Erkennens mit
58 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
dem Ganzen des Geisteslebens nichts nachdrüci<licher als die eigenen
Erfahrungen der Logik, die sich mit der Allgemeingültigkeit und
Umwandelbarkeit ihrer Gesetze leicht aller Bindung und Beziehung
enthoben glaubt. Die Unverbrüchlichkeit jener Gesetze ist klar und
unbestritten. Aber alle Gesetze und Formen ergeben keineswegs
schon ein lebendiges Denken; das wirkliche Denken des Menschen
ist keineswegs bloß eine gleichförmige Anwendung jener Denkgesetze,
es hat darüber hinaus eine Eigentümlichkeit, die alle Mannigfaltigkeit
beherrscht und durchdringt, und die nur aus dem Ganzen eines
Lebensprozesses hervorgehen kann. Demgemäß ist das Denken in
seiner feineren Struktur verschieden nach der Art des Lebensganzen,
dem es angehört. Daß das künstlerisch gerichtete Griechentum das
Denken enger mit der Anschauung zusammenschloß, daß es rasch
und unmittelbar zu einer Synthese strebte und alles Grenzenlose
mied, daß es die Elemente des Lebens als gegeben und unveränder-
lich hinnahm, das gestaltet auch seine Erkenntnisarbeit bis in die
einzelnen logischen Operationen eigentümlich. Wie sehr bekundet
ferner die Denkweise des ausgehenden Altertums und des Mittel-
alters den Einfluß eines neuen, von der Religion beherrschten Lebens!
Indem dort alles sichtbare Dasein zum bloßen Gleichnis einer un-
sichtbaren Ordnung wird, verlieren die Begriffe ihre Sprödigkeit,
die Behauptungen ihre Ausschließlichkeit. Die allegorische Deutung
ahnt und schaut durch den sinnfälligen Tatbestand hindurch eine
höhere Welt, ohne dabei jenen zu einer gleichgültigen Erscheinung
herabzusetzen. So ist derselbe Gegenstand Bild und Sache, Sinn-
liches und Geistiges in Einem; daß darin zugleich eine Bindung
und eine Befreiung, eine Bejahung und eine Verneinung, damit aber
ein unhaltbarer Widerspruch liegt, das empfindet jene von Stimmung
und Ahnung beherrschte, beinahe traumhafte Denkweise nicht. Auf
dieser Denkweise aber ruht der mittelalterliche Kirchenbegriff, die
Sakramentenlehre u. s. w. Die Höhe der Scholastik wird klarer und
nüchterner, aber da es ihr bei aller Tüchtigkeit syllogistischen Ver-
fahrens an einer selbständigen Synthese und an einer entsprechenden
Energie des Denkens fehlt, so fehlt ihr auch die Kraft eines disjunktiven
Verfahrens; grundverschiedene Welten, wie der weltfrohe Aristotelismus
und das weltfremde alte Christentum, ferner innerhalb des Christen-
tums die kirchliche Ordnung und die alle Gestalt überfliegende
Mystik, vertragen hier sich miteinander friedlich und freundlich; sie
scheinen zu völliger Harmonie gebracht, wenn eine geschickte An-
Theoretisch — praktisch. 59
Ordnung und Abstufung einen direkten Zusammenstoß verhütet. Man
denkt im Schema eines Sowohl — als auch, wo einem kräftigen Denken
sich alsbald ein Entweder — oder ergeben hätte. Auch die logische
Methode der neuen Wissenschaft mit ihrer energischeren Disjunktion
und ihrer schärferen Analyse, ihrem Flüssigmachen auch der Elemente
und ihrem Streben ins Unbegrenzte, sie zeigt deutlich genug einen
engen Zusammenhang mit. dem modernen Lebensideal der Kraft
und Bewegung. So bejaht eine besondere Art des Geisteslebens,
wer in dieser Art der Forschung den Typus aller Forschung sieht.
Wie aber jede ausgeprägte Zeit ihre besondere Art der Logik hat,
so hat sie auch jeder selbständige Denker; ohne eigene Logik kann
keine eigene Denkweise, keine eigene Lebensgestaltung bestehen. Je
kräftiger diese Gestaltung, desto tiefer wird ihr Einfluß bis in die
einfachsten Elemente und Tätigkeiten des Denkens sich hineinerstrecken.
So muß die Verkettung mit dem Lebensganzen die Denkarbeit
konkreter, individueller, reicher gestalten. Zugleich entstehen damit
neue -Fragen und Aufgaben. Es gilt zu zeigen, was das Erkennen
dem Lebensganzen leistet, näher aufzuweisen, wie es in ihm zur
Scheidung des Zufälligen vom Wesentlichen, zur Verkettung der
Mannigfaltigkeit, zur Herausbildung einer Allgemeingültigkeit wirkt.
Auf den ersten Blick mag gerade die Allgemeingültigkeit als bedroht
erscheinen, wenn das Erkennen in so nahe Beziehung zu besonderen
Lebenssystemen tritt. Wird sich nicht damit die Wahrheit in eine
Vielheit von Wahrheiten auflösen und ein zerstörender Relativismus
gänzlich das Feld gewinnen? Das würde doch nur der Fall sein,
wenn alle Lebenssynthesen gleichwertig nebeneinander stünden, nicht
ihrer aller Arbeit einer einzigen umfassenden Synthese diente, an der sich
alles zu messen hätte. Aber könnte nicht eine solche Synthese der Be-
wegung als Endziel vorschweben und zugleich von Anfang an zur
Gestaltung und Richtung des Lebens und mit ihm des Denkens
wirken? Daß eine Behauptung neue Probleme hervorruft, spricht
keineswegs gegen sie; sind es echte Probleme, so werden sie die
Grundanschauung nicht sowohl belasten als verstärken.
Y- Die bewegende Kraft im Wahrheitsstreben.
Daß es sich in der Tat um echte Probleme handelt, das be-
stätigt jede Erwägung der Frage, was im Kampf um die Wahrheit
Macht hat und die Entscheidung bringt. Daß es nicht die bloßen
Gründe und Beweise sind, das läßt uns jede Disputation zwischen
60 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
abweichenden Überzeugungen deutlich ersehen; sollte es auf dem
größeren Felde der Disputation, beim Zusammenstoß der Geister in
der Gedankenarbeit, anders stehen? Jeder überträgt die Gründe
des anderen in die eigene Sprache und Denkweise und verändert sie
damit völlig; so steht gewöhnlich Monolog neben Monolog, zu einem
wirklichen Dialoge kommt es selten. In Wahrheit gibt den Gründen
ihre Überzeugungskraft nicht ihr logisches und dialektisches Ver-
mögen, sondern der Gehalt und die Gewalt des Geisteslebens, der
geistigen Konzentrationen, der Lebensenergien, aus denen sie schöpfen.
So verteidigt in aller Erörterung prinzipieller Fragen im Grunde ein
jeder sich selbst und seine eigene Art; erst aus solcher geistigen Selbst-
erhaltung strömt Kraft, Glut und Leidenschaft in die intellektuelle
Bewegung. Eine fruchtbare Aussprache und die Möglichkeit einer
Verständigung entsteht nur da, wo die Verwandtschaft der geistigen
Art einen gemeinsamen Boden bereitet; würden Aristoteles und
Augustin, Thomas und Voltaire, sie alle treffliche Logiker, sich wohl
gegenseitig überzeugt haben, wenn sie noch so lange miteinander
gestritten hätten? Mur einen flachen und haltlosen Menschen können
bloße Gründe aus seiner geistigen Art hinauswerfen; auf bloß
intellektuelle Erwägung gestellt, könnte der Mensch seines eigenen
Wesens nimmer sicher und froh werden; denn er müßte in steter
Furcht sein, daß nicht ein stärkerer Dialektiker komme, ihn über-
winde und zum Gegenteil zwinge.
So sind es auch im geschichtlichen Leben nicht die abgelösten
Gedankenbilder, die freischwebenden Ideen, sondern es sind die
geistigen Energien, die Lebenskonzentrationen, welche die Geister
beherrschen und die Leidenschaften entzünden. Bewußte und un-
bewußte Anhänger der Hegeischen Denkweise sagen uns oft, daß
die Ideen mit überwältigender Notwendigkeit ihre Konsequenzen
hervortreiben, und daß nichts stärker aufrüttelt, nichts zwingender
weitertreibt als ein logischer Widerspruch, Gewiß, Konsequenzen
und Widersprüche können eine unwiderstehliche Gewalt über den
Menschen erlangen. Aber sie tun das nicht von der bloßen Logik
aus. Konsequenzen können sehr nahe liegen und werden doch
nicht gezogen, Widersprüche mögen handgreiflich sein und werden
doch nicht empfunden. Es kommt hier alles darauf an, daß die
Probleme in die geistige Selbsterhaltung aufgenommen werden, daß
durch sie hindurch sich Lebensenergien entfalten und ein geistiger
Existenzkreis gestaltet; nur eine solche Aneignung, eine solche Auf-
Theoretisch — praktisch. 61
nähme der intellektuellen Arbeit in das Eigenleben macht die
Konsequenzen unabweisbar und die Widersprüche unerträglich; es
ist im besonderen der Grad der Einigung, die Kraft der Zusammen-
fassung des Lebens, welche der Logik die Macht erst verleiht, die
sie oft aus eigenem Vermögen zu üben wähnt. Das ruhige Ertragen
widersprechender Gedanken massen verrät immer eine geringere
Konzentration des Lebens; wie jenes für das kindliche Denken
charakteristisch ist, so ist es das auch für naivere Zeiten und für
den Durchschnittsstand der Menschheit gegenüber den Forderungen
selbständiger Geistigkeit. Der Mangel an Logik verschuldet nicht,
er bekundet nur jenen Mangel.
So ist in der geistigen Lage der Gegenwart nichts verdrieß-
licher und nichts hemmender, als die Unempfindlichkeit für den
Widerspruch von Gedanken massen; sie verrät einen starken Mangel
an Lebensenergie zentraler Art, an wahrhaftigem Eigenleben und
Selbsttätigkeit inmitten rührigster Betätigung. Der Lebensbestand ist
heute voll fundamentaler Gegensätze; Kompromisse an der Ober-
fläche sollen sie beschwichtigen, sie scheinen ausgeglichen, wenn die
Schroffheit des direkten Zusammenstoßes einigermaßen vermindert
ist. Oder auch die Gedankenmassen werden bei allem sachlichen
Widerspruch unbedenklich ineinander geschoben und miteinander
vermengt. Wie oft müssen sich die grundverschiedenen Welten des
alten ethisch-religiösen Idealismus und der modernen Kulturentwick-
lung eine solche Behandlung gefallen lassen. Nicht minder laufen
bei allermodernsten Schriftstellern grundverschiedene Lebensstimm-
ungen durcheinander. So z. B. bei Nietzsche antike und moderne,
klassische und romantische, künstlerische und dynamische Denkweise;
wer für solche Dinge ein Ohr hat, der muß darin grelle Disso-
nanzen empfinden. Die Masse der sog. Gebildeten aber, wie sie
alles kräftigen Eigenlebens entbehrt, empfindet nicht den mindesten
Schmerz an geistigen Dissonanzen, eher sieht sie darin ein buntes
und unterhaltendes Spiel; je mehr Widersprüche, desto «eigenartiger«,
desto «interessanter"!
Nichts zeigt die Abhängigkeit des Denkens von der Energie
des geistigen Lebens greifbarer als die Bewegungen der Religion.
Alle eingreifenden Wendungen kamen hier dadurch in Fluß, daß
der jeweilige Befund unerträgliche Widersprüche empfinden ließ,
daß im besonderen, was der Lauf der Zeit und die Anpassung an
die menschliche Lage an äußeren Einrichtungen, Übungen, Formeln
62 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
hervorgebracht hatte, mit den Forderungen einer gesteigerten Inner-
hchkeit unversöhnlich zusammenstieß. Aber wie wenig war die
Empfindung, Durchlebung, Überwindung solcher Widersprüche das
Werk bloßlogischer Betrachtung! Im Zeitalter der Reformation z. B.
lag der Kontrast zwischen der Veräußerlichung des Kirchenwesens
und dem Verlangen ernster Seelen nach Verinnerlichung deutlich
vor aller Augen; der größte Gelehrte jener Zeit, Erasmus, sah ihn,
nach Ausweis seiner Schriften, ebenso klar wie Luther. Warum ist
nun Luther der Reformator geworden und nicht Erasmus? Sicherlich
nicht, weil jener der größere Logiker war, denn das war entschieden
Erasmus. Sondern weil ihm jene Lage mit ihren Widersprüchen
nicht eine Sache kühler Betrachtung und geistreicher Reflexion blieb,
sondern weil sie ihm zu einer persönlichen Angelegenheit und zu-
gleich zu einem heftigen Schmerz, einer unerträglichen Notlage wurde.
Bei solcher völligen Aneignung wurde ihm eine Lösung des Konfliktes
zur zwingenden Notwendigkeit, zur Seele seines Lebens, zu einer
geistigen Selbsterhaltung, die alle andere Erwägung mit elementarer
Wucht verdrängte. Die Gewalt einer solchen Selbsterhaltung gab
dem schlichten Manne das Vermögen und auch das Recht, eine
überkommene, in der Überzeugung der Menschheit geheiligte Ordnung
anzugreifen und den Aufbau einer neuen zu wagen; das Wirken
aus ursprünglicher geistiger Notwendigkeit machte ihn zu einem
Helden, an dem gemessen Erasmus mit allem überlegenen Wissen,
Geschmack und Scharfsinn als klein erscheint
Entscheiden so in den geistigen Kämpfen nicht freischwebende
intellektuelle Erwägungen, sondern die begründenden Lebensprozesse
und der Gehalt der von ihnen umspannten geistigen Wirklichkeit,
so sind auf sie die Gedankenmasseh zurückzuführen, so hängt aller
wesentliche Fortschritt an einer Weitererschließung jener Wirklichkeit.
So vollzog und vollzieht sich die Überwindung alternder Gedanken-
massen nicht durch ein plötzliches Erscheinen überlegener Gründe,
sondern dadurch, daß die Schranken des in jenen Gedankenmassen
verkörperten Lebens bemerklich werden, neue Konzentrationen oder
doch Bewegungen aufstreben, durch ein frisch sich regendes Leben
das in scheinbar sicherem Besitz Befindliche veraltet und entwertet
wird; mag es äußerlich den früheren Glanz behaupten, es verliert
die Herrschaft über die Seelen; es ist geschlagen, auch wo es noch
sicher zu herrschen glaubt. Daß sich so die Entscheidung von den
Ideen in die Energien, von den intellektuellen Erwägungen in die
Theoretisch — praktisch. 53
schöpferischen Lebensentfaltungen verlegt, das muß zur Vertiefung
der Arbeit und zur Befestigung des Strebens wirken. Unvergleichlich
größer wird das Bild des geschichtlichen Lebens, wenn hier nicht
sowohl Lehren gegen Lehren als Lebensmächte gegen Lebensmächte
stehen; durchgängig wird das Problem beträchtlich zurückverlegt,
wenn es die Wurzeln der Lehren erst zu ermitteln, die letzten Trieb-
kräfte erst aufzudecken, den entscheidenden Punkt des Zusammen-
stoßes erst herauszustellen gilt. Aber alle Mühe der Arbeit wird
dann von der Überzeugung getragen und beseelt, daß im Menschen-
leben ursprünglichere Kräfte, tiefer gegründete Notwendigkeiten walten,
als die Gedankenarbeit aus eigenem Vermögen sie aufbringen kann.
8. Konsequenzen für die Erkenntnisarbeit.
Solche Verbindung der Erkenntnisarbeit mit dem Ganzen des
Geisteslebens und dem Aufbau einer geistigen Wirklichkeit muß für
ihre eigene Gestaltung eingreifende Folgen haben; diese seien hier
bei ' der dringend gebotenen Beschränkung nur insofern betrachtet,
als mit der Lösung wichtige Aufgaben lösbar oder doch angreifbar
werden, die sich sonst einer erfolgreichen Behandlung entziehen.
Immer noch waltet darüber viel Unsicherheit, wie die Philosophie
eine selbständige Aufgabe gegenüber den einzelnen Wissenschaften
finden könne. Die oft erteilte Antwort, sie solle die Ergebnisse
jener zur Einheit verbinden, kann nicht genügen. Denn jene
Einigung ist entweder eine bloße Zusammenstellung, dann muß
man sehr freigebig mit der Bezeichnung Wissenschaft sein, um eine
solche Enzyklopädie als Wissenschaft anzuerkennen, oder sie bedeutet
eine Weiterbildung und Umwandlung, dann bedarf es eines neuen
Prinzipes, aus dem eine solche hervorgehen könnte. Das gesuchte
Prinzip kann nun weder von außen gegeben werden, noch aus
bloß intellektuellen Bewegungen entspringen, es muß im Ganzen
des Lebensprozesses liegen. Hier erst kommen wir auf den letzten
Punkt, der uns zugänglich ist; nach seiner Art und seinen Erfahr-
ungen muß sich das Grundverhältnis des Menschen zur Wirklichkeit,
sowie die Bedeutung seines Lebens und Seins bestimmen; erst von
hier aus kann eine Verbindung, eine Abschätzung, eine Weiterbildung
der Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften erfolgen. Dieser Grund-
prozeß tritt uns nicht im unmittelbaren Eindruck entgegen, er ist
erst herauszuarbeiten; das aber ist die Aufgabe der Zentraldisziplin
der Philosophie, die von alters her Metaphysik heißt; die anderen
64 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Disziplinen haben dann die neue Beleuchtung den einzelnen Ge-
bieten zuzuführen. Solche Fassung erklärt auch den engen Zu-
sammenhang der Philosophie mit der Persönlichkeit des Menschen,
ohne jene zu einer bloßen Ausstrahlung der individuellen Art herab-
zusetzen. Denn das Durchdringen zu jenem Grundprozesse kann
nicht erfolgen ohne Erweisung einer Kraft, Weite und Tiefe des
Lebens; insofern ist letzthin das Maß des Lebens auch das Maß
des Denkens.
Eine wesentliche Förderung bringt ferner jene Wendung dem
Probleme der Wahrheit. Daß auf Wahrheit endgültig zu verzichten
wäre, wenn sie eine Übereinstimmung unseres Denkens mit einer
draußen befindlichen Welt bedeutete, darüber ist heute kein Zweifel.
Um so zweifelhafter ist das Ja, das solchem Nein entgegentreten
könnte. Mit der Anknüpfung an den Lebensprozeß erhält das
Problem eine neue Beleuchtung; es gibt keine intellektuelle Wahr-
heit ohne eine gesamtgeistige Wahrheit, diese aber bedeutet nichts
anderes als eine Verwandlung der Welt in Eigenleben, eine innere
Bewältigung der Wirklichkeit. Das hat zur Voraussetzung, daß über
den Menschen hinaus das Geistesleben den letzten Grund der
Wirklichkeit bildet; für den Menschen aber ist die Sache ein un-
aufhörliches Streben und Weiterstreben, ein Vordringen und Empor-
klimmen, ein wachsendes Ringen mit den Widerständen ungeistiger
und halbgeistiger Art. Innerhalb dieses Strebens gibt es, wie wir
sahen, keinerlei fruchtbares Erkennen ohne eine Begründung in
Synthesen des Lebens. Aber diese Synthesen sind bei aller Tat-
sächlichkeit zunächst nicht mehr als Versuche, erst im Kampf mit
der Welt drinnen und draußen können sie ihr Vermögen erweisen;
das Erkennen aber hat bei solcher Auseinandersetzung eine leitende
Stellung, es ist unentbehrlich zur Klärung und Prüfung, unentbehrlich
zur Erringung der Allgemeingültigkeit, zur Austreibung alles Klein-
menschlichen und zur Herausbildung des Weltcharakters des Geistes-
lebens. Ein solches kritisches Wirken kann es nicht üben ohne
ein gewisses Heraustreten aus der Besonderheit jener Synthese, aber
die Kritik kann nicht weiterführen, wenn sie nicht einer neu auf-
steigenden Synthese dient.
Als weiteres Problem gehört hierher die Frage nach einem
festen Ausgangspunkt der Erkenntnisarbeit. Seit der unmittelbare
Zusammenhang des Menschen mit der sinnlichen Welt verloren
ging, ist jene Frage unabweisbar geworden. Aber vergeblich hat
Theoretisch — praktisch. 55
das Erkennen einen festen Punkt bei sich selbst gesucht; immer
wieder erschienen unerwiesene Voraussetzungen in dem, was als das
Letzte und Sicherste auftrat. Nicht anders ist jener feste Punkt zu
erreichen als durch eine Zusammenfassung des ganzen Lebens zur
Einheit und durch eine gleichzeitige Verwandlung in eigene Tat; nur
damit kann eine axiomatische Gewißheit entstehen und auch dem
Erkennen zugehen. Für den im Streben befindlichen Menschen
bedeutet diese Einheit stets eine Aufgabe; eine volle Tatsache könnte
erst das Ende des Weges bringen, was in unabsehbarer Ferne liegt.
Aber das Streben selbst wäre unmöglich, wenn nicht das, was für
uns Menschen eine unermeßliche Aufgabe ist, im Geistesleben selbst
die begründende Tatsache wäre.
Es ist ein alter Einwand gegen die Philosophie, daß sie lediglich
Meinungen neben Meinungen stelle und diese im Lauf der Jahr-
tausende bis zur Unübersehbarkeit anhäufe, ohne die spätere Leist-
ung der früheren sicher überlegen zu machen. Gewiß verbleibt in der
Philosophie ein Element der Freiheit und der Entscheidung, sie teilt
mit der Religion, der Moral, der Kunst und allen edlen Dingen die
Eigenschaft, immerfort der eigenen Tat zu bedürfen und sich nie-
mandem aufzwingen zu lassen. Aber deshalb wird sie noch kein
bloßes Neben- und Nacheinander menschlicher Meinungen: davor be-
hütet sie sicher die Erkenntnis ihres engen Zusammenhanges mit dem
Streben des Menschen nach einer geistigen Wirklichkeit. Das bringt
ihre geschichtliche Bewegung in enge Verkettung mit der Evolution
des geistigen Lebens in der Menschheit, und wie die Wendepunkte
dieser Evolution fundamentale Tatsachen erschließen, so treiben sie
auch die philosophische Arbeit in neue Bahnen. Unser Verhältnis
zu den großen Problemen kann nicht mehr das der alten Griechen
sein, seit das Christentum so durchgreifende Wandlungen im Lebens-
prozeß vollzogen, so schwere Konflikte, aber auch so fruchtbare
Tiefen in ihm aufgedeckt hat; es ist aber auch dem Mittelalter ent-
wachsen, seit die Neuzeit schärfer zwischen dem Menschen und der
Welt geschieden und das Innenleben zu größerer Selbständigkeit
geweckt hat. Zeigt solche Erfahrung nicht den Denker in enger
Verbindung mit der Geschichte und dem Ganzen der Menschheit?
Seine Selbständigkeit braucht er darüber nicht einzubüßen. Denn
was die Umgebung dem Menschen zuführt, sind immer nur Mög-
lichkeiten und Anregungen; eine Wirklichkeit und eine greifbare
Gestalt erwächst daraus nur durch eine vordringende Tat, die immer
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 5
66 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
eine Sache des Einzelnen bleibt. So wird das eine auf das andere
angewiesen, das Ganze aber, das beides umspannt, gewinnt unver-
kennbar an Größe.
£. Konsequenzen für die Behandlung der Geschichte der Philosophie.
Die Anerkennung solches Zusammenhanges der Philosophie mit
dem Ganzen des Lebens muß auch auf die Behandlung der Ge-
schichte der Philosophie einen starken Einfluß üben. Nicht mehr
kann es genügen, die einzelnen Systeme in ihrem unmittelbaren
Bestände darzustellen und aneinanderzureihen, sondern zur Aufgabe
wird, die begründenden Lebensinhalte herauszuarbeiten und die
Leistung der Denker dadurch in größere Zusammenhänge zu stellen.
Nicht sowohl was jene sagten, als wie sie dazu kamen, es zu sagen,
und welche geistige Art ihre Aussprache zeigte, wird jetzt zum
Hauptproblem. Das zwingt, das Verhältnis des Denkers zu seiner
geschichtlichen und menschlichen Umgebung aufzuklären, freilich
nicht in der Art eines landläufigen kulturgeschichtlichen Verfahrens,
das die Dinge auf den Kopf stellt, indem es das Innere vom
Äußeren, das Große aus der Summierung des Kleinen, das Ewige
vom Zeitlichen herleitet. Die Bedeutung der einzelnen Leistungen
aber wird sich nunmehr danach bemessen, was sie für die Eröff-
nung neuer Tiefen, für die Erweiterung der geistigen Wirklichkeit
taten. In diesem Sinne ist alles große Denken ein Vordringen,
Neubilden und Schaffen.
Macht solche Zurückbeziehung des philosophischen Strebens
die Behandlung seiner Geschichte in gewisser Richtung verwickelt,
so wirkt sie in anderer zur Vereinfachung. Denn nach jenem Maß-
stabe gemessen, dürfen nur einige wenige Erscheinungen in Wahr-
heit als schöpferisch, als Weiterbildner der Substanz des Lebens
gelten; auch heben sich dann aus der scheinbar chaotischen Fülle
einige wenige Typen hervor, die bei aller Veränderung der Lagen
wie der Begriffe in der Hauptsache immer wiederkehren. So mag
sich schärfer ein Kern von der bloßen Umhüllung scheiden. Das>
meiste aber, was der unmittelbare Anblick zeigt, ist bloße Um-
gebung: subtile Erörterung, Gelehrsamkeit verschiedener Art, mehr
oder minder geistreiches Räsonnement, alles das tauglich zur Be-
schäftigung der Menschen, untauglich zur Erhöhung des Geistes-
lebens. Wir sind ärmer und reicher, als wir gewöhnlich meinen,
ärmer im Umfang, reicher im Inhalt unseres Besitzes.
Theoretisch — praktisch. 57
Endlich mag jene Zurückverlegung auch der Überschätzung der
bloßen Form des Systems entgegenwirken, die leicht von der Haupt-
sache ablenkt. Die Bedeutung der systematischen Form sei keines-
wegs unterschätzt. Die Verkettung zum System drängt die einzelnen
Sätze enger zusammen, sie treibt die Widersprüche schärfer heraus,
sie wirkt zur gleichmäßigen Durchbildung, zur Organisation der Ge-
dankenwelt. Aber das alles tut sie nur unter Voraussetzung eines
lebendigen und belebenden Inhaltes, den nur Synthesen und Energien
des gesamten Lebens erzeugen. Fehlt solcher Inhalt, so kann alle
logische Kraft und Geschicklichkeit in Aufbau und Anordnung das
System nicht vor einem Sinken zu einem leeren Gehäuse bewahren.
Wie viel durchgearbeiteter ist Wolffs System als das von Leibniz,
ist jener damit der größere Philosoph? Augustin wurde schon durch
die schroffen Widersprüche seines Wesens an einem systematischen
Ausbau seiner Gedanken verhindert, und doch hat er durch seine
Weiterbildungen der Geisteswelt auch auf die Gedankenarbeit so
stark gewirkt wie wenig andere. Auf jenes Wesentliche, auf die
schaffende Kraft und den treibenden Kern, sei also vornehmlich das
Augenmerk gerichtet, der bloßen Form aber nicht mehr gegeben
als ihr gebührt.
Doch genug der Erörterungen; auch bei weiterer Ausführung
würden sie bloße Ausschnitte aus einem größeren Gedankenkreise
bleiben. Wir verweilten hier et\('as länger, weil der Nachweis wichtig
schien, daß das eigene Interesse der Erkenntnisarbeit über die bloße
Erkenntnisarbeit hinaustreibt. Zugleich aber wurde ersichtlich, daß es
nach einer anderen Richtung treibt als nach der des Voluntarismus.
Vielleicht stehen manche der Männer, die Voluntaristen zu heißen
pflegen, dem nahe, was wir versuchen. Solche Übereinstimmung
könnten wir nur freudig begrüßen. Aber wie immer es mit den
Persönlichkeiten stehen mag, der Unterschied einer Verschiebung
innerhalb des Seelenlebens und einer Erhebung über alles empirische
Seelenleben sei in keiner Weise verdunkelt.
Idealismus — Realismus.
a) Die Ausdrücke.
I |ie Ausdrücke Idealismus und Realismus sind durch übermäßigen
*-^ Gebrauch so verschliffen und abgegriffen, daß sie für die
Wissenschaft fast unbrauchbar geworden sind. Aber immerhin ver-
treten sie einen alten und bleibenden Gegensatz, der zugleich eine
bewegende Frage der Gegenwart ist. Wegen solcher Beziehung
mögen zunächst die Termini kurz erläutert sein.
Das Wort Idealist taucht in der Philosophie zuerst gegen das
Ende des 17. Jahrhunderts auf;^ wenn Leibniz das Wort im Gegen-
satz zu Materialist (s. 186a Erdm.) verwendet wie sonst Formalist,
so denkt er dabei an Philosophen, welche wie Plato und Aristoteles
in der Form das Wesen der Dinge sehen. Alsbald aber übte die
moderne Bedeutung des Wortes Idee eine Wirkung auch hierher.
Aus einer urbildlichen Form wurde Idee, zuerst in der französischen
Sprache, zur bloßen Vorstellung, zu einem subjektiven Gedankenbilde;
durch Descartes und Locke drang — nicht ohne Widerspruch - die
Neuerung auch in die Philosophie; Idealismus bedeutete dann ein
System, das alle Wirklichkeit jenseit der Vorstellungen und damit
die Realität einer Außenwelt leugnet. Im besonderen wurde
Berkeley's Lehre mit jenem Ausdruck bezeichnet. Und zwar ge-
wöhnlich in tadelndem Sinn als eine Verflüchtigung der Wirklich-
keit So rechnet Wolff die Idealisten samt den Materialisten und
Skeptikern zu den «drei schlimmen Sekten" (s. Wolff von seinen
Schriften S. 583); durchgängig war man bis gegen Ende des 18. Jahr-
^ Näheres darüber s. Vaihinger in den „Straßburger Abhandlungen zur
Philosophie" S. 94 ff. In der Kunsttheorie scheint der Ausdruck noch weiter
zurückzureichen. Wenigstens ward mir von befreundeter Seite die mir hier
nicht kontrollierbare Notiz mitgeteilt, daß schon in Pacheco's arte de la
Pintura (Sevilla 1649) Idealist zur Bezeichnung einer Kunstrichtung dient.
Idealismus — Realismus. 69
hunderts ebenso eifrig darauf bedacht, sich gegen den Idealismus
zu verwahren, als später, sich zu ihm zu bekennen.^ Als Gegen-
stück zu Idealismus in diesem Sinne bedeutete dem 18. Jahrhundert
Realismus die Behauptung einer außerhalb des Denkens befindlichen
Welt. 2 Durch Herbart und seine Schule hat sich diese Bedeutung
der Ausdrücke durch das 19. Jahrhundert hindurch bis zur Gegen-
wart erhalten.
Dann aber bewirkte, wie bei vielen Ausdrücken, so auch hier
die Kantische Philosophie eine wesentliche Verschiebung. ^ Kant selbst
folgt zunächst noch der herkömmlichen Terminologie und stellt
daher (z. B. in der Vorrede zur 2. Aufl. der Kritik der reinen Ver-
nunft) den Idealismus mit dem Skeptizismus zusammen. Die Präg-
ung des Ausdruckes transzendentaler (auch formaler oder kritischer)
Idealismus erfolgt im Hinblick nicht auf Plato, sondern auf Berkeley;
seinem »empirischen", „materiellen", „psychologischen« Idealismus
stellt er einen neuen Idealismus entgegen, der die Existenz von
Dingen jenseit der Vorstellung keineswegs leugnet oder bezweifelt,
der aber die Formen der Anschauung und des Denkens für bloß-
subjektiv erklärt; damit werden alle Gegenstände einer uns mög-
lichen Erfahrung zu bloßen Erscheinungen, „die außer unseren Ge-
danken keine an sich gegründete Existenz haben." Diese Verschieb-
ung enthält insofern einen fruchtbaren Keim zur Weiterbildung, als
den Träger der Formen, das Subjekt der Erkenntnis, dabei nicht
sowohl der Einzelmensch in seiner Besonderheit als die gemeinsame
Struktur unseres Wesens, die geistige Organisation des Menschen
bildet. Indem sich so das Problem aus der Psychologie in die
Geisteslehre verlegte, konnten bald in weiterem Sinne Idealisten alle
heißen, welche die Überlegenheit der geistigen Tätigkeit gegen die
Macht der Außenwelt verfechten. So schreibt z. B. Schiller an
W. von Humboldt (Briefw. S. 485): „Am Ende sind wir ja beide
Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß
^ Wolff (de differentia nexus rerum sapientis et fatalis necessitatis S. 75)
will in keiner Weise Plato zu den Idealisten gerechnet wissen; wohl nenne
er die Körperwelt Erscheinung, aber er verstehe darunter keineswegs mit den
Idealisten eine bloße Vorstellung.
* Im Mittelalter bildete bekanntlich Realismus den Gegensatz zu Nomi-
nalismus; seine Anhänger hießen gewöhnlich reales; realista erwähnt Prantl
(Geschichte der Logik IV, 221) zuerst bei Petrus Nigri (um 1475).
^ Näheres darüber s. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 3. Aufl.
II, 512 ff.
70 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge".^ Zur Durch-
setzung dieser Bedeutung hat niemand kräftiger gewirkt als Fichte.
In deutlicher Verwandtschaft damit, aber zugleich in eigentüm-
licher Färbung, verwendet den Ausdruck der deutsche Neuhumanis-
mus, diese neueste Phase der Renaissance. So erklärt die ge-
dankenreiche Abhandlung, mit der F. A. Wolf das „Museum der
Altertumswissenschaft" (1807) eröffnet, als die „erste Bedingung aller
höheren Ausbildung" die »ideale Richtung des Geistes"; er ver-
steht aber darunter gemäß seinem Lieblingsspruch, daß, „überall
das Nützliche zu suchen ganz und gar nicht für großgesinnte und
freie Menschen paßt" (Aristot., Polit. 1338 b2), das Streben nach
einer harmonischen Entfaltung aller Geisteskräfte allein ihrer selbst,
nicht irgendwelcher Folgen wegen, die Richtung des Lebens nicht
auf das Nützliche, sondern das Schöne. Diese Fassung des Idealis-
mus hat durch Persönlichkeit und Lebenswerk niemand mehr ge-
fördert als Goethe, mit so gutem Rechte er in anderer Hinsicht sich
einen Realisten nannte. Der Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts
läßt die philosophische und die künstlerische Fassung in eins zu-
sammenfließen; indem so der Idealismus ein Bekenntnis zur Selbst-
tätigkeit und zum Selbstwert des Geisteslebens wird, tritt an die
Stelle des erkenntnistheoretischen Schulproblems des 1 8. Jahrhunderts
eine alte und bleibende Frage der Menschheit.
b) Zum Kampf der Lebensgestaltu,ngen.
Die Formulierung des Gegensatzes von Idealismus und Realismus
läßt verschiedene Fassungen zu, die in der Sache aber alle auf das-
selbe hinauskommen. Ist der Hauptstandort des Lebens die sichtbare
oder eine unsichtbare Welt, und sind die Hauptziele des Lebens hier
^ Besonders eingehend hat sich Schiller mit den Ausdrücken in der
Abhandhmg ,,Über naive und sentimentalische Dichtung" beschäftigt. Als
Realist gilt ihm hier, wer sich durch die Notwendigkeit der Natur bestimmen
läßt, als Idealist, wer sich durch die Notwendigkeit der Vernunft bestimmt.
Die Schulgelehrten empfanden die Wandlung wohl und widerstrebten ihr.
So sagt Plattner (Phil. Aphorismen I, 412): „Man fängt itzt an, den Begriff
des Idealismus gar zu weit auszudehnen. Der zeither gewöhnlich gewesenen
Bestimmung nach ist es dasjenige System, welches das Dasein alles dessen
leugnet, was nicht Geist ist." — „So wie man itzt den Idealismus versteht,
wären alle die, welche die Sinnenwelt als eine Erscheinung betrachten, mit
anderen Worten alle Philosophen ohne Ausnahme Idealister."
Idealismus — Realismus. 71
oder dort zu suchen? Entwickelt sich im Menschen ein Leben, das
sich nicht als eine Fortführung der Natur, sondern nur als eine
wesentlich neue und höhere Stufe der Wirklichkeit verstehen läßt,
oder ist alle geistige Betätigung nur eine Begleiterscheinung oder
ein Werkzeug eines seinem Kerne nach naturhaften Lebens? Hat
der Mensch kein anderes Ziel als die Erhaltung und Pflege des
menschlichen Kreises, wie er im unmittelbaren Dasein vorliegt, oder
gewinnt das Menschenleben einen Sinn und Wert nur durch das
Teilhaben an einer allem bloßmenschlichen Befinden überlegenen
Ordnung? Ist, wo die gewöhnliche Ansicht die Wirklichkeit in
niedere und höhere Stufen scheidet, das Höhere vom Niedern her
zu erklären und damit zu ihm zurückzuziehen, oder bildet das
Höhere den Schlüssel zum Verständnis des Niedern? Der Gegensatz,
der durch alle diese Fassungen hindurchscheint, muß das Leben
vom Größten bis zum Kleinsten, im Denken wie im Handeln, in
Gehalt und Wert bis in alle einzelnen Gebiete hinein grundver-
schieden, ja entgegengesetzt gestalten. Das wird auch für den Begriff
der Wirklichkeit selber gelten, und es wird sich der Idealist mit Fug
und Recht dagegen sträuben, nach dem Wirklichkeitsbegriff des
Realismus gemessen zu werden. Das aber geschieht, wenn die Welt
des Idealismus zu einer gegebenen und gesicherten Welt nur hinzu-
kommen scheint, wenn sie wie ein bloßer Zusatz und Schmuck be-
handelt wird; demgegenüber wird der Idealist darauf bestehen, daß
seine Gedankenwelt allererst den Begriff einer Welt und einer
Wirklichkeit möglich mache, und daß die sinnliche Welt einen Halt
wie einen Wert nur aus jener gewinne.
Dem Idealismus ergeht es hier oft ähnlich wie der Religion. So
lange diese das Leben beherrschte, galt ihre Welt als die allernächste
und unbestreitbare, ein Augustin überwand alle Zweifel von der
Idee eines höchsten Wesens aus, und ein Thomas von Aquino nannte
die überirdische Welt schlechtweg das Vaterland (patria). Erst nachdem
die Stellung der Religion erschüttert und ihr Inhalt verblaßt war,
konnte bei ihr der Gedanke der Jenseitigkeit und der Transzendenz
in den Vordergrund treten. Wie sie in Wahrheit schon aufgegeben
ist, wo sie in erster Linie als transzendent erscheint, so ist auch die
Sache des Idealismus schon verloren gegeben, wenn seine Welt als
eine ferne und fremde, durch mühsame Gedankengänge erst zu er-
schließende gilt.
Den Gegensatz aber in solcher Schärfe denken, das heißt alle
72 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Vermittlung zur Unmöglichkeit machen, auch den sog. Realidealismus,
falls er eine solche bedeuten will. Wohl mag, ja muß der Idealist
sich die Tatsachen anzueignen streben, auf die sich der Realist stützt,
und dieser wird das in umgekehrter Richtung tun. Beide aber tun
es, indem sie den Tatbestand von ihrer Überzeugung aus neu be-
leuchten und umgestalten, das aber ist weniger ein Ausgleichen als
ein Vertiefen des Gegensatzes.
a. Der Realismus des 19. Jahrhunderts.
Zu einer Untersuchung des Problems drängt zwingend die Tat-
sache, daß der Verlauf des 19. Jahrhunderts den alten Streit in eine
neue Phase gebracht hat. , Bis dahin suchte das Kulturleben seine
Aufgaben vornehmlich in der Richtung des Idealismus; vor allem
tat es die überkommene religiöse Lebensführung, aber auch die
neuere Kultur hatte bis dahin die Lebensarbeit vornehmlich von
innen her geführt und den Forderungen des Denkens die äußeren
Verhältnisse zu unterwerfen gesucht. Es fehlte dabei nie an einer Gegen-
wirkung realistischer Art, aber sie bot weniger eine charakteristische
Gestaltung des Ganzen als sie ein zäher Widerstand der Individuen
war, die von den Freuden und Leiden der sinnlichen Welt viel zu
stark festgehalten wurden, um sich zur geforderten Höhe des Lebens
aufschwingen und auf ihr halten zu können. Eine solche Gegen-
wirkung von lauter Kleinkräften hatte bemessene Grenzen. Mochte
sie unablässig zur Abbröcklung und Herabdrückung wirken, keines-
wegs war sie im stände, den Idealismus durch Entgegenhaltung eines
neuen Lebenssystems bis zum Grunde zu erschüttern. Das aber ist
es, was der Realismus des 19. Jahrhunderts unternommen hat; die
nächste Welt, so ist seine Meinung, kann alle Ziele der Menschheit
aufnehmen und alle Wünsche erfüllen, ohne sie gegen die her-
kömmliche Fassung des Idealismus herabzustimmen. Solches Unter-
nehmen ist mehr als eine andere Deutung, eine neue Zurechtlegung
des überkommenen Tatbestandes, es schöpft seine Kraft vornehmlich
aus der Tatsache, daß die Welt des unmittelbaren Daseins der
Menschheit mehr geworden ist als je zuvor. Nur weil der neue
Realismus dem Idealismus eine neue Wirklichkeit entgegenhält, kann
er das Denken und Streben der Menschheit zu gewinnen hoffen.
So stoßen hier nicht sowohl Lehren als Wirklichkeiten zusammen,
eine Bestätigung der Behauptung des vorigen Abschnittes, daß der
Idealismus — Realismus. 73
Kampf der Geister nicht sowohl auf die Deutung als auf die Ge-
staltung des Tatbestandes geht.
Zur Steigerung der nächsten Wirklichkeit verbinden sich im
19. Jahrhundert die mannigfachsten Bewegungen. Weit tiefer hat uns
die Natur in ihr Gewebe einblicken lassen, weit mehr beschäftigt sie
das Tun und beherrscht sie das Denken; den Gewinn des Wissens
aber verwandelt das technische Geschick alsbald in einen Gewinn
für das Leben und bringt diesem die erfreulichste Bereicherung, Be-
schleunigung und Kräftigung; ein staunenswertes Wachstum mensch-
lichen Vermögens treibt mehr und mehr das starre Schicksal aus
der Welt und nimmt selbst den Widerständen ihre Bitterkeit, indem
es sie in einen Antrieb zur Tätigkeit, eine Aufforderung zur Über-
windung verwandelt. Zugleich eröffnet das menschliche Zusammen-
sein größere und größere Aufgaben. Immer mehr überzeugen wir
uns, wie viel die Gestaltung des gemeinsamen Lebens bedeutet, und
wie hier gegenüber dem vorgefundenen Stande eine erhebliche
Steigerung möglich, eine Hebung der Wohlfahrt und ein allgemeineres
Glück erreichbar ist. Wie innerhalb der Staaten die einzelnen Kräfte
zu einer freieren und volleren Betätigung gelangen, so findet zugleich
das Eigentümlich und Unterscheidende der Völker eine bereitwillige
Anerkennung, die Ausbildung nationaler Art läßt Gesinnungen und
Kräfte erstarken. Auf wirtschaftlichem Gebiet trifft das Streben nach
gleichmäßigerer Verteilung der Güter mit schweren Verwicklungen
aus der technischen Gestaltung der Arbeit zusammen und erzeugt
unermeßliche Leidenschaften; die Macht der materiellen Lebens-
bedingungen gelangt nun zuerst zu deutlicher Anschauung und voller
Würdigung; auch die innere Lage wie das Glück des Lebens
scheint an diesem Probleme zu hängen. Das alles ergänzt und
steigert sich gegenseitig, die Erfolge wie die Probleme dieses neuen
Lebens schmieden den Menschen immer fester an die unmittelbare Welt.
In solchen Leistungen wächst auch der Träger der Arbeit, die
Menschheit, und zwar die Menschheit wie sie leibt und lebt, nicht
wie eine Gedankenwelt sie verklärte. Geschichte und Gesellschaft
in neuem Bilde wirken dahin zusammen. Im Nebeneinander wie
im Nacheinander rücken die Kräfte einander näher, verbinden sich
zu gemeinsamem Werk und gewinnen das Bewußtsein einer durch-
gängigen Solidarität. So steht vor uns in großen Zügen die Mensch-
heit, wie sie sonst zerstreute Kräfte verbindet, den Einzelnen festen
Zusammenhängen einfügt, das Vermögen des Ganzen unermeßlich
74 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
steigert. So kann sie zum Gegenstand der Verehrung und des
Glaubens werden, so kann sie alle praktische und ethische Betätigung
des Menschen an sich zu ziehen suchen.
Diese neue Denkweise muß alle einzelnen Gebiete, wie z. B.
Kunst und Wissenschaft, eigentümlich gestalten, sie gebietet aber
aller Tätigkeit den engsten Anschluß an die Welt um uns. Nur die
Berührung mit den Dingen scheint die menschlichen Kräfte von
blasser Möglichkeit zu lebendiger Wirklichkeit zu führen, während
die Ablösung von ihnen, ein Sicheinspinnen der Seele in ihr eigenes
Gewebe, alles Streben schattenhaft, matt und unwahr macht. So ist
es das Verlangen nach echter Wirklichkeit, das hier alle Bewegung
trägt und treibt; in solchen Wandlungen scheinen alle älteren, alle
idealistischen Lebensgestaltungen wie Nebelgebilde der siegreichen
Klarheit eines neuen Tages zu weichen.
ß. Die Schranken des neuen Realismus.
Ist das Licht dieses Tages ohne alle Schatten und die Wendung
ohne allen Zweifel? Daß die Sache nicht ganz einfach liegt, zeigt
das eigene Schicksal der realistischen Lebenswelle. Gewiß hat sie
nicht nur die menschliche Meinung überwältigend fortgerissen, sie
hat auch die Arbeit ein gewaltiges Stück gefördert, sie hat in unser
Dasein einen rascheren Fluß, ein mannhafteres Ringen mit den
Widerständen, mehr siegreiches Vordringen gegen die Unvernunft
gebracht. Aber zugleich hat das Anschwellen der Bewegung Probleme
erzeugt, die den vom Realismus abgesteckten Kreis überschreiten
und die Selbständigkeit dieses Kreises gefährden. Zur ausschließ-
lichen Wirklichkeit des Menschen konnte das realistische System nur
werden, wenn sich alle Verwicklungen durch den eignen Fortgang
der Arbeit gelöst hätten, wenn alle selbständige Innerlichkeit mehr
und mehr verschwunden, und der Mensch ganz und gar in ein
Werkzeug der Arbeit verwandelt wäre. Statt dessen hat jener Fort-
gang deutlich gezeigt, daß der Mensch keineswegs in die bloße
Arbeit aufgeht. Zunächst hat er die Arbeit immer mehr in einen
harten Kampf ums Dasein verwandelt, in einen Kampf der Individuen,
Stände und Völker; die Gegensätze sind immer schroffer, die Schlacht-
linien immer breiter geworden. Die Leidenschaften dieses Kampfes
verraten deutlich genug, daß hinter der Arbeit empfindende und
glücksdurstige Wesen stehen, die von der Arbeit etwas begehren und
verlangen, sei es selbst auf Kosten der Arbeit. Läßt sich den daraus
Idealismus — Realismus. 75
erwachsenden Gefahren begegnen, ohne die Gesinnung anzurufen,
d. h. eine Größe, für die ein strenger Realismus keinen Platz hat?
Es reichen aber die Verwicklungen über den Zusammenstoß der
arbeitenden Kräfte hinaus, sie scheinen dem eigenen Wesen der
Arbeit untrennbar verbunden. Die Arbeit entwickelt immer nur
einen Teil der menschlichen Kräfte, sie entwickelt einen immer
kleineren Teil, je feiner und verzweigter sie wird; immer geringer
wird der Bruchteil des Ganzen, den das Individuum zu umspannen
vermag. Solches Liegenlassen von Kräften, solcher Verzicht auf den
ganzen Menschen müßte dem Realismus gleichgültig sein, da ihm
alles Leben in der Berührung mit der Umgebung besteht; der
wirkliche Mensch aber nimmt jenen Verzicht nicht gleichgültig
hin, sondern er empfindet ihn als einen Verlust und Schmerz. Also
ist augenscheinlich mehr in ihm, als der Realismus ihm zuerkennt
und folgerichtig zuerkennen darf. Weiter bindet die Arbeit den
Menschen an die Leistung, ihr gilt alle Kraft als verloren, die sich
nicht in Leistung umsetzt. Damit aber richtet sie alles Sinnen
nach außen, macht sie gleichgültig gegen den Stand der Seele, ja
kann sie einen solchen Stand überhaupt nicht gelten lassen. Das
Streben nach Leistung, Erfolg und Anerkennung muß immer mehr
den Menschen aufsaugen und alles selbständige Seelenleben unter-
drücken, es hat es in Wirklichkeit sehr zurückgedrängt. Aber freuen
können wir uns solcher Zurückdrängung nicht, vielmehr empfinden
wir eine peinliche Leere; wo aber eine solche Empfindung erwacht,
da verfliegt alsbald die Befriedigung an der Arbeit, und sie rückt
uns mit allen ihren Erfolgen in eine seelische Ferne. Beim Ganzen
der Menschheit entspricht jener völligen Verwandlung des Daseins
in Arbeit ein Verblassen eines geistigen Lebensgehaltes; wo nicht
mehr gemeinsame Ideen und Überzeugungen die Menschheit inner-
lich zusammenhalten, da entschwindet immer mehr eine gemeinsame
Gedankenwelt. Darauf aber scheinen wir nicht so leicht und nicht
ohne schweren Schaden verzichten zu können, denn damit hängt
alles zusammen, was unserem Leben einen Selbstwert, eine Größe
und eine Seele gibt.
Das sind nicht bloße Erwägungen grüblerischer Reflexion, es
sind unbestreitbare Erlebnisse und Erfahrungen der modernen Mensch-
heit Oder kann jemand leugnen, daß alle glänzenden Triumphe
der Arbeit ein Aufkommen und Vordringen einer tiefen Unzufrieden-
heit, einer pessimistischen Lebensstimmung nicht verhindert haben?
76 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Das 19. Jahrhundert hat den Anblick der Welt und die Lage des
Menschen so gefördert, wie kein anderes Jahrhundert; so ließ sein
Schluß ein stolzes und freudiges Kraftgefühl erwarten. Wenn der
wirkliche Anblick der Dinge ein völlig anderer ist, so enthält gewiß
die Rechnung einen Fehler. Dieser aber dürfte darin bestehen, daß
die realistische Lebensbewegung die Seele eliminieren wollte, und
die Seele sich nicht eliminieren läßt; der Versuch der Verneinung
selbst hat die Seele wieder stärker hervorgetrieben.
y. Kritik der überkommenen Formen des Idealismus.
Solche Erfahrung zwingt, die ganze Frage zu revidieren und
Recht und Unrecht bei den streitenden Parteien möglichst zu scheiden.
Das Verlangen nach voller Wirklichkeit des Lebens hätte schwerlich
soviel Macht erlangt, wie das Vordringen des Realismus sie be-
kundet, wenn nicht die überkommenen idealistischen Lebensformen
eine solche Wirklichkeit hätten vermissen lassen. So aber stand es
in Wahrheit: jene Arten des Idealismus wurzelten nicht mehr fest
im eignen Wesen des Menschen. Es waren aber dieser Arten vor-
nehmlich zwei: eine religiöse, die zu uns vom Christentum durch
seine verschiedenen Gestaltungen wirkt, und eine künstlerische, die
vom Griechentum her einen wenn auch oft unterdrückten, so doch
nie ganz versiegten Lebensstrom bildet.
Die religiöse Lebensgestaltung mit ihrer Begründung des mensch-
lichen Daseins auf eine überweltliche Ordnung, ihrer Erhebung von
der Zeit zur Ewigkeit, von allem Außenleben zu einer reinen Inner-
lichkeit behauptet trotz aller Schwächung immer noch eine große
Macht; auch wo sie abgelehnt wird, wirkt sie im Verborgenen fort.
Ihre seelische Nähe aber und ihre sichere Überzeugungskraft hat
sie für den modernen Menschen verloren. Sie hat sie verloren
schon deshalb, weil zwischen der überkommenen Gestalt der Religion
und der modernen Gedankenwelt eine tiefe Kluft entstand; selbst
wer diese Kluft überbrücken zu können hofft, der hat nicht mehr
die Unmittelbarkeit und die volle Gewißheit des alten Glaubens.
Wenn aber die Religion nicht das Allergewisseste ist, so wird sie
leicht zum Allerungewissesten.
Mehr noch hat die Religion dadurch an Macht verloren, daß
sie dem Menschen der Neuzeit nicht mehr in derselben Weise aus
eigenen Erfahrungen hervorquillt wie dem Christen der alten Zeit.
Dieser Zeit entsprang die Wendung zur Religion aus stärkster
Idealismus — Realismus. 77
Empfindung menschlicher Ohnmacht, aus einer Erfahrung unüber-
windlicher Schranken und starrer Widersprüche. So ließ nur die
Wendung zu einer Überwelt eine Rettung des geistigen Selbst er-
warten, diese Überwelt wurde daher tieferen Gemütern, wie einem
Augustin, die nächste und sicherste Welt, der schlechthin feste Stand-
ort des Lebens; nur als ein Abglanz oder ein Symbol jener Welt
behielt das nächste Dasein einen Wert. Die Neuzeit hingegen ver-
dankt ihr Aufkommen wie ihre Eigentümlichkeit einem jugendlichen
Kraftgefühl, einem starken Lebenstriebe des Menschen; von da aus
verwandelt sich ihm die Welt in eine unermeßliche Aufgabe, in deren
Bearbeitung er selbst sich weitet und auch innerlich wächst; hier
fallen alle starren Schranken und alle endgültigen Verzichte, ihre
eigene Entwicklung scheint hier die Welt zu höchster Vollendung
zu führen. Vielleicht liegt die Sache nicht ganz so einfach, wie der
Anhänger moderner Denkart es meint, vielleicht wird die Kraft-
entfaltung selbst schließlich unsere Grenzen, ja unser Unvermögen
zur ^Empfindung bringen. Aber einstweilen herrscht das Bewußtsein
der Stärke, und es fehlt zugleich ein eigener, ein unmittelbarer, ein
überwältigender Antrieb zur Religion. Damit aber verliert sie ihre
zwingende Kraft und sichere Wahrheit.
Größer noch ist die Gefahr eines Unwahrwerdens beim künst-
lerischen Idealismus. Er suchte die Welt nicht von einem über-
legenen Standort her, sondern durch ein ihr selbst angehöriges
Wirken zu vollenden: die Gestaltung, die in Begegnung von Innerem
und Äußerem, von Seele und Welt erfolgt, schien mit ihrer Form-
gebung alle Mannigfaltigkeit des Lebens zusammenzufügen, ihre
einzelnen Glieder gegeneinander abzugrenzen und zu harmonischem
Ebenmaß zu verbinden. Alle bloße Naturkraft wurde damit veredelt,
das Geistige aber aus dem dunklen Schacht der Möglichkeit zu
tagesheller Wirklichkeit gefördert. Mit solcher Leistung hat die
künstlerische Lebensform ein ebenso tätiges wie vornehmes Leben
erzeugt, sie hat das menschliche Dasein gehoben und das Gewebe
der Seele verfeinert, sie hat sich als unentbehrlich zur geistigen
Durchbildung des Lebens gezeigt. Aber ist sie stark und gehaltvoll
genug, um es ganz ausfüllen zu können? Gehört nicht eine be-
sondere Naturbegabung, ein schöpferisches Vermögen dazu, um
hier den Schwerpunkt des Lebens zu finden, erwächst daraus nicht
ein Aristokratismus, der nicht nur die anderen ausschließt, sondern
sich auch solcher Ausschließung freut? Muß ferner nicht ein
78 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
Mensch, ein Volk, eine Zeit schon in der Fülle des Lebens stehen,
um im Gestalten Großes zu erfahren und Großes zu erreichen,
müssen sie nicht eine Tiefe der Seele irgend besitzen, um sie zur
Gestaltung fiihren zu können? Wo solche Tiefe fehlt, da bleibt
jenes künstlerische Leben an die Oberfläche gebannt, da sinkt es
leicht zu einer Tändelei, zu leerem Scheine herab. Und wenn
endlich die schweren Verwicklungen und harten Widersprüche, ja
unheimlichen Abgründe des menschlichen Daseins voll anerkannt
werden, — und dahin drängt eben die Erfahrung des 19. Jahr-
hunderts, — kann da wohl die Kunst den Anspruch behaupten,
von sich aus alle Schwere zu heben, alles Trübe in Licht, alles
Leid in Freude zu verwandeln? Kann sie es aber nicht, so mag
sie leicht dahin neigen, jene Unvernunft abzuschwächen und das
Dasein möglichst ins Schöne zu malen. Das aber weckt bald den
Widerspruch des Wahrheitssinnes, und als dessen Vertreter darf
sich der Realismus fühlen.
Noch augenscheinlicher ist sein Recht gegen den landläufigen
Idealismus, der inmitten aller Erschütterung und Zerreibung der
besonderen Formen des Idealismus das Allgemeine der Richtung
festhält, ohne es irgend näher zu bestimmen und zu begründen.
Ein solcher Idealismus schwärmt für etwas „Höheres", ohne zu
wissen, was dieses »Höhere« sei,^ er preist das „Gute", „Wahre",
„Schöne", ohne über ihren Inhalt irgendwelche Rechenschaft zu
geben. Vollauf verständlich ist demnach, daß die überkommenen
idealistischen Lebensformen dem neu erwachten Wahrheitsdrange
nicht genügen; ob freilich der Realismus ihn ebenso völlig be-
friedigt, wie er ihn eifrig vertritt, das ist eine andere Frage.
* „Höher" ist als Lieblingsausdruck für eine neue, vermeintlich vor-
nehmere Denkweise wohl namentlich in der Sturm- und Drangzeit der
deutschen Literatur aufgekommen. Dann suchte mit Vorliebe die Romantik
dadurch die eigenen Ziele und Begriffe von denen des Durchschnitts zu
scheiden, so verwenden auch Schleiermachers Jugendschriften das Wort sehr
oft. Man spricht von „höherem" Leben, „höheren" Gefühlen, „höherer"
Bildung, „höherer" Sittlichkeit u. s. w., bis der Ausdruck endlich dem Spott
verfiel („höherer Blödsinn"). Der soliden und klaren Denkweise Kants wider-
strebte der Ausdruck gründlich. Als Feder ihm einen „höheren" Idealismus
zugeschrieben hatte, bemerkt er dagegen (IV, 121 Hart.): „Bei Leibe nicht
der höhere. Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch -großen
Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht für mich.
Mein Platz ist das fruchtbare Bathos der Erfahrung."
Idealismus — Realismus. 79
5. Erörterung des Wirklichkeitsproblemes.
Eine Wirklichkeit des Lebens scheint dem Realismus nur er-
reichbar durch eine fortwährende Verkettung des Tuns mit der
sichtbaren Umgebung; ob in Wahrheit durch eine solche Verkettung
Wirklichkeit für den Menschen entsteht, das läßt sich sehr bezweifeln.
Denn nur um eine von ihm erlebte oder doch erlebbare Wirklich-
keit kann es sich handeln, alle andere Wirklichkeit liegt außerhalb
seines Kreises und kann ihn in keiner Weise kümmern. Jene Ver-
kettung des Tuns mit der Umgebung ergibt nun Leistungen in
Hülle und Fülle, nicht aber ergibt sie damit Erlebnisse; zum Er-
lebnis wird die Leistung erst, indem sie auf eine Einheit zurück-
bezogen und von einem Ganzen des Seelenlebens umspannt wird.
Ein solches Seelenleben aber kann der Realismus mit seinen Mitteln
unmöglich erklären, und doch bedarf er seiner aufs dringendste
für sich selbst. Denn er entwickelt die ihm eigentümliche Welt
nicht aus eigenem Vermögen, er würde, ausschließlich auf seine
eigenen Mittel angewiesen, wie alle inneren Zusammenhänge, so alle
Lebenssysteme und zugleich sich selbst als ein Ganzes zerstören.
So bildet seine stillschweigende Voraussetzung ein Seelenleben, das
die Mannigfaltigkeit und auch den Gegensatz von Subjekt und Objekt
umfaßt. Erst auf Grund solcher Voraussetzung läßt sich dartun,
daß die Weltumgebung für den Menschen weit mehr bedeutet, daß
er aus ihr weit mehr zu gewinnen vermag, als der Durchschnitts-
idealismus zugestand. Dann aber wird in Wahrheit der Realismus
von einer' Gedankenwelt des Idealismus umsäumt, ja umspannt, als
Lebenssystem ist er überhaupt nicht möglich ohne den Idealismus.
Wird aber zugleich der Seele jede Selbständigkeit versagt und sie
möglichst von draußen abgeleitet, so entsteht ein schreiender Wider-
spruch; mag er sich leidlich verstecken lassen, unablässige Er-
schleichungen in den Begriffen und Lehren verraten ihn bald.
Betrachten wir das System Comtes, des größten Denkers des
Realismus. Es ist bei der Grundlegung eifrigst darauf bedacht,
aus den Begriffen alles zu entfernen, was irgend vom Idealismus
stammt. Aber sobald es vom Entwurf zur Ausführung, von der
Kritik zum Aufbau vordringt, verschiebt sich der Anblick der Sache.
Je mehr nämlich jenes geschieht, desto mehr sehen wir jene an-
fänglichen Größen sich verändern und einer idealistischen Fassung
nähern, namentlich wird nur mit Hülfe einer solchen Verwandlung
80 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
der kritische Punkt des Überganges vom Erkennen zum Handeln
überwunden und der physische Zwang in ein moralisches Sollen
verwandelt. So ergibt sich schließlich ein Lebensganzes, aber es ergibt
sich nur mit ständiger Hülfe desselben Gegners, an dessen Vernichtung
die Wahrheit des Lebens zu liegen schien.
Sollte nun wohl eine derartige zwiespältige Welt die Bedürfnisse
des Geisteslebens, im besonderen das ethische Verlangen befriedigen
können? Wiederum mag Comte herangezogen sein, wiederum voll-
zieht er einen Umschlag, nur tut er es hier in umgekehrter Richtung.
Der Ausgangspunkt nämlich ist idealistischer, der Abschluß realist-
ischer Art. Die tiefangelegte Natur des Mannes empfindet die Schäden
der Zeit durchaus im Sinne des Idealismus, er nimmt sie so schwer,
daß ohne ein Aufbieten ursprünglichen Schaffens, ohne eine Mög-
lichkeit durchgängiger Erneuerung alle Gegenwirkung verloren
scheint. Was er aber vom Realismus her als Heilmittel bringt, ist
dürftig genug, es sind Aufklärungen über die Natur, sowie Ver-
änderungen in der gesellschaftlichen Organisation, von denen jene
Umwälzung, jener Sieg des Guten erwartet wird. Das kann nicht
geschehen ohne einen krassen Optimismus gegenüber dem Menschen,
sonst würde der Widerspruch zwischen der Größe der Aufgabe und
der Kleinheit der Mittel allzu handgreiflich werden. Das aber ist
typisch für den Realismus: entweder er nimmt das Lebensproblem
sehr flach, oder er verwickelt sich in Widersprüche, die, konsequent
durchdacht, ihn selbst zerstören. Befriedigt nun wohl ein Lebens-
system das Verlangen nach Wahrheit und den Durst nach Wirklich-
keit, das um so widerspruchsvoller wird, je mehr es dem Gesamt-
befunde des menschlichen Lebens gerecht werden will?
Dieser begrifflichen Erörterung entspricht die Erfahrung der
Menschheit Die Bewegung zum Realismus erfolgte innerhalb einer
geistigen Atmosphäre, welche gänzlich vom Idealismus gesättigt
war. Denn mögen dessen Gestaltungen in dem Besonderen
ihrer Behauptung noch so erschüttert sein, die Gesamtentwicklung
der Kultur hat in jahrtausendlanger Arbeit ein Allgemeineres der
Denkweise, der Empfindung und Schätzung von jener Besonderheit
abgelöst und es tief in das Ganze des Lebens, auch in das Innere
der Seele einsickern lassen; das umfängt auch die realistische Lebens-
ordnung und dient ihr zu unablässiger Ergänzung, Milderung,
Berichtigung. Je mehr sich aber der Realismus zur Selbständigkeit
erhebt und seiner Eigenart bewußt wird, desto gründlicher muß er
Idealismus — Realismus. 81
jene idealistischen Elemente vertreiben. Aber zugleich vollzieht er
eine Selbstverengung und Selbstzerstörung, aus dem äußeren Sieg
wird eine innere Niederlage. Bei solcher weltgeschichtlicher Dialektik
wäre der Verlauf der Sache mit voller Ruhe zu betrachten, und es
könnte das gewaltige Wechselspiel der Gedankenmassen reine Freude
bereiten, wenn es sich nur um ein Schauspiel handelte. Aber es
handelt sich um das Geschick des Menschen, um Vernunft oder
Unvernunft seines Daseins, um den Gewinn oder Verlust einer Seele.
Und das läßt sich nicht so ruhig betrachten.
s. Die Notwendigkeit eines neuen Idealismus.
So wenig der Realismus mit seiner Daseinskultur uns befrie-
digen kann, viel zu viel hat sich im Bestände des Lebens verändert,
als daß eine einfache Rückkehr zum alten Idealismus möglich wäre.
Nicht bloß ist draußen und drinnen weit mehr Unvernunft zutage
getreten als jenem Idealismus vor Augen stand, auch die weite Aus-
delyiung starrer Tatsächlichkeit und blinder Gleichgültigkeit des Welt-
laufs gegen die Zwecke des Geisteslebens hat für uns eine viel zu
eindringliche Nähe und Gegenwart, als daß wir darüber so rasch
hinwegkommen könnten als jener. Sind aber die Verwicklungen
und die Widerstände so sehr gewachsen, so muß sich auch die
Gegenwirkung verstärken, so muß sich der Idealismus zu größerer
Tiefe zurückverlegen und eine festere Grundlage suchen. Er wird
das aber nur können, wenn zur Anerkennung gelangt, daß bei
ihm nicht die Aufbringung besonderer Leistungen, nicht eine Ent-
faltung des Lebens nach besonderen Richtungen, sondern die Er-
reichung eines wesen- und wahrhaften Lebens schlechthin in Frage
steht, daß es kein Selbstleben und damit überhaupt kein echtes
Leben ohne eine das Dasein begründende Tiefe und ihre Aneig-
nung gibt Zugleich aber muß eine schärfere Abhebung des Geistes-
lebens vom Stande des bloßen Menschen erfolgen. Der Welt der
Natur und des sichtbaren Daseins, die uns mit überlegener Macht
umfängt, kann die geistige Betätigung gewachsen nur werden, wenn
sie eine neue Stufe der Wirklichkeit, ein Gesamtleben der Geistes-
welt vertritt und aus seinen Kräften schöpfen darf. Sonst fehlt dem
Idealismus ein fester Halt und ein gutes Recht; nur wenn eine
bei sich selbst befindliche Geisteswelt in uns wirkt und uns zu er-
füllen vermag, wird die dem Idealismus wesentliche Forderung ver-
ständlich und erfüllbar, daß die Größen und Güter der neuen Welt
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 6
140095
82 Zum Grundbegriff des Geisteslebens.
als allen Zwecken der Menschen unvergleichlich überlegen und als
unabhängig von allem menschlichen Mögen und Meinen, von allem
menschlichen Tun und Treiben behandelt werden; nur dann wird es
möglich, daß nicht sie ihre Wahrheit vom Menschen erhalten, son-
dern daß sich nach ihnen bemißt, wie viel Wahrheit sein Leben
hat. Die Menschheit zum Maß des Wahren und Guten machen,
das heißt diese innerlich zerstören; wie aber ist über die Mensch-
heit hinauszukommen, wenn das unmittelbare Dasein als die ganze
Wirklichkeit giltpi Durch alle Verdunklung und Abschwächung der
Sache wird immer wieder die eine Frage hervorbrechen und eine
Entscheidung fordern, ob all unser Streben lediglich dem mensch-
lichen Wohlsein, der menschlichen Wohlfahrt in einem gegebenen
Dasein zu dienen hat, oder ob in der Wendung zum Geistesleben
eine neue Art Wirklichkeit und zugleich ein Reich von echten Gütern
hervorbricht. Gewinnt das Geistesleben nicht eine Überlegenheit
gegen das menschliche Getriebe, so muß aller Idealismus fallen, aber
mit ihm fällt auch aller Sinn und Wert unseres Lebens, und es ver-
läuft in völlige Leere.
Wird aber jene Überlegenheit anerkannt, so kann alle Unzu-
länglichkeit des menschlichen Standes das Geistesleben in keiner
Weise gefährden, so bleibt die Grundtatsache aller Verwicklung
sicher und weit überlegen. Mag sich an alle Entfaltung des Geistes-
lebens in unserem Bereich Kleinmenschliches anhaften und mögen
die Ideen gewöhnlich nur mit Hilfe der Interessen zur Wirkung
gelangen, mag ferner das Geistesleben auf dem Boden der Mensch-
heit von verschwindenden Anfängen her geworden und sich sehr
langsam, auch unter mannigfachen Rückfällen, fortbewegt haben, das
alles gefährdet nach jener Scheidurig nicht im mindesten die Grund-
tatsache des Geisteslebens; ja der Widerstand der Menschen, die
unwillige Anerkennung der geistigen Notwendigkeiten, auch der
Schein der Geistigkeit, womit das menschliche Tun und Treiben
sich zu umkleiden liebt, das alles kann nur die Überzeugung ver-
stärken, daß mehr in der Menschheit vorgeht, als aus dem Menschen
des unmittelbaren Daseins stammt.
Wenn daher heute auf der Höhe der geistigen Arbeit die Wage
'- Es sei dabei das Wort Kants gegenwärtig (III, 260 Hart.): »In An-
sehung der sittlichen Gesetze ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheines,
und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von dem-
jenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird."
Idealismus — Realismus. 83
wieder mehr sich zum Idealismus neigt, so ist nur zu wünschen, daß
solche Bewegung nicht in abschwächenden Vermittlungen stecken
bleibe, sondern daß das Entweder - oder mit voller Schärfe hervor-
gekehrt und die unerläßliche Umkehrung mit vollem Nachdruck ge-
fordert werde. Der Idealismus darf nicht bloß abwehrender, er
muß auch vordringender, er darf nicht bloß kritischer, er muß
auch positiver Art sein. Denn nur so kann es gelingen, der
wachsenden Veräußerlichung, Verflachung und Scheinhaftigkeit einer
bloßen Menschenkultur eine echte Geisteskultur entgegenzusetzen
und der Überwältigung und Unterdrückung siegreichen Widerstand
zu leisten, womit jetzt Natur, Geschichte und Gesellschaft den Menschen
bedrohen. Ohne einen Glauben an die Größe und den Wert der
Menschheit kommen wir nicht weiter, ein solcher Glaube aber muß
feste Grundlagen haben.
6*
B. Zum Erkenntnisproblem.
1. Denken und Erfahrung.
(Metaphysik.)
a) Geschichtliches.
I—« inige Notizen zur Terminologie seien vorangeschickt. Der Aus-
*~^ druck Erfahrung ist im Lauf der Zeit immer vieldeutiger ge-
worden und zeigt auch bei den einzelnen Denkern so viele Schwank-
ungen, daß er kaum einen festen Terminus bildet. Nicht einmal
eine sprachliche Abgrenzung der alltäglichen, vorwissenschaftlichen
Erfahrung von der wissenschaftlichen Erfahrung ist aus aller Arbeit
hervorgegangen. — Schon die Stoiker bildeten den Begriff der wissen-
schaftlichen Erfahrung (ejATrsipia jjtsö-oSixTj). Die Erfahrungsphilo-
sophen der Neuzeit waren geneigt, durch Herabdrückung der grie-
chischen Ausdrücke Empirie, empirisch, Empiriker zur Bezeichnung
der niederen Stufe eine Scheidung herbeizuführen, auch die deutsche
Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts suchte eine »empirische oder
gemeine" und eine »gelehrte" Erfahrung auseinanderzuhalten. Auch
Kant verwendet oft empirisch in jenem Sinne, und der größte Er-
fahrungsphilosoph des 19. Jahrhunderts, Comte, verwahrt sich
energisch gegen den „empirisme". Zu allgemeiner Geltung aber
ist diese Unterscheidung nicht gelangt; lediglich die Sonderung von
»Empiriker« für die niedere und „Empirist« für die höhere Stufe,
die aus der kantischen Philosophie stammen dürfte, kann als durch-
gedrungen gelten.
Bedeutender ist die Geschichte der hierher gehörigen Ausdrücke
a priori und a posteriori; ihre Wandlungen spiegeln die Hauptphasen
des Erkenntnisstrebens und erstrecken Wirkungen bis in die Gegen-
wart. — Entsprungen sind die Ausdrücke dem aristotelischen Ver-
fahren, das Allgemeine als das (begrifflich) Frühere, das Einzelne
Denken und Erfahrung. 85
als das Spätere zu bezeichnen; einen festen Sprachgebrauch bildete
daraus aber erst die Höhe des Mittelalters. Ex prioribus beweisen,
das heißt einem Albert dem Großen von den Gründen her, ex
posterioribus von den Folgen her beweisen; a priori und a posteriori
in gleicher Bedeutung erwähnt Prantl (Geschichte der Logik im
Abendlande IV, 78) zuerst bei Albert von Sachsen, einem Gelehrten
des 14. Jahrhunderts. Diese Bedeutung behielten die Ausdrücke
bis in die Neuzeit,^ sie ist auch heute noch nicht erloschen. Mit
dem Ende des 17. Jahrhunderts aber beginnt, gemäß der stärkeren
Hervorkehrung der Frage nach dem Ursprünge der Erkenntnis, eine
Verschiebung von der Methodenlehre zur Erkenntnislehre. So vor-
nehmlich bei Leibniz. A priori heißt nun, was aus der Vernunft,
a posteriori, was aus der Erfahrung stammt. Diese Unterscheidung
ließ sich aber relativ und absolut, flacher und tiefer verstehen.
A priori erkennen bedeutete zunächst nicht mehr als ein Erkennen
aus schon gewonnenen Einsichten vor näherer Befassung mit der
besonderen Sache, also durch bloße Schlußfolgerung; ^ woher das
Erkennen letzthin stamme, blieb dabei unerörtert. Aber schon bei
Leibniz selbst und dann bei seinen Nachfolgern bezeichnet a priori
auch, was von aller Erfahrung unabhängig ist und lediglich der Ver-
nunft angehört.^ Bei Kant erreicht diese Bewegung ihre Höhe,
indem die Erfahrung selbst ihm erst durch ein Gefüge von Be-
griffen und Sätzen a priori möglich zu werden scheint. Aber auch
er gebraucht nicht selten den Ausdruck in dem laxeren Sinne. Um
diese Zeit dringen die Wörter über die Schule hinaus in den allge-
meinen Sprachgebrauch, zugleich gewinnt a priori eine feste deutsche
^ So heißt es z. B. in der sogenannten Logik von Port Royal (l'art de
penser) : seit en prouvant les effets par les causes, ce qui s'appelle demontrer
a priori, seit en demontrant au contraire les causes par les effets, ce qui
s'appelle prouver a posteriori.
' So sagt z. B. Wolff (psychologia empirica § 434) : quod experiundo
addiscimus, a posteriori cognoscere dicimur: quod vero ratiocinando nobis
innotescit, a priori cognoscere dicimur. §435: quicquid ex iis coUigimus,
quae nobis jam innotuere, cum ante ignotum esset, id ratiocinando nobis
innotescit, adeoque idem a priori cognoscimus.
' Leibniz stellt der philosophie experimentale qui procede a posteriori
die Erkenntnis durch la pure raison ou a priori entgegen (s, 778 b. Erdm.).
Lambert sagt im „Neuen Organon" §639: „Wir wollen es demnach gelten
lassen, daß man absolute und im strengsten Verstände nur das a priori
heißen könne, wobei wir der Erfahrung nichts zu danken haben."
86 Zum Erkenntnisproblem.
Bezeichnung.! Der laxere Sprachgebrauch liegt vor, wenn der
moderne Empirismus, namentlich mit Hilfe der Entwicklungslehre,
auch das a priori aus der Erfahrung abzuleiten sucht. A priori ist
dann das, was nicht das einzelne Individuum erwirbt, sondern was
als ein Niederschlag der Erfahrung des gesamten Menschengeschlechts
durch Vererbung an jenes kommt und seinem Denken bestimmte
Bahnen vorschreibt. So schöpft nicht der Einzelne, wohl aber die
Menschheit lediglich aus der Erfahrung. Das ist jedoch ein völlig
anderes Problem als das des absoluten a priori Kants, und es ist
ein gröbliches Mißverständnis der Sache, wenn man glaubt, Kant
durch Darwin und Spencer widerlegen zu können. Man sollte
erst schärfer denken lernen, ehe man sich m.it solchen Problemen
befaßt.
Wenn schon solcher Wandel und solche Unsicherheit im Aus-
druck verwickelte Probleme der Sache vermuten läßt, so stellt die
Geschichte der Philosophie diese klar und deutlich vor Augen, sie
zeigt einen jahrtausendlangen Kampf, der immer gewaltiger an-
schwillt. Dieser Kampf war aber bei aller seiner Leidenschaft wenig
^ Als Übersetzung von a priori diente in früheren Jahrhunderten «von
vornen her", das schon in Luthers Tischreden vorkommt (s. Ausgabe von
Förstemann IV, 399) und sich bis ins 18. Jahrhundert erhält. Als erste
Quelle für „von vornherein" bezeichnet Campe Lessings Ernst und Falk,
auch ich kann den Ausdruck nicht weiter zurückverfolgen. Er bezeichnet
aber den Begriff nur in dem laxeren, bloß relativen Sinne, Absolut ver-
standen, begegnet sich a priori mit „rein", das auch eine lange Geschichte
hat. Seit Anaxagoras voüc xaO^apd; (s. Aristoteles de anima 405 a 16: (xo'vov
yoCiv cpif)aiv «utov (d. h. tov vouv) tüJv ovtwv octcXoGv Eivat y.ai «[Aty^ T£ xa"i xaO-apov)
bedeutet es dem älteren Sprachgebrauch das Einfache, Lautere, Ungemischte
des Geistigen im Gegensatz zum Gemisch der sinnlichen Welt. Die Neu-
platoniker und in ihrem Gefolge das Mittelalter übertragen den Begriff auf
das Erkennen und nennen rein eine von allen sinnlichen Bildern freie Er-
kenntnis (s. z. B. Scotus Erigena, de div. nat. 657 D, 658 B). Auch Descartes
erklärt die intellectio pura als eine solche quae circa nullas imagines corpo-
reas versatur. In diesem Sinne nimmt die Wolffsche Schule „reinen Ver-
stand", während ihr „reine Vernunft" den Gegensatz zu Erfahrung bildet
und damit dem a priori entspricht (s. Wolff psych, emp. § 495 : ratio pura
est, si in ratiocinando non admittimus nisi definitiones ac propositiones
a priori cognitas). Auch Gottsched folgt diesem Sprachgebrauch, s. z. B.
Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1739), S. 485 reiner Verstand =
ohne sinnliche Vorstellungen, S. 486 reine Vernunft, == wenn sich in unsere
Vernunftschlüsse keine Erfahrungssätze mit einmengen. — So entspricht Kants
Verwendung von reiner Vernunft dem gelehrten Sprachgebrauch.
Denken und Erfahrung. 87
fruchtbar, weil er das Problem nicht an der Stelle aufnahm, wo
seine Entscheidung liegt Man stritt darüber, woher das Erkennen
stamme, ob aus der Mitteilung der Dinge oder der Selbsttätigkeit
des Denkens. Das wäre aber direkt zu entscheiden nur, wenn das
Was des Erkennens, unser Erkenntnisbesitz, allem Zweifel enthoben
wäre, nicht die Frage nach dem Woher immer wieder in die nach
dem Was zurückgriffe. Dieses aber geschieht in Wahrheit. Wir
sind keineswegs einig über den Tatbestand des Erkennens, sondern
die Streitenden setzen grundverschiedene Bilder ein und beweisen
von ihnen aus, sie beweisen damit immer nur für sich selbst, nicht
für die anderen; die geschichtliche Bewegung wird eine Folge von
Monologen, welche die Gegner nicht in einen fruchtbaren Austausch
bringt, sondern jeden nur immer weiter in die eigene Behauptung
hineintreibt. Das Was des Erkennens aber ist nicht zu ermitteln
ohne ein Zurückgreifen auf die letzten Fragen, im besonderen auf
das eine Grundproblem, dem unsere Untersuchung überall begegnet,
das Problem, ob das Leben und Streben des Menschen lediglich die
Bewegung der Natur fortsetzt, oder ob es eine neue Stufe der Wirk-
lichkeit einführt. Im eigenen Gebiet des Erkennens aber erzeugt der
Streit über seinen Ursprung immer wieder die Frage, ob neben
den Einzelwissenschaften auch eine selbständige Philosophie möglich
und nötig ist, so daß in den Streit auch dieses Problem mit hin-
einspielt.
So gewiß die Frage des Ursprunges der Erkenntnis die Arbeit
der Philosophie seit Plato begleitet, eine leitende Stellung hat sie
erst in der Neuzeit erlangt. Das aber aus dem Grunde, weil nun
zuerst das Seelenleben und die Weltumgebung deutlich auseinander-
traten, zugleich aber die einzelnen Seiten ihr Vermögen näher dar-
zulegen und gegeneinander abzugrenzen hatten. Sie traten aber
weiter auseinander, nicht weil ein gesteigerter Scharfsinn auf diesen
Gedanken kam, sondern weil das Leben in seinem Grundbestande
nach entgegengesetzten Richtungen auseinanderging. Einerseits ge-
wann die durch lange Arbeit und mannigfache Erfahrungen in sich
selbst vertiefte Innerlichkeit ein so starkes Selbstgefühl, um sich für
den Kern der Welt erklären und den Versuch eines Aufbaues der
ganzen Wirklichkeit aus selbständiger Gedankenarbeit wagen zu
können; andererseits erhob sich die sinnliche Welt, unter Abwerf ung
der mittelalterlichen Verschleierung, so mächtig gegenüber dem
88 Zum Erkenntnisproblem.
Menschen und zeigte eine solche Festigkeit des Baues, wie Un-
ermeßlichkeit des Lebens, daß sie aus sicherer Überlegenheit auch
dem menschlichen Dasein und damit dem Erkennen seinen Inhalt
zuzuführen schien.
Ein so schroffer Gegensatz verbot alle friedliche Vereinbarung,
auf einer der Seiten mußte der Schwerpunkt liegen, und je nach
der Entscheidung das Erkenntnisbild sich grundverschieden gestalten.
So entstanden die Systeme des Rationalismus und des Empirismus
mit ihren entgegengesetzten Durchblicken der Wirklichkeit. Der
Empirismus nimmt seinen Standort beim Bewußtsein des Einzelnen,
mit einleuchtender Klarheit vermag er zu zeigen, wie dies Bewußt-
sein seinen Inhalt nicht fertig mitbringt, sondern ihn langsam, von
einzelnen Eindrücken her und unter Leitung der Umgebung ge-
winnt. Die Philosophie hatte hier nur die Erkenntnisse auf das
Bewußtsein zurückzubeziehen, nur als empirische Psychologie konnte
sie sich in diesen Zusammenhängen halten. Das Erkennen wird hier
schließlich ' eine bloße Assoziation von Empfindungen und Vorstell-
ungen ohne allen inneren Zusammenhang, auf eine Durchleuchtung
der Wirklichkeit wird ganz und gar verzichtet. Ob das noch Wissen-
schaft heißen kann, ja ob sich dabei über die bloßen Individuen
hinauskommen und ein gemeinsamer Besitz der Menschheit ge-
winnen läßt, das bleibt bestreitbar und ist alsbald mit triftigen
Gründen bestritten worden. Völlig anders der Rationalismus. Sein
Ausgangspunkt ist die Tatsache der Wissenschaft; ihre Eigentümlich-
keit präzis erfassen, das scheint ihm die Überzeugung zu begründen,
daß sie nicht von außen her dem Menschen zufallen, sondern nur
aus der Werkstätte selbsttätigen Denkens hervorgehen kann. Nament-
lich sind es formale Eigenschaften der wissenschaftlichen Erkennt-
nisse, welche alle Ableitung von außen zu verbieten scheinen. Was
anders kann die Quelle der ewigen und allgemeingültigen Wahr-
heiten sein, die das Gebäude der Wissenschaft tragen, als die eigene
Natur des Geistes? Es wird aber damit das Erkennen vornehmlich
ein volles Herausarbeiten dessen, was dem Vernunftwesen von Haus
aus innewohnt; das analytische Verfahren bildet den Kern der wissen-
schaftlichen, namentlich der philosophischen Arbeit; einem Leibniz
gestaltet sich die Philosophie zu einer universalen Mathematik, welche
die Voraussetzungen des Erkennens immer weiter zurückschiebt und
mehr und mehr die ganze Wirklichkeit in rationale Gleichungen
umsetzen möchte. Aber wenn damit ein systematisches Gefüge der
Denken und Erfahrung. 89
Wissenschaft erreicht wird, so verwandelt sich zugleich die Welt mehr
und mehr in ein Reich von bloßen Formen und Beziehungen, die
Wirklichkeit droht immer blasser und ärmer zu werden. So mußte
der Empirismus dem unermeßlichen Stoffe keine beherrschende
Form, der Rationalismus aber den Formen keinen genügenden Inhalt
zu geben.
Kant strebte mit ganzer Kraft nach einer Überwindung des
Gegensatzes, dessen beide Seiten in seiner eigenen Natur zusammen-
trafen. Er gehört insofern auf die rationalistische Seite, als er das
Erkennen energisch über die bloße Assoziation der Vorstellungen
hinaushebt und aus ihm einen systematischen Zusammenhang
macht. Aber dieser Rationalismus erhält einen empiristischen Ein-
schlag dadurch, daß das Denken die Erkenntnis nicht aus reiner
Selbsttätigkeit erzeugt, sondern bei ihr an die Darbietung eines
Stoffes gebunden ist; so kann es nicht eine Welt der Dinge, sondern
nur ein Reich der Erscheinungen erreichen. Dem Empirismus ver-
wandt ist auch ein starker Tatsachensinn, der überall auf eine präzise
Erfassung des Eigentümlichen und Unterscheidenden dringt, während
der Rationalismus dies zu Gunsten einfacher Gedankenreihen abzu-
schleifen geneigt war. Ebenso entschieden wie Leibniz vorwiegend
quantitativ, denkt Kant vorwiegend qualitativ, wie jener in Stufen,
denkt dieser in Gegensätzen. Das hier unternommene schiedsrichter-
liche Verfahren hat nicht nur den Vorzug, das Problem systematischer
zu behandeln, als je zuvor geschehen war, es hat auch das dem
Menschen eigentümliche Erkenntnisvermögen mit besonderer Schärfe
zu begrenzen versucht. Aber bei aller Größe der Behandlung, die
eine neue Epoche für das gesamte Problem beginnt, ruft die neue
Antwort sofort neue Fragen und Zweifel hervor. Kann das Denken
zugleich an eine fremde Welt gebunden werden und eine Selbst-
ständigkeit bewahren? Verrät nicht schon der Umstand die große
Verwicklung der Sache, daß Kants Untersuchung nirgends umständ-
licher und künstlicher ist als da, wo es gilt, die Denkfunktionen
und die Sinneseindrücke zusammenzubringen? Auch kann das Er-
gebnis des Schiedsspruches keine der Parteien befriedigen. Den
Rationalisten nicht, weil Kants gewaltige Steigerung der Denkarbeit
unvermeidlich über die Bindung an ein Ding an sich und die Be-
schränkung auf ein Reich von Erscheinungen hinaustreibt, den Em-
piristen nicht, weil er die Frage aufwerfen kann, ja aufwerfen muß,
ob jenes Flechtwerk von Formen, das nach Kant die Erfahrung erst
90 Zum Erkenntnisproblem.
möglich macht, nicht umgekehrt aus ihr selbst allmählich erwachsen
sei; damit aber würde auch sein Sinn ein wesentlich anderer werden.
Die unsichere Lage, in die solcher Streit das Erkennen versetzt,
würde weit mehr empfunden werden, brächte nicht die praktische
Philosophie der Gedankenwelt eine Ergänzung wie eine Befestigung.
Aber auch ihre Begründung ist nicht allem Zweifel enthoben.
So kann es nicht befremden, daß die Bewegung der Philosophie
über die kantische Lösung des Erkenntnisproblemes hinaustrieb, ja
daß der Gegensatz nun erst seine höchste Spannung erreichte.
Auch hierher wirkte die geistige Wandlung, die am meisten den
Charakter des 19. Jahrhunderts bestimmt, das Aufsteigen einer ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Ansicht der Wirklichkeit, wie sie Kant
noch fernlag. ^ Dieser neuen Denkweise konnten sich beide Parteien
bemächtigen und mit ihrer Hilfe zu leisten suchen, was bisher nicht
gelungen war. Die Geschichte erhielt dabei hier und dort ein
grundverschiedenes Ansehen: dort ward sie eine einzige, von innerer
Notwendigkeit getriebene Bewegung, hier ein Sichaufschichten einer
endlosen Mannigfaltigkeit. Mit der Wendung zu jener Geschichte
wuchs der Rationalismus zur spekulativen Konstruktion, die den
Denkprozeß -durch seinen eignen Fortgang die ganze Wirklichkeit
erzeugen ließ und allen Tatbestand mehr und mehr in ein Werk
der Vernunft zu verwandeln suchte. Die Erfahrung als bloße 'Er-
fahrung sollte hier ganz verschwinden. Das analytische Verfahren
des älteren Rationalismus wich damit einem synthetischen, die Philo-
sophie gestaltete sich zu einer weltumspannenden, namentlich die
Geschichte durchwaltenden Logik, sie zog alles echte Erkennen an
sich und ließ den Einzelwissenschaften keinerlei Selbständigkeit. Völlig
umgekehrt verfuhr der Empirismus. Ihm bot namentlich die Ent-
wicklungslehre naturwissenschaftlicher Art Mittel und Handhaben zu
dem Unternehmen, allen vermeintlichen Eigenbesitz des Geistes aus
der Erfahrung abzuleiten. Das Erkennen wurde hier eine wachsende
* Wie Kant, in Einklang mit dem älteren Rationalismus, der Prinzipien-
lehre eine geschichtliche Bewegung versagt, zeigt u. a. folgende Stelle aus
der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft (III, 11 Hart.): »Nun ist Meta-
physik nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige
aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung, und zwar in kurzer
Zeit, und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung versprechen darf, so
daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen
Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im
mindesten vermehren zu können."
Denken und Erfahrung. 91
Anpassung an die Umgebung, der Kampf ums Dasein sollte diese
immer zweckdienlicher, immer ökonomischer gestalten; daraus sollte
alles entstanden sein, was unser Denken an durchgehenden Rich-
tungen und Formen aufweist, und was sich vom bloßen Individuum
her als ein a priori ausnimmt. Alles innere und logische Gefüge
der Erkenntnis weicht dabei der bloßen Tatsächlichkeit, alles Erklären
dem bloßen Schildern. Hier ist kein Platz für eine selbständige
Philosophie, alles Erkennen echter Art wird zur Naturwissenschaft.
Nur als ein Herausheben und Zusammenstellen ihrer Hauptergebnisse
kann die Philosophie sich behaupten.
Die wirkliche Arbeit des 1 9. Jahrhunderts ging zwischen diesen
Gegensätzen ihren Weg; begünstigte in seinen ersten Jahrzehnten das
hochgespannte Selbstgefühl des Menschen und die vorwaltende Be-
schäftigung mit den Fragen der inneren Kultur den Rationalismus,
so unterstützte die Wendung des Lebens zum sinnlichen Dasein und
der unermeßliche Zustrom von Tatsächlichkeit aus Natur, Geschichte,
politisch-praktischem Leben den Empirismus. Fühlte sich vorher der
Mensch im Mittelpunkt der Wirklichkeit und durfte er glauben, bei
sich ihre Fäden zusammenfassen und aus seiner geistigen Tätigkeit
ihr anfängliches Dunkel gänzlich klären zu können, so übermannt
ihn jetzt das Bewußtsein seiner verschwindenden Kleinheit; aus dem
Zentrum in die Peripherie verwiesen, darf er nicht mehr hoffen,
die Wirklichkeit von sich aus hervorzubringen, muß er vielmehr be-
scheiden und unterwürfig ihre Eröffnung erwarten. Aber nicht nur
solche Notwendigkeit, auch ein inneres Verlangen treibt den Menschen
zur Hingebung an die Erfahrung. Es ist die Sehnsucht nach mehr
Unmittelbarkeit, mehr Tatsächlichkeit, mehr Reichtum des Lebens,
als sie die Gedankenwelt des Rationalismus mit ihrem Einfangen
der Welt in ein Netz freischwebender Begriffe und Formen bot.
Dies Verfahren beginnt als eine Verarmung und Verflüchtigung des
Lebens empfunden zu werden; dem gegenüber wird »ein unersätt-
liches Verlangen nach Realität die gewaltige Seele der gegenwärtigen
Wissenschaft" (Dilthey).i
^ Mit Recht sagt James (Pragmat. S. 9): „Seit hundertundfünfzig Jahren
scheint der Fortschritt der Wissenschaft nichts anderes zu bedeuten als eine
stete Vergrößerung der materiellen Welt und eine stete Verminderung der
Bedeutung des Menschen. Das Resultat ist die Zunahme der naturalistischen
und der positivistischen Fühlweise." S. auch S. 8: «Niemals hat es so viele
Menschen von entschieden empirischer Geistesrichtung gegeben als heutzutage."
92 Zum Erkenntnisproblem.
Natürlich fehlte es nicht an Versuchen, zu vermitteln und aus-
zugleichen. Eine Wiederaufnahme kantischer Denkweise lieferte den
Nachweis, daß die Erfahrung, so wertvoll sie sein mag, aus eignem
Vermögen nun und nimmer ein wissenschaftliches Erkennen erzeugt,
daß es dazu einer fortwährenden Hilfe des Denkens bedarf. In
ähnlicher Gesinnung ließ sich dartun, daß die einzelnen Wissen-
schaften Voraussetzungen enthalten, die sie selbst nicht zu recht-
fertigen vermögen, die vielmehr über sie hinausweisen. Aber eine
solche Gegenbewegung war mehr negativer als positiver Natur, sie
mochte ungelöste Rätsel jenseit der Erfahrungswelt zeigen, nicht aber
eröffnete sie ihr gegenüber einen neuen Lebens- und Gedankenkreis,
nicht trieb sie zu einer eigentümlichen philosophischen Betrachtungs-
weise und einer selbständigen Philosophie; die Philosophie wurde
in diesen Zusammenhängen lediglich eine kritische und reflektierende
Umsäumung der Einzelwissenschaften, die dem Fachgelehrten die
anziehendste Beschäftigung bieten mag, die aber zur Erhöhung des
Geisteslebens kaum etwas beiträgt, die zugleich, beim Mangel eines
beherrschenden Prinzips, die Subjektivität bloß individueller Stand-
punkte nicht zu überwinden vermag. So entfiel eine gemeinsame
Ideen- und Überzeugungswelt, wie die Menschheit sie seit Jahr-
tausenden besessen hatte. Und das Ungeheure dieses Verlustes, die
damit drohende Zersplitterung und innere Verarmung der Mensch-
heit kam gegenüber der Freude an der massenhaft zuströmenden
Tatsächlichkeit kaum zur Empfindung. Das kann jedoch nicht lange
so bleiben. Denn das Verlangen nach einer zusammenhängenden
Gedankenwelt und einer inneren Einheit des Lebens wurzelt zu tief,
um sich auf die Dauer unterdrücken zu lassen; schon heute ist der
Beginn einer Gegenbewegung deutlich genug. Mehr Einheit fordern
die Einzelwissenschaften selbst, indem ihr eigner Ausbau sie zu
einer gründlicheren Beschäftigung mit ihren Prinzipien und Voraus-
setzungen führt, diese aber zur Aufdeckung der Zusammenhänge
mit anderen Gebieten und zu einem Streben nach einem Ganzen
treibt. Von den verschiedensten Seiten erschallt wieder der Ruf
nach einer Synthese. Die Synthese ist aber nicht echt, so lange die
Verbindung eine bloße Zusammenstellung bleibt; zur Wurzel durch-
greifen kann sie nur bei kräftiger Herausarbeitung gemeinsamer
Ideen und Überzeugungen, das aber fordert einen dem Nebenein-
ander überlegenen Standort, es fordert eine selbständige Philosophie.
Stärker noch drängt dahin das gemeinsame Leben. Die Kehr-
Denken und Erfahrung. 93
Seite der völligen Hingebung an die unmittelbare Welt, der völligen
Verwandlung des Lebens in Arbeit läßt sich immer weniger über-
sehen: der Mangel einer Zurückbeziehung auf eine überlegene Ein-
heit, die das Leben allererst in Selbstleben und damit in eignen
Besitz verwandelt, die geistige Leere bei überströmender Fülle der
äußeren Eindrücke, die Ungewißheit über das Ganze bei aller Be-
festigung im Einzelnen. Alles geistige Leben und zugleich aller
Sinn und Wert unseres Daseins gerät damit in Zweifel, der Boden
entschwindet dem Menschen unter den Füßen; so treibt es zwingend,
wieder auf die letzten Grundlagen seiner Existenz zurückzugehen
und einen Kampf um die Erhaltung einer Seele zu führen. Solche
Probleme verbieten einen Abschluß bei der bloßen Erfahrung, sie
treiben uns, neue Möglichkeiten zu suchen und unser Verhältnis zur
Wirklichkeit gründlich zu revidieren. Zugleich aber tritt die Philosophie
wieder auf den Plan, die Philosophie nicht als eine bloße Gehilfin
zur Bearbeitung der Erfahrungswelt, sondern als die Trägerin eines
eigenen Gedankenreiches, als eine Kraft des Schaffens und Weiterbildens.
b) Das Recht einer selbständigen Philosophie.
Die Frage nach der Selbständigkeit der Philosophie bilde den
Beginn der Untersuchung, da ihre Beantwortung über den Gesamt-
anblick des Erkennens entscheidet. Aber wie ist hier zu einer Antwort
zu gelangen ? Daß sich beim Erkenntnisproblem nicht unmittelbar an
die Vergangenheit anknüpfen, sich nicht von dort ein Faden einfach
aufnehmen und fortführen läßt, das zeigte der Überblick der welt-
geschichtlichen Bewegung, und das fand sich bestätigt durch die eigen-
tümliche Lage der Gegenwart; wir empfinden heute mehr die Ab-
weichung als die Übereinstimmung mit früheren Leistungen, wir sehen
uns von ihnen eher Wege versperrt als gewiesen. Die Entfaltung
des geistigen Lebens trieb Natur und Seele innerlich weiter und
weiter auseinander, sie verwehrt damit auch dem Erkennen ein un-
mittelbares Zusammenfassen beider, sie zwingt es zu einer Entscheidung
für das eine oder das andere. So geschah es, grundverschiedene
Weltbilder erschienen und rissen die Wahrheit an sich. Aber keins
war stark genug, um das Feld gänzlich einzunehmen, immer wieder
trieb es die Forschung vom einen zum andern zurück. Solche Er-
fahrung empfahl eine friedliche Verständigung, eine schiedsrichter-
liche Abgrenzung; eine solche schien am ehesten erreichbar durch
94 Zum Erkenntnisproblem.
ein Anerkennen verschiedener Faktoren im Erkennen und die Zu-
weisung des einen hierher, des anderen dahin. Das geschah durch
die kantische Unterscheidung von Form und Stoff. Aber diese
Lösung scheitert an der Schwierigkeit, ja UnmögUchkeit, die nicht
nur verschiedenen, sondern durchaus verschiedenartigen Faktoren
zusammenzubringen, sinnliche Empfindung und logische Tätigkeit
zu gemeinsamer Wirkung zu verknüpfen. So scheinen wir uns weder
für das eine von beiden entscheiden, noch beides miteinander
festhalten zu können. Zu solcher Erfahrung aus dem Ganzen der
Geschichte gesellen sich widerstreitende Eindrücke und Antriebe der
Gegenwart. Wir empfinden mehr und n^ehr die innere Leere eines
bloß mit der Erfahrungswelt befaßten Lebens und Denkens, aber
zugleich umklammert uns die Erfahrung mit immer wachsender
Macht. Wir wollen mehr Selbständigkeit des Denkens, aber die Ab-
neigung gegen die spekulativen Systeme läßt uns bei jedem Schritte
vorwärts zaudern und macht uns mißtrauisch gegen alle Metaphysik.
Eine so verworrene Lage zwingt, das Problem direkt ins Auge
zu fassen und in eigner Weise zu behandeln. Was ist es, von
dieser Frage sei begonnen, was den Menschen über die Erfahrungs-
welt hinausstreben läßt und solchem Streben eine Macht verleiht?
Ist es das Denken selbst, dessen Natur auf diesen Weg führt und
auch die Mittel zu seiner Verfolgung gewährt? So hieß es von
alters her, so hören wir vielfach auch heute. Das Denken, so scheint
es, enthält Forderungen, welche die Erfahrungswelt nicht befriedigt,
auf deren Befriedigung aber eine innere Notwendigkeit seines eignen
Wesens es bestehen heißt. So muß es jene Welt verwandeln, ja
ihr gegenüber eine neue entwerfen, da doch die eigne, innere Not-
wendigkeit ihm mehr als alle Eindrucke der Umgebung gelten muß.
Das wäre einfach und überzeugend, wenn nur nicht die vom Denken
behauptete Notwendigkeit über das Denken hinaus gelten wollte und
die von ihm entworfene Welt den Anspruch erhöbe, die eigne Wahr-
heit der Dinge zu sein. Das aber geschieht, und indem es geschieht,
überschreitet das Denken den eignen Bereich; das Recht dazu kann
es nur durch künstliche Annahmen stützen, deren Verfolgung in
immer weitere Schwierigkeiten verwickelt. Wie ließe sich hier dem
Vorwurf entrinnen, daß das Denken nur menschliche Bilder in die
weite Welt hineinsieht? Auch ist es ein eignes Ding mit jener ver-
meintlichen Denknotwendigkeit. Da sie selbst jede weitere Begründung
ablehnt und ablehnen muß, so käme die Entscheidung an das Ge-
Denken und Erfahrung. Q5
fühl, an das Gefühl einer Unabweisbarkeit, eines schlechterdings
unwiderstehlichen Zwanges. Aber läßt sich in Wahrheit ein solcher
fühlen, und führt das Gefühl nicht unvermeidlich ins Subjektive
und Individuelle? In Wahrheit verfechten hervorragende Philosophen
direkt widerstreitende Forderungen als denknotwendig: Hegel läßt
das Denken alle Wirklichkeit in Bewegung umsetzen, Herbart möchte
alle Bewegung aus der Wirklichkeit entfernen; jener feiert den
Widerspruch als die treibende und erhöhende Kraft des Weltprozesses,
dieser will ihn in keiner Weise dulden. Wessen Denknotwendigkeit
ist nun die echte, welche soll uns anderen binden?
Eine Weltaufhellung vom bloßen Denken her wäre nur unter Einer
Bedingung erreichbar: das Denken müßte die ganze Wirklichkeit in
sich tragen oder durch seine Bewegung erzeugen; dann wäre das
Selbsterkennen des Denkens zugleich ein Welterkennen, und der
Lebensprozeß hätte seine Wahrheit bei sich selbst, er brauchte sie nicht
von außen bestätigt zu haben. So trieb die Konsequenz der Sache
die 'Philosophie von Plotin bis Hegel immer wieder auf diesen Weg
und ließ ihn als die einzig mögliche Überwindung des Spaltes
zwischen Denken und Sein begrüßen. Aber wie viel der Absor-
bierung der ganzen Wirklichkeit durch das Denken widersteht, und
wie sich dabei die Welt in ein bloßes Schattenreich formaler Be-
griffe zu verwandeln droht, das ist der Neuzeit durch die Erfahr-
ungen des Hegeischen Systems viel zu deutlich geworden, um sich
bald vergessen zu lassen.
Wenn aber weder das Denken mit dem Sein zusammenfällt,
noch sich vDn ihm ein draußen befindliches Sein erreichen läßt, so ist
vom freischwebenden Denken aus überhaupt kein Erkennen möglich,
im besondern kein Aufbau eines selbständigen Gedankenreiches neben
der Erfahrungswelt. Alle Aussicht eines Gelingens beruht also
darauf, daß das Denken in weitere Zusammenhänge tritt und damit
ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnt; das aber tut es in
Wahrheit. Das Denken bildet nicht von vornherein den ganzen
intellektuellen Kreis des Menschen, sondern dieser wird zunächst von
den Assoziationen der einzelnen Vorstellungen mit ihrem mecha-
nischen Getriebe eingenommen; das Denken mit seiner Richtung
auf das Gegenständliche, seinen inneren Gesetzen, seinem synop-
tischen Umspannen der Mannigfaltigkeit gegenüber dem sukzessiven
Verlaufen der Vorstellungsketten hat sich dagegen erst aufzuringen
und durchzusetzen. Das aber kann es nur, und es ist überhaupt
96 Zum Erkenntnisproblem.
eine lebendige Kraft nur als ein Stück und ein Ausdruck einer
neuen Lebensstufe, die erst im Menschen aufsteigt Damit aber
kommen wir auf den Begriff des Geisteslebens, wie wir ihn im
Unterschied vom bloßen Seelenleben fassen lernten. Im geistigen
Leben erkannten wir eine Wendung der gesamten Wirklichkeit, bei
der sie eine Tiefe entwickelt und sich zugleich zu einem Weltleben
zusammenfaßt; am Geistesleben teilgewinnen heißt daher zugleich an
einem Weltleben teilgewinnen; es sind nicht Erfahrungen des bloßen
Punktes, es sind Erfahrungen vom Ganzen, die aus seinen Beweg-
ungen und Wandlungen hervorgehen. Dies neue Leben zeigte sich
auch dem Gegensatz von Subjekt und Objekt überlegen, es ist kein
halbes Sein, das zu seiner Ergänzung eines Fremden bedürfte, son-
dern es ist als volltätiges Leben über jenen Gegensatz hinausgehoben,
es trägt in sich den Umriß einer selbständigen Wirklichkeit und
strebt in seiner Bewegung zur vollen Durchbildung dieser Wirklich-
keit. — Dies Geistesleben nun ist der Träger des Denkens und
alles Erkenntnisstrebens, nicht der bloße Mensch und das einzelne
Individuum; das Erkennen aber erscheint in neuem Lichte, wenn es
weder auf sich selbst noch auf ein draußen gelegenes Sein, sondern
erstwesentlich auf das Geistesleben geht, von dem es selbst umspannt
wird; Welterkennen kann es nur werden, wenn das Geistesleben den
Kern der Wirklichkeit bildet.
Eine solche Begründung im Geistesleben und zugleich ein Welt-
charakter kommt allem Wissen zu, aber es ist leicht zu ersehen, wie
hier die Philosophie eine besondere Aufgabe findet. Alles Erkenntnis-
streben beruht auf einem Verhältnis von Ganzem zu Ganzem. Aber
dies Verhältnis kann als eine stillschweigende Voraussetzung im
Hintergrunde bleiben, und die Arbeit kann sich auf einzelne Gebiete
oder einzelne Beziehungen richten; es bedarf einer eignen Wissen-
schaft, welche die Sache als Ganzes behandelt, vor allem die be-
gründende Tatsache zu voller Klarheit herausarbeitet und ihren Ge-
halt wie ihre Stellung zur umgebenden Welt zu ermitteln sucht;
diese Wissenschaft aber ist die Philosophie. So gewiß das Geistes-
leben keine Zusammensetzung aus einzelnen Punkten, sondern ein
inneres Ganzes ist, so zuversichtlich läßt sich erwarten, daß sich
mit der Philosophie ein neuer Weltanblick eröffnet, daß sie bei allem,
was sie von den einzelnen Wissenschaften empfangen muß, ihnen
auch eine selbständige Leistung entgegenzusetzen vermag und von hier
aus alle dargebrachten Tatsachen von neuem in Probleme verwandelt.
Denken und Erfahrung. 97
So ist der Angelpunkt aller philosophischen Betrachtung und
das Axiom der Axiome die Tatsache eines weltumspannenden Geistes-
lebens. Schon daß überhaupt eine neue Stufe der Wirklichkeit über
die Natur hinaus anerkannt wird, verändert den Anblick der Welt
und zeigt auch die Natur in anderer Beleuchtung. Aber das
Geistesleben ist nicht nur irgendwelches Mehr gegenüber der Natur,
es muß, so gewiß es die Wendung der Wirklichkeit zu ihrer eignen
Innerlichkeit, so gewiß es das Beisichselbstsein des Lebens bedeutet,
die letzte und abschließende Stufe sein wollen; als solche aber muß
es den Anspruch erheben, alles von sich aus zu verstehen und alles
an sich zu messen. Dieser Anspruch aber führt notwendig zur
Frage, wie weit das im Menschen gegenwärtige Geistesleben solcher
Aufgabe gewachsen sei, die Widerstände wollen erwogen, die Mög-
lichkeit einer Überwindung geprüft sein, aus Größe und Schranke
zusammen ergibt sich eine dem Menschen eigentümliche Art.
Alles zusammen stellt der Philosophie eine besondere Aufgabe
und eröffnet ihr einen selbständigen Weltdurchblick, ihre Arbeit
wird damit charakteristische Züge empfangen, von denen hier
namentlich drei herausgehoben sein mögen.
1. Wenn die Philosophie vom Ganzen des Geisteslebens zum
Ganzen der Wirklichkeit strebt, so liegt ihre Arbeit nicht innerhalb
eines gegebenen Raumes, sondern sie hat diesen Raum erst herzu-
stellen, sie findet nicht ihre Welt, sondern sie hat sie erst zu bilden;
das Ganze, das sie sucht, tritt ihr nie von außen her entgegen, es will
von innen her entworfen sein, es verlangt eine Synthese schöpferischer
Art. Zur Selbständigkeit wird dieses Weltbild der Philosophie
namentlich dadurch getrieben, daß das von ihrer Synthese umspannte
Dasein ohne Umwandlung nicht in sie einzugehen vermag. Denn
was es bietet, ist viel zu verschiedenartig, um sich ohne weiteres zu-
sammenzufügen. Namentlich das Zusammentreffen von Natur und
Innenwelt in Einer Wirklichkeit treibt zwingend zur Umwandlung des
ersten Anblicks. Schon dadurch ist namentlich der modernen Ge-
dankenarbeit ein Trieb zur Metaphysik unzerstörbar eingepflanzt, daß
die Neuzeit den Gegensatz von Natur und Seele zur vollen Klarheit
gebracht hat, und daß dieser Gegensatz sich beim Versuch einer
unmittelbaren Zusammenfassung notwendig zu einem unerträglichen
Widerspruch steigert. Zugleich ist auch das eine Sache der philo-
sophischen Tätigkeit selbst, wie viel von dem Umfange unseres
Lebens- und Gedankenkreises in jene Synthese eingeht und zu ihrer
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 7
98 Zum Erkenntnisproblem.
Gestaltung mitwirkt. Denn nicht alles uns irgend Bekannte ist bei
jener philosophischen Synthese gegenwärtig. Auch der beherrschende
Mittelpunkt, der alles um sich gruppiert und das Ganze eigentümlich
gestaltet, will immer erst gewonnen sein und läßt sich an verschie-
denen Stellen suchen. Die Zeiten gehen hier weit auseinander.
Nachdem die mittelalterliche Gestaltung des Geisteslebens seinen
ganzen Umkreis der Religion unterworfen hatte, erhob die Auf-
klärung das Verlangen nach einer größeren Weite der Wirklichkeit;
sie fand aber eine solche in dem Nebeneinander von Natur und
einzelnen Seelen, einem Nebeneinander, das sich nicht ohne Gewalt-
samkeit einer beherrschenden Einheit unterwerfen ließ. Die von
Kant anhebende Bewegung erzeugt den Begriff eines selbständigen
Geisteslebens und macht es mit seiner geschichtlich-gesellschaftlichen
Entfaltung zum Kern des Ganzen. Aber da sie das Geistesleben
mehr und mehr in das bloße Denken setzt, so wird die davon um-
spannte Wirklichkeit zu eng, ein Rückschlag wird unvermeidlich, und
dieser Rückschlag droht das Geistesleben wieder aus dem Gesichts-
kreis der Philosophie zu rücken und damit in das Wirklichkeitsbild
der Aufklärung zurückzufallen; zugleich wird der Mangel eines be-
herrschenden Mittelpunktes peinlich empfunden, den in Wahrheit nur
ein selbständiges Geistesleben zu gewähren vermag.
Daß so immer von neuem zum Probleme wird, wie viel
Wirklichkeit in die philosophische Synthese eingeht, und wo der
springende Punkt der Synthese liegt, zeigt deutlich die größere
Freiheit der philosophischen Arbeit; bei allem Zusammenhange mit
den einzelnen Wissenschaften wird sie durch die Forderung kühnen
Vordringens und mutigen Vorausentwerfens zur Spekulation getrieben.
Die Hilfe intellektueller Phantasie ist dabei unentbehrlich; was aber
diese Phantasie an Gestalten entwirft, das wird sie dem Menschen
nicht eindringlich machen können, ohne eben der Erfahrungswelt
Bilder zu entlehnen, über welche die Philosophie hinausführt.
Das alles ist voller Gefahren, aber ohne solche gibt es kein
großes Unternehmen, und wenn die Philosophie unser ganzes Da-
sein in Freiheit verwandeln möchte und uns aus einer gegebenen
Welt in eine eigne, selbstgebildete versetzt, so muß sie auch die
Gefahren der Freiheit tragen. Immerhin erscheint das Wagnis
der Philosophie bei unserer Fassung in ganz anderer Beleuchtung
als in den Systemen freischwebender Begriffskonstruktion. Denn bei
uns geht das Streben vor allem auf eine Tatsache, die das Denken
Denken und Erfahrung. gg
selbst begründet, auf die Tatsache eines weltumfassenden Geistes-
lebens; was in ihm liegt, das ist als eine Tatsache zu ermitteln, das
ist aufzuweisen, nicht abzuleiten; wie es zur umgebenden Welt steht,
welchen Widerstand es in ihr findet, und wie es zu seiner Über-
windung sich selber weiterzubilden hat, das alles ist eine Frage
der Tatsächlichkeit, aber freilich einer Tatsächlichkeit, die nicht von
außen her zufallen kann, sondern in Zusammenfassung des Lebens,
im Aufklimmen zu einem Sehen und Messen vom Ganzen zum
Ganzen immer neu zu erringen ist. Darin steckt eine freie Tat,
die sich keiner Zeit und keinem Individuum aufzwingen läßt, die
damit aber keineswegs eine Sache individuellen Beliebens und Ge-
schmackes wird.
2. Erst die Philosophie rechtfertigt ein Streben über ein bloßes
Kennen der Dinge hinaus zu einem Erkennen. Denn Erkennen ist
nichts anderes als ein Hineinziehen in das eigene Leben, ein Sich-
selbstfinden, ein Selbsterkennen. Das bietet nun und nimmer die
Erfahrungswelt mit ihrem Nebeneinander, aber auch mit der Auf-
nahme der Dinge in das subjektive Seelenleben, das bloßmensch-
liche Fürsichsein, wird es nicht erreicht. Denn ein solches Fürsich-
sein trägt bloß die eigne Zuständlichkeit in die Welt hinein, es ver-
menschlicht sie und ist daher auch in seiner höchsten Vollendung
nur dem Grade nach von der kindlichen Personifizierung der Um-
gebung verschieden, welche die Anfänge kennzeichnet. Eine Inner-
lichkeit, die den Dingen nicht von draußen aufgedrängt wird, sondern
ihr eignes Sein erschließt, erscheint erst im Geistesleben, das sich
selbst in ihnen sucht und findet, das mit seiner umspannenden
Kraft die Widerstände in innere Hemmungen verwandelt und den
Kampf mit ihnen zu einem inneren Erlebnis gestaltet. Die Philo-
phie aber ist es, welche diese Bewegung zur inneren Durchleuchtung,
zum Verstehen der Wirklichkeit auf sich nimmt. Wie weit eine
solche Vergeistigung der Welt dem Menschen gelingen kann, und
wie weit sie in einer gegebenen Lage gelingt, das ist eine andere
Frage, aber schon die Aufwerfung des Erkenntnisproblems bekundet
eine völlige Wendung und zerstört alle Befriedigung bei einem
bloßen Kennen der Dinge. Alle Hemmungen und alle Zweifel
lassen die Tatsache unangetastet, daß beim Menschen eine Aufhellung
der Wirklichkeit beginnt; wie aber könnte er über das Ganze der
Welt irgend denken, dächte er nicht aus dem Ganzen der Welt?
So treibt die Bewegung zwingend über alles bloße Anordnen und
100 Zum Erkenntnisproblem.
Aufschichten der Erscheinungen hinaus zum Erringen einer Seele;
selbst die Schranken könnten nicht als Schranken empfunden werden,
wäre das menschliche Leben und Denken ihnen nicht irgendwie
überlegen. Die berufene Vertreterin dieses Verlangens nach Seele
aber ist die Philosophie; sie kann jene Aufgabe der Verinner-
lichung der Wirklichkeit mit besonderem Nachdruck angreifen, wo
das Geistesleben mit voller Klarheit als der Träger jenes Strebens
anerkannt und die ganze Weite des Daseins zu ihm in Beziehung
gesetzt wird.
3. Endlich ist es die Philosophie, welche den Zusammenhang
des Erkenntnisstrebens mit dem Ganzen des Geisteslebens deutlicher
herausstellt, als es irgend sonst geschieht, und damit jenem Streben
mehr Sicherheit, Kraft und Bedeutung verleiht. Die Philosophie
bedarf jenes Lebens, weil nur sein Gehalt und seine Kraft sie über
den Stand einer fruchtlosen Reflexion erhebt und aus tastendem
Suchen in ein sicheres Schaffen bringt; das Leben bedarf der Philo-
sophie, weil es nur durch sie seine volle Durchleuchtung, Einigung
und Ursprünglichkeit erreicht.
Wie die Philosophie aus dem Gesamtleben hervorgeht und sich
nach seiner eigentümlichen Lage verschieden gestaltet, das zeigt uns
jede Vergleichung verschiedener Zeiten und verschiedener Kulturen.
Wie grundverschieden ist z. B. die Art und das Streben der Philo-
sophie im indischen und im vorderasiatisch -europäischen Kultur-
kreise gemäß dem Typus des Lebens hier und dort! Dort weniger
eine Durchdringung und Überwindung der Welt als eine Ablösung
und Befreiung von ihr, nicht eine Steigerung des Lebens, um es
auch gegen die härtesten Widerstände durchzusetzen, sondern eine
Herabstimmung, ein Auflösen aller Härte, ein Verschwimmen und
Verschwinden, eine tiefsinnige, aber tatenlose Kontemplation; hier
dagegen ein kräftiger Lebenstrieb, ein zähes Festhalten des Daseins
gegenüber allen Widerständen, ein Zurückkehren zur Selbstbejahung
aus aller Erschütterung und scheinbaren Vernichtung, ein Vordringen
durch alle Hemmungen zur Entwerfung neuer Welten und zur Her-
stellung neuer Lebensformen. Zugleich wird auch die Philosophie
mehr Eindringen in die Welt, mehr Ringen mit ihren Widerständen,
mehr Fortschreiten durch das Überwinden dieser Widerstände. —
Doch wir brauchen nicht in die Ferne zu schweifen, um den engen
Zusammenhang des philosophischen Strebens mit dem Gesamtstande
des Geisteslebens zu gewahren; die eigne Erfahrung des 19. Jahr-
Denken und Erfahrung. 101
Hunderts zeigt ihn mit völliger Klarheit. Warum konnten die
Systeme freischwebender Spekulation unsere Väter unwiderstehlich
fortreißen, während sie uns ganz fremdartig anmuten und auch durch
die eifrigsten Versuche einer Wiederbelebung keine rechte Über-
zeugungskraft gewinnen? Weil sich seitdem die Gesamtlage und
zugleich die Grundstimmung des Lebens aufs wesentlichste ver-
ändert hat. Damals fühlte sich der Mensch mit seinem geistigen
Schaffen im Mittelpunkte der Welt; wie dieses Schaffen alle Wirk-
lichkeit in Vernunft zu verwandeln schien, so durften seine Begriffe
bei mutigem Vordringen die letzte Tiefe der Welt zu erschließen
hoffen, so schien der Vollbesitz der Wahrheit kein zu kühnes
Verlangen. Heute dagegen beherrscht uns die Empfindung der
winzigen Kleinheit des Menschen gegenüber der unermeßlichen
Welt, und statt im Zentrum fühlen wir uns an der Peripherie der
Dinge, heute faßt sich das geistige Leben nicht zu einheitlichem
Schaffen zusammen, heute bedrängen zugleich uns schwere Verwick-
lungen im eignen Kreise des Menschen. Behauptet sich bei solcher
Lage überhaupt ein philosophisches Streben, so müssen wir erst
wieder Kraft dafür sammeln und scheinen nur langsam und vor-
sichtig vom Saume der Dinge her einigermaßen vordringen zu
können.
Wie aber die Philosophie aus dem Gesamtleben schöpft, so
wirkt sie auch dahin zurück. Jede große philosophische Leistung
trägt in sich ein Aufstreben des ganzen Geisteslebens, sie ist kein
Erzeugnis bloß intellektueller Geschicklichkeit, sondern ein Werk
und eine Bekräftigung der gesamten geistigen Art, auch eine Selbst-
erhaltung weltumspannender Persönlichkeit. Das eben kennzeichnet
wahrhaft große philosophische Leistungen, daß sich in ihnen nicht
bloß eine Klärung der Begriffe, eine Erweiterung des intellektuellen
Horizontes vollzieht, sondern durch ihre Arbeit eine Weiterbildung
des Lebensprozesses selbst, ein Wachstum der geistigen Wirklichkeit
erfolgt. Die Philosophie liefert keineswegs bloße Abdrücke fertiger
Dinge, sondern sie nimmt selbst am Bilden und Bauen teil; so ist
sie nach ihrer innersten Natur keineswegs eine kühle Betrachtung,
sondern eine Sache kräftigen Lebensaffektes. Nur ein solcher Zu-
sammenhang mit dem Gesamtleben erklärt die Stellung und Bedeutung
der Philosophie im menschlichen Dasein, die sonst einen rätselhaften
Widerspruch enthält Denn äußerlich angesehen, erscheint die Philo-
sophie als ein Durcheinander von Systemen, die sich gegenseitig
102 Zum Erkenntnisproblem.
widersprechen und sich in ihrer Wirkung einander aufzuheben
scheinen, die dazu im großen und ganzen bei der Menschheit mehr
Ablehnung als Zustimmung fanden. Aber zugleich sehen wir das
geistige Leben verarmen und verkümmern, wo es alle Beziehung
zur Philosophie aufgibt. So ist es am augenscheinlichsten bei der
Religion; wie eng, wie dürftig wird sie, wo sie aller Philosophie
entsagt! Der Widerspruch löst sich bei Anerkennung jener Ver-
kettung der Philosophie mit dem Ganzen des Lebens. Denn damit
wird zu ihrer Hauptleistung nicht eine Ablieferung fertiger Lehren,
sondern die innere Erhöhung des Lebensprozesses, der Gewinn an
Selbständigkeit und Ursprünglichkeit, die Befähigung, mehr Ganzes,
mehr Inneres, mehr Wesenhaftes in den Dingen zu sehen.
Diese Verbindung der Philosophie mit dem Leben ist auch
geeignet, ihr Auseinandergehen in verschiedene Richtungen ver-
ständlich zu machen, ohne diese einander gleichzusetzen und damit
eine allgemeingültige Wahrheit aufzugeben. Das nämlich bringt
die Entscheidung auch über die Art der Philosophie, was als Mittel-
punkt des Lebens erklärt wird, und wie die Gestaltung, die daraus
hervorgeht, zum Ganzen der Wirklichkeit steht Zunächst kommt
in Frage, ob überhaupt eine Zusammenfassung zum Ganzen voll-
zogen wird, oder das Leben bei einem bloßen Nebeneinander ver-
bleibt; in diesem Falle entsteht überhaupt keine Philosophie. Beim
Versuch einer Zusammenfassung aber wird die Hauptfrage die, ob
das natürliche Dasein, wozu auch das Durchschnittsleben der Ge-
sellschaft gehört, oder ob ein ihm überlegenes Reich des Bei-
sichselbstseins des Lebens mit geistigen Inhalten und Werten den
Hauptstandort des Denkens bilde; dort entsteht der Naturalismus
mit seinem Empirismus, hier der Idealismus mit seiner Verfechtung
eines a priori. Eine weitere Entscheidung entsteht innerhalb des
Idealismus bei Beantwortung der Frage, wie das aufstrebende geistige
Leben sich zu den Widerständen verhält, welche die Weltlage ihm
entgegensetzt. Glaubt der Idealismus durch volle Entfaltung der
eignen Kraft allen Widerstand unmittelbar überwinden und auch
das scheinbar Feindliche sich ganz und gar assimilieren zu können,
so entsteht ein reiner Idealismus; dieser aber wird zu spekulativer
Konstruktion und zur Geringschätzung der Erfahrung neigen. Wo
hingegen der Widerstand als zu groß erscheint, um sich durch
geistige Kraft überwinden zu lassen, da wird sich der Pessimismus
entfalten und in der Erkenntnislehre einen Skeptizismus erzeugen;
Denken und Erfahrung. 103
diese Denkweise steckt das Ziel im Sinne des Idealismus und gehört
daher auf seine Seite, aber da sie es für schlechthin unerreichbar
erklärt, so beläßt sie das Leben unter der peinlichen Macht eines
fundamentalen Widerspruches. Wo aber der Widerstand wohl in
seiner Schwere anerkannt wird, aber eine Weiterbildung des Lebens
trotzdem möglich scheint, die wenigstens seinen innersten Kern von
jener Lähmung befreit, da wird sich ein Idealismus entwickeln, den
man einen positiven nennen könnte; er drängt zu einer Metaphysik,
die von einer bloßen Begriffskonstruktion aufs deutlichste unter-
schieden bleibt. Von hier aus würde jener reiner Idealismus als
ein abstrakter erscheinen, der nicht tief genug in den Tatbestand
der Wirklichkeit eindringt und es nicht schwer genug mit ihren
Widerständen nimmt. Die Haupttypen des philosophischen Denkens,
die damit entstehen, können nicht als gleichwertige Möglichkeiten
gelten und sich friedlich miteinander vertragen, sondern nur eine
darf als der volle Ausdruck der Wahrheit gelten; aber zugleich
ma^cht solche Verbindung mit dem Leben augenscheinlich, daß die
Entscheidung des Menschen wesentlich durch seine eigne Lage und
Erfahrung wie auch durch die Arbeit und die Stimmung der je-
weiligen Zeit bestimmt sein wird, und daß wir daher, so gewiß nur
eine einzige Wahrheit besteht, uns schwerlich je einträchtig bei ihr
zusammenfinden werden.
Wir brauchen dabei nicht zu fürchten, daß solche engere Ver-
knüpfung der Philosophie mit dem Ganzen des Lebens sie dem
Wechsel und Wandel geschichtlicher Lagen preisgebe und einem
zerstörenden Relativismus überliefere. Denn das würde nur geschehen,
wenn das geistige Leben lediglich ein Erzeugnis des geschichtlich-
gesellschaftlichen Daseins und zugleich eine Erscheinung am bloßen
Menschen wäre. In Wahrheit ist alle geschichtlich-gesellschaftliche
Geistigkeit nur die Entfaltung eines zeitlosen, allem bloßmenschlichen
Dasein überlegenen Geisteslebens; die Kultur hat nur eine Seele
und ist nur echter Art, soweit sie an einem solchen Geistesleben
teilhat. Es wirkt etwas Überzeitliches in jeder großen geschichtlichen
Erscheinung, etwas Übermenschliches in jedem geistigen Aufschwung
des Menschen. Dies Überzeitliche und Übermenschliche, mit Einem
Worte das Absolute, herauszuarbeiten, dazu ist die Philosophie be-
sonders berufen. Denn nicht nur hat sie die größte Weite des
Gesichtskreises, sie kann kraft der Freiheit des Denkens am ehesten
zu den ursprünglichen Tatsachen und zugleich zu einer Betrachtung
104 Zum Erkenntnisproblem.
sub specie aeterni vordringen; sie kann in einer durchgreifenden
Umkehrung unser Leben dem bloßen Strom der Dinge entreißen
und es bei sich selbst befestigen, sie kann eine Kritik an allen vor-
liegenden Leistungen üben, indem sie dieselben auf den Grund-
prozeß und die inneren Notwendigkeiten zurückführt und daran mißt,
sowie ihnen von da aus neue Aufgaben vorhält. Mit solcher Um-
kehrung der ersten Lage bringt die Philosophie nur eine durch-
gängige Notwendigkeit des Geisteslebens zum Ausdruck, und dient sie
seiner Erhebung zur vollen Selbständigkeit und Ursprünglichkeit.
Schon in dem Streben danach liegt eine Wendung des Lebens und
eine Befreiung, es verändert den Anblick des Lebens wie der ganzen
Wirklichkeit. Das allein genügt, diese Wendung bedeutend zu
machen, daß ihre Vorhaltung absoluter Forderungen die Gering-
fügigkeit unseres Besitzes zum Bewußtsein bringt und uns weitere
Tiefen ahnen läßt. ^
c) Die Wendung zur Metaphysik.
Die Philosophie, so sahen wir, gewinnt eine eigentümliche Auf-
gabe nur in Erhebung über die Erfahrungswelt, sie kommt dazu
nicht erst nachträglich, sie enthält sie von vornherein. Daher hat
ihre Arbeit von Haus aus eine beträchtliche Spannung; diese steigert
sich aber zu einem schroffen Widerspruch durch die besonderen Er-
^ Es sei hiezü eine Stelle des tiefsinnigen Steffensen angeführt, obschon
sein Gedankengang sich nicht völlig mit dem unsrigen deckt. Er sagt (siehe
Gesammelte Vorträge und Aufsätze S. 6): »Nicht aus sich selber, aus ihren
Werken oder der besonderen Macht oder Reinheit ihrer Leidenschaft schöpft
sie (d. h. die Philosophie) ihren Ruhm, sondern aus der lichten Höhe, in
welcher der Gegenstand schwebt, dem sie sich ergeben hat und dessen Mit-
teilungen sie empfängt. Darum mag sie ohne Gefahr ihre eigene Ohnmacht
bekennen und dann und wann auf eine Weile verstummen und sehr un-
scheinbar einhergehen; ihr altehrwürdiges Dasein bezeugt doch den Menschen
das Hereinleuchten einer vollkommenen Erkenntnis in den veränderlichen
Schein dieser Welt und unserer alltäglichen Denkart. Wie die irdischen
Entfernungen zu der Tiefe des Fixsternhimmels, so verhalten sich die Be-
griffe und Maße der empirischen Wissenschaft zu dem Erkennen, nach welchem
die Philosophie emporstrebt, und die gewaltigsten Überzeugungen der ge-
meinen Ansicht, wenn sie dieselben mit der Gewißheit vergleicht, von deren
Ahnung sie ausgeht, erscheinen ihr nur als schwankende Meinungen des
Augenblicks. Ein Standpunkt, vor dem ein so unermeßlicher Horizont sich
auftut, wird seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit schon zu behaupten
wissen."
Denken und Erfahrung. 105
fahrungen des menschlichen Kreises. Die Art, wie hier das Geistes-
leben vorliegt, widerspricht durchaus seinem Wesen; wer diesen
Widerspruch deutlich erkennt, der kann der Entscheidung nicht
ausweichen, entweder das Geistesleben aufzugeben oder es im
Gegensatz zur vorliegenden Welt zu behaupten und zum Träger
einer eignen Welt zu machen. Das Geistesleben kann die Wirk-
lichkeit nicht beherrschen und an sich ziehen ohne eine volle Selb-
ständigkeit, in unserem Kreise aber bildet es von der Natur aus eine
bloße Begleiterscheinung, vom geschichtlichen Dasein aus ein nach-
trägliches Erzeugnis des menschlichen Zusammenseins; das Geistes-
leben geht vom Ganzen zum Einzelnen, im nächsten Dasein ist alle
Verbindung eine Zusammensetzung aus einzelnen Elementen; zum
Geistesleben gehört Selbsttätigkeit und Ursprünglichkeit, das Dasein
zeigt eine durchgängige Verkettung und damit eine Gebundenheit
alles Wirkens; das Geistesleben gibt seine Wahrheit als zeitüberlegen,
das menschliche Leben verläuft in der Zeit und muß ihrem Wandel
folgen. Nun kann das Geistesleben bei uns unmöglich als Welt-
kraft wirken, ohne auch einen eigentümlichen Weltanblick zu er-
zeugen; müssen wir also auf einem solchen bestehen und begegnen
wir dabei einem durchgängigen Widerstände der nächsten Welt, so
ist die Sache im Gegensatz zu ihr durchzuführen. Mit solcher
Steigerung der Weltüberlegenheit zur Gegensätzlichkeit wird die
Spekulation zur Metaphysik, Wie diese überhaupt die charakter-
istischen Züge der Philosophie kräftiger ausprägt und klarer heraus-
stellt, so wird sie namentlich die Umkehrung des Weltbildes verstärken,
welche in jener liegt; sie wird zugleich erkennen lassen, daß die
gegebene Welt sich nicht völlig in eine Entfaltung eines geistigen
Seins verwandeln läßt, sondern daß sie dagegen Widerstand leistet;
dieser Widerstand aber muß schwere Verwicklungen und harte
Kämpfe erzeugen. Ja in das Gesamtbild unserer Welt kommt damit
ein geschichtliches Element; nichts ist charakteristischer für die Meta-
physik als ein solches, wenn auch nicht erkennen, so doch ahnen
zu lassen. In dem allen wachsen die Probleme, es wächst der Ab-
stand zwischen den Zielen der Sache und den Mitteln des Menschen,
das Unternehmen müßte als ein vermessenes Wagnis erscheinen,
stünde nicht hinter der Metaphysik des Denkens eine Metaphysik
des Lebens. In Wahrheit trägt alles Leben das Problem in sich,
das die Metaphysik zur deutlichen Aussprache bringt. Denn alles
echte Geistesleben entwickelt sich bei der Menschheit nicht nur in
106 Zum Erkenntnisproblem.
einer Überlegenheit, sondern in einem Widerspruch zur nächsten
Welt; die Moral z. B. ist nicht nur etwas anderes als die natürliche
Selbsterhaltung, sondern sie muß sich im direkten Gegensatz zu
ernem Weltgetriebe selbstischer Interessen und kleinlicher Zwecke
behaupten und in hartem Kampf dagegen ihr Reich erbauen. Zu
einem solchen Reich aber gehört auch ein eigner Weltanblick.
Das ergibt schwere Verwicklungen, ohne Zweifel, aber nicht wir
haben sie uns bereitet, sie sind uns zugefallen und auferlegt. Un-
möglich läßt sich diesen Verwicklungen durch einen Rückzug auf
das unmittelbare moralische Phänomen entfliehen und etwa die
moralische Persönlichkeit als ein sicherer Halt ergreifen. Denn nicht
nur steht solche Persönlichkeit mit der ihr notwendigen Einheit des
Lebens und Ursprünglichkeit des Handelns in schroffem Widerspruch
zu dem Nebeneinander und der Gebundenheit der nächsten Welt,
sie enthält unmittelbar eine Weltbehauptung, die Behauptung von
der Gegenwart einer neuen Ordnung der Dinge, sie hat damit selbst
einen Weltcharakter. Dieser Weltcharakter aber wird dem Menschen
zur eindringlichen Gegenwart nur mit Hülfe eines Bildes der Wirk-
lichkeit; so treibt eben die Selbsterhaltung der Persönlichkeit zu einer
Metaphysik. Demnach wird in der Metaphysik um die Aufrecht-
erhaltung einer selbständigen Philosophie gekämpft, die Philosophie
bricht zusammen ohne den Fortgang zu jener. Die Leugnung der
Metaphysik bekundet entweder, daß die Bewegung zur Philosophie
nicht Kraft genug hat, um gegenüber den Widerständen der nächsten
Welt ihren Weg zu verfolgen, oder daß ein flacher Optimismus
die Widerstände unterschätzen läßt.
Mit der Aufgabe wachsen freilich auch die Widerstände; was
immer der Aufbau einer selbständigen Philosophie an Hemmungen
zu überwinden hatte, das wird sich hier noch steigern. Der
Aufschwung wie das Festhalten bekommt jetzt einen heroischen
Charakter, die Gedankenforderungen werden sich hier nie rein in
Begriffe umsetzen lassen, sondern in allem, was den andeutenden
Umriss überschreitet, auf die Hülfe von Bildern angewiesen sein.
Aber wenn damit die Phantasie noch weiteren Spielraum gewinnt,
nie wird deshalb das Ganze ein bloßes Bild; durch alle Unzuläng-
lichkeit der Darstellung können Notwendigkeiten wirken, die, geistig
angesehen, das Ursprünglichste und Gewisseste unseres ganzen
Lebens sind; gerade jene Unzulänglichkeit der Darstellung kann die
Gewißheit der Grundtatsache nur noch stärker empfinden lassen.
Denken und Erfahrung. 107
Alle Tiefe des geistigen Lebens hat einen symbolischen Charakter;
was in ihr ursprünglich aufsteigt und von hier aus die ganze Wirk-
lichkeit trägt, geht in die menschlichen und seelischen Formen nur
unvollkommen ein; die Leistung dieser hat nur in der Zurückbezieh-
ung auf jenen Grund und in der Durchleuchtung von daher eine
Wahrheit; sie verfällt der Unwahrheit, sobald sie sich davon ablöst
und mehr als ein bloßes Mittel sein will. So geschieht es vor allem
in der Religion, die zur bloßen Mythologie zu sinken droht, wenn
ihre Begriffe und Formen nicht unablässig auf den geistigen
Orundprozeß zurückbezogen und von da aus beseelt werden. Auch
auf der Höhe der Kunst waltete oft die Empfindung, daß das
Schaffen durch alles Darstellen hindurch etwas Tieferes erweise,
das sich wohl anregen und beleben, nicht aber angemessen aus-
drücken lasse. ;,lch habe all mein Wirken und Leisten immer nur
symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgiltig
gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln", so bekennt es von
sich, ein Goethe (Gespräche mit Eckermann). Überall der Wider-
spruch, daß der Lebensprozeß im innersten Kern über das Bloß-
menschliche hinaus zu selbständiger Geistigkeit und absoluter Wahr-
heit gehoben wird, und daß seine Entfaltung die Schranken der
menschlichen Art nicht zu überwinden vermag, überall damit die
Aufforderung, durch alle Unzulänglichkeit hindurch das Notwendige
festzuhalten, die Grundtatsache gegen alle Verwicklung der Aus-
führung zu behaupten. Aber hier ist ein bequemer Angriffspunkt
für allen Zweifel und Kleinglauben, nirgends mehr als hier werden
sich die Geister scheiden: so lange die Sache von draußen her kühl
und klug wie etwas fremdes betrachtet wird, hat der Zweifel ge-
wonnenes Spiel; seine Überwindung wird nur möglich, wo die Auf-
gabe als der Kern des eignen Lebens ergriffen und als eine Sache
der geistigen Selbsterhaltung betrieben wird. Eine Vermittlung gibt
es zwischen solchem Entweder — Oder nicht.
Wenn demnach die Metaphysik nur das Geschick alles Geistes-
lebens teilt, das selbständig sein will, so hat sie eine besondere
Aufgabe darin, den Widerspruch mit voller Klarheit und Schärfe
hervorzukehren, damit aber das Leben aus aller trägen Gleich-
gültigkeit aufzurütteln und ihm einen zwingenden inneren Fort-
trieb einzupflanzen. Denn indem das zur geistigen Selbsterhaltung
Notwendige dem Durchschnitt entwunden, ihm gegenüber befestigt
und durchgebildet, dann aber ihm als eine nicht abzulehnende
108 Zum Erkenntnisproblem.
Aufgabe entgegengehalten wird, kommt eine Unzufriedenheit, eine
Unruhe, eine innere Bewegung in das Leben; jene Zerlegung
treibt es zu einer Emporarbeitung und weist zugleich durch jene
Ziele dem Streben bestimmte Bahnen. Dabei kann nach dem Zu-
sammenhange unserer Betrachtung die Metaphysik nicht als etwas
gelten, was in farbloser Gestalt über den Bestrebungen und Erfahr-
ungen der weltgeschichtlichen Arbeit schwebt, sondern sie wird mit
den Bewegungen dieser Arbeit aufs engste verflochten sein, jede
bedeutende Kultur hat ihre eigne Metaphysik, sie spricht darin ihr
innerstes Wollen und Wesen aus, sie will sich selbst hier einen
wesenhaften Charakter und zugleich eine lebendige Seele erringen, sie
wird in ihr sich selbst zum Ideal. Die Metaphysik muß einerseits er-
greifen, was als vorwaltende Kraft eine Kultur durchdringt, anderer-
seits hebt sie das Ergriffene über alle Schranken des vorgefundenen
Standes hinaus zu vollendeter Gestalt und absoluter Giltigkeit, er-
öffnet sie von hier aus einen Kampf gegen alles Unzulängliche,
Bloßmenschliche, Niedere der üblichen Lebensführung, bewirkt sie
eine energische Scheidung in ein Für oder Wider. So vollzog die
platonische Ideenlehre eine Erhebung der künstlerischen Weltanschau-
ung des Griechentums ins Metaphysische, wobei die Idee einer un-
wandelbaren Ewigkeit voransteht, so erhielt die Gedankenwelt der
Aufklärung eine metaphysische Gestalt im System Leibnizens mit
seiner Unendlichkeit des Kleinen und seiner Verwandlung der Philo-
sophie in eine universale Mathematik. Überall ein Bestreben, vom
Gipfelpunkt menschlicher Leistung ins Absolute vorzudringen und in
Umkehrung der nächsten Lage unserem Denken und Sein eine
Selbständigkeit geistiger Art zu erringen. Die Metaphysik wird durch
solche Beziehung zur Geschichte keine Hingebung an die bloße
Zeit, sondern sie ist ein Herausarbeiten dessen, was von den be-
sonderen Zeitlagen aus an zeitloser Wahrheit erreichbar war; was
sich dabei ergab, das versank nicht mit der Zeit, sondern es bleibt,
wenigstens als Möglichkeit und Aufforderung, stets gegenwärtig.
Aus solcher Fassung der Metaphysik läßt sich ganz wohl den
Angriffen begegnen, mit denen sie von alters her zu kämpfen hatte.
Schon der Name konnte leicht Vorurteile erwecken,^ aber auch in
* Der Ausdruck Metaphysik entstand dadurch, daß Andronikus Rhodius,
ein Zeitgenosse Ciceros, in seiner Anordnung der aristotelischen Schriften
die Untersuchungen über die „erste Philosophie" (rptÖTT) cp(Xoao9(a) hinter die
Physik stellte: [jL£Ta xa tpuatzä (näheres s. Bonitz, Kommentar zur aristotelischen
Denken und Erfahrung. 109
der Sache wird jetzt die Metaphysik einen anderen Weg einschlagen
müssen, als ihn frühere Zeiten versuchten. Es gilt einen entschiedenen
Bruch mit jener freischwebenden Spekulation, welche aus bloßem
Denken glaubte, eine neue Welt erzeugen zu können. Das entspricht
jener älteren Denkweise, welche im Wissen den gesamten Geistes-
gehalt des Lebens glaubte ermitteln und ihn von hier aus den
übrigen Gebieten zuführen zu können, während wir jetzt das Wissen
in ein tiefer gegründetes Geistesleben hineinstellen und es vereint
mit den übrigen Gebieten um die Entfaltung dieses Lebens und zu-
gleich um Wahrheit kämpfen lassen. Besonders aber bildet die neue
Metaphysik den schärfsten Gegensatz zum ontologischen und damit
zugleich abstrakten und dogmatischen Charakter der älteren Meta-
physik. Die Art, wie Aristoteles die Aufgabe der »ersten Philosophie"
dahin bestimmt hat, das Seiende als Seiendes zu betrachten (to ov
•jl 6v), die allgemeinsten Eigenschaften des Seins zu ermitteln, hat
von vornherein die Sache in eine schiefe Bahn gelenkt. Denn es
erschienen damit gewisse formale Beschaffenheiten als das Wesen
der Dinge und wurden zum Hauptgerüst, in das alle Besonderheit
als eine bloße Ausführung einzutragen war; die Metaphysik wurde
Metaphysik, S. 3 ff.). Daraus wurde schon im ersten Jahrhundert n. Chr.
eine Bezeichnung der Disziplin selbst (xä [ista Ta tpnaixä, tj puta xa «puaixi
-paYp.aT£ta). Die Singularform metaphysica gehört der Scholastik an, sie dürfte
aus der Übersetzung des Averroes stammen. Der Name war insofern nicht
glücklich, als er von Anfang an den Begriff mit der Vorstellung behaftete,
als habe die Metaphysik mit etwas Femliegendem, Jenseitigem, zur nächsten
Wirklichkeit erst Hinzugedachtem zu tun. So heißt es schon bei dem Neu-
platoniker Herennius (s. Brandis, Abh. der Berl. Akad. 1831, p. 80): {j-et« xa
cpuatxa XEyovTat, ä~tp cpuasoj; Ü7:£pf,pTai xai jjTup atriav za\ Xdyov slaiv. Auch
den Scholastikern, z. B. Thomas, gilt die metaphysica soviel als transphysica.
Kant aber sagt (VIII, 576 Hart.): „Der alte Name dieser Wissenschaft [xera
Ta »uitxa gibt schon eine Anzeige auf die Gattung von Erkenntnis, worauf
die Absicht mit derselben gerichtet war. Man will vermittelst ihrer über alle
Gegenstände möglicher Erfahrung (trans physicam) hinausgehen, um womög-
lich das zu erkennen, was schlechterdings kein Gegenstand derselben sein
kann." Die Freunde der Metaphysik strebten dem gegenüber nach neuen
Bezeichnungen. Clauberg, der bedeutendste Cartesianer Deutschlands, emp-
fahl Ontosophie oder Ontologie, aber bald übertrug sich die Ungunst auf
das neue Wort; schon Wolff klagte (s. Philos. prima sive ontologia 1): vix
aliud hodie contemtius est nomen quam Ontologiae. Auch würde Ontologie
nur die ältere Art der Metaphysik bezeichnet haben, die uns heute unmöglich
dünkt. Ist es übrigens nicht bemerkenswert, daß nie ein Denker ersten
Ranges eine „Metaphysik" unter diesem Namen geschrieben hat?
110 Zum Erkenntnisproblem.
damit zur bloßen Ontologie. Das ergab eine Verschiebung der Ge-
dankenwelt ins Abstrakte und Formale, eine Zurückstellung des eigen-
tümlichen Inhalts des Menschenlebens. Zugleich aber ergab es einen
Dogmatismus, indem jene formalen Eigenschaften vor aller näheren
Erfahrung und unabhängig von aller geschichtlichen Bewegung ein-
für allemal erkennbar dünkten und daher von der Metaphysik den
übrigen Wissensgebieten als unantastbare Wahrheiten zugeführt
wurden. Ein solches dogmatisches Verfahren nahm zugleich der
Metaphysik eine innere Bewegung und den anderen Wissenschaften
ihre Selbständigkeit. Kein Wunder, daß jene ontologische und dog-
matische Metaphysik von den verschiedensten Seiten her Widerstand
fand; die Entwicklung der modernen Forschung ist nur möglich
geworden unter Abschüttelung der alten Metaphysik.
Aber die Abweisung einer besonderen Art der Metaphysik
ist nicht ein Verzicht auf alle und jede Metaphysik, vielmehr wird
Kant wohl Recht behalten mit der Überzeugung »irgend eme Meta-
physik ist immer in der Welt gewesen und wird auch wohl ferner -
darin anzutreffen sein" (Hart. 111, 25). Jedenfalls wird die Meta-
physik, welche sich aus den Zusammenhängen unserer Betrachtung
ergibt, nicht von den Vorwürfen getroffen, welche die Zerstörung
der alten Metaphysik bewirkten. Denn hier, wo das Erkennen selbst
eine Entfaltung des Lebens in sich trägt, und wo es vor allem auf
die Durchleuchtung und Vertiefung dieses Lebens geht, wird die
Metaphysii^ das Denken und Leben nicht ins Abstrakte locken,
sondern es seiner eignen Tatsächlichkeit und Bestimmtheit zuführen,
sie wird mit ihrem Zusammenschluß aller Mannigfaltigkeit die einzig-
artige Individualität unseres Seins und unserer Welt erst mit voller
Klarheit herausstellen. Alle einzelnen Größen und Aufgaben, auch
gesamte Gebiete wie Religion, Kunst, Moral, werden die klägliche
Farblosigkeit der üblichen Fassung erst überwinden, wenn sie inner-
halb eines umfassenden Lebenszusammenhanges einen festen Platz
und ein bestimmtes Ziel erhalten, auch wird nur der Inhalt, den
die Wirklichkeit in jener Verdichtung zum Ganzen erschließt, über
das Recht und die Bedeutung der Formen des Seins entscheiden.
So ist es nicht eine Lust an allgemeinen Formeln, sondern das Ver-
langen nach mehr Charakter, nach ursprünglicher Tatsächlichkeit, nach
energischer Durchbildung unseres Lebenskreises, was die Forschung
zur Metaphysik treibt.
Ebenso sicher ist eine Metaphysik, welche den Zusammenhang
Denken und Erfahrung. Hl
des Erkenntnisstrebens mit einem begründenden und umfassenden
Geistesleben wahrt, vor dem Vorwurf eines erstarrenden Dogmatis-
mus. Eine solche Metaphysik wird mit der weltgeschichtlichen Be-
wegung die engste Fühlung nehmen und zugleich selbst eine Ge-
schichte gewinnen, ohne damit zur bloßen Zeitgeschichte zu sinken.
Wir haben heute keine Metaphysik, und es gibt nicht wenige,
die das für einen Gewinn erachten. Aber ein Recht darauf hätten sie
nur, wenn sich unsere Gedankenwelt in einem vortrefflichen Zu-
stande befände, wenn auch ohne Metaphysik feste Überzeugungen
unser Leben und Streben beherrschten, hohe Ziele uns zusammen-
hielten und vom kleinmenschlichen Getriebe befreiten. In Wahr-
heit ist eine grenzenlose Zersplitterung, eine klägliche Unsicherheit
in allem Prinzipiellen der Überzeugungen, eine Ohnmacht gegen
das Kleinmenschliche, eine Seelenlosigkeit in überströmender äußerer
Fülle nicht zu verkennen. Wer das ruhig zu ertragen vermag, den
werden alle theoretischen Erörterungen nicht zur Metaphysik führen;
wer 'aber eine zwingende Aufgabe darin erkennt, daß auch unser
Kulturleben sich zu einem charaktervollen Ganzen zusammenfasse
und eine innere Selbständigkeit gewinne zu engerer Verbindung wie
zu schärferer Scheidung der Geister, der wird mit uns an der Meta-
physik festhalten und für die alte Aufgabe neue Bahnen suchen.
d) Der Gesamtanblick der menschlichen Erkenntnis-
arbeit.
Die bisherigen Untersuchungen enthalten prinzipielle Überzeug-
ungen vom Erkennen, die nur entwickelt zu werden brauchen, um
ein eigentümliches Gesamtbild zu ergeben. Im besonderen ist es
die hier verfochtene Fassung des Geisteslebens, welche den ge-
schichtlich überkommenen Gegensatz zu überwinden verspricht. Das
Geistesleben gilt uns zugleich als eine neue Stufe der Wirklichkeit
gegenüber der Natur, und als eine ursprüngliche Tiefe gegenüber
dem unmittelbaren Seelenleben, in dem Entfaltungen der beiden
Stufen zusammentreffen. Von hier aus wird es möglich, zugleich
den Kern der Erkenntnisarbeit von aller Abhängigkeit nach außen
zu befreien und die Bedingtheit unseres menschlichen Erkenntnis-
strebens vollauf anzuerkennen; ja es mag nun sich gegenseitig
steigern, was sich sonst feindselig gegenüberstand und einander not-
wendig Abbruch tat.
Das Geistesleben galt uns als volltätiges Leben, das nicht
112 Zum Erkenntnisproblem.
zwischen Subjekt und Objekt verläuft, sondern den Gegensatz von
Haus aus umspannt; die Aufgabe kann hier nicht in der Abbildung
eines jenseitigen Seins, sondern nur in der eigenen Durchbildung
liegen. Es muß dann in sich selbst verschiedene Stufen der Aus-
prägung enthalten, die Bewegung zur höheren Stufe aber durch eine
Notwendigkeit des Ganzen gefordert werden; was seiner Tätigkeit
irgend schon angehört, das wird zu seinem vollen Besitz erst mit
der Verwandlung in Selbsttätigkeit. So steht es auch beim Er-
kennen, auch seine Bewegung liegt innerhalb des gesamten Lebens.
Denn auch der Vorwurf, mit dem es zu tun hat, muß sich inner-
halb, nicht jenseit des Geisteslebens befinden; ein gänzlich draußen
Gelegenes könnte nichts erregen und nichts bewegen, es würde das
Denken gar nicht berühren und könnte ihm nun und nimmer auch
nur zum Probleme werden. Dies geschieht nur dann, wenn ein
Gegenstand der Gedankenwelt irgend schon gegenwärtig ist, die Art
aber, wie er gegenwärtig ist, der Natur des Geisteslebens nicht
entspricht, ja widerspricht; dieser Widerspruch wird dann ein
zwingender Antrieb zur Weiterbildung. So ist es eine Selbst-
behauptung, die das Geistesleben in der Erkenntnisarbeit mit ihrem
Vordringen zur höheren Stufe vollzieht.
Steht die Sache derart, so kann zum Erkenntnisproblem nur
werden, was dem Lebensprozeß irgend schon einverleibt ist, so muß
eine innere Erweiterung des Lebens vorangehen, wo das Erkennen
in Fluß kommen soll. Die weltgeschichtliche wie die alltägliche
Erfahrung bestätigt diese Behauptung mit überzeugender Klarheit.
Denn sie zeigt, daß auch solches, was den Menschen mit eindring-
licher Nähe umfängt und mit den stärksten sinnlichen Wirkungen
berührt, ihm innerlich völlig fremd bleiben kann und seinem Er-
kennen nicht zum Probleme wird. Nur dem antworten die Dinge,
der an sie Fragen stellt; nur dem erschließen sich Wirklich-
keiten, der ihnen Möglichkeiten entgegenbringt; auch der härteste
Widerstand übt eine seelische Wirkung nur nach Verwandlung in
eine innere Hemmung; schwerste Mißstände können Individuen,
Völker und Zeiten treffen, ohne sie stark zu erregen und zu irgend-
welcher Gegenwehr zu treiben. Daß die geistigen Organe nicht
fertig mitgebracht werden, sondern erst zu bilden sind, das
verfechten übereinstimmend große Künstler und große Erzieher. ^
^ Bekannt ist Herbarts Auslassung über den neunzigjährigen Dorfschul-
meister (Werke X, 8): „Wollten wir nur sämtlich bedenken, daß jeder
Denken und Erfahrung. 113
Auch die weltgeschichtliche Betrachtung zeigt, wie spät ganz Nahes,
ja äußerlich schon Angehöriges zu eignem Leben geworden ist und
das eigne Streben bewegt hat; sie läßt zugleich die Voraussetzungen
und die Vorbereitungen dessen erkennen, was später leicht selbst-
verständlich dünkt. Wie langsam erfolgte die künstlerische Ent-
deckung der Natur, wie spät erschloß sich z. B. die Gestalt der
Landschaft, wie müht sich auch die Kunst der Gegenwart, zuerst
die Art des Sehens zu verfeinern, um dann in den Dingen mehr
zu entdecken und neue Seiten an ihnen zu eröffnen! Auch sich
selbst, das Menschsein und was daraus an Gemeinschaft, des Lebens
und Empfindens fließt, hat der Mensch erst entdecken müssen, er
fand es nicht fertig vor, er errang es durch Bewegungen und
Fortbildungen innerer Art Die Erziehungslehre spricht von der
Apperzeption als einer Aufnahme neuer Eindrücke in den Vor-
stellungskreis des Individuums; nun wohl, es gibt auch eine welt-
geschichtliche Apperzeption, auch das Ganze der Menschheit ver-
mag, nichts aufzunehmen, dem es nicht eine innere Bewegung ent-
gegenbringt.
Was so im Einzelnen bereitwillig anerkannt wird, das muß, ins
Ganze gehoben, das Erkenntnisproblem in eine neue Beleuchtung
rücken. Denn damit wird klar, daß alle Erkenntnis innerhalb der
Arbeitswelt des Menschen liegt, und daß es keine wesentlichen
Fortschritte des Erkennens gibt ohne ein V/achstum dieser Arbeits-
welt. Wahrhaft große Leistungen auch des Erkennens sind nur
solche, die nicht einem vorgefundenen Kreise angehören, sondern
den Lebenskreis selbst verändern. Die moderne Wissenschaft wäre
unmöglich gewesen ohne den modernen Menschen mit seiner kühnen
Erhebung über die Welt und seiner Befestigung in der eignen Seele.
Solche Zurückverlegung gestattet erst, den Erkenntnisprozeß als ein
immanentes Vorgehen zu fassen und jenes Dilemma zu vermeiden,
daß das Denken entweder mit einem fremden Sein zu tun habe
oder aus sich selbst alles Sein hervorspinnen müsse.
Aber eben diese Anerkennung der Selbständigkeit des Geistes-
nur erfährt, was er versucht! Ein neunzigjähriger Dorfschulmeister hat
die Erfahrung seines neunzigjährigen Schlendrians; er hat das Gefühl seiner
langen Mühe; aber hat er auch die Kritik seiner Leistungen und seiner
Methode?" Fröbel aber meint, daß der Mensch, ,,um die Natur zu ver-
stehen, sie durch eine ihm eigentümliche Kunstweise gleichsam von Neuem
in und aus sich schaffen muß."
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 8
114 Zum Erkenntnisproblem.
lebens und der Immanenz ^ des Erkenntnisprozesses ist geeignet, das
Eigentümliche der menschlichen Lage und zugleich die Bedeutung
der Erfahrung zur vollen Geltung zu bringen. Je selbständiger und
überlegener nämlich das Geistesleben und mit ihm das Erkennen
gefaßt wird, desto größer wird der Abstand der nächsten Lage, desto
deutlicher erhellt, daß nur unter gewissen Bedingungen und durch
harte Arbeit der Mensch daran teilzunehmen vermag, daß auch das
Geistesleben ihm nur durch irgendwelche Erfahrung zugänglich wird.
Der Mensch wird zunächst von der untergeistigen Stufe der Wirk-
lichkeit eingenommen, die intellektuell in der sinnlichen Vorstellung
mit ihren mechanischen Verkettungen zum Ausdruck kommt; er
könnte diese Stufe in keiner Weise überschreiten, wäre nicht auch
die höhere in seinem Bereiche irgendwie wirksam. Aber dieses
Höhere hat für den Lebensprozeß keine volle Gegenwart, sondern
es hat eine solche erst zu gewinnen; selbst die Anregung dazu
erfolgt gewöhnlich nur unter besonderen Bedingungen, bei Verwick-
lungen und Widersprüchen der niederen Stufe; die Geschichte zeigt
deutlich, wie mühevoll und langsam das Erkenntnisstreben in Fluß
kam. Und eben im Vordringen mußte es auch eine eigentümliche
Lage beim Menschen anerkennen, die sich nicht begrifflich ableiten,
sondern nur als eine Tatsache hinnehmen läßt. Insofern trägt das
menschliche Erkennen einen Erfahrungscharakter. Aber das anerkennen
heißt keineswegs dem Empirismus huldigen. Denn jener Erfahrungs-
charakter selbst wäre nicht zu erkennen ohne eine Überlegenheit
gegen die bloße Erfahrung; die Schranken und die Gebundenheit
des Menschen gelangen zur Einsicht nur, sofern er an einem selb-
ständigen und überlegenen Geistesleben teil hat und von hier aus
seine Lage zu würdigen vermag.
Es hat aber die Erfahrung für das Erkennen eine zwiefache
Bedeutung: sie ist Begrenzung nach außen und sie ist Determination
im Innern. Jenes ist sie, wenn die geistige Tätigkeit an jenseitige
Bedingungen gebunden bleibt und sich daher nicht zur vollen Selbst-
tätigkeit zu erheben vermag; dieses, wenn sie die volle Bestimmtheit
ihrer eignen Art erst im Zusammenstoß mit Widerständen erreicht,
erst durch Versuchen und Erfahren hindurch ihrer selber inne wird
und zu reiner Selbsttätigkeit gelangt. In beiderlei Bedeutung ist das
* Wir nehmen hier Immanenz in dem alten und ursprünglichen Sinne,
wonach es ein Geschehen bezeichnet, das innerhalb des Lebensprozesses ver-
bleibt, nicht über ihn hinausgeht; siehe den Artikel Immanenz-Transzendenz.
Denken und Erfahrung. 115
Erkennen des Menschen auf Erfahrung angewiesen; sie ist hier un-
entbehrHch sowohl für das Verhältnis des Geisteslebens zur Um-
gebung als für seine eigne Beschaffenheit, sowohl für seinen Um-
fang als für seinen Inhalt.
Was sich beim Menschen an Erkennen entwickelt, das befindet
sich zunächst gegenüber der Unermeßlichkeit einer fremden Welt,
und das kommt nur weiter in Berührung mit dieser Welt, das kann
aus der Welt lediglich zu empfangen scheinen. Auch in der Be-
arbeitung des Empfangenen kann es sich für weite Gebiete, wie
namentlich die sinnliche Natur, nie davon ablösen; was daraus in
die Gedankenwelt des Menschen eingeht, ist nicht rein in Gedanken-
größen umzusetzen, es behält eine Bindung an etwas Jenseitiges und
zugleich eine Undurchsichtigkeit. Aber mag hier eine Berührung
mit den Dingen und eine Beziehung auf die Dinge noch so not-
wendig sein, diese Berührung und Beziehung erzeugt nicht das Er-
kennen; es entwickelt sich unter Bedingungen und Beschränkungen,
aber es bleibt auch dabei vornehmlich ein Werk des Geisteslebens;
es entwickelt sich nicht aus der Erfahrung, sondern nur an der Er-
fahrung, wie Eindrücke nicht in die Gedankenwelt eingehen können,
ohne eine wesentliche Umwandlung zu erleiden. Wie grundver-
schieden nimmt sich dasselbe Naturphänomen in der unmittelbaren
Empfindung des naiven Menschen und in der Gedankenwelt des
Naturforschers aus! Mit Recht sagt Hegel. »Die Natur des Geistes
ist es — nicht ein anderes Ursprüngliches in sich aufzunehmen, oder
nicht eine Ursache sich in ihn kontinuieren zu lassen, sondern sie
abzubrechen und zu verwandeln" (Wke. IV, 229).
Aber nicht nur die Ausdehnung, auch die innere Art des
Geisteslebens ist für uns Menschen eine Frage und eine Aufgabe.
Weder erfüllt das Geistesleben in fester und klarer Gestah unmittel-
bar unser eignes Leben, noch zieht es uns in einen sicheren Fort-
schritt hinein, wie der intellektuelle Optimismus der konstruktiven
Philosophie es annahm, sondern wir müssen von kleinen, nicht ein-
mal unbestreitbaren Anfängen allmählich vordringen, und wir finden
in solchem Streben die mannigfachsten Hemmungen und Gefahren,
wir unternehmen vieles in froher Zuversicht, was sich im Verlauf als
unmöglich erweist, wir werden scheinbar oft im Zickzack hin- und
hergeworfen. Was wir aber mit aller Mühsal erringen, das gewinnen
wir nicht durch kluge Überlegung, sondern durch ein zu Ende
Gehen eingeschlagener Richtungen; unseres Vermögens wie unserer
116 Zum Erkenntnisproblem.
Schranken werden wir inne erst durch Lebensentwicklung und Lebens-
erfahrung. Im besonderen erreicht unser Leben nur durch Kampf
seine volle Tiefe, erst der Widerstand treibt es zur Aufbietung seiner
ganzen Kraft und zu voller Ursprünglichkeit. Dabei bedeutet das
Wachstum der Geistigkeit keinen reinen Sieg über das Feindliche
und bringt keine volle Aufhellung. Vielmehr mag die innere Steigerung
neue Ansprüche, Probleme und Widerstände hervorrufen, und sich
damit der Anblick der Wirklichkeit immer positiver, immer irrationaler
gestalten. Eine solche Tatsächlichkeit muß aus dem Erkennen etwas
wesentlich anderes machen, als es der Rationalismus wollte; Punkt für
Punkt wird es hier auf die Erfahrungen des gesamten Lebens hin-
gewiesen. Einem glatten Abschluß nahe glaubte man sich nur in
den ersten Anfängen, aus wachsender Einsicht ist immer mehr An-
erkennung ungelöster Probleme hervorgegangen, die Welt ist uns
nicht klarer, sondern rätselhafter geworden. So ist eben auf der
Höhe des modernen Lebens der Gesamtanblick des Erkennens alles
eher als einfach. Die Wirklichkeit erhebt sich vor unseren Augen
als ein Stufenreich mit einem Fortgang vom Unorganischen zum
Organischen, vom Unlebendigen zum Lebendigen und zur Seele,
von der naturgebundenen zur geisterfüllten Seele. Von jeder Stufe
aus ergibt sich ein eigentümlicher Durchblick der Wirklichkeit; der
Kampf wird nicht enden, ob die unterste oder die oberste Stufe den
Ausgangspunkt der Erklärung zu bilden habe. Die Philosophie kann
nicht umhin, die Wirklichkeiten, welche sich auf der höchsten Lebens-
stufe eröffnen, als die tiefsten Offenbarungen zu behandeln und von
ihnen aus das Bild des Ganzen zu entwerfen. Aber nun erfährt
sie, daß die von dort entwickelten Größen für die Welt unter uns
nicht passen, daß diese ihnen eine starre Eigenart entgegensetzt, auch
erfährt sie, daß diese Welt durch ihr ganzes Wirken und Sein jene
höhere Stufe als eine gleichgültige Nebensache behandelt. Weder
mit seinen Begriffen noch mit seinen Kräften scheint in unserer
Welt sich durchsetzen zu können, was wir für den Kern aller Wirk-
lichkeit zu erachten nicht lassen können. Überall der Widerspruch,
daß an den Menschen seine geistige Natur Anforderungen stellt,
denen seine bloßmenschliche Art nicht zu entsprechen vermag; die
geistige Selbsterhaltung zwingt ihn, Wahrheiten zu bejahen, denen
sein intellektuelles Vermögen nicht voll gewachsen ist, ihren Grund-
gedanken energisch zu behaupten, ohne ihm eine angemessene Aus-
führung geben zu können. So bewirkt es notwendig eine geistige
Denken und Erfahrung. 117
Verarmung, wenn das intellektuelle Vermögen über den Gesamtinhalt
des Lebens entscheiden soll.
e) Würdigung des Rationalismus und des Empirismus.
Nach diesen Erörterungen läßt sich eine schiedsrichterliche
Würdigung der streitenden Gegner unternehmen; sie wird zeigen,
daß jeder bedeutende Wahrheitsmomente vertritt und sie siegreich
gegen den anderen kehrt, daß er aber ins Unrecht gerät und die
eigne Stellung nicht behaupten kann, sobald er bei sich selbst einen
letzten Abschluß sucht.
Der Rationalismus hat seine Stärke in der Verfechtung der
Selbständigkeit des Geisteslebens und seiner Überlegenheit gegen
alle Umgebung, in der Verfechtung der Überzeugung, daß das Leben
erstwesentlich nicht von außen nach innen geht, daß sich, um mit
Plato zu reden, nicht einem Blinden von außen her Augen einsetzen'
lassen. Ohne diese Überzeugung gibt es überhaupt keine Wahrheit.
Denn die volle Auslieferung unserer Erkenntnis an die Eindrücke
der Umgebung würde ihr alle Festigkeit, allen Zusammenhang, alle
innere Durchleuchtung rauben, würde sie der Zufälligkeit der bloßen
Individuen preisgeben. Es ist eine axiomatische Notwendigkeit, wenn
der Rationalismus dagegen ein a priori verficht. Nur sei dabei das
a priori nicht als eine in der Seele jedes Einzelnen fertig vorhandene
Größe, sondern es sei als ein Grundgesetz des Geisteslebens ver-
standen, das der Mensch sich erst aneignen muß. Ein solches
a priori enthält die Behauptung, daß das Geistesleben Normen in
sich trägt, die das Streben aus aller Irrung immer wieder zur Wahrheit
lenken; es enthält auch die Behauptung, daß das Geistesleben seinem
Wesen nach übergeschichtlicher Art ist, kein bloßes Produkt der
Geschichte bildet. Ohne solche Übergeschichtlichkeit könnte es nie die
geschichtlichen Bildungen einer überlegenen Kritik unterwerfen, sondern
würde es ganz und gar ihrem Wechsel und Wandel ausgeliefert.
Mit der Verfechtung so unerläßlicher Wahrheit hat der Rationa-
lismus ein überlegenes Recht gegenüber dem Empirismus. Aber er
gerät ins Unrecht, indem er jene Wahrheiten unmittelbar glaubt er-
reichen zu können, indem er das hohe Ziel als eine gegenwärtige
oder doch leicht zugängliche Tatsache behandelt. Dies geschieht,
indem er ohne weiteres das menschliche Geistesleben als Geistes-
leben an sich, als absolutes Geistesleben behandelt und damit den
118 Zum Erkenntnisproblem.
Sinn für das Charakteristischmenschliche, auch für die Schranken
des Menschen abstumpft; es geschieht, indem er Leistungen, die das
Denken nur im Zusammenhange mit dem Ganzen eines selbständigen
Geisteslebens aufzubringen vermag, ihm selber zuweist und damit
den Gedankengrößen ihre belebende Tiefe nimmt; es geschieht, in-
dem er unser Geistesleben ohne weiteres auf sicherem Wege glaubt
und keinerlei innere Verwicklungen anerkennt.
Alles zusammen gibt dem Rationalismus die Neigung, das Dunkle
und Feindliche unserer Weltlage abzuschwächen und wegzuerklären, das
Individuelle dem Allgemeinen, den Inhalt der Form zu opfern.
Daraus entsteht eine viel zu glatte, dünne, blutlose Wirklichkeit, das
Denken wie das Leben gerät ins Abstrakte, Formale und Schatten-
hafte. — So zeigt es besonders anschaulich das Bild der Geschichte,
das der Rationalismus in der Wendung zur spekulativen Begriffs-
konstruktion erzeugt. Die Bewegung scheint hier von vornherein
im Element der Vernunft befindlich, da sie in Wahrheit den Ver-
nunftcharakter erst zu erringen und immer von neuem zu bestätigen
hat; hier dünken alle Gegensätze und Kämpfe nur ein Mittel zur
Steigerung der Vernunft, und alles Irrationale scheint sich schließlich
in eine große Harmonie aufzulösen, während in Wahrheit der Kampf
nicht bloß innerhalb der Vernunft, sondern mehr noch um sie ge-
führt wird, und jedes Mehr der Vernunft in menschlichen Ver-
hältnissen auch die Unvernunft zu steigern pflegt; hier scheint die
eine Epoche auf der anderen sicher fortzubauen und, was an welt-
geschichtlicher Erfahrung erwächst, dauernd gesichert zu sein, da in
Wahrheit der Kampf immer wieder in die letzten Elemente zurück-
greift, eine feste Grundlage immer neu zu erringen ist, und alle
Erfahrung geistiger Art immer neu zum Probleme wird; hier er-
scheint der Mensch als ein reines Werkzeug der geistigen Arbeit,
da vielmehr seine Neigung überwiegend dahin geht, das Geistesleben
der natürlichen und sozialen Selbsterhaltung unterzuordnen, es da-
mit arg zu verkehren und seinen eignen Zwecken zu entfremden.
Bei solcher Verkennung des Dunklen und Feindlichen verliert die
Geschichte ihre Kraft und Tiefe; je ausschließlicher jene rationa-
listische Behandlung durchgeführt wird, desto mehr entleert und
verflüchtigt sie die Wirklichkeit. Wird dagegen klar, daß sich das
geschichtliche Leben nicht in sicherem Fortgang aufbaut, sondern
daß immerfort um das Ganze gekämpft, immerfort eine Bejahung
des Ganzen vollzogen werden muß, so tritt vor den Prozeß die
Denken und Erfahrung. \\g
freie Tat, und es entfällt alle Möglichkeit einer rationalen Kon-
struktion.
So muß das Sichausleben des Rationalismus einen Rückschlag
in der Richtung des Empirismus mit seinem Durst nach Tatsäch-
lichkeit und seiner willigen Anerkennung der Schranken des Menschen
erzeugen, wie denn auch auf geschichtlichem Boden der Empirismus
namentlich da zu Macht und Ansehen gelangt ist, wo die Mängel
eines überkommenen Rationalismus augenscheinlich wurden. Auch
den Hintergrund des neuesten Empirismus bildet der Widerwille
gegen die spekulative Begriffskonstruktion.
Aber der Empirismus bringt den Erfahrungscharakter unserer
Gedankenwelt keineswegs zu angemessenem Ausdruck, er faßt den
Prozeß der Erfahrung in einem schroffen Gegensatz zur Selbsttätig-
keit, ohne die es doch kein wissenschaftliches Erkennen gibt. Indem
er alles selbständige Geistesleben leugnet, muß er vom bloßen
Menschen aus eine Geistigkeit und zugleich eine Erkenntnis zu
entwickeln suchen. Dies aber, was in Wahrheit unmöglich ist,^ kann
einen leidlichen Schein des Gelingens nur erreichen, indem es ver-
steckterweise eine geistige Welt voraussetzt und ihr entlehnte Größen
verwendet. Damit aber ergibt sich bis ins Einzelne hinein ein
schiefer Anblick der Wirklichkeit. Der Empirismus richtet beim Er-
kenntnisprozeß das Augenmerk gänzlich auf die Leistung und über-
sieht die geistige Tätigkeit, die darin wirkt; er haftet am Gegenstand
und vergißt, daß er für uns etwas nur durch unser Aneignen wird;
er sieht die Determination des Erkennens durch die Erfahrung, aber
er sieht nicht, daß diese Determination innerhalb eines umfassenden
Gedankenraumes und durch die eigne Bewegung des Geistes, nicht
durch eine Mitteilung von außen erfolgt; - er ist so ausschließ-
^ Die Unmöglichkeit mit den Mitteln des Empirismus zu einer Wissen-
schaft zu gelangen, ist eben neuerdings von hervorragenden Forschern nach-
drücklich hervorgehoben. Windelband (Präludien, 2. Aufl., S. 303) nennt
es einen „hoffnungslosen Versuch, durch eine empirische Theorie dasjenige
zu begründen, was selbst die Voraussetzung jeder Theorie bildet", und Husserl
(Logische Untersuchungen L Bd , S. HO) bemerkt zum gleichen Gegenstande:
„Der schwerste Vorwurf, den man gegen eine Theorie der Logik erheben
kann, besteht darin, daß sie gegen die evidenten Bedingungen der Möglich-
keit einer Theorie überhaupt verstoße."
- Nicht ohne Schuld daran ist der Sprachgebrauch, indem er Erfahrung
und Denken einander entgegensetzt, als vermöge die Erfahrung etwas ohne
das Denken zu leisten. Mit Recht bemerkt dagegen schon Robert Boyle (the
120 Zum Erkenntnisproblem.
lieh von der Fülle des Einzelnen eingenommen, daß er ihren Zu-
sammenhang wie selbstverständlich erachtet und über den Bäumen
den Wald nicht sieht. Dem Empirismus scheint aus den Dingen
entgegenzukommen, was in Wahrheit die Tätigkeit in sie hinein-
gelegt hat, wie z. B. der Begriff der Erfahrungswelt alles eher als
ein Erzeugnis der bloßen Erfahrung ist.^ Daß es ein Gesamtproblem
der Erfahrung gibt, d. h. daß der Boden, auf dem Erfahrung ent-
steht, erst zu gewinnen ist, auch daß wir bei der Wahrheit nicht
nur um einzelne Daten, sondern um Gesamtgestaltungen und Ge-
samtüberzeugungen kämpfen, das sollte nach Kant nicht so leicht
verdunkelt werden. Es kann sich aber dem Empirismus nur ver-
dunkeln, weil ihm nur besondere Seiten der Wirklichkeit gegenwärtig
sind, die ihre Tiefe und ihren Umfang in keiner Weise erschöpfen.
Es geschieht das sowohl nach Seite des Subjekts als nach Seite
des Objekts, wie es in Kürze heißen mag. Da unser Denken und
Leben sich zunächst in Bewußtseinsvorgängen abspielt, so bleibt der
Empirismus dabei stehen und verkennt, daß der Inhalt des Bewußt-
seins selbst nicht ohne ein tiefer gegründetes Selbstleben des Geistes
verständlich ist, nicht ohne eine Umkehrung der ersten Ansicht, wie
sie schon in der Bildung eines einheitlichen Ich erfolgt, wie sie aber
namentlich alle innere Synthese erst möglich macht; ohne eine solche
aber gibt es keine Wissenschaft. Das Seelenleben in ein Neben-
einander einzelner Bewußtseinsvorgänge auflösen, das heißt allen
Innern Zusammenhang preisgeben und damit auch die Möglichkeit
einer Wissenschaft von Grund aus zerstören.
Christian virtuose gegen Schluß): When we say, experience corrects reason,
'tis an improper way of speaking, since tis reason itself, that upon the In-
formation of experience corrects the judgment it had made before.
* Merkwürdig ist es überhaupt, wie oft man sich heute auf eine Erfahrung
beruft, ohne zuvor ihre Bedingungen irgend zu untersuchen und ihre Mög-
lichkeit zu sichern. Nirgends dürfte dies heute mehr geschehen als auf
pädagogischem Gebiet. Man richtet neue Schulgattungen ein und erklärt
bald, die Erfahrung habe sie als vortrefflich erwiesen; man neigt dahin, Ein-
richtungen fremder Völker einzuführen und beruft sich dafür auf die Be-
währung durch die Erfahrung bei jenen. Aber ist gesagt, daß was dem einen
Volke frommt, für das andere, vielleicht unter wesentlich anderen Lebens-
bedingungen befindliche, ebenfalls passe? Und wenn eine Einrichtung hie
und da vielleicht unter besonders günstigen Bedingungen gute Erfolge hat,
ist damit ein durchgängiger Vorzug erwiesen? Die Erfahrung hefert ein
Zeugnis nur, wo wesentlich gleiche Umstände vorliegen; ob aber dies der
Fall, darum pflegt man sich wenig zu kümmern.
Denken und Erfahrung. 121
Nach Seite des Objekts aber haftet der Empirismus viel zu aus-
schheßlich an der äußeren Natur und verkennt die EigentümHchkeit
der anderen Daseinsgebiete. Was von seinen Lehren ein gewisses
Recht gegenüber der Natur hat, das wird zum Unrecht in der Aus-
dehnung über die ganze Welt. Was uns an sinnlicher Wirkung
zugeht, das läßt sich nie voll in geistige Tätigkeit umsetzen und
von innen aus entwickeln; so verbleibt hier immer eine Fremdheit
und Gebundenheit, und es ist über ein Registrieren und Beschreiben
nicht hinauszukommen. Aber schon beim ersten Anblick des mensch-
lichen Lebens und Strebens stellt sich die Sache anders. Auch hier
werden zunächst uns einzelne Vorgänge zugeführt, aber es verbleibt
nicht beim bloßen Eindruck, jene lassen sich auf den erzeugenden
Lebensprozeß zurückverfolgen und mit einander verbinden; indem
der Betrachtende sich in diesen Prozeß zu versetzen vermag, kann
er das Fremde in eignes Leben verwandeln. Kann aber so der
Mensch mit dem Menschen leben und fühlen, ihn nicht bloß wie
ein fremdes Ding von außen betrachten, so ergibt sich über das bloße
Beschreiben hinaus ein Erkennen. Noch weiter aber gelangen wir,
wenn innerhalb des menschlichen Kreises ein Geistesleben anerkannt,
hier der Standpunkt der Erkenntnisarbeit gewählt, die Gesamtheit
des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens sowohl als der Erfahrungen
am einzelnen Punkt darauf bezogen, von dort durchleuchtet und
zusammengefaßt wird. Nun und nimmer kann sich hier die Be-
handlung eine bloße Feststellung der dargebotenen Erscheinungen
genügen lassen, sie muß eine innere Aneignung, mit ihr aber ein
Messen und Umwandeln vollziehen. Denn was im menschlichen
Kreise an Entfaltung des Geisteslebens vorliegt, das ist seinem ersten
Befunde nach mit so vielem Zeitlichen, Menschlichen, ZufäUigen
behaftet, daß keine Klärung ohne eine energische Scheidung und
eine Zurückführung zur eignen Art erfolgen kann, zugleich gilt es
hier, aus den besonderen Beziehungen und Richtungen, in denen
jenes Leben vorliegt und aufstrebt, ein umfassendes Ganzes erst
herauszuheben, von ihm her jene Mannigfaltigkeit aufzuhellen und
sie zu einem Zusammenhange zu verbinden. In Wahrheit liegt die
Höhe dessen, was sich dem Menschen an Erkenntnis erschließt, an
dieser Stelle: in den charakteristischen Entfaltungen des Geisteslebens
und dem Aufbau einer geistigen Welt; hier liegt daher auch die
Entscheidung über das Ganze der Weltanschauung, von hier aus ist
der Gesamttypus unserer Weltanschauung zu entwerfen, von hier
122 Zum Erkenntnisproblem.
aus muß irgendwelche Würdigung auch das finden, was das mensch-
liche Dasein an Schranken und Widersprüchen enthält. Das alles
ist voller Erfahrungen, voller Bewegungen und Vertiefungen, die
nun und nimmer aus bloßen Begriffen hervorgehen können, es liegt
damit durchaus jenseit der Sphäre des bloßen Rationalismus, es
liegt aber ebenso gewiß über allem Vermögen des bloßen Empirismus.
Beiden fehlt die deutliche Abhebung des Geisteslebens vom mensch-
lichen Dasein: das treibt den Rationalismus zur Überspannung des
Menschen, den Empirismus zur Verleugnung des Geisteslebens; jener
vermag dem Erkennen keinen lebendigen Inhalt, dieser vermag ihm
keinen wissenschaftlichen Charakter zu geben. Beiden ist auch der
Fehler gemeinsam, das Erkennen nicht einem größeren Ganzen des
Geisteslebens einzufügen und im Zusammenhang damit das Er-
kenntnisproblem zu behandeln; bei solcher Isolierung wird das
Erkennen entweder zu niedrig oder zu hoch bewertet. Beide ver-
treten dabei dem Erkennen unentbehrliche Momente: der eine die
Ursprünglichkeit, der andere die Tatsächlichkeit. Aber es bedarf
eines neuen Standortes, um diese Wahrheitsmomente zu einem Ganzen
zu verbinden und weder einseitig an der Größe noch an der Schranke
des menschlichen Erkennens zu haften, sondern Schranke und Größe
mit einander anzuerkennen. Wenn der Empirismus trotz aller augen-
scheinlichen Schwächen immer von neuem aufsteigt und die Menschen
überwältigend fortreißt, so liegt das weniger an seiner eignen Leistung
als an den Mängeln des Wahrheitsbegriffes, der im Rationalismus
zu überwiegen pflegt. Daß er die Wahrheit über die Meinung und
Spaltung der Menschen emporhebt, ihr eine völlige Unabhängigkeit
vom Menschen gibt, das bleibt sein Verdienst und sein Recht; wo
dies Recht irgend unsicher wird, da ist eine Vernichtung der Wissen-
schaft nicht zu verhüten. Aber solange der Abstand nicht irgend-
welche Überwindung findet und die Wahrheit nicht irgendwie zu
unserer eignen Sache gemacht wird, behält sie etwas Kaltes und
Totes; unerfindlich bleibt, wie sie uns mit überwältigender Kraft zu
bewegen, und wie sie das Ganze des Lebens zu erhöhen vermag.
So sehr wir es ablehnen müssen, die Wahrheit mit dem Pragmatis-
mus nach der Brauchbarkeit für das Leben zu messen, sie über-
haupt nach einem draußenliegenden Ziele zu messen, so muß doch
das Erfassen der Wahrheit als Entwicklung eines neuen Lebens ver-
standen und die Sache als nicht jenseit, sondern innerhalb des Lebens
befindlich verstanden werden. Es handelt sich schließlich nicht
Denken und Erfahrung. 123
darum, eine Wirklichkeit zu erfassen, die jenseit des Lebens liegt,
sondern ein Leben zu gewinnen, das eine Wirklichkeit aus sich
entwickelt. In Verfolgung dieser Bahn läßt sich ein innigeres Ver-
hältnis zur Wahrheit erreichen, ohne daß wir dem Empirismus ver-
fallen, der zu keiner Wahrheit gelangen würde, wenn er nicht den
Glauben an sie zu seiner Arbeit schon mitbrächte.
In dem Empirismus und dem Rationalismus wirken, wie wir
sahen, entgegengesetzte geistige Strömungen; von der Art und Lage
der Zeiten wird es abhängen, ob diese oder jene jeweilig das Über-
gewicht gewinnt. Wo der Gedankenkreis als im wesentlichen ge-
schlossen und wohl übersehbar gilt, wie im Altertum und im Mittel-
alter, auch bei der deutschen konstruktiven Philosophie, da wird
die innere Leistung voranstehen, da wird man sich zu einer Unter-
schätzung der Erfahrung neigen. Wo hingegen die Empfindung
der Enge des bisherigen Gesichtskreises vorwaltet und ein Verlangen
nach Erweiterung aufkommt, da wird von der Erfahrung alles Heil
erwartet und leicht die weiterbildende, ja umwandelnde Tätigkeit
geistiger Art übersehen. So geschah es bei Bacon, so geschah es
im 19. Jahrhundert und geschieht es vielfach auch heute. Die un-
ermeßliche Erweiterung des Gesichtskreises in Natur und Geschichte,
die das 19. Jahrhundert vollzog, mußte besonders stark in Deutsch-
land wirken, weil ihr hier ein energischer Rückschlag gegen die
zu straffe Zusammenfassung der konstruktiven Systeme zur Seite ging.
Aber je mehr eine solche empiristische Bewegung sich ausdehnt
und je ausschließlicher sie das Feld einnimmt, desto notwendiger
wird eine Gegenwirkung. Wir sahen den Empirismus zu einem
leidlichen Abschlüsse nur kommen, weil er innerhalb einer vorge-
fundenen, seinen eignen Begriffen überlegenen, ja widersprechenden
Gedankenwelt wirkt; diese Gedankenwelt aber muß um so mehr
erschüttert und aufgelöst werden, je selbständiger und je unduld-
samer jene Richtung wird. So untergräbt sie durch ihren eignen
Fortgang die ihr unentbehrlichen Ergänzungen und muß daher im
äußeren Siege innerlich zusammenbrechen; ihre Unzulänglichkeit
wird sonnenklar, sobald sie aus eignen Mitteln alles bestreiten will.
Eine solche Wendung sehen wir trotz aller Gunst, deren sich der
Empirismus noch in lebensfremden exaktwissenschaftlichen Kreisen
erfreut, auch jetzt sich vorbereiten. Immer deutlicher wird, daß alle
Aufschichtung und Anordnung von Kenntnissen noch keinerlei Er-
124 Zum Erkenntnisproblem.
kenntnis, keinerlei Ideen, keinerlei Überzeugungen gewährt, daß aber
ohne solche der Mensch nicht auskommen kann, wenn anders er
ein Seelenwesen bleiben, nicht zu einer Kulturmaschine herabsinken
soll. Es ist eine Notwendigkeit des geistigen Lebens, es ist im be-
sondern die eigentümliche Lage der gegenwärtigen Kultur, welche
das Denken zwingend über den Empirismus hinaustreibt. Ohne
eine Selbständigkeif und Ursprünglichkeit des Denkens kann keine
Kultur bestehen. Aber jene Selbständigkeit läßt sich übersehen und
vergessen, so lange das Leben in vermeintlich sicheren Bahnen fort-
läuft, so lange es nicht von schweren Verwicklungen und Wider-
sprüchen bedroht wird. Heute aber stehen wir ganz und gar unter
dem Eindruck schwerer Verwicklungen und Widersprüche, wir er-
kennen die Notwendigkeit einer gründlichen Revision des gesamten
Kulturbesitzes, die Notwendigkeit einer energischen Ausscheidung
alles welk und unwahr Gewordenen, einer kräftigen Zusammen-
fassung und Steigerung aller Wahrheitselemente; ja so tief geht die
Erschütterung, daß die Ungewißheit in die letzten Elemente zurück-
greift und um das Ganze des Geisteslebens zu kämpfen zwingt.
Wie sollten wir nun bei solchen Aufgaben irgend weiter gelangen
ohne ein Vermögen selbständiger und ursprünglicher Tätigkeit, ohne
eine Selbstbesinnung und Selbsterweckung des Geisteslebens, ohne
eine geistige Erhöhung und Erneuerung, welche neue Möglichkeiten
entwirft und neue Tatbestände erschließt? Das alles aber liegt dem
Empirismus fern. So notwendig daher die Zeit einer Innern Wand-
lung bedarf, so notwendig muß sie ihn hinter sich lassen. So sehr
wir nun die Wendung der philosophischen Forschung der Gegen-
wart zum Idealismus begrüßen, und so sehr wir die Scheu verstehen,
dabei die Art der alten Metaphysik wiederaufzunehmen: so gewiß
wir einer gründlichen Erneuerung und durchgreifenden Kräftigung
des Lebens bedürfen, ebenso notwendig bedürfen wir eines Idealismus
aufrüttelnder und vordringender Art, ein solcher Idealismus aber darf
nicht bloß ein kritischer, er muß auch ein positiver sein. Denn so
bedeutend der kritische Idealismus, der heute auf der Höhe der
philosophischen Forschung vorherrscht, darin ist, dem Realismus
und Empirismus seine Grenze zu weisen, im besondern darzutun,
daß sie nur mit versteckter Hülfe des Gegners ein Ganzes des
Lebens und Wissens erreichen, so entschieden er ferner in einzelnen
Hauptrichtungen des Lebens das Wirken und Walten einer neuen
Ordnung der Dinge zeigt, er faßt diese Hauptrichtungen nicht ge-
Denken und Erfahrung. 125
nügend in ein Ganzes zusammen; ein Ganzes aber ist unentbehrlich,
wenn der Mensch in jener Bewegung sein geistiges Selbst ergreifen,
den Schwerpunkt seines Lebens dahin verlegen und zugleich eine
Umkehrung seines Leben vollziehen soll. Ohne eine solche, ohne
eine Versetzung in ein ursprüngliches Leben von der anderen Seite
her kann aber das neue Leben schwerlich die Kraft gewinnen, um
einer andersartigen Ordnung gegenüber selbständig zu werden und
sich gegen die ungeheuren Hemmungen durchzusetzen, welche die
nächste Weltlage bietet. Demnach treibt uns nicht eine Lust an
intellektuellen Abenteuern zur Metaphysik, sondern die unerläßliche
Forderung einer Selbsterhaltung des Geisteslebens.
2. Mechanisch — organisch.
(Teleologie.)
I |ie Begriffe und Probleme Mechanisch und Organisch haben
*-^ eine besonders reiche Geschichte. Sie zeigt nicht nur große
Gegensätze der Weltanschauung und Methodenlehre und einen harten
Kampf um den Charakter der wissenschaftlichen Arbeit, sie ist auch
voll feinerer Nuancen und leiserer Schwingungen und ergibt damit
einen eigentümlichen Durchblick der Gesamtbewegung. Die Gegen-
sätze der Jahrtausende aber erstrecken sich bis in die Arbeit der
Gegenwart. So sei bei diesem Problem unser Augenmerk vornehm-
lich der Geschichte zugewandt.
a) Zur Geschichte der Ausdrücke und Begriffe.
Wie die Ausdrücke mechanisch und organisch, so sind auch
die Begriffe alt, aber erst spät haben sie einander gefunden. Mechanisch
erscheint, als technische Bezeichnung der Kunst der Erfindungen, der
Herstellung von Maschinen, wie ein eingebürgerter Ausdruck bei
Aristoteles (i^ (A7];^avixrj, rä (XTj^^avtxa), dessen Namen trägt eine
spätere Schrift [A7]x^avix,a. i In diesem Sinne durchlief das Wort die
Jahrtausende und dient es seit Descartes zur Bezeichnung einer
Theorie, welche die Bildung der Natur, nach Art der menschlichen
Werke, nicht aus einer Innern Triebkraft des Ganzen, sondern aus
der Zusammenfügung kleiner von Haus aus bewegter Teilchen des
Stoffes erklärt; die Werke der Natur scheinen von denen des Menschen
nur durch ihre größere Feinheit, also quantitativ, nicht qualitativ
^ In dieser Schrift wird der Ausdruck so erklärt: "OTav oeV, Tt Tiapa
(pUatv ::pa^at, Siot xo j^aXsröv änopiav riapiyji xai oelrai xe'yvy)?. 8io xai xaXoü(jL£v
rr,i -ziy(yri<i to Ttpö; ta? xotaux«? ar.oploic, ßor]0-ouv [lipoc, |jL7])(^av7Jv (Arist. 847 a, 16).
Die Kunst erscheint hier als eine Art Überlistung der Natur.
Mechanisch — organisch. 127
verschieden.^ Die technischen Mittel der Erklärung liefert dabei die
theoretische Mechanik als Bewegungslehre. 2 In Umlauf dürfte den
Terminus mechanisch namentlich der Chemiker und Philosoph Robert
Boyle gebracht haben, der ihn besonders liebte und gern auf dem
Titel seiner Werke verwandte. Selbst am Ausdruck „Natur" nahm
er Anstoß und wollte ihn durch mechanismus universalis ersetzt
wissen.
Die Naturwissenschaft der folgenden Zeiten faßte den Terminus
bald laxer, bald strenger; Erörterungen darüber waren gang und
gäbe. Aber gewöhnlich wurde unter mechanischer Erklärung eine
Erklärung körperlicher Beschaffenheiten aus der Figur und Bewegung
verstanden. Eine Übertragung auf seelische Vorgänge lag dabei
zunächst ganz fern, mechanisch und materiell gelten oft als gleich-
bedeutend. ^ Eine mechanische Erklärung seelischer Vorgänge heißt
daher zunächst eine Ableitung aus bloß körperlichen Ursachen. In der
Sache aber unternimmt schon Spinoza, den Bestand des Seelenlebens
aus ,dem Zusammenwirken einzelner Vorstellungen zu erklären, wie
^ Descartes sagt: (principia philos. IV, § 203): »Nullum aliud inter
ipsa (sc. arte facta) et corpora naturalia discrimen agnosco, nisi quod arte
fadorum operationes ut plurimum peraguntur instrumentis adeo magnis, ut
sensu facile percipi possint: hoc enim requiritur, ut ab hominibus fabricari
queant. Contra autem naturales effectus fere semper dependent ab aliquibus
organis adeo minutis, ut omnem sensum effugiant. Danach bringt jede
Verfeinerung der Maschinen die Kunst der Natur ein Stück näher.
^ Descartes princ. phil. IV, §200: Figuras et motus et magnitudines
corporum consideravi atque secundum leges Mechanicae, certis et quotidianis
experimentis continuatas, quidnam ex istorum corporum mutuo concursu
sequi debeat, examinavi. — § 203 : Et sane nullae sunt in Mechanica rationes,
quae non etiam ad Physicam, cujus pars vel species est, pertineant, nee minus
naturale est horologio ex bis vel illis rotis composito, ut horas indicat, quam
arbori ex hoc vel illo semine ortae, ut tales fructus producat. Quamobrem
ut ii qui in considerandis automatis sunt exercitati, cum alicujus machinae
usum sciunt et nonnullas ejus partes aspiciunt, facile ex istis, quo modo aliae
quas non vident sint factae, conjiciunt; ita ex sensilibus effectibus et partibus
corporum naturalium, quales sint eorum causae et particulae insensiles, investi-
gare conatus sum.
' So stellt Descartes selbst dem Un körperlichen das mechanicum et
corporeum entgegen (Briefe I, 67), und dieselbe Bedeutung liegt vor, wenn
Wolff (psych, rat. § 395) behauptet, daß die Einsichten der anschauenden
Erkenntnis (cognitio symbolica) mechanice quoque in cerebro absolvi —
nihil inesse notioni, qua quid in universal! repraesentatur, quod non aeque
mechanice repraesentatur in corpore.
128 Zum Erkenntnisproblem.
er denn die Seele eine geistige Maschine nennt (automaton spiritu-
ale). Leibniz verfeinert das trotz seiner Betonung der Einheit der
Seele. ^ Wolff und die französischen Psychologen des 18. Jahr-
hunderts bilden es näher durch. Schließlich kommt es auch zu
einer Übertragung des Wortes, und „mechanisch" wird erst bildlich,
dann lehrhaft für das Innere der Seele verwandt.- Kant verallge-
meinert den Ausdruck, indem er ihn überträgt auf »alle Notwendig-
keit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der
Kausalität, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die
ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein müßten."
In der Naturphilosophie aber entwickelt er klar und scharf den Gegen-
satz einer mechanischen und einer dynamischen Erklärung.^
Auch organisch begegnet uns zuerst bei Aristoteles, dem großen
Bildner der Sprache. Aber es hat dort einen anderen Sinn als jetzt.
Entsprechend dem Stammwort opyavov, Werkzeug, bedeutet organisch
„werkzeuglich", es wird gebraucht vom Ganzen des lebendigen,
zweckmäßig angelegten Körpers, öfter aber von einzelnen Körper-
teilen, nämlich solchen, welche aus ungleichartigen Bestandteilen
zusammengesetzt sind. So gewiß der Begriff nur Lebewesen zu-
kommt, so enthält er selbst nicht das Merkmal inneren Lebens, er ist
daher auch nicht über das besondere Gebiet hinaus zur Bezeichnung
^ S. z. B. Erdm. 153: II faut considerer aussi que l'äme, toute simple
qu'elle est, a toujours un sentiment compose de plusieurs perceptions ä la
fois;'Ce qui opere autant pour notre but, que si eile etait composee de pieces
comme une machine.
- Bei Lessing sieht man die Übertragung noch im Werden, er sagt im
7. Literaturbriefe: „Wenn diese Veränderung durch innere Triebfedern, (mich
plump auszudrücken) durch den eigenen Mechanismus seiner Seele erfolgt
ist." Mit besonderer Energie hat Herbart die Vorstellung von einer Mechanik
des Innenlebens durchgeführt; er erklärt es (III, 255) als Aufgabe, „den
Organismus der Vernunft aufzulösen in seine einfachen Fibern, die Vor-
stellungsreihen, deren Entstehung nur aus der Mechanik des Geistes konnte
erklärt werden."
^ S. IV, 427 (Hart.): „Die Erklärungsart der spezifischen Verschiedenheit
der Materien durch die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer kleinsten
Teile, als Maschinen, ist die mechanische Naturphilosophie; diejenige aber,
welche aus Materien, nicht als Maschinen, d. i. bloßen Werkzeugen äußerer
bewegender Kräfte, sondern ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften
der Anziehung und Zurückstoßung die spezifische Verschiedenheit der Materie
ableitet, kann die dynamische Naturphilosophie genannt werden."
Mechanisch — organisch. 129
eines lebendigen Ganzen, etwa in der politischen Theorie, verwandt;
es gibt bei Aristoteles Stellen, wo ^pyavijcd; sich kaum anders als
mit mechanisch übersetzen läßt. ^ Diesen Sinn behielt das Wort un-
verändert durch Mittelalter und Neuzeit hindurch bis in das 18. Jahr-
hundert. - Jenen Begriff des Werkzeuglichen konnte sich auch die
neue mechanische Theorie aneignen, unbedenkHch wurden im 18. Jahr-
hundert organische (natürliche) und künstliche Maschinen dem Be-
griff der Maschine untergeordnet; von organischen Maschinen zu
sprechen hatte damals gar nichts Befremdliches. ^
Erst das Aufsteigen der deutschen Blütezeit mit ihrem Verlangen
nach einer Beseelung und eignen Bewegung der Natur hat dem
Ausdruck organisch das Merkmal des Lebendigen hinzugefügt und
es zur Hauptsache gemacht. Besonders hat dahin Kant mit seinen
präzisen Begriffen und Unterscheidungen gewirkt, aber auch Herder,
Jacobi u. a. seien nicht vergessen.^ Von den natürlichen Lebewesen
übertrug sich die neue Bedeutung zunächst auf Staat und Gesell-
schaft, ^ dann auf Recht, Geschichte u. s. w. Organisch wird nament-
' S. Z. B. rapl yevEJEw; xa\ (pO-opä? 336a, 2: xal xa? Suvatisi? aTioStSdaai
Tot; atüjiaat, Bi a; yEvvtiJsi, Xiav 6pyavtxt3;, oupaipoüvTe; ttiv xaxa to eiSo; atttav.
Pol. 1259 b, 23: aroprJoEtev av Ti;, Tco'xEpov ettiv ap£Tr' xt; SouXou napa xa;
opyavixa; xat Staxovtxas oXXrj TijJUWTEpa xouxtov.
* Der letzte bedeutende Ausläufer der Scholastik, Suarez (1548—1617),
sagt (de anima I, 2, 6): Dicitur corpus organicum, quod ex partibus dissi-
milaribus componitur. Noch für den Sprachgebrauch der Wolffischen Schule
bezeugt Baumeister: Corpus dicitur organicum, quod vi compositions suae
ad peculiarem quandam actionem aptum est.
^ Saint-Simon nannte noch um 1813 die Gesellschaft eine veritable
machine organisee (s. Paul Barth, Vierteljahrsschr. f. wissenschaftl. Philos.
XXIV, I, S. 72).
* Kant definiert (V, 388 Hart.): „Ein organisiertes Produkt der Natur
ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist." S. 386
heißt es: „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine; denn die
hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und
zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie
organisiert)". Jacobi (Hume 172): „Um die Möglichkeit eines organischen
Wesens zu denken, wird es notwendig sein, dasjenige, was seine Einheit
ausmacht, zuerst: das Ganze vor den Teilen zu denken." Sachlich wurden
damit nur aristotelische Gedanken wieder aufgenommen und genauer formu-
liert. Kant spricht auch von einem „wahren Gliederbau" der reinen spe-
kulativen Vernunft, „worin alles Organ ist, nämlich alles um eines willen
und ein jedes Einzelne um aller willen" (III, 28 Hart.)
' Die Übertragung des Ausdrucks Organisation auf das politische Ge-
biet dürfte zuerst in den Bewegungen der französischen Revolution erfolgt
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 9
130 Zum Erkenntnisprablem.
lieh ein Lieblingswort der Romantik, es dringt aber zugleich über
einzelne Schulen und Richtungen hinaus in den allgemeinen Sprach-
gebrauch ein. Mechanisch und organisch, am Ursprung ziemlich
gleicher Bedeutung, bilden also schließlich den schroffsten Gegen-
satz und bezeichnen jetzt Hauptgegensätze der Weltanschauung.^
b) Zur Geschichte des Problems.
Der sachliche Gegensatz, den nunmehr die Worte bezeichnen,
reicht weit zurück, er hat im Altertum seine Hauptvertreter in
Demokrit und Aristoteles. Auf der Höhe des klassischen Altertums
gewinnt die organische Lehre, wie sie in Kürze heißen mag, die
entschiedene Oberhand. Die künstlerische und synthetische Denk-
weise jener Zeit stellt das Ganze vor die Teile, das Lebendige vor
das Leblose und erklärt von dort nach hier. Die Vorstellung — nicht
den Ausdruck — des Organismus hat namentlich Aristoteles dafür
eingebürgert, von dem auch die Formel stammt, daß bei einem
organischen Wesen das Ganze den Teilen vorangehe. ^ Die Vor-
stellung erstreckt sich sofort über ihr nächstes Gebiet hinaus- auf
sein, den innerlichen Sinn aber haben dem Worte erst deutsche Denker und
Dichter gegeben. Kant sagt (V, 387 Hart.): „Genau zu reden, hat die Or-
ganisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die
wir kennen" und fügt dem in einer Anmerkung hinzu: »Man kann um-
gekehrt einer gewissen Verbindung, die aber auch mehr in der Idee als in
der Wirklichkeit angetroffen wird, durch eine Analogie mit den genannten
unmittelbaren Naturzwecken Licht geben. So hat man sich, bei einer neulich
unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volkes zu einem Staat,
des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u. s. w.
und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes
Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zu-
gleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt,
durch die Idee des Ganzen wiederum seiner Stelle und Funktion nach be-
stimmt sein." In derselben Schrift (der K. d. Urteilskraft) sagt er S. 364 :
»So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er
nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine
Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird,
in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt."
^ So z. B. bei Trendelenburg, s. Log. Untersuchungen (3. Aufl.) II, 142ff.
* Pol. 1253a, 20 heißt es: xo oXov JupoTspov ava^xaiov etvai xou [xtpou?.
avatpou(xE'vou yap xoü oXou oux eaxat noui ouSk X^V^ ^^ Kl' op-wvufxw; tforcEp £i
xi? liycn xT^v Xi'd-ivTiv. 8ta<p^S-ap£toa yap Eoxat xoiauxr). Danach ist der Staat früher
als das Individuum.
Mechanisch — organisch. 131
den Staat und auf das Weltall, bald auch — freilich erst nach
Aristoteles und am meisten bei den späteren Stoikern — auf das
Ganze der Menschheit. Vom Altertum fließt sie in das Christentum
ein und gewinnt hier durch die religiöse Färbung eine besondere
Innigkeit. ^ Sie befestigt sich später zu der Idee der Kirche als des
mystischen Leibes (corpus mysticum) Christi. Sie erhält im Mittel-
alter mit seiner untrennbaren Verkettung von Geistigem und Sinn-
lichem eine greifbare Gestalt und beherrscht mit solcher die mittel-
alterUche Gesellschaftslehre; ^ sie ist ein Hauptstück des jener Zeit
eigentümlichen Ordnungssystems, das dem Einzelnen alle Geistig-
keit von einem Ganzen, und zwar einem sichtbaren Ganzen her zu-
gehen läßt.
Jene organische Lehre wirkte stark sowohl auf das praktische
Gebiet als auf das wissenschaftliche Verfahren. Dort gebot sie eine
unbedingte Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze, das ihm
erst zur Entwicklung seiner Vernunft verhelfe, aber zugleich gab
sie 'dem Einzelnen das Bewußtsein, innerhalb des Ganzen etwas
Eigentümliches und an seiner Stelle Unersetzliches zu bedeuten.
Mit besonderer Freude verweilt das spätere Altertum bei dem Ge-
danken, daß der Einzelne, nicht bloß ein Teil (i^ipo?), sondern ein
Glied (pi>.o;) des Weltalls sei. »Ich bin ein Glied des Ganzen
der Vernunftwesen«, diese Überzeugung tröstet einen Marc Aurel
in den Gefahren und Dunkelheiten des Lebens. Die alte Kirche
aber entwickelt namentlich die Vorstellung, daß alle Christen als
Glieder des gottgeweihten Gemeinwesens in Schicksal und Tat auf
einander angewiesen, einander solidarisch verbunden seien.
Nicht minder folgenreich ist jene Denkweise für die wissenschaft-
liche Arbeit. Denn hier quillt aus ihr die teleologische Betrachtung,
die sich vom Altertum mit mächtiger Wirkung bis in die Gegen-
wart erstreckt. War das Ganze das Ursprüngliche und Überlegene,
so bot es den Schlüssel zur Erklärung der einzelnen Glieder und
* Bezeichnend für den griechischen Ursprung der Vorstellungsweise ist
die Tatsache, daß unter den Evangelien nur das Johannesevangelium sie
bietet (Weinstock und Reben), das stark unter griechischen und philosophischen
Einflüssen steht.
^ Dem entspricht es, daß die Analogie zwischen dem Staat und einem
lebendigen Körper nicht beim allgemeinen Gedanken verbleibt, sondern gern
bis ins Einzelne ausgeführt wird. So hat z. B. Johann von Salisbury für
jeden Teil des Staates ein entsprechendes Körperglied aufzuweisen versucht
(s. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht III, 549).
9*
132 Zum Erkenntnisproblem.
Leistungen. Das Ganze aber war nach platonisch-aristotelischer
Vorstellung eine unwanddbare Form, ein bei sich selbst befindliches
und in sich selbst befriedigtes Leben; so setzte es aller Bewegung
einen festen Ziel- und Schlußpunkt, i Das reicht über das Gebiet
des Lebendigen hinaus in das gesamte All. Die Welt gilt hier als
ein lebendiges, fest ineinandergefügtes Ganzes, dem alles Einzelne
sich gliedartig einfügt; die Bewegungen laufen nicht wirr durchein-
ander, sondern eine jede strebt zu einem Endpunkt, um dort in ein
beharrendes, in sich vollendetes Wirken (evepysia) überzugehen.
Aber besonders fruchtbar ist jene Betrachtungsweise innerhalb ihres
Heimatsgebietes: bei den Lebewesen. Nicht nur werden hier bei den
einzelnen Tierarten alle Organe und Funktionen auf ein allumspannen-
des Leben bezogen und daraus verstanden, es erscheint auch alle
Mannigfaltigkeit organischer Bildung als Entfaltung eines einzigen
Normaltypus, der durch alle Stufen wirkt. Diesen Normaltypus zeigt
rein der Mensch, so läßt sich von ihm aus das weite Reich durch-
leuchten und der unermeßliche Stoff unter durchgehende Gedanken
bringen. Es entstand damit eine Art von vergleichender Anatomie
und Physiologie, sowie eine Entwicklungsgeschichte; auch das Seelen-
leben der Tiere wird vom Menschen her aufzuhellen gesucht. So
wenig uns jetzt jene Betrachtungsweise genügen kann, eine gewisse
Zusammenfassung und Anordnung des Stoffes hat sie ihrer Zeit und
langen Jahrhunderten geboten.
Auch im Altertum fehlte es nicht an Widerständen dagegen,
aber sie gelangten nicht aus bloßer Gegenwirkung zur Leitung der
Arbeit. Das geschah erst in der Neuzeit, wo der Kampf gegen
jene organische Lehre ein Hauptstück des Strebens nach Freiheit
und Klarheit wurde. Die Befreiung erfolgt zuerst im Gesamtzuge
des Lebens, indem das moderne Individuum die Bindung an eine
greifbare Organisation und die Vermittlung des Geisteslebens da-
durch als eine unerträgliche Bedrückung empfindet und abweist,
ein unmittelbares Verhältnis zum All erstrebt und daraus eine sichere
* S. Aristot. Physik 194 a, 28: i] Sk <puais te'Xo? xa\ ou ^vexa. av yap
ouve^^ous TT? xtvr-'<j£(jj? oüot); £<jti ti teXo? tt^ xtv/jaew?, touto Eo^^atov xai to ou
?V£xa. S. femer lQ9a, 30: im\ r, (pu'at? Sirrr, f| {ikv a; uXt) r S'w; jJioptpr', xeXoi;
8'auTT), Tou teXou; S'?vexa raXXa, auxr) av arj r ahla. f, -ou ?v£xa. Nach Aristo-
teles könnte der Zufall wohl einzelne zweckmäßige Bildungen hervorbringen,
nun und nimmer aber die durchgehende Zweckmäßigkeit; s. darüber das
zweite Buch seiner Physik.
Mechanisch — organisch. 133
Überlegenheit gegen alle sichtbare Ordnung erringt. So zuerst in
der Renaissance und in der Reformation, so auch in der politischen
und wirtschaftlichen Befreiung, wie sie namentlich von England aus-
ging. Mit solcher direkten Begründung des Lebens auf das Indi-
viduum scheint es unermeßlich an Kraft, Vernunft und Wahrheit zu
gewinnen. Alle Zusammenhänge erscheinen hier als das Werk der
Individuen, sie haben nur soviel Recht, als das Individuum ihnen
gewährt Nach Leibniz trägt das Individuum in sich die ganze
Unendlichkeit des Alls Und entwickelt sie aus sich selbst heraus;
wie fem liegt hier jene organische Lehre!
Gleichzeitig erfolgt auch eine Umwälzung der Wissenschaft
Die überkommene Erklärung der Natur aus dem Ganzen und Innern
wird unerträglich, man empfindet das als eine durchaus subjektive
Deutung, als ein bloßes Bild, das energisch abzuweisen ist, weil es
sich nicht als Bild, sondern als vollwichtige Erklärung gibt So
sind die Werke jener Zeit voller Klagen über die versteckte Bild-
lichkeit der scholastischen Lehre, mit ihren inneren Formen und
Kräften erscheint sie als ein «Asyl der Unwissenheit« (asylum igno-
rantiae, s. z. B. Oldenburg an Spinoza). Demgegenüber wird zur
Grundbedingung einer echten Erkenntnis, daß alles Innere aus der
Natur vertrieben und alle Zusammenhänge in kleinste Elemente auf-
gelöst werden; die Ermittlung und Verfolgung dieser Elemente ver-
spricht zugleich ein Durchsichtigmachen der bis dahin verworrenen
Wirklichkeit und eine Macht über die sonst unzugänglichen Dinge.
Denn vom Kleinen her lassen sie sich bewegen und umgestalten.
Für das Große der künstlerischen Art der Alten fehlt hier aller Sinn;
sie war ja auch durch die Scholastik aufs stärkste verkümmert. So
die mechanische Naturerklärung der Neuzeit; in direktem und be-
wußtem Gegensatz zur älteren Denkweise macht sie die Elemente
zur Hauptsache, unternimmt sie von ihnen her allen Aufbau, zerlegt
sie das überkommene Kontinuum bei Raum, Zeit und Bewegung in
diskrete Größen und gibt sie damit allererst eine exakte Begreifung
der Phänomene. Mit der Leugnung aller inneren Zusammenhänge
fällt natürlich auch die teleologische Betrachtung; die verschiedensten
Erwägungen verbinden sich zu ihrer Verwerfung: sie erscheint als
anthropomorph, als unklar, als unfruchtbar. Für die Einheit der
Natur haben jetzt statt der Zwecke die Gesetze zu sorgen, die überall
gleichmäßig wirken und als einfache Grundformen alle Mannigfaltig-
keit beherrschen. Das alles ergreift die Geister mit elementarer
134 Zum Erkenntnisproblem.
Gewalt, mit der neuen Denkweise scheint zuerst ein echtes Wissen
und zugleich ein Zeitalter der Wissenschaft aufzusteigen, alle bisherige
Arbeit konnte dafür nur als eine Vorstufe gelten.
Daß die neue Denkweise viele Fragen offen ließ und neue
Probleme hervorrief, konnte tieferen Geistern nicht entgehen. Der
bedeutendste Denker der Aufklärungszeit, Descartes, behandelt die
mechanische Theorie nur als ein Prinzip der exakten Naturbegreifung,
nicht als eine metaphysische Lehre von den letzten Gründen der
Dinge, er zieht zugleich eine scharfe Grenzlinie zwischen sich und
Demokrit. ^ Sein treuer Schüler Robert Boyle verficht eine zweck-
mäßig wirkende Ursache als ein unentbehrliches Gegenstück zu den
mechanischen Ursachen. ^ Berkeley macht geltend, daß die mechanische
Betrachtung nur die Gesetze und Formen (modes) des Geschehens
erkläre, nicht seine Ursache. Besonders tief greift Leibniz ein: er
entwickelt einen eigentümlichen Typus der Weltanschauung, indem
er die ganze Natur mit ihrem Mechanismus zur Erscheinung einer
geistigen Wirklichkeit macht, die letzten Einheiten, die für die
mechanische Betrachtung einen bloßen Grenzbegriff bilden, zur Haupt-
sache erhebt und sie als Monaden mit innerem Leben versieht.
Innerhalb der Natur will er alles mechanisch erklärt wissen, die
Prinzipien des Mechanismus aber scheinen selbst einer Erklärung
zu bedürfen und diese nur in einer zweckmäßig waltenden Welt-
vernunft finden zu können. ^ Es sieht aber Leibniz die Zweckmäßigkeit
der Naturgesetze darin, daß sie alle dem Ziele dienen, ein möglichst
großes Quantum von Kraft zur Existenz zu bringen. Überall findet
er die kürzesten Wege eingeschlagen und die einfachsten Mittel
* Die wichtigste Stelle dafür findet sich princ. philos. IV, § 202: (Demo-
criti philosophandi ratio) rejecta est, primo quia illa corpuscula indivisibilia
supponebat, quo nomine etiam ego illam rejicio; deinde quia vacuum circa
ipsa esse fingebat, quod ego nullum dari posse demonstro, tertio quia gravi-
tatem iisdem tribuebat, quam ego nullam in ulio corporum cum solum spec-
tatur, sed tantum quatenus ab aliorum corporum situ et motu dependet atque
ad illa refertur, intelligo ff.
' S. z. B. de ipsa natura sect. IV: Hamm autem partium motum sub
primordia rerum infinita. sua sapientia ac potestate ita direxit, ut tandem
(sive breviore tempore sive longiore, ratio definire nequit) in speciosam hanc
ordinatamque mundi formam coaluerint.
* Omnia in corporibus fieri mechanice, ipsa vero principia mechanismi
generalia ex altiore fönte profluere (S. 161, Erdm.); s. auch 155a, Foucher II, 253.
Mechanisch — organisch. I35
gewählt.^ Auch die Schule hält daran fest, daß dem Mechanismus
alles Zusammengesetzte und damit die ganze Körperwelt gehöre,
während die Seele, als Einfaches, ihm entzogen sei.^ In minder
scharfer Fassung stellt Wolff nach scholastischer Art eine Erklärung
aus den Wirkursachen und eine aus den Zweckursachen nebenein-
ander und bildet dabei den Ausdruck Teleologie. ^
Natürlich wurde die überlieferte organische und teleologische
Lehre durch jenes Aufkommen der mechanischen Erklärung keines-
wegs mit einem Schlage gestürzt; dazu Stack sie viel zu tief in den
Begriffen und den Methoden der Schule. Auch fehlte es nicht an
tüchtigen Männern, welche die Eigentümlichkeit des Lebendigen eifrig
verfochten.* Aber sie fanden nicht das Ohr der Zeit. Dafür be-
durfte es erst einer neuen Lebenswoge, die anderes in der Wirklich-
keit suchen und sehen hieß. Das geschah namentlich mit dem Auf-
steigen des deutschen Humanismus; siegreich erhebt sich in ihm
ein Verlangen nach mehr Unmittelbarkeit des Lebens, nach einem
innigeren Verhältnis zu Welt und Natur, nach einem Schauen der
* S. 147b (Erdm.): semper scilicet est in rebus principium determinationis
quod a maximo minimove petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus
minimo ut sie dicam sumptu. Den Einwand, ob nicht bloße Naturnotwendig-
keit dasselbe Ergebnis hätte hervorbringen können, beantwortet er dahiq (605b):
Cela serait vrai, si par exemple les loix du mouvement, et tout le reste, avait
sa source dans une necessite geometrique de causes efficientes; mais il se trouve
qiie dans la derniere analyse on est oblige de recourir ä quelque chose qui
depend de causes finales ou de la convenance.
- So z. B. Baumgarten, Metaph. ed. VI, 1768, § 433: machina est com-
positum stricte dictum secundum leges motus mobile. Ergo omne corpus in
mundo est machina. — Machinae natura per leges motus determinata mecha-
nismus est. At, quidquid non est compositum, non est machina, hinc nulla
monas est machina.
* S. philos. ration. sive logica cp. III, § 85: rerum naturalium duplices
dari possunt rationes, quarum aliae petuntur a causa efficiente, aliae a fine.
Quae a causa efficiente petuntur, in disciplinis hactenus definitis expenduntur.
Datur itaque praeter eas alia adhuc philosophiae naturalis pars, quae fines
rerum explicat, nomine adhuc destituta, etsi amplissima sit et utilissima. Dici
posset teleologia. Der Ausdruck causa finalis ist dagegen scholastisch; ich
finde ihn zuerst bei Abälard.
* Obenan steht hier Cudworth mit seiner Annahme einer plastischen
Natur, s. namentlich the true intellectual System of the universe (1678) I, 3, 19.
Von den deutschen Gelehrten ist hier vornehmlich Rüdiger zu nennen, s. z. B.
institutiones eruditionis seu philosophia synthetica pag. 109: physica vel mecha-
nica est vel vitalis.
136 Zum Erkenntnisproblem.
Dinge aus dem Ganzen; was dabei zunächst als ein ungestümer
Drang die Gemüter erregte, das klärte sich allmählich zu einer
künstlerischen Lebensgestaltung; von da aus fand sich leicht eine
Rückkehr zu den Alten, die als das Muster lauterer und edler Natur
erschienen. So war es kein Wunder, daß, als ein Stück der jüngsten
Renaissance, auch die organische Denkweise eine Auferstehung er-
lebte, daß sie mit wunderbarem Zauberklange die Gemüter ergriff
und gewann.
Eigentümlicherweise hat dieser neuen künstlerischen Denkweise
wissenschaftlich zuerst der seiner Gemütsart nach wenig künstlerische
Kant die Bahn gebrochen. Er hat es getan, indem er den Mechanis-
mus zu einer bloßmenschlichen Denkweise herabsetzte und damit
freien Platz für eine andersartige Betrachtung und Behandlung schuf;
nur mußte für eine solche sich ein zwingender Anlaß finden. Einen
solchen aber schien ihm das Reich der organischen Bildung zu
bieten, indem es in unsere Begriffe nur mit Hilfe der Idee eines
inneren Ganzen und eines leitenden Zweckes eingehen kann. So
ward hier die alte Lehre wieder aufgenommen, auch über das nächste
Gebiet hinaus dem Ganzen der Welt zugeführt. Bei Kant selbst
das alles in vorsichtiger Abgrenzung und als eine Sache menschlicher
Betrachtung. Aber die vordringende künstlerische Lebenswoge über-
flutete rasch alle Grenzen und Dämme, die organische Denkweise
gewann ein stolzes Selbstbewußtsein und gab sich der Aufklärung
gegenüber als ein Verstehen aus dem eigensten Leben und Wesen
der Dinge heraus, während die mechanische Lehre nüchtern und
seelenlos schien. Mit besonderer Energie hat Schelling die neue
Denkweise zum Ausdruck gebracht und alles Naturleben unter die
Idee des Organismus gestellt^
Begriff und Ausdruck kommen dann rasch in den allgemeinen
Gebrauch. Bei aller Festhaltung antiker Elemente ist ein Einfluß
modemer Denkweise dabei nicht zu verkennen. Die Idee des Organis-
mus liefert hier weniger ein Bild vom Sein als vom Werden; die
Wirklichkeit bildet hier weniger ein geschlossenes Kunstwerk als
ein aus eignem Vermögen fortschreitendes Lebewesen. So wird die
Wandlung zunächst weit fruchtbarer für das Reich der Geschichte
als für die Natur. Einen bestrickenden Reiz gewinnt der Gedanke,
* Den direkten Gegensatz zu mechanisch bildet ihm aber gewöhnlich
dynamisch; dort scheint ihm die Welt als etwas Gegebenes, hier als etwas
unablässig Werdendes verstanden zu werden.
Mechanisch — organisch. I37
daß alles geschichtliche Werden nicht stoßweise, sondern in ruhigem
Fortgang, nicht durch künstliche Reflexion, sondern durch einen
bewußtlosen Naturtrieb, nicht von dem bloßen Individuum her,
sondern aus der Kraft eines Ganzen erfolge. Indem sich diese
Vorstellung auf Staat, Recht, Sprache u. s. w. überträgt, scheint durch-
gängig eine reinere und reichere Tatsächlichkeit, ein größeres Bild
vom Ganzen, ein innerlicheres und ruhigeres Verhältnis des Menschen
zu den Dingen gewonnen. Nun soll er sie nicht mehr von draußen
her meistern, sondern von innen her miterleben, z. B. das Recht
nicht machen, sondern als ein Erzeugnis des Volksgeistes finden;
nun kann er die Fülle des geschichtlichen Lebens mit aller indivi-
duellen Art anerkennen und jedes an seiner Stelle würdigen. So
ist die Wendung zu einer geschichtlichen Weltansicht, im Gegen-
satz zur rationalen der Aufklärung, jener organischen Lehre aufs
engste verbunden. Die historische Forschung aber hat hier zur
nahen Freundin die künstlerische Kontemplation; es ist bezeichnend,
daß^Schelling für den »dritten und absoluten Standpunkt der Historie"
den der historischen Kunst erklärt.
Aber auch die Einseitigkeit dieser historischen Betrachtungsweise
und zugleich die Schranken der organischen Lehre ließen sich nicht
lange verkennen. Bedenken mußte schon das erwecken, daß jene
organische Lehre von der politischen und kirchlichen Reaktion, von
Männern wie Adam Müller und de Maistre, dem Vater des modernen
Ultramontanismus, mit besonderer Wärme ergriffen und im mittel-
alterlichen Sinne zur Unterdrückung der Selbständigkeit sowohl der
Individuen als der lebendigen Gegenwart gewandt wurde. Aber
auch über diese besondere Gestalt hinaus kam das Problematische
und Einseitige der organischen Lehre bald zur Empfindung. Jenen
ruhigen Fluß des geschichtlichen Werdens hat sie weit mehr vor-
ausgesetzt als erwiesen; was an Objektivität aus den Dingen ent-
gegenzukommen schien, das hat sie selbst in diese hineingelegt; so
ist ihr Bild der Geschichte von starker Subjektivität. Dem Natur-
bilde brachte jene Bewegung wertvolle Anregungen, indem sie das
Augenmerk auf das Leben und den inneren Zusammenhang der
Dinge richtete, auch kräftige Antriebe zum Suchen der Einheit der
Naturkräfte gab. Aber wissenschaftlich fruchtbar sind diese An-
regungen nur nach Verpflanzung auf den andersartigen Boden der
modernen Naturforschung geworden; soweit jene organische Denkweise
aus eigenem Vermögen einen Abschluß versuchte, hat sie sich in ge-
138 Zum Erkenntnisproblem.
wagte, oft wunderliche Gebilde verloren. Dem Ganzen des Lebens
aber brachte sie Gefahr, indem sie den Menschen sich überwiegend
kontemplativ zur Wirklichkeit verhalten ließ, ihn weit mehr einlud,
willfährig aufzunehmen und sich einzufügen als selbständig aufzutreten
und eigne Wege zu bahnen; das Ganze war namentlich ungeeignet
für eine Zeit, die voll großer Aufgaben war und schwere Verwick-
lungen in sich trug.
So kam die Herrschaft wieder an die andere Seite, die nie
ganz unterdrückt, sondern nur eingeschüchtert war, mit frischer Kraft
trat sie neu hervor. Etwas anders gefärbt, aber im Grunde unverändert
stieg die Aufklärung wieder auf, von ihr aus mochte jene human-
istische Epoche mit ihrer organischen Lehre als eine bloße Episode
erscheinen. Der Aufbau des Gesellschaftslebens von den Individuen
her kam im modernen Liberalismus und in der modernen Freihandels-
lehre erst zur vollen Entwicklung, bis in die zweite Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts sehen wir A. Smiths scharf zugespitzte Theorie
selbst von hervorragenden Gelehrten als eine ausgemachte Wahrheit
und einen endgültigen Abschluß behandelt. Die Naturwissenschaft
aber unternahm, unter schroffer Ablehnung der naturphilosophischen
Spekulation, 'alle Reste vitalistischer Theorie aufs gründlichste aus-
zutreiben; die Aufgabe wurde nun dahin gestellt, auch die organische
Bildung mit ihrem Leben ganz und gar auf die physikalischen und
chemischen Elementargesetze zurückzuführen. Unter den Philosophen
hat namentlich Lotze eine solche universale Geltung des Mechanismus
verfochten, freilich nicht ohne ihm, ähnlich wie Leibniz, in einem
Reiche seelischen Lebens einen tieferen Grund zu geben. Aber
jenes Übermechanische war Sache der Metaphysik, die Natur verblieb
dem Mechanismus, und in der Zeit kam diese Bejahung mehr zur
Wirkung als jene Begrenzung. — So erschien der Mechanismus,
richtig verstanden und umsichtig angewandt, als eine gesicherte
Lösung der großen Probleme; so viel der Ausführung zu tun ver-
blieb, das Prinzip dünkte allem Zweifel enthoben.
Da kam ein Widerstand, ein unerwarteter Widerstand, aus der
eignen Bewegung des modernen Lebens, nicht aus Nachwirkungen
älterer Zeiten, und weniger aus einer künstierischen Deutung der
Wirklichkeit als aus wachsender Erfahrung, aus neuen Tatsachen und
neuen Aufgaben. Die wirtschaftliche und industrielle Gestaltung des
modernen Lebens treibt die Menschen enger zusammen und verviel-
facht ihre Berührungen, sie differenziert und kompliziert die Arbeit
Mechanisch — organisch. 13g
und bindet damit den einen weit enger an den anderen, alle Einzelnen
aber an ein Ganzes; vor der Gemeinschaft, die daraus erwächst,
verschwindet die Isolierung, in welcher der Mechanismus die Indi-
viduen sah. Hatte er alle Zusammenhänge von ihnen her abgeleitet,
so scheint der modernen Soziologie der Einzelne von vornherein
einem sozialen Zusammenhange angehörig, die Lehre vom Milieu
bringt auch das Unsichtbare der Einflüsse zur Geltung und neigt
dahin, den Einzelnen zum bloßen Produkt seiner Umgebung zu
machen. Zugleich wird die Wehrlosigkeit der Individuen gegenüber
den wirtschaftlichen Verwicklungen und Gegensätzen grell empfunden
und mit ihr die Notwendigkeit eines Gesamtwillens, wie ihn der
Staat verkörpert.
Das alles drängt dahin, den Gedanken des Organismus wieder
aufzunehmen, unter den Philosophen hat namentlich Comte seine
Ethik und Politik von ihm aus gestaltet. Aber der Begriff wird bei
ihm gegen die ältere Fassung beträchtlich verändert, er wird, wenigstens
in der grundlegenden Erörterung, aus dem Künstlerischen und
Ethischen ins Naturwissenschaftliche versetzt. Es sind namentlich
die Fortschritte der Histologie (Bichat), die dem Grundgedanken
eine anschauliche Ausführung geben. Wie der lebendige Körper,
so ist auch die Gesellschaft ein überaus feines Gewebe aus lauter
einzelnen Elementen; so eng sind diese miteinander verschlungen,
daß das Tun und Lassen, das Wohl und Wehe des einen unmittel-
bar auch die anderen berührt. Die moderne Arbeitsteilung hat dies,
was von jeher galt, noch weiter gesteigert, sie stellt die Gebunden-
heit des Einzelnen an die Anderen und an das Ganze deutlich vor
Augen, Damit scheint ein leitendes Prinzip für Ethik und Politik
gewonnen, das nur entwickelt zu werden braucht, um allem Handeln
bestimmte Bahnen vorzuschreiben.
In Wahrheit ist ein solches Prinzip nicht sowohl begründet als
durch eine Vermengung antiker und moderner Art erschlichen; un-
vermerkt wird aus der Verwebung ein Ganzes innerer Art, aus
der Tatsache geht ein Wertbegriff, aus dem Sein ein Sollen hervor.
Schließlich befinden wir uns ganz auf dem alten Boden, wenn
das Ganze mit Forderungen an den Einzelnen kommt und sie
ihm als Verpflichtung auferlegt. Das Dunkel, das dem Begriffe
organisch von jeher anhaftete, wird durch solche Vermengung alter
und neuer Art bis zu unerträglicher Verworrenheit gesteigert. Aber
man hält an dem Begriffe fest, weil es drängt, die Abhängigkeit des
140 Zum Erkenntnisproblem.
Einzelnen vom Gesamtstande irgendwie zu bündigem Ausdruck zu
bringen. So gerät der moderne Forscher unter widerstreitende
Anregungen, und ein Auseinandergehen bis zu schroffem Gegensatz
kann nicht Wunder nehmen. Nicht bloß die Individuen, auch die
Gebiete trennen sich hier. Am meisten Anklang hat die organische
Lehre bei den Soziologen, weit weniger bei den eigentlichen National-
ökonomen gefunden; unter den Juristen sind ihr am ehesten hervor-
ragende Germanisten gewogen.
Mit dieser Bewegung auf sozialem Gebiet geht parallel eine
Bewegung in der Naturwissenschaft; wie sie später einsetzte, so ist
sie heute noch weit mehr mitten im Fluß und Kampf. Unverkennbar
hat dazu an erster Stelle die moderne Entwicklungslehre gewirkt.
Die darwinistische Form, in der sie zuerst zu allgemeiner Geltung
gelangte, war in dem Eigentümlichen ihrer Art der Anerkennung
des Organischen so abgeneigt wie nur möglich, sucht sie doch das
ganze Gebiet des Lebendigen den Begriffen des Mechanismus zu
unterwerfen. Aber auch in der Naturwissenschaft wirken Gedanken-
massen oft ihrer eignen Absicht entgegen. Indem das Reich des
Lebens weit mehr die Aufmerksamkeit und die Arbeit gewann, kam
seine Eigentümlichkeit weit mehr zur Geltung, und es erwies sich
die Zurückführung seiner Erscheinungen auf die physikalischen und
chemischen Elementargesetze unvergleichlich schwieriger, als um die
Mitte des Jahrhunderts angenommen war. Die Beobachtungen am
Protoplasma, die neuen Ausblicke der Entwicklungsmechanik, das
Problem der Kontinuität des Lebens, die Mutationslehre mit ihrem
Aufweis sprunghaften Entstehens neuer Formen u. a., alles mitein-
ander ergibt eine wesentlich veränderte Lage. Dabei erfolgt eine
Scheidung der Geister. Hoffen die einen von einer Verfeinerung
der mechanischen Begriffe eine intellektuelle Aneignung der neuen
Tatsachen, so glauben die anderen auf ein neues Prinzip nicht ver-
zichten zu können.* In diesen Bewegungen erhebt sich von neuem
^ S. u. a. Rindfleisch, Ärztliche Philosophie 1888 und Neovitalismus 1895.
Roux, Einleitung zum Archiv für Entwickelungsmechanik der Organismen
(1894), wendet sich dagegen, „die organische Form als Unerklärbares und
bloß teleologisch Ableitbares zu bezeichnen" (3. 22), und bemerkt weiter:
„Für den Forscher auf dem Gebiete der Entwickelungsmechanik gilt in hohem
Maße das Wort :
»Incidit in scyllam, qui vult vitare charybdim."
Die zu einfach mechanische und die metaphysische Auffassung repräsentieren
Mechanisch — organisch. 141
auch das Problem der Teleologie, ihrer eignen Absicht nach weniger
als ein Stück der Metaphysik, denn als ein Mittel naturwissenschaft-
licher Erklärung, als „empirische" Teleologie,^ aber auch als solche
von anderen als ein Rückfall in die Metaphysik bekämpft.
Wird so die mechanische Lehre vom Gebiet des Lebendigen
her, wenn nicht eingeschränkt, so doch über die herkömmliche Form,
„die zu einfach mechanische Auffassung" (Roux), hinausgetrieben,
so werden weiter auch ihre eignen Grundbegriffe mannigfach an-
gegriffen. Schon die unermeßliche Verfeinerung, welche scheinbar
elementare Vorgänge der unorganischen Natur enthüllten, lassen die
Vorstellungen des älteren Mechanismus für das Unterlebendige selbst
als viel zu roh erscheinen. Prinzipiell hat namentlich die energetische
Naturlehre das mechanische Weltbild bekämpft, indem sie die Grund-
vorstellung von der Materie als einem jenseits der Sinnesempfindungen
befindlichen Sein, als einem besonderen Träger der Kräfte, bestritt
und alle Naturerscheinungen auf den Grundbegriff der Energie
zurückzuführen suchte. 2 Auf die Probleme, die daraus erwachsen,
hier nebenbei einzugehen, verbietet sich schlechterdings; jedenfalls
hat die mechanische Theorie die Selbstverständlichkeit verloren, die
sie lange zu haben schien. Selten aber wird etwas neu zum Problem,
ohne sich dabei umzubilden.
So finden wir heute das ganze Gebiet voll Erregung und Streit;
die Scylla und die Charybdis, zwischen welchen dahin zu segeln in der Tat
schwer und bis jetzt nur Wenigen gelungen ist; und es ist nicht zu leugnen,
daß die Verführung zu letzterer Auffassung mit der Zunahme unserer Kenntnis
zunächst erheblich zugenommen hat" (S. 23). S. auch W. Roux: „Über die
Selbstregulation der Lebewesen" 1902.
^ S. Coßmann, Elemente der empirischen Teleologie 1899, ferner
E. König, »Die heutige Naturwissenschaft und die Teleologie". Beil. zur
Allg. Z. 1900, No. 29 u. 30, sowie „Über Naturzwecke" 1902. Es ist eine
überaus reiche, unablässig wachsende Literatur über diese Probleme ent-
standen, ein deutliches Zeichen, wie sehr sie im Mittelpunkte des Interesses
und der Arbeit stehen.
^ S. Ostwald, Vorlesungen über die Naturphilosophie S. 153: „Alles,
was wir von der Außenwelt wissen, können wir in der Gestalt von Aussagen
über vorhandene Energie darstellen; und daher erweist sich der Energiebegriff
allseitig als der allgemeinste, den die Wissenschaft bisher gebildet hat. Er
umfaßt nicht nur das Problem der Substanz, sondern auch noch das der
Kausalität." Über die Bedeutung des Begriffs Energie aber heißt es S. 158:
»Wir werden allgemein Energie als Arbeit, oder alles, was aus Arbeit ent-
steht und sich in Arbeit umwandeln läßt, definieren."
142 Zum Erkenntnisproblem.
die Entscheidung aber liegt nicht bei allgemeinen Reflexionen, sondern
bei der Hauptrichtung, welche Arbeit und Leben in Wirklichkeit
einschlagen. So zeigte es die Vergangenheit, so wird auch in Zu-
kunft der eigne Fortgang der Arbeit darüber befinden, wie sich das
Verhältnis der Gegensätze gestalte, welche Weiterbildungen für beide
Grundbegrilfe nötig werden, auch ob ihnen gegenüber neue Er-
klärungsarten aufkommen mögen. Das aber darf die philosophische
Betrachtung erwägen, wie der Überblick der Wirklichkeit heute den
Stand der Begriffe zeigt, und welche Aufgaben er nahelegt.
c) Erwägungen zum Kampf der Gegenwart.
a. Das Problem im Gebiet der Philosophie.
Die Philosophie muß vor allem darauf bestehen, daß der Mecha-
nismus, selbst wenn er sich der ganzen Breite der Dinge bemächtigen
könnte, nun und nimmer einen endgültigen Abschluß zu bilden
vermag. Denn das, was für ihn das Letzte ist, das Nebeneinander
der Elemente, wird der philosophischen Betrachtung notwendig zu
einem schweren Problem. Stünden nämlich die Elemente ohne
irgendwelche Verbindung gleichgültig nebeneinander, so wäre schlechter-
dings nicht zu ersehen, wie eine Wirkung des einen zum andern
sollte entstehen können. So vor allem in der Natur, wie denn einen
Leibniz und einen Lotze die Tatsache der Wechselwirkung dazu
trieb, das nächste Weltbild gründlich umzugestalten. Und auch der
Gedanke Leibnizens ist nicht wohl abzuweisen, daß kein Ding darin
aufgehen kann, lediglich etwas für andere zu leisten, sondern daß es
auch für sich selbst etwas sein muß. daß daher auch das als letztes
Element Ergriffene irgend etwas Eignes zu sein hat; die Verfolgung
dieses Gedankens drängt dahin, das Reich des Mechanismus zur
bloßen Erscheinung einer andersgearteten Welt herabzusetzen. Auch
beim Seelenleben würde, wer alles Geschehen auf den mechanischen
Verlauf von Assoziationen zurückführen wollte, ratlos der Frage
gegenüberstehen, wie dies ganze Getriebe als ein eignes Leben, als
mein und dein erlebt werden könnte. Überall ist irgendwie für
Einheit und Zusammenhang Sorge zu tragen, und dieser Aufgabe
ist der Mechanismus nicht gewachsen.
Läßt so der Mechanismus hinter sich ein ungelöstes Problem,
so darf auch dem Tatbestande nach er nicht als Beherrscher der
ganzen Wirklichkeit gelten, selbst wenn die Natur ihm ganz ge-
Mechanisch — organisch. 143
hörte. Denn zur Natur gesellt sich das Seelenleben, dies aber bringt,
namentlich auf der menschlichen Stufe, eine völlig andere Art des
Geschehens mit sich. Denn soweit das Innenleben über eine bloße
Begleitung der Naturprozesse hinauswächst und eine selbständige
Art entfaltet, soweit in uns Geistesleben aufsteigt, genügt nicht mehr
ein Zusammentreten einzelner Elemente, sondern hier befindet sich
jede einzelne Erscheinung innerhalb eines Ganzen, und hier wird eine
Verkettung nicht direkt zwischen den einzelnen Elementen, sondern
durch ihr Verhältnis zum Ganzen hindurch gewonnen. Das Denken
z. B. verläuft allerdings in einzelnen Vorstellungen, aber es ist nicht
ein bloßes Aneinanderreihen und Aufschichten dieser, es verfolgt ein
bestimmtes Ziel und wird dadurch innerlich zusammengehalten; es
kann nichts dulden, was diesen Zusammenhang stört. Nichts ist für
diese neue Art bezeichnender als die Tatsache und die Macht des
logischen Widerspruchs. Ein Widerspruch ließe sich gar nicht
empfinden, würde nicht im Denken die Vielheit von einer Gesamt-
tätigkeit umspannt, und er könnte nicht so unerträglich sein wie er
es ist, wäre nicht das Verlangen nach Einheit von gewaltiger Stärke.
Zugleich erweist der Widerspruch eine völlig andere Art der Ver-
bindung, als der Mechanismus sie aufbringen kann: er ist kein
räumlicher Zusammenstoß, sondern eine Unverträglichkeit des Inhalts;
so erscheint hier der Begriff des Inhalts, der dem Mechanismus
schlechterdings unverständlich ist. Der Inhalt bringt aber ein neues
Prinzip der Anordnung mit sich: das der Sachlichkeit, der sach-
lichen Bedeutung, der gegenseitigen Determination. Das ist z, B.
das Verhältnis der Merkmale eines logischen Begriffes; nur gröbstes
Mißverständnis kann die innere Struktur eines solchen Begriffes
mit dem Nebeneinander einer sinnlichen Vorstellung zusammenwerfen.
Die Grundform der Verbindung ist hier die des Systems: jedes Ele-
ment steht innerhalb eines Ganzen, unter dem Einfluß und der Trieb-
kraft eines Ganzen, in wechselseitiger Determination mit den anderen
Elementen. So gehört dem Mechanismus jedenfalls nicht das Ganze
der Wirklichkeit.
Daher verschwindet auch der Zweck nicht aus der Welt, wenn
die Natur für ihn keinen Platz mehr bieten sollte. Denn im mensch-
lichen Leben hat er zweifellos eine Wirklichkeit und eine Macht, er
hat sie nicht bloß in der Seele des Einzelnen, sondern auch im
gemeinsamen Leben bei den großen Zusammenhängen, wie sie
Wissenschaft und Kunst, Recht und Moral, schließlich das Ganze
144 Zum Erkenntnisproblem.
der Kultur bilden. ^ Damit, daß ein zwecktätiges Handeln dem
Innenleben wesentlich ist, ist es auch als zum Ganzen der Wirklich-
keit gehörig erwiesen, und es ist das Bild der Welt unweigerlich
so zu gestalten, daß diese Tatsache verständlich wird. Ja es stellt
sich schließlich im Oesamtanblick die Sache notwendig auf ein
Entweder — Oder. Wir pflegen heute die 'Welt als ein Stufenreich
aufsteigender Bildung zu betrachten, aber eine große Scheidung der
Geister erfolgt bei der Frage, ob in diesem Stufenreich das Höhere
ein bloßes Ergebnis des Niederen sei und daher aus ihm seine
ganze Erklärung finde, oder ob in dem Höheren ein Neues und
Ursprüngliches durchbreche, das sich nur aus einem tieferen Ganzen
der Welt verstehen läßt. Der Gegensatz erlangt seine höchste
Spannung bei der Frage des Verhältnisses von Natur und Geistes-
leben. Ist dieses ein bloßes Erzeugnis jener, oder beginnt mit ihm
eine neue Stufe der Wirklichkeit? Die Beantwortung dieser Frage
entscheidet auch über Recht oder Unrecht des Zweckes. Ist da§
Geistesleben mit seiner Innerlichkeit und Ganzheit von eigner Art
und eignem Ursprung, so gehört es wesentlich zum Ganzen, so
muß es von vornherein in der Bewegung wirksam sein und ihr eine
Richtung zu sich geben; dann erhält das Weltgeschehen ein Ziel,
und die spekulative Weltbetrachtung wird der Zweckidee nicht ent-
raten können ;2 ist aber das Geistesleben ein bloßes Erzeugnis der
Natur, so entfällt alles Ziel und mit ihm auch der Zweck; dann
treibt die Welt und die Menschheit sinnlos ins Vage und Leere
dahin.
ß. Das Problem in der Naturwissenschaft.
Im Gebiet der Naturwissenschaft bildet den Mittelpunkt des
Streites die Frage, ob die dem Leben charakteristischen Erscheinungen
auf die allgemeinen physikalischen und chemischen Gesetze zurück-
^ Daß aus dem Zweck „reale Kategorien" hervorgehen, hat Trendelen,
bürg in einem hervorragenden Kapitel der „Logischen Untersuchungen"
gezeigt; s. Kap. XI.
■^ So treibt es uns hier wieder zur Metaphysik gemäß jener Überzeugung
Herbarts (Wke. 11, 461): „Im Denken über Natur und Menschheit drängt
sich die Kraft des Geistes unvermeidlich zur Metaphysik hin, welche, ähnlich
den Urgebirgen — , zugleich die weite, tiefe, unsichtbare Grundlage alles
menschlichen Dichtens und Trachtens ausmacht, zugleich in einzelnen,
schroffen, selten erklommenen Spitzen über alle andern Höhen und Tiefen
hinausragt."
Mechanisch — organisch. I45
führbar sind, oder ob in ihnen eine neue Art des Geschehens an-
erkannt werden muß. Diese Frage ist vor allem eine Frage der
Tatsächlichkeit und gehört als solche in die Fachwissenschaft, aber
es wirken in die Behandlung auch manche allgemeinere Erwägungen
ein, an denen wir nicht vorbeigehen können. So viel ist unbestreit-
bar, daß die Eigentümlichkeit, das Problem und Geheimnis des
Lebens wieder mehr in den Vordergrund gerückt ist, und daß
wir heute nicht so leicht darüber hinauskommen wie unmittelbar
vorangehende Zeiten. Mehr und mehr scheint es ausgeschlossen,
das Leben als eine bloße Eigenschaft des Stoffes zu fassen, mehr
und mehr wird ihm eine Selbständigkeit zuerkannt. So, um einige
hervorragende außerdeutsche Namen zu nennen, von Bergson, nament-
lich in seiner l'evolution creatrice^ (1907), so von Sir Oliver Lodge.^
Bei solcher Auffassung wird es zur Aufgabe, ein wesentliches und
unterscheidendes Kennzeichen des Lebens herauszuheben; ein solches
findet Boutroux in der Fähigkeit «ein System zu schaffen, in dem
gewisse Teile gewissen anderen Teilen untergeordnet sind"; so würde
es ein „agens" und «Organe" geben, die zusammen eine «Hierarchie"
bilden, für die es in der anorganischen Welt keine Analogie gibt.^
* Für Bergsons Fassung des Lebens sind folgende Stellen bezeichnend :
L'evolut. CTeatrice pag. 105: La vie est, avant tout, une tendance ä agir sur
la matiere brüte; fem er 197: La vie c'est-ä-dire la conscience lancee ä travers
la matiere.
* Lodge sagt »Leben und Materie" (deutsche Übers. 1908, S. 104) zu-
sammenfassend: «Die Anschauung vom Leben, die ich im vorigen auszu-
drücken versucht habe, ist die, daß es weder Materie noch Energie sei, noch
auch nur eine Funktion von beiden, sondern daß es in eine ganz andere
wissenschaftliche Kategorie zu setzen sei, daß es in einer Weise, die wir zur-
zeit noch nicht durchschauen, imstande sei, mit der materiellen Welt in
Wechselwirkung zu treten, aber daß es auch, abgesehen von dieser, seine
ursprüngliche Realität habe, wennschon diese sich der sinnlichen Erfassung
entzieht. Es ist abhängig von der Materie nach seiner Erscheinung in der
Natur und in uns hier und jetzt und nach seinen gesamten irdischen Wir-
kungen; an und für sich aber ist es davon unabhängig, und sein Wesen ist
kontinuierlich und dauernd, während seine Wechselwirkung zur Materie dis-
kontinuierlich und zeitlich ist.« Ferner siehe S. 38: »Ich gebrauche das
Wort , Leben' in ganz allgemeinem Sinne. Denn wenn ich es nur in dem
engen Sinne, nach dem es nur die Stoffwechselvorgänge bedeuten würde,
genomnien hätte, so wäre es natürlich absurd, ihm Existenz gesondert von
der Materie zuzuschreiben. Für diesen engeren Sinn könnte man sich viel-
leicht passend der Bezeichnung , Vitalität' statt ,Leben' bedienen."
ä S. O. Beelitz, Die Lehre von Zufall bei E. Boutroux 1907, S. 91.
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 10
146 Zum Erkenntnisproblem.
Bergson erblickt einen entscheidenden Beweis für das Wirken des
Lebens als einer psychischen Kraft in der Tatsache, daß die Natur
gleiche oder ähnliche Strukturen bei sehr verschiedenen Organismen
zu bilden pflegt und demnach gleiche Ziele auf abweichenden
Wegen zu verfolgen scheint. ^
Bei der Behandlung dieser Fragen findet sich manche Ver-
schiedenheit zwischen den einzelnen Kulturvölkern, namentlich be-
merkenswert ist hier die »Rolle, die das Prinzip der Diskontinuität
in dem jüngsten französischen Denken spielt". ^ Es läßt sich die-
selbe mit ihren Motiven nicht besser schildern, als das von Höffding
(Moderne Philosophen S. 82 ff.) geschehen ist. Er sagt dort: „In
der französischen philosophischen Literatur tritt die Diskontinuitäts-
philosophie auf besonders interessante und energische Weise hervor.
Es lassen sich drei verschiedene, für die Diskontinuitätsphilosophie
maßgebende Motive unterscheiden. Die Erfahrung bietet Qualitäts-
verschiedenheiten dar, deren Reduktion weder der Spekulation noch
der Entwicklungslehre gelungen war. Comtes Positivismus hatte
ausdrücklich die Kluft anerkannt, welche die verschiedenen Natur-
gebiete von einander trennt. Für Comte bezeichnete jede neue
Wissenschaft eine besondere, irreduktible Gruppe von Erscheinungen.
— Hierzu kommt, daß selbst in jeder einzelnen Gruppe von Er-
^ S. L'evolution creatrice 1907, pag. 59: «Le pur mecanisme serait donc
refutable et la finalite, au sens special oü nous l'entendons, demontrable par
un certain cote, si Ton pouvait etablir que la vie fabrique certains appareils
identiques, par des moyens dissemblables, sur des lignes d'evolution diver-
gentes. La force de la preuve serait d'ailleurs proportionelle au degre d'ecarte-
ment des lignes d'evolution choisies, et au degre de complexite des strudures
similaires qu'on trouverait sur elles. Wie sich übrigens auch vom Standpunkt
eines feineren, dabei tiefere Probleme bereitwillig anerkennenden Mechanismus
dem Leben ein eigentümlicher Charakter zugestehen läßt, zeigt namentlich
W. Roux. Er betrachtet als eine universelle elementare Eigenschaft der Lebe-
wesen «die zur Dauerfähigkeit im Wechsel der Verhältnisse nötige Selbst-
regulation in der Ausübung aller Einzelfunktionen", er sieht darin „diejenige
von allen Leistungen, welche die Lebewesen am meisten von allen andern
Naturkörpern unterscheidet, indem sie die direkte Anpassung an die wech-
selnden äußeren Verhältnisse bewirkt. Aus der unübersehbar langen, trotz
des Wechsels der äußeren Umstände zahllose Generationen gleicher Art her-
stellenden Dauer der einzelligen Lebewesen ist mit Sicherheit zu schließen,
daß auch die niedersten Lebewesen außer der Vererbung diese Selbstregu-
lationsfähigkeit haben" (s. Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen
XXIV. Bd., 4. Heft [1907], S. 685).
? S. Harald Höffding, Moderne Philosophen (1905) S. 67.
Mechanisch — organisch. 147
scheinungen der Kausalsatz nur unvollkommene Bestätigung zu finden
vermag. Man zieht deshalb Hume wieder hervor und stellt seinen
Empirismus gegen die Versuche auf, die Kant und der Evolutionis-
mus machten, denselben zu überwinden. — Endlich verweist man
auf das Bewußtsein der Initiative, des Vermögens, durch sein Denken
und Handeln etwas Neues in die Welt zu setze i, und man betont
mit Stärke die moralische Bedeutung dieses Vermögens. "^
Bei solcher Denkweise kann keinerlei Neigung bestehen, die
charakteristischen Erscheinungen des Lebens auf unterlebendige
Kräfte zurückzuführen, vielmehr wird an solchem Versuche des
Mechanismus eine scharfe Kritik geübt. Am Mechanismus scheint
verfehlt, daß er die Welt wie ein gegebenes und geschlossenes System
behandelt, nicht als etwas im Fluß Befindliches, daß er daher alle
Bewegung von innen her, sowie alle Möglichkeit eines wesentlichen
Fortschrittes leugnet, 2 daß er den Verbindungen der Elemente nichts
anderes zuschreiben will, als was jedem einzelnen zukommt, ^ daß
seine Erklärungen den Elementen beizulegen pflegen, was ihr Zu-
sammensein aufweist,* daß er nicht genügend beachtet, wie die
genauere Erkenntnis des Lebensprozesses immer mehr die vermeint-
liche Isolierung der Elemente aufhebt.^
^ Djp. hervorragendsten Vertreter dieser Diskontinuitätsphilosophie sind
Renöuvier (f 1903) und E. Boutroux, dessen Werk de l'idee de la loi naturelle
dans la science et dans la philosophie contemporaine (1895) 1907 in einer
deutschen Übersetzung von Benrubi erschien.
' S. Bergson, L'evolution creatrice pag. 40: L'essence des explications
mecaniques est en effet de considerer l'avenir et le passe comme calculables
en fonction du present, et de pretendre ainsi que tout est donne.
^ Sir Oliver Lodge, Leben und Materie (Übers.) S. 57: „Man begegnet
häufig dem Satze, daß, was immer an Eigenschaften dem Ganzen zukomme,
auch in den Teilen zu finden sei. Dieser Satz ist falsch. Ein Aggregat von
Atomen kann Eigenschaften besitzen, die den einzelnen nicht zukommen,
auch nicht im geringsten Grade."
* S. Lodge a. a. O. S. 47: „man konstatiert hier einfach das zu Erwägende
und schiebt es dann den Atomen zu, in der Hoffnung, daß damit dem
Fragen ein Ende gemacht sein wird." Bergson hat diesen Gedanken nament-
lich gegenüber der Entwicklungslehre Spencers verfochten, diese scheint ihm
(s. L'evol. creatr. VI) darin zu bestehen: ä decouper la realite actuelle, dejä
evoluee, puis ä la recomposer avec ces fragments, et ä se donner ainsi, par
avance, tout ce qu'il s'agit d'expliquer.
' S. Bergson, L'evolution creatrice pag. 205: plus la physique avance,
plus eile efface d'ailleurs l'individualite des corps et meme des particules en
10*
148 Zum Erkenntnisproblem.
Mit solcher Wendung zum Leben und seiner vordringenden
Bewegung tritt auch die Zweckbetrachtung in ein anderes Licht. Die
völlige Verwerfung der Zwecke in der Natur wurzelte in der lange
vorherrschenden Neigung, das Leben nicht als ein Urphänomen zu
fassen, sondern es vom Leblosen abzuleiten, in schroffem Gegensatz zur
älteren Denkweise, die (Jen ganzen Befund der Natur vom Lebendigen
aus erklärte. In einer gewissen Rückkehr zu dieser, wenn auch in
großer Verfeinerung der Betrachtung, treten nun die Tatsachen wieder
mehr in den Vordergrund, die eine Richtung der Bewegung auf
ein erst zu erreichendes Ziel, eine «Zielstrebigkeit" (K. E. von Baer),
sowie ein Zusammenstreben einzelner Elemente zu einem Ganzen
zu zeigen scheinen. Die Schwierigkeit, das irgend vorstellbar zu
machen, ohne die menschliche Art des Erwägens und Überlegens
in die Natur hineinzutragen, hat schon Aristoteles stark empfunden, ^
uns Neueren muß sie noch größer erscheinen. Aber alle Schwierig-
keit dürfte nicht dazu führen, Tatsachenkomplexe zurückzustellen
und geringzuachten, weil sie sich nicht dem Rahmen des Mechanis-
mus fügen. Haben sich doch die Theorien den Tatsachen, nicht
diese jenen anzupassen.
Das Hauptbedenken, das gegen den Vitalismus und die Teleo-
logie auch in der neueren Form erhoben wird, ist, daß das von
ihnen behauptete Gestaltungsprinzip «einfach alles, und zwar auf die-
selbe Weise" erklärt, ohne daß wir von den für die verschiedenartigen
zweckmäßigen Gestaltungen notwendig verschiedenen determinieren-
den Faktoren und deren Wirkungsweisen etwas erfahren können.^
In weiterer Ausführung dessen sagt Roux, der «stets verbleibende
letzte Probleme" keineswegs leugnet: «Es ist überaus leicht, zweck-
mäßig Erscheinendes von einem wirklich zwecktätigen Agens abzu-
leiten. Diese letzte Annahme bleibt uns immer noch, wenn die andere
wirklich als nicht zureichend erwiesen ist, was jetzt erst kurz nach
dem Beginn exakter kausaler Forschung zwar vielfach so scheinen
lesquelles l'imagination scientifique commengalt par les decomposer; corps
et corpuscules tendent ä se fondre dans une interaction universelle.
^ S. Z, B. Phys. 199 a, 17: d ouv toc xaxi t:qv -ziyyriv ^vexa tou, SfXov ort
xal Ttt xaxa ttjv <puaiv. 6(ao(cü5 yflip ^jti Jtpo? aXXrjXa Iv Tot? xata -ziyyriv xai iv toi;
y.a,zu «pu'oiv xa ucrrepa Jtpos xa Ttpdxepa. (AcIXioxa Se (pavepov ini xwv !^towv xuiv
äXX(i)v, a ouxe xi^yri ouxe ^rjxi^aavxa ouxe ßouXsuga'jjLeva uotet. od-ty SianopoZai
xtv£; TOxepov vw i] xivt öcXXw IpyaJ^ovxai o'f x'apayvat xa\ oi (Aup[XT]x£i; xai xa xotauxa.
* S. W. Roux im Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen,
XXVI. Bd., 4. Heft (1907), S. 687.
Mechanisch — organisch. I49
mag, aber doch nicht bewiesen werden kann. Sehr schwer ist es
dagegen, solches »scheinbar Zweckmäßige" von nicht zwecktätigen
Agentien abzuleiten. Erstere Lösung aber läßt alle in den verschiedenen
Fällen verschiedenartigen Determinationen unbekannt, verlegt sie in
ein in seinen Wirkungsweisen nicht aufhellbares Prinzip. Wir aber
möchten auch diese « Bestimmungsfaktoren « und ihre Wirkungsweisen
erforschen. Gemeinsam ist uns beiden die Erforschung der physikalisch-
chemischen Ausführungsfaktoren des Determinierten, denn daß das
durch seelisches Wirken „Determinierte" durch physische Faktoren
ausgeführt wird, geben ja auch unsere Gegner zu" (S. 688). So ist
die Sache mitten im Fluß, aber aus Bewegung und Zusammenstoß
läßt sich ein Fortgang des Wissens mit Sicherheit hoffen.
y. Das Problem auf gesellschaftlichem Gebiet.
Daß zum Verständnis des gesellschaftlichen Zusammenseins der
Mechanismus nicht ausreicht, ist ohne Mühe zu zeigen, schwierig aber ist,
ähnlich wie bei der Natur, ihm gegenüber zu einer positiven Be-
hauptung zu kommen. Von den bloßen Einzelelementen her läßt
sich irgendwelches Interesse für das Ganze, irgendwelche innere Ge-
genwart des Ganzen, irgendwelche Hoheit und Selbständigkeit des
Ganzen, wie z. B. des Staates, irgendwelcher geistige Charakter des
Ganzen in keiner Weise begreiflich machen.^ Die mechanische Theorie
müßte die Gemeinschaft in ein seelenloses Räderwerk verwandeln,
in dem jeder nur seine eigenen Ziele verfolgt; eine gemeinsame
Gedankenwelt wäre dabei unmöglich. Auch die Rechtsidee, worauf
die Anhänger der mechanischen Theorie sich gern berufen, ist von
hier aus nicht zu erklären, sie könnte hier nur als ein mystisches
Gebilde erscheinen. Denn der Rechtsgedanke entwickelt sich nie vom
natürlichen Einzelwesen, sondern nur vom Vernunftwesen her, ein
solches aber ist nicht möglich ohne Begründung in einer Welt der
Vernunft. Das Recht kann vom bloßen Individuum her zu entetehen
nur scheinen, wenn dabei unvermerkt dem natürlichen Einzelwesen
das vernünftige Geisteswesen untergeschoben wird. So geschah es
namentlich in der englischen Aufklärung, wie denn die politischen und
wirtschaftlichen Systeme eines Locke und eines A. Smith einen durch-
gängigen Widerspruch in sich tragen: sie arbeiten mit Größen der
* Vortrefflich hat dies neuerdings Gierke ausgeführt: „Das Wesen der
Verbände", Rektoratsrede. Berlin 1902.
150 Zum Erkenntnisproblem.
Natur und behandeln sie wie Größen der Vernunft. Wer die Ver-
mengung erkennt, der durchschaut zugleich die Unzulänglichkeit des
hier gebotenen Ganzen.
Aber mit dem Nein ist nicht schon über das Ja entschieden,
die mechanische Lehre abweisen heißt nicht die organische aner-
kennen. Der Begriff des Organischen ist uns aus einer älteren,
andersartigen Kultur überkommen, er trägt die Färbung der antiken
Gesellschaftslehre und Weltanschauung. Die Vorkämpfer der organ-
ischen Lehre möchfen ihn davon befreien; sie können sich darauf
berufen, daß wir oft mit Begriffen arbeiten, die der Lauf der Ge-
schichte über die Enge der anfänglichen Fassung weit hinausgebildet
hat. Aber bei solchen Fragen liegt alles an der besonderen Art des
Falles. Es will uns nun scheinen, daß jenes Anfängliche dem Begriffe
zu fest anhafte, um nicht leicht den Gedanken auf die Stufe älterer
Denkart zurückzuziehen. Die Verwendung des Begriffs Organismus
für das gesellschaftliche Gebiet ist zunächst eine bloße Analogie; mögen
gewisse Übereinstimmungen zwischen einem organischen Lebewesen
und einer gesellschaftlichen Ordnung bestehen : ob sie das Wesentliche
und das charakteristisch Geistige treffen, daran läßt sich recht wohl
zweifeln. Zunächst bildet der zur Aufklärung herangezogene Bau
der Lebewesen selbst ein schweres Problem und ist, wie wir sahen,
eben heute wieder ein Gegenstand härtesten Streites; von seinen
philosophischen Definitionen, wie sie Aristoteles und, fügen wir hinzu,
auch Kant und seine Nachfolger gaben, hat Lotze mit Recht gesagt,
daß sie mehr das Rätselhafte des Eindruckes wiedergeben als eine
Erklärung enthalten. Beim Begriff des Organischen bringt uns nicht,
wie es wohl scheinen kann, die Natur die Sache sicher und fest
entgegen, sondern es wird von uns eine eigentümliche Vorstellungs-
weise in die Natur hineingetragen und wird, dort ins Anschauliche und
Körperliche gestaltet, dem Geist wieder zugeführt. Warum dieser
Umweg? Enthält er nicht die Gefahr eines Einströmens naturhafter
Größen in das Geistesleben, oder doch des Einsetzens eines bloßen
Bildes für eine Erklärung?
Das Hauptbedenken aber ist das zähe Fortleben der griechisch-
mittelalterlichen Denkweise in diesem Begriff; es droht, den not-
wendigen Gedanken an eine innerlich überwundene Stufe zu binden.
Die organische Theorie der älteren Zeit betrachtet den Einzelnen ganz
und gar als ein Glied des Ganzen, sie läßt, bei präziser Fassung,
ihn völlig in das Verhältnis zum Ganzen aufgehen, sie kennt
Mechanisch — organisch. 151
keinerlei Selbständigkeit, keinerlei Recht des Einzelnen gegen das
Ganze. Das war von vornherein nur möglich durch eine Ver-
mengung von Staat und menschlicher Gemeinschaft überhaupt; was
immer das Zusammenleben für den Menschen bedeutet, das ward für
den Staat in Anspruch genommen; so konnten Ethik und Politik, indi-
viduelles und gesellschaftliches Lebensziel als völlig gleichartig gelten.
In Wahrheit ist jene organische Lehre nicht einmal der treue Aus-
druck des Staatsl6bens auf der Höhe der griechischen Kultur, sondern
sie ist ein Gebilde der Philosophen, ein Unternehmen, der beginnenden
Auflösung in lauter individuelle Lebenskreise zu widerstehen, sie ist
der Versuch einer Restauration, erfolglos wie alle derartigen Versuche.
Ja die Philosophen selbst haben am meisten dazu getan, ihre
Forderung unmöglich zu machen, indem sie vor allem den Menschen
über den bloßgesellschaftlichen Lebenskreis durch die Eröffnung
eines neuen Lebensideals der wissenschaftlichen Forschung hinaus-
hoben. Derselbe Aristoteles, der den Staat für früher (d. h. begrifflich
früher) erklärt als den Menschen, sieht nur in dem theoretischen
Leben mit seiner Richtung auf das große All ein wahrhaft glück-
seliges Leben. Und damit formuliert er nur die durchgehende Über-
zeugung der gesamten griechischen Philosophie, zu deren Haupt-
verdiensten die Befreiung des Individuums von der gesellschaftlichen
Umgebung gehört. Die Hauptstätte der organischen Lehre ist das
Mittelalter. Hier ward in der Kirche das gesellschaftliche Ganze dem
Individuum unbedingt überlegen, hier erhob es den Anspruch, dem
Menschen alle Geistigkeit zuzuführen, hier bemaß sich alle Bedeutung
der Einzelnen nach der Stellung im Ganzen, hier ward das Ganze
zum Gewissen der Menschheit. Auch die wirtschaftliche Gestaltung
des Mittelalters bildet ein Ordnungssystem, das aus sicherer Über-
legenheit dem Einzelnen seine Stellung zuweist Ja die gesamte
Gedankenwelt hat eine hierarchische Gestalt, indem von gewissen
Zentralwahrheiten der Religion und Metaphysik den einzelnen Gebieten
ihre Richtlinien vorgeschrieben werden, die sie nur weiterzuführen,
nicht zu prüfen oder zu ändern haben. Für diesen Stand mag Vor-
stellung und Ausdruck «organisch" als angemessen erscheinen.
Für die Neuzeit aber ist nichts charakteristischer, als daß sich
das Leben von solcher Bindung an einen sichtbaren Mittelpunkt be-
freit und über die ganze Fläche des Daseins gleichmäßig ausgedehnt
hat: die Individuen sind geistig wie gesellschaftlich selbständig ge-
worden, und die einzelnen Lebensgebiete wollen ihre Probleme selb-
152 Zum Erkenntnisproblem.
ständig behandeln, sie wollen, jedes an seiner Stelle, auch um das
Ganze kämpfen. Dem an die mittelalterliche Denkweise Gewöhnten
muß das als ein kecker Abfall, als eine eigenwillige Auflösung aller
Zusammenhänge erscheinen, wie es denn selbst freier nnd universaler
denkenden Katholiken recht schwer zu werden pflegt, die eigentüm-
liche Art und ein eigentümliches Recht des Protestantismus anzu-
erkennen. In Wahrheit bedeutet jene Abwendung vom Mittelalter
nicht die Preisgebung aller, sondern nur die sichtbarer Zusammen-
hänge; die Größe der Neuzeit liegt in der Entfaltung und Ver-
fechtung der Überzeugung, daß das Geistesleben als Ganzes an jeder
Stelle gegenwärtig sei und sich zu voller Tätigkeit bringen lasse; so
braucht der Mensch Zusammenhänge nicht erst von draußen her zu
empfangen, sondern sie umfangen ihn von innen her; mit ihrer vollen
Aneignung aber erhält er eben durch die innere Bindung eine sichere
Überlegenheit gegen alle sichtbare und menschliche Ordnung. Da
solche Bindung sich nie von außen erzwingen läßt, sondern eine
eigne Entscheidung und Zuwendung verlangt, so ist sie kein Gegen-
satz, sondern eine Zwillingsschwester der Freiheit. Auch verleiht
erst solche Wendung dem Leben den Charakter der reinen Innerlich-
keit, während es unvermeidlich ein Moment des Äußeren und Äußer-
lichen behält, solange der Einzelne an erster Stelle einer sichtbaren
Ordnung angehört. Persönlichkeiten wie Luther und Kant stellen
uns deutlich genug vor Augen, wie sehr diese Umwälzung, dieser
Fortgang von einem sichtbaren zu einem unsichtbaren Ganzen, diese
Möglichkeit und diese Forderung, an jeder Stelle ursprüngliches und
unendliches Leben zu erwecken, den Anblick der menschlichen Wirk-
lichkeit umgestaltet
Solche Umwälzung aber trägt einen Bruch mit der organischen
Lehre in sich; diese muß nun als zu eng und beengend empfunden
werden. Der Mensch geht nicht auf in das Verhältnis zur gesell-
schaftlichen Umgebung und noch weniger in das zur politischen
Gemeinschaft; auch hat das Ganze, das uns umfängt, einen geistigen
Charakter nicht als einen festen, aller Gefährdung entzogenen Besitz,
aus dem die Individuen mühelos schöpfen, sondern was immer sich
im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben an gemeinsamen Vorstellungen,
Einrichtungen u.s.w. gebildet hat, das verliert seinen geistigen Charakter
sofort, wenn es nicht durch die Arbeit der Individuen, namentlich
durch die großer Persönlichkeiten, immerfort mit neuem Leben erfüllt
wird; wie überhaupt, so erhält sich auch im gesellschaftlichen Ganzen
Mechanisch — organisch. 153
die Geistigkeit nicht durch ihr bloßes Dasein, sondern nur durch
eine fortwährende Erneuerung, durch ein unablässiges Schaffen. Das
scheint uns die Hauptgefahr der organischen Lehre, daß sie als ein
für allemal vorhanden betrachtet, was immer neu aus freier Tat
hervorgehen muß; sie will im Gegensatz zum Naturalismus dem
Zusammenleben einen ethischen Charakter geben, aber sie gerät dabei
in Gefahr, das Ethische selbst als ein Ruhendes und damit natur-
haft zu fassen. Es ist das dieselbe Gefahr, der die Romantik oft
erlegen ist: der Rückschlag gegen die bloße Reflexion führt unter
die Macht von Naturbegriffen. Warum sollen wir also die not-
wendige Wahrheit einer so problematischen Form verketten, warum
nicht für die Eigentümlichkeit geistiger Zusammenhänge Formen
suchen, die der modernen Stufe des Lebens entsprechen?
3. Gesetz.
a) Zur Geschichte.
I |er Begriff des Gesetzes steht heute im Mittelpunkt der wissen-
*— ^ schaftHchen Arbeit; man streitet über seine Ausdehnung und
man streitet über seinen Inhalt, besondere Fassungen kommen auf und
finden Freunde und Feinde, die Auseinandersetzung zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften ist hier besonders lebhaft, ja erregt. Um
nichts weniger scheint hier gekämpft zu werden als um die Eigen-
tümlichkeit der einzelnen Wissenschaften wie um den Gesamtcharakter
der wissenschaftlichen Arbeit. So breitet sich eine schier unermeßliche
Fülle von Erörterungen aus; unsere Betrachtung kann an die Probleme,
die dabei in Frage stehen, mehr nur erinnern als sie zu fördern hoffen.
Der Begriff des Gesetzes ist vom Bereich des Menschen zur
Natur gewandert, hat hier eine neue Gestalt gewonnen und kehrt
mit ihr zum Menschen zurück, um auch sein Leben und Handeln
in ein neues Licht zu rücken. Er ist ein sinnfälliges Beispiel
der Erscheinung, daß der Mensch sein eignes Bild in das All
hineinsieht und es, erweitert wie umgewandelt, aus ihm zurückempfängt.
Dem einen dünkt das ein bloßer Zirkel und Anthropomorphismus,
der andere erhofft von solchem Ausgehen und Zurückkehren eine
innere Erweiterung des Menschen.
Zu einem Hauptpunkt der Arbeit machte den Begriff des Ge-
setzes erst die Neuzeit, bemerkenswerte Anfänge reichen aber in
das Altertum zurück. Der Ausdruck Naturgesetz geht zuerst nicht
auf die Außenwelt, sondern auf die eigne Natur des Menschen, er
bezeichnet das ungeschriebene Gesetz im Gegensatz zum geschriebenen. ^
* Über den geschichtlichen Ursprung des Terminus Naturgesetz handelt
F.. Zeller „Über Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze" 1883 (Abh.
der K. Pr. Akad. d. W.) und mit besonderer Umsicht und Gründlichkeit
R. Hirzel «ypacpo? vojj.o? (Abhandlungen der philologisch-histor. Klasse der
K. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften, 20. Bd.). Nach ihm bedeutet
a'Ypacpo? vo'[jlos zunächst die altüberlieferte Sitte und Gewohnheit, diese Be-
Gesetz. 155
Für die Natur als Außenwelt verwenden Plato und Aristoteles den
Ausdruck nur an vereinzelten Stellen und geben ihm dabei keine
technische Zuspitzung, ^ andere Bezeichnungen sind ihnen geläufiger
für den Begriff.^ Öfter haben den Ausdruck Naturgesetz zuerst die
Stoiker verwandt, wobei religiöse Vorstellungen zur Vermittlung
dienten; «der Begriff der göttlichen Gesetze war es, welcher zuerst
zu dem der Naturgesetze hinüberleitete" (Zeller). Den Stoikern
konnte das von der Gottheit begründete Gesetz zugleich als die
eigne Ordnung der Dinge gelten, weil ihnen die Gottheit nicht so-
wohl eine jenseitige Macht als die der Welt innewohnende Vernunft
bedeutete. Der Ausdruck überschritt dann bald die Grenzen der
Schule; unter den Römern hat ihn öfter gleich der erste Philosoph
Lucrez (foedera, foedus, leges naturae). Der Einbürgerung des Aus-
deutung erhielt sich durch das ganze Altertum. Aber daneben kam (seit
Thukydides) die andere der göttlichen, der ins Herz geschriebenen Gesetze
auf.' S. 40 heißt es hier von der Revision und Reform der solonischen Ge-
setzgebung, welche Kleisthenes ausführte: «Wie diese Reform nur durch die
Macht des Demos gelang, so diente sie auch dessen- Zielen und Absichten,
und es ist begreiflich, daß von an das Volk von Athen in seinen Gesetzen
das Bollwerk des jungen Staates von Athen erblickte. Von hier an datiert
der Kultus, der mit dem Gesetz und seinem Namen getrieben wurde. Die
Weihe gaben ihm die Taten und der siegreiche Ausgang der Perserkriege"
S. 50. «Wahrscheinlicher ist, daß der Name (i'Ypatpo? vo[i.O(;) erst im Gegen-
satz zum Y£Ypa(jL[x£voi; Xo'yo; aufkam, und sicher, daß er erst durch diesen
Gegensatz seine schärfere Bedeutung erhielt." Über den Gegensatz von vo'(jlo?
und «pu'ai; s, dort S. 82 ff. S. ferner die noch genauere Untersuchung in
»Themis, Dike und Verwandtes" S. 386 — 411.
^ Die einzigen Stellen sind Plato Timaeus 83 E: xal xaCta jj.kv 8t navta
vöaoiv opyava ye'Yovev, oxav atjxa [i.^ Ix xtijv oiTtwv xa\ ttotcTv nXrj'S'uiJTi xata cpüatv,
aXX' 15 ivavTitüv tov o-fxov izapa tou? TTfi «puaew? Xa[xßavT| vdfxou?. Arist. de
caelo 268a, 10 ff: xa^^-a'^p yäp ipaut xa\ o{ HuÖ'aYopEioi, to Ttäv xol xa Travra
T015 xptatv ü'pKTcat. xeXeuxr yap xal [xeaov xa\ ap/71 xov ciptO-iiov iyti xoü rtavxd?,
xauxa 8k xov xtJ; xpia'8os. Sio x:apa xtJ? ou'aew; £?X7)<pdxei; tSorcep vo'jjlou? Ixe(vr)?, xal
Ttpo? xa? iytaxeia; /ptüpieO-a xwv ■9'Etöv xw aptö-jAW xouxw. Wie vo'fxo; bei den
Philosophen leicht einer- künstlichen Zubereitung angenähert und dem Wesen
entgegengestellt wird, zeigt u. a. Aristot., Phys. 193a, 14: oOx ay yeviid-on
xXfvTjv aXXa $uXov, w? xo [lIw xaxa au[j.ߣßr]xd(; Ü7:a'p)(^ov, xi^v xaxa vdfxov Sta'O^atv
xa\ X£')(^V7]V, x:^v 8' ou(Tiav ouaav IxeJvtjv, .ri xa\ 8ta[i£V£t Jtolvxa 7i:au)(^oucra <7\iVf)(iZ<;.
* Namentlich gehört hieher avccYxrj (meist im Plural), das sowohl in der
ältp?i-:ri medizinischen Literatur als bei Demokrit, Xenophon (z. B. Memor. I,
1, 11), Plato (z. B. leges 967 A), Aristoteles nicht selten vorkommt. Es dürfte
der griechischen Forschung der Begriff des Naturgesetzes zuerst in der Astro-
nomie und in der Medizin aufgegangen sein.
156 Zum Erkenntnisproblem,
drucks war förderlich die im späteren Altertum übliche Personifikation
der Gesamtnatur, indem sie die Regelmäßigkeit ihres Geschehens als
den Ausdruck eines ordnenden Willens verstehen ließ. Einen tieferen
Einfluß auf die wissenschaftliche Arbeit erlangte aber der Begriff des
Naturgesetzes im Altertum nicht, namentlich wohl wegen des Über-
gewichts einer künstlerischen und teleologischen Naturbetrachtung,
welche nicht zur Zerlegung in elementare Vorgänge und zur Er-
mittelung ihrer Regelmäßigkeiten trieb. Die Kirchenväter nahmen den
Ausdruck auf und verstärkten seine religiöse Färbung, einem Augustin
sind die Naturgesetze bloße Gewohnheiten göttlichen Handelns, Ge-
wohnheiten, die zu Gunsten besonderer Zwecke jeden Augenblick
verlassen werden können. So stören Wunder und Naturgesetze ein-
ander nicht. Im Mittelalter tritt der Ausdruck sehr zurück; Natur-
gesetz (lex naturae) bezeichnet hier das innere Moralgesetz, nicht die
Ordnung der Außenwelt. ^ Um so mehr hat die Neuzeit «Naturgesetz"
in den Vordergrund gerückt, an kaum irgendwelchem anderen Begriff
hat sie so sehr ihr Selbstbewußtsein gefunden und ihre eigentümliche
Art erwiesen. Ein Allgemeineres der Denkweise und die besondere
Gestaltung der Arbeit verstärken einander dabei gegenseitig. Das
Naturgesetz, als Ordnung des Geschehens, nicht des Sollens, als Aus-
druck der einfachen Wirkformen der Elemente, hatte die volle
Neigung der damaligen Menschheit für sich, weil es ein Verstehen
der Wirklichkeit nicht aus jenseitiger Ordnung, sondern aus ihrer
eignen Natur versprach, und weil es diese Natur ohne alle mensch-
liche Zutat und Verfälschung bei sich selbst zu erschließen schien.
Dazu kam das der modernen Wissenschaft eigentümliche Streben nach
einer neuen, einer exakten Begreifung der Natur durch eine Zerlegung
der Wirklichkeit in kleinste Elemente und eine Durchleuchtung von
^ Der Ausdruck leges naturae war so fremdartig geworden, daß der
Beginn der Aufklärung ihn glaubte rechtfertigen und verteidigen zu müssen.
So z. B. Clauberg op. omn. 103 : Est qui hie nodum in scirpo quaerat, quod
leges sint tantura causae morales, quae imperant, non efficiunt, quae materiae,
utpote rationis experti,' ferri non possunt. Causa autem hujus appellationis
(Naturae legum) est in propatulo. Quemadmodum enim rebus ratione prae-
ditis Deus leges imposuit morales, quas abservando bene agunt, transgrediendo
peccant, ita voluit res omnes naturales certo semper ordine, certis legibus
moveri ac quiescere, quas quidem leges ipsae illae res, utpote causae neces-
sariae, non possunt non observare. Auch hier liegt die Bedeutung der re-
ligiösen Denkweise für die Bildung und Verwendung des Begriffes deutlich
zutage.
Gesetz. 157
daher. Die völlige Umwandlung des Weltbildes, die daraus hervor-
ging, hatte drei Hauptsttifen: Analyse, Gesetz, Entwicklung; das Ge-
setz mit seiner Ermittelung der einfachen Wirkformen der Elemente
ist das Rückgrat des Ganzen, erst mit ihm wird eine Präzision der
Erkenntnis erreicht und eine vollständige Unterwerfung der Wirklich-
keit unter den Gedanken angebahnt Wie aber die Zurückführung
auf einfache Vorgänge die Natur durchsichtig zu machen schien,
so gewährte sie zugleich die Möglichkeit neuer Kombinationen der
Elemente zu Gunsten menschlicher Zwecke. Das Gesetz ist der
Punkt, wo das Streben nach engster Verbindung von Theorie und
Praxis, das der neueren Forschung von Anfang an innewohnt sich
in wirksame Arbeit umsetzt Denn hier wird der Endpunkt des
Erkennens zum Ausgangpunkt des Handelns; aus vereinzelten und
zufälligen Funden ist die Technik eine selbständige und lebens-
umspannende Macht nur mit Hilfe der Gesetze geworden. So laufen
bei ihnen alle Fäden zusammen als dem Mittelpunkt der geistigen
Arbeit; sie bilden den klarsten Ausdruck des modernen Verlangens
nach immanenter und sachlicher Erklärung, nach analytisch-präziser
Begreifung, nach einem aktiveren Verhältnis des Menschen zu seiner
Naturumgebung.
Aber zugleich war das Gesetz in dem neuen Sinne eine schwere
Aufgabe und eine Sache mannigfachster Verwicklung. Im Streben
nach Gesetzen verschlingt sich eng Erfahrung und Vernunft Regel-
mäßigkeiten werden entdeckt, und es entsteht eine große Freude dar-
aus, daß was im ersten Eindruck wirr durcheinander läuft, einer schärferen
Betrachtung geordnete Reihen zu erkennen gibt Aber man verbleibt
nicht bei der bloßen Konstatierung mehr oder weniger verwickelter
Tatsachen, man möchte diese zerlegen und auf einfache, letzte, all-
gegenwärtige Elemente zurückführen, zugleich aber statt eines bloßen
Nach- und Nebeneinander einen kausalen Zusammenhang erreichen;
man strebt von empirischen zu rationalen, von beschreibenden zu
erklärenden Gesetzen, die notwendig und allgemeingültig sind. Nur
solche rationale Gesetze dürfen ausschließlich herrschen wollen, sie
können keine Ausnahmen, also auch nicht das Wunder dulden. Sie
werden nach möglichster Einfachheit streben und alle Mannigfaltig-
keit als Ausdruck eines durchgehenden Geschehens zu verstehen
suchen. Auch werden diese Gesetze auf einem präzisen Ausdruck,
einer bestimmten Formel bestehen, da nur eine solche zur Beherrschung
des Tatbestandes zu führen vermag. Diesen präzisen Ausdruck gibt
158 Zum Erkenntnisproblem.
dem Naturgesetz vornehmlich die Mathematik. So konnte Newton
die Aufgabe echter Naturforschung darin setzen, unter Verzicht auf
die substantiellen Formen und die verborgenen Qualitäten die Natur-
erscheinungen auf mathematische Gesetze zurückzuführen, ^ und Kant
behaupten, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche
Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzu-
treffen ist" (IV, 360 Hart). Aber solche Wendung stellt schwere
Aufgaben und legt manche Irrungen nahe. Oft wird bloß empirischen
Verallgemeinerungen beigelegt, was nur den Gesetzen strengster
Fassung zukommt; kaum hat jemand mehr von der Ausnahmslosigkeit,
der Unveränderlichkeit der Gesetze gesprochen als derselbe Comte,
dem sie nur eine Beschreibung der Erfahrung bedeuten sollten.
Zugleich gibt die bloße Regelmäßigkeit sich leicht wie einen völligen
Abschluß, die Aufgabe scheint gelöst, wo sie eben nur bezeichnet
ist. Der Begriff des Gesetzes hat oft dogmatisierend gewirkt, nirgends
mehr als auf dem Gebiet der Biologie, wo oft sehr verwickelte
Erscheinungskomplexe sich den Anschein strenger Gesetze gaben
und deren Forderungen stellten.
Zu solchen Verwicklungen aus der Durchführung der weiteren
Fassung kommen Störungen aus einem mehr oder minder versteckten
Fortwirken des älteren Gesetzesbegriffes mit seiner Beziehung auf
ein überlegendes Wollen. Das geschieht, wenn Denker des 1 7. und
1 8. Jahrhunderts aus der Gesetzlichkeit der Natur eine gesetzgebende
Gottheit glauben erschließen zu können. Aber es geschieht auch,
wenn in umgekehrter Richtung eine pantheistische Denkweise die
Gesetze wie lebendige Mächte behandelt und sie als einen Gegen-
stand andächtiger Verehrung an die Stelle der Gottheit setzt, ^ Auch
darin steckt ein Fortwirken der älteren Art, daß das Gesetz oft wie
eine über den einzelnen Vorgängen schwebende Macht behandelt
^ S. den Beginn der philosophiae naturalis principia mathematica:
Missis formis substantialibus et qualitatibus occultis phaenomena naturae ad
leges mathematicas revocare.
^ So zieht sich von Giordano Bruno durch die Neuzeit bis zur Gegen-
wart ein gewisser Kultus des Naturgesetzes. Bruno sucht das Höchste in
inviolabili intemerabilique naturae lege, in bene ad eandem legem instituti
animi religione (de universo et immenso 653). Je skeptischer sich heute die
Menschen zur Religion verhalten, desto blindere Verehrung pflegen sie dem
Naturgesetz zu zollen.
Gesetz. I59
wird, die ihnen die Bahn vorschreibt. ^ EndUch gehört auch das
hieher, daß, je kecker die Behauptung eines Gesetzes und einer
Gesetzesformel auftritt, sie desto leichter Eingang findet. Eine Tat-
sache pflegen wir zu prüfen, ehe wir sie anerkennen ; an einem Ge-
setze zu zweifeln, das scheint eine Sünde gegen den Geist der
Wissenschaft. So überträgt sich die Autorität, die das Gesetz als
ein praktisches Gebot hat, zu Unrecht auf das Gesetz des Geschehens:
auch für dieses wird schleunige Zustimmung verlangt und keinerlei
Widerspruch geduldet. Wie hätte ohne solchen kritiklosen Respekt das
berüchtigte «eherne Lohngesetz" eine so große Rolle spielen können!
Namentlich die Formel wirkt dabei Wunder. Wie viel weniger hätte
Mahhus die Geister bewegt, wenn er seiner Lehre von der Bevölke-
rungszunahme nicht die bekannte mathematische Formel gegeben
hätte! «Man liebt die Sicherheit", so klagte schon Pascal; man hält
aber leicht für sicher, was keck und selbstbewußt auftritt.
Aber so mißlich das alles sein mag, solche menschliche
Irrungen sind eine unvermeidliche Begleiterscheinung jeder großen
Wendung, an den Gesetzen selbst dürfen sie nicht irre machen.
Überblicken wir also rasch die intellektuelle Bewegung, die der
Kampf um das Gesetz in der Neuzeit hervorgerufen hat und unab-
lässig hervorruft.
b) Der Kampf um das Gesetz in der Neuzeit.
Die Naturgesetze haben ihre eigentümliche Ausprägung im
Gebiet der unorganischen Natur gefunden; so war es eine Über-
tragung der Größen und Methoden dieses Gebietes, welche das Vor-
dringen des Gesetzesbegriffes in andere Disziplinen begleitete. Dabei
mußte aber — früher oder später — bemerklich werden, was in ihm
selbst an Problemen und auch Schranken liegt. Beim Gesetze ist
alle Aufmerksamkeit den Formen des Geschehens zugewandt, die Kräfte
und Ursachen bleiben im Hintergrund; wird solche Zurückstellung
überall möglich sein, und wird das Hervortreten dieses Problems
^ Mit Recht bemerkt darüber Sigwart (Logik II,', 512): „Eine leere
rhetorische Phrase ist es von Naturgesetzen so zu sprechen, als ob die bloße
Formel eine magische Macht über die Erscheinungen übte und ihnen etwas
zumutete, was nicht aus ihrer eignen Natur von selbst folgte. Gesetze können
nie Gründe des wirklichen Geschehens sein, sondern nur die konstante Art
und Weise ausdrücken, wie reale Dinge sich verhalten."
160 Zum Erkenntnisproblem.
nicht den Anblick des Ganzen verändern? Beim Gesetze wird die
Wirklichkeit in lauter einzelne Vorgänge zerlegt und alles beherrschende
Ganze entfernt; sollte das für alle Gebiete taugen? Beim Gesetze
bildet jedes einzelne Geschehen nur einen Sonderfall eines allge-
meinen, alle Individualität wird hier für die Wissenschaft ausgeschaltet;
wird das Individuelle sich überall mit einem so bescheidenen Platz
begnügen, wird es nicht aller versuchten Gleichmachung eine un-
vergleichliche Art entgegensetzen? Endlich erscheint beim Gesetze,
namentlich wenn es nicht bloß beschreiben, sondern auch erklären
will, das Geschehen als völlig determiniert und unweigerlich fest-
gelegt; für freie Entscheidung, für eine Wahl zwischen verschiedenen
Möglichkeiten gibt es hier keinen Platz. Werden sich dem alle
Lebensgebiete fügen?
Probleme also in Hülle und Fülle, durch alle einzelnen hin-
durch aber das Gesamtproblem, wie weit die mechanischen Natur-
begriffe die ganze Wirklichkeit unter sich zu bringen vermögen.
Der Widerstand gegen den Gesetzesbegriff kann dabei eine schroffere
und eine mildere Form annehmen: entweder wird der Gesetzes-
begriff für ein besonderes Gebiet ganz und gar abgelehnt, oder er
wird, unter Ablösung von der naturwissenschaftlichen Fassung, dessen
Besonderheit angepaßt. Aus beidem zusammen erwächst eine höchst
lebhafte Bewegung, die nicht wenig dazu beigetragen hat, die Eigen-
tümlichkeit der einzelnen Gebiete in klares Licht zu stellen.
Es beginnt aber die Ausbreitung des Gesetzesbegriffes über die
Natur hinaus schon im 1 7. Jahrhundert, namentlich findet er schon
damals Eingang in die Psychologie. Das 18. Jahrhundert setzt die
Bewegung fort und führt sie tiefer in die einzelnen Gebiete ein.^
Ihren Höhepunkt aber erreicht jene erst im 1 9. Jahrhundert, nament-
lich in seiner zweiten Hälfte.
Es wirkte hier manches dahin zusammen, das Gesetz in den
Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit zu rücken. Vor allem das
^ Mit besonderer Energie hat Montesquieu den Gesetzesbegriff ver-
fochten. Er sagt gleich in den Anfängen seines esprit des lois: les lois, dans
la signification la plus etendue, sont les rapports necessaires qui derivent de
la nature des choses; et dans ce sens tous les etres ont leurslois: la divinite
a ses lois, les intelligences superieures ä l'homme ont leurs lois, les betes
ont leurs lois, l'homme a ses lois. Und etwas weiter: il y a donc une raison
primitive, et les lois sont les rapports qui se trouvent entre eile et les diffe-
rents etres, et les rapports de ces divers etres entre eux.
Gesetz. 151
Selbständigwerdeii der einzelnen Wissenschaften. Je weniger sie
fernerhin von der Philosophie Prinzipien und Regeln entlehnen
wollten, desto mehr mußten sie darauf bedacht sein, in ihrem eignen
Gebiet durchgehende Begriffe und feste Zusammenhänge zu finden.
In den Gesetzen aber hofften sie solche zu finden; mit ihrer Hilfe
schien der unermeßliche Stoff sich ordnen und gliedern zu lassen,
schien auch eine Vergleichung verschiedener Reihen und Gruppen
des Geschehens möglich zu werden. Diese Bewegung erhielt eine
besondere Spannung durch das Verhältnis von Natur- und Geistes-
wissenschaften. Die glänzenden Erfolge der Naturwissenschaften haben
auch ihre Expansionskraft, ihr Streben nach Beherrschung des ge-
samten intellektuellen Reiches gesteigert, namentlich scheint die Ent-
wicklungslehre Weltbegriffe zu liefern,, denen kein Gebiet sich ent-
ziehen kann; so dringt die naturwissenschaftliche Denkweise mit ihren
Begriffen tiefer und tiefer in die anderen Gebiete hinein. Aber zugleich
werden diese zum Widerstände gereizt und zur Besinnung auf ihre
Eigentümlichkeit getrieben, es entsteht ein lebhafter Kampf, dessen
Fortgang die Unterschiede immer mehr zum Bewußtsein gebracht hat.^
* Ein anschauliches Bild von der Bewegung in der Sprachwissenschaft
liefert B. Delbrück in der Abhandlung ,,Das Wesen der Lautgesetze" (Annalen
der Naturphilosophie I, 277 ff.). Nachdem schon Fr. Schlegel und Bopp die
Sprachwissenschaft in Vergleich mit der Naturwissenschaft gestellt hatten,
ohne jedoch sie zu den Naturwissenschaften zu rechnen, gab Schleicher der Sache
eine schärfere Zuspitzung. Sein Bekenntnis geht dahin (Die Darwinsche
Theorie und die Sprachwissenschaft, S. 7): „Die Sprachen sind Naturorganis-
men, die, ohne vom Wollen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden,
nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten, und wiederum
altem und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen,
die man unter dem Namen „Leben" zu verstehen pflegt. Die Glottik, die
Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft, ihre Methode
ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übrigen Naturwissen-
schaften." Demgegenüber haben, wie Delbrück näher ausführt, andere
Forscher, unter ihnen namentlich Whitney, zur Geltung gebracht, daß sich
bei der Entstehung und Veränderung von Sprachen nirgends dem Sprachstoff
innewohnende Lebensgesetze, sondern immer nur menschliche Handlungen
finden. Als ein solcher Ausfluß menschlichen Handelns und Wollens ist die
Sprache kein Naturorganismus, sondern eine Institution, eine von den In-
stitutionen, welche die menschliche Kultur ausmachen. Damit muß auch
das Sprachgesetz anders gefaßt werden als das Gesetz eines Naturorganismus.
Delbrück kommt in seiner Untersuchung der Lautgesetze zu dem Ergebnis,
daß, so sehr diese sui generis sind, kein Grund vorliegt, ihnen deswegen
den Namen von Gesetzen abzusprechen. „Denn wir verstehen auch bei
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. H
162 Zum Erkenntnisproblem,
Von der Welt des Leblosen ausgegangen, hatte das Naturgesetz
sich zunächst des Reichs des Lebendigen zu bemächtigen; auf wie
viel "Widerstand es dabei stieß, und wie der Kampf eben jetzt wieder
in vollem Gange ist, das hat uns im vorigen Abschnitt beschäftigt.
Die Übertragung des Naturgesetzes auf die Seele war schon durch
Descartes nahegelegt und wurde durch Spinoza großartig aus-
geführt; alles Seelenleben verwandelt sich hier in ein Gewebe
von Einzelvorgängen, die ganz nach Art der mechanischen Natur
sich bewegen und wirken. Leibniz läßt jede Monade ihren eignen
Gesetzen folgen und unterscheidet von den «physiko-mechanischen"
Gesetzen der Körper die »ethiko-logischen" der Seelen (736 b, Erdm.).
Psychologische Gesetze in strengerem Sinne haben namentlich die
Engländer aufgebracht, so die Assoziationsgesetze; in Deutschland
geht die Bewegung über Wolff zu Herbart fort, der die mathematische
Formel auch in das Innere des Seelenlebens einführen möchte.
Zugleich aber fehlt es nicht an Männern, welche die eigentümliche
Art des Seelenlebens mit seiner inneren Einheit, seiner Beweglich-
keit, seiner Individualität zur Geltung bringen und damit auch dem,
was hier sich an Gesetzen aufstellen läßt, eine deutliche Grenze
weisen
1
Entscheidend für die Behandlung der inneren Welt und die
Stellung der Gesetze in ihr ist die Frage, ob in dem Geistesleben
eine neue Stufe und selbständige Art der Wirklichkeit anerkannt
wird oder nicht. Wo jenes geschieht, kann über einen wesentlichen
Unterschied von allem naturgesetzlichen Geschehen keinerlei Zweifel
sein. Die Naturgesetze sind die rein gefaßten Wirkformen des Ge-
schehens, schlichte und einfache Tatsächlichkeit. Nun muß auch das
Gesetz geistiger Art in irgendwelcher Tatsächlichkeit wurzeln; haltlos
anderen Wissenschaften unter Gesetzen nichts weiter, als den Ausdruck für
Gleichmäßigkeiten, welche zwar im Einzelfalle nicht rein hervortreten, von
denen wir aber annehmen, daß sie stets rein hervortreten würden, wenn im
Einzelfalle alle anderswoher kommenden störenden Einwirkungen entfernt
werden könnten" (308).
^ So bemerkt Sigwart, dessen Untersuchungen über alle diese Probleme
besonders klar und eindringend sind, über die Assoziationsgesetze (Log. IP,
553): „Die Assoziationsgesetze deuten nur bestimmte Richtungen an, in denen
unsere Reproduktionen verlaufen können, oder in vielen Fällen verlaufen,
bestimmte Tendenzen der wirklichen Aneinanderreihung von Bildern oder
Wörtern u. s. w.; Gesetze, aus denen jeder wirkliche Vorstellungsverlauf als
notwendig nachgewiesen werden könnte, vermögen sie nicht darzustellen."
Gesetz. I53
in der Luft schwebende Gesetze, die doch eine Wirkung tun sollen,
sind ein Unding. ^ Aber das Geistesleben, das den unentbehrlichen
Halt gewährt, ist keineswegs ein voller Besitz des Menschen, sondern
es ist für ihn, wenn auch zu seinem innersten Wesen gehörig, zu-
gleich ein hohes Ziel, eine schwere Aufgabe, zugleich Natur und
Ideal. Damit werden die Gesetze zu Normen, die nicht wirkungslos
sind, die aber Widerstand finden und sich gegen ihn durchsetzen
müssen. ^ Je nach der Eigentümlichkeit des intellektuellen, des ethischen,
des ästhetischen Gebietes gestaltet sich der Widerstand und überhaupt
der Lebensprozeß verschieden, wie wir alle wissen.
Nur das vielbehandelte Problem des Verhältnisses von Natur-
gesetz und Sittengesetz sei hier mit einigen Worten gestreift.
Dies Problem ist namentlich durch Kant in den Vordergrund ge-
bracht. Denn indem er die Moral über alles seelische Getriebe
hinaushob, mußte sich das Sittengesetz mit seinem Soll vom Natur-
gesetz bis zu schroffem Gegensatz abheben. Einem Schleiermacher
schien damit das Sittliche unter einen einseitigen Anblick gestellt
und eines sicheren Haltes in der menschlichen Natur beraubt; das
trieb ihn, den engen Zusammenhang von Natur- und Sittengesetz
zu verfechten. 3 Aber diesen berechtigten Gedanken hat Schleier-
macher stark überspannt und das Charakteristische der Moral
dadurch abgeschwächt. Wer die Moral zur Natur des Menschen
rechnet, der gibt dem Begriff der Natur einen neuen Sinn und hat
sie scharf von allem bloßen Dasein zu scheiden; so ist schließlich
Kant in besserem Recht als Schleiermacher.* Die unmittelbare Gleich-
* Mit Recht macht Husserl bemerklich, daß „jede normative und a fortiori
jede praktische Disziplin eine oder mehrere theoretische Disziplinen als Funda-
mente voraussetzt, in dem Sinne nämlich, daß sie einen von aller Normierung
ablösbaren theoretischen Gehalt besitzen muß, der als solcher in irgend-
welchen, sei es schon abgegrenzten oder noch zu konstituierenden theoretischen
Wissenschaften seinen natürlichen Standort hat" (Logische Untersuchungen 1, 47).
S. auch S. 164: „Der Gegensatz von Naturgesetz als empirisch begründeter
Regel eines tatsächlichen Seins und Geschehens ist nicht das Normalgesetz
als Vorschrift, sondern das Idealgesetz im Sinne einer rein in den Begriffen
(Ideen, reinen Gattungsbegriffen) gründenden und daher nicht empirischen
Gesetzlichkeit."
' Von neueren Untersuchungen darüber sei namentlich erwähnt Windel-
bands Abhandlung ,, Normen und Naturgesetze" in den „Präludien".
» S. Werke zur Philos. II, 397-417.
* Zeller „Über Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze" (1883)
kommt hinsichtlich der Ethik zu dem Schlußergebnis: „Ihre Sätze sind nicht
11*
164 Zum Erkenntnisproblem.
Setzung von Natur- und Sittengesetzen entspricht dem Stande der
antiken Ethik; sie ist hinfällig geworden und widerspricht der welt-
geschichtlichen Lage, nachdem das Verhältnis des Menschen zum
Geistesleben hat schwere Verwicklungen erkennen lassen. Auch wäre
leicht zu zeigen, daß, wo immer moderne Denker die Sittengesetze
prinzipiell als Naturgesetze faßten, der Verlauf der Untersuchung
sie immer wieder zur Anerkennung einer abweichenden Art ge-
zwungen hat.i
Die dem 1 9. Jahrhundert eigentümliche geschichtlich-gesellschaft-
liche Denkweise mußte das Streben erzeugen, sowohl das gesellschaft-
liche als das geschichtliche Gebiet festen Gesetzen zu unterwerfen.
Das Drängen auf Präzision vornehmlich unterscheidet die moderne
Gesellschaftslehre, die Soziologie, von allen früheren Versuchen. Mit
Hilfe der großen Zahl wird das Zufällige der individuellen Er-
scheinungen ausgeschieden, werden Durchschnitte ermittelt und die
Grenzen abgesteckt, innerhalb derer etwaige Abweichungen liegen,
werden Regelmäßigkeiten innerhalb des sozialen Gebietes aufgedeckt ^
Je mehr aber die Forschung die Überraschung überwunden hat,
welche das erste Gewahren von Regelmäßigkeiten innerhalb eines bis
dahin scheinbar dem Zufall preisgegebenen Gebietes bewirkte, desto
kritischer ist man gegenüber dem Begriff der Gesetze geworden, desto
deutlicher hat sich der Unterschied zwischen bloßen Tendenzen des
gesellschaftlichen Lebens und eigentlichen Naturgesetzen herausgestellt.
Noch mehr Bewegung hat der Begriff auf dem wirtschaftlichen
Gebiete engeren Sinnes hervorgerufen; nirgends hat der Streit darüber
mehr Folgen für das Handeln und Leben als hier.^ Denn das
der Ausdruck dessen, was irgendwo als Recht oder Sitte besteht, sondern
der Forderungen, die als Normen der menschlichen Willenstätigkeit aus der
Idee des Menschen hervorgehen." S. auch Siebeck: „Über das Verhältnis
von Naturgesetz und Sittengesetz" (Philos. Monatshefte 1884, S. 321 ff.).
^ Comte liefert dafür ein hervorragendes Beispiel. Der große Empirist,
der grundsätzlich die Gesetze nur als Beschreibungen verstanden wissen
will, meint bei der Wendung zur Gesellschaft (cours de phil. pos. IV., 466):
Cette generalite empirique, qui en toute autre science pourrait dejä avoir
une valeur süffisante, ne saurait pleinement convenir ä la nature propre de la
sociologie.
' In dem allen nimmt bekanntlich Quetelet eine hervorragende Stel-
lung ein.
' Zur Geschichte des Begriffes bemerkt Neumann, dem wir besonders
verdienstliche Untersuchungen über diesen Gegenstand verdanken (Jahrbücher
für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge 1899, S. 152/3): „Geforscht hat
Gesetz. 165
Problem des Gesetzes steht in unmittelbarem Zusammenhange mit
der Frage, wie sich der Staat zu den wirtschaftlichen Bewegungen
zu verhalten habe, ob bloß zuschauend oder selbsttätig eingreifend.
Bildete der wirtschaftliche Prozeß ein bloßes Gewebe sich selbst
regulierender Einzelbewegungen, so erschien alles Eingreifen als eine
Störung, das laissez faire, laissez aller wurde zur Summe politi-
scher Weisheit In Wahrheit ist ein solches Gehenlassen an sich
selbst etwas anderes als ein bloßer Naturprozeß. Denn neben
jenem Gehenlassen stehen andere Möglichkeiten, es muß auf dem
Boden der Geschichte gegen andersartige Zustände erst durchgesetzt
werden, es wirkt, wenn eingeführt, nicht wie selbstverständlich fort,
sondern es läßt sich zurücknehmen, es muß von einem fortlaufenden
Willen getragen werden. Dazu ist der Glaube an eine Selbstregu-
lierung der wirtschaftlichen Verhältnisse durch die natürlichen Triebe
und Kräfte der Individuen nicht möglich ohne einen optimistischen
Glauben an die Vernunft der gesellschaftlichen Verhältnisse; jede Er-
schütterung dieses Optimismus untergräbt auch den Glauben an das
Allvermögen der Naturgesetze. Nun haben die wirtschaftlichen Ver-
wicklungen des 19. Jahrhunderts jenen Optimismus aufs schwerste er-
schüttert, sie drängen immer stärker zum Eingreifen des Staates in den
wirtschaftlichen Prozeß, sie entwinden damit das Gebiet den bloßen
Naturgesetzen und verstärken die Bedeutung der ethischen wie der
historischen Elemente.^ Die Anerkennung dieses ethischen und
historischen Moments verhindert keineswegs die Anerkennung wirt-
man nach wirtschaftlichen und sozialen Gesetzen, wie an anderem Ort zu
zeigen versucht ist (So zuletzt in dem Aufsatz: Wirtschaftl. Gesetze nach
früherer und jetziger Auffassung. Jahrb. für Nationalökonomie und Statistik.
N. F. 1898, Bd. 16), schon im Altertum und sodann, nach den allerdings auf
anderen Gebieten erzielten Erfolgen Bacons und Newtons, namentiich seit
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, seit Locke und Hobbes, von denen
der Erstere auch bereits den Ausdruck law hierfür gebrauchte, während
gerade die Physiokraten , da sie diesen Vorgängen folgten, nicht ganz frei
von der Schuld zu sprechen sind, daß sie unter dem Einfluß damals all-
mächtiger naturrechtiicher Voretellungen die in Rede stehenden Gesetze des
Geschehens von solchen des Sollens oder den ethischen Gesetzen nicht
ausreichend zu trennen wußten."
^ Erwähnung verdient dabei, daß nicht bloß auf individualistischer,
sondern auch auf sozialistischer Seite Neigung bestand, den Begriff des Ge-
setzes auf Kosten der freien Tat zu überspannen. Nur erhielt die Sache hier
die Gestalt, daß eine Gesamtbewegung des weltgeschichtlichen Lebens, jen-
seit alles Wollens und Tuns der Individuen, mit unabwendbarer Dialektik
166 Zum Erkenntnisproblem.
schaftlicher Gesetze. Aber sie entsprechen dann nicht einfach den
Naturgesetzen, sondern sind nach Neumanns Definition »der Aus-
druck für eine infolge der Macht wirtschaftlicher Zusammenhänge
aus gewissen Motiven sich ergebende regelmäßige Wiederkehr wirt-
schaftlicher Erscheinungen (Tendenzen oder Vorgänge)".^
Am meisten Bewegung hat in neuester Zeit das Problem der
geschichtlichen Gesetze hervorgerufen, mehr und mehr ist es zum
Mittelpunkt des Kampfes um die Gesamtauffassung der Geschichte
geworden. Je mehr seit Beginn der Neuzeit die überkommene
supranaturale Vorstellung von der Geschichte wich, desto mehr mußte
es dazu drängen, innerhalb ihres eignen Bereiches durchgehende
Bewegungen und feste Regelmäßigkeiten aufzuweisen. Die Aufklärung
prägte solchem Verlangen ihren eigentümlichen Stempel auf. Ihre
Geschichtsforschung „zertrümmerte das bisherige Geschichtsbild, wie
es an den danielischen Monarchien, an der Apokalypse oder an
Augustin orientiert war, sie deckte eine bisher ungekannte oder un-
beachtete Welt auf, eröffnete unberechenbare Zeiträume der Geschichte,
verwies den Sündenfall von der Spitze der Geschichte weg und
konstruierte einen ganz anderen Urzustand als Ausgangspunkt. —
Indem aber diese von Wunder und Vorsehung absehende Erklärung
ein unendlich verworrenes Spiel menschlicher Kräfte aufdeckte,
empfand man zugleich doppelt das Bedürfnis nach einem einfachen,
normalen Gehalt der Geschichte, den man in den Ideen des Natur-
rechts, der natürlichen Moral und Religion fand."^ Hatte die Philo-
sophie zunächst die Neigung, die Geschichte der Vernunft entgegen-
zusetzen, so erwuchs bald ein Streben, in ihr eine gewisse Ver-
nunft und zugleich eine Gesetzlichkeit der Bewegung aufzudecken. ^
Leibniz namentlich verficht die Idee einer durchgehenden Kontinuität
große Wendungen und Umwälzungen hervortreibt. So hat es namentlich
Karl Marx in engem Anschluß an die Hegeische Geschichtsphilosophie aus-
geführt. Aber auch hier entsteht der Widerspruch, daß eben das, was aus
gesetzlicher Notwendigkeit hervorgehen soll, zu seinem vollen Siege der
Anerkennung durch den Menschen, der Aufnahme in die eigne Überzeugung
bedarf. Nicht zu ruhiger Kontemplation, sondern zu energischer Aktion
wird eben hier der Mensch aufgerufen.
^ S. «Naturgesetz und Wirtschaftsgesetz" (Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft 1892, Heft 3).
* S. Tröltsch, Real-Encyklopädie für Theologie und Kirche. 3. Aufl.
unter „Aufklärung" S. 231.
* S. über diese Fragen meine Behandlung der Philosophie der Geschichte
in der „Kultur der Gegenwart".
Gesetz. 167
der geschichtlichen Be^x'egung, Vico den Gedanken einer regelmäßigen
Folge bestimmter Stufen in der Entwicklung der Völker und Epochen,
immer stärker wird das Verlangen nach einer durchgängigen Ver-
kettung der Ereignisse zum Zusammenhang eines Ganzen. Das
19. Jahrhundert führt die Sache erheblich weiter, indem es sowohl
scharfe Typen der Gesamtauffassung der Geschichte ausprägt, als in
der unermeßlichen Ausdehnung der Forschung empirische Regel-
mäßigkeiten aufdeckt. Jenes geschieht in den zugleich entgegen-
gesetzten und nahe verwandten Systemen Hegels und Comtes. Dort
eine allumspannende Logik, hier eine langsame Anhäufung, der ein-
zelnen Elemente, dort eine Bewegung durch schroffe Gegensätze,
hier ein ruhiges Aufsteigen, das aber deutlich drei Hauptstufen (trois
etats) erkennen läßt, hier wie dort ein Ausschluß aller Willkür, ein
sicheres Fortschreiten, eine völlige Bestimmtheit aller Mannigfaltigkeit
durch den jeweiligen Stand der Gesamtbewegung. Wurde so der
Geschichte von der Philosophie eine Gesetzlichkeit zugeführt, die
leicht ihren überströmenden Reichtum in einen zu engen Rahmen
preßte und alle Irrationalität wegzudeuten beflissen war, so hat von
der anderen Seite her die Durchdringung des Stoffes mittels der
Forschung in reichem Maße empirische Regelmäßigkeiten aufgedeckt.
Dabei wirkten tief in die Forschung hinein die großen Gegensätze
des modernen Lebens. Den gesetzlichen, ja speziell naturgesetzlichen
Charakter der Geschichte verstärkte die wachsende Einsicht in die
Abhängigkeit des menschlichen Befindens und Tuns von äußeren Be-
dingungen, es verstärkte ihn weiter die Erkenntnis der Abhängigkeit
der Individuen vom Ganzen, vom sozialen „Milieu"; es widersprach
ihm die der Aufklärung entgegengehaltene Individualität und Positivität
der Geschichte,^ es widersprach ihm nicht minder die Betonung der
* So vertritt z. B. Steffensen (Gesammelte Aufsätze, S. 278) die Über-
zeugung, »daß in der Geschichte das durch und durch Indixaduelle, das in
ihr in seinen höchsten Formen, in willenskräftigen Persönlichkeiten und
Gesellschaften, zu oberst in der Menschheit selbst, in großen Taten und
Leiden eines wahren Werdeprozesses offenbar wird, den unvergleichlichen
Reiz hervorbringt, den das geschichtliche Wissen für den menschlichen Geist
hat"; sowie daß „nicht die Bestätigung von der Geltung allgemeiner em-
pirischer Naturgesetze, sondern vielmehr das so ganz unverkennbare Zu-
sammenstoßen der höchsten irdischen Natur, des inneren Menschen, mit
idealen Gesetzen, besser mit idealen Mächten, welche die Unbedingtheit
Gottes widerspiegeln", es ist, „was uns in dem dramatischen, tragischen
Gang des geschichtlichen Lebens die Seele erschüttert."
168 Zum Erkenntnisproblem.
großen Persönlichkeiten, wie sie in Carlyle einen besonders prägnanten
Ausdruck gefunden hat. Es ist nicht bloß die verschiedene Schätzung
von Natur und Geist in unserer Wirklichkeit, es ist nicht minder
die Frage nach dem Inhalt des Geisteslebens, es ist im besondern
das Problem der Rationalität oder Irrationalität unseres Daseins,
welche die Frage nach der Gesetzlichkeit der Geschichte verschieden
beantworten lassen.
Diese Gegensätze erscheinen auch in der Behandlung des
methodologischen Problems, welches heute die Forscher bewegt
und vielfach entzweit Mit besonderer Energie und einleuchtender
Klarheit hat neuerdings Windelband den Unterschied von natur-
wissenschaftlicher und geschichtlicher Behandlung zum Ausdruck
gebracht. ^ Dort wird das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes,
hier das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt gesucht,
dort die immer sich gleichbleibende Form, hier der einmalige, in
sich bestimnite Inhalt des wirklichen Geschehens betrachtet. «Das
wissenschaftliche Denken ist — wenn man neue Kunstausdrücke
bilden darf — in dem einen Falle nomothetisch, in dem andern
idiographisch (S. 26)"; ,;den festen Rahmen unseres Weltbildes gibt
jene aligemeine Gesetzmäßigkeit der Dinge ab, welche, über allen
Wechsel erhaben, die ewig gleiche Wesenheit des Wirklichen zum
Ausdruck bringt; und innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der
lebendige Zusammenhang aller für das Menschentum wertvollen Einzel-
gestaltungen ihrer Gattungserinnerung" 2 (S. 38). Diese Überzeugung
ist von Rickert in geistvoller und selbständiger Weise weitergeführt;^
sie hat überhaupt viel literarische Bewegung hervorgerufen. Gegen-
über solcher Richtung auf das Individuelle verficht Lamprecht die
Überzeugung, daß das Individuelle nur der künstlerischen Erfassung
zugänglich sei, und daß das wissenschaftliche Denken wie überall,
so auch in der Geschichte nur auf das Typische gehen könne;
^ S. „Geschichte und Naturwissenschaft", Rektoratsrede 1894.
^ Es hatte auch schon Paul in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte
„Geschichtswissenschaften" und „Gesetzeswissenschaften" unterschieden; er
sagt dort (S. 1): „Wie jedem Zweige der Geschichtswissenschaft, so muß
auch der Sprachgeschichte eine Wissenschaft zur Seite stehen, welche sich
mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden
Objektes beschäftigt, -welche die in allem Wechsel gleichbleibenden Faktoren
nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht."
^ S. „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" I und II.
Gesetz. 169
von hier aus entwickelt er die Lehre von sozialpsychischen Ent-
wicklungsstufen, die in bestimmter Ordnung verlaufen.^
Eine nähere Erörterung an dieser Stelle ist nicht wohl möglich;
auf das Hauptproblem wird der Artikel Geschichte zurückführen.
Hier sei nur zweierlei bemerkt. Zunächst, daß auch eine volle
Würdigung der Tatsächlichkeit und Einmaligkeit der Geschichte
nicht verhindert, gewisse Regelmäßigkeiten in ihr anzuerkennen. Die
Art z. B., wie sich der Ablauf der Entwicklung eines ganzen Volkes,
und wie sich die Bewegung von einzelnen Gebieten wie Religion,
Kunst u. s. w, in verschiedenen Kulturepochen vollzieht, kann als
Erzeugnis der bleibenden Art des Menschen sehr wohl etwas ver-
wandtes, ja gleichmäßiges haben. Insofern könnten unbedenklich Ge-
setze der Geschichte anerkannt werden. Aber sie würden dann nur
die Form des Geschehens betreffen, der Inhalt würde der Individualiät
der einzelnen Epochen verbleiben und sich damit aller Ableitung
entziehen. — Wie viel Selbständigkeit ferner die Einzelvorgänge in
der "Geschichte haben, und wieweit die ganze Geschichte als ein
Einzelvorgang zu fassen ist, das wird sich verschieden gestalten je
nach der prinzipiellen Fassung des Geisteslebens und seines Ver-
hältnisses zur menschlichen Lage. Diese Fassung entscheidet dar-
über, ob Persönlichkeiten oder Massenwirkungen den Kern der
geschichtlichen Bewegung bilden. Das alles aber weist über das
methodologische Problem hinaus und wird uns später zu beschäftigen
haben.
* Über den Streit um Gesetze der Geschichte orientiert vortrefflich
Bemheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie.
3. u. 4. Aufl. S. 91 ff.
C. Zum Weltproblem.
1. Monismus und Dualismus.
Auch bei der Wendung zu den Weltproblemen wird uns das
■• ■■ Problem des Lebensprozesses, speziell des Geisteslebens, stets
gegenwärtig bleiben. Denn auch dort liegt die Entscheidung nicht
bei abstrakt-begrifflichen Erwägungen, sondern beim Tatbestande
der Wirklichkeit; dafür aber ist nichts wichtiger als die Frage, welchen
Inhalt das Geistesleben zeigt und welche Stellung es damit gewinnt;
hier liegt das Zentrum, wohin alle besonderen Untersuchungen zu
bringen sind, und wo seine letzte Würdigung findet, was die Er-
fahrung an der Breite der Dinge ermittelt hat; sucht doch in allen
Kämpfen um die Weite der Welt schließlich der Mensch sich selbst,
den Kern seines eignen Wesens. Auch die geschichtliche Betrachtung
bestätigt das durch den Nachweis, daß es überall die eigentümliche
Gestaltung des Geisteslebens war, welche die Theorien erzeugte und
zur Macht erhob.
a) Zur Geschichte und Kritik der Begriffe.
Die Ausdrücke Monismus und Dualismus entstammen den letzten
Jahrhunderten. Dualismus verwandte zuerst Thomas Hyde in der
1700 erschienenen Schrift Historia religionis veterum Persarum
(z. B. Kap. IX, S. 164) zur Bezeichnung eines religiösen Systems,
das dem guten Prinzip ein böses als gleichewig zur Seite stellt; in
diesem Sinne ward das Wort durch Bayle (s. den Artikel Zoroastre)
und Leibniz (s. Theodicee II, 144, 199) an weitere Kreise gebracht.
Als Gegenstück zu „Monismus" gebrauchte es zuerst Wolff, aber
zugleich übertrug er die Ausdrücke auf das Verhältnis von Körper
und Geist: Monisten — das Wort ist von Wolff gebildet — heißen
nunmehr, die nur eine Art des Seins, sei es Körper sei es Seelen,
Monismus und Dualismus. 171
annehmen, also sowohl die Idealisten als die Materialisten, Dualisten
dagegen, welche Körper und Seelen als voneinander unabhängige
Substanzen betrachten.^ Wolff selbst wollte Dualist sein. Beide
Ausdrücke blieben auf die Schule beschränkt, namentlich Monist er-
scheint bis in das 19. Jahrhundert hinein äußerst selten. In weiteren
Umlauf brachten das Wort zuerst Hegelianer als Bezeichnung ihrer
eignen Denkweise, so erschien 1832 eine Schrift von Göschel »Der
Monismus des Gedankens". Dann folgte wieder eine Ebbe, bis die
darwinistische Entwicklungslehre (Häckel und Schleicher) den Aus-
druck ergriff und ihn sich anpaßte. Weiter aber bezeichnet er jedes
System, das Körper und Seele, Natur und Geist nicht einander,
sondern beide einem überlegenen Dritten unterordnen und einfügen
will. In diesem Sinne werden oft Monismus und Spinozismus als
gleichbedeutend genommen.
So führen uns jetzt die Ausdrücke auf das Verhältnis von
Körper und Seele oder — in Ausdehnung über das Weltall — auf
das ' von Natur und Geist. Der Gegensatz, der dabei entsteht,
erhält eine besondere Schroffheit dadurch, daß er den Kern unseres
eignen Wesens betrifft, und daß er im Fortgang der weltgeschicht-
lichen Arbeit unablässig zu wachsen scheint. Die Welt, so scheint
es, eröffnet sich uns in zwiefacher Weise: von außen her durch
sinnliche Empfindung, von innen her durch selbsttätiges Denken, als
ein Reich von sinnlichen Eindrücken und als ein Reich unsinnlicher
Gedankengrößen; wird die eine Reihe die andere in sich auf-
nehmen können, oder auch ein tieferes Eindringen den Gegensatz
in einen bloßen Schein verwandeln? Zum Gegensatz der Betrachtungs-
weisen kommt der wachsende Abstand des Inhalts beider Welten.
Aus der Natur hat die Wissenschaft zu Gunsten einer präzisen Be-
greifung und einer sicheren Beherrschung immer mehr alles seelische
Element vertrieben, zugleich aber hat das Seelenleben im eignen
Kreise sich immer weiter über die bloße Natur hinausgehoben und
sich immer mehr zu einem selbständigen Reiche ausgebildet. So
* Es ergab sich danach bei Wolff folgendes Scliema philosophischer
Parteien :
Skeptiker Dogmatiker
Monisten Dualisten
Idealisten Materialisten
Egoisten Pluralisten
172 Zum Weltproblem.
läßt der Verlauf der Geschichte das Körperliche immer seelenloser,
das Seelische immer spiritueller erscheinen. Das müßte den Dua-
lismus empfehlen, aber zugleich wachsen die Antriebe zum Monis-
mus hin, da nicht nur die exakte Forschung den Zusammenhang von
Seelenleben und Körper immer deutlicher aufweist und immer weiter
ins Einzelne verfolgt, sondern auch ein zunehmender Drang nach
Einheit dem Menschen ein Nebeneinander verschiedener Welten
verbietet. So tritt unseren Begriffen immer weiter auseinander, was
die Erfahrung immer enger verschlungen zeigt; so treibt es uns
immer zwingender zur Umwandlung des widerspruchsvollen Bildes.
Die Hauptrichtungen solches Strebens zeigt die Geschichte in deut-
lichem Bude; was sie aber zeigt, ist nicht mit der besonderen Zeit
erloschen, sondern es bleibt als eine Möglichkeit stets gegenwärtig
und fordert immer von neuem zur Entscheidung auf; bei allen
Wandlungen der Begriffe behaupten sich charakteristische Denk-
und Lebenstypen durch den Lauf der Zeiten bis in die Gegenwart.
Es geht aber die lebendige Geschichte, d. h. die Geschichte,
die in die eigne Arbeit hineinreicht, nicht hinter Descartes zurück;
alles Frühere ist für uns zur bloßen Historie geworden. Denn
wohl haben schon das Altertum und das Mittelalter sich viel mit
dem Probleme befaßt, aber alle Arbeit hatte bis zu Beginn des
17. Jahrhunderts nicht zu einer präzisen Fassung und deutlichen
Auseinandersetzung der Begriffe geführt. Die Vorstellung des
Seelischen enthielt mehr eine Verneinung des Körperlichen als eine
positive Behauptung; 1 so war es nicht zu vermeiden, daß immer
wieder das Bild einer nur feineren, subtileren, luftartigen Körper-
lichkeit in sie eindrang. Der Körper aber schien belebt, gebildet,
bewegt von seelenartigen Kräften, die ganze Natur war innerlich
belebt.2 Bei solchem Stande der Begriffe bediente sich die Erklärung
der Natur fortwährend seelischer Größen und verschloß sich damit
eine exakte Begreifung der Vorgänge. Andererseits geriet die
Psychologie unter den Einfluß sinnlicher und räumlicher Begriffe,
es erregte keinen Anstoß, Wirkungen von außen in die Seele ein-
* So konnte Descartes mit gutem Grunde sich dessen rühmen, daß er
zuerst das Ganze der Seele als Denken, d. h. bewußte Tätigkeit, positiv be-
stimmt habe.
* Bezeichnend dafür ist die aristotelische Definition der Natur als
dessen, was das «Prinzip der Ruhe und Bewegung in sich trägt", im Gegen-
satze zur Kunst, die es außer sich hat.
Monismus und Dualismus. 173
fließen und Willensimpulse in räumliche Bewegungen übergehen zu
lassen. Es war ein chaotischer Stand, der weder der Natur noch der
Seele ihr Recht gewährte.
Erst die Aufklärung hat diesen Stand überwunden, namentlich
ist es Descartes, der eine durchgreifende Scheidung und Klärung
vollzieht Nun erst wird jedem Gebiet eine volle Eigentümlichkeit
zuerkannt. Das Seelenleben wird als ein reines Beisichselbstsein
verstanden, dessen Einheit des Wesens (unitas essentiae) sich scharf
von aller Einheit einer bloßen Zusammensetzung (unitas compo-
sitionis) scheidet, wie solche die Außenwelt bietet; das Bewußtsein
geht hier aller besonderen Tätigkeit voran und verleiht ihr erst
einen seelischen Charakter; die seelische Bewegung kehrt immer zu
sich selbst zurück und kettet alle Mannigfaltigkeit an ein beherr-
schendes Ich. In ein solches Seelenleben kann nichts von draußen
einfließen, sondern alle Anregung kann es nur reizen, aus seinem
eignen Grunde gewisse Leistungen hervorzubringen; so bleibt es
auch in scheinbarer Abhängigkeit von draußen im Grunde stets bei
sich selbst. Solcher Selbständigkeit der Seele entspricht ein Selb-
ständigwerden der Natur. Die Massen und Bewegungen, die ihr
nach Austreibung alles seelischen Elementes verbleiben, bilden eine
eigne Welt; die Bewegung, für die bis dahin eine Seele unentbehr-
lich dünkte, wird nun den kleinsten Teilchen von Haus aus bei-
gelegt; das macht es möglich, aus der Zusammensetzung kleinster
— bewegter, aber seelenloser — Teilchen alle unermeßliche Mannig-
faltigkeit der Natur hervorgehen zu lassen. Alle inneren Kräfte und
Strebungen verschwinden damit aus ihr. Ja, die ganze bunte Fülle der
sinnlichen Eigenschaften, mit der in Farben , Tönen u. s. w. die
menschliche Fassung die Natur umkleidet, sie erscheint nun nicht
als den Dingen selbst angehörig, sondern als ihnen von der Seele
geborgt, als vom Menschen in sie hineingelegt
So scheiden sich scharf beide Seiten, so scharf, daß sich
ein letzter Abschluß dabei verbot Aber so viele neue Fragen und
Verwicklungen diese Spaltung hervorrief, sie ist ein gewaltiger Fort-
schritt, der fruchtbarste Anregungen brachte. Nun erst konnten die
beiden Gebiete ihre eigentümlichen Prinzipien und Methoden mit
voller Klarheit herausarbeiten, nun erst ließ sich das Seelische see-
lisch, das Körperliche körperlich verstehen, eröffnete sich eine exakte
Physik und eine erklärende Psychologie. Wie ein Schleier fiel es
jetzt von den Dingen, nun erst schien die Wirklichkeit sich uns völlig
174 Zum Weltproblem.
aufzuhellen. Dazu brachte jene Scheidung nicht bloß eine Klärung
der Begriffe, sie entsprach der zwiefachen Richtung des Lebens und
der Kultur, die von jener Zeit an durch die Neuzeit geht. Einer-
seits eine erhöhte Tätigkeit des Denkens, ein Umsetzen der Wirk-
lichkeit in Gedankengrößen, ein Messen des Daseins an Forderungen
der Vernunft, ein Streben nach Rationalisierung aller Verhältnisse,
eine kühn über alle bisherige Bindung vordringende Intellektual-
kultur; andererseits ein volles Selbständigwerden der Außenwelt
gegenüber dem Menschen, eine engere Verflechtung seiner mit der
Umgebung, ein unermeßliches Wachstum der Erfahrung, eine er-
höhte Bedeutung der materiellen Faktoren, ein immer stärkeres
Anschwellen einer Realkultur; wer könnte leugnen, daß diese zwei"
Ströme durch das Leben der Neuzeit gehen, es in eine unaufhör-
liche Spannung versetzen und durch die ganze Breite der Dinge
in Gegensätze auseinandertreiben? Dieser Gegensatz des Lebens
ist die tiiefste Wurzel des Dualismus der Begriffe und Lehren, aus
ihm schöpft dieser immer neue Kraft, so sehr das Verlangen nach
Einheit die Geister über ihn hinaustreiben mag.
Ein solches Verlangen war allerdings unabweisbar, denn ab-
schließen konnte die Denkarbeit bei jenem Dualismus nicht. Er
hatte eine kräftige Analyse vollzogen und die Begriffe dauernd ver-
schärft, aber von der Analyse drängte es immer wieder zu irgend-
welcher Synthese, vom Gegensatz zu irgendwelcher umfassenden
Einheit. Auch fehlte es nicht an gewichtigen Gründen gegen jene
Zerspaltung der Wirklichkeit, Ihr widerspricht nicht nur der un-
mittelbare Eindruck einer engen Zusammengehörigkeit von Seele und
Körper, sowie die wachsende Erkenntnis der Abhängigkeit des Seelen-
lebens von körperlichen Bedingungen, ihr widerspricht auch die philo-
sophische Forderung einer Einheit der Wirklichkeit, ihr widerspricht
endlich die Tatsache der Kunst mit ihrer engen Verflechtung und
fruchtbaren Wechselwirkung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von
Äußerem und Innerem. Alles zusammen ließ den Dualismus als
einen bloßen Durchgang zur Einheit erscheinen; diese Einheit fand
sich allerdings nicht fertig vor, sie war durch geistige Arbeit erst zu
gewinnen, und diese durfte dabei einen Gegensatz zum nächsten
Eindruck nicht scheuen. So ist das Einheitsstreben in der Neuzeit
kühner geworden als je zuvor.
Es sind aber drei Hauptrichtungen, in welche dies Streben
auseinanderging, die Richtungen des Materialismus, Spiritualismus,
Monismus und Dualismus. 175
Monismus: entweder wird das Körperliche, oder es wird das Seelische
zum allumfassenden Sein, oder es wird beides zu Seiten, Erscheinungen,
Ausdrucksweisen einer tiefer gegründeten Wirklichkeit.
Wie es einen Materialismus in strengem Sinne erst seit der
durch Descartes erfolgten Klärung der Begriffe gibt, so hat er auch
damals erst eine feste Bezeichnung erlangt. ^ Der Materialismus
durchlief nacheinander die großen Kulturvölker und hat bei den
Engländern die tüchtigste, bei den Franzosen die geistreichste, bei
den Deutschen die derbste Gestalt gefunden; oft widerlegt und zu
Boden geworfen, ist er immer von neuem erstanden, und hat er
immer von neuem weite Kreise gewonnen. Das bekundet doch
wohl, daß mehr in ihm steckt als naive Gemüter wähnen, die ihn
durch scharfsinnige Widerlegungen endgültig abgetan glauben und
sich wundern, daß immer wieder Menschen dem längst durchschauten
Irrtum verfallen. In Wahrheit wäre der Materialismus leicht zu be-
zwingen, wenn bei ihm bloß theoretische Erwägungen in Frage
ständen. Denn so gewiß der Materialismus die unbestreitbare Ab-
hängigkeit des Seelenlebens von körperlichen Bedingungen, sowie
den Vorzug einer großen Einfachheit und Gemeinverständlich-
keit für sich anrufen kann, die Abhängigkeit läßt sich auch in anderer
Weise verstehen, und die Einfachheit verbleibt nur so lange, als eine
Analyse der Begriffe unterbleibt. Denn kaum gibt es einen schwie-
rigeren und problematischeren Begriff als den der Materie, er ent-
weicht uns, wo wir ihn zu fassen glauben; je präziser wir ihn aber
nehmen, desto unmöglicher wird es, aus ihm seelisches Leben her-
vorgehen zu lassen. Gerade die moderne Klärung der Begriffe
vom Körperlichen und Seelischen, mit der die exakte Naturwissen-
schaft steht und fällt, hat den Materialismus als Weltanschauung
unmöglich gemacht; mit Recht sagt daher F. A. Lange, daß den
Materialismus scharf denken ihn widerlegen, heiße.
Aber es sind nicht wissenschaftliche Erwägimgen, es sind
Kultur- und Lebenslagen, welche dem Materialismus eine Anziehungs-
und Überzeugungskraft geben. Wir finden ihn stark und sieg-
reich in solchen Zeiten, wo überlieferte Kulturformen ihre volle
^ Der Ausdruck Materialist erscheint zuerst bei dem Chemiker und
Naturphilosophen Robert Boyle (so in der 1674 erschienenen Schrift: The
excellence and grounds of the mechanical philosophy), der eine Vorliebe für
feste Termini hatte. Noch Giordano Bruno verwandte den älteren Ausdruck
»Epikureer".
176 Zum Weltproblem.
Wahrheit eingebüßt haben und von vielen als ein tyrannischer Druck
empfunden werden; der Materialismus erscheint dann sowohl als
das beste Mittel zur Befreiung von drückenden Fesseln wie als ein,
Rückgang auf einfache Grundlagen des Lebens, er scheint eine
natürlichere und wahrere Gestaltung aller Verhältnisse zu versprechen.
Auch bringt er die Bedeutung der materiellen Lebensbedingungen
für das Ganze der Kultur mit besonderem Nachdruck zur Geltung.
So riß er die Geister fort in den Bewegungen vor und in der
französischen Revolution, so auch beim Sozialismus der Gegenwart.
Was so das Leben hervorgebracht hat, kann auch nur das
Leben widerlegen, es widerlegt es aber sowohl in negativer als in
positiver Weise, negativ durch den inneren Widerspruch, dem eine
materialistische Gestaltung der Kultur durch ihre eigne Entwicklung
verfällt, positiv durch die Gegenwirkung einer andersartigen Kultur.
Jener Widerspruch wurzelt darin, daß dort den materiellen Größen
als eigne Leistung beigelegt wird, was ein überlegenes Geistesleben
aus ihnen macht; wie dieses in der sichtbaren Welt uns unver-
gleichlich mehr wahrnehmen läßt als die Sinne direkt zeigen, so macht
es die materiellen Güter wertvoll als ein Werkzeug für die Betätigung
und Entwicklung vernünftiger Lebewesen; wie vom Materialismus
dort der Zuschauer, so wird hier unvermerkt eine zwecktätige
Persönlichkeit hinzugedacht und ihr Erlebnis wie ein äußeres Er-
eignis behandelt. Indem aber die materialistische Lebensgestaltung
das Streben und die Arbeit von dem Träger des Lebens ablenkt,
überliefert sie ihn einer wachsenden Verkümmerung und Leere; hat
nun zugleich jenes Wachstum der Beziehungen nach außen einen
gewaltigen Lebensdurst erzeugt, so muß ein schreiendes Mißverhältnis
zwischen unserem Verlangen und unserem Besitz entstehen; das Miß-
behagen, das daraus hervorgeht, wird schließlich mit Sicherheit über
eine materialistische Lebensführung hinaustreiben.
Die weltgeschichtliche Arbeit zeigt das in großen Zügen und
vollzieht durch das Ganze ihres Verlaufs eine Überwindung des
Materialismus. Der durch jahrtausendlange Arbeit, durch fruchtbare
Erfahrungen und schmerzliche Enttäuschungen zu einem Innenleben
geweckte Mensch kann unmöglich mit dem Kinde und dem Wilden
in der materiellen Welt seine ganze Wirklichkeit sehen und in ihren
Gütern seine Befriedigung finden. Die materielle Welt selbst hat
für ihn durch jene Bewegung ein wesentlich anderes Ansehen ge-
wonnen. Aus dem bunten Reich der sinnlichen Eindrücke ist jetzt
Monismus und Dualismus. 177
ein Gewebe von Kräften, Gesetzen, Beziehungen geworden; nicht
mehr die Handfestigkeit der Sinnesempfindung verbürgt uns die
Wirkhchkeit des Ganzen, sondern die kausale Ordnung mit ihrer
Verkettung aller Mannigfaltigkeit und ihrer Einfügung alles Ge-
schehens unter einfache Gesetze. Auch die Außenwelt ist ins
Unsinnliche verwandelt, dem Denken entsprungene Größen, ideelle
Größen, bilden ihren Kern. Wohl bleibt hier die geistige Tätigkeit
an einen ungeistigen Vorwurf gebunden, aber auch so ist sie weit
verschieden von aller, noch so fortgebildeten Sinnlichkeit. Welcher
Abstand ist zwischen der Welt des Naturforschers und der des Natur-
menschen mit noch so geübten Sinnesorganen!
Nicht minder verwandeln sich dem Kulturmenschen die äußeren
Güter. Was sie heute ihm wertvoll macht, ist weniger der sinnliche
Reiz und Genuß, als die Herrschaft über die Dinge, das Vermögen,
diese nach eignem Wollen zu bewegen und damit das eigne Leben
ins Unbegrenzte zu steigern. So genießt der Kulturmensch nicht
sowohl die Dinge als sich selbst in den Dingen, sein Denken gibt
dem Sinnlichen Wert und gestaltet es zu Gedankengrößen. Welcher
Abstand liegt hier zwischen der Lust des Wilden am Glanz des
Goldes und dem Selbstgefühl des großen Geschäftsmannes, dessen
wirtschaftliche Macht den Erdball umspannt und sich dabei von den
sinnlichen Wertzeichen ganz emanzipiert hat!
So wirken in der eignen Gestaltung der materiellen Welt
geistige Kräfte, die der Materialismus nicht verstehen kann. Aber
zugleich leuchtet ein, daß, was dabei an Lebensentfaltung aufgeboten
wird, als Abschluß unmöglich ist; was so viel an einem fremden Stoffe
leistet, muß notwendig auch bei sich selbst etwas sein; alle Unter-
werfung des Äußeren und alle Ausdehnung der Macht schützt nicht
vor peinlicher Leere, wenn dem Geistesleben nicht irgendwelcher
Inhalt gegeben wird. Diesen aber kann ihm alle Steigerung materieller
und wirtschaftlicher Macht unmöglich gewähren. So muß der Versuch,
das Glück von außen her zu begründen, schließlich eine große
Enttäuschung und Erschütterung ergeben. Die materialistische Lebens-
gestaltung wird mit dem Glückverlangen, das sie selber angefacht
hat, aufs härteste zusammenstoßen und dabei zusammenbrechen.
So muß sich auch praktisch der Materialismus durch seine eigne
Entwicklung widerlegen. Aber alle solche Kritik und kritische Auf-
lösung ist noch keine positive Überwindung. Eine solche ist nur
möglich durch eine kräftige Entfaltung selbsttätigen Geisteslebens;
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 12
178 Zum Weltproblem.
wo dies mit seinen Aufgaben die Gemüter erfüllt, da wird es
kaum begreiflich dünken, wie der Mensch das ihm innerlich Nächste
und die Quelle seiner eigentümlichen Größe mit dem Materialismus
als etwas Abgeleitetes behandeln, seine eigne Existenz auf den Kopf
stellen, sein Glück von außen her suchen kann.
Vermag der Materialismus mit seiner Sinnfälligkeit und schein-
baren Selbstverständlichkeit besonders auf die breiten Massen zu
wirken, so ist der Spiritualismus eher eine Sache einzelner vornehmer
Geister und auserlesener Kreise. Denn er hat den unmittelbaren
Eindruck gegen sich, ohne geistige Energie ist der von ihm ver-
suchte Weg nicht zu Ende zu gehen. Es zeigt aber die Neuzeit
den Spiritualismus in zwiefacher Gestalt: die Wirklichkeit erscheint
entweder als ein Reich von lauter einzelnen Seelen, oder als das
Leben und Sein eines Gesamtgeistes, jenes bei Leibniz, dieses in der
neueren deutschen Spekulation, am großartigsten bei Hegel. Hier
wie da soll die Außenwelt sich gänzlich in Innenleben verwandeln,
das Verhältnis von Geist und Natur wird nicht als ein Gegensatz,
sondern als eine Stufenfolge innerhalb des Geistes verstanden; das
Sinnliche wird hier statt einer in sich selbst gegründeten Welt eine
niedere, noch nicht zur vollen Bewußtheit gelangte Art des seelischen
oder geistigen Lebens.
Diese Denkweise braucht nur ausgedacht zu werden, um sich
minder wunderlich darzustellen, als sie beim ersten Anblick scheinen
mag; ist uns doch das Innenleben die nächste und gewisseste Wirk-
lichkeit, und zeigt die einfachste Besinnung, daß wir diesen Kreis nie
gänzlich verlassen und uns in ein anderes Sein versetzen können,
daß auch, was Außenwelt heißt, nur eine besondere, eine eigentümlich
gebundene Art des Innenlebens bedeutet.
Aber so berechtigt und überzeugend der allgemeine Gedanke
sein mag, beim Versuch einer strikten Ausführung überspannt sich
leicht das menschliche Vermögen und wird unser Besitz überschätzt.
Die Spiritualisten können nicht unternehmen, die Natur ganz und
gar in Geist umzusetzen, ohne unser Geistesleben als Geistesleben
schlechthin, als absolutes Geistesleben zu behandeln. Zu einer Stufe
menschlichen Geisteslebens aber läßt die Natur sich nun und nimmer
herabsetzen; jenem gegenüber erweist sie eine viel zu selbständige
Art und verfolgt sie viel zu sehr ihren eigenen Weg, ihm leistet
sie einen viel zu hartnäckigen Widerstand. Solcher Selbständigkeit
der Natur und solcher Härte ihres Widerstandes hat sich der Spiri-
Monismus und Dualismus. lyg
tualismus nur gewachsen fühlen können, indem er das Geistesleben
in bloßes Denken und Erkennen verwandelte und das Ungeistige
als etwas verstand, das noch nicht voll aufgeklärt sei, das noch auf
der Stufe der Unbewußtheit verharre. Aber das war ein kecker
Intellektualismus, der aus dem Weltleben eine bloße Weltansicht
machte, der damit die Wirklichkeit verflüchtigte und alles lebendigen
Inhalts beraubte. Begreiflich ist solche intellektualistische Überschätzung
des menschlichen Vermögens nur aus der Eigentümlichkeit beson-
derer Kulturlagen, wo das Bewußtsein geistiger Kraft und das Voll-
gefühl geistigen Schaffens den Menschen sich als den Mittelpunkt
der Wirklichkeit fühlen ließ und ihn über alle Schwere der Dinge in
kühnem Fluge hinaushob. Aber jene Schwere wird bald bemerklich
werden, jene Art der Kultur sich als zu flach erweisen. Damit
aber fällt aller Spiritualismus, der sich als ein fertiges System gibt.
Das Mißlingen der Versuche, eine der beiden Lebensformen
ausschließlich durchzusetzen, mußte dem Monismus zu Gute kommen.
Aucfi er will eine Einheit, aber er will sie nicht durch Aufopferung
der einen Seite an die andere, sondern durch Einfügung beider in
ein umfassendes Drittes; hier scheint jedes Gebiet seine Eigentüm-
lichkeit voll entfalten zu können, ohne aus der Gemeinschaft heraus-
zutreten, hier entfällt die Schwierigkeit einer Wechselwirkung zwischen
Körper und Seele, da dem Vorgehen auf der einen Seite unmittel-
bar eins auf der anderen entspricht. Zu Gunsten des Monismus
als Lebensgestaltung aber wirkt namentlich das hier erstrebte und
vermeintlich gewonnene Gleichgewicht zwischen Natur und Geist,
zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Sinnlichkeit und Denken,
zwischen realistischer und idealistischer Kultur; solches Gleich-
gewicht scheint besonders geeignet, das Leben ins Weite und Große
zu heben, den Menschen der Enge eines Sonderkreises zu entwinden
und ihm an der ganzen Fülle der Wirklichkeit Anteil zu geben.
So hat der Monismus, namentlich seit ihm Spinoza eine klassische
Verkörperung gab oder doch zu geben schien, eine gewaltige An-
ziehungskraft geübt auf Dichter und Denker, auf Naturforscher und
religiöse Naturen, er schien die Zauberformel, die überallhin Frieden
bringe.
Aber eine solche Zauberformel ist er nur, weil er jedem das
Seine zu denken gestattet, weil jeder den allgemeinen Gedanken sich
in eigentümlicher Weise zurechtlegt; so gewiß in jenem Gedanken
eine unangreifbare Wahrheit liegt, in der Ausführung stellt sich alsbald
12*
180 Zum Weltproblem.
der Gegensatz wieder ein, den es zu überwinden galt; es zeigt sich,
daß auch bei diesem Problem das menschliche Streben vor ein
Entweder — Oder gestellt ist, nicht friedlich die Gegensätze zusammen-
zuschließen vermag.
Nach der Absicht des Monismus, wie ihn der Spinozismus
zeigt, müßten beide Gebiete in vollem Gleichgewicht stehen. So
will es auch der «psychophysische Parallelismus", der neuerdings
jene Absicht zu genauerer Durchbildung bringt. In Wahrheit ist eine
nähere Ausführung des Grundgedankens gar nicht möglich ohne der
einen Seite ein Übergewicht über die andere zu geb^. Spinoza selbst
ist, genauer angesehen, an keiner Stelle Monist, sondern bald Materialist,
bald Spiritualist, jenes in der Grundlegung, dieses im Abschluß seiner
Lehren; so zeigt es namentlich seine Ethik. Denn dort erscheint
zu Beginn die Natur als das Hauptgeschehen und als das Maß aller
Wirklichkeit, während das Seelenleben zu einer bloßen Begleit-
erscheinung, einem Reflex des Naturprozesses herabsinkt. ^ Beim Ab-
schluß des Systems aber wird aus dem Materialismus ein Spiritua-
lismus. Oder ist es kein Spiritualismus, wenn ein göttliches
Leben die ganze WirkHchkeit durchdringt und zusammenhält, die
Natur zur Entfaltung dieses Lebens wird, der Mensch durch die
intellektuelle Liebe zu Gott an der Unendlichkeit und Ewigkeit
teilgewinnen soll? Und der Zwiespalt reicht über die Begriffe
hinaus in den Kern des Lebens hinein, es ist nicht ein einziges,
sondern ein zwiefaches Leben, das aus Spinoza wirkt: einmal ein
Naturalismus, dann ein Mystizismus. Wie immer Spinoza beurteilt
werden mag, die erstrebte Einheit hat er nicht erreicht. Ebenso-
wenig ist es späteren Versuchen gelungen, Natur und Geist in ein
Gleichgewicht zu bringen. Auch der psychophysische Parallelismus
hat es nicht erreicht; er macht entweder das Seelenleben zu einem
bloßen Reflex der Naturvorgänge, oder diese zu einer Erscheinung
des Geisteslebens; er verläßt damit die Neutralität und nähert sich
entweder dem Materialismus oder dem Spiritualismus.
^ Mit vollem Recht bemerkt dagegen Herbart in seiner Allgemeinen
Metaphysik (Wke. III, 198): „Da überdies alles Psychologische bei Spinoza
aus Bestimmungen des Körperlichen gefolgert wird: so merkt man wenig
davon, daß nach ihm das Denken unabhängig vom Ausgedehnten bestehen
sollte; und wie könnte es anders sein in irgend einer Lehre, die ursprüng-
lich die Gedanken als Bilder des Ausgedehnten betrachtet? Eine solche
unterwirft immer notgedrungen den Geist der Masse, vermöge des Verhält-
nisses der Abbildungen zu ihrem Vorbilde."
Monismus und Dualismus. jg!
Noch weniger ergibt sich von jenem vermeintlichen Gleich-
gewicht aus eine charakteristische Gestaltung der Kulturarbeit. Denn
die Ausgleichung von Natur und Geist, welche namentlich künst-
lerische Seelen anzog, erfolgte nicht zwischen Außen- und Innenwelt
als gleichberechtigten Größen, sondern sie erfolgte gänzlich auf dem
Boden des Innenlebens; wenn z. B. im Schaffen eines Goethe alles
Innere zur Darstellung drängte, um damit sich selbst zu finden,
so erhielt zugleich das Äußere ein inneres Leben; das Geistesleben
wurde hier durch ein kräftigeres Erfassen der Natur bereichert und
gestaltet, im besondern durch ein innigeres Verhältnis zum Weltall
von der Enge kleinmenschlicher Art befreit, nicht aber wurde das
menschliche Sein zwischen Geist und Natur zerteilt.
Noch deutlicher verläßt die Neutralität der Monismus der
darwinistischen Entwickluilgslehre. Denn ihn unterscheidet vom
Materialismus nur dies, daß er das Seelenleben nicht als' ein sekun-
däres, sondern als ein primäres Phänomen erachtet, es aller Materie
von -Haus aus beilegt, es nicht erst nachträglich an besonderen
Punkten entstehen läßt. Aber kaum anders dachten von jeher die
feineren Materialisten; wie ihnen, so wird auch den Monisten in
Wahrheit die sinnliche Natur zum All, bemächtigen sich Natur-
begriffe der gesamten Wirklichkeit und wird alles selbständige Geistes-
leben geleugnet. So muß, bei konsequentem Verfahren, auch die
Lebens- und Kulturgestaltung ganz in die Bahnen des Materialismus
geraten. Anders würde die Sache auslaufen, wenn mit der Be-
seelung aller Elemente der Wirklichkeit voller Ernst gemacht würde;
denn das müßte ein dem leibnizischen ähnliches Weltbild ergeben.
Aber so weit pflegt der materialistische Monismus nicht vorzudringen,
er glaubt den Elementen die Seele wie eine Eigenschaft, neben anderen
beifügen zu können, ohne daß sie dadurch etwas wesentlich anderes
werden. In Wahrheit läßt sich Seele nicht haben, sondern nur sein.
Wird demnach der materialistische Monismus von allen Bedenken
getroffen, die dem ausgesprochenen Materialismus entgegenwirken, so
sind einem spiritualistischen Monismus bessere Aussichten zuzuerkennen.
Ein solcher Monismus wird die Tatsache zum Ausgangspunkt nehmen,
daß Innenleben nicht bloß an einzelnen Punkten, zerstreut und zer-
splittert, erscheint, sondern daß es sich zu einem umfassenden Zu-
sammenhange verbindet, daß sich auf der menschlichen Daseinsstufe
ein den Individuen überlegenes Geistesleben und mit ihm eine Innen-
welt voll eigentümlicher Größen und Aufgaben erschließt. Der Wende-
182 Zum Weltproblem.
punkt der Wirklichkeit wird hier nicht zwischen Natur und Seele, sondern
zwischen Ungeistigem und Geistigem gesucht; das Seelenleben hat an
beiden Stufen teil, sofern es zunächst ein Stück der Natur bildet, dann
aber ein Gefäß des Geisteslebens wird. Die Frage, wie sich Körper-
liches und Seelisches zu einander verhalten, tritt hier zurück vor der,
wie Eine Welt Geistiges und Ungeistiges miteinander umfassen kann.
Diese Frage findet aber in diesen Zusammenhängen die Antwort, daß
das Ungeistige nur etwas Untergeistiges bedeutet, daß dasselbe Sein,
das die Natur und das natürliche Seelenleben im stände der Ver-
einzelung und als ein Gewebe bloßer Beziehungen zeigt, im Geistes-
leben sich zu einem Ganzen zusammenzufassen und einen Inhalt zu
entwickeln beginnt; erst damit scheint die Wirklichkeit ein Inneres
und zugleich ihre eigne Tiefe zu gewinnen. Solche Erhebung von
Untergeistigem zu Geistigem ist nicht eine bloße Forderung der Speku-
lation, sondern eine Aufgabe, die das ganze Menschenleben durch-
dringt, denn alle eigentümlich menschliche Leistung, vor allem die
ethische Bewegung, ist ein Aufstieg von der Natur zum Geist, eine
Erhebung des Seins von der natürlichen zur geistigen Stufe. So
wird hier das Problem vom bloßen Intellekt in das Zentrum des
Lebens versetzt.
Wenn aber dabei das Geistesleben zugleich als der Grundbestand
und als das Ziel der Wirklichkeit erscheint, so besagt das keineswegs,
daß die Gestalt, worin es dem Menschen vorliegt, im stände sei, sich
der ganzen Welt zu bemächtigen und in der Natur sich einfach wieder-
zufinden, wie das der reine Spiritualismus wollte. Denn so gewiß
das Geistesleben auch dem Menschen als etwas Übermenschliches
und Allgemeingültiges irgend gegenwärtig sein muß, in seine nähere
Gestaltung dringt unablässig Bloßmenschliches ein; wir haben nicht
das Geistesleben an sich, sondern ein menschliches Geistesleben, d. h.
ein Geistesleben, dessen übermenschlicher Kern uns immer nur durch
eine menschliche Hülle zugänglich ist. Streben wir daher vom mensch-
lichen Geistesleben her die ganze Wirklichkeit zurechtzulegen, so ge-
raten wir unvermeidlich in eine zu enge, in eine anthropomorphe
Fassung; eine unentbehrliche Hülfe dagegen ist die Natur mit ihrer
Unendlichkeit und ihrer Überlegenheit gegen alle kleinmenschlichen
Zwecke; sie bewahrt den Menschen vor einem Sicheinspinnen in
eine Sonderart, sie treibt immer von neuem dazu, den Allgemein-
gedanken des Geisteslebens von der bloßmenschlichen Daseinsform
abzuheben. Aber alle diese Wirkung liegt innerhalb des Geistes-
Monismus und Dualismus. 183
lebens, und nur darin besteht die Abweichung vom dogmatischen
Spiritualismus, daß nun innerhalb des umfassenden Ganzen zwei
verschiedene Ausgangs- und Angriffspunkte anerkannt werden. Eben
dies aber ergibt einen anderen Typus des Kulturlebens, als ihn jener
vertrat. Das Geistesleben erscheint nun nicht bloß als die begründende
Tatsache, sondern auch als eine sich immer erneuernde Aufgabe; das
menschliche Leben wird weit mehr zwischen Gegensätze gestellt, es
erscheint weit unfertiger, weit mehr erst im Aufstreben begriffen;
das ruft den Menschen mehr zu eigner Tat und Entscheidung auf
und fordert von ihm, zur Fortbewegung des Weltalls selbsttätig
mitzuwirken, nicht nur es sich in seinen Gedanken zurechtzulegen;
so wird nicht das Intellektuelle, sondern das Ethische, freilich
ein Ethisches weitester Fassung, zum Kern seines Strebens. — Wie
immer die Menschen und Zeiten sich das näher gestalten mögen,
keinen Zweifel leidet dieses, wo der Hauptstreitpunkt bei diesen
Kämpfen liegt, und an welcher Stelle vornehmlich die Geister sich
scheiden'. Das nämlich ist die Frage, ob ein selbständiges Geistes-
leben und mit ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit anerkannt wird
oder nicht. Alle Verneinung oder auch nur Zurückhaltung gibt einem
gröberen oder feineren Materialismus die Oberhand, mit dem Ja wird
dagegen eine sichere Überwindung und ein Einlenken in neue
Bahnen gewonnen. Wohin aber die Entscheidung fällt, das hängt
nicht bloß an Scharfsinn und Intelligenz, sondern vornehmlich an
der Kraft und der Klarheit, mit der das Geistesleben Manschen und
Zeiten gegenwärtig ist, das greift damit in das persönliche Leben
und Sein zurück.
b) Der Monismus der Gegenwart.
Wer die geistigen Strömungen der Gegenwart kritisch erörtert,
der muß sich notwendig auch mit dem Monismus der Gegenwart
befassen; ist dieser doch über das besondere Problem des Verhält-
nisses von Natur und Geist hinaus eine mächtige, ja stürmische Be-
wegung geworden, auf deren Beleuchtung und Würdigung sich nicht
wohl verzichten läßt; je heftiger aber der Kampf an dieser Stelle
entbrennt, desto mehr hat die philosophische Betrachtung nach ruhiger
Abwägung zu streben.
Der Monismus der Gegenwart ist nicht verständlich ohne eine
Beachtung der breiteren Grundlage, von der aus er sich gestaltet hat.
Diese ist das Vordringen des Bildes der Natur in die Begriffe
184 Zum Weltproblem.
vom All und in die Gestaltung des Lebens. Es vollzog sich damit
ein notwendiger Rückschlag gegen die ältere, einseitig religiöse und
transzendente Denkart, welche die Natur wie etwas untergeordnetes
und nebensächliches, wenn nicht gar bedenkliches zu behandeln
pflegte. Das energische Vordringen der Naturerkenntnis und auch
die dadurch bewirkte Umwandlung des Lebens gaben diesem Rück-
schlag gewaltige Wucht und siegreiche Kraft. Innerlich fiel dabei
besonders ins Gewicht die Präzision der Naturbegriffe und ihr Zu-
sammenstreben zum Ganzen einer Gedankenwelt; den Einflüssen, die
davon ausgingen, konnten sich selbst die nicht entziehen, deren Streben
der Hauptrichtung nach eine entgegengesetzte Richtung verfolgte.
Das ist z. B. augenscheinlich bei Leibniz. Sein unablässiger Kampf
gegen den „Naturalismus" hat nicht verhindert, daß Naturbegriffe
an Hauptstellen in seine Gedankenwelt eindrangen und sie unter sich
brachten. Oder ist es kein solcher Einfluß, wenn er die Lebens-
steigerung zum allbeherrschenden Wertbegriff macht, wenn er alle
Gegensätze in Unterschiede des Grades verwandelt, wenn ihm der
Begriff der logischen Möglichkeit mit dem der gehemmten Kraft zu-
sammenfließt? Im 19. Jahrhundert ging diese Bewegung weiter,
mit lautem und stillem Wirken unterwirft die naturwissenschaftliche
Denkweise sich mehr und mehr die Begriffe wie die Überzeugungen;
wir empfinden gar nicht, wie eigentümliche Bejahungen und Ver-
neinungen das mit sich bringt. So erhält z. B. die Entwicklungs-
idee die Gestalt eines Naturprozesses und zerstört mit der strengen
Verkettung, die daraus erwächst, alle Selbsttätigkeit, ja konsequenter-
weise alle Gegenwart, ohne daß uns das irgend aufregt. In der
Natur hat sich das Beharrungsgesetz, das sog. Gesetz der Trägheit,
der Forschung immer weiter bewährt; unbedenklich wird es auf
das geistige und geschichtliche Gebiet übertragen, während hier
der Lebensstand immer neu aus ursprünglichem Schaffen hervor-
gehen muß, um nicht sofort zu sinken. Die Naturstufe zeigt als
Glück die sinnliche Lust, ohne weiteres gilt vielen auch das geistige
Glück als eine, wenn auch feinere Art der Lust. Wenn so unauf-
haltsam von außen und innen die Natur auf uns eindringt, so kann
es nicht wundernehmen, wenn mehr und mehr die Natur als Welt
und Wirklichkeit schlechthin behandelt wird, und wenn eine „natur-
wissenschaftliche Weltanschauung" sich unbedenklich und siegesgewiß
nicht als einen besonderen Ausschnitt, sondern als das erschöpfende
Bild des Ganzen der Wirklichkeit gibt.
Monismus und Dualismus. 185
Alles Vordringen ließ indes diese Bewegung keinen vollen Sieg
erringen, so lange noch der Mensch eine privilegierte, ja einzigartige
Stellung einnahm. Diese aber hat nun die schwerste Erschütterung
durch die Entwicklungslehre erfahren, indem sie den Menschen
aufs engste mit dem tierischen Leben verkettete und ihn dadurch
ganz und gar in die Natur hineinzog, ihn als ein bloßes Stück von
ihr erscheinen ließ. Es gewann das die Gemüter um so mehr mit
überwältigender Kraft, weil es in der Wendung zur Arbeit, zu
emsiger und fruchtbarer Arbeit, eine unermeßliche Fülle von Tat-
sächlichkeit eröffnet, sonst zerstreute Daten verknüpft und als Ganzes
zur Wirkung gebracht hat. Der Mensch schien nunmehr von
langem Wahn und eitler Selbstüberhebung zu seiner echten Heimat
zurückzukehren, sein Leben aber damit festere Grundlagen, sowie
eine frischere, schlichtere, wahrhaftigere Art zu gewinnen. Altes
erschien damit als neu. Neues als alt, eine durchgreifende Wandlung
ward eingeleitet. Diese Strömungen und Stimmungen sind es, welche
der -moderne Monismus ergreift und zusammenfaßt, die Natur-
begriffe scheinen ihm nur einer gewissen Ergänzung in der Richtung
des Seelischen zu bedürfen, um den ganzen Umkreis der Wirklich-
keit in sich aufnehmen und alles Leben beherrschen zu können.
Alle solche Vorteile und Aussichten würden jedoch aus eignem
Vermögen schwerlich der Bewegung zum Monismus eine solche
Stärke verliehen und eine solche Macht über die Gemüter ge-
geben haben, wie jene sie in Wahrheii besitzt, käme nicht dazu
noch etwas anderes, das direkter Leidenschaften zu entzünden
und große Massen zu erregen vermag, gesellte sich nicht zum Ja
ein entschiedenes Nein. Ein solches Nein entspringt aber aus
dem Stande der Religion, wie ihn die kirchliche Gestaltung bietet.
Zwischen der überlieferten Religion und dem modernen Kultur-
leben bestand von vornherein eine weite Kluft, lange ist sie zu
überbrücken versucht, mehr und mehr aber ist das Unmögliche
dessen ersichtlich geworden, mehr und mehr hat sich der Abstand
in einen vollen und schroffen Gegensatz verwandelt. Und wenn
diese Probleme lange Zeit nur die obere Schicht der Gesellschaft
zu berühren schienen,^ so sind sie immer mehr auch in die Massen
^ So erschien es z. B. einem Pierre Bayle gänzlich ausgeschlossen, daß
die Aufklärung je die Massen gewinne. Er hält für die Interessen und die
Bedürfnisse der Gesellschaft, die nach seiner Überzeugung im wesentlichen
zu allen Zeiten dieselben bleiben, einen gewissen Aberglauben unentbehrlich :
186 Zum Weltproblem.
gedrungen und erregen sie immer stärker. Wenn aber zugleich
trotz aller Wandlungen und Erschütterungen die alte Art der Religion
offiziell aufrecht erhalten und namentlich der Schule gebieterisch
auferlegt wird, so entsteht ein schwerer Druck und die Gefahr
einer lähmenden Un Wahrhaftigkeit. Der nun müßte ein schlechter
Psycholog und ein kurzsichtiger Staatsmann sein, dem entginge, wie
viel Unwille, wie viel verhaltener Zorn sich dadurch ansammeln und
schließlich auch nach irgendwelchem Ausbruch drängen muß. Der
Monismus aber zeigt einen Weg, einen scheinbar nahen und leichten
Weg, auf dem ein solcher Ausbruch erfolgen kann; ist es ein Wunder,
wenn er wie ein brausender Strom die Gemüter ergreift und un-
widerstehlich fortreißt?
So ist die Bewegung durchaus verständlich; sie würde nicht
wirken, was sie wirkt, wenn nicht ihr Ja wie ihr Nein Wahrheits-
momente enthielte. Aber es ist etwas anderes, eine Bewegung aus
der geschichtlichen Lage heraus zu verstehen und Berechtigtes in ihr
zu würdigen, etwas anderes, ihr die Führung des Lebens zu geben.
Was zunächst die Religion betrifft, so ist jetzt bei allen Kultur-
völkern eine wachsende Bewegung im Gange, sie von der veralteten
Art zu befreien und dem Stande der weltgeschichtlichen Evolution
des Lebens gemäß zu gestalten; solche Bestrebungen sind minder ein-
fach, aber sie sind auch fruchtbarer und aussichtsreicher, als die
summarische Verwerfung der Religion, wie sie der Monismus zu
vollziehen pflegt Es kommt darauf an, ob die Religion über alle
kirchliche Form hinaus in inneren Notwendigkeiten unseres Wesens
und unserer Stellung zum All gegründet ist oder nicht. Sollte sie
es sein, so könnten alle Schäden des gegenwärtigen Standes in keiner
Weise die Preisgebung einer Lebensmacht rechtfertigen, die sich
das Verhältnis des Menschen zum Ganzen der Wirklichkeit zur
Aufgabe macht, die seinem Leben Größe, seiner Seele einen Selbst-
wert und eine reine Innerlichkeit zu geben unternimmt. In dem
Eifer, das Priestertum und die Kirche zu schädigen, pflegen die
Gegner der Religion zu übersehen, daß sie durch jene Verneinung
mit ihrer Preisgebung alles selbständigen Innenlebens am meisten
sich selber schädigen. Man gedenkt dabei unwillkürlich der Anekdote
„Les besoins dont je parle ne sont point sujets aux vicissitudes de la lumiere
et des tenebres, ils sont de tous les tems; ils sont les memes sous un siecle
d'ignorance, et sans un siecle de science (s. den Artikel Franz von Assisi im
Dictionnaire).
Monismus und Dualismus. 187
von dem Knaben, der keine Handschuhe erhalten hat, und dem nun in
arger Kälte die Hände erfrieren, der dazu aber meint: „Es geschieht
meinem Vater ganz recht, daß mir die Hände erfrieren; warum gibt
er mir keine Handschuhe?"
Sachlich bleibt die Hauptfrage, die über Recht oder Unrecht
des Monismus entscheidet, die, ob die von ihm ausschließlich ver-
wandten Naturbegriffe zur Umspannung der Wirklichkeit genügen.
Namentlich von zwei Seiten erheben sich dagegen Bedenken, die
einen von der Erkenntnislehre, die anderen vom Gehalt des Geistes-
lebens her, wie die weltgeschichtliche Arbeit ihn zeigt. — Die er-
kenntnistheoretische Erwägung hat einzuwenden, daß das Weltbild
uns nicht von außen her zufällt, sondern daß wir es von seelischen
Vorgängen aus und nach den Gesetzen unseres eignen Geistes zu
bilden haben. Solches Ausgehen vom Subjekt pflegt sich zunächst
auf Kant zu berufen, dessen überlegene Energie dem Forschen jene
Richtung zwingend vorgeschrieben hat. Aber es ist nicht bloß Kant,
es ist überhaupt kein einzelner Philosoph, sondern es ist die Gesanit-
art des modernen Denkens, ja Lebens, welche diesen Weg befiehlt.
Denn nichts ist dem modernen Leben und der modernen Kultur
eigentümlicher, als die Befreiung des Subjekts von der Gebunden-
heit an die Umgebung, seine Befestigung im eignen Leben. Wird
dabei nicht auf einen Besitz der Welt verzichtet, dieser vielmehr
mit Aufgebot aller Kraft leidenschaftlich begehrt, so nimmt das
Leben eine völlig andere Richtung: statt vom Objekt zum Subjekt,
von der Welt zum Menschen, geht es jetzt vom Subjekt zum Objekt,
vom Menschen zur Welt. Eine solche Umwälzung muß auch den
Inhalt des Lebens wesentlich ändern und sich damit in alle einzelnen
Gebiete erstrecken. So auch in das des Erkennens. Das Bild der
Wirklichkeit wird sich verfeinern, beleben, vergeistigen, wenn das
Ergebnis aus dem Werden verstanden wird, wenn volle Anerkennung
findet, daß wir jenes Bild von innen her zusammenfügen, daß nicht
die Außenwelt, sondern unsere geistige Organisation den Umriß
wie die Grundlinien dazu liefert, daß eine oft sehr komplizierte
Arbeit in Größen steckt, welche die naive Ansicht für einfach erachtet
Zugleich wird klar, daß wir mit aller Arbeit nur einen menschlichen
Durchblick der Wirklichkeit gewinnen, der einer tieferdringenden
Forschung selbst wieder zum Probleme wird und seinen Wahrheits-
gehalt erst zu erweisen hat. Neue Tragen und neue Sorgen tauchen
damit auf, unvergleichlich unfertiger müssen wir uns fühlen als
188 Zum Weltproblem.
zuvor, aber in aller Unfertigkeit gewinnen wir eine Vertiefung der
Wirklichkeit und auch unseres eignen Lebens.
Dies alles aber ist für den Naturalisten und Monisten nicht
vorhanden; ihm ist die Welt, wie sie sinnlich und handfest auf uns
einzudringen scheint, die ganze und echte Wirklichkeit. Das aber
heißt, erkenntnistheoretisch angesehen, den ptolemäischen Standpunkt
festhalten und sich der kopemikanischen Denkweise der Neuzeit
verschließen, es heißt dem naiven Realismus huldigen, wie ihn die
mittelalterliche Scholastik besaß, für die gerade der Naturalismus nur
Geringschätzung zu haben pflegt. So vertritt die Philosophie gegen
den Naturalismus das Recht jener modernen Wendung zum Subjekt,
sie vertritt damit eine Wahrheit, die sich wohl verdunkeln, nicht
aber aufgeben läßt.
Tiefer noch greift das Zweite, bei ihm geht die Frage auf den
Inhalt der Wirklichkeit. Diesen Inhalt faßt der Naturalismus und
Monismus viel zu knapp, er übersieht ein Stück, das uns anderen
als das Hauptstück erscheint: das Geistesleben. Alles Innere der
Natur einfügen kann jener nur, indem er das Seelenleben lediglich
als ein Vorgehen an den einzelnen Individuen behandelt Dann
nämlich mag er sich darauf berufen, wie fließend die Grenzen
zwischen Menschem und Tier sind, wie langsam sich auf dem Boden
der Geschichte emporgearbeitet hat, was früher als ein Stammbesitz
des Menschen galt, wie sehr auch der Kulturmensch unter der
Macht der Naturtriebe bleibt. Das alles sei vollauf anerkannt und
in seiner Bedeutung keineswegs abgeschwächt Aber es ist nicht
das Ganze. Denn das menschliche Seelenleben verbleibt nicht wie
das tierische bei jener Zerstreuung an einzelne Punkte, bei ihm erfolgt
ein Zusammenschluß zu einem gemeinsamen Leben, und dies ge-
meinsame Leben entwickelt eine unermeßliche Tatsächlichkeit, die
wesentlich neue Züge gegenüber der bloßen Natur erweist Jener
Zusammenschluß erst macht Geschichte und Gesellschaft im aus-
zeichnend menschlichen Sinne möglich, auf diesem Boden entsteht
Gedankensprache und Kultur, hier erwächst eine reiche Verzweigung
eigentümlicher Lebensgebiete in Recht und Moral, in Kunst und
Wissenschaft Wie das Ganze, so haben auch diese einzelnen Ge-
biete ihre eignen Gesetze, Probleme, Erfahrungen, sie stellen den
Menschen vor schwerste Aufgaben, sie ziehen ihn immer mehr an
sich und machen zugleich unvergleichlich viel mehr aus ihm: aus
einem bloßen Stück der Natur wird er mehr und mehr ein geistiges
Monismus und Dualismus. 189
Wesen, das die Unendlichkeit von innen her miterlebt und als
sittliche Persönlichkeit die Welt in eigne Tat zu verwandeln vermag.
Eine so eingreifende Wendung kann sich nicht vollziehen ohne einen
neuen Anblick der Wirklichkeit; mit jenem allen verkündet sich deutUch
eine neue Stufe der Welt, deren Anerkennung das Gesamtbild des
Alls wesentlich erweitern und vertiefen muß. Dies alles ist keine
bloße Theorie, es hat im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben der
Menschheit viel Wirklichkeit entfaltet, sich in alle Einrichtungen hin-
eingearbeitet, es umfängt uns mit bildender Kraft in tausendfacher
Wirkung. Die deutsche spekulative Philosophie fand darin ihre
Hauptaufgabe, jenen inneren Zusammenhang des Menschenlebens
zur vollen Anerkennung zu bringen, sie fühlte sich dadurch der
Aufklärung weit überlegen, daß sie die geistigen Inhalte und Werte
aus jenem, nicht wie diese von den bloßen Individuen her erklärte.
Der Naturalismus aber übersieht jene Wendung zum Geistes-
leben; jene Ausbildung eines eigentümlichen Kulturstandes, jenes
innere Wachstum des Menschen durch die Arbeit der Jahrtausende,
der ganze Reichtum der dabei erschlossenen Wirklichkeit, sie sind
für ihn nicht vorhanden oder sie werden doch nicht zusammen-
hängend gewürdigt; er gibt ein Bild vom All unter Absehen
von allem charakteristisch Menschlichen, von allem Geistigen, von
allem Lebensgehalt. Was anderes aber ist dies als die stärkste
Verengung und Verarmung, ein Verwerfen alles inneren Ertrages
der Geschichte, ein Verzicht auf alles das, worin die Menschheit
ihre Größe suchte. Das Bild des Alls wird ohne den Menschen
fertig abgeschlossen, und dann der Mensch unter Abschleifung aller
Eigentümlichkeit möglichst in es hineingepreßt. Wir sprechen von
Reaktion, wenn das Leben auf eine ältere, innerlich überwundene
Phase zurückgeschraubt werden soll. Aber wie bescheiden sind alle
Versuche, es an einen Höhepunkt innerhalb der geschichtlichen Be-
wegung zu binden, gegen das Unternehmen, es ganz und gar an
die vorgeschichtlichen Anfänge zu ketten und ihm alle Möglichkeit
einer inneren Erhöhung, einer wirklichen Entwicklung zu nehmen?
Von hier aus angesehen, wird die ganze eigentümlich menschliche
Geschichte ein großer Irrtum, ein Abweg von der Wahrheit, indem
sie dem Menschen immer stärker eine Innenwelt vorspiegelt, die doch
nur eine leere Einbildung ist.
Dabei erfahren wir das Verdrießliche, daß jene Verneinung eines
selbständigen Geisteslebens oft wie etwas Selbstverständliches auftritt,
190 Zum Weltproblem.
das nur Unverstand verkennen oder böser Wille verwerfen könne.
Begreifen läßt sich das freilich wohl. Verneinende Richtungen waren
stets in besonderer Gefahr eines starren Dogmatismus, ja eines
Fanatismus gegen Andersgesinnte. Nichts ist notwendiger für ein
kritisches Verhalten gegen sich selbst und eine gerechte Würdigung
anderer als die Fähigkeit, sich in fremde Denkweisen hineinzuversetzen
und von ihnen aus die eigne zu betrachten. Dies Vermögen aber
wird besonders dort gefährdet, wo rasch der Kreis geschlossen und
alles Jenseitige als nicht vorhanden erklärt wird. Hume war gewiß
als Denker und Forscher groß und im Leben allem Fanatismus so
fern wie möglich, aber gibt es einen krasseren Ausdruck eines in-
tellektuellen Fanatismus, als jenes berühmte Autodafe aller anders-
gerichteten philosophischen Literatur? ^
Das Gleichgewicht des Geisteslebens war lange genug von der
Religion und der Theologie bedroht, in einem Rückschlag dagegen
wird es nun von dem ausschließlichen Herrscheranspruch der Natur-
wissenschaften gefährdet. Diesen Anspruch aber erheben weniger die
Naturwissenschaften selbst, als ihre Gestaltung zur Philosophie,
wie sie im Naturalismus und Monismus vorliegt. Dabei läßt sich
sehr daran zweifeln, ob der Monismus eben das erreicht, was ihm
als die Hauptsache gilt, und was auch wir anderen als etwas großes
erachten, die Einheit der Gedankenwelt, ob er nicht, indem er die
Begriffe gewaltsam zusammenschweißt, das Leben als Ganzes inner-
lich spaltet Seine Begriffe und Lehren folgen der Natur, wie die
mechanische Denkart sie faßt, das All wird damit ein Reich der
bloßen und blinden Tatsächlichkeit, in dem es kein Handeln, sondern
nur ein Geschehen, keinen inneren Forttrieb, sondern nur ein Neben-
einanderlagern, keine wahrhaftige Einheit, sondern nur eine Zusammen-
setzung gibt. Bei konsequenter Denkweise müßten hier alle In-
halte und Werte verschwinden, hätte auch der Wahrheitsbegriff
^ Jene Stelle (am Schluß der 12. Sektion d. Enquiry conc. h. u.) lautet:
When we run over libraries, persuaded of these principles, what havock must
we make? If we take in our band any volume of divinity or school meta-
physics for instance; let us ask: Does it contain any abstract reasonings
conceming quantity or number? No. Does it contain any experimental
reasonings conceming matter of fact or existence. No. — Commit it then
to the flames. For it can obtain nothing but sophistry and Illusion. —
Würde ähnlich ein spekulativer Philosoph urteilen, so würden alle es Borniert-
heit oder Fanatismus nennen; geschieht es von der anderen Seite, so gilt es
vielen als Zeugnis eines starken und unerschrockenen Geistes!
Monismus und Dualismus. 191
und damit eine Wissenschaft keinen Platz. Was an geistiger Regung
aufkäme, das hätte ruhig und urteilslos das Weltgeschehen über
sich ergehen zu lassen. Statt dessen finden wir den Monismus in
einem eifrigen Kampf um die Wahrheit begriffen und von freudiger
Hoffnung auf ein Vordringen der Menschheit erfüllt, er hält in
der Gestaltung des Menschenlebens die alten Ideale des Guten und
Wahren fest, er schöpft den Hauptantrieb seines wissenschaftlichen
Strebens aus der Überzeugung, dadurch mehr Wahrheit und mehr
Vernunft in das menschliche Dasein zu bringen, kurz er wandelt
hier ganz und gar die Wege des Idealismus. Gibt es nun wohl
einen schrofferen Dualismus, als Materialist in der Weltanschauung
und Idealist im Handeln zu sein? So haben wir hier ein neues
Beispiel der alten Erfahrung, daß der Mensch in seinem Streben oft
das Gegenteil der eignen Absicht erreicht.
2. Entwicklung.
a) Zur Geschichte des Ausdrucks.
I |ie Ausdrücke für Entwicklung hat, wie den Begriff selbst, erst
■■-^ die Neuzeit in allgemeinen Umlauf gebracht. »Entwicklung"
erscheint in unserer Sprache erst gegen das Ende des 1 7. Jahrhunderts
und findet erst in der zweiten Hälfte des 18. eine weitere Verbreitung.
Älter ist M Auswicklung" (auch „sich auswickeln«), philosophisch hat
es zuerst wohl Jakob Böhme verwandt. „Entwickeln" hat nach
Grimm zuerst der Lexikograph Stieler („der deutschen Sprache
Stammbaum", 1691) „sich entwickeln" Haugwitz (im Soliman, 1684),
sowie Hagedorn. Die Gelehrten des 1 8. Jahrhunderts sprachen oft
von einem Entwickeln und einer Entwicklung eines Begriffes, Beweises
und Satzes; „das Verfahren, wodurch ein Begriff ausführlich gemacht
wird, heißt die Entwicklung eines Begriffes" (Lambert). Entwick-
lung im Sinne eines Sichentwickeins, als Selbstentwicklung, gewann
Boden erst mit dem Aufsteigen des deutschen Humanismus, dessen
Verlangen nach einer inneren Beseelung der Wirklichkeit und nach
Anerkennung bildender Kräfte in der Natur darin einen bezeichnen-
den Ausdruck fand. Es genügen dafür die Namen Herders und Goethes.
Im Titel eines Buches erscheint Entwicklung bei Tetens, in seinem
1777 veröffentlichten Hauptwerk „Philosophische Versuche über die
menschliche Natur und ihre Entwickelüng". „Entwicklung" drängt
nun „Auswicklung«, das in den älteren Schriften Kants noch vor-
wiegt, gänzlich zurück; auch „Einwicklung", das als Gegenstück
„Auswicklung" zu begleiten pflegte, verschwindet aus dem Sprach-
gebrauch der Philosophie.
Der deutsche Ausdruck war eine Übersetzung fremder, die er
teils verdrängte, teils neben sich duldete. Die Termini evolutio-
involutio und explicatio-complicatio oder implicatio entstammen den
lateinischen Klassikern, aber sie werden dort nur methodologisch.
Entwicklung. 1Q3
nicht für das reale Werden verwandt.^ Ähnlich verbleibt es im
Mittelalter, bei Thomas von Aquino erscheinen nur explicitus und
implicitus, und zwar in jener formalen Bedeutung. Nur die mystische
Spekulation, die von den Schriften des Pseudo-Dionysius ausging,
verwendet die Wörter und Begriffe, um ein inneres Verhältnis von
Gott und Welt zum Ausdruck zu bringen. So hat Scotus Eriugena
involutus, convolutus, complicatio, replicatio. Wie Nikolaus von Kues,
der Philosoph an der Schwelle d*er Neuzeit, an jene Denkweise an-
knüpft, so gebraucht er fortwährend die Ausdrücke explicatio und
complicatio. Wenn er evolutio gebraucht, so glaubt er es erläutern
zu sollen. 2 Der Verlauf der Neuzeit macht die Ausdrücke immer
geläufiger. Evolutio und involutio sind neben developpement und
enveloppement Lieblingswörter bei Leibniz; auch die Physiologie
des 18. Jahrhunderts übernahm sie in dem Sinne der später so-
genannten »Einschachtelungstheorie". Im Gegensatz dazu hieß dann
die besonders glänzend von C. F. Wolff in der theoria generationis
vertretene Lehre von einer Neubildung im Werden die der Epigenesis;^
die »Evolution" wurde hier als eine bloß quantitative Steigerung
verstanden und abgelehnt Aber daneben behält Evolution auch den
weiteren Sinn von Entwicklung überhaupt, so ist es namentlich bei
außerdeutschen Völkern die gebräuchlichste Bezeichnung der neuesten
Form der Entwicklungslehre geworden.
b) Zur Geschichte des Begriffs und Problems.
Es gibt kaum eine Überzeugung und Lehre, bei der die alte
und die neue Denkart so weit auseinandergehen; die Beharrungs-
^ Bei Cicero heißt es z. B. (Top. 9) : tum definitio adhibetur quae quasi
involutum evolvit id, de quo quaeritur.
' Niliolaus sagt (Pariser Ausgabe von 1514, I, 89a): linea est puncti
evolutio. - Quomodo intelligis lineam puncti evolutionem? - Evolutionen!
id est explicationem.
' C. F. Wolff hat sich über jene Begriffe namentlich in der deutschen
Ausgabe und in der zweiten lateinischen Auflage von 1774 deutlich geäußert.
Praemonenda § 50 heißt es in dieser: evolutio phaenomenon est, quod, si
essentiam ejus et attributa spectes, omni quidem tempore, at inconspicuum,
exstitit, denique vero, speciem prae se ferens ac si nunc demum oriatur, quo-
modocunque conspicuum redditur. S. auch Kant, Krit. d. Urteilskraft (V,
436 Hart.): „Das System der Zeugungen als bloßer Edukte heißt das der
individuellen Präformation oder auch die Evolutionstheorie; das der Zeug-
ungen als Produkte wird das System der Epigenesis genannt."
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 13
194 Zum Weltproblem.
lehre hängt mit den Idealen jener ebenso eng zusammen, wie die
Entwicklungslehre mit denen der Neuzeit. So läßt wiederum der
besondere Punkt einen Durchblick der gesamten weltgeschichtlichen
Bewegung erwarten. — Wohl zeigt die älteste griechische Philosophie
bedeutende Ansätze einer Entwicklungslehre, aber die Höhe der
klassischen Kultur hat der Beharrungslehre das entschiedene Über-
gewicht gegeben, da diese der künstlerischen Art jenes Volkes weit
mehr entspricht und sie in -Begriffe zu fassen geeignet war. Die
Wirklichkeit gilt hier ihrem Grundbestande nach als ein lebendiges,
in feste Maße gefügtes und von unwandelbaren Ordnungen be-
herrschtes Kunstwerk; aus der wirren Flucht der sinnlichen Eindrücke
dies klar und kräftig herauszusehen, das wird zum Hauptziel der
Wissenschaft. Diese Aufgabe ist nicht zu lösen ohne die Anerkennung
eines zeitüberlegenen Seins; aus der Übereinstimmung mit ihm stammt
alle Wahrheit der Begriffe, die vom Denken aus sich auch dem
Handeln mitteilt und es auf beharrende Ziele richtet So ist die
Wissenschaft hier vor allem eine Versetzung aus der Welt des
Werdens in die des Seins, freilich eines lebendigen Seins; durch-
gängig geht hier das Sein dem Werden voran.^ Eine nähere Aus-
führung gibt dieser Denkart die Formenlehre, die Plato schafft und
Aristoteles weiterführt. Zeitlos wirken die Formen als Urbilder und
Grundkräfte der Dinge, durch den Weltprozeß, der keinen Anfang
und kein Ende hat, gehen unverändert die Gestalten. Alle Veränderung
kommt vom Stoffe, der, wenigstens im Bereich des Erdenlebens,
sich der Form nicht dauernd verbindet, sondern, eine Zeit lang von
ihr ergriffen und gebändigt, ihr immer wieder entweicht und seine
Gestalt verliert. Immer von neuem muß daher die Form den
Stoff ergreifen und bezwingen; das erklärt den unablässigen Wechsel,
das rastlose Werden und Vergehen. So gilt es zunächst von den
einzelnen Lebewesen. Auch jenseit ihrer werden Verschiebungen nicht
geleugnet, vielmehr Wandlungen in den Stellungen der Gestirne,
Wandlungen auch- im Auf- und Absteigen der Völker bereitwillig
anerkannt. Aber auch dieses verwandelt sich einer näheren Betrachtung
* Es sei dafür nur eine Stelle aus Aristoteles angeführt (de part. anim.
640a, 18): ^ y^^^<^'-? ^vexa tjJ? oüaia? eoriv, a.\X oOy^ f ouata l'veza -rf? ^evetew?.
b, 1: £:t£i S'eoTt toioÜtov, -n^v ye'vEOtv üS\ xcl^ zoiauTTjV au[j.ßaiv£tv ivaYy.atov. Selbst
der Ausdruck für Wissenschaft wird mit Stehen in Beziehung gebracht
(S. PhyS. 244 b, 9): r o i^ «px.'i? ?>^'^'? ttj; ir.iTzr^rii Y£v£at; oüx eoriv tw y«P
^pefifaat xa\ arrivat ttv Siavotav eTiioraaö-ai xai (ppovetv Xe'yo(j.ev.
Entwicklung. jg5
in eine Bestätigung der Beharrungslehre. Denn aus aller Veränderung
ihrer Stellungen kehren die Gestirne nach Ablauf eines grofkn Welt-
jahres wieder an den Ausgangspunkt zurück, um die alte Bewegung
neu zu beginnen, der Wechsel verändert also im Grunde nichts.
Ähnlich bildet auch die Geschichte eine endlose Folge von Kreis-
bewegungen wesentlich gleichen Inhalts. Denn alles Aufsteigen der
Völker geht nur bis zu einem gewissen Punkt, um dann in ein
Sinken umzuschlagen, bis Elementarkatastrophen von Feuer oder
Wasser wieder eine Verjüngung bewirken, so daß nun dieselbe Be-
wegung von neuem anheben kann. So eine ewige Wiederkehr der
Dinge; was wir jetzt erleben, geschah schon unzähligemal und wird
noch unzähligemal geschehen. Demnach die Welt kein starres Sein,
sondern voller Bewegung, aber diese Bewegung, nach der Art von
Tages- und Jahreszeiten, in festem Rhythmus verlaufend und inmitten
alles Wandels voll sicherer Ruhe. Überall ist hier das Leben in
feste Grenzen gebannt, kein echtes Streben geht in? Unbestimmte,
es gibt keinen Fortschritt ins Unendliche, keine Hoffnung einer
wesentlich besseren Zukunft. Dafür aber gilt die Überzeugung, daß
die unmittelbare Gegenwart Ewiges erfassen und mit ihm das Leben
erfüllen kann. Die Tätigkeit selbst hat hier die Ruhe in sich aufzu-
nehmen, sie tut das, indem sie aus einem bloßem Streben ein in
sich selbst befriedigtes und gesättigtes Wirken, „Energie" im Sinne
des Aristoteles, wird. Eine derartige Tätigkeit gewährt an erster
Stelle die Anschauung des Wahren und Schönen, aber auch das
Handeln wird hier auf seiner Höhe zum Darstellen einer beharren-
den Art und Natur.
Solche Denkweise sieht durchgängig im Unwandelbaren ein
Gutes, in\ Veränderlichen ein Schlechtes. Das Hauptmerkmal der
Gottheit bildet hier die Ewigkeit, das Unberührtsein vom Strom der
Zeit. Dem Handeln aber wird ein unwandelbarer Idealstand vor-
gehalten, an dem es sich messen und auf den es sich richten soll.
So vornehmlich im Entwerfen von Idealverfassungen, die aller ge-
schichtlichen Wandlung entzogen sind. Die Überzeugung, daß unser
Leben auf festen Grundlagen ruhe und sich innerhalb fester Grenzen
bewege, gestaltet die Arbeit aller Gebiete eigentümlich und verleiht
selbst der Logik und wissenschaftlichen Methode einen besonderen
Charakter. Die Grundwahrheiten dünken hier in Begriffen und
Urteilen gegeben und abgeschlossen, es gilt nur sie deutlich heraus-
zustellen, zu einander in Beziehung zu setzen, in ihre Konsequenzen
13*
196 Zum Weltproblem.
zu verfolgen. Die Schlußlehre ward damit zum Hauptstück der
Arbeit, während der Neuzeit sich diese in die Urteile und Begriffe
zurückverlegt hat.
Dabei floß in die Lehren der Philosophen von Anfang an auch
die Stimmung des ganzen Menschen mit ein, das Verlangen, gegen-
über dem bunten und ermüdenden Wechsel der kleinstaatlichen
Verhältnisse einen beharrenden und bedeutenden Lebensgehalt zu
gewinnen; die Wendung vom menschlichen Kreise zum All war
zugleich ein Suchen nach innerer Erhöhung und Befestigung des
'Daseins. Solche Strömung verstärkte sich gegen den Ausgang des
Altertums und gewann neue Nahrung im Christentum. Die Sache
ward nun vom Künstlerischen ins Religiöse gewandt; verlangte die
Höhe des griechischen Lebens ein Ruhen innerhalb der Bewegung,
so galt es jetzt, eine Ruhe in Gott im Gegensatz zu dem unsteten
und sinnlosen Treiben der Welt zu finden, sich dahin als in einen
sicheren Hafen aus den Stürmen des Lebens zu flüchten. Nicht
streben wollte man, sondern fest und sicher besitzen. Eine beson-
dere Kraft und Innigkeit gab solchem Verlangen die Mystik, den
Kern aller Weisheit konnte sie darin finden, die ganze Zeit zu
einem bloßen Scheine herabzusetzen und durch ein wachsendes Auf-
gehen in das ewige Sein jeden Tag »jünger" zu werden. Dies Ideal
ergriff in den Zeiten des ausgehenden Altertums und des beginnenden
Mittelalters um so mächtiger das Gemüt, als es der gesamten Lage
der Kultur entsprach. Denn eine alte Art hatte sich hier ausgelebt,
ohne daß fruchtbare Keime einer neuen erkennbar waren; selbst den
Besten konnte es daher als Hauptaufgabe erscheinen, den vorhandenen
Besitz treu zu wahren und gewissenhaft den künftigen Geschlechtern
mitzuteilen. Unwandelbar schien vor allem die religiöse Wahrheit,
als göttliche Offenbarung; aber auch auf den übrigen Gebieten, in
Philosophie und Medizin, in Recht und Staat, schien alles erreicht,
was dem Menschen irgend erreichbar ist; die Autorität eines Aristoteles
und eines Galen stand kaum hinter der des kirchlichen Dogmas
zurück.
Diese Überzeugungen tragen das große Ordnungssystem des
Mittelalters, das überall unwandelbare Normen und feste Verkettungen
herstellt, innerlich wie äußerlich, namentlich auch in den wirtschaft-
lichen Verhältnissen, das Leben in sichere Bahnen bringt und keinen
Trieb zur Veränderung aufkommen läßt. Solcher Denkweise liegt
es fern, die Natur als ein Reich allmählichen Werdens zu verstehen.
Entwicklung. X97
vielmehr hat diese nur die Formen zu bewahren, die der Schöpfer
ihr zu Anfang mitgeteilt hat.^
Die Neuzeit stand von vornherein zu einer solchen Beharrungs-
lehre feindlich. Denn sie konnte keine selbständige Art entfalten
ohne einen Glauben an die Bewegung und das Recht der Bewegung,
im Eintreten dafür mußte sie ihrem eignem Streben Boden gewinnen.
In Wahrheit war gegenüber dem Ausgang des Altertums die Lage
der Menschheit erheblich verändert Neue Völker voll strotzender
Jugendkraft waren entstanden, die langen Jahrhunderte des Mittelalters
hatten viel Vermögen gesammelt, das immer stärker nach Betätigung
drängte und sich zutrauen durfte, die Welt mit eignen Augen zu
sehen und nach eignen Zielen zu gestalten; aus dem bloßen Emp-
fangen und Überliefern treibt es zum Weiterbauen und Erneuern,
ein verändertes Lebensgefühl eröffnet neue Ausblicke und Aufgaben,
die Idee einer fortschreitenden Bewegung ergreift immer mehr das
Leben wie die Arbeit
Aber solchen Lebensdrang in eine sichere Bahn zu leiten, war
keineswegs leicht; die Geschichte der Entwicklungsidee zeigt, wie
das nur im Anschluß an ältere Bestrebungen gelungen ist, und wie
es verschiedene Stufen durchlaufen hat. Die Anregung zum Neuen
reicht in das Christentum selbst zurück. Mochte seine kirchliche
Gestalt fest an der Beharrungslehre haften, seine Gedankenwelt ent-
hielt auch fruchtbare Antriebe entgegengesetzter Art. Dem Christentum
wird die Geschichte weit mehr als dem Altertum. Mitten in die
Zeit war nach seiner Überzeugung das Göttliche eingetreten, nicht
in mattem Abglanz, sondern mit ganzer Fülle seiner Herrlichkeit* als
beherrschender Mittelpunkt des Ganzen mußte es alle Vergangenheit
auf sich beziehen und alle Zukunft aus sich entfalten. Die Einzig-
artigkeit dieses Geschehens litt keinen Zweifel, Christus konnte nicht
immer von neuem kommen und sich kreuzigen lassen; so entfielen
die unzähligen Perioden, die ewige Wiederkehr der Dinge; aus einem
gleichmäßigen Ablauf von Rh>1hmen wurde die Geschichte ein um-
spannendes Ganzes, ein einziges Drama; daß der Mensch hier zu
^ Um nur eine bezeichnende Stelle dafür anzuführen, so läßt Alanus
de insulis (s. Baumgartner, die Philos. des A. d. J., S. 79) die Natur sprechen :
Me igitur tamquam sui vicariam rerum generibus sigillandis monetariam desti-
navit, ut ego in propriis incudibus rerum effigies commonetans ab incudis
forma conformatum deviare non sinerem.
198 Zum Weltproblem.
einer völligen Umwandlung aufgerufen wurde, das gab seinem Leben
eine unvergleichlich größere Spannung, als wo es nur eine vor-
handene Natur zu entfalten galt. So liegen die Wurzeln einer
höheren Schätzung der Geschichte und des zeitlichen Lebens nirgend
anders als im Christentum.
Aber nur langsam geschah es, daß solche Wandlungen prinzipiell
gefaßt und deutlich ausgesprochen wurden; es ist das vornehmlich
von der Spekulation her geschehen, die damals mit einem Verlangen
nach gemütvoller Aneignung Hand in Hand ging. Vor allem
suchte sie die Welt zu Gott in ein engeres Verhältnis zu bringen,
als der naive Glaube es tat. Was ist und bedeutet die Welt mit
all ihrem Geschehen, von Gott aus betrachtet? Sie kann, so lautet
die Antwort eines Augustin, nichts anderes als eine Selbstdarstellung
des göttlichen Wesens sein. Damit aber gewinnt alle Mannigfaltig-
keit in ihr einen inneren Zusammenhang, auch die verschiedenen
Punkte der Geschichte können nun kein bloßes Nacheinander bleiben,
sie werden Stücke einer durchgehenden Bewegung, ja eines einzigen
weltumspannenden Tuns; auch das, was später eintritt, mußte beim
Früheren irgend schon gegenwärtig sein; so läßt sich der gesamte
Weltprozeß der Entwicklung eines Baumes aus seinem Samen ver-
gleichen. ^ Die mystische Spekulation eines Dionysius, Scotus Eriu-
gena u. s. w. steigert dies dahin, das Ganze der Welt als eine
«Auswicklung" dessen zu fassen, was „eingewickelt" bei Gott ist,
als eine Entfaltung der Ewigkeit zu einem Leben in der Zeit, der
unsichtbaren Einheit zu sichtbarer Vielheit. Ihre Ausdrücke und Bilder
sollten uns freilich nicht verführen, diese Denkart der modernen zu
nahe zu rücken. Das begründende Sein und die bewegende Kraft
* Bei dem allen ist Augustin der führende Geist; für seine Entwicklungs-
lehre ist namentlich bezeichnend folgende Stelle (op. III, 148 D): Sicut in ipso
grano invisibiliter erant omnia simul quae per tempora in arborem surgerent:
ita ipse mundus cogitandus est, cum Deus simul omnia creavit, habuisse
simul omnia quae in illo et cum illo facta sunt, quando factus est dies, non
solum caelum cum sole et luna cum sideribus — , sed etiam illa quae aqua
et terra produxit, potentialiter atque causaliter, priusquam per tem-
porum moras ita exorirentur, quomodo nobis jam nota in eis operibus, quae
Deus usque nunc operatur. Wie er sich aber die Entwicklung eines Baumes
aus dem Samen vorstellt, zeigt V, 714 E: In illo grano seminis exiguo, vix
visibili, si consideres animo, non oculis, in illa exiguitate, illis angustiis et
radix latet et robur insertum est et folia futura alligata sunt et fructus, qui
apparebit in arbore, jam est praemissus in semine.
Entwicklung. 199
blieben gänzlich jenseitiger Art; die Kette des Geschehens und die
Stufenfolge des Nacheinander war nicht dem eignen Boden der Zeit
entsprungen, sondern in ihr hatte die göttliche Einheit sich zeitlos
auseinandergelegt. Wie diese mit ihrer ewigen Ruhe als das un-
bedingt Höhere galt, so strebte auch das Leben letzthin nicht in die
Fülle der Welt hinein, sondern aus ihr zurück zu jener aller Viel-
heit und Bewegung, aller Zerstreuung und Unruhe überlegenen
Einheit. Aber trotz solches Abstandes hat die mystisch-spekulative
Gedankenwelt die moderne Entwicklungslehre eingeleitet. Sie hat
von der Welt, als der Erscheinung göttlichen Wesens, höher denken
gelehrt und ihrem Leben die Richtung auf Ewiges und Unend-
liches gegeben. Die Welt würde der modernen Forschung nicht
mit solcher Größe gegenwärtig sein, hätte nicht die Gottesidee, die
Idee des absoluten Wesens, ihr Leben und Glanz geliehen.
Allerdings mußte im Verhältnis von Gott und Welt erst eine
beträchtliche Verschiebung erfolgen, ehe das sicher fortschreiten
konnte: die engere Verbindung von Welt und Gott durfte nicht dazu
dienen, die Welt gänzlich in Gott verschwinden zu lassen, sondern
sie mußte dahin wirken, ihr als dem Ausdruck göttlichen Seins einen
höheren Wert zu geben. Diese Verschiebung aber ist bei dem
bahnbrechenden Philosophen der Renaissance, bei Nikolaus von Kues
(1401 — 1464), erfolgt. Als die Auswicklung des unendlichen Lebens
— die neuere Spekulation pflegt beim Gottesbegriff der Ewigkeit
die Unendlichkeit voranzustellen — muß ihm die Welt durch und
durch lebendig sein, ja muß sie an jeder Stelle nach Teilnahme am
unendlichen Leben dürsten, eben damit aber einen Trieb zu un-
begrenztem Fortschritt in sich tragen.^ Was Gott besitzt, das hat
* Nur ein Fortschritt ins Unendliche kann die Lebensfülle des absoluten
Seins zum Ausdruck bringen, s. z. B. Nikolaus von Kues (Paris. Ausg. von
1514, II, 188a): Posse semper plus et plus intelligere sine fine, est similitudo
aeternae sapientiae, et ex hoc elice, quod est viva imago, quae se conformat
creatori sine fine. II, 187b: semper vellet id quod intelligit plus intelligere
et quod amat plus amare, et mundus totus non sufficit ei, quia non replet
desiderium intelligendi ejus. — Der Begriff des Fortschritts ist dem Altertum
trotz der Vorherrschaft der Beharrungslehre keineswegs fremd, Plato und Aristo-
teles haben dafür die Ausdrücke smSoai; und iTrtötSo'vai, weit mehr aber trat
das stoische r.poy.oTu hervor, das wir (z. B. bei Polybius) ganz ähnlich ver-
wandt finden wie das heutige »Fortschritt". Der Gedanke eines Fortschritts
ins Unendliche hat seine Wurzel bei den Piatonikern und Mystikern, er ist
aber zur vollen Entwicklung erst in der neuen Philosophie gelangt. Seinen
200 Zum Weltproblem.
die Kreatur in allmählichem Wachstum annähernd zu erreichen.
Mit solcher Wendung wird die Bewegung wesentlich gehoben und
der ganzen Welt ein Streben nach aufwärts eingepflanzt. Zugleich ge-
winnt, in direktem Gegensatz zum Ausgang des Altertums, das
Künstlerische neben dem Religiösen Platz, ja es beginnt dieses
zurückzudrängen. Indem die Welt sich mehr und mehr als ein
lebensvolles Kunstwerk darstellt, in dessen Harmonie sich alle Gegen-
sätze des ersten Anblicks auflösen, scheint sie die Bewegung wie
alle Bildung von innen her, durch Entfaltung ihres eignen Wesens,
hervorzubringen; das Absolute bedeutet nun weniger ein eignes
Reich, als es der Welt eine Tiefe oder doch einen Hintergrund gibt.
Solche Verschiebung vom Theismus zum Pantheismus kommt zum
Siege in Giordano Bruno; die immanente und künstlerische Gestalt
der Entwicklungslehre hat von nun an die Oberhand. Das ist die
Form, welche bis zur Gegenwart in den Ausdrücken und Bildern
von der Sache überwiegt, das stille und stetige Wachsen der Pflanze
wird hier zum Vorbilde für das Wirken und Aufsteigen der Natur
von innen heraus. Die Aufklärung mit ihrer Zerlegung der Natur
in seelenlose Elemente ist dieser Gedankenrichtung minder günstig,^
dagegen bringt der Rückschlag gegen die Aufklärung, wie ihn der
deutsche Humanismus enthält, sie voll zu Ehren. Nicht die bloße Be-
wegung, sondern das künstlerische Gestalten wird hier zum Haupt-
Höhepunkt bildet Leibniz, s. z. B. 150a (Erdm.): In cumulum etiam pul-
chritudinis perfectionisque universalis operum divinorum progressus quidam
perpetuus liberrimusque totius universi est agnoscendus, ita ut ad majorem
semper cultum procedat ff.; femer deutsche Schriften II, 36: «Der Kreaturen
und also auch unsere Vollkommenheit bestehet in einem ungehinderten
starken Forttrieb zu neuen und neuen Vollkommenheiten." Bei Wolff und
seiner Schule galt als das höchste Gut perpetuus sive non impeditus ad
majores, per fection es progressus. — Der Ausdruck Fortschritt dürfte erst in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein fester Terminus geworden sein.
* Es fehlt hier aber keineswegs an anregenden Gedanken nach dieser
Richtung. S. z. B. die wenig beachtete Stelle in Leibnizens Hauptwerk
(Nouv. ess. III, cp. VI, pag. 317a, Erdm.): Peut-etre que dans quelque tems
ou dans quelque Heu de l'univers ies especes des animaux sont ou etaient
ou seront plus sujets ä changer, qu'elles ne sont presentement parmi nous,
et plusieurs animaux qui ont quelque chose du chat, comme le Hon, le tigre
et le lynx pourraient avoir ete d'une meme race et pourront etre maintenant
comme des sousdivisions nouvelles de l'ancienne espece des chats. Ainsi
je reviens toujours ä ce que j'ai dit plus d'une fois que nos determinations
des especes physiques sont provisionelles et proportionelles ä nos connaisances.
Entwicklung. 201
werke der Natur; damit wird ihre Veränderung zu einer Entwicklung
von innen her, und alle Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten scheint auf
einen einzigen Grundtypus zurückzukommen. Über die Natur hinaus
bemächtigt sich der Entwicklungsgedanke dann des Menschenlebens
und des ganzen Alls; „alles, was in der Wirklichkeit vorkommt«,
erscheint nun als „Entwicklung einer absoluten Vernunft" (s. Schelling I,
481). Die nähere Durchführung dessen zeigt verschiedene Färbungen;
stellt die Romantik das ruhige Werden und Wachsen in den Vorder-
grund, so gibt Hegel mit seiner kosmischen Logik der Entwicklungs-
idee mehr Selbsttätigkeit. Immer aber erfolgt die Bewegung von
innen heraus, immer wirkt, auch an der einzelnen Stelle, mit über-
legener Kraft das Ganze.
Das eben ist es, was die künstlerische Entwicklungslehre von
der strengwissenschaftlichen unterscheidet, die der Neuzeit eigen-
tümlich ist. Denn diese gibt alle inneren Zusammenhänge auf und
stellt das Problem ganz und gar auf den Boden des unmittelbaren
Daseins: das empirische Zusammenwirken der Elemente soll den
Gesamtstand der Natur verstehen lehren, und es soll aller Fort-
schritt in einem zeitlichen Nacheinander erfolgen. In diesem Sinne
wird die Entwicklungsidee zu einem Hauptstück der modernen
Wissenschaft. Diese setzt das nächste Bild der Dinge zu einer
bloßen Erscheinung herab, von der es zu den echten Beständen erst
durchzudringen gilt. Das geschieht, indem die Analyse einfache
Elemente aufsucht, das Gesetz die Wirkformen dieser ermittelt,
dann aber die Entwicklung die Welt neu aufbaut und vom ge-
schichtlichen Werden aus den vorgefundenen Bestand begreiflich
macht So wird sie der neueren Wissenschaft zur Hauptvertreterin
der Synthese, und erscheint sie als die Vollendung und der Prüf-
stein der gesamten Arbeit der Forschung; kein Wunder, daß ihr
die Gunst des Denkens, ja des modernen Menschen gehört Es
erscheint aber die neue Entwicklungslehre gleich beim entscheidenden
Durchbruch der modernen Denkart; schon Descartes hat, wenn auch
nur als eine Möglichkeit, den Gedanken, daß der gegenwärtige
Weltstand in der Zeit, nach und nach (cum tempore, successive)
entstanden sei.^ Im Lauf der Jahrhunderte bemächtigt sich dieser
^ Clauberg beschrieb im wesentlichen zutreffend (op. philos. 755) die
cartesianische Methode folgendermaßen: Hanc methodum Cartesiana physica
tenens considerat omnes res naturales non statim quales sunt in statu perfec-
tionis suae absoluto (ut vulgo fieri solet ab aliis), sed prius agit de quibusdam
202 Zum Weltproblem.
Gedanke aller einzelnen Gebiete und gräbt sich immer tiefer in den
Stand des Wissens ein.^ In der Kosmologie weicht der antike Ge-
danke einer Unveränderlichkeit des Himmelsgewölbes dem des all-
mählichen Werdens der Weltkörper und Weltsysteme (Kant, Laplace),
der Befund der Seele wird nicht nach alter Art als fertig hingenommen,
beschrieben und eingeteilt, sondern die moderne Psychologie strebt
seit Locke, das Werden und Wachsen der Seele von einfachsten
Lebenserscheinungen ner genetisch zu verstehen; die menschliche
Geschichte erscheint als ein allmähliches Aufklimmen von ver-
schwindenden Anfängen her zu unbegrenzter Höhe, und ähnlich
werden auch die einzelnen Kulturwelten als in Fluß und Wandel
befindlich behandelt. Überall ist gegen die ältere Art der Anblick
der Wissenschaft umgewandelt: war sie dort ein Herausheben der
bleibenden Bestände und ein unmittelbares Zusammenschliefkn zu
einem festen Ganzen, ein künstlerisches Zusammenschauen der
Mannigfaltigkeit, so bringt sie nun das nur scheinbar Feste in Fluß,
dringt unermüdlich zu kleineren und kleineren Elementen vor und
verwandelt die Wirklichkeit in einen noch mitten im Werden be-
griffenen Prozeß. Dabei scheint sie zu einer weit engeren Berührung
mit den Dingen zu kommen, die sie früher mehr von außen be-
trachtete; so heißt etwas in die Entwicklung hineinziehen, es voll
der Erkenntnis gewinnen.
Aber so wirksam die moderne Entwicklungsidee schon lange
war, zum Siege für das Ganze des Lebens und der Arbeit hat sie
erst Darwin gebracht. Zunächst hat seine Leistung eine große Lücke
ausgefüllt: die organischen Formen widerstanden bis dahin einer gene-
tischen Erklärung hartnäckig, so blieb eine unüberbrückte Kluft
zwischen den Weltbegriffen und den Erfahrungen des menschlichen
Kreises, die beide der Entwicklung schon gewonnen waren. Wohl
waren, namentlich durch Lamarck, bedeutende Anfänge zur Aufhellung
gemacht, aber den Versuchen fehlte die Verbindung zu einem durch-
gebildeten Ganzen und zugleich eine zwingende Kraft. Darwin hat
earundem principiis valde simplicibus et facilibus, deinde explicat, quomodo
paulatim ex Ulis principiis, suprema causa certis legibus opus dirigente,
oriantur et fiant, aut carte oriri aut fieri possint, donec tandem tales evadant,
quales esse experimur dum consummatae et absolutae sunt.
' Einen wichtigen Abschnitt dieser Bewegung behandelt in vortrefflicher
Weise H. Heußler: „Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts in seinen Be-
ziehungen zur Entwicklungslehre", 1885.
Entwicklung. 203
mit seiner Vereinigung von Deszendenz- und Selektionslehre jene
Lücke ausgefüllt und das Schlußstück des Ganzen geliefert; seine
Lehre ist namentlich dadurch stark, daß sie aus genauester Durch-
forschung ihres besonderen Gebietes Begriffe gewinnt, die einer un-
ermeßlichen Ausdehnung nach allen Richtungen fähig scheinen; er
hat, wie Helmholtz sich ausdrückt (s. popul. wissensch. Vortr. 2. Aufl.
II, 204), »alle — vereinzelten Gebiete aus dem Zustande einer An-
häufung rätselhafter Wunderlichkeiten in den Zusammenhang einer
großen Entwicklung erhoben und an die Stelle einer Art von künst-
lerischer Anschauung bestimmte Begriffe gesetzt." Solches Verdienst
erfährt keinen Abbruch dadurch, daß die Schranken der Selektions-
lehre mit ihrer natürlichen Zuchtwahl und ihrem Kampfe ums Da-
sein zu immer klarerer Einsicht kommen; hat doch Darwin selbst
diese Lehre nicht als die einzige Erklärung der organischen Formen
ausgegeben. Es bleibt dabei, daß durch ihn das Problem in eine
neue Lage gebracht ist, daß die Entwicklungsidee mit der Sicherung
auf dem Gebiet des organischen Lebens zugleich die Fähigkeit er-
langt hat, sich zum Ganzen einer Weltanschauung zu erweitern.
Für solche Wendung muß vornehmlich Spencers gedacht werden,
der zuerst von einer realistischen Denkweise aus die Entwicklungs-
lehre ein eigentümliches Weltbild hat erzeugen lassen. Entwicklung
ist ihm ein Übergehen aus einem zusammenhangsloseren in einen
zusammenhängenderen Zustand. Als die allgemeinste Tatsache der
Welt gilt ihm Entwicklung, als Zusammenschluß (Integration) des
Stoffes und Zerstreuung der Bewegung; ihr folgt aber bei ihm in
endlosem Wechsel eine Periode der Auflösung in Aufnahme (ab-
sorption) von Bewegung und Lockerung (disintegration) des Stoffes.
Dort erfolgt eine Verschiebung vom Gleichartigen ins Ungleichartige,
eine zunehmende Spezialisierung und Differenzierung, vom Weltall
als Ganzen bis in die einzelnen Weltkörper, in die menschliche
Gemeinschaft, die Kultur, das Einzelwesen hinein; die Periode der
Auflösung verfolgt die umgekehrte Richtung. Eine Verwandtschaft
solches Rhythmus mit Gedanken der ältesten griechischen Philosophie,
namentlich mit Empedokles, ist nicht zu verkennen. Wenn Spencers
Lehre, die im Grundriß zeitlich voranging, der Darwins einen uni-
versalen Hintergrund gegeben hat, so hat sie durch die Verbindung
mit dieser unermeßlich an Fülle, Anschaulichkeit und Eindringlich-
keit gewonaen.
Trotz solches Vordringens der Bewegungslehre ist die Beharrungs-
204 Zum Weltproblem.
lehre zu tief eingelebt und zu fest mit den Überzeugungen wich-
tiger Lebensgebiete verschmolzen, als daß sie nicht vielfachen Wider-
stand leisten müßte. Im besonderen ist es die Religion, die nicht
nur einzelne Bestandteile ihres herkömmlichen Vorstellungskreises,
sondern auch den ihr unentbehrlichen Gedanken einer ewigen Wahr-
heit bedroht sieht. Aber auch hier befestigt sich mehr und mehr
die Überzeugung, daß es weniger die Bewegungslehre selbst, als
ihre, keineswegs notwendige Verquickung mit Überzeugungen material-
istischer oder doch naturalistischer Art ist, welche einen unversöhn-
lichen Gegensatz zur Religion enthält. ^ Alles zusammen hebt die
Entwicklungslehre weit über die Stellung einer besonderen Theorie
neben anderen hinaus, sie hat die Führung des Ganzen übernommen
und erzeugt einen neuen Lebenstypus, der ebenso unser Grund-
verhältnis zur Wirklichkeit als die Art unseres Tuns aufs wesent-
lichste verändert. Nun heißt es nicht mehr eine fertig vorhandene
Wirklichkeit anzueignen, sondern einer erst werdenden zur Vollendung
zu verhelfen; die Tätigkeit verschlingt sich dabei enger mit der Um-
gebung und gewinnt ihre nähere Gestalt erst aus der Berührung mit
den Dingen. Sie darf sich sagen, nicht neben, sondern inmitten
der Welt zu stehen und zu ihrer Bildung mitzuwirken. Nun ent-
fällt die alte Flucht aus dem Strom der Zeit zu einer wandellosen
Ewigkeit, sowie die Vorhaltung eines Idealstandes als eines unverrück-
baren Zieles, vielmehr heißt es, ganz und gar der Bewegung der
Zeit zu folgen und das Handeln den Forderungen der jeweiligen
* Es sei dafür nur eine Stelle des hervorragenden französischen Theo-
logen Erzbischof Mignot angeführt. Er sagt in seiner vielbeachteten Rede
über die Methode der Theologie (s. Bulletin de litterature ecclesiastique
Nov. 1901, pag. 272): Vous savez avec quelle defiance justifiee fut regue
dans nos ecoles, il y a trente ans, l'idee d'evolution, qui paraissait liee par
de graves compromissions avec la philosophie pantheiste; depuis que l'analyse
en a precise le contenu, on est ä peu pres unanime ä reconnaitre qu'une
certaine fagon d'entendre l'evolution est conciliable avec une conception
religieuse et chretienne de l'univers; on en trouve le germe dans saint
Augustin, et on deeouvre, avec Vincent de Lerins, qu'appliquee ä l'histoire
religieuse, eile peut apporter de grandes clartes dans des problemes qui
seraient restes insolubles. Auch Reischle: „Wissenschaftliche Entwicklungs-
forschung und evolutionistische Weltanschauung in ihrem Verhältnis zum
Christentum" (Zeitschrift für Theologie und Kirche, 12. Jahrgang, 1. Heft)
scheidet scharf zwischen Evolutionismus als Weltanschauung und Entwick-
lungstatsachen. Auch an Newman's theory of development mag hier er-
innert sein (s. darüber Lady Blennerhassett , Kardinal Newman S- 125 ff).
Entwicklung. 205
Lage möglichst genau anzupassen. Das rüttelt alle Lebensgebiete
aus träger Starrheit auf und bringt sie in frischesten Fluß, das gibt
z. B. der Gesetzgebung wie der Erziehung eine engere Beziehung
zur Zeit und erfüllt sie mit den Aufgaben der lebendigen Gegen-
wart. Von hier aus erwächst ein eigentümlicher Begriff des Modernen,
als der Ergreifung des unmittelbaren Augenblicks und der Gestaltung
aller Verhältnisse nach seinen Bedürfnissen, eine Elastizität des Lebens,
die weiteren Wandlungen bereitwillig entgegenkommt. Bildet so
nach dem Ausdruck Hegels das Werden .,die Wahrheit des Seins",
so müssen auch die Ideale die Beweglichkeit teilen, so werden auch
die Ziele veränderlich, so wird die Wahrheit ein »Kind der Zeit"
(veritas temporis filia). Das unterwirft augenscheinlich das Leben
einem völligen Relativismus, aber mit dem Hinfälligwerden der
älteren Denkweise hat ein solcher allen Schrecken verloren. Denn
als Hauptziel gilt ja nicht mehr die Aneignung einer um uns vor-
handenen und fertig abgeschlossenen Wahrheit, sondern die Erzeugung
eines möglichst reichen Lebens im eignen Kreise; dafür aber scheint
jene mehr relative Art mit ihrer unbegrenzten Beweglichkeit und
Anpassungsfähigkeit besonders geeignet. Das alles verbleibt nicht
bei inneren Bestrebungen und Wandlungen, auch die äußere Ge-
staltung des modernen Lebens hat jene Verwandlung des Daseins
in eine rastlos fortschreitende Bewegung aufs wirksamste unterstützt.
Die Technik hat den Lebensprozeß in ungeahnter Weise beschleunigt,
den Augenblick bedeutender gemacht, die Berührungen und mit
ihnen die Wandlungen der Dinge unermeßlich gesteigert; bis in ihre
Werkzeuge hinein ist jetzt die Arbeit in unablässiger Wandlung be-
griffen. ^ Mit dem allen scheint der Sieg der Bewegungslehre end-
gültig entschieden und mit ihm ein kräftigeres, freieres, frischeres
Leben errungen. ^
* Die Konsequenzen dessen für die sozialen Probleme hat namentlich
K. Marx in eindringlicher Weise dargelegt; er sagt (Das Kapital, I, 479):
„Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandene Form eines
Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technologische Basis ist daher
revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich kon-
servativ war."
* Merkwürdig genug ist, daß in derselben Zeit, wo die Entwicklungslehre
so siegreich vordringt, der Forschung ernste Besorgnis über den bleibenden
Fortbestand des Lebens erwachen; das aber von der Tatsache aus, daß
Wärme nur von heißeren zu kälteren Körpern übergehen kann, und daß
damit das Weltall einem Gleichgewicht zustrebt, bei dem das Leben auf-
206 Zum Weltproblem.
c) Die Verwicklungen und Schranken der bloßen
Entwicklungslehre.
Das alles hat seine Wahrheit und sein Recht; töricht wäre es,
sich einem solchen Strom von Tatsächlichkeit entgegenzuwerfen, klein-
lich, an ihm einzelne Irrungen aufzusuchen und bei ihnen zu verweilen.
Aber daß Welt und Leben darin aufgehen, daß der Kampf zwischen
Bewegungs- und Beharrungslehre schon endgültig ausgekämpft ist,
das dürfte mit allen jenen Wandlungen noch keineswegs entschieden
sein. Es müßte wunderbar zugehen, wenn die Idee der Entwicklung
selbst ohne alle Verwicklung wäre, wenn eine Strömung, welche die
Zeit so überwältigend fortreißt, nicht viel Ungeklärtes enthielte, wenn
das ausschließliche Sehen des Menschen nach einer besonderen
Richtung ihn nicht nach anderen Seiten vieles übersehen ließe, seien
es Ergänzungen, seien ts Widerstände. Nach dem Plane unserer Arbeit
soll unsere Untersuchung namentlich dieses erwägen, was die Be-
hauptungen und Wandlungen dem Lebensprozesse leisten, wie er
sich unter ihrem Einfluß gestaltet, im besonderen, ob er dabei einen
geistigen Charakter zu wahren vermag. Das Problem der Möglich-
keit des Geisteslebens ist es, an dem alles Unternehmen sich zu
bewähren hat.
Daß in der modernen Entwicklungslehre verschiedenartige Ten-
denzen zusammenwirken, das verraten schon die Bezeichnungen.
Wer von „Entwicklung", von »Evolution" spricht, scheint anzunehmen,
daß sich die Dinge von innen her, nach einem Gesetz des Ganzen,
in sicherer Richtung auf ein Ziel entfalten. Das aber will der über-
wiegende Zug der Gegenwart nicht, vielmehr erwartet er allen
Fortschritt von dem Zusammentreffen von Elementen, die von Haus
aus gegeneinander gleichgültig sind, sowie von einer langsamen
Summierung kleiner Verschiebungen, er verwirft alle inneren Ziele
hören müßte. Indessen fragt sich, ob nicht eine Gegenwirkung dagegen
besteht, und hier mag auf die Lehre vom Strahlungsdruck hingewiesen
werden, wie sie namentlich durch Arrhenius zu jenem Problem in frucht-
bare Beziehung gesetzt ist. So kommt Arrhenius zu dem Ergebnis (s. das
Werden der Welten, deutsche Übers. S. 190): »Durch dieses kompensierende
Zusammenwirken von Schwerkraft und Strahlungsdruck, sowie von Temperatur-
ausgleich und Wärmekonzentration, wird es möglich, daß sich die Weltent-
wicklung in einem fortwährenden Kreislauf bewegt, bei dem wir weder Anfang
noch Ende wahrnehmen können, und bei dem auch das Leben Aussicht hat,
beständig und unvermindert weiter zu bestehen."
Entwicklung. 207
und Richtungen, er verwirft alles Wirken aus einem Ganzen. Aber
wozu dann der andersartige Ausdruck, der unvermeidlich den Schein
einer von innen her sicher und ruhig fortschreitenden Bewegung
erzeugt? Gibt er nicht einem seelen- und sinnlosen Weltbilde ein
viel zu freundliches Ansehen, versteckt er nicht die Verneinungen
und Zerstörungen, die jenes Weltbild enthält?
Solche Bedenken stören indes die Durchschnittsmeinung wenig.
Berauscht von dem Gedanken einer Entwicklung, eines Fortschritts
ins Endlose, eines unbegrenzten Besser- und Besserwerdens aller
Dinge fühlt sie kein Bedürfnis nach einer präziseren Fassung. Viele
begeistern sich heute für Entwicklung, ohne über das Was und Wie,
das Woher und Wohin sich irgendwelche Sorge zu machen. Je
geringer die Präzision, je vager die Fassung, desto sicherer scheint
die Sache, desto summarischer ist die Begeisterung.
Jedenfalls ist die Tatsache nicht zu verkennen, daß in den leiten-
den , Systemen der modernen Entwicklungslehre eine mechanische
Fassung überwiegt und als die endgültige Lösung des Problems
erscheint. Die ältere Entwicklungslehre mit ihrer künstlerischen
oder logischen Art ist dadurch weit zurückgedrängt; von Hegel,
mag er im Verborgenen stärker fortwirken als die meisten denken,
ist die Herrschaft auf Darwin übergegangen.
Bei Darwin und im Darwinismus sind die beiden Hauptgedanken
der Deszendenz und der Selektion deutlich auseinanderzuhalten.
Die Deszendenzlehre ist von so verschiedenen Seiten her bestätigt
und hat sich so unermeßlich fruchtbar erwiesen, daß über sie in
der Wissenschaft kaum noch ein Streit besteht. Die Selektionslehre
dagegen, die zeitweise die Forschung überwältigend fortriß, hat
mehr und mehr Widerstand gefunden. Daß sich das ganze Reich
der Formen lediglich aus einer Ansammlung zufälliger individueller
Variationen, durch ein blindes Zusammentreffen und tatsächliches
Beharren, ohne irgendwelche innere Gesetzlichkeit, aufbauen solle,
das hatte den überwiegenden Zug der Philosophie von Anfang an
gegen sich,^ das hat sich mehr und mehr auch der Naturwissenschaft
^ Es ist hier namentlich der unermüdlichen und scharfsinnigen Arbeit
E. von Hartmanns zu gedenken, der ebenso von der Spekulation wie von
den Tatsachen her die Unzulänglichkeit jener Lehre mit überlegenen Gründen
dargetan hat. In seiner neuesten Behandlung der Frage: »Die Abstammungs-
lehre seit Darwin" (in den Annalen der Naturphilosophie II, 3) faßt er S. 354
das Ergebnis der Forschungen der letzten Jahrzehnte dahin zusammen: «Die
208 Zum Weltproblem.
als unzulänglich erwiesen. Gerade auf dem eignen Boden der Ent-
wicklungslehre findet diese besondere Fassung mehr und mehr Wider-
spruch. Es sei hier, wo sich ein näheres Eingehen auf diese Probleme
verbietet, nur an die Weismannschen Theorien, an die Entwicklungs-
mechanik, an die Mutationslehre erinnert. Dieselbe Bewegung, welche
die eigentümlichen Züge und die Probleme des Lebens wieder mehr
hervortreibt, muß auch dem Abschluß bei einer mechanischen Ent-
wicklungslehre widerstehen und eine dynamische empfehlen. So
geschieht es vielfach in Wiederaufnahme und Weiterführung Lamarck-
scher Gedanken, so geschieht es in gleichzeitiger scharfer Kritik einer
bloßmechanischen Entwicklungslehre, die alle Bildung von innen
her und aus dem Ganzen leugnen muß. Es wird dagegen u. a. geltend
gemacht, daß jene Lehre mit ihrer Verneinung alles inneren Fort-
triebs alles wesentliche Fortschreiten des Lebens und zugleich den
Entwicklungsgedanken im Grunde aufgebe.^ Nicht minder auch
dieses, daß jene Lehre nur dadurch zu einem leidlichen Abschluß
gelange, daß sie schon den Elementen beilege, was auf der Höhe
der Bildung sichtbar vorliegt. ^ Es stehen hier große Linien neben-
Selektion kann überhaupt nichts Positives leisten, sondern nur negative, aus-
schaltende Wirkungen entfalten. Die Entstehung neuer Arten durch minimale
Abänderungen ist möglich, aber nicht erwiesen und, seit man den undulator-
ischen Charakter der minimalen Abänderungen kennt, weniger wahrscheinlich
geworden ; die sprunghafte Abänderung ist jetzt in den Vordergrund getreten.
Die Zufälligkeit weicht einer bestimmt gerichteten, planmäßigen Entwicklungs-
tendenz aus inneren Ursachen, und diese bekundet sich ebensowohl in den
kleinsten wie in den sprunghaften Abänderungen. Der Anspruch des Dar-
winismus, zweckmäßige Resultate aus rein mechanischen Ursachen erklären
zu können, ist ganz unhaltbar."
^ Bergson bemerkt (L'evol. creatrice, pag. 40) : L'essence des explications
mecaniques est en effet de considerer l'avenir et le passe comme calculables
en fonction du present et de pretendre ainsi que tout est donne. Er selbst
verficht die idee d'un elan originel de la vie, passant d'une generation de
germes ä la generation suivante de germes par l'intermediaire des organismes
developpes qui forment entre les germes le trait d'union. Cet elan, se con-
servant sur les lignes d'evolution entre lesquelles il se partage, est la cause
profonde des variations, du moins de Celles qui se transmittent regulierement,
qui s'additionnent, qui creent des especes nouvelles. En general, quand des
especes ont commence ä diverger ä partir d'une souche commune, elles ac-
centuent leur divergence ä mesure qu'elles progressent dans leur evolution.
Pourtant, sur des points definis, elles pourront et devront meme evoluer
identiquement si l'on accepte l'hypothese d'un elan commun.
' S. Oliver Lodge, Leben und Materie S. 47: „Man konstatiert hier ein-
fach das zu Erklärende und schiebt es dann den Atomen zu, in der Hoff-
Entwicklung. 209
einander, und der Kampf schwankt noch hin und her, jedenfalls
dünkt heute die Lage minder einfach, als sie weniger Darwin selbst
als begeisterten Jüngern erschien.
Aber, merkwürdig gfenug, gewinnt dieselbe Selektionslehre, die
auf dem Gebiete ihres Ursprungs mehr und mehr kritisch behandelt
und eingeschränkt wird, darüber hinaus, in der allgemeinen Be-
trachtung menschlicher Dinge, noch immer an Boden. Die Neigung
ist weitverbreitet, überall auf möglichst einfache Anfänge zurück-
zugreifen, die den Menschen dem Tiere nahe verwandt zeigen, und
die Bewegung aufwärts nicht auf einen inneren Trieb, sondern auf
ein allmähliches Weitergestoßenwerden durch die äußeren Notwendig-
keiten zurückzuführen, sie als eine bloße Anpassung an die Um-
gebungen und Lebensbedingungen zu verstehen. Nichts anderes
scheint dabei in Frage zu stehen als das natürliche Dasein, der Sieg
im Kampf gegen die Mitbewerber. Das vermeintlich Höhere bringt
dann nichts wesentlich Neues, sondern nur Kombinationen und Varia-
tionen der elementaren Lebenserscheinungen; damit ist auch gesagt,
daß dem Geistesleben keinerlei Selbstständigkeit gegenüber der Natur
gebührt. Die Wandlung der Begriffe, die damit erfolgt, reicht tief in
die Gestaltung der einzelnen Gebiete hinein; wo alle Lebensentfaltung
auf die Erhaltung im Kampf ums Dasein zurückkommt, wo alle
geistige Betätigung ein bloßer Anhang des physischen Daseins wird,
da wird zum Wert der Werte das Nützliche, da sinkt der Begriff
eines an sich Guten zu einer leeren Illusion, da kann auch das
Wahre nur in dem Sinne einer der Lebenserhaltung förderlichen
Gruppierung der Vorstellungen bestehen bleiben. Ethik, Ästhetik,
Erkenntnislehre müßten sich damit völlig verwandeln, sie alle müßten
die Lösung ihrer Probleme von den\ Ergreifen und Festhalten der
ersten Anfänge erwarten.
Das Ganze wirkt mit der frischen Kraft einer eben errungenen
Einsicht, es läßt in alten Erfahrungen Neues sehen, es bringt sonst
zerstreute Daten in einen aufhellenden Zusammenhang, es ist mit
seiner Zurückwendung des Blickes mancher Entdeckungen fähig.
Die Naturbedingungen unseres Daseins, das Fortwirken elementarer
nung daß damit dem Fragen ein Ende gemacht sein wird. Bergson findet
den Fehler des Evolutionismus Spencers darin: Ȋ decouper la realite actuelle,
dejä evoluee, en petits morceaux non moins evolues, puis ä la recomposer
avec ces fragments, et ä se donner ainsi, par avance, tout ce qu'il s'agit
d'expliquer."
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 14
210 Zum Wcltproblem.
Triebe inmitten aller Verwicklung und scheinbaren Vornehmheit der
Kultur, die Langsamkeit und Schwerfälligkeit der geschichtlichen
Bewegung, sie kommen nunmehr zur vollen Geltung; das Bild
unseres Daseins scheint mit dem allen mehr Naturfarbe und Lebens-
wahrheit zu erreichen, zugleich aber gewinnt das Wirken zur Hebung
der menschlichen Lage festere Angriffspunkte.
Aber das alles ist in ein größeres Ganzes aufzunehmen und aus
seinen Zusammenhängen zu würdigen, um rein der Wahrheit und
Vernunft zu dienen ; sucht es bei sich selbst den Abschluß und will
es aus eignem Vermögen die Gedankenwelt gestalten, so sind schwere
Irrungen nicht zu vermeiden. Sie kommen namentlich auf den
Fehler zurück, die besondere Art, in der sich beim iMenschen
Geistesleben und Vernunft entwickelt, als den schaffenden und treiben-
den Grund des Geisteslebens selbst zu behandeln; wird aber dieses
so von vornherein zu einer bloßen Erscheinung am Menschen herab-
gesetzt und aller Selbständigkeit beraubt, so kann seine Ableitung
von der bloßen Natur keine Mühe bereiten. Wer nicht im Bann-
kreise dieser Denkweise steht, wird alsbald den Zirkel in jener Er-
klärung gewahren und die dort vollzogene Umwandlung des Geistes-
lebens als eine Vernichtung erkennen. Die geistigen Werte und
schließlich 'das Geistesleben selbst werden durch jene Unterordnung
unter das Nützliche nicht sowohl verändert als zerstört Ein Gutes —
Recht, Ehre, Liebe, Treue — , das wegen seiner Nützlichkeit, d. h.
als ein bloßes Mittel für die physische und soziale Lebenserhaltung
erstrebt wird, wird damit innerlich verwandlelt und verliert den
Charakter des Guten. Ebenso müßte es dem Begriff der Wahrheit
ei gehen, wenn er zu einer bloß zweckdienlichen Anordnung unserer
Vorstellungen sänke; er mag dann alles mögliche andere werden,
Wahrheit ist er nicht mehr. Einer solchen Erniedrigung des Lebens
widersteht aber das innere Erlebnis, das Gewisseste von allem, was wir
kennen. Denn mag über die nähere Fassung des Guten und Wahren
noch so viel Streit sein, und mag der Einzelne noch so wenig teil
an jenen Größen haben, als bloße Lebensmöglichkeiten sind sie
Tatsachen, die sich schlechterdings nicht wegerklären lassen, und die
aus dem Ganzen der Wirklichkeit etwas anderes machen. Schließlich
kommt hier in Frage, ob überhaupt noch von einem Geistesleben
die Rede sein kann. Wird unser ganzes Seelenleben in ein mecha-
nisches Getriebe elementarer Kräfte verwandelt, so gibt es kein
Leben aus dem Ganzen, kein Denken, kein erlebendes Subjekt, so
Entwicklung. 211
müßte der Urteilende auch sich selbst zum Verschwinden bringen
und alle geistige Arbeit für ein Wahngebilde erklären. Solange er das
nicht tut und nicht tun kann, widerlegt die Form der Aussage ihren
Inhalt, bestätigt die Verneinung selbst, die als wissenschaftliche und
allgemeingültige Wahrheit vorgetragene Verneinung, das Wirken eines
dem Naturprozeß überlegenen Geisteslebens.
Zu diesem Widerspruch, durch die geistige Arbeit ihre eignen
Grundbedingungen aufzuheben, gesellen sich Verwicklungen der
näheren Ausführung. Wunderlich ist vor allem, daß jene Preis-
gebung aller selbständigen Geistigkeit und jene Bindung an die
bloße Natur als eine Erhöhung und Befreiung auftritt. Denn,
genauer betrachtet, zerstört jene Wendung allen Sinn und Wert
unseres Lebens. Alle unsägliche Mühe und Arbeit des Menschen
wie der Menschheit, aller Aufbau der Kultur mit seiner reichen
Verzweigung, sie hätten keine andere Aufgabe, als das sinnliche
Dasei;!, die physische Existenz zu erhalten, auf einem ungeheuren
Umwege zu leisten, was das Tier so viel leichter und einfacher er-
reicht.^ Allts, was der physischen Existenz gegenüber einen Selbst-
zweck und einen Selbstwert behauptet, müßte als unhaltbar verschwin-
den, irgendwelchen Inhalt könnte ein solches Leben nicht bieten.
Nun aber sind wir einmal denkende und urteilende Wesen, nun
haben wir den Mittelpunkt eines Selbst und müssen darauf alle Er-
fahrung beziehen und sie von da aus messen. So werden wir denn
jene Inhaltslosigkeit als eine schmerzliche Leere empfinden, eine
Leere, die um so unerträglicher wird, als diese Zusammenhänge nicht
die mindeste Hoffnung einer Wandlung gewähren, uns vielmehr das
sinnlose Getriebe des Naturprozesses unbarmherzig festhält. Gibt
es eine trostlosere Lebensgestaltung als diese mit ihrer Forderung
unablässiger Arbeit ohne allen inneren Gewinn, ihrer fieberhaften
Aufbietung aller Kräfte zur Erringung des nackten Daseins?
Auch nach der methodologischen Seite gerät diese Denkweise
^ Es sei hier an das Wort Kants aus der Kritik der prakt. Vernunft
erinnert (V, 65 Hart.): »Über die bloße Tierheit erhebt ihn (den iMenschen)
das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen
dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet." Ja es müßte von hier
aus der vermeintliche Fortschritt in Wahrheit als ein Rückschritt gelten.
Denn ist es nicht ein Rückschritt, wenn für die Erreichung desselben Zieles
immer kompliziertere Mittel, immer mehr Mühe und Arbeit aufzubieten sind?
Mit der Anerkennung neuer Gehalte und Werte aber wird die mechanische
Evolutionslehre verlassen.
14*
212 Zum Weltproblem.
in arge Verwicklungen, sobald sie auch das Geistesleben an sich
zieht. Wir sehen dann eine evolutionistische Ethik, Rechtslehre,
Ästhetik u. s. w. entstehen, die alle zu den tierischen Anfängen
zurückstreben und in ihnen den Schlüssel aller weiteren Bildung
suchen. Nun beging gewiß die ältere Anschauungsweise den
Fehler, die höhere Stufe in die Anfänge hineinzusehen und diese
damit fälschlich zu idealisieren. Daß das Geistesleben nicht vom
Himmel gefallen ist, sondern von geringen, halbtierischen Anfängen
begonnen hat, daran ist heute kaum mehr zu zweifeln. Aber
"müssen jene Anfänge maßgebend für die Gesamtbewegung bleiben,
könnte nicht der Lebensprozeß sich bei sich selbst erhöhen, könnten
nicht neue Kräfte in ihm hervorbrechen? In Wahrheit bekräftigt
die Bindung an die ersten Anfänge die Entwicklung nicht sowohl,
als sie dieselbe leugnet Sind ferner die ersten Anfänge so einfach
und klar, daß von ihnen hellstes Licht auf sonst dunkle Gebiete
fiele? Vermögen wir sie uns unmittelbar vor Augen zu stellen,
gestalten wir nicht notwendig ihr Bild nach dem Stande, den wir
heute einnehmen? So führt jener Weg uns erst recht ins Dunkel
hinein; es ist nicht ein gerader Weg, sondern ein Umweg, wenn
wir von hypothetisch ausgedachten Anfängen aus höhere Stufen zu
erklären suchen.^
Das alles wendet sich gegen die mechanische und naturalistische
Art der Entwicklungslehre, sofern sie nach ihren Maßen das ganze
Leben gestaltet. Aber auch der Gesamtgedanke der Entwicklung,
wie er die Neuzeit durchdringt, enthält mehr Probleme, als gegen-
wärtig zu sein pflegt. Zunächst wird viel zu leicht, wo irgend Be-
* Neuerdings hat dies für das Gebiet der Ästhetik ebenso scharfsinnig
wie überzeugend Volkelt dargelegt in der Abhandlung «Die entwickelungs-
geschichtliche Betrachtungsweise in der Ästhetik" (Zeitschrift für Psychologie
und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 29). Dort heißt es (Abdruck S. 7):
»Es gilt zu bedenken, daß sich für die Beantwortung der Frage, was es
heiße, sich zu den Dichtungen dichterisch, künstlerisch, ästhetisch verhalten,
nur vom Standpunkte des gereiften gegenwärtigen Menschen aus eine sichere
Grundlage gewinnen läßt.« S. 8: »In Wahrheit ist — um diesen kurzen
Ausdruck zu gebrauchen — die Ästhetik der Naturvölker kein methodisches
Mittel, sondern vielmehr eine der allerdunkelsten und unzugänglichsten
Sonderaufgaben der Gesamtästhetik." S. 11: „Eine „Ästhetik auf entwick-
lungsgeschichtlicher Grundlage" ist demnach eine Umkehrung des richtigen
Verhältnisses."
Entwicklung. 213
wegung vorliegt, ein Fortschreiten, eine Entwicklung im Sinne eines
unablässigen Aufsteigens angenommen. Daß unsere Welt, nament-
lich der Bereich unseres Handelns, voller Bewegung sei, das stand
auch den Alten deutlich vor Augen; ihnen galt aber diese als eine
niedere Stufe, weil sie in ihr nur ein wirres Durcheinander, kein
sicheres Vordringen sahen. Die moderne Überzeugung dagegen
enthielt als ein Hauptstück den Glauben an ein solches Aufsteigen;
die Religion hat ihn aufgebracht, die spekulative Philosophie ihn
weiter gestützt und durcTigebildet. Religion und Spekulation sind
heute verblaßt und vielen gänzlich entschwunden, ihr Erzeugnis aber,
der Fortschrittsglaube, ist verblieben; ist er, nach Wegfall jener Grund-
lagen, noch genügend fundiert, gibt ihn die bloße Erfahrung als
eine unumstößliche Tatsache, kann sie mit ihrer Begrenztheit über-
haupt einen unablässigen Fortschritt erweisen? Sicherlich ist hier
viel subjektive- Stimmung im Spiel. Es liegt dem Menschen nahe,
alle Veränderung als einen Fortschritt zu deuten. Er sieht, was der
Lauf ►des Lebens an Neuem bringt, und vergißt darüber, was zu-
gleich an Altem verloren geht; von da aus fühlt jede Zeit leicht
sich selbst als den Höhepunkt des Ganzen, weil sie am eignen
Streben alles Übrige mißt; eine künstlerische Zeit pflegt nach der
Kunst, eine technische nach der technischen Leistung zu schätzen.
Zu diesen dauernden Ursachen kommen zeitliche: nichts ist günstiger
für den Fortschrittsglauben als ein starkes Kraft- und Gegenwarts-
gefühl, wie es aufsteigende Zeiten durchdringt, wie es namentlich
den Hauptzug der Neuzeit erfüllt. Von hier aus wird alles freudig
ergriffen, was eine Mehrung des Lebens verspricht, dahingehende
Erfahrungen einzelner Gebiete werden verallgemeinert. Vereinzeltes
und Zerstreutes wird ergänzt und verbunden. Hemmendes dagegen
übersehen oder zurückgestellt, selbst der Widerstand als ein Antrieb
zu weiterer Tätigkeit verstanden, in dem allen die bloße Erfahrung
durch den inneren Lebenstrieb umgewandelt. Einer solchen Be-
trachtung und Behandlung des menschlichen Daseins droht schließ-
lich notwendig ein Rückschlag, eine kühlere und kritischere Denk-
art wird manches Stück jenes Fortschrittsglaubens zerstören, wird
retardierende Momente vor Augen stellen, wird manches als eine
vorübergehende Erscheinung erkennen lassen, was jener Glaube. zu
einem bleibenden Gesetz erhob. So ging z. B. durch die letzten
Jahrhunderte die Lehre von einem unablässigen Anschwellen der
Bevölkerungszahl, ihr Stillstand bei einzelnen Nationen wurde wie
214 Zum Weltproblem.
eine merkwürdige Ausnahme behandelt und erörtert. Wie jung aber
ist diese Lehre! Noch Montesquieu meinte, die Bevölkerung Europas
habe gegen das Altertum abgenommen, und es empfehle sich, die
Vermehrung des Menschengeschlechts durch besondere Gesetze zu
fördern. Dann siegte die entgegengesetzte Annahme, und die Ge-
fahren einer übergroßen Vermehrung kamen bei Malthus zu starkem
Ausdruck. Die Zahlen gaben einstweilen dieser Annahme recht,
aber neuerdings erscheinen immer mehr Anzeichen, daß auf einer
gewissen Höhe der Kultur die Zunahme langsamer wird und zum
Stillstande, ja Rückgange kommt; das macht die Frage unabweisbar,
ob sie vielleicht nur für besondere Lagen der Kultur, nicht aber
dauernd gelte. Wie sehr aber muß die Verfolgung dieses Gedankens
den Gesamtanblick der Geschichte verändern!
Ferner greift das Problem über das Quantitative hinaus ins
Qualitative. Bringt die Geschichte ein geistiges Wachstum der
Menschheit, erhöht sie die Summe des geistigen Vermögens? Minder
zuversichtlich, als die durchschnittliche Meinung darüber denkt, stimmt
der von Lorenz nachdrücklich verfochtene Antagonismus zwischen
geistiger Leistung und Fortpflanzungsfähigkeit. Lorenz nennt es
«eine sehr beachtenswerte Tatsache, daß höhere und stärkere geistige
Tätigkeit eine geringere Fortpflanzungsfähigkeit in sich schließt«
(Lehrbuch der Genealogie" S. 486/7), und meint, »aller Wahrschein-
lichkeit nach würde sich — eine Erfahrung, die man anderweitig
beobachtet hat, auch genealogisch bestätigen lassen, daß der männ-
liche Keim eine Wanderung von unten nach oben vollzieht und in
den oberen Ständen, oder wie man nach heutiger gesellschaftlicher
Organisation sagen könnte, in den höheren Berufen abstirbt." In
Weiterführung dieses Gedankenganges stellt sich der ,; Untergang
höherer Kulturen und Kulturvölker nicht als eine Folge äußerer
Überwältigungen, sondern vielmehr als die natürliche Abnahme der
Fortpflanzungspotenzen des höheren, kultivierten Individuums" dar;
es erscheint ein «Unvermögen der Natur, das Geistige — um diesen
Ausdruck nur im Sinne der Kausalität zu gebrauchen — schlecht-
hin fortzupflanzen" (S. 487). So würde die Bewegung sich bei
sich selbst erschöpfen, die Kulturen müßten sich ausleben und greisen-
haft werden, eine Stagnation erfolgen, bis wieder neue Anregungen,
vor allem aber frische Menschen kommen; das Ganze würde sich
dann aus einem unablässigen Aufsteigen in ein Auf- und Abwogen
verschiedener Phasen verwandeln. Was es dabei etwa an Fortschritt
Entwicklung. 215
gäbe, das würde sich jedenfalls anders ausnehmen als im gewöhn-
lichen Fortschrittsglauben.
Auch das gehört hierher, daß die verschiedenen Lebensgebiete
eine verschiedene Art der Bewegung zeigen, und daß das Über-
wiegen eines dieser Gebiete die ihm innewohnende Schätzung zur
Allgemeingültigkeit zu erheben pflegt. Einen unaufhödichen Fort-
schritt zeigen am meisten Technik und exakte Wissenschaft, obschon
es auch hier an Verlusten und Rückgängen keineswegs fehlt; geistiges
Schaffen im Sinne einer inneren Erhöhung des menschlichen Lebens
findet eine volle Verkörperung nur an einzelnen ausgezeichneten
Punkten, um dann rasch wieder abzunehmen; in moralischer Hinsicht
scheint die Menschheit sowohl im Guten als im Bösen, in Wirkung
wie in Gegenwirkung fortzuschreiten, der Gegensatz also immer
schroffer zu werden; die Religion endlich gibt ihre Grundwahrheit
als allem zeitlichen Wandel überlegen, sie betrachtet leicht diese
Wahrheit als an irgendwelchem früheren Zeitpunkt schon erreicht
und -kettet damit das Streben an die Vergangenheit. Jede dieser
Arten hat aber die Neigung, von sich aus ein allumfassendes Ge-
schichts- und Weltbild zu entwerfen. So ist das Problem des Fort-
schritts voller Verwicklung, und was als selbstverständlich und all-
gemeingültig auftritt, ist oft nur das Erzeugnis einer besonderen
Lage vorübergehender Art.
Endlich muß die Entwicklung auch in der Richtung Bedenken
erwecken, daß sie leicht dazu führt, die Bewegung ausschließlich als
ein Werk der Notwendigkeit zu verstehen und den Menschen in
ein zu kontemplatives und passives Verhältnis zur Umgebung zu
bringen. Der Fortschritt scheint hier mehr an dem Menschen als
durch ihn zu erfolgen, er scheint nicht eignen Eintretens und eigner
Entscheidung zu bedürfen. So geschah es z. B. in der Entwicklungs-
idee der Romantik, die ein stilles und sicheres Wachsen von innen
heraus alle Gestaltung hervorbringen ließ und damit den Antrieb
zu eigner Tätigkeit lähmte; so kann es auch geschehen, wo die be-
wegende Kraft in sinnliche Naturtriebe und äußere Notwendigkeiten
gesetzt wird. Hier wie da gefährdet die Entwicklung den ethischen
Charakter des Lebens und zerstört sie die Grundbedingung einer
echten Geschichte: ein immer neues Einsetzen ursprünglichen Lebens,
ein Verwandeln alles Empfangenen in eigne Tat und lebendige
Gegenwart. Während das menschliche Geistesleben seine Spannung
und seinen Charakter vornehmlich durch den Zusammenstoß von
216 Zum Weltproblem.
Schicksal und Freiheit erhält, opfert eine solche Entwicklungslehre
die Freiheit gänzlich dem Schicksal auf. Es ist ein Durcheinander-
laufen einer laxeren und einer strengeren Fassung des Entwicklungs-
begriffes, das solche Probleme übersehen läßt. Entwicklung wird
oft alle fortschreitende Bewegung genannt, ohne daß dabei der Ur-
sache des Fortschritts nachgefragt wird; so könnte hier ganz wohl
ein Platz für Freiheit verbleiben. Im strengeren Sinne dagegen be-
zeichnet Entwicklung einen Naturprozeß, der aus zwingender Not-
wendigkeit vorwärts treibt — sei es durch ein Zusammenschießen
einzelner Elemente, sei es durch eine Bewegung des Ganzen — , als-
dann entfällt alle Freiheit und zugleich auch alle Geschichte im aus-
zeichnend menschlichen Sinn. Alsdann geht nur etwas vor, es
wird aber nicht gehandelt; bei dieser Bedeutung des Wortes ist ge-
schichtliche Entwicklung ein Unding.
Ja der Zweifel greift noch tiefer, er kehrt sich überhaupt gegen
die Vorherrschaft der Bewegung, gegen die Verwandlung der ganzen
Wirklichkeit in einen Prozeß. An dem Beweglichmachen aller Ver-
hältnisse, dem Flüssigwerden aller starren Größen sah die Neuzeit
zunächst nur den Gewinn: die Steigerung des Lebens, das Wachs-
tum an Freiheit und Kraft. Schließlich aber kann nicht verborgen
bleiben, daß auch vieles damit verloren geht, etwas verloren geht,
ohne das geistiges Leben schlechterdings nicht bestehen kann. Bis
in seine elementarsten Grundformen hinein verlangt und erweist
nämlich das Geistesleben eine beharrende Art, ein Beharren nicht
innerhalb der Zeit, sondern gegenüber der Zeit. Ein Wahres für
heute oder morgen ist ein Unding; was irgend wahr ist, das gilt
für alle Zeit oder vielmehr ohne alle Beziehung zur Zeit; mag die
Behauptung unter besonderen Umständen nur auf eine Zeitspanne
gehen, die Art, wie sie ausgesprochen wird, ist immer zeitloser Art,
als geistiges Erlebnis enthält alles Wahre eine Befreiung von aller
Zeit Auch was wir als gut erachten und schätzen, das hat seinen
Wert nicht aus dem Gesichtspunkt einer besonderen Zeitlage, sondern
unabhängig von aller Zeit, aus einer zeitlosen Ordnung der Dinge.
So gewiß die Begriffe der Zeiten vom Guten sich ändern: was eine
Zeit als gut ergreift, das erklärt sie damit für schlechthin und dauernd
gültig. Aller Wandel menschlicher Verhältnisse vermag solche innere
Überlegenheit des Geisteslebens über die Zeit nicht zu zerstören.
Auch Begriffe wie Persönlichkeit, Charakter, geistige Individualität
Entwicklung. 217
bekunden eine Überlegenheit des Geisteslebens gegen die Zeit.
Denn sie fordern die Gestaltung einer beharrenden Art und ihr
treues Festhalten gegenüber aller Bewegung; alle Mannigfaltigkeit
des Handelns hat jene Art zum Ausdruck zu bringen und zu fördern.
So heißt, das Geistesleben ganz und gar in Bewegung verwandeln,
es von Grund aus zerstören.
Ja die Bewegung selbst bezeugt, innerlich angesehen, die Un-
entbehrlichkeit des Beharrens. Sie läßt sich nämlich nicht über-
blicken, in ein Ganzes zusammenfassen, als ein Ganzes erleben, ohne
einen ihr überlegenen Standort und ohne eine von daher bewirkte
Synthese. Sonst nämlich zerfällt sie in lauter einzelne Punkte; diese
mögen die Seele wohl mit kaleidoskopisch wechselnden Eindrücken
erfüllen und ergötzen, ein Ganzes und zugleich einen Inhalt geben
sie ihr nicht. Je mehr daher eine der Bewegung überlegene Kraft
verschwindet, desto mehr drängt das Leben zur Oberfläche und
verliert alles Beisichselbstsein.
Diese zeitüberlegene Art des Geisteslebens erweist besonders
deutlich der Aufbau einer Geschichte, d. h. einer eigentümlich mensch-
lichen und geistigen Geschichte. Denn Geschichte im menschlichen
Sinne ist keineswegs ein bloßes Nacheinander von Ereignissen, ein
Dahintreiben des Menschen mit dem Strom der Zeit; das würde
nie über die äußere Anhäufung von Wirkungen hinausführen, wie
die Natur, z. B. in der Bildung der Erdrinde, sie zeigt. Vielmehr
ist alle Geschichte menschlicher Art eine Gegenwirkung gegen die
Flucht der Erscheinungen, ein Versuch, den Strom irgend zum Stehen
zu bringen, ein Kampf gegen die bloße Zeit. Auch die primitivsten
Versuche, Vorgänge und Taten dem Gedächtnis der Nachwelt zu
überliefern, sie im Bewußtsein der Menschheil festzuhalten, zeigen
einen solchen Widerstand gegen die Zeit; je mehr aber die Geschichte
dem Menschen wird, je mehr sie ihm nicht nur eine Erweiterung
seines Wissens, sondern eine Erhöhung seines Lebens bringen soll,
desto mehr Selbsttätigkeit ist dabei aufzubieten; das aber verlangt
notwendig einen zeitüberlegenen Standort. Um die Vergangenheit
innerlich mitzuerleben, müssen wir uns von der Zufälligkeit der
Gegenwart befreien, wenigstens nach solcher Befreiung streben; sonst
würden wir in alles Frühere lediglich die heutige Art hineinsehen
und in aller äußeren Erweiterung innerlich bei uns selbst verbleiben;
ein Verständnis anderer Epochen aus ihren eignen Zusammenhängen
wäre uns gänzlich versagt. Dazu möchten wir die Vergangenheit
218 Zum Weltproblem.
nicht bloß erkennen, sondern sie zum eignen Leben in Beziehung
setzen, ihren Reichtum in eignen Besitz verwandeln, an dem Großen
in ihr uns selber heben. Dafür aber gilt es nicht nur eine Gemein-
schaft mit früheren Epochen zu gewinnen, sondern auch an ihrem
Bestände Wesentliches und Zufälliges, Wertvolles und Gleichgültiges
zu scheiden; sollte das möglich sein ohne irgendwelche dem Wandel
der Zeiten überlegenen Maßstäbe, ohne eine Versetzung der Arbeit
auf einen zeitlosen Standort? Letzthin hat die Geschichte nur in-
sofern für uns Wert, als wir sie in eine zeitlose Gegenwart um-
zusetzen vermögen; das ist ihr Hauptertrag, uns aus der engen und
armen Gegenwart des bloßen Augenblicks zu einer weiteren, zeit-
überlegenen und zeitumspannenden Gegenwart zu führen. Es gibt
keinen gefährlicheren Gegner einer echten Gegenwart als die Hin-
gebung an den bloßen Augenblick.
Bei solcher Lage der Dinge verbietet sich schlechterdings die
Auslieferung des ganzen Lebens an die Bewegung; mag das Bewußt-
sein lediglich von dieser erfüllt sein, die Arbeit hat stets ein Gegen-
gewicht in irgendwelchem Bleibenden gesucht. So haben auch die
extremsten Vorkämpfer der naturwissenschaftlichen Bewegungslehre
irgendwelche Ergänzung der Bewegung anerkannt. Das sowohl in
der Lehre vom Beharren des Stoffes oder der Energie als in der
Unterordnung aller Erscheinungen unter unwandelbare Gesetze. Ohne
solche Befestigung hätte ihre Arbeit den Charakter der Wissenschaft
vedoren und wäre statt kausaler Begreifung eine bunte Erzählung
geworden.
Auch die Philosophen haben die Entwicklung nicht zur Zentral-
idee ihrer Gedankenwelt rpachen können, ohne ein der Veränderung
überlegenes, ja sie umspannendes Beharren anzuerkennen. Einem
Hegel wäre sein System in lauter einzelne Punkte zerbrochen, und
der Wechsel der einzelnen Phasen hätte ihm alle Wahrheit zerstört,
hätte ihm nicht eine zeitüberlegene Betrachtung eine Zusammen-
fassung zu einem Ganzen geboten, alles Nacheinander in ein Selbst-
leben dieses Ganzen verwandelt und zugleich über den zeitlichen
Ablauf hinaus in eine zeitlose Gegenwart gehoben. Ob das erstrebte
Ziel bei Hegel vollauf erreicht ist, das ist eine andere Frage, an
dem Streben aber ist nicht zu zweifeln, alle Größe des Hegeischen
Systems hängt eng mit ihm zusammen.
Auch bei Comte, dem großen realistischen Gegenstück Hegels,
steht es ähnlich: zu einem wissenschaftlichen System gelangt er nur
Entwicklung. 219
durch Ausbildung und Voranstellung beharrender Elemente. Wohl
bringt er alle bisherige Geschichte in Fluß und gewährt den früheren
Stufen nur eine relative Wahrheit. Aber in der Wendung zum
Positivismus scheint die absolute und endgültige Wahrheit erreicht;
die Zukunft mag diese weiter entfalten, der Kern scheint unwandel-
bar für alle Zeiten gesichert. Auch die Durchleuchtung der Ge-
schichte rückwärts erfolgt gänzlich von diesem als fest erachteten
Höhepunkte. So wird inmitten aller Bewegung eine bleibende Wahr-
heit festgehalten.
Für das gemeinsame Leben war freilich mit solcher versteckten
Anerkennung eines Beharrens wenig gewonnen, der fortschreitenden
Verwandlung des modernen Lebens in einen bloßen Prozeß wurde
von da aus kein genügender Widerstand geleistet. Weit stärker
fiel ins Gewicht das tatsächliche Fortwirken beharrender Größen
und Mächte aus der älteren Lebensführung. In ihnen, die tief in
den Bestand des Daseins eingebildet waren und den Menschen wie
seltjstverständlich umfingen, hat die Bewegung stillschweigend bald
einen Halt, bald eine Ergänzung gefunden. Aber eine solche Lage
mit ihrer Unausgeglichenheit entgegengesetzter Strömungen kann
nicht auf die Dauer verbleiben, im Vordringen befindet sich aber
unverkennbar die Bewegung, so wird sie mehr und mehr das Feld
einnehmen, ihre Konsequenzen hervortreiben, alles Feste auflösen,
das ganze Leben in einen ruhelosen Prozeß verwandeln.
Zugleich aber werden auch die Folgen eintreten, die das Ver-
schwinden aller beharrenden Größen und Kräfte mit sich bringt,
vornehmlich der Wegfall aller inneren Zusammenfassung, alles Er-
lebens aus dem Ganzen, zugleich aber die Verkümmerung aller
selbständigen Geistigkeit, das Sinken der Arbeit zur inneren Er-
höhung des Daseins. Der Triumph der bloßen Bewegung bedeutet
einen völligen Sieg sowohl des Relativismus als des Sensualismus,
eine Preisgebung alles Lebensinhalts, eine Auflösung des Daseins
in einzelne Augenblicke, einen Verzicht auf alle wahrhaftige Gegen-
wart, Auch muß sich damit die Menschheit in lauter einzelne Lebens-
kreise zersplittern und eine gemeinsame Gedankenwelt befestigen-
der und erhöhender Art mehr und mehr verlieren.
Läßt sich leugnen, daß der Anblick der Gegenwart uns die zer-
störende Kraft dieser Wendung schon deutlich genug vor Augen
stellt, und daß die daraus erwachsenden Fragen und Zweifel bis in
die Grundlagen des modernen Lebens zurückgreifen? Ja wir haben
220 Zum Weltproblem.
ein bunteres und ein bewegteres Leben gewonnen, uns beengt keine
Autorität und keine Tradition, wir können mit voller Frische jedem
Eindruck folgen, den Augenblick ergreifen, das Tempo des Lebens
beschleunigen. Aber in aller Beweglichkeit und Geschäftigkeit droht
das Leben sich uns an die bloße Oberfläche zu verlegen und seiner
seelischen Art nach immer leerer zu werden; uns entweicht eine
innere Einheit des Wesens und damit der einzig mögliche Halt gegen-
über dem Strom der Dinge; unfähig, unsere Selbständigkeit an ihnen
zu erweisen, werden wir wehrlos von ihnen hin- und hergeworfen.
Zugleich zerrinnt uns alle wahrhaftige Gegenwart, da sie ein Ruhen
des Lebens in sich selbst verlangt und eine Erhebung über die
bloße Zeit enthält. ^ Dafür bekommen wir bloße Augenblicke, deren
bunter Wechsel das Leben in eine rastlose Flucht verwandelt und
unvermeidlich dem Streben die Richtung auf das unmittelbar Wirk-
same, das Sinnfällige, das äußerlich Vorteilhafte gibt. Als notwendige
Folge dessen jenes Haschen nach immer Neuem, Blendendem, Auf-
regendem, jenes Spähen nach Sensation, Effekt u. s. w., jene Liebe-
dienerei gegen die Launen und Stimmungen des Massenpublikums,
dieses geringen Durchschnitts der Menschheit, jene unwürdige «Aktua-
lität«, die den schönen Begriff des Aristoteles in sein volles Gegen-
teil verkehrt hat!^
* Der Zeit unserer Klassiker war das mit voller Deutlichkeit gegenwärtig.
Es sei nur an jenes Wort Goethes (aus den Gesprächen mit Eckermann) er-
innert: „Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn
er ist der Repräsentant der ganzen Ewigkeit"; auch des Wortes eines neueren
feinsinnigen Geistes (W. Gidionsen) sei gedacht:
»Nicht vom Tage sollst du leben,
Auf und nieder schwankt die Welle —
Laß dein Inn'res fröhlich weben.
Stets verjüngten Daseins Quelle.
Ist Ursprünglichkeit dir eigen,
Darfst sie hegen, darfst sie zeigen.
So nur spürst du in der Zeit
Vorgefühl der Ewigkeit."
^ Der Ausdruck actualis ist eine Schöpfung des späteren Altertums
(Augustin, Macrobius), im Mittelalter gewannen, von griechisch-lateinischen
Übersetzungen des Aristoteles her, actus, actualis, actualitas - namentlich seit
Duns Scotus — eine weite Verbreitung und gelangten von dort zur Neuzeit.
Das Wort diente zur Wiedergabe des aristotelischen Begriffes der Energie
oder Entelechie, der in sich selbst ruhenden und bei sich selbst befriedigten
Tätigkeit im Gegensatz zu der noch unfertigen, erst anstrebenden Bewegung.
Entwicklung. 221
Je mehr uns aber damit die Gegenwart unter den Händen
entschwindet, desto lebhafter wird ein Sehnen in eine unbestimmte
Zukunft, ein Erhaschen und Vorausnehmen dessen, was dort erwartet
wird. »Nie ist", so sagt Lotze in einer noch weit ruhigeren Zeit
als es die Gegenwart ist (Mikrokosmus 2. Aufl. II, 281), «so lebhaft
wie jetzt der Widerspruch aufgetreten, das ganze Leben, das man
beeifert und emsig mitlebt, doch im Grunde nicht für das wahre
zu halten und von einem anderen schöneren zu träumen, das man
leben möchte und leben wird, sobald uns jenes Zeit lassen und
einen Zugang zu ihm öffnen wird."
So zerfällt uns in einer Überspannung und Überstürzung der
Bewegung das Leben von innen her, aus einem wahrhaftigen Leben
wird es mehr und mehr ein bloßes Lebenwollen, eine Anweisung
auf Leben, ja ein Schein des Lebens. Das kann unmöglich so weiter
gehen, jener Verwandlung des Daseins in bloße Bewegung muß als
einer völligen Zerstörung widerstanden werden. Die Menschheit
muß jene gefährliche Krise überwinden und wird sie übei'winden,
so gewiß das Verlangen danach aus einer zwingenden Notwendig-
keit ihrer innersten Natur hervorgeht. Aber sie wird sie nicht über-
winden ohne eingreifende Wandlung des Daseins, nicht ohne die
Ausbildung eines neuen Lebenstypus, nicht ohne den Mut und die
Kraft zu einem neuen geistigen Aufschwung.
d) Forderungen für einen neuen Lebenstypus.
So wenig das Problem, in das unsere Untersuchung auslief, sich
hier näher erörtern läßt,^ ohne irgendwelche Orientierung über die
Richtung des einzuschlagenden Weges würde unsere Betrachtung
ins Leere zu verlaufen scheinen; so seien in aller Kürze wenigstens
einige Umrisse entworfen. — Vor allem gilt es, jener drohenden
Verflüchtigung des Lebens einen festen Halt^ entgegenzusetzen. Einen
solchen kann nicht die Außenwelt bieten, da wir sie immer erst
mittels unserer Seele erleben und daher auch das Festeste draußen
uns beweglich werden müßte, wenn das Seelenleben gänzlich der
Bewegung gehörte. Eine Festigkeit aber gewährt auch nicht das
unmittelbare Seelenleben. Denn hier wogt Mannigfachstes durch-
einander, und in buntem Wirbel verdrängt die eine Erscheinung
^ Es sei dafür auf meine «Grundlinien einer neuen Lebensanschauung"
(1907) verwiesen.
222 Zum Weltproblem.
die andere. Es bleibt also nur die Hoffnung, zu irgendwelcher
geistigen Tätigkeit vorzudringen, die, fest in sich selbst gegründet,
auch das übrige Leben zu befestigen verspräche. Das haben große
Denker der Neuzeit in verschiedener Weise versucht: den archimed-
ischen Punkt suchte Descartes im reinen Denken, Kant im sittlichen
Handeln; beider Unternehmen aber wurzelt in weiteren Bewegungen
des modernen Lebens, indem einerseits die wissenschaftliche Arbeit,
andererseits ein ethisches Schaffen dem rneijschlichen Dasein einen festen
Grund zu geben und seiner Verflüchtigung in bloße Erscheinungen
entgegenzuwirken bemüht war. Beide Bewegungen haben Großes
geleistet und fahren fort das zu tun; trotzdem wächst der Zweifel,
ob sie den tiefsten Punkt erreichen und von hier aus das ganze Leben
zu umfassen vermögen. Einmal nämlich treiben sie das Leben in
eine besondere Richtung und geben ihm eine besondere, dort eine
intellektual istische, hier eine moralistische, Färbung. Für unser
Problem aber fällt noch mehr ins Gewicht, daß die Festlegung eines
besonderen Punktes immer wieder von anderen Punkten her be-
zweifelt und bestritten werden kann; gegen den Intellekt kann sich
das Handeln, gegen dieses der Intellekt wenden, der Skeptizismus
kann die Wissenschaft zu einem bloßen Vorstellungsgewebe herab-
zudrücken, der Naturalismus die Moral in ein Erzeugnis bloßer
Naturtriebe zu verwandeln suchen. Die höchste uns mögliche
Gewißheit kann nicht ein besonderes Gebiet, sondern nur eine
Zusammenfassung zu einem Ganzen bieten; liegt im Geistesleben
nicht eine der Verzweigung überlegene Einheit, und bricht nicht in
dieser Einheit ein ursprüngliches Leben hervor, so kann unser Leben
und Streben nie eine Festigkeit erlangen.
Daß aber der Gedanke einer allumfassenden Einheit mehr als
eine bloße Einbildung ist, das bezeugt die Bewegung zu einem
Persönlichsein, wie sie die Menschheit durchdringt. Denn mag unser
menschliches Persönlichsein noch so viel Bloßmenschliches an sich
tragen und mannigfachsten Bedingungen und Einschränkungen unter-
liegen, eine neue Art des Lebens, eine größere Tiefe der Wirklich-
keit beginnt sich damit aufzuarbeiten; das Geistesleben erscheint
hier nicht als eine besondere Betätigung, sondern als eine neue Art
Wirklichkeit, als eine neue Stufe des Seins, der die besonderen
Betätigungen, mit ihnen sowohl das wissenschaftliche Denken als
das sittliche Handeln, sich unterzuordnen und einzufügen haben.
Demnach entsteht eine Befestigung nur durch ein Vordringen des
Entwicklung. 223
gesamten Lebens zu einer wesenbildenden Geistigkeit; damit wird
auch der Kultur ein ideal vorgehalten, das dem Gegensatz von
Theorie und Praxis überlegen ist, und das jede von ihnen in eine
wesenhafte und wesenlose Stufe zerlegen muß.
So gestattet lediglich eine energische Aufrüttelung, ja Umkeh-
rung des Daseins ein Vordringen zu einem festen Punkte und ein
Aufnehmen des Kampfes mit der Flucht der Zeit und der Sinnlosig-
keit der bloßen Bewegung. Ohne ein Gegründetsein des Menschen
in einer dem nächsten Dasein überlegenen und doch im Lebensprozeß
unmittelbar gegenwärtigen Geisteswelt wäre die Sache völlig aus-
sichtslos und selbst das Streben danach nicht zu begreifen.
Jene Zurückverlegung aber enthält die weitere Forderung, daß
das Geistesleben nicht als eine Eigenschaft des bloßen Menschen,
sondern der Mensch als an einem ihm überlegenen Geistesleben
teilhabend gelte, daß das Geistesleben in seiner Substanz als selb-
ständig gegenüber dem Menschen anerkannt werde. Wenn damit
geistiges Leben und menschliches Dasein weiter auseinandertreten
als in der durchgehenden Fassung, so wird zugleich eine Ver-
ständigung zwischen Beharren und Bewegung und die .Ausbildung
eines dem Gegensatz überlegenen Lebenstypus ermöglicht. Der Sub-
stanz des Geistesleben ist die Veränderung und mit ihr eine Ent-
wicklung schlechterdings fernzuhalten. Der Begriff der Wahrheit —
auch dieser Begriff ist dem Gegensatz des Theoretischen und des
Praktischen überlegen — duldet kein Werden und keine Veränderung,
die Zugehörigkeit zu einer zeitlosen Ordnung ist für ihn unerläßlich.
Der Mensch hingegen kann sich einen Lebensinhalt nur innerhalb
der Zeit und durch allmähliche Erfahrung erringen; dazu aber be-
darf er der Freiheit und der Beweglichkeit. Auch was c;r an Wahr-
heit erreicht, ist ihm nicht ein für allemal gewonnen, so daß er
sich des Besitzes ruhig erfreuen könnte, sondern es will immer
neu gewonnen werden, es wird immer wieder zum Vorwurf des
Kampfes. Auch in die Grundlagen unser geistigen Existenz greift die
Ungewißheit immer von neuem zurück und verlangt immer von
neuem eine kräftige Überwindung.
So entstehen, deutlich geschieden, drei Arten und Typen des
Lebens: die eine ist ausschließlich auf ein Beharren, ja einen ewigen
Bestand gerichtet und sucht das menschliche Sein möglichst aller
Bewegung zu entwinden; die andere ist gänzlich von der Bewegung
erfüllt und will ihr nichts entzogen wissen; die dritte strebt über
224 Zum Weltproblem.
den Gegensatz hinaus und möchte aus innerer Überlegenheit jeder
Seite ihr Recht gewähren. Die erste beherrscht die antike, die
zweite die moderne Gestaltung des Lebens, die dritte wirkt von
Alters her innerhalb der geistigen Arbeit, aber prinzipiell ist sie erst
anzuerkennen, sowie als Lebenstypus zu voller Kraft und Klarheit zu
führen. Hier liegt die Aufgabe der Zukunft. Die alte Art war stark
darin, dem Geistesleben Festigkeit und Ruhe zu geben, es als eine
unantastbare Ordnung über alles Mögen und Meinen der Einzelnen
wie der Massen hinauszuheben. Ins Problematische aber geriet sie
dadurch, daß sie die Wahrheit nicht nur als in ihrer Substanz un-
veränderlich, sondern auch als für den Menschen fertig vorhanden
behandelte, daß sie Substanz und menschliche Existenzform in Eins
zusammenschob. So gilt der antiken Welt und mehr noch dem
Mittelalter die wissenschaftliche Wahrheit als endgültig abgeschlossen,
so kennt auch das kirchliche Christentum keine Weiterbewegung der
religiösen Gedankenwelt Damit wird aber der Besitzstand einer be-
sonderen Zeit für immer festgelegt, alles Weiterstreben gehemmt, der
Menschheit ein starres Joch auferlegt, das der Lauf der Zeiten immer
drückender machen muß. Auch die Wahrheit selbst leidet Schaden,
indem Zufälliges der Zeiten und Menschen ihr ins Wesen gesetzt
wird. Dagegen mußte ein Rückschlag kommen, die Bewegung erstritt
sich die Anerkennung ihres Rechts, der Mensch begann seine Schran-
ken und die Bedingtheit seiner Leistungen zu empfinden, es begann
jene Entwicklung modernen Lebens, dessen Größe, aber auch dessen
Selbstverzehrung uns beschäftigt hat. Hatte die Beharrungslehre die
menschliche Existenzform unmittelbar mit der Substanz des Geistes-
lebens zusammenrinnen lassen, so unterwirft die Bewegungslehre
umgekehrt das Geistesleben den Bedingungen der menschlichen
Art; jenes ergibt eine Erstarrung, dieses eine Verflüchtigung des
Geisteslebens.
An Versuchen zu Kompromissen hat es nicht gefehlt, das Ganze
des Lebens half und hilft sich vornehmlich dadurch, daß das Neue,
was der Lauf der Zeiten bringt, möglichst in das Alte hineingedeutet,
in den geschichtlichen Bildungen Kern und Schale unterschieden,
jener nach Kräften festgehalten, diese abgestreift wurde. Aber das
ist nur eine Ausflucht, und zwar eine Ausflucht, der die historische
Denkweise der Neuzeit mit ihrer Hervorkehrung der Eigentümlich-
keit und Unvergleichlichkeit der einzelnen Zeiten immer mehr den
Boden entzieht. Wollen wir also nicht zwischen den Gegensätzen
Entwicklung. 225
stehen bleiben und uns von ihnen zerreiben lassen, so ist von innen
her und unter wesentlicher Umwandlung des Wirklichkeitsbildes
über sie hinauszustreben. Das aber wird erst möglich bei An-
erkennung einer Selbständigkeit des Geisteslebens und einer schärferen
Abhebung des menschlichen Daseins von ihm. Denn nur so lassen sich
Beharren und Bewegung miteinander festhalten. Der Mensch muß
im tiefsten Grunde seines Wesens in einer unwandelbaren Geistes-
welt gegründet sein, und es müssen von da aus bewegende und
richtende Wirkungen ausgehen. Aber zugleich ist sein unmittelbares
Dasein höchst unsicher und unfertig, langsam erst kommt eine Be-
wegung in Fluß, und nur inmitten der Zeit läßt sich weiter und
weiter zum Ziele vordringen. Aber die Bewegung verliert sich,
dank jener Grundlage, nicht ins Vage und Fremde, es vollzieht sich
in ihr ein Erringen des eignen Wesens, inmitten aller Wandlung
ist sie keine bloße Veränderung. Vom Menschen aus angesehen
verlangt eine solche Überzeugung eine Zurückverlegung des Lebens
hinter die Fläche der einzelnen seelischen Betätigungen. Denn diese"
zeigen uns die Sache mitten im Fluß, namentlich erscheint hier die
Gedankenwelt als in unablässiger Wandlung begriffen. Aber aller
solchen Veränderung kann eine charakteristische Art des Grundlebens
überlegen bleiben und sich durch sie hindurch behaupten, ihre
zeitüberlegene Wahrheit darin entfalten. So steht der Mensch zu-
gleich in der Zeit und über der Zeit; sein Leben ist zweiseitiger
Art, indem es sich einmal einer zeitüberlegenen Wahrheit als einer
Tatsache zu versichern und in ihr zu begründen, zugleich aber
innerhalb der Zeit eine immer kräftigere Herausarbeitung und
deutlichere Entfaltung jener Wahrheit zu erstreben hat. Daher ist
hier die Wahrheit zugleich Besitz und Problem, jenes im innersten
Grunde des Wesens, dieses bei der Verwandlung des Daseins in
volle Selbsttätigkeit.
Von hier aus wird ein Verhältnis zur Geschichte möglich, das
den Gegensatz von Beharren und Bewegung in sich aufnimmt und
zugleich überwindet. Betrachten wir z. B. unsere Stellung zu einer
geschichtlichen Religion, etwa der christlichen. Unmöglich läßt sich
die menschlich-geschichtliche Form, die sie erhalten hat, für alle
Zeiten behaupten. Bei der gewaltigen Veränderung unseres äußeren
und inneren Daseins würde nicht nur unser Denken, sondern auch
unser Gefühls- und Überzeugungsleben in die Gefahr einer Un-
wahrhaftigkeit geraten, wenn sie mit aller Gewalt auf jene* ältere
Eucken, Qnindbegriffe. 4. Aufl. 15
226 Zum Weltproblem.
Art gestimmt werden sollte; leicht möchten wir unserer eignen Zeit
Unrecht tun, wenn wir nur darauf bedacht wären, anderer Zeiten
Recht zu wahren. — Aber die Entfernung von der unmittelbaren
Lebensform braucht keine Preisgebung der Substanz zu bedeuten.
Es kann in unzulänglich gewordenen Existenzformen eine wahrhaf-
tige Art des Geisteslebens durchgebrochen sein, welche zeitüberlegene,
die gesamte Geschichte erfüllende Tatsachen belebt hat und zu be-
leben fortfährt, eine Art, von der sich das menschliche Leben nun
und nimmer losreißen darf. Dies Ewige aber würde zugleich seiner
menschlichen Gestaltung nach eine fortwährende Aufgabe bleiben,
es würde seine Zeitüberlegenheit nicht durch ein starres Beharren
durch alle Zeiten, sondern vielmehr dadurch erweisen, daß es in
die Eigentümlichkeit aller Zeiten eingehen kann, ohne sich selbst
zu verlieren, daß es jede Zeit auf das ihr innewohnende Ewige
zu bringen und damit von der bloßen Zeit zu befreien vermag.
Die Zeit aber würde gegen die antike Fassung dadurch gewaltig
gehoben, daß innerhalb ihrer ein Fortschritt im Ewigen möglich wird.
Wie sich weiter auch der Weltanblick und die Stellung des
Menschen zur Wirklichkeit verwandelt, wenn das Werden an die
zweite Stelle tritt, ohne in die antike Geringachtung zurückzusinken,
das läßt sich hier nicht weiter verfolgen. Nur ein Punkt möge
zum Schluß noch erwähnt sein. Jene Grundüberzeugung mit ihrem
Ausgleich von Beharren und Bewegung kann nie den Tatsachen der
Entwicklung widersprechen, wohl aber muß sie mit einer alleinselig-
machenden Entwicklungsphilosophie, einer naturalistischen Evolutions-
lehre, hart zusammenstoßen. Die letzte Entscheidung liegt hier bei
der Gesamtauffassung des geistigen Lebens und zugleich unseres
eignen Wesens. Wie die Entwicklung im Ganzen der Wirklichkeit
zu verstehen sei, das hängt am meisten davon ab, ob im Geistesleben
eine neue Stufe des Lebens anerkannt, oder eine bloße Fortführung
der Natur gesehen wird. Ist jenes der Fall, so gewinnt die Ent-
wicklung das Ansehen, daß nicht der erfahrungsmäßig vorliegende
Prozeß allen Fortgang aus sich selbst hervortreibt, nicht das Höhere
ein bloßes Erzeugnis des Niederen bildet, sondern daß in die Be-
wegung neue Kräfte aus weiteren Zusammenhängen eintreten. Damit
erhält unsere Wirklichkeit einen Hintergrund und eine Tiefe, sie
hat einem größeren Ganzen sich einzufügen; die Bewegung aber ist
dann nicht mehr ein Weiter- und Weiterhasten ohne Ziel und ohne
Sinn, sondern sie wird getragen und umfaßt von einem Reiche
Entwicklung. 227
ewiger Wahrheit. Ist dagegen das Geistesieben ein bloßes Neben-
ergebnis der Natur, so entfällt alle Möglichkeit, der Bewegung ein
Gegengewicht zu geben und dem Leben einen Gehalt zu erringen,
dann treibt die Menschheit wie die ganze Welt unaufhaltsam ins
Leere hinein. So ist es auch hier, wie an allen Hauptpunkten der
Untersuchung, die Stellung zum Geistesleben, namentlich die An-
erkennung oder Verwerfung einer Selbständigkeit des Geisteslebens,
welche über die Richtung der Gedankenarbeit entscheidet.
15-
D. Zu den Problemen des Menschenlebens.
1. Kultur.
I m eignen Gebiet des Menschen bildet den beherrschenden Mittel-
* punkt der Probleme die Kulturidee. Sie treibt aus sich eine
reiche Verzweigung hervor, deren Gestaltung auf den Haupt- und
Gesamtbegriff zu näherer Bestimmung zurückwirkt. Das Wie der
Kultur führt zu den Problemen von Geschichte und Gesellschaft,
das Was zu denen der Moral, Kunst u. s. w. Als eine Einleitung
zu dem allen sei zunächst der Kulturbegriff im bloßen Umriß
erörtert
a) Zur Geschichte des Ausdrucks und Begriffs.
Unserer Gewohnheit gemäß beginnen wir auch hier vom Aus-
druck. Kultur in dem heute üblichen Sinne ist neueren Ursprungs.
Denn so nahe die Übertragung des Bildes von der Bestellung (colere)
des Ackers auf den Stand der Seele dem späteren Altertum wie der
Renaissance lag, einen geschlossenen und abgegrenzten Begriff bildet
daraus erst Bacon. Die Kultur oder Georgik des Geistes wird ihm
ein Hauptteil der Ethik. ^ Aber dieser Versuch hatte zunächst keine
Folge, er ward unmittelbar nicht aufgenommen und weitergeführt.
Eine ausgedehntere Bewegung hat wohl erst die französische Kultur
des 17. Jahrhunderts hervorgerufen. Ihr stolzes Selbstbewußtsein
ließ sie sich selbst viel zu deutlich von niederen Stufen abheben,
^ S. de augm. scient. VII, cp. 1: Partiemur igitur ethicam in doctrinas
principales duas, alteram de exemplari sive imagine boni, alteram de regimine
et cultura animi, quam etiam partem georgica anirai appellare consuevimus.
lila naturam boni describit, haec regulas de animo ad illas conformando
praesCTibit, s. auch cp. 3. Der Ausdruck Georgik zeigt, wie stark das Bild-
liche des Ausdrucks empfunden wird.
Kultur. 229
um nicht allgemeinere Reflexionen über verschiedene Zustände der
Menschheit anzuregen; das 18. Jahrhundert mit seinem Streben nach
einer natürlichen Begreifung der Geschichte verfolgt solche Richtung
weiter und beschäftigt sich mehr und mehr mit dem Gegensatz
eines Natur- und Kulturstandes. Aber so wenig es an Ausdrücken
für das Weiterkommen der Menschheit fehlt, verschiedene Bilder
und Vorstellungen laufen hier neben- und durcheinander: Kultivieren,
Zivilisieren, Polieren, Polizieren, Aufklären; ^ einen festen Ausdruck
für das Ganze des dadurch erreichten Standes dürfte erst Turgot
mit »Zivilisation" geschaffen haben. ^ In Deutschland besaß das
Latein der Renaissance den Ausdruck civilisatio, ^ auch civilitas
wird in ähnlicher Bedeutung verwandt,* aber die lebendige Sprache
blieb davon unberührt und hatte bis in die Anfänge der klassischen
Literaturepoche hinein nur schwankende Bezeichnungen.^ Die ent-
* Aus der schier endlosen Fülle sei hier nur einiges angeführt. Bayle
(s. oeuv. div. Haag 1727, I, 453a) hat cultiver leur esprit et leur raison; wenn
er ebenda 407a von toutes les societes, ou l'on cultivait I'esprit redet, so
würden wir das kaum anders als mit „Kulturvölker" übersetzen. Aber zu-
gleich hat er civiliser (z. B. dictionn. 1465 se civiliser, 1472 b nations civi-
lisees im Gegensatz zu barbares). Bossuet hat in ähnlicher Bedeutung les
nations les plus eclairees, Leibniz (398a Erdm.) le siecle qui passe pour
eclaire; wo wir „Naturmensch" und „Kulturmensch" sagen würden, sagt er
„Wilder" und „Europäer"; auch Montesquieu stellt peuples eclaires den
peuples grossiers gegenüber, öfter aber hat er poli oder police (z. B. les
peuples les polis, la Grece seul polie au milieu des barbares, un pays police,
un royaume aussi police comme la France, les peuples polices, peuples bien
Polices). Auch in England fehlt ein fester Ausdruck; so gebraucht A. Smith
bunt durcheinander civilized und polished nations (s. z. B. the theory of moral
sentiments V, cp. 2).
* S. Barth, die Philosophie der Geschichte als Soziologie, S. 253.
' Nach Paulsen (Gesch. des gelehrten Unterrichts in Deutschland,
S. 78 u. 131) wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Wittenberg gesagt,
daß es in termino civilisationis liege.
* Es bildet z. B. bei Kepler (II, 730) den Gegensatz von barbaries.
^ Das zeigt z. B. der gediegene und gedankenreiche Iselin. In seiner
„Geschichte der Menschheit" pflegt er dem „Stande der Natur" den „Stand
der Sitten" entgegenzusetzen und spricht demgemäß von „gesitteten" Völkern.
Aber nicht minder oft hat er „Polizierung" und „poliziert", er unterscheidet
aber dabei, die spätere Sonderung von Kultur und Zivilisation vorausnehmend,
zwei Arten der Polizierung: „die eine, durch welche der Gesellschaft die
äußerliche Gestalt gegeben vcird", „die andere verbessert die Geister und die
Gemüter" (7. Buch, 21. Hauptstück). Auch stellt er Barbarei und Menschlich-
keit einander entgegen und verwendet „Milderung" (auch „Milderung der
230 Zu den Problemen des Menschenlebens.
scheidende Wendung brachte für Deutschland die klassische Literatur-
epoche. Ihr Verlangen nach einer Belebung des ganzen Menschen
und einer künstlerischen Gestaltung des Daseins enthielt ein viel
zu selbständiges Kulturideal, als daß nicht auch die Ausdrücke sich
dem hätten anpassen müssen. So ist es denn auch geschehen.
Kultur wird nun zu einem festen und zum herrschenden Begriffe,
Zivilisation grenzt sich davon als eine niedere Stufe ab, »Aufklärung"
verliert, kaum durchgedrungen, die allgemeine Bedeutung und sinkt
zur Bezeichnung der besonderen Art des 18. Jahrhunderts, zu einer
historischen Kategorie; dafür hebt sich »Bildung", die bisherige Be-
deutung ins Innere wendend, und gewinnt den Affekt der Zeit.
Es sei diese Verschiebung der Ausdrücke etwas näher dargelegt, da
sie den deutschen Sprachgebrauch bis zur Gegenwart beherrscht.
»Kultur" ohne allen Zusatz begegnet uns zuerst bei Herder;
wohl erscheint hier der neue Gebrauch noch als in Fluß begriffen,
aber er befestigt sich schon genug, um einen bündigen Terminus
abzugeben.^ Neben Kultur steht, so auch bei Goethe, lange noch
Geisteskultur, aber allmählich gewinnt Kultur schlechtweg die Ober-
hand. Die weitere Verwendung des Begriffes nimmt eine zwiefache
Richtung, gemäß den beiden Hauptströmungen im deutschen Idealis-
mus: der künstlerischen und der ethischen. Bei den Dichtern und
Humanisten überwiegt die ersk, Kunst und Wissenschaft in ihrer
Verbindung zum literarischen Schaffen erscheinen hier als die
sicheren Träger der Kultur, als das unterscheidende Merkmal eines
Kulturstandes. 2 Kant und mehr noch Fichte dagegen machen zur
Sitten") und „Erleuchtung" (auch „Erleuchtung der Geister") als unserem
«Kultur« gleichbedeutend. — Goethe hat in seinen Jugendschriften „polierter"
Mensch und „polierte" Nationen, und Kant spricht von „geschliffenen"
Volks klassen.
^ Namentlich wichtig ist für den Ausdruck die Stelle Ideen zur Philos.
der Gesch. IX, 1 : „Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein
ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom
Bilde des Lichts Aufklärung nennen : so stehet uns der Name frei ; die Kette
der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde." Die
Kultur hat als beherrschendes Ziel die „Humanität", die für Herder die volle
Entfaltung und Harmonie aller Kräfte bedeutet, gemäß einer Überzeugung,
welche die enge Verbindung von Leben und Schönheit als Ideal verehrt.
Das Unterscheidende des Menschen gegenüber der bloßen Natur aber ist
die Freiheit; so gehört diese wesentlich zum Kulturbegriffe. Näheres darüber
siehe bei Genthe „Der Kulturbegriff bei Herder".
^ S. die gleich anzuführende Stelle aus F. A. Wolf.
Kultur. 231
Seele der Kultur die Freiheit und geben ihr damit vornehmlich
einen moralischen Charakter. Kant definiert Kultur folgendermaßen:
«Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens
zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die
Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man
der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache
hat (nicht seine eigne Glückseligkeit auf Erden, oder wohl gar bloß
das vornehmste Werkzeug zu sein, Ordnung und Einhelligkeit in
der vernunftlosen Natur außer ihm zu stiften") (V, 464, Hart.). Fichte
hat dies weiter ausgebaut und gemäß seiner Art kräftig durchgesetzt
Ihm wird die Freiheit, die volle Selbsttätigkeit, zugleich zum Inhalt
der Kultur. So bedeutet ihm diese (Wke. VI, 86): «Übung aller
Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der völligen Unabhängig-
keit von allem, was nicht wir selbst, unser reines Selbst ist". Wie
ihm diese Aufgabe alles Übrige in sich schließt, so hat «nichts in
der Sinnenwelt, nichts von unserem Treiben, Tun oder Leiden, als
Erscheinung betrachtet, einen Wert, als insofern es auf Kultur wirkt"
Religion, Wissenschaft und Tugend werden ausdrücklich zu den
höheren Zweigen der Vernunftkultur gerechnet (VII, 166); auch den
Staatszweck bildet die Kultur, und der Staat, der dem Denker vor-
schwebt, wird als Kulturstaat bezeichnet^
Die beiden Nuancen der Kulturbewegung stimmen aber darin
zusammen, Kultur, als ein Bilden von innen her und eine Erhöhung
des ganzen Menschen, von aller bloßen Ordnung der Gesellschaft
deutlich abzuheben; zur Bezeichnung dieser dient nun Zivilisation;
so unterscheiden sich Zivilisation und Kultur wie Niederes und
Höheres, wie Beginn und Vollendung.^
^ Der Begriff des Kulturstaates widerspricht zunächst der Fassung des
Staates als eines bloß „juridischen Institutes". Auch zum nationalen Staat
bildete der Kulturstaat anfänglich einen Gegensatz; s. VII, 212: ,, Welches ist
denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im
allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige
Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht." Später hat gerade
Fichte die Begriffe Volk und Vaterland zu Ehren gebracht, aber nie war es
das sinnliche Dasein, sondern immer der geistige Gehalt, der sie ihm be-
deutend machte.
" Das erscheint schon deutlich genug bei Kant, s. namentlich IV, 152:
„Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir
sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit
und Anständigkeit Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt
232 Zu den Problemen des Menschenlebens.
In engem Zusammenhange mit jener Steigerung des Kultur-
begriffes steht das Aufkommen von «Bildung"; erst in der zweiten
Hälfte des 1 8. Jahrhunderts wird es vom Äußeren aufs Innere, vom
Körperlichen aufs Seelische übertragen.^ Mit besonderer Lebhaftig-
keit bemächtigten sich seiner die Romantiker, sie namentlich dürften
den Ausdruck «die Gebildeten" in Umlauf gebracht haben. ^ Bei
Fichte läßt sich deutlich verfolgen, wie das Wort aus anfänglicher
Unsicherheit ein fester Terminus wird. „Bildung" wie „gebildet«
haben sich dabei insofern eigentümlich gestaltet und von den anderen
Ausdrücken abgezweigt, daß sie nicht sowohl von ganzen Völkern
oder der Menschheit als von der höheren intellektuellen Schicht inner-
halb eines Volkes gebraucht werden; bei „Bildung" wird mehr die
eigne Tätigkeit, die selbständige Aneignung seitens des Individuums be-
noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der
Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehr-
liebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung
aus." Pestalozzi XII, 154 sagt in ähnlicher Tendenz: „Die kollektive Existenz
unseres Geschlechts kann dasselbe nur zivilisieren, sie kann es nicht kulti-
vieren." Die spezifisch literarische Kultur hat mit besonderer Energie
F. A. Wolf verfochten, namentlich in der berühmten Abhandlung, die das
„Museum der Altertums-Wissenschaft" einleitet (1807). Der Unterschied von
Kultur und Zivilisation wird ihm zum Mittel, die Griechen und auch die
Römer über alle anderen Völker hinauszuheben. Als Hauptmerkmal echter
Kultur erscheint dabei der Besitz einer allen gemeinsamen Literatur; die
Kultur ist der durch Ausbildung von Literatur und Kunst hervorgebrachte
Stand der Gesellschaft. S, S. 16: „Eine der wichtigsten Verschiedenheiten
unter jenen und diesen Nationen ist die, daß die ersten gar nicht oder nur
wenige Stufen sich über die Art von Bildung erheben, welche man bürger-
liche Polizierung oder Zivilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher
Geisteskultur, nennen sollte." S. 17, ,,jene höhere Kultur, die geistige oder
literarische." S. 18, „Asiaten und Afrikaner werden, als literarisch nicht
kultivierte, nur zivilisierte Völker, unbedenklich von unseren Grenzen aus-
geschlossen." Jener ganzen Zeit sind „Europa" und „Kultur" eng assoziiert.
Dieser Unterscheidung von Kultur und Zivilisation folgt auch W. v. Humboldt.
* S. darüber Imelmann, Ausg. von Klopstocks Oden, S. 86; Paulsen
Art. Bildung in Reins Enzyklop. Handbuch der Pädagogik; Biese in d. N.
Jahrb. für das klass. Altertum, Jahrgang 1902, S. 241.
' Der Ausdruck besagte aber weit mehr als heute nach der abschleifenden
Wirkung des Jahrhunderts; das will auch bei Schleiermachers „Reden über
die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" beachtet sein. Näheres
über den Sinn des Ausdrucks bei den Romantikem s. bei Haym, „Die ro-
mantische Schule", S. 420, 430.
Kultur. 233
tont. * So wird sie wohl der Kultur als etwas Innerlicheres entgegen-
gehalten. — Die Abgrenzung von Kultur und Zivilisation ist neuer-
dings sehr ins Unsichere geraten, 2 und zwar insofern nicht ohne
einen sachlichen Grund, als jene innere Kultur, die unseren großen
Dichtern und Denkern vorschwebte, und die sich deutlich von aller
bloßen Zivilisation abheben wollte, in unserer Zeit keinen festen
Boden mehr hat. Auch gehen die Nationen hier auseinander; wo
wir Deutschen von „Kultur" sprechen, sagen die Engländer und Fran-
zosen „Zivilisation ".3 Doch das läßt sich hier nicht weiter ver-
folgen; über den allgemeinen Sinn von „Kultur" besteht kein
Zweifel, die nähere Fassung aber ist völlig herrenlos, jeder Kräftige
mag ihr seinen Stempel verleihen.
Mag aber der Begriff der Kultur heute noch so unbestimmt
sein,' sicherlich bezeichnet er ein altes Problem. Auch die antike
Welt konnte sich der Anerkennung eines großen Gegensatzes zwischen
den Völkern, sowie der verschiedener intellektueller Stufen innerhalb
eines Volkes nicht entziehen; die Höhe des attischen Lebens aber
mußte sowohl das Selbstbewußtsein der griechischen Kultur steigern
als innerhalb des griechischen Lebens eine schroffere Scheidung er-
zeugen. Einer vollen Würdigung des Kulturproblems wirkte hier
freilich manches entgegen: die nationale Abschließung ließ den höheren
Stand leicht als bloße Naturgabe eines besonderen Volkes erscheinen,
zugleich setzte die geschichtliche Ansicht von einem endlosen Kreis-
lauf der Dinge allem Fortschreiten enge Grenzen und hemmte leicht
eine unbefangene Erforschung der Anfänge. Andererseits bestand
viel Neigung, ein Aufsteigen aus einem rohen Naturstande anzu-
erkennen ; der Scheidung der Menschheit in Griechen und Barbaren
mußte aber die Erweiterung des Horizontes und die engere Ver-
' Über die Probleme im Begriff der Bildung s. neuerdings O. Weißen-
fels, „Die Bildungswirren der Gegenwart."
^ Näheres darüber s. Barth, die Philosophie der Geschichte als Sozio-
logie, S. 253.
* Bei der Übersetzung eines Artikels von mir „Religion und Kultur"
in der Liberte Chretienne (1907, No, 3, pag. 114) wird zu Kultur angemerkt:
Nous n'avons guere l'habitude, en fran^is, d'employer ce mot Sans quelque
d^terminatif: ,,la culture intellectuelle", „la culture des lettres".
234 Zu den Problemen des Menschenlebens.
bindung der Völker entgegenwirken, die mit Alexander begannen.*
In derselben Zeit aber, wo der Gegensatz der Völker verblaßte,
verschärfte sich innerhalb der griechischen Welt der Gegensatz von
Gebildet und Ungebildet, indem nun lediglich ein gelehrtes Studium
an den ererbten Kulturgütern vollauf teilnehmen ließ. 2 In Wahr-
heit ist das spätere Altertum voller Betrachtungen zum Kulturproblem.
Im christlichen Altertum und im Mittelalter tritt diese Frage zurück,
um in der Renaissance mit verstärkter Kraft wieder aufzuleben. Seit-
dem steht die Kultur im Mittelpunkt der geistigen Arbeit; am Kampf
um sie sind alle Gegensätze der Neuzeit beteiligt: der Idealismus
will sie von innen her aufbauen, der Realismus sie von außen her
zusammenfügen; künstlerische, intellektuelle, ethische Fassungen durch-
kreuzen sich und bestreiten einander die Oberhand; auch fehlt es
nicht an Mischungen mannigfacher Art. Im Verlauf des 19. Jahr-
hunderts hat ein Zusammenwirken von Geschichte und Naturforochung
die ältere spekulative Behandlung dieser Fragen mehr und mehr
einer exakt-wissenschaftlichen weichen lassen; zugleich werden die
seelischen Bedingungen des Kulturlebens genauer erforscht,^ und
während der Stoff massenhaft anschwillt, erzeugt das Bedürfnis eines
Gesamtbildes neue Versuche einer Kulturphilosophie. Von den zahl-
reichen dadurch erzeugten Problemen und Kontroversen seien hier
nur diejenigen ausgewählt, welche das Lebens- und Geistesproblem
unmittelbar berühren.
^ Das gibt nicht nur der Philosophie einen kosmopolitischen Zug,
sondern verwandelt auch sonst die Denkweise. Bemerkenswert ist, was Strabo
(Geographica, am Schluß des 1. Buches) von Eratosthenes berichtet: in\ -reXei
Sk Tou ü7:o{jLvr'|jLaT05 oux ETratveaa? tou? Stya SiaipoGvxa; areav to twv avO'paxwv
TcXfd-o? e'i? te "EXXrjva? xa\ ßapßa'pou;, — ßeXTiov etva( cprjaiv «pexf y.ai xax(a: Staipetv
Taura. noXXou^ yap xa\ tcTv 'EXXTJvtüV etvat xaxou? xai tiIjv ßapßaptov aoTeiou?.
Strabo verteidigt dagegen den Vorrang der Hellenen damit, daß dort gesetz-
liche Ordnung und Bildung überwiege, bei den anderen aber das Gegenteil:
Tots (AEv iTzixpaztl TO vo[JLt{j.ov xa\ TO :iatS£(a; xa\ Xo'ytov o^xtiov, Tot; Se TavavT(a.
' Schon bei Plato und Aristoteles hat 7rai5e(a neben der Bedeutung der
Erziehung auch die weitere der Bildung. Bezeichnend dafür ist z. B. die
aristotelische Zusammenstellung: Reichtum, Adel, Tüchtigkeit, Bildung
(«XoÜTos, euye'veta, aptTr^, TcatSeta), Pol. 1291b, 28 (s. ähnlich 1293 b, 37 natSeta
xttl euyevEta, 1296b, 18: iXsudepfa, tiXoütoc, TtatSeta, euyevsta, 1317b, 39: y^^°S
jcXouTo;, TtatSet'a). Bei ihm entsprechen TOnaiSeufievo; und a7:a(8euTos durchaus
unserem „gebildet" und „ungebildet".
* S. darüber das wertvolle Buch von Vierkandt, „Naturvölker und
Kulturvölker. Ein Beitrag zur Sozialpsychologie", 1896.
Kultur. 235
b) Kritische Erwägung.
a. Das Problem des Wesens und Wertes der Kultur.
Die Kultur gehört zu den Größen, die sich um so mehr ver-
wickeln, je mehr sich unser Denken mit ihnen beschäftigt. Der
Begriff soll alles zusammenfassen, was den Menschen und die Mensch-
heit über die bloße Natur hinaushebt, aber worin besteht dies Mehr
gegenüber jener? Gelangt der Mensch nur zu einer größeren Selb-
ständigkeit und Macht innerhalb eines gegebenen Daseins, und ver-
mag er seine Umgebung nur weiter zu überschauen wie geschickter
für sich zu verwerten, oder erscheint bei ihm eine wesentlich neue
Art des Lebens, eröffnen sich neue Tiefen und gestatten ihm, ein
neues Reich der Wirklichkeit aufzubauen? Dort würde nur eine
Außenkultur, hier eine Innenkultur erreicht, dort eine bloße Zivili-
sation, hier eine echte Geisteskultur, über jene kann kein Zweifel
sein, 'die Möglichkeit dieser wird hart bestritten.
Wie aber der Inhalt der Kultur, so ist auch ihr Umfang keines-
wegs sicher. Zweifellos liegt in ihr eine Versetzung des mensch-
lichen Lebens in größere Tätigkeit, ja ein Gründen seiner auf eignes
Tun, wie das auch schon der Ausdruck anzeigt, indem er an das
Bestellen eines Ackers gegenüber der wildwachsenden Natur erinnert.
Aber umfaßt diese Tätigkeit alles, was irgend dem Menschen eigen-
tümlich ist, oder ist sie nur eine Seite des Lebens, neben der andere
Möglichkeiten bleiben? Daß hier ein Problem vorliegt, bekundet
schon die Unsicherheit über das Verhältnis der Religion zur Kultur:
bald wird jene zu ihr gerechnet, und es scheint die Religion am
Stande der Kultur zu hängen; bald scheinen sie Gegensätze, die
einander durchkreuzen und hemmen, wie denn oft genug die einen
von der Religion aus die Kultur, die anderen von der Kultur aus
die Religion bekämpfen.
Nicht viel anders steht es mit der Frage nach dem Werte der
Kultur. Dient sie zur Bezeichnung alles dessen, was den Menschen
über den Stand der rohen Natur hinaus zu dem der Gesittung und
Bildung führt, so muß sie als der höchste aller Werte erscheinen,
und es muß sich innerhalb ihrer alles begründen, was uns irgend
schätzbar sein will. Aber zugleich ist die Geschichte voller Klagen
über Schäden und Gefahren der Kultur, sie steigern sich zuweilen
so sehr, daß die ganze Kultur wie ein Danaergeschenk erscheint.
236 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Namentlich in drei Richtungen ist die Kultur von alters her ein
Gegenstand harter Angriffe gewesen.
Von der Religion aus konnte die Kultur als eine Stärkung
menschlicher Kraft und als eine Steigerung menschlichen Selbst-
bewußtseins schwere Bedenken erregen. Ein frommer Sinn sah in
dem kühnen Aufstreben der Menschheit ein Überspannen eignen
Vermögens, ein Überschreiten naturgewiesener Schranken, einen
Mangel an frommer Gesinnung. Die Mißstände und Rückschläge
des Kulturlebens erschienen dann als eine Strafe für solchen Frevel.
Eine derartige Überzeugung wirkt von Babylon her in der Erzählung
vom Sündenfall und vom Turm, der bis zum Himmel reichen soll,
sie erscheint in den Prometheussagen, sie ist, in der besonderen
Zuspitzung gegen einen übermäßigen Wissensdurst, auch in den
Faustlegenden unverkennbar.
Auf dem eignen Boden der Menschheit aber griff oft der Zweifel
um sich; ob die Kultur dem Menschen das Glück in Wahrheit
bringe, das sie ihm zuversichtlich verheißt. Sie erzeugt eine große
Verwicklung des Lebens, sie bildet künstliche Bedürfnisse aus, sie
bindet den Menschen mehr und mehr an seine Umgebung, sie schafft
ihm Arbeit und Mühe, sie erweckt unerreichbare Wünsche und wilde
Leidenschaften, sie mag mit dem allen als ein Losreißen des Menschen
von seiner natürlichen Grundlage erscheinen, das ihn bei allem
äußeren Glanz innerlich unglücklich mache. Auch derartige Stim-
mungen sind uralt, sie tauchen z. B. bei den alten Juden auf, wie
Hosea und Jesaias zeigen. * Besonders voller Zweifel war das spätere
griechische Altertum, ein Widerwille gegen das Raffinement der da-
maligen Kultur, eine Sehnsucht nach einfachen Zuständen und schlichter
Lebenshaltung griff weiter und weiter um sich. Zum Ausdruck haben
diese Stimmung namentlich die Philosophen gebracht, die Kyniker
in derberer, die Stoiker in etwas feinerer Art; aber auch die schöne
Literatur gerät unter ihren Einfluß und bekundet damit ihre Ver-
breitung im gemeinsamen Leben. ^ In der Neuzeit stellt namentlich
Rousseau das ProJDlem aufs deutlichste vor Augen, mit seiner sen-
sitiven, aufgeregten und aufregenden Art hat er es der modernen
Menschheit zwingend auferlegt.
^ S. darüber Budde „das nomadische Ideal im alten Testament" (Preuß.
Jahrbücher, Bd. 85.)
"^ Anziehende Ausführungen darüber gibt E. Rohde „Der griechische
Roman und seine Vorläufer".
Kultur. 237
Das drohende Entweichen des Glücks hätte sich etwa ertragen
lassen, wenn dabei ein Wachstum der Tüchtigkeit des Menschen
außer Zweifel gewesen wäre. Aber das war es nicht, vielmehr pflegen
den Klagen über das sinkende Glück solche über eine Minderung
der Kraft und Tüchtigkeit durch den Fortgang der Kultur zur Seite
zu gehen. Die Kultur, so hören wir, schwächt den Menschen,
indem sie ihn von anderen abhängig macht, sie erhebt die Wirkung
seines Handelns im gesellschaftlichen Zusammensein zur Hauptsache,
sie stellt damit die Leistung vor die Gesinnung und droht bis in
die innerlichsten Gefühle hinein das Leben ins Scheinhafte und Un-
wahre zu führen. Mehr und mehr spielt der Einzelne nur eine ihm
von der Gesellschaft zugewiesene Rolle, und es wird sein Leben mehr
und mehr ihm selbst etwas fremdes, es hängt ihm nur äußerlich an;
wie könnte er dabei eine Größe der Seele bewahren, ein wahrhaftiger,
kräftiger, ganzer Mensch sein?
Wohl fehlt es der Kultur nicht an Anwälten gegen solche Be-
schuldigungen. Jene Schäden, so heißt es, seien bloße Begleit-
erscheinungen, Schatten, ohne die kein Licht besteht; nur der Mensch
ziehe ins Kleine herab und mache damit zweifelhaft, was an sich
groß und unangreifbar sei. — Indes die Kultur liegt innerhalb des
menschlichen Lebenskreises; ist sie nicht an seinen Zustand ge-
bunden, wird sie sich vom kleirmienschlichen Getriebe irgend ab-
heben können unter deutlicher Scheidung von wesentlichem Gehalt
und menschlicher Zutat, von Recht und Unrecht? So bleiben jene
Bedenken einstweilen unwiderlegt, und zugleich bleibt die Frage offen,
ob die Kultur ein Segen oder ein Fluch für die Menschheit sei.
ß. Das Problem des Inhalts der Kultur.
Darüber ist kein Zweifel, daß die Kultur das Dasein des Menschen
in höherem Grade auf seine eigne Tätigkeit stellt. Aber mit dem
allgemeinen Begriff der Tätigkeit ist noch recht wenig gewonnen,
die Tätigkeit kann ihre Umgebung nicht an sich ziehen und sich
umwandelnd in sie ergießen, ohne sich selber näher zu determinieren,
ohne dem Leben einen festen Mittelpunkt, eine beherrschende Haupt-
richtung, eine eigentümliche Durchbildung zu geben; so wächst
aus der Antwort sofort eine Frage hervor. Die Aufgabe aber,
die damit entsteht, ist von der Arbeit der Weltgeschichte in recht
verschiedener Weise gelöst, mannigfache Arten der Kultur sind ent-
standen, von denen keine einzelne voll und dauernd zu genügen
238 Zu den Problemen des Menschenlebens.
scheint, und die mit ihren widerstreitenden Zielen und Schätzungen
sich unmöglich aneinanderlegen lassen.
Es heben sich aber aus der Bewegung unseres gesamten Kultur-
kreises mit ausgeprägter Gestalt namentlich drei Arten der Kultur
hervor: eine künstlerische, eine ethische, eine dynamische; im Griechen-
tum, Christentum, modernen Leben sind sie zur Verkörperung ge-
langt. Im Griechentum bildet den Kern der Kulturarbeit die Ver-
bindung der Elemente, welche die Natur entgegenbringt, zu einem
harmonisch geordneten, von innerem Leben erfüllten Ganzen. Diese
Verbindung, Ordnung, Belebung kann dem Menschen nur seine
eigne Tätigkeit bereiten, sie entringt der Zerstreuung und Flucht
der sinnlichen Eindrücke ein beharrendes und zusammenhängendes
Weltbild, sie stellt die Individuen in das feste Gefüge einer ge-
schlossenen Gemeinschaft, sie verbindet die einzelnen Kräfte und
Triebe der Seele, ohne irgend etwas davon aufzugeben oder abzu-
schwächen, zu einem Gesamtwerk des Lebens, sie vollzieht an allen
Stellen eine Wendung vom Chaos zum Kosmos. Durch solches
Wirken sind Natur und Geist in eine enge und fruchtbare Beziehung
gesetzt, ist ein kräftiges, tätiges, freudiges Leben geschaffen, ist der
ganze Umkreis des Daseins veredelt und durchgebildet. Aber auch
Fragen und Zweifel blieben nicht aus. Das Ganze ruht auf der
Überzeugung, daß das Leben von Grund aus eine sichere Richtung
zur Vernunft besitzt, und diese Überzeugung geriet mehr und mehr
ins Wanken; die Form, welche hier das Leben beherrscht, konnte
solche Stellung nur wahren, solange sie eine Seele in sich trug, und
die schien sie nicht dauernd bewahren zu können; schließlich ge-
wannen die Verwicklungen des Lebens so sehr die Oberhand, und
schien der Mensch im innersten Kern seines Wesens so schwer be-
droht, daß sein Grundverhältnis zur Welt und die Rettung seiner
Seele zur dringendsten aller Aufgaben wurde.
Dieser Aufgabe unterzog sich das Christentum, bei vollster An-
erkennung des Nein unternahm es den Menschen zu einem über-
legenen Ja zu führen, inmitten ungeheurer Erschütterung dem Leben
feste Pole zu wahren. Das forderte eine unbedingte Konzentration
auf eine Aufgabe ethischer Art, ein völlig neues Leben galt es gegen-
über dem nächsten Dasein zu gewinnen, der Härte und Seelen-
losigkeit jenes wurde ein Reich barmherziger Liebe und kindlicher
Hingebung entgegengehalten. In Entwicklung dessen ist eine gewaltige
Vertiefung des Lebens erfolgt, unsichtbare Zusammenhänge taten sich
Kultur. 239
auf, eine große Weichheit der Empfindung und ein großer Ernst der
Gesinnung gingen Hand in Hand miteinander; ZeitUches und Ewiges,
Endliches und Unendliches, Menschliches und Göttliches traten hier
in engsten Kontakt. Aber auf dem Boden der Geschichte blieb
diese Denkweise überwiegend transzendent und gewann kein sicheres
Verhältnis zur Weltumgebung, neben einem Kreise reiner Innerlichr
keit verblieb daher die übrige Welt unergriffen und ungeläutert, die
Flucht in die Welt des Gemütes ließ leicht die Arbeit an den
Widerständen des Daseins als nebensächlich erscheinen und gefährdete
damit die männliche Kraft des Ganzen.
Diese Arbeit aber wurde der Neuzeit zum Kern alles Strebens.
Der Gedanke einer vollen Überwindung der Hemmung, der Aus-
treibung alles Dunkels tritt hier in den Vordergrund, die eigne Be-
wegung des Lebens, seine Steigerung ins Unbegrenzte wird hier
zum Ziel aller Ziele, zum vollgenügenden Glück. Den Menschen
scheint hier vornehmlich auszuzeichnen seine Überlegenheit gegen
alles ' gegebene Maß, sein Vermögen, die eigne Kraft weiter und
weiter zu steigern, immer neue Wege zu bahnen, immer neue An-
fänge zu setzen. Die Bewegung, die daraus hervorgeht, läßt durch-
gängig neue Bilder vom All, dem menschlichen Zusammensein, der
Seele des Einzelnen entstehen, sie schafft eine neue Art der Arbeit,
in welcher diese zuerst das Bewußtsein einer Weltüberlegenheit ge-
winnt. Mehr als irgend sonst wird hier der Mensch zum Herrn
seines Daseins, überall erfolgt hier ein Aufrütteln aus träger Starr-
heit, ein Beleben alles Schlummernden, ein Befreien alles Gebundenen,
überall wird das Leben ein rastloses Vorwärtsstreben, schwellen ins
Unermeßliche Mut und Kraft. Aber wenn die Ergebnisse dessen
uns in tausendfachen wohltätigen Wirkungen vor Augen stehen, vor
Augen stehen uns auch die zahllosen Verwicklungen, die jene Be-
lebung und Befreiung gebracht hat, an die freudig vordringende
Vernunft hat sich soviel Unvernunft angeschlossen, mit den Erfolgen
des Wachstums des Geisteslebens ist so viel kleinmenschliche Irrung
und Leidenschaft aufgeschossen, daß die alleinseligmachende Kraft
der modernen Kultur uns sehr ins Unsichere geraten ist. Immer
weniger läßt sich auch der Zweifel unterdrücken, ob selbst beim Ge-
lingen der Bewegung der Mensch ganz und gar in sie aufgehen kann.
Denn als denkendes Wesen überschaut er die Bewegung, faßt er sie
in ein Ganzes und muß er von ihr eine bleibende Förderung seines
Wesens verlangen; von hier aus wird ihm eine Kultur, die immer
240 Zu den Problemen des Menschenlebens.
nur ungestüm vorwärts drängt, nie einen zeitüberlegenen Besitz ergibt,
sinnlos und unerträglich werden.
Dies alles hat sich nacheinander entwickelt, aber es hat einander
nicht einfach abgelöst; was äußerlich versank, behält eine innere Gegen-
wart und behauptet einen Einfluß auf das menschliche Leben. Nun
aber ist die Grundrichtung und der Gesamtcharakter jener Gestaltungen
so verschieden, daß nur eine flache Denkart eine unmittelbare Ver-
bindung für möglich erachten kann. Sie ist um so weniger mög-
lich, als das geschichtliche Bewußtsein der Gegenwart uns die Unter-
schiede mit vollster Schärfe gewahren läßt. So stehen die verschiedenen
Lösungen wie fremdartig gegeneinander und führen, wenn auch meist
versteckt, miteinander Kampf und Krieg. Die künstlerische Kultur
erklärt die ethische für eng und düster, die dynamische für form-
und ruhelos; der ethischen muß die künstlerische als flachoptimistisch
und naturgebunden, die dynamische als selbstbewußt und trotzig
gelten; die dynamische wird in den anderen Formen zu wenig Be-
wegung und Forttrieb finden. Und zwischen all diesen Gegensätzen
steht der Mensch der Gegenwart; wird er nicht von ihnen zerrieben
und geistig herabgedrückt werden? Er kann jene verschiedenartigen
Kulturtypen weder verbinden, noch auch zu Gunsten eines auf die
anderen verzichten; er müßte, um jedem sein Recht zu geben und
von seinem Unrecht zu befreien, eine sichere Überlegenheit gewinnen,
aber er ermangelt nicht nur einer solchen, er sieht nicht einmal, in
welcher Richtung sie zu suchen sei.
y. Das unsichere Verhältnis des Menschen zur Kultur.
Die Verwicklungen steigern sich weiter bei Erwägung der
Frage, wie sich Mensch und Kultur zueinander verhalten. Nur
zweierlei scheint hier möglich: entweder hat die Kultur dem Menschen
oder der Mensch der Kultur zu dienen. Nun aber ist keines von
beiden möglich, wie sich ohne Mühe ersehen läßt.
Wäre die Kultur ein bloßes Mittel für das Wohl und den Zu-
stand des Menschen, so müßte ihr Wachstum sein Leben immer
angenehmer gestalten, so müßte das Mehr der Kultur zugleich ein
Mehr des Glückes besagen. Das aber tut es nicht. Denn dem
menschlichen Behagen scheint die Kultur mehr schädlich als nützlich
zu sein. Sie erzeugt unbegrenzte Wünsche und kostet unsägliche
Mühe und Arbeit, sie verwickelt in Sorgen und Aufregungen, sie
umfängt uns mit festen Bindungen, sie verlangt Gehorsam und Opfer;
Kultur. 241
daß das alles die Lust, die Annehmlichkeit des Lebens erhöhe, läßt
sich schwerlich behaupten. Jene befindet sich weit besser, und es
wird sich der Mensch weit eher zufrieden fühlen auf niederen Stufen
der Kultur, auch werden weit eher Individuen geringer als hoher
geistiger Regung dazu gelangen. Wäre zufriedenes und angenehmes
Dasein das höchste Ziel, wie sehr müßten wir Kulturmenschen die
brasilianischen Neger mit ihrem sorglosen Lebensgenuß beneiden!
So wäre auch leicht zu zeigen, daß geistige Bewegungen, welche das
Glück zum höchsten Ziele machten, wie der Epikureismus und der
Utilitarismus, für den inneren Aufbau der Kultur verzweifelt wenig
geleistet haben. Innerhalb eines gegebenen Kulturstandes mochten
sie manche Härte mildern, mancher Not entgegenwirken: das Leben
wesentlich zu heben, Neuem die Bahn zu brechen, geht über ihr
Vermögen.
So bleibt nur der andere Weg: die Kultur als Selbstzweck an-
zuerkennen und den Menschen zu einem bloßen Mittel für ihren
Fortgang zu machen. Eine solche Fassung hat für sich den Ein-
druck innerer Größe: unvergleichlich wächst die Kultur, wenn sie
sich bei jenem Selbständigwerden in ein Ganzes zusammenfaßt und
mit der Kraft einer eignen, inneren Notwendigkeit wirkt; der Mensch
aber scheint bei aller äußeren Unterordnung innerlich nur zu wachsen,
wenn er alle Sorge um den eignen Zustand ablegt und sich ganz
dem Strome des Weltlebens hingibt. Hegels System hat dieser Denk-
weise eine großartige Verkörperung gegeben. Aber weit darüber
hinaus übt sie im modernen Leben eine nicht geringe Macht. In-
mitten alles Unerquicklichen der menschlichen Verhältnisse und in-
mitten des Werdens und Vergehens der Geschlechter gibt heute
die Überzeugung vielen einen Halt und Trost, daß durch alles
Mühen hindurch die Kultur ihren sicheren Weg verfolge, und daß
ihr Gewinn auch dem Leben und Wirken des um sie bemühten
Menschen einen Sinn und Wert, sowie eine bleibende Dauer verleihe.
«Viele werden vorbeiziehen und die Wissenschaft wird wachsen."
Aber so anziehend dieser Gedanke, zum Siege vermag er nicht
zu gelangen. Denn es gibt keine Kultur freischwebender Art; eine
Kultur, die sich gänzlich vom Menschen ablösen und ihn zu einem
bloßen Mittel herabsetzen wollte, würde selbst ins Leere fallen.
Immer liegt die Kultur innerhalb des menschlichen Lebens, und muß
sie diesem etwas sein, der Mensch muß in ihr ein geistiges Selbst zu
behaupten haben, wenn sie seine volle Kraft gewinnen, ihn durch
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 16
242 Zu den Problemen des Menschenlebens.
alle Hemmungen hindurch hohe Ziele erreichen lassen soll. Eine
unpersönliche, vom Menschen völlig abgelöste Kultur wäre ein Ge-
spenst ohne Fleisch und Blut; soweit dies in unseren Vorstellungen
eine Wirklichkeit erlangte, würde es uns ins Irre locken, unbekannten
Zielen uns aufzuopfern heißen, das Leben einer Seele berauben.
Und wie könnte die Hoffnung auf die Zukunft uns in den Mühen
und Kämpfen der Gegenwart aufrecht erhalten und freudig stimmen,
wenn diese Zukunft niemandes Sache, niemandes Freude, niemandes
Förderung wäre?
Unsere eigne Zeit stellt uns immer klarer vor Augen, daß
jene Selbstaufopferung des Menschen an die Kultur sich schlechter-
dings nicht vollziehen läßt. Denn immer stärker bricht aus allem
hastigen und lärmenden Kulturbetriebe wieder das Verlangen nach
Entfaltung und Förderung des lebendigen Menschen, nach Bildung
der Seele, nach Rettung eines geistigen Selbst hervor; wir erkennen
zugleich, daß dies für die eigne Wahrheit und Tiefe der Kultur
nicht zu entbehren ist In solchen Erfahrungen tritt deutlich vor
Augen, daß der Mensch kein bloßes Gefäß des Kulturlebens ist, daß
ihn dieses nicht nach seinen Bedürfnissen wie weiches Wachs so
oder anders formt, sondern daß er ihm eine selbständige Art ent-
gegenzusetzen hat, die nicht auf Befriedigung verzichten kann. Die
Kultur schreitet nicht aus einem ihr innewohnenden Zwange in
sicherm Zuge fort, vielmehr scheint in ihr alle besondere Gestalt
alt zu werden und sich auszuleben; immer wieder bedarf es neuer
Anfänge, eines Hervorbrechens ursprünglichen Lebens, vor allem aber
neuer Menschen. So erging es dem späteren Altertum; das Kultur-
leben kam erst wieder in Fluß, als neue Völker es aufnahmen und
durch frische Kräfte verjüngten. Sollte auch der Gegenwart eine
solche Verjüngung notwendig sein, sei es durch neue Völker, sei
es durch neu aufsteigende, geistig noch minder verbrauchte Klassen?
Wie dem sein mag, der lebendige Mensch behauptet seine
Selbständigkeit gegen allen Versuch, ihn zu einem bloßen Werkzeug
herabzusetzen. Aber auch die Kultur, so sahen wir, darf nicht zu
einem bloßen Mittel sinken, wenn sie nicht einer Auflösung ver-
fallen will. So befinden wir uns in einem schweren Dilemma, wir
müssen darüber hinaus, aber zunächst sehen wir nicht, wie das mög-
lich sein sollte. Im Durchschnitt des Lebens aber werden wir heute
bald nach dieser, bald nach jener Seite getrieben, zwischen leerer
Subjektivität und seelenloser Arbeit schwanken wir ratlos hin und her.
Kultur. 243
Alle diese Verwicklungen treffen in der Gegenwart zusammen
und steigern sich gegenseitig. Vor allem peinlich wirkt die Unsicher-
heit, die über unser eignes Verhältnis zur Kultur besteht, das Fehlen
eines umfassenden und leitenden Zieles, das uns die Kulturarbeit
zur eignen Sache, zur Erhaltung unseres geistigen Selbst, zur
zwingenden Notwendigkeit macht und sie zugleich über das klein-
menschliche Getriebe hinaushebt, dem wir sonst wehrlos verfallen
sind. Schon das verhindert uns, nach einer neuen charakteristischen
Art der Kultur gegenüber den verschiedenen Gestaltungen zu streben,
die von naher oder ferner Vergangenheit auf uns eindringen und
uns einnehmen, ohne uns voll zu befriedigen. In all den Wirren,
die daraus entstehen, fällt uns schließlich der Wert und das Wesen
aller Kultur ins Ungewisse, notdürftig genug verdeckt gewandte Re-
flexion mit schönklingenden Reden und ausgeklügelten «Gesichts-
punkten" den Mangel eines Kernes des Ganzen. Unerträglich wird
schließlich all jene aufgeputzte Scheinkultur, wie sie namentlich von
unsern Millionenstädten ausgeht, immer weiter wird der Abstand
zwischen dem, was als Ziel verkündet und was in Wahrheit als
solches erstrebt wird, immer größer wird damit die Unwahrhaftig-
keit des Lebens. Dem muß widerstanden werden; die wachsende
Unzufriedenheit zeigt deutlich genug, daß eine solche Bewegung
schon im Gange ist.
c) Forderungen für ein wahrhaftiges Kulturleben.
a. Die Notwendigkeit einer tieferen Begründung.
Die Philosophie mag in solchen Bewegungen und Erschütter-
ungen eine noch so bescheidene Rolle haben, der Aufgabe entziehen kann
sie sich nicht. Ihre Sache wird es vor allem sein, die Richtungen
herauszuarbeiten, die das Streben einzuschlagen hat, um uns das Leben
wieder aus einem «Geschäft" zu einem «Dasein« zu machen (nach
J. Burckhardt). Dazu aber bedarf es vornehmlich dessen, daß die
Kultur ganz unser eigen sei und zur zwingenden Notwendigkeit
unserer Selbsterhaltung werde, ohne unter die Kleinheit der bloßen
Lust zu geraten. Dafür aber bietet unsere Fassung des Geistes-
lebens und seines Verhältnisses zum Menschen einen gangbaren Weg.
Denn mit dem Selbständigwerden des Geisteslebens, wie wir es ver-
treten, wird die Kultur, die seiner Entfaltung dient, von dem flachen
Menschengetriebe befreit und auf eine tiefere Grundlage aufgetragen,
16'
244 Zu den Problemen des Menschenlebens.
aber sie wird dabei nicht dem Menschen entfremdet, da er seiner eigen-
tümlichen Art nach im Ganzen des Geisteslebens allererst sein echtes
Wesen, die Möglichkeit eines wahrhaftigen Beisichselbstseins findet.
Bei solcher Fassung arbeitet er in der Kultur nicht für fremde,
sondern für eigne Zwecke, und vermag er auch in der weitesten
Ausdehnung seines Strebens einen beherrschenden Mittelpunkt fest-
zuhalten. So ist es das Geistesleben in unserem Sinne, das den
Menschen und die Kultur aufs engste verbindet, ohne sie einander
unmittelbar zu verschmelzen und damit das eine dem andern auf-
zuopfern. Die Verbindung nämlich erscheint hier nicht als eine
fertige Tatsache, die uns bequemer Weise zufällt, sondern als ein
hohes Ideal, welches das ganze Leben aufregt und in Bewegung
versetzt. In solchen Zusammenhängen erscheint die Kultur als unsere
Mitarbeit an einer großen Bewegung des Alls, welche die Wirklich-
keit einer höheren Stufe, der Stufe des Beisichselbstseins, zuführt.
Hinter unserer Arbeit steht und innerhalb unserer Arbeit wirkt da-
mit die Kraft des Ganzen.
Es ist keineswegs bloß eine leise Verschiebung oder gar eine
bloße Veränderung des Namens, wenn so die Kultur als Entfaltung
eines selbständigen Geisteslebens verstanden wird. Denn das gestattet
eine Erfüllung von Forderungen, die allem echten Kulturstreben
wesentlich sind, denen aber die durchschnittliche Fassung in keiner
Weise genügt.
So erst wird eine Selbständigkeit der Inhalte und der Werte
möglich, welche die Kulturarbeit erfüllen. Wäre die Kultur bloß ein
innermenschlicher Vorgang, so würde der Stand des Menschen zu
ihrem ausschließlichen Maße, so gäbe es keine Zerlegung und Scheidung
des uns umfangenden Chaos, so könnte nicht die Kultur dem mensch-
lichen Dasein Ideale mit zwingender Stärke vorhalten, so fehlte ihr
alle aufrüttelnde und vorwärtstreibende Kraft. Ganz anders stellt
sich die Sache, wenn in der Kultur eine dem bloßen Menschen über-
legne Bewegung anerkannt wird, die ihm den Kern seines eignen
Wesens erst aufzuschließen vermag.
Ferner kann erst die Begründung auf ein selbständiges Geistes-
leben der Kultur eine Größe geben. Denn wo das Leben ganz und
gar auf den bloßen Menschen beschränkt bleibt, ihn nicht irgend
über seinen Zustand in ein Leben mit dem Ganzen der Wirklich-
keit führt, da mag der Mensch noch so sehr sich für Größe be-
geistern, raffinierte Unterschiede ersinnen, in Hochmut und Eitel-
Kultur. 245
keit sich oder seinen Stand über andere hinausheben, in. der Sache
bleibt alles klein, klein vornehmlich in der Einbildung einer Größe.
Erhabenheit, echte Größe, etwas, das Ehrfurcht gebieten und im
Unterordnen zugleich erheben könnte, entsteht innerhalb dieses bloß-
menschlichen Kreises nicht. Dazu muß im Menschen etwas Mehr-
alsmenschliches durchbrechen, dem er zugleich eine volle Überlegen-
heit zuerkennen muß, und das er doch als irgendwie zu sich selbst
gehörig betrachten darf; erst von da aus wird eine wahrhaftige Er-
höhung seines Wesens möglich, auch die größte aller Befreiungen,
die Befreiung des Lebens von der Enge des bloßen Menschen. Wie
dies Übermenschliche im Menschen den Quell aller echten Größe
bildet, so bewahrt es allein die Kultur davor, ein bloßer Menschen-
dienst zu werden, Menschendienst gegen Einzelne, Menschendienst
auch gegen Massen. Möchte uns stets jenes Kantische Wort gegen-
wärtig sein: «Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter
den Händen des Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem
Gebrauch verwenden."
Auch zur Ursprünglichkeit des Kulturlebens ist die Gegenwart
einer neuen Stufe der Wirklichkeit nicht zu entbehren. Denn
ist Kultur nicht mehr als ein menschlicher Zusatz zur Natur, so
muß ihre Bewegung sich immer weiter von ihrer Basis entfernen,
so muß ihr Bestand immer künstlicher, komplizierter und raffinierter
werden. Die Kultur wird dann das Leben immer starrer festlegen,
ihm immer mehr Möglichkeiten verschließen^ es immer gebundener
machen. Mit dem allen würde sie die Zerstörerin aller Jugendfrische
und aller Ursprünglichkeit Ist es ein Wunder, daß, wenn die Mensch-
heit das in besonderen Lagen mit besonderer Stärke empfindet, sie
dagegen sich aufbäumt und sich mit ganzer Seele zur Natur, zu den
einfachsten Anfängen zurücksehnt, wie oft das Individuum in das
Kindheitsalter mit seiner Frische und der Fülle seiner Möglichkeiten?
Aber eine wirkliche Rückkehr zur Natur ist der Menschheit ebenso
versagt wie dem Individuum die zur Kindheit, die Geschichte mit ihren
Wirkungen läßt sich unmöglich streichen. So müßten wir uns also
darin ergeben, daß die Kultur immer greisenhafter und starrer würde,
daß die Menschheit im Großen demselben öden Spießbürgertum
erläge, wie die meisten Individuen im Kleinen, wenn nicht etwas
Neues ursprünglich durchbrechen, nicht frische Kräfte einsetzen, nicht
neue Möglichkeiten aufgehen könnten. Sie können aber nur auf-
gehen, wenn es eine geistige Tiefe des Lebens gibt, die inmitten
246 Zu den Problemen des Menschenlebens.
alles Vergriffenen und Abgelebten einer bloßmenschlichen Kultur
neue Anfänge setzt, einfache Größen erzeugt, im Einfachen eine neue
Welt erschließt. Wenn es heißt, daß alles Große einfach ist, so
muß das wohl eine andere Einfachheit sein als die der natürlichen
Anfänge.
Endlich entbehrt die Kultur auch der nötigen Triebkraft, wenn
sie nur einer gegebenen Welt etwas beifügt, nicht eine neue, uns
unentbehrliche Welt eröffnet Kräftig erregen und zwingend be-
wegen kann uns nur die Erfahrung und Empfindung eines Wider-
spruches im eignen Leben, die Unmöglichkeit, bei ihm abzuschließen.
Einen derartigen Widerspruch aber kann eine bloße Zusatz- und
Luxuskultur nun und nimmer erzeugen. Das von ihr gewünschte
Mehr könnte man ruhig ablehnen oder etwa wie Wind und Wetter
geduldig über sich ergehen lassen, wie ja in Wahrheit das Durch-
schnittsleben innerlich gegen die Kultur recht gleichgültig ist und
sie mehr als einen sozialen Zwang denn als eine eigne Freude
empfindet. Wenn es auf der Höhe des Schaffens anders stand, und
wenn überhaupt solches Schaffen möglich war, so kam das daher,
daß hier die Arbeit als die Erringung eines wahrhaftigen geistigen
Lebens und damit eines Beisichselbstseins galt, und daß, wo solches
Verlangen einmal aufgegangen war, die vorgefundene Lage als
schlechterdings unerträglich, als Hemmung einer notwendigen Selbst-
erhaltung erschien. Mit solchem Verlangen nach Selbsterhaltung
fuhr eine leidenschaftliche Glut in das Streben, die keine Rücksicht
auf Menschen kannte und zu jedem Opfer bereit war, vor keinem
Hemmnis zurückwich.
Durch alle Fragen zieht sich ein und dasselbe Problem, ein
und derselbe Gegensatz: der einer echten und einer Scheinkultur.
Echt ist die Kultur nur soweit, als sie den Zusammenhang mit dem
begründenden Geistesleben wahrt und seiner Entfaltung dient, unecht
wird sie, sobald sie unter die Zwecke des bloßen Menschen sinkt
und auch das Geistesleben dahin herabzieht. Der Kampf beider
Formen — hie Geist, hie Mensch — durchdringt die ganze Ge-
schichte und läßt in ihr eU,'as anderes sehen als einen reinen Triumph
des Geistes. Heute aber tut es besonders not, daß die alte Wahr-
heit deutlicher erfaßt, die notwendige Bedingung echter Kultur klarer
herausgestellt, die Scheidung der Geister für dieses oder jenes kräftiger
vollzogen werde.
Kultur. 247
ß. Die Notwendigkeit einer inneren Weiterbildung der Kultur.
Daß wir einer Weiterbildung der Kultur bedürfen, auch in
welcher Richtung wir sie zu suchen haben, das ließ schon die
bisherige Erörterung zur Genüge erkennen. Verschiedene Haupt-
gestaltungen wirken zu uns von der Geschichte her, von denen wir
keine aufgeben und die wir auch nicht unmittelbar zusammenfassen
können; was anderes bleibt da übrig, als uns danach umzusehen,
ob nicht eine Lebensbewegung vorhanden ist und sich weiter ver-
stärken läßt, die über den Gegensatz hinaushebt und ihm entgegen-
zuwirken gestattet, die dabei universal genug ist, um sich über das
Ganze des Lebens zu erstrecken und seinen Befund in ein Für oder
Wider zu scheiden, und zugleich charakteristisch genug, um allem,
was sie ergreift, eine eigentümliche Gestalt zu geben. Ein Urphänomen
müßte in ihr ergreifbar sein, das jedem Einzelnen gegenwärtig ist,
und das zugleich mit aufrüttelnder und bildender Wirkung über
das Ganze des Lebens reicht.
Ein solches beherrschendes Urphänomen ist nun nicht dieses oder
jenes am Geistesleben, nicht diese oder jene Leistung, sondern es
ist das Geistesleben selbst, wie wir es verstehen, die Bewegung der
Wirklichkeit zu einem Beisichselbstsein des Lebens. Erst mit solchem
Beisichselbstsein wird überhaupt ein wahrhaftiges Sein erreicht, alles
Übrige ist nur ein Schein davon; ein solches Sein kann nicht außer-
halb der Tätigkeit, sondern nur innerhalb ihrer liegen, es entsteht,
indem jene sich zu einem beharrenden Ganzen vertieft und dieses
Ganze in die einzelnen Betätigungen hineinlegt. Damit erst wird
ein Aufstieg eines bloßen Lebens zu einem Selbstleben erreicht,
oder vielmehr es wird damit erst der Widerspruch überwunden, der
sonst im Begriff des Lebens liegt. Oder ist es nicht ein Wider-
spruch, daß eine gewisse Innerlichkeit entsteht, diese aber stets an
Fremdes gebunden bleibt, nie eine Selbständigkeit erlangt?^ Erst
mit jener Wendung wird der Begriff von Lebensinhalten verständ-
lich, auch der Begriff des Wertes scheidet sich hier erst deutlich
von der niederen Stufe der Lust. Von hier aus tritt alle Tätigkeit
unter den Gegensatz einer wesenhaften und einer wesenlosen, einer
selbständigen und einer gebundenen Art, und es entsteht zugleich
eine durchgehende Aufgabe daraus, die übhche Vermengung, die
* Für alles weitere muß ich auf meine systematischen Schriften, zu-
nächst auf die „Grimdlinien einer neuen Lebensanschauung" verweisen.
248 Zu den Problemen des Menschenlebens.
beides ungeschieden ineinander verfließen läßt, auszutreiben, die
Forderungen der Wesensbiidung scharf herauszuarbeiten und sie als
unerläßlich durchzusetzen. Von der Kultur wird damit als echt nur
gelten können, was die Bildung eines Wesens fördert, was eine
Weiterbildung der geistigen Wirklichkeit und zugleich unseres echten
Selbst enthält; alles andere, so prunkend es auftreten mag, sinkt
damit zu einer bloßen Menschenkultur, zu einer Kulturkomödie.
Soweit aber jene Wesensbildung gelingt, muß eine durchgreifende
Befestigung und Vertiefung des Daseins erfolgen; der Hauptaffekt
des Lebens wird damit das Verlangen nach Wahrhaftigkeit, nach Be-
freiung von allem Schein.
So entsteht ein eigentümlicher Typus des Lebens mit strengen
Forderungen und mit aufrüttelnder Kraft; daß aber innerhalb dieses
Kreises für mannigfache Bewegungen Platz verbleibt, das bringt die
Tatsache mit sich, daß jene Wendung zu einem Beisichselbstsein des
Lebens sich unter den Bedingungen und Hemmungen des mensch-
lichen Daseins vollziehen muß; eine Mehrheit von Angriffspunkten
wird dadurch möglich, ja unentbehrlich. Wir Menschen sind an
das unmittelbare Dasein gebunden und bleiben auch für den Fort-
gang des Lebens darauf angewiesen. Wir können uns nicht ein-
fach von jenem trennen, uns der wesenhaften Einheit bemächtigen
und von dort aus die ganze Wirklichkeit entwickeln, sondern auch
wenn wir uns dorthin versetzt haben, bedarf es einer unablässigen
Befassung und Auseinandersetzung mit jenem Dasein, Dabei stößt
das geforderte Wirken aus dem Ganzen für das Ganze, das Ge-
triebenwerden durch die innere Macht der Wahrheit, wie es echt-
geistigem Leben und Schaffen innewohnt, hart zusammen mit dem
Naturtriebe der Selbsterhaltung, den die Verflechtung mit geistigen
Kräften zu einem grenzenlosen Egoismus steigert; eine völlige
Wandlung der Gesinnung wird damit unerläßlich und erweist sich
als Grundbedingung alles Geisteslebens echter Art; das hebt die
ethische Aufgabe über alles andere hinaus. Aber zugleich be-
hauptet das künstlerische Wirken mit seiner Formgebung einen
eigentümlichen Wert. Was im Menschen an Geistigkeit aufstrebt,
das hat zunächst ein rohes und seelenloses Dasein neben sich und
verbleibt daher leicht in einem Stande der Halbwirklichkeit; erst
das künstlerische Bilden, das weit über die eigentliche Kunst hin-
ausreicht, bringt die verschiedenen Seiten und Stufen in Wechsel-
wirkung, vermag in der Berührung das Innere zu gestalten, das
Kultur. 249
Äußere zu beseelen, das Leben bei sich selbst zusammenzuführen.
So gibt es keine volle Durchgeistigung des Lebens ohne die Kunst,
ohne ihr bildendes und veredelndes Wirken vermag aller Eifer
ethischen Aufschwunges es nicht vor Barbarei zu behüten. Endlich
aber behauptet auch die Aufgabe der Lebenssteigerung ein unan-
greifbares Recht. Zum Geistesleben gehört Unbedingtheit, Unend-
lichkeit, volle Beherrschung der Wirklichkeit; der Mensch des un-
mittelbaren Daseins aber steht unter zahlreichen Bedingungen und
Einschränkungen, er ist, an jener Aufgabe gemessen, von kläglicher
Enge und Schwäche. So bedarf es notwendig einer Steigerung
seiner Kraft, einer Erweiterung seines Daseins, einer Belebung alles
Schlummernden; ist es verwunderlich, daß dies besonderen Epochen
das Ganze der Kultur zu bedeuten schien?
Aus solchem Nebeneinander verschiedener Lebensrichtungen
müssen schroffe Spannungen und harte Zusammenstöße erwachsen, und
zwar keineswegs durch bloßes Irren und Mißverstehen der Menschen.
Denn keine der Aufgaben läßt sich mit voller Hingebung ergreifen
und mit voller Kraft verfolgen, ohne als Selbstzweck aufzutreten und
sich im Augenblick des Handelns als die Hauptsache zu fühlen; so
wird es begreiflich, daß im Ganzen des Menschenlebens nicht bloß
ethische, künstlerische, dynamische Antriebe wirken, sondern daß sich
eigentümliche Kulturtypen ausbilden und um die Herrschaft kämpfen.
Abschwächungen und Kompromisse vermögen dagegen nichts, sie
drücken leicht das Niveau des Lebens herab. Aber wenn der Kampf
nicht zu vermeiden, ja sein Nachlassen nicht einmal zu wünschen
ist, so wird um so wünschenswerter, daß etwas dem Kampf überlegen
bleibe und einen Kampf gegen den bloßen Kampf unternehme. Das
aber vermag nur die Belebung eines wesenhaften Seins, das durch
alle Verschiedenheit hindurch sich selbst eriebt, das die verschiedenen
Leistungen auf eine überlegene Einheit zurückbezieht, von da aus
mißt, von dort aus zusammenzufassen strebt. Jene Bewegungen ge-
winnen nun alle eine Richtung auf die Entwicklung eines bei sich
selbst befindlichen wesenhaften Geisteslebens und einer geistigen
Wirklichkeit; es wird hier ein Lebensraum geboten, in dem sie sich
begegnen und auseinandersetzen können; etwaigen Konflikten stehen
wir hier nicht wehrlos gegenüber, wir können zur Ausgleichung
wirken, wir können der Festlegung bloßer Teilkulturen die Ent-
wicklung einer Gesamtkultur entgegensetzen.
Die Teilkulturen mit ihrer Arbeit treten damit vor ein Ent-
250 Zu den Problemen des Menschenlebens.
weder— oder: finden sie den Zusammenhang mit der Tiefe und
dem Ganzen — nur mit der Wendung zur Tiefe wird das Leben
ein Ganzes — , oder lösen sie sich vom Lebensgrunde ab und ver-
fallen immer mehr einer Vereinzelung? Je nach der Entscheidung
dorthin oder hierher ergibt sich ein schroffer Gegensatz. Dort eine
wesenhafte, hier eine wesenlose Art der Kultur; dort ein Insichauf-
nehmen der Erfahrungen und Schicksale des ganzen Menschen und
zugleich eine konkrete Gestaltung, hier eine freischwebende Betätig-
ung und damit eine große Vagheit; dort eine Erhebung über alles
Kleinmenschliche, zum mindesten ein tapferer Widerstand dagegen,
hier eine Wehrlosigkeit der Geisteskultur gegen die bloße Menschen-
kultur. So droht die ethische Lebensbewegung ohne die Gegen-
wart einer wesenhaften Geisteswelt bloßes Gesetzes- und Formel-
wesen zu werden, zur Einengung und Bedrückung zu wirken, auch
in einen selbstgerechten Pharisäismus auszulaufen; die künstlerische
Gestaltung führt, auf sich allein gestellt, das Leben unvermeidlich
ins Genießende, Weichliche, Spielende, die dynamische ins Selbstische,
Wilde, Brutale. So hängt auch die Wahrheit der Teilkulturen daran,
daß sie eine Wesens- und Gesamtkultur hinter sich haben, daß jene
Zurückverlegung. der Kultur erfolge, die nur durch Anknüpfung an
ein selbständiges Geistesleben möglich wird.
Was die Idee einer zugleich wesenhaften und universalen Kultur,
in ihrem Gegensatz zur ersten Kulturlage, an Folgen und Forder-
ungen mit sich bringt, das wird uns bei den nächsten Artikeln be-
schäftigen. Die Kultur wird sowohl in ihre Mittel und Träger als
in ihren Inhalt zu verfolgen sein: dort sind die Probleme von Ge-
schichte und Gesellschaft, hier die von Kunst und Moral in ihren
mannigfachen Beziehungen zu erörtern; Punkt für Punkt wird sich
zeigen, daß bei jener Idee nicht bloß ein neues Wort, sondern
eine neue Sache und Aufgabe in Frage steht Hier sei nur noch
das eine erwähnt, daß die gegenwärtige Lage die Forderung einer
Zurückverlegung und festeren Begründung der Kultur überaus
dringlich macht. Diese Lage ist namentlich durch ein Zusammen-
treffen zweier Tatsachen kritisch geworden. Einmal sind die ge-
schichtlich überkommenen Grundlagen und Inhalte der Kultur, soweit
sie das Ganze und Innere des Menschen betreffen, sehr ins Unsichere
geraten; sie sind das vornehmlich deshalb, weil wir jetzt die ältere
Art als zu anthropomorph, zu kleinmenschlich empfinden und aus
solcher Empfindung in Zweifel kommen, ob der Mensch überhaupt
Kultur. 251
das sinnlich -natürliche Dasein irgend überschreiten kann, ob alles,
was er an Mehralsmenschlichem zu erfassen glaubte, nicht ein bloßes
Trugbild, ein Erzeugnis menschlichen Wahnes sei. Das greift sehr
tief in das Leben ein, weit tiefer als diejenigen meinen, welche aus
der Welt alle Geistigkeit entfernen und zugleich dem Menschen eine
Idealität wahren zu können wähnen. Denn in Wahrheit steht und
fällt das eine mit dem andern; es läßt sich unmöglich im Punkt
und Subjekt erhalten, was für das Ganze und im Wesen aufgegeben
wird. So sind wir aller unserer Ideale, ja unseres eigenen Wesens
unsicher geworden, nicht mehr schöpfen wir aus einem gemein-
samen Grundstock von Überzeugungen zusammenhaltende, richtende,
erhöhende Kräfte; bei aller subjektiven Regsamkeit ist ein innerer
Verfall des Lebens unvermeidlich, wenn jene Erschütterung weiter
und weiter greift.
Und in diese wankende und schwankende Zeit fällt hinein das
stürmische Drängen der Massen nach vollem Teilhaben an Kultur
und Glück, samt dem Anspruch, über das, was an der Kultur ge-
halt- und wertvoll sei, mit eignem Urteil zu entscheiden, zu ent-
scheiden nach dem unmittelbaren Eindruck und nach der Fassungs-
kraft der Individuen, die von den weligeschichtlichen Bewegungen
und Erfahrungen der Menschheit kaum irgend berührt worden sind.
Nun macht jene innere Unsicherheit der bestehenden Kulturkomplexe,
im besondern ihre schwere Belastung mit Veraltetem und Über-
lebtem, sie unfähig, solchem Verlangen eine unerschütterliche Wahr-
heit entgegenzuhalten und es damit in sichere Bahnen zu leiten; so
droht jene Bewegung alles fortzureißen, wie sie schon jetzt ver-
gröbernd und verflachend, verengend und verneinend wirkt. Über
eine solche Krise kann schlechterdings nichts anderes hinausführen
als ein neuer Aufschwung des Lebens, eine Vertiefung des Geistes-
lebens in sich selbst, die Entdeckung innerer Tatsachen und innerer
Zusammenhänge. Von draußen kann uns das Heil nicht kommen;
was an Stützen und Hülfen dort unwiderbringlich verloren ging,
das können wir nur durch eine Verstärkung des Innern ersetzen,
nur dadurch, daß wir bei uns selbst zu einer überlegenen Welt ge-
langen, uns darin befestigen, von daher unserem Leben einen Inhalt
geben, von daher eine neue Kultur erbauen. Gelingt solche Ver-
tiefung und Befestigung, so kann die bedrohliche Krise zu einer
Erneuerung und Verjüngung des Lebens führen und durch alle
menschliche Irrung hindurch dem Dasein einen größeren Wahrheits-
252 Zu den Problemen des Menschenlebens.
gehalt verleihen. Besteht dagegen keine Möglichkeit einer solchen
Vertiefung und eines Hervorbrechens ursprünglicher Kräfte, ist im
menschlichen Dasein keine wesenhafte Geisteswelt neu zu beleben,
so entfällt alle Hoffnung eines glücklichen Ausgangs, so müssen
der menschlichen Selbstsucht und Leidenschaft Vernunft und Kultur
unterliegen.
2. Geschichte.
a) Zur Entwicklung des Problems.
I |as Verhältnis des heutigen Menschen zur Geschichte ist voller
■■-^ Verworrenheit: wir hängen an der Geschichte und zehren von
der Geschichte, aber zugleich fühlen wir unser Leben durch sie
aufs stärkste bedrückt und möchten uns dieser Last entledigen; in-
dem wir aber das unternehmen, drohen wir der Leere des bloßen
Augenblicks zu verfallen, und flüchten vor solcher Gefahr doch
wieder zur Geschichte zurück. So schwanken wir zwischen dem
einen und dem anderen hin und her, eine Lage, die zielbewußtes
Handeln und glückliches Schaffen unmöglich gedeihen läßt. Be-
trachten wir etwas näher, was in eine solche Lage führte.
Das 19. Jahrhundert wird in seinem Verhältnis zur Geschichte
vom Gegensatz zur Aufklärung mit ihrem Rationalismus beherrscht.
Aus verworrenen Verhältnissen hatte die moderne Menschheit einen
Ausweg durch ein Zurückgehen auf eine allen innewohnende Ver-
nunft gesucht; nur ihre kräftige Belebung schien das menschliche Da-
sein von Veraltetem und Irrigem gründlich befreien, sowie das
Leben von kindlicher Befangenheit und dumpfer Gebundenheit zu
voller Mündigkeit und Klarheit erheben zu können. Die Vergangen-
heit mit ihrer Autorität versank gegenüber der Forderung, das Leben
und Wirken in eine zeitlose Gegenwart des Denkens zu stellen;
unbeirrt durch die Überlieferung, meist in bewußtem Gegensatz zu
ihr, schuf die Vernunft eine »natürliche" Religion, eine ;, natürliche"
Moral, ein «natürliches" Wirtschaftsleben, eine «naturgemäße« Er-
ziehung. Das hat die Gemüter überwältigend fortgerissen und in
die Gestaltung des Lebens tief gewirkt; was es daraus an Frische,
Freiheit und Selbständigkeit gewann, das konnte trotz aller Be-
fehdung und Verdunklung nicht wieder verloren gehen. Aber von
Anfang an trug jenes Streben Problematisches in sich, das im
254 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Laufe der Zeiten wuchs und endlich einen Rückschlag hervorrief.
Das jugendliche Kraftgefühl, mit dem die Aufklärung einsetzte, gab
ihr die freudige Zuversicht, einer absoluten Wahrheit nahe zu sein;
den überkommenen Verhältnissen konnte sie nicht so siegesgewiß
entgegentreten ohne ein festes Vertrauen auf das unmittelbare Walten
einer Vernunft in der Wirklichkeit und im Menschenwesen. So
schien denn in jedem Einzelnen die Vernunft angelegt und durch
eine kräftige Selbstbesinnung leicht erreichbar; eine Klärung, eine
Erhebung zu voller Bewußtheit dünkte genügend, um das Gute und
Wahre zur Herrschaft zu bringen. Damit ward die Lebensarbeit
vornehmlich auf Denken und Erkennen gestellt, die Kultur erhielt
einen einseitig intellektuellen Charakter; beim Nachlassen des ersten
Aufschwungs zog ein verstandesmäßiges Räsonnement das Leben
mehr und mehr an sich, stellte zwischen den Menschen und die
Dinge sein Erwägen und seine Zwecke und gefährdete damit immer
stärker einen inneren Zusammenhang mit der Welt und eine Un-
mittelbarkeit des Lebens. Die Wirklichkeit, die daraus hervorging,
ward schließlich als zu eng und seelenlos empfunden, der Lebens-
drang schlug um und verlangte mehr Inhalt sowie mehr Betätigung
des ganzen Menschen; ein Hauptstück dieses neuen Lebens aber
bildet die Wendung zur Geschichte.
Denn was zu ihr trieb, war vor allem ein Durst nach mehr
Wirklichkeit, nach einem breiteren Grunde des Daseins, nach mehr
Anschauung und mehr Lebensfülle, auch nach mehr Verbindung der
Mannigfaltigkeit zu großen Zusammenhängen. Wie viel gesättigter
das Leben dadurch ward, das zeigen alle einzelnen Gebiete, Recht
und Religion, Kunst und Wissenschaft; unendlich viel mehr Wirk-
lichkeit, die sonst ungenutzt verblieb, ist hier dem eignen Tun ver-
bunden. Das Ganze der Arbeit erzeugt eine historische Denkweise
und verändert damit den Charakter des Lebens. Es reißt sich hier
nicht der Mensch, wie in der Aufklärungszeit, von seiner Umgebung
los und stellt sich ihr schroff gegenüber, um sie wie etwas Fremdes
zu beherrschen, sondern er ersehnt eine innere Einheit mit ihr,
damit ihr Leben in ihn überströme und ihn von aller Kleinheit be-
freie. Damit gewinnt sein Dasein wie mehr Weite, so auch mehr
Ruhe, aus den Dingen wächst dem Menschen eine Vernunft entgegen,
deren Führung er getrost sich anvertrauen darf. Das rückt ihm
auch die früheren Zeiten nahe und läßt in ihnen die mannigfachste
Verwandtschaft finden; die eigne Zeit erscheint als die Spitze eines
Geschichte. 255
Gesamtbaus, der alle Zeiten umfaßt; von solcher Spitze aus erscheint
alles Frühere als ein allmähliches Ansteigen zur Höhe, auch in dem
Niederen wird nicht sowohl der Abstand und Gegensatz, als die
Annäherung und Vorbereitung gesehen; es kann mehr Verständnis
und mehr Liebe finden, wenn die Schroffheit einer absoluten
Schätzung, wie sie dem Reformationszeitalter und auch der Aufklär-
ung eigen war, einer universaleren und versöhnlicheren Denkweise
weicht. Keine Zeit hat solchen Umschwung der Behandlung stärker
erfahren als das Mittelalter.
Diese mehr relative Behandlung besagte aber zu Anfang keines-
wegs ein Sinken zum Relativismus und eine Preisgebung einer ab-
soluten Wahrheit. Denn ein stolzes Selbstbewußtsein ließ die geistige
Kraft sich allem Zustrom des Stoffes gewachsen und seiner Assimi-
lierung fähig fühlen. Die Vernunft zog, wenigstens in der Denk-
weise der Philosophen, unter eigner innerer Erweiterung weit mehr
die Geschichte an sich, als daß sie sich ihr unterworfen hätte.
Diese Denkweise hat den großartigsten und durchgebildetsten Aus-
druck in der Geschichtsphilosophie Hegels gefunden; alle Spannung
zwischen Vernunft und Geschichte scheint glücklich überwunden,
indem die Geschichte ganz und gar zur Entwicklung der Vernunft
wird, diese aber in solcher Entwicklung ihr Wesen findet.
Welche Bedenken diese Konstruktion der Geschichte erregen
mag, die Überlegenheit der Vernunft und damit die geistige Aktivität
wurde dabei kräftig gewahrt. Minder besorgt war dafür eine Be-
handlung der Geschichte aus der Denkweise der Romantik. Denn
hier schien ein unbewußtes Walten und Weben die Bewegung her-
vorzubringen, aus der Vergangenheit schien dem Menschen ein
Strom der Vernunft mühelos zuzufließen und ihn sicher mit fortzu-
tragen; mit der Hingebung an diesen Strom schien sein Leben und
Streben in sichere Bahnen geleitet. Das schwächte die Aktivität
und verkümmerte das Recht der lebendigen Gegenwart; indem man
sich in vergangene Zeiten einlebte und diese dabei idealisierte, ver-
schloß man sich leicht den Aufgaben der eignen Zeit. Schon hier
erscheint die Gefahr, daß der Erweiterung des Gesichtskreises durch
die Geschichte nicht die Kraft des Zusammenhaltens und Aneignens
entspricht, und daher der Mensch bei äußerem Gewinn im Kern
seines Lebens Schaden erleidet.
Dann kam die dem 19. Jahrhundert eigentümliche Wendung
von den Problemen des inneren Menschen und des geistigen
256 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Schaffens zur Arbeit mit ihrer Richtung auf das Gegenständliche der
Dinge; bei der Geschichte besagte das ein siegreiches Vordringen
der exakten Forschung gegenüber der Konstruktion in nur um-
rissenen Gesamtbildern. Diese Wendung hat eine besondere Be-
wußtheit in Deutschland gewonnen, da sie hier gegen das Über-
wiegen einer spekulativen Behandlung ihr Recht erst erstreiten mußte
Namentlich erhob sich gegen die Hegeische Konstruktion der Ge-
schichte ein Verlangen nach mehr Weite, Tatsächlichkeit und Indi-
vidualität. Jene erschien als zu eng schon dem äußeren Gesichts-
kreise nach, indem ihre Begriffe im Grunde nur die europäische
Kulturwelt umspannten und sich namentlich um den Gegensatz von
Altertum und Neuzeit bewegten; sie litt aber auch an einer inneren
Enge, indem sie die Individualität und Positivität der einzelnen Er-
scheinungen aufs stärkste abschwächen mußte, um sie ihrem dialek-
tischen Gefüge einordnen zu können. Das neue Verlangen nach
reiner und unbegrenzter Tatsächlichkeit sah darin eine Vergewaltigung
und eine Verfälschung der Dinge; mit um so glühenderem Eifer
wurde die historische Forschung als eine Befreiung davon ergriffen.
Diese Forschung hat jenes Verlangen nach Weite und Tatsäch-
lichkeit in vorzüglicher Weise in Arbeit und Leistung umzusetzen
verstanden, sie hat für diese Arbeit neue Methoden ausgebildet, sie
hat durch Inhalt und Form eine eigentümliche Denkweise erzeugt
und wirkt damit stark auf das Leben der Neuzeit. Diese Forsch-
ung will keineswegs Philosophie sein, geht doch ihr Hauptanliegen
dahin, die Geschichte von aller Bevormundung durch die Philo-
sophie zu befreien und allein auf die eigne Kraft zu stellen; aber
die Arbeit hätte unmöglich so siegreich vordringen und die Hin-
gebung des ganzen Menschen gewinnen können, ohne bestimmte
Überzeugungen in sich zu tragen und anzuregen. Die Forschung
kann nicht das Verlangen nach einem reinen Tatbestande entwickeln
und verfechten, ohne zu gewahren, wie viel zwischen dem Menschen
und jenem Tatbestande liegt, ohne vielfacher Subjektivität sowohl
der Überlieferung als der eignen Auffassung innezuwerden; so wird
ein energischer Kampf zur Austreibung dieser Subjektivität unter-
nommen, sein Gelingen läßt das Leben mehr Ruhe und Klar-
heit gewinnen. Indem jenes Streben nach Tatsächlichkeit eine
grenzenlose Fülle individueller Bildungen aufdeckt, und indem sich
ihm der Lauf der Zeiten nicht mehr an Einen Faden reihen läßt,
vielmehr ein unermeßliches Gewebe durcheinanderlaufender, kaum
Geschichte. 257
entwirrbarer Fäden ersichtlich wird, kann das Unvermögen des
Menschen, das alles von innen her zu durchschauen und in einfache
Begriffe umzusetzen, nicht mehr zweifelhaft sein; so wird ihm eine
bescheidene Zurückhaltung geboten, nicht mehr darf er von sich
aus die Tatsachen zurechtlegen und abrunden wollen. Aber indem
er statt zu herrschen zu dienen hat, erfährt sein Leben eine uner-
meßliche Bereicherung, eine gründliche Befreiung von alter Enge.
Das alles schien zunächst ein reiner Gewinn und ohne Ver-
wicklung. Aber Verwicklungen erschienen gar bald, und aus dem
Gewinn des Wissens drohte ein Verlust des Lebens zu werden.
Die Objektivität, die gefordert wird, ist keineswegs einfach. Be-
sagt der reine Tatbestand der Dinge nur das, was sie ohne alle
Beziehung zum Subjekt, ohne alles Wirken des Denkens sind, so
wäre auf alles Innere bei ihnen zu verzichten, denn dieses ist einmal
nicht zu fassen ohne ein Aufgebot eignen Denkens, ohne ein Nach-
erleben und Miterleben. Auch eine Scheidung von Großem und
Kleinem, von Wesentlichem und Nebensächlichem in der Geschichte
ist nicht wohl möglich ohne Maßstäbe, die aus dem Ganzen einer
Überzeugung hervorgehen müssen.^ Eine Geschichte aber ohne
Innerlichkeit und ohne Abstufung müßte ein chaotisches Neben- und
Durcheinander werden, das kaum mehr Wissenschaft heißen könnte.
Wie wenig die Geschichte, bei aller Abweisung der Philosophie, ge-
wisser Grundüberzeugungen entbehren kann, das bekundet mit voller
Deutlichkeit der neuerdings immer stärker wogende Streit über den
Hauptinhalt und die bewegenden Kräfte der Geschichte. Aber woher
diese Überzeugungen nehmen, nachdem alle Philosophie verneint
ist? Die Zeit hat sich in zwiefacher Weise geholfen oder vielmehr
beholfen. Einmal erhält sich unverkennbar, wenn auch versteckt
und abgeschwächt, ein Einfluß derselben spekulativen Denkart, die
als Ganzes aufs schroffste abgelehnt wurde. Hegel wird perhorresziert,
aber irgendwelches Innewohnen der Vernunft in der Geschichte,
irgendwelche innere Notwendigkeit des Fortschritts, irgendwelche
führende Stellung der Intelligenz bei diesem Prozesse hält man
unbedenklich fest. Es ist das ein Stück einer allgemeineren Er-
scheinung im Leben der Gegenwart. Die pantheistische Denkweise,
* S. darüber die vortrefflichen, besonnen abwägenden und selbständig
urteilenden Werke von Arvid Grotenfelt „Die Wertschätzung in der Ge-
schichte" 1Q03, und „Geschichtliche Wertmaßstäbe in der Geschichtsphilo-
sophie bei Historikern und im Volksbewußtsein", 1905.
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 17
258 2[u den Problemen des MenschenleDens.
die aus der Bewegung der Neuzeit hervorging, und die früher eine
feste Überzeugung, auch eine freudige Lebenstimmung hinter sich
hatte, erhält sich in mannigfachen Wirkungen, auch nachdem ihre
Grundlage unsicher wurde. Begriffe wie Geist, Vernunft, Fort-
schritt, Humanität u. s.w. verbleiben und liefern dem Denken ge-
wisse Richtungen wie Wertschätzungen. Nur ist nach Erschütterung
jener Grundlage alles blaß und schattenhaft geworden, aus leben-
digen Kräften wurden Schattenbilder, aus fruchtbaren Ideen leere
Redensarten. Das Ganze muß um so unwahrer werden, je mehr
solche Überzeugungen unsere Seele gewinnen, welche jener Grund-
überzeugung schnurstracks widersprechen. Der kräftigste Vertreter
solches Widerspruchs ist der Pessimismus, der im Verlauf des
19. Jahrhunderts immer weiter um sich gegriffen hat. Indem er
das Dunkle und Unvernünftige unserer Welt und mit ihr der Ge-
schichte voll zur Empfindung bringt, zerstört er unbarmherzig den
verklärenden Glanz, den der Pantheismus dem Dasein' verlieh; viel
zu energisch hat er uns allen neue Gruppen von Tatsachen vor die
Augen gerückt, neue Durchblicke des Ganzen eröffnet, als daß der
alte Glaube an die Vernunft unserer Wirklichkeit schlechthin ver-
bleiben könnte. Ein merkwürdiger Widerspruch liegt hier vor: die
Stimmung der Menschheit verdüstert sich, Menschen wie Schick-
sale machen einen trüberen Gesamteindruck, die Widersprüche des
Daseins fallen uns grell ins Auge. Aber zugleich hält die Arbeit
der Zeit jene pantheistische Denkweise mit ihrer Idealisierung der
Dinge fest, sie klammert sich daran wie an den einzig möglichen
Halt, um nicht völliger Nichtigkeit zu verfallen. Der Pessimismus
dort und der Optimismus hier gewähren ein Beispiel für jene Ent-
zweiung von Seele und Arbeit, für jene Zerklüftung des ganzen
Menschen, woran das moderne Leben leidet
Aber es gibt noch eine andere Weise, in der die Gegenwart
sich des Problemes erwehrt: sie setzt den Zeiten gar keine be-
stimmte Denkweise entgegen, sondern sucht ein Urteil über sie und
ein Maß für sie lediglich aus ihnen selbst zu gewinnen, an ihnen
selbst zu entwickeln und zu erweisen; so ganz möchte sie sich in
jene versenken und einfühlen, daß sie lediglich aus ihrer eignen
Denkweise verstanden und gewürdigt werden. In dieser Richtung ist
viel Bedeutendes geleistet; nie war eine Zeit so bereit und auch so
geschickt, fremden Zeiten ihr volles Recht zu geben, ihnen ihr
innerstes Wollen abzulauschen, ihnen einen Zusammenhang nicht
Geschichte. 259
von draußen her aufzudrängen, sondern ihn aus ihrem eignen
Wirken und Wollen hervorzulocken, dabei mit gleicher Liebe sich
in das Verschiedenste und Widersprechendste hineinzuversetzen. Ob
wir in Wahrheit bei solchem Streben aller eignen Art uns ent-
äußern, ob nicht trotz aller Abwehr in die vermeintliche Objek-
tivität unsere Subjektivität miteinfließt, darüber werden spätere
Zeiten besser urteilen als wir selbst. Eine Gefahr aber und eine
Schädigung erfahren wir selber deutlich genug: es ist die Abschwäch-
ung unseres eignen Wollens und Wesens durch jene Beflissenheit,
fremder Art uns anzuschmiegen und anzupassen. Indem bei der
unermeßlichen Erweiterung des Horizontes Mannigfachstes und Ver-
schiedenartigstes auf uns eindringt, uns bewältigt und seine Farbe
verleiht, wird unsere Seele zu einer Bühne, auf der alle möglichen
Personen auftreten und ihre Rolle. hersagen; wir vergessen, daß die
Ausdehnung unseres Vorstellungskreises keineswegs schon ein Weit-
werden unseres Lebens bedeutet, und neigen dahin, gelehrtes Wissen
für geistiges Leben einzusetzen; wir geraten in Gefahr, über jenem
Mitleben, das schließlich immer ein Halbleben bleibt, ein eignes und
volles Leben, ein klares Denken und festes Wollen mehr und mehr
einzubüßen; die geistige Synthese, die wir an allen früheren Zeiten
aufzusuchen bemüht sind, vermögen wir an der eignen nicht zu
vollziehen.
Am meisten ersichtlich wird unsere Schwäche bei dem Ver-
suche, einen Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart, von
fremdem Streben zu unserem eignen zu finden. In der Vergangen-
heit fühlen wir uns sicher zu Hause, wir durchschauen, wie alles
gekommen ist, wir verstehen, wie das eine aus dem anderen ent-
sprang, entspringen mußte, wir verfolgen solche Betrachtung bis an
die Schwelle der Gegenwart; nur ein einziger kleiner Schritt, und
die Verbindung ist hergestellt, der Ertrag der langen Arbeit kann
sich uns mitteilen und in eignes Leben verwandeln. Aber merk-
würdig genug — dieser kleine Schritt will nicht gelingen, die Kluft
verbleibt, Wissen und Leben kommen nicht zusammen. Ja der Fort-
schritt des historischen Wissens hemmt die Verbindung der Geschichte
mit dem Leben. Denn je deutlicher die Wissenschaft die Eigen-
tümlichkeit fremder Zeiten herausstellt, desto mehr zeigt sie die Ge-
bundenheit ihres Gehalts an besondere Lagen, desto schärfer zieht
sie ihre Grenzen gegen andere Zeiten und Denkweisen, desto
zwingender verbietet sie ein einfaches Überströmen fremden Lebens
17»
260 Zu den Problemen des Menschenlebens.
in das eigne. Diese Spannung zwischen Wissen und Leben kommt
auch darin zum Ausdruck, daß die Forschung besondere Liebe weit-
entlegenen Zeiten spendet und dort die glänzendsten Triumphe
feiert Denn dort kommt minder zur Sprache, wie die Sache zum
eignen Leben steht; je mehr wir uns aber der Gegenwart nähern,
desto unabweisbarer wird diese Frage und desto peinlicher unsere
Unsicherheit. Nirgends ist solche Kluft zwischen Wissen und Leben,
zwischen Vorbedingungen geistigen Lebens und geistigem Leben
selbst schroffer als auf dem Gebiete der Religion. Wie weit ist heute
die Religionsforschung fortgeschritten, wie viel präziser stehen
namentlich die großen Religionen und innerhalb ihrer die einzelnen
Phasen vor unseren Augen, wie umflutet uns hier eine Fülle
anschaulicher Tatsächlichkeit! Aber wie wehrlos sind wir gegen-
über dieser Tatsächlichkeit, wie wenig gewinnen wir aus ihr für
unsere eignen religiösen Überzeugungen, unser eignes religiöses
Leben, wie groß ist hier unsere Hilflosigkeit! Und sie wird es
bleiben, solange wir nicht die Kraft zu eigner Gestaltung des
Lebens finden; daß wir sie aber finden, daran hindert uns vor allem
die Geschichte, indem sie uns am bloßen Schein eines Besitzes
haften läßt, indem sie uns durch unablässige Befassung mit fremden
Dingen eignen Denkens und eigner Verantwortung entwöhnt, indem
sie gelehrtes Wissen für Leben einsetzt.
Kein Wunder ist es daher, daß von Zeit zu Zeit eine leiden-
schaftliche Bewegung gegen die Geschichte aufwallt, daß auch heute
wieder ein Zorn gegen den entnervenden Historismus mit seiner
Verstrickung in ein Halbleben um sich greift. „Werft die Bürde der
Vergangenheit von euch und stellt das Leben ganz und gar in die
Gegenwart; dann wird es wieder frisch und wahrhaftig, dann erst
wird es euer eignes Leben werden." Ja, wenn solches Abschütteln
so einfach wäre und nicht mit der erstrebten Befreiung vieles ver-
loren ginge, auf das sich nicht wohl verzichten läßt! In Wahrheit
hält die Geschichte uns weit fester als jene Gegner meinen, sie hält
uns fest auch gegen unseren Willen. Denn die Opposition ist selbst
ein Erzeugnis einer geschichtlichen Lage und erhält daraus eine
eigentümliche Färbung, ihr Nein trifft besondere Schäden, und auch
ihr Ja trägt das Gewand der besonderen Zeit. Solche geschichtliche
Bedingtheit auch geschichtsfeindlicher Bewegungen wird deutlich
empfunden, sobald der Verlauf der Dinge über sie hinausgeführt
hat Wie rasch ist z. B. die Aufklärung, die alle geschichtliche
Geschichte. 261
Bindung abstreifen und das Leben gänzlich aus zeitloser Vernunft
gestalten wollte, selbst zu einer geschichtlichen Größe, einer histo-
rischen Kategorie geworden, wie viel in ihr berührt uns jetzt wie
eine ferne Vergangenheit, ein vergilbtes Dokument! Wer das Ganze
der Geschichte überschaut, dürfte eine Art Wellenbewegung zwischen
Anschluß und Verwerfung gewahren und zugleich sich überzeugen,
daß die Verneinung genau so gut zur Geschichte gehört wie die
Bejahung, daß der leidenschaftliche Ansturm gegen die Geschichte
mit seiner Neigung, das Gegenteil des Vorgefundenen zu behaupten,
weniger eine echte Unabhängigkeit gewährt, als nur die Art der
Abhängigkeit verändert. - Immerhin macht es einen erheblichen
Unterschied, ob das bewußte Streben des Menschen mit der Ge-
schichte, oder ob es gegen sie geht. Beim Widerspruch wird das
Leben gehießen, lediglich aus der unmittelbaren Gegenwart zu
schöpfen und als wahr nur anzuerkennen, was sich dem Denken und
Empfinden jedes Einzelnen überzeugend dartut. Aber wird bei
solcher Absteckung das Leben nicht eng und arm? Wird es nicht
zur Oberfläche gedrängt und in lauter einzelne Erscheinungen zer-
legt, wenn das dem bloßen Individuum Gegenwärtige als Maß alier
Dinge gilt? Leidet dabei die innere Selbständigkeit, der geistige
Charakter des Lebens nicht schwersten Schaden? Die Aufklärung
liefert ein anschauliches Beispiel davon. Denn zu einer festgegrün-
deten, der Natur gewachsenen Geisteswelt ist sie nicht gelangt; auch
diejenigen unter ihren Denkern, die mit größtem Eifer die Über-
legenheit des Geisteslebens gegen die Natur verfochten, sind im
Ausbau ihrer Gedankenwelt immer wieder dem Einfluß von Natur-
begriffen erlegen, gewiß mit aus dem Grunde, weil sie die Ge-
schichte mit ihrem reichen Gehalt, ihren festen Zusammenhängen,
ihren vertiefenden Erfahrungen glaubten geringachten zu dürfen.
Gegen die unbegrenzte Welt, die uns von draußen her über-
mächtig umfängt, scheint das innere Leben nicht aufkommen zu
können, wenn es nicht selbst einen Zusammenschluß übersubjektiver
Art gewinnt; dazu aber bedarf es notwendig der Geschichte. Muß
ferner nicht der Versuch, das Leben ganz und gar in die Gegen-
wart zu stellen, sich selbst zerstören, da die Gegenwart unablässig
eine andere wird, das Heute alsbald in ein Gestern umschlägt, und
so schließlich das Ganze in ein Nichts zu verflattern und verwehen
droht? Vor dem Äußersten behütet uns freilich der Umstand, daß,
wie sich zeigte, die Geschichte den Menschen auch gegen seinen
262 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Willen festhält; aber steht es dann nicht so, daß, soweit wir uns
der Geschichte entledigen, wir das Leben verflüchtigen, soweit es
uns aber einen Gehalt bewahrt, wir dieselbe Geschichte widerwillig
bejahen, deren Abschüttelung zur Kraft und Wahrhaftigkeit des
Lebens unerläßlich schien?
So befinden wir uns in einer höchst verworrenen Lage, ja einem
unerträglichen Dilemma: wir können die Geschichte weder festhalten
noch entbehren; wir geraten ins Leere, wo wir sie abschütteln, wir ver-
fallen einem Schattenleben, wo wir uns ihr unterwerfen. Die Durch-
schnittsart mag sich demgegenüber mit Kompromissen behelfen und
an einem Mittelding von Freiheit und Knechtschaft Gefallen finden, eine
energischere Denkweise wird die Unmöglichkeit eines Kompromisses
durchschauen und eine Überwindung des Gegensatzes verlangen. Ist
aber eine Befreiung von der Geschichte möglich, die zugleich eine
Versöhnung mit der Geschichte bedeutet, kann das Leben eine Über-
geschichtlichkeit erreichen und zugleich der Geschichte einen Wert be-
lassen, ist ein Lebenstypus denkbar, der nicht haltlos zwischen dem
Rationalismus des 18. und dem Historismus des 19. Jahrhunderts hin-
undherschwankt, sondern in Ausbildung einer selbständigen Art das
Recht eines jeden anzuerkennen und zugleich zu begrenzen vermag?
Ohne eingreifende Umwandlungen des ersten Anblicks und energische
Fortbildungen des Lebens ist das sicherlich nicht zu erreichen; sehen
wir, ob der Zusammenhang unserer Untersuchung Anhaltspunkte
dafür gewährt. 1
b) Forderungen und Ausblicke.
Die nächste Frage ist die, ob das menschliche Leben sich der
Geschichte irgend zu entwinden und ihr selbständig gegenüber-
zutreten vermag; die Beantwortung dieser Frage aber hängt daran.
^ Alle Erörterung hier soll sich auf diesen einen Hauptpunkt beschränken,
für das Weitere sei auf meine Darstellung der Philosophie der Geschichte in
der „Kultur der G^enwart" (Band: „Systematische Philosophie") verwiesen.
Das Auftauchen mannigfacher Streitfragen und die Leidenschaft, welche ihre
Behandlung hervorruft, bekundet jedenfalls deutlich, daß uns der Inhalt der
Geschichte wie unser Verhältnis zu ihr wieder unsicher geworden ist; wie
hätte sonst in neuester Zeit die Geschichtsphilosophie wieder so mächtig
emporsteigen können, die vor kurzem noch den meisten als erledigt und
abgetan galt?
Geschichte. 263
wie über das Ganze des menschlichen Lebens gedacht wird, sie ent-
hält notwendig ein Bekenntnis vom Kern dieses Ganzen. Gehört
der Mensch ganz und gar zur Natur — daß er es zum guten Teil
tut, steht außer Frage — , so bleibt er unrettbar dem Strom der Zeit
verfallen und kann daraus nie zu einem eignen Leben gelangen.
Überschritte er ferner die Natur nur durch einzelne Eigenschaften,
die nicht im Ganzen eines Lebens und Seins gegründet wären, so
käme er vielleicht zu irgendwelchem Weiterstreben, aber nie zu einer
wahrhaftigen Befreiung von der Zeit. Die einzige Möglichkeit dessen
gewährt das Bestehen und die Anerkennung einer selbständigen
Geisteswelt, wie sie den Hauptvorwurf unserer ganzen Untersuchung
bildet. Denn wie schon beim Problem der Entwicklung ersichtlich
wurde, ist die Erhebung über die Zeit und ein Wirken aus zeit-
loser Ordnung dem Geistesleben wesentlich und unentbehrlich.
Durchgängig wird hier dem Streben die Richtung auf ein zeitlos
Gültiges gegeben, nie kann hier die Wirkung und Anerkennung auf
dem Boden der Geschichte eine Wahrheit und ein Recht begründen,
sondern die Wahrheit will hier unmittelbar, von einem ursprüng-
lichen Leben her dargetan sein. So kann in diesem Gebiete nie
die Vergangenheit die Gegenwart ersetzen, und nie das Heute dem
Gestern wie eine Frucht der Blüte entwachsen. Denn was frühere
Zeiten an geistigem Leben erzeugten, das besteht keineswegs dadurch
fort, daß es einmal da war; es gilt hier nicht das Beharrungsgesetz
der Natur, wonach jedes Ding den vorhandenen Zustand einhält, bis
es von außen her darin verändert wird. Vielmehr gilt hier die andere
Ordnung, daß sofort sinkt und immer weiter sinkt, was nicht immer
von neuem in eignes Leben und Tun verwandelt wird. Das besagt
zugleich, daß alles Geistesleben aus unmittelbarer Gegenwart hervor-
gehen muß, daß jede Verdunklung dessen eine Abschwächung seines
unterscheidenden Charakters bewirkt. Auch innerhalb der mensch-
lichen Erfahrung ist deutlich genug, daß weniger die Vergangenheit
über die Gegenwart als diese über jene entscheidet, daß sich dem-
nach mit der geistigen Art der Gegenwart das Bild der Vergangen-
heit unablässig verschiebt. Wie verschiedenes wurde am klassischen
Altertum gesehen und geschätzt, je nachdem, was das eigne Leben
an Aufgaben und Bedürfnissen enthielt. Die Scholastik suchte in
ihm eine weltliche Kultur zur Ergänzung einer religiösen Lebens-
ordnung, die Renaissance eine Unterstützung ihres Verlangens nach
Leben und Schönheit, die Aufklärung schätzte an ihm, soweit sie es
264 Zu den Problemen des Menschenlebens.
schätzte, die Klarheit und Nützlichkeit/ der deutsche Humanismus
flüchtete sich zu ihm aus der Verwicklung modernen Lebens als
zu einer lauteren, einfachen, großen Natur. So erschloß das Alter-
tum jedem verschiedene Seiten, aber es gab und gibt auch viele,
denen es inmitten aller Emsigkeit gelehrter Beschäftigung geistig gar
nichts erschließt, nichts erschließen kann, weil sie ihm kein eignes
Leben entgegenbringen. Daran also liegt alles, und so bleibt die
entscheidende Hauptsache immer der Besitz einer Gegenwart, einer
geistig ausgeprägten Gegenwart Die Prägung aber kann niemand
anders vollziehen als wir Lebenden und Handelnden selbst. Eine
geistige Gegenwart fällt uns nicht zu, sie will von uns selbst ge-
bildet sein, auch ist sie kein bloßer Augenblick, sondern eine Be-
festigung gegenüber dem Augenblick, ein Leben zeitloser Art.
Ein solches Leben wäre aber nun und nimmer erreichbar, ja
selbst das Streben danach würde eine Torheit, bestände nicht eine
ewige Ordnung als eine neue Art der Wirklichkeit, und wäre sie
nicht auch innerhalb unseres Lebensbereiches irgendwie gegenwärtig.
Denn was hülfe uns jene Ordnung, wenn sie nicht auch in uns wirkte?
Ohne das gibt es also keine Befreiung von der Geschichte, während
die Wendung dahin einen sicheren Standort ihr gegenüber erreichen
läßt. Da es uns zu solcher Anerkennung einer selbständigen Geistes-
welt bei allen Problemen drängte, so kann ihre Forderung hier nicht
überraschen. Aber zugleich erscheint eine ungeheure Verwicklung
beim Menschen: jenes Geistige, in dem er letzthin irgendwie wurzeln
muß, steht bei ihm in schroffem Widerspruch mit dem nächsten
Befunde des Daseins. Das Geistesleben ist vor allem ein Ganzes
und stellt alle Mannigfaltigkeit in umfassende Zusammenhänge, das
Menschenleben zerfällt in individuelle Kreise, innerhalb derer die
einzelnen Erscheinungen bunt durcheinander wirbeln; dort treibt die
innere Kraft und Freude der Sache das Handeln, hier herrscht die
natürliche Selbsterhaltung, die in der Berührung mit geistiger Kraft
sich leicht zu einem unbegrenzten Egoismus steigert; der dort gefor-
derten Ewigkeit widerspricht die strenge Gebundenheit des Menschen
an die Zeit, der unaufhörliche Fluß aller Lebenserscheinungen samt
dem raschen Versinken der Individuen; im Geistesleben gewinnt die
Welt einen Inhalt und gestaltet sich zu einem Reiche des Beisich-
selbstseins, der Mensch hingegen scheint geistig leer mid wehrlos
^ Leibniz (s. Foucher de Careil, lettres et opuscules II introd. XXXIII)
liebte die Alten wegen la clarte dans l'expression et l'utilite dans les choses.
Geschichte. 265
gegenüber der Unendlichkeit. Wie läßt sich eine so schroffe Kluft
überwinden?
Das Erste ist sicherlich jene innere Umkehrung des Lebens,
die Erhebung über die bloßmenschliche Art, die Versetzung auf den
geistigen Standort; das tut in Wahrheit alle Arbeit, die auf das
Ganze geht und zum ganzen Menschen wirkt; es braucht hier nur
als Ganzes verstanden und in volle Tätigkeit aufgenommen zu werden,
was mit tausendfachen Wirkungen unser Leben durchdringt. Aber
solche Umkehrung und solcher neue Standort führt nicht ohne
weiteres das neue Leben zu genügender Entfaltung. Es war eine
Überspannung menschlichen Vermögens, wenn man von hier aus
unmittelbar durch ein möglichst energisches Kraftaufgebot alle Geistig-
keit hervorbringen wollte; diese Überspannung hat sich durch die
viel zu blasse und schattenhafte Gestaltung der Welt gerächt, die
daraus hervorging. Nachdem die Schranken des Menschen uns
deutlich genug vor Augen gerückt sind, werden wir nicht so leicht
wieder die Wirklichkeit aus freischwebender Tätigkeit zu konstruieren
versuchen. So bedarf unser Streben nach Entfaltung einer zeit-
überlegenen Geistigkeit einer wirksamen Unterstützung; eine solche
liefert ihm aber die Geschichte. Nicht freilich die Geschichte, wie
sie als ein ungeschiedenes Ganzes an uns kommt; denn dies Ganze als
ein Reich von lauterer Vernunft, eine reine Entwicklung des Geistes-
lebens zu verstehen, darauf haben wir einstweilen verzichtet. Aber
das schließt nicht aus, daß sich innerhalb der Geschichte irgend-
welche Eröffnung des Geisteslebens vollzieht, daß sich eine esoterische
Geschichte von einer exoterischen , eine Geistesgeschichte von der
bloßmenschlichen abhebt; in jener mag ein selbständiges Geistes-
leben hervorbrechen, das durch allen Wandel der Zeiten hindurch
auch zu uns spricht und unser eignes Streben zu fördern vermag.
Am sinnfälligsten erscheint solches Geistesleben an einzelnen Höhe-
punkten, die klassisch heißen, weil an ihnen das Schaffen der bloßen
Zeit und dem bloßen Menschen überlegen wird. Das wahrhaft
Große waren dabei nicht einzelne Gedanken und Bestrebungen,
sondern eine neue Art des Lebens gegenüber den Zwecken und
Meinungen des Alltages; es vollzog sich dabei eine Umkehrung und
mit ihr eine Erschließung geistiger Lebensquellen, geistiger Kräfte
und Notwendigkeiten, eine Befreiung des Menschen von bloßmensch-
licher Art. Gewiß geschah das nicht ohne einen Zusammenhang
mit dem übrigen Leben, nicht ohne mannigfache Vorbereitung und
266 Zu den Problemen des Menschenlebens.
eine enge Beziehung zur geschichtlichen Lage, aber nun und nimmer
war jenes Klassische mit dem, was sein Wesen ausmacht, eine bloße
Summierung und Weiterbildung vorhandener Elemente. Vielmehr
erfolgte in ihm immer ein Bruch und eine Umkehrung, eine Ver-
setzung auf einen neuen Standort, ein Gewinn eines neuen Lebens-
raumes, ein Aufbauen einer geistigen Wirklichkeit. So pflegte denn
auch sein Hervorbrechen schwere Erschütterungen mit sich zu bringen,
und soweit es siegreich wurde, ist es das durch Kampf und Schmerz
geworden, es hat seine Vorkämpfer auch da zu Märtyrern gemacht,
wo das Märtyrertum nicht gerade durch Blut besiegelt wurde. Auch
besagt die äußere Anerkennung, die das Große schließlich zu finden
pflegt, keineswegs einen reinen Sieg und eine Umgestaltung der
menschlichen Lage. Denn jene Anerkennung ist zugleich ein Herab-
ziehen zum menschlichen Dasein und ein Anpassen an die klein-
menschliche Gesinnung; jedenfalls gelangt es hier nur mit einzelnen
Wirkungen, nicht mit dem Ganzen seines Wesens zur Geltung. So
wird im Grunde der Gegensatz nicht aufgehoben, sondern nur ver-
steckt, und durch die ganze Geschichte bleibt echte Geistigkeit und
bloßmenschliche Lebensführung in hartem Streit miteinander.
Nun aber erscheint selbständiges Geistesleben nicht nur an ver-
einzelten Punkten, sondern diese Punkte suchen einen Zusammen-
hang und möchten sich schließlich zum Aufbau eines allumfassenden
Reiches verbinden. Dabei entstehen freilich schwere Verwicklungen
und harte Zusammenstöße. Unter menschlichen Verhältnissen hat
jede Eröffnung des Geisteslebens bemessene Schranken; wie sie das
Problem nur an besonderer Stelle angreift und nur in besonderer
Richtung löst, so wird sie das Ganze des Geisteslebens, das aus dem
tiefsten Grunde des Menschen wirkt, nicht voll befriedigen können;
schließlich wird eine Gegenbewegung entstehen und neue Entfaltungen
hervortreiben. Wiederum bringt das nicht bloß neue Ansichten und
Bestrebungen, sondern Erweiterungen und Vertiefungen des Lebens-
prozesses; es ist der Lebensprozeß und mit ihm die geistige Wirk-
lichkeit selbst, welche durch die Bewegung der Jahrtausende wächst;
es vollziehen sich in ihr Offenbarungen geistigen Lebens, die kein
Erzeugnis der bloßen Reflexion sind, sondern die mit der Macht
der Tatsächlichkeit sprechen, freilich einer Tatsächlichkeit geistiger,
daher erst durch Selbsttätigkeit anzueignender Art.
So wenig diese Eröffnung geistigen Lebens die Breite des
menschlichen Daseins einnimmt, innerhalb der geistigen Arbeit
Geschichte. 267
übt sie Macht und hält ihr eine Höhe vor, ohne deren Erreichung
sie nicht wahrhaft zu fördern und voll zu befriedigen vermag. Was
hinter diesem weltgeschichtlichen Stande zurückbleibt, das mag die
Menschen zeitweilig aufregen und fortreißen, schließlich wird es auf
überlegenen Widerstand stoßen und als unzulänglich befunden werden;
jener weltgeschichtliche Stand wirkt negativ, indem er gewisse Lösungen
als unzulänglich verbietet, er wirkt positiv, indem er gewisse Auf-
gaben stellt und gewisse Anregungen gibt. So kann dem Ganzen
der Menschheit keine Lebensgestaltung genügen, welche nicht die
seelische Vertiefung und den moralischen Ernst in sich aufnimmt,
die das Christentum brachte, aber auch keine, welche die Befreiung
des Subjekts und den Gewinn einer inneren Unendlichkeit verschmäht,
welche die Neuzeit errungen hat.
Demnach liegen in der Geschichte, geistig angesehen, Anweis-
ungen, Aufforderungen, Möglichkeiten; sie wollen angeeignet und
belebt sein, um zu vollen Wirklichkeiten für uns zu werden, aber
sie können das, insofern jenes Geistige, so sehr besondere Nöte der
Zeit es ins Dasein hoben, seinem Kern nach zeitloser und daher
bleibender Art ist; es gilt nur dieses Zeitlose in seiner Kraft und
Eigentümlichkeit zu ergreifen, dann kann es uns zur lebendigen
Gegenwart werden, dann ist die Geschichte kein bloßes Nacheinander
und das Frühere keine bloße Vorbereitung eines Späteren, sondern
dann hat jedes Große wie einen Selbstwert so eine unvergängliche
Wahrheit, auch läßt sich dann über die Vielheit hinaus ein Ganzes
erstreben. Wenn so die Geschichte aus einem bloßen Strom der
Ereignisse zur allmählichen Eröffnung einer Geisteswelt, zum Gewinn
einer zeitüberlegenen Gegenwart wird, so kann das Verlangen nach
einem gehaltvollen Geistesleben durch (sie die kräftigste Unterstützung
finden. Nur gilt es vom Zeitlichen zum Ewigen durchzudringen
und eine Geistesgeschichte von dem sonstigen Chaos abzuheben.
Dieses aber hat seine festen Bedingungen; es fordert zunächst,
daß eine Tiefe des Lebens jenseit der nächsten Existenzform, und
ein Ganzes jenseit der einzelnen Funktionen wirke. Denn nur so
können in den Bewegungen der Weltgeschichte charakteristische
Lebenstypen, mächtige Lebensströme aufkommen, die nicht an die
Besonderheit des sichtbaren Ursprungs gebunden bleiben, sondern
darüber hinaus ins Ganze wirken, wirken mit ausgeprägter Art, nicht
mit vager Allgemeinheit. Nur so läßt im Wandel der Erscheinungen
sich eine innere Einheit erkennen und in die Gegenwart überleiten.
268 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Zu solcher Überleitung und Aneignung gehört aber weiter, daß
die eigne Zeit ein selbständiges Geistesleben entfalte; dazu aber
muß sie sich kräftig bei sich selbst konzentrieren, ihre eigne welt-
geschichtliche Aufgabe, den springenden Punkt des eignen Strebens
erfassen, das was in ihr an Selbständiggeistigem und Zeitüberlegenem
erreichbar ist, energisch herausarbeiten und sich zugleich über den
bloßen Wandel der Erscheinungen sicher erheben. Unser selbst
müssen wir inne werden, um bei anderen Charakteristisches zu ge-
wahren, bei uns selbst Ewiges entdecken, um andere Zeiten und
das Ganze der Geschichte auf ihr Ewiges zu bringen. Hier be-
sonders wird nur dem gegeben, der da hat; hier ist besonders klar,
daß die Vergangenheit die Gegenwart wohl zu erhöhen, nie aber
zu ersetzen vermag.
Soweit derart in der Bewegung der Geschichte eine durch-
gehende Aufgabe entdeckt und durch allen Wandel der Zeit hin-
durch zu einer zeitlosen Wahrheit vorgedrungen wird, muß sich der
Gesamtanblick des Lebens verändern. Nun treiben wir nicht mehr
wehrlos mit dem Strom der Zeit dahin, sondern wir können ihm
gegenüber durch Teilhaben an ewiger Wahrheit eine Ruhe und
Festigkeit gewinnen. Der Lebensprozeß wird sich nun durch die
Erfahrungen der Geschichte hindurch immer gehaltvoller und immer
konkreter gestalten, das Geistesleben selbst in anschaulicherem Bilde
vor Augen stehen, die besondere Art und Lage der Menschheit sich
aufhellen, in dem allen ein charakteristischer Typus und eine be-
harrende Art unseres geistigen Seins zur Entfaltung kommen. Die
Festigkeit, die damit das menschliche Leben im innersten Grunde
erlangt, gibt ihm eine Überlegenheit gegen die bloße Bewegung;
selbst in dem Wandel wird es nun vor allem sich selbst erleben
und sich in seiner eigentümlichen Art bestärken. Mögen die Er-
schütterungen des geschichtlichen Lebens immer wieder in die letzte
Grundlage zurückgreifen und den Menschen von neuem zum Pro-
bleme machen, was schon gesichert schien; mag, was an Ewigem in
uns wirkt, in die Besonderheit der Zeiten eingehen und ihr gemäß
sich gestalten müssen, trotzdem besagt es eine Wendung fundamen-
talster Art, wenn durch das Teilhaben an einer zeitüberlegenen
Geisteswelt ein Ewiges im Kern unseres Lebens gesichert und die
Aufgabe vor allem dahin gestellt wird, dieses in unsere Tätigkeit
aufzunehmen und, was unser geistiges Wesen uns zuweist, in vollen
Besitz zu verwandeln. Denn nunmehr läßt sich danach streben, in
Geschichte. 269
der Geschichte Vergängh'ches und Unvergängliches zu scheiden und
ihr eine geistige Gegenwart zu entringen; sie erscheint nun nicht
mehr als das Ganze, das seinen Zweck in sich selbst hat, sondern
als eine bloße Seite des Lebens und Seins, die nur in Zurück-
beziehung auf eine zeitlose Ordnung einen geistigen Gehalt und
irgendwelchen Sinn gewinnt.
Nun und nimmer läßt sich demnach zu der älteren Art zurück-
kehren, welche das Ewige glaubte in Einem Zuge ergreifen und
völlig durchbilden zu können; die damit gewonnene Ruhe erscheint
uns als eine Erstarrung, als eine Verleugnung der lebendigen Gegen-
wart zugunsten toter Vergangenheit. Aber wir brauchen deshalb
keineswegs der modernen Verflüchtigung alles festen Bestandes 2u ver-
fallen, das Leben in einzelne Augenblicke aufzulösen, damit aber allen
inneren Zusammenhang, alle überlegene Einheit preiszugeben. Denn
wenn unsere Verbindung mit einer Welt zeitloser Wahrheit einen
geistigen Charakter herauszuarbeiten und durch eine Wesensbildung
das Leben umzukehren gestattet, so läßt sich unser Hauptstandort
im Ewigen nehmen, durch alle Zeit hindurch zu einer zeitlosen
Wirklichkeit vordringen, inmitten aller Bewegung ein überlegenes
Beharrende festhalten. Die Vergangenheit ist dann nicht mehr eine
bloße Vergangenheit, sie kann ein Stück einer zeitüberlegenen Gegen-
wart werden und damit eine Sache eignen Lebens, unablässiger
Arbeit bleiben.
Die Wissenschaft muß aus solcher Überzeugung eine eigen-
tümliche Behandlung geschichtlicher Erscheinungen entwickeln, die
am Zeitlichen das Bleibende, am Einzelnen das Ganze sieht und
sucht. So geschah es z. B. in Iherings großem Werk über den
Geist des römischen Rechts, und zwar mit voller Klarheit über die
Art des Verfahrens. Das Augenmerk ist hier «nicht das römische,
sondern das Recht, erforscht und veranschaulicht am römischen"
(3. Aufl., Einl. IX), und es wird demgemäß zur Aufgabe, „das Ver-
gängliche und rein Römische von dem Unvergänglichen und Allge-
meinen zu scheiden" (I, 15). Gewiß kann eine derartige philo-
sophische Behandlung nur den Endpunkt einer langen wissenschaft-
lichen Arbeit bilden, aber wer sie in kleinmütiger Besorgnis vor
ihren Gefahren abweisen wollte, den würde Hegels bekanntes Wort
von der Metaphysik treffen: er will einen Tempel ohne ein Aller-
heiligstes.
Auch in das Leben des Individuums erstreckt sich die neue
270 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Art und gibt ihm eine neue Beleuchtung. Nur so lange ist für den
Einzelnen das Dasein eine rastlose Flucht von Erscheinungen, als
er eines selbständigen Innenlebens entbehrt, nicht irgendwie zu einem
Ganzen persönlichen Seins und geistiger Individualität gelangt.
Denn wo das geschieht und sich damit das Ereignis in ein Erlebnis
zu verwandeln, der Mensch in Werk und Schicksal ein geistiges
Selbst zu erleben vermag, da zieht, was uns irgend bewegt, nicht
wie ein Schatten vorüber und versinkt in den Abgrund des Nichts,
sondern da vermag es Wurzel in uns- zu schlagen. Bleibendes zu
entfalten wie zu fördern, einer zeitüberlegenen Gegenwart sich ein-
zuordnen. Dem Leben eine gehaltvolle Gegenwart zu sichern und
es damit gegenüber dem Augenblick zu befestigen, das bleibt immer
das Hauptziel; in solcher Gegenwart fährt fort zu wirken, was in
Liebe und Leid, in Glück und Unglück je ein Stück selbsteignen
Lebens wurde. Daher haben von jeher geisteskräftige Menschen
über die Flüchtigkeit des Lebens zu klagen verschmäht, da es doch
bei uns selber steht, uns jener Flüchtigkeit zu entwinden und unser
Leben ins Unvergängliche zu stellen. «Ich bedaure die Menschen",
sagt Goethe, «welche von der Vergänglichkeit viel Wesens machen
und sich in Betrachtung irdischer Nichtigkeit verlieren; sind wir ja
eben deshalb da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen."
So kann uns auch das bekannte Woil Dantes nicht als richtig gelten,
daß das größte Elend darin bestehe, sich im Unglück vergangenen
Glücks zu erinnern. Denn war das Glück wahrhaftiges Glück, so
ist es gar nicht zerstörbar, so muß es durch alles Unglück hindurch
mit lebendiger Gegenwart wirken.
Auch die natürlichen Phasen des Lebens, die Lebensalter, er-
scheinen in solchem Zusammenhange nicht als ein bloßes Nachein-
ander. Diese Phasen leben sich weder gänzlich in sich selber aus,
noch gehen sie darin auf, spätere Phasen vorzubereiten, sondern
eine jede bleibt dem Leben innerlich gegenwärtig und wirkt auf
seinen Gesamtstand. Daher ist so wichtig eine frische und freudige
Jugend, eine Jugend wahrhaftiger Art; sie ist mehr als eine Sache
sentimentaler Erinnerung, sie kann ein Stück einer weiteren Gegen-
wart bleiben, eine unversiegliche Quelle frischen Lebens.
Demnach ist der Mensch keineswegs ein bloßzeitliches Wesen;
mit mehr Recht meinten tiefsinnige mittelalterliche Denker, daß er
an der Grenze, dem Horizont von Zeit und Ewigkeit stehe und
teil an ihnen beiden habe. Die Zeit ist für uns weniger ein starres
Geschichte. 271
Schicksal als ein Problem; wie weit aber das Leben sie überwindet
und eine überzeitliche Gegenwart erreicht, das hängt vor allem an
der geistigen Kraft, die es aufzubieten vermag; bei uns selbst steht
es schließlich, ob der Schwerpunkt unseres Seins ins Vergängliche
oder ins Unvergängliche fällt. Allerdings hat dieses Tun zur un-
entbehrlichen Voraussetzung die Wirklichkeit und die innere Gegen-
wart einer geistigen Welt, auch die leidenschaftlichste Erregung des
bloßen Subjekts kann nie einen geistigen Inhalt und mit ihm eine
Zeitüberlegenheit erreichen, und es bleibt für den Menschen alles
Schaffen zugleich ein Empfangen aus unsichtbaren Zusammen-
hängen.
Nach dem allen bedeutet unsere Abweisung des zerstreuenden
und erschlaffenden Historismus keinen Rückfall in den Rationalis-
mus. Das freilich gestehen wir gern, daß, vor eine Wahl zwischen
beiden gestellt, wir den Rationalismus vorziehen würden; denn mag
das von ihm entfaltete Leben noch so eng und einseitig sein, es
ist doch ein eignes Leben und Wollen, während dem Historismus
eine Nachbildung fremden Lebens genügt. Aber es bleibt genug,
was uns vom Rationalismus scheidet. Sein überspanntes Kraftgefühl
verleitete ihn, die Aufgabe zu unterschätzen; seine Verkennung des
weiten Abstandes zwischen dem nächsten Dasein und der Tiefe des
Menschenwesens ließ ihn von einer unmittelbaren Aufraffung er-
warten, was in Wahrheit durchgreifende Vertiefungen und Umwälz-
ungen verlangt; von einer Klärung konnte er nicht wohl alles Heil
erhoffen, hätte er nicht die Vernunft schon in unserem Daseinskreise
vorhan/Jen und lediglich einer Freilegung bedürftig geglaubt. Das
war überhaupt, weit über den Rationalismus hinaus, der Irrtum der
Neuzeit, das Wesen des Geisteslebens in die bloße Erhebung des
Daseins zur Bewußtheit zu setzen; um uns schien dasselbe wirksam,
nur gebunden und dunkel, was in uns zur vollen Freiheit und
Klarheit gelangt. Denn es wurden dabei die großen Widerstände und
V^erwicklungen unseres Weltanblicks ebensowenig gewürdigt, als der
Lebensprozeß in ihrer Überwindung zur nötigen Tiefe vordrang.
Ganz anders stellt sich die Sache, wenn das Geistesleben nicht als
eine bloße Aufhellung der Natur, sondern mit seinem Beisichselbst-
sein als eine wesentlich neue Art des Lebens verstanden wird.
Wenn damit eine weit größere Spannung entsteht, so gewinnt auch
die Geschichte an Bedeutung, nur wird man nicht darauf ausgehen
dürfen, sie in ein Reich der reinen Vernunft zu verwandeln, son-
272 Zu den Problemen des Menschenlebens.
dern zufrieden sein müssen, in ihr irgendwelche Eröffnung der Ver-
nunft zu entdecken.
Auch insofern war die Aufklärung einer Anerkennung der Ge-
schichte wenig günstig, als die Intelligenz, welche dort die Führung
des Lebens hatte, einen viel zu engen und unduldsamen Begriff
der Wahrheit hat. Eine bloß intellektuelle Wahrheit will unmittel-
bar als ausschließlich gelten, es verträgt sich hier nicht Verschiedenes
nebeneinander; der Gegenwart Recht geben, heißt hier die ganze
Vergangenheit ins Unrecht setzen. Wie sich die Lage völlig ver-
ändert, wenn das Intellektuelle auf das Geistige aufgetragen wird,
und wenn in der Geschichte nicht bloß Lehren und Meinungen,
sondern Lebensentfaltungen und Lebenskomplexe zusammentreffen,
in ihr nicht bloß um Bilder der Wirklichkeit, sondern um Wirk-
lichkeiten selbst gekämpft wird, das dürften die früheren Ausführ-
ungen zur Genüge dargetan haben.
Entscheidend ist hier immer der Gewinn einer zeitüberlegenen
Gegenwart mit ihrer Umkehrung des Lebens. Denn nur dadurch kann
die Geschichte mehr als eine Sache gelehrter Forschung werden,
nur dadurch läßt sich verhindern, daß die unbegrenzte Ausdehnung
des Werdens und damit der geschichtlichen Betrachtung einen zer-
störenden Relativismus bewirke. Der Sieg einer geschichtlichen Be-
trachtung ist wohl der größte Triumph der gesamten neueren
Forschung. Nicht nur beim Weltbau und bei den organischen
Formen läßt diese Betrachtung allen vorgefundenen Bestand aus dem
Werden verstehen, sie erstreckt sich bis in die elementarsten Vor-
gänge der leblosen Natur, indem selbst im Gebiet der Physik
weithin das Geschehen in einer bestimmten Folge verläuft, sich
nicht beliebig umkehren läßt. Das menschliche Dasein aber er-
scheint in weit klarerem Bilde, seitdem die Gegenwart als das letzte
Glied einer langen Kette gewürdigt wird, und nicht nur in den
Hauptrichtungen des Strebens manches als veränderlich erkannt ist,
was sonst als ein fester Einsatz galt, sondern auch einleuchtet, wie
der Mensch bis in seine seelische Art hinein von der Besonderheit
seiner Zeit abhängt, wie verschiedene Zeiten verschiedene Menschen
hatten. Ein unermeßlicher Reichtum des Lebens geht damit auf,
das Verständnis wird weit präziser, indem es solchem Reichtum sich
anschmiegt^ Wir dürfen das alles als eine wesentliche Erweiterung
* Wir erinnern nur an Diltheys geistvolle Zeichnungen der Menschen
verschiedener Jahrhunderte; auch Lamprechts Forschungen seien hier nicht
Geschichte. 273
unseres Gesichtskreises, eine Befreiung von der Gebundenheit einer
besonderen Zeit begrüßen. Aber der Gewinn an Wissen kann zu
einem Verlust für das Leben werden, wenn es nicht gelingt, jener
Erweiterung eine Befestigung und dem Wachstum der Zeit eine Ver-
stärkung des Ewigen entgegenzusetzen. Die Geschichte muß uns
das Zweite bleiben, sie darf nie das Erste werden. Wohl wird bei
dieser Überzeugung unser Daseinskreis sich weit unfertiger aus-
nehmen, als er dem Rationalismus und der konstruktiven Geschichts-
philosophie erschien, aber woher sind wir denn dessen gewiß, daß
bei uns der Kreis des Lebens sich schließt, und was schadet die
bescheidnere Fassung, wenn dem Kleinerwerden des Menschen ein
Größerwerden der Wirklichkeit entspricht und das Leben an Tiefe
gewinnt, indem es sich minder einfach darstellt?
Anhang: zum Begriff des Modernen.
Der Begriff des Modernen bewegt und entzweit die Gemüter
heute so sehr, daß einige Erörterung und Aufklärung nicht zu um-
gehen ist. Eine Aufklärung fordert zunächst die Geschichte des
Ausdrucks, über die sehr unklare, wenn nicht irrige Meinungen
im Schwange sind.
Das sachliche Problem reicht natürlich weit über die Prägung
vergessen. Den seelischen Stand der Gegenwart behandelt u. a. R. Baerwald,
„Psychologische Faktoren des modernen Zeitgeistes" (Publikation der Gesell-
schaft für psychologische Forschung). Es hat aber das Problem der Ab-
hängigkeit des Menschen von seiner Zeit von alters her die Gedanken be-
schäftigt und sich schon im 17. Jahrhundert zu einer Streitfrage zugespitzt.
Da sich für uns ein näheres Eingehen auf die Sache verbietet, so sei nur
eine Stelle aus Walchs Philos. Lexikon angeführt (schon in der ersten Aufl.
von 1726) Art. Sitten, S. 2377: „^t\\ nun solche Veränderung (nämlich der
Sitten) fast unvermerkt geschieht, und wir es gemeiniglich nur gewahr
werden, wenn es vorbei ist, daß diese und jene Sitten zu der und jener
Zeit Mode gewesen, so pflegt man solches der Zeit zuzuschreiben. So haben
einige einen genium seculi statuieren wollen, welcher nach den Zeiten die
Gemüter der Menschen lenke und die Sitten der Menschen verändere. Dieser
Meinung ist Barclajus, welcher in icone animor., pag. 505 (John Barclays icon
animorum erschien 1614) sagt: omnia secula genium habent, qui mortalium
animos in certa studia solet inflectere. Mit diesem stimmt überein der un-
genannte Autor, der Germaniam milite destitutam geschrieben, und der so-
genannte Pater Firmianus, von dem ein besonderes Buch unter dem Titel
seculi genius, Paris 1663, 12 heraus(kam)".
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 18
274 Zu den Problemen des Menschenlebens.
des Ausdrucks zurück; wo immer daran lag, das Eigentümliche der
Gegenwart abzugrenzen, da werden sich irgendwelche Bezeichnungen
gefunden haben. ^
In ,/ modern" aber entstand ein beharrender Ausdruck, dessen
Geschicke etwas näher zu verfolgen sich lohnen dürfte. Das Wort
(abgeleitet von modo eben, jetzt) wird besonders geläufig sein,
wenn innere Verschiebungen zum Bewußtsein kommen und die
Menschen entzweien. Dann nennt sich der Freund des Neuen
modern, um seine Überlegenheit gegen solche zu bekunden, die zähe
am Alten haften; der Gegner aber stempelt den Ausdruck zu einem
Schmähwort, das einen Menschen kennzeichnen soll, der ohne Halt
und ohne Pietät den flüchtigen Anregungen des Augenblickes folgt.
Die Geschichte des Wortes läßt ersehen, wann der Streit eine be-
sondere Höhe erreichte, und welcher Punkt es vornehmlich war,
der die Geister schied.
Der Ausdruck erscheint im Übergang vom Altertum zum Mittel-
alter bei dem Grammatiker Priscianus, der im 6. Jahrhundert lehrte,
und bei Cassiodorius, dem Beamten Theodorichs (f um 575).^ In
den folgenden Jahrhunderten findet es sich hie und da. ^ Zu einem
eigentlichen Partei- und Streitwort wurde «modern« seit dem Ende
des 11 . Jahrhunderts, das aber auf dem Gebiete der Logik; es diente
nämlich zur Bezeichnung der Nominalisten, d. h. solcher, welche den
Begriffen des Denkens keine objektive Realität zuerkannten.* „Moderne"
werden aber auch andere genannt, auch einfach die Gelehrten der
* So hat z. B. Aristoteles wiederholt den Ausdruck o! vGv. Met. Q92a, 33
bezefchnet er deutlich die Platoniker seiner Zeit: y£y°^^^ "^^ (xaÖTri'jjiaTa tot;
vGv 1^ (piXodo^fa, ebenso auch lü69a, 26: ol [ilv vüv Ta xaO-o'Xou oüaia? jiocXXov
^iQ-taaiv Toc y*P T^^T xaO^oXou, a (paaiv «px*? "O" ouafa^ etvai (xaXXov Sia to
Xo^ixtü? ^T)T^v Ol 5c Jva'Xat ta xa^ ^xaorov, oTov nup xa\ ytjv, äXX'oü xo xotvov aöJjAa.
* Cassiod. Variarum 4, 51 wird ein Architekt empfohlen als antiquorum
imitator, modemorum institutor.
* Ein Artikel der Historisch-politischen Blätter (139, 5 vom Jahre 1907)
erwähnt einen Brief des Abtes Benediktus Avianensis (geschrieben zwischen
800 und 821), worin es heißt: Unde apud modemos scholasticos, maxime
apud Scotos [ijste Syllogismus delusionis, ut dicant trinitatem sicut personarum
ita esse substantiarum. Mon. Germ. bist. Epist. Carol. Aevi, Tom. II, 563.
* Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande II, 82, führt die älteste
Stelle an, wo die Nominalisten als modemi bezeichnet werden (non juxta
quosdam modemos in voce, sed more Boethii antiquorumque doctorum in
re discipulis legebat, nämlich Otto, seit 1106 Bischof von Cambray).
Geschichte. 275
eignen Zeit. ^ Einen bedeutenderen Gehalt und eine schärfere Zu-
spitzung erhielt die Sache, als seit Johannes von Salisbury die Aristo-
teliker des 13. Jahrhunderts (also namentlich die großen Dominikaner,
wie Albert der Große und Thomas von Aquino, derselbe Mann,
an den jetzt sich alles Antimoderne hängt) Moderne genannt werden,
im Gegensatz zu der mehr durch Plato und Augustin beherrschten
Denkweise, die von der franziskanischen Theologie^ vertreten wurde.
Diese «moderne" Denkweise erschien den Gegnern als eine Über-
flutung der Theologie durch dialektische Sorgen und Spitzfindigkeiten.'^
Später überträgt sich der Begriff wie der Ausdruck Modernität auf
Ockam und seine Schule, »Ockams Lehre blieb die ,moderne' Theo-
logie bis in Luthers Zeit",^ auch Luther hat sich zu ihr bekannt.
Aber es findet sich das Wort auch in anderer Bedeutung. Brüder
vom gemeinsamen Leben vertraten eine devotio modema und ver-
standen darunter eine solche, welche neben der äußeren Haltung
stark die »Innigkeit" betonte, eines der Werke von Johannes Busch
trägt den Titel über de origine devotionis modernae. ^
Das Mittelalter versinkt und die Renaissance eröffnet eine neue
Welt. Aber es dauert, lange, bis was in den Geistern vorgeht, sich
für das Bewußtsein klärt und feste Bezeichnungen annimmt. Natür-
lich konnte der Renaissance „modern" nicht eine neue Art gegen-
über dem Altertum, sondern nur eine neue Art in der Behandlung
des Altertums bedeuten; da zugleich der mittelalterliche Sprach-
gebrauch verblieb, so lief verschiedenartiges bunt durcheinander. Die
epistolae obscurorum virorum stellen das deutlich vor Augen. ^ Je
^ Eine nähere Darlegung dessen hat hier kein Interesse, es mag dafür
auf Prantl verwiesen sein (s. z. B. II, 116ff, 195, 241).
^ Von Roger Bacon werden Alexander von Haies und Albert genannt
duo modemi gloriosi (s. den Artikel Scholastik von Seeberg in Herzogs Real-
enzyklopädie).
^ Der päpstliche Legat Simon de Brion, der tief in die Bewegungen
eingriff, welche damals die Pariser Universität aufregten und beinahe zer-
rütteten, erwähnt tadelnd die modema curiositas, quae plus solito innumeras
multiplicat quaestiones (s. das ausgezeichnete Werk von Mandonnet: Siger de
Brabant et l'Averroisme latin au XIII siede [1899} CCVIII, Anm. 1).
* S. Seeberg, Herzogs Realenzyklopädie, 3. Aufl., XIV, 279.
* S. den Artikel von Gustav Boerner: „Die Brüder des gemeinsamen
Lebens in Deutschland" in den Deutschen Geschichtsblättem von 1905, Juni.
S. namentlich S. 244/5.
* modernus bedeutet hier bisweilen nichts anderes als neu (modernus
episcopus, modernus imperator), auch die ältere Bedeutung aus dem Streit
18*
276 Zu den Problemen des Menschenlebens.
mehr aber die Neuzeit mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts eine
Selbständigkeit und ein Selbstgefühl gewann, desto stärker mußte es
die Gelehrten drängen, das Eigne deutlich von allem Früheren ab-
zuheben und damit die Weltgeschichte anders zu ordnen und ein-
zuteilen als bisher geschehen war. Es ist wohl namentlich der
Aufschwung der Naturwissenschaften und die Blüte der französischen
Literatur gewesen, welches der damaligen Zeit das Bewußtsein verliehen,
etwas neues und allen früheren Zeiten überlegenes zu sein. Das ergab
vor allem den Gegensatz der anciens und der modernes. Perraults be-
kanntes Buch: Parallele des anciens et des modernes (1688 ff.)
behandelt die Ausdrücke schon als eingebürgert, es ist aber bezeich-
nend für das Selbstgefühl, welches das 17. Jahrhundert in seiner
zweiten Hälfte erfüllte.^ War einmal der Gegensatz geschaffen,
so lagen Reflexionen über die eigentümliche Art des Antiken und
des Modernen nahe; wir wissen, wie viel Bewegung das hervor-
gerufen und wie namentlich Schiller einer näheren Bestimmung dieser
Begriffe hingebende und eindringende Arbeit gewidmet hat.
Andererseits hatte das Moderne sich gegen das Mittelalterliche
abzugrenzen, und dazu mußte der Begriff des Mittelalters selbst
erst gebildet sein. Das aber ist spät genug geschehen. Bernheim
bemerkt darüber (a. a. O. S. 69): «Der Bann der Tradition dauerte
trotz einzelner Angriffe doch noch lange fort. Noch ein Sleidan,
der bekannte Historiker des Zeitalters Karls V., nennt seine Chronik
»De quattuor monarchiis" und hält trotz aller von ihm aufgeführten
Zeichen der Auflösung des heiligen Römischen Reiches den Glauben
an dessen Fortbestehen fest, weil eine fünfte irdische Weltmonarchie
nach Daniels Prophezeiung unmöglich sei. Im 17. Jahrhundert kam
der logischen Schulen erhält sich (antiqui et modemi), meist aber bezeichnet
es die Anhänger der neuen humanistischen Denkart, z. B. poetae modemi;
ex quo in Erphordia sumus modemi ; artista de via modemomm. Oft findet
sich der Ausdruck nicht.
^ Es seien aus dem ersten Dialog jenes Werkes nur ein paar Stellen
dafür angeführt: je pretens que nous avons aujourd'hui une plus parfaite
connaissance de tous les arts et tous les sciences, qu'on ne l'a jamais eue. —
Weiter spricht er von dem progres prodigieux des arts et des sciences, depuis
cinquante ou soixante ans. Ferner: il ne faut que lire les joumaux de
France et d'Angleterre et jetter les yeux sur les beaux ouvrages des academies
de ces deux grands royaumes pour etre convaincu que depuis vingt ou trente
ans il s'est fait plus de decouvertes dans la science des choses naturelles, que
dans toute l'etendue de la savante antiquite.
Geschichte. 277
man zuerst zu einer brauchbaren Einteilung des Stoffes. Nament-
lich den Philologen und Literaten drängte sich das Bedürfnis auf,
den augenfälligen Unterschied zwischen der klassischen und mittel-
alterlichen Sprache und Literatur einerseits, der letzteren und der
literarischen Bildung seit der Renaissance andererseits zum stehenden
Ausdruck zu bringen, und es bildet sich so die Bezeichnung media
aetas oder medium aevum für die Literaturepoche von Augustus
oder von den Antoninen bis ins 15. Jahrhundert. Der Hallenser
Professor Christoph Cellarius (1634 — 1707) war es, der in seinen
Kompendien dieses Einteilungsprinzip auf die Geschichte im all-
gemeinen anwandte, indem er unterschied Historia antiqua bis zu
Konstantin dem Großen, und zwar so weit, nicht nur bis Augustus,
weil, wie er ausdrücklich erklärt, die innere und äußere Blüte des
römischen Reiches noch weit über A o^ustus' Zeit hinausreicht; Historia
medii aevi bis zur. Eroberung Konstantinopels durch die Türken;
Historia nova. Und diese Einteilung drang allmählich, wenngleich
nicht' ohne lebhaften Widerstand,^ durch." So war „modern" auch
dem Mittelalter gegenüber abgegrenzt; die weiteren Geschicke des
Ausdrucks auf dem Boden der Neuzeit zu verfolgen, das würde ins
Unbegrenzte führen und ist für unsere Aufgabe keineswegs nötig.
So viel haben wir gesehen, daß der Ausdruck „modern" weit weniger
^ Wie langsam aie Sache sich durchgesetzt hat, und wie sie bis zum
heutigen Tage Streit erweckte, ist wenig bekannt. Ein Artikel der Revue
des deux mondes vom 15. Januar 1907 über den hochverdienten belgischen
Historiker Godefroid Kurth von Georges Goyau bemerkt über das Verhalten
der französischen Akademie zum Ausdruck Mittelalter folgendes: Les cinq
premieres editions du dictionnaire de l'Academie frangaise contiennent au
mot „moyen age" l'article suivant: „On appelle autheurs du moyen äge les
autheurs qui ont ecrit depuis la decadence de l'empire romain jusque vers
le X siecle ou environ." C'est seulement dans la 6e edition (1835) qu'on
lit: „Moyen äge, le temps qui s'est ecoule depuis la chute de l'empire romain,
en 475, jusqu'ä la prise de Constantinople, par Mahomet, en 1453." Kurth
selbst bekämpft den Begriff und Ausdruck Mittelalter sehr entschieden. In
der Schrift Qu'est ce que le moyen äge tritt er dafür ein, einen einzigen
Hauptschnitt mit dem Eintritt des Christentums zu machen, und so behandelt
sein großes Werk Les origines de la civilisation moderne (3. Aufl. 1898) das
Mittelalter als den Beginn der modernen Welt. In jener kleineren Schrift
heißt es: Loin que le moyen äge soit intermediaire entre la civilisation
antique et la civilisation moderne, le moyen äge est lui-meme le commence-
ment de la civilisation moderne. Loin qu'il faille faire descendre le point
de depart de celle-ci aussi bas que l'epoque de la Renaissance, il faut con-
stater au contraire qu'elle sort du christianisme.
278 Zu den Problemen des Menschenlebens.
modern ist, als man gewöhnlich denkt, und daß der Begriff sehr
elastischer Art ist.
Soviel zur Geschichte des Ausdrucks, nun einige Worte zur
Sache! Daß der Begriff des Modernen so viel Bewegung und Streit
hervorruft, kommt letzthin darauf zurück, daß es zum glücklichen
Fortgang der Kulturarbeit sowohl eines Festhaltens des Alten als
eines Aufbringens von Neuem bedarf. Wir würden schwerlich viel
weiter kommen, wenn wir immer von neuem beginnen müßten,
wenn unsere Arbeit nicht geeignete Werkzeuge und leichteste Bahnen
zu sicherem Besitz gewänne, wenn nicht vieles, was zunächst die
volle Anspannung bewußter Tätigkeit fordert, ins Unbewußte und
Gewohnheitsmäßige gebildet würde und damit freie Zeit für vor-
dringendes Schaffen ließe. Wie nützlich, ja unentbehrlich ist z. B.
der Philosophie der reiche Schatz von Begriffen und Kunstaus-
drücken, den die vereinte Arbeit von Jahrtausenden bereitet hat!
Aber die Sache geht noch tiefer. Was an Wahrheit und überhaupt
an geistigem Gehalt erreicht wurde, das konnte die Überzeugung
und Hingebung der Menschen nur gewinnen, indem es sich über
allen Wandel der Zeit hinaushob und alle Veränderung abwies;
soweit wir Wahres echter Art besitzen, stehen wir über dem Fluß
der Zeit. Solcher Denkweise entsprang das Wort:
„Die Wahrheit war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß' es an!"
Das rechtfertigte die Hochschätzung des Alten und die Forder-
ung, die eigne Arbeit eng damit zu verketten, allen und jeden
schroffen Bruch zu vermeiden.^
^ In der Philosophie ergab das den Gedanken einer philosophia perennis,
der, schon in der Scholastik angelegt, mit besonderem Nachdruck von Agostino
Steuco verfochten wurde (er schrieb de perenni philosophia libr. X, Bas. 1542);
Leibniz nahm den Ausdruck auf, gab ihm aber aus der Idee einer stetig fort-
schreitenden Entwicklung einen veränderten Sinn. Neuerdings hat namentlich
Trendelenburg, wiederum in einer eigentümlichen Weise, den Gedanken der
Stetigkeit der philosophischen Arbeit verteidigt: «Die Philosophie", so sagt er,
»wird nicht eher die alte Macht wieder erreichen, als bis sie Bestand gewinnt,
und sie wird nicht eher zum Bestände gelangen, als bis sie auf dieselbe Weise
wächst wie die anderen Wissenschaften wachsen, bis sie sich stetig entwickelt,
indem sie nicht in jedem Kopfe neu ansetzt und wieder absetzt, sondern ge-
schichtlich die Probleme aufnimmt und weiterführt" (Vorwort zur 2. Aufl. der
Log. Untersuchungen, S. Vlll).
Geschichte. 279
Aber der Vertreter des Neuen hat dem manches entgegenzu-
halten. Geistiges überträgt sich nicht so einfach von der einen Zeit
zur anderen, wie äußere Dinge es tun, es will immer von neuem
angeeignet und anerkannt sein, und in der Aneignung wird eine
gewisse Verschiebung sich schwerlich vermeiden lassen. Auch wo
der äußere Bestand derselbe bleibt, wird sich leicht das Ver-
hältnis und die Bewertung der einzelnen Teile verändern, man wird
in dem Alten etwas anderes sehen und etwas anderes an ihm zur
Hauptsache machen. Dazu kom.men neue Lagen und stellen neue
Probleme; der Mensch kann diesen nicht gewachsen werden ohne
auch innerlich weiterzustreben; Kulturen leben sich aus, neue Völker
erscheinen mit neuer seelischer Art; sollte das alles den Stand des
Geisteslebens gar nicht berühren? Ist ferner zweifellos ausgemacht,
daß das überkommene Leben in unantastbarer Wahrheit steht, und
daß der eingeschlagene Weg uns gerade zum Ziele führt? Ja gibt
es ein wahrhaftiges Leben ohne ein eignes Entscheiden, und ein
eignes Entscheiden ohne Zweifel und Kampf, ohne ein Umwandeln
und Weiterbilden?
Was an Verschiebungen erfolgt, mag zunächst innerhalb einer
unantastbaren Welt zu liegen scheinen, ja die Veränderung wird lange
Zeit hindurch überhaupt nicht empfunden. Dann aber kommt ein
Punkt, wo die Spannung übergroß und eine Losreißung vom Alten
für die Frische und die Wahrhaftigkeit des Lebens unerläßlich wird,
wo die geistige Selbsterhaltung einen Bruch mit der Tradition und
ein Schaffen aus unmittelbarer Gegenwart zwingend verlangt. Ob
und wann solche Umwälzungen nötig werden, darüber kann allein
die Erfahrung der Geschichte belehren, sie zeigt sie aber jedem
Unbefangenen deutlich genug. Denn eine solche Umwälzung, viel-
leicht die radikalste von allen, bildet das Eintreten des Christen-
tums mit seiner von Grund aus neuen Schätzung der Dinge; das
gute Recht ainer solchen Umwälzung dürfen auch die Reformation
und die neue Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen. Das
religiöse Leben der Neuzeit hätte seine Kraft und seine Innerlichkeit
nicht gefunden ohne ein selbständiges Neueinsetzen und ein Hervor-
brechen ursprünglicher Kräfte, ebenso wenig hätte die neue Wissen-
schaft mit ihren völlig neuen Ausgangspunkten und Methoden sich
allmählich aus der Scholastik heraus gestalten können. Das mensch-
liche Leben bedarf gewiß einer Kontinuität, aber nicht minder be-
darf es einer Diskontinuität, um in frischem Fluß zu bleiben und
280 Zu den Problemen des Menschenlebens.
seine ganze Tiefe entfalten zu können. Nur das kann bei den Be-
wegungen Sache des Streites sein, ob in ihr geistige Notwendigkeiten
wirken und walten, oder ob dabei nur ein menschliches Bedürfnis
nach Abwechslung in Frage steht.
Das nämlich ist nicht zu leugnen, daß nicht alle Wandlung aus
solchen geistigen Notwendigkeiten entspringt, daß im menschlichen
Dasein, namentlich im gesellschaftlichen Zusammenleben, auch ein
mehr subjektives Müdewerden des Menschen am Alten, ein Be-
dürfnis nach Veränderung wirkt, wie es besonders greifbar die Tat-
sache der Mode zeigt. Dabei entfernen die Zeiten sich weit von-
einander, die einen fühlen sich wohl, indem sie ruhig die alten
Wege verfolgen, andere zeigen eine eigentümliche Unruhe, ein Un-
behagen an allem, was vorgefunden wird, eine Vorliebe für alles,
was an Neuem sich regt. Diese verschiedene Art hängt sicherlich
auch mit dem Stande des Geisteslebens zusammen, jene Unruhe
bezeugt eine Kluft zwischen inneren Notwendigkeiten und äußerem
Besitz, aber solcher Lage bemächtigt sich leicht die Neuerungssucht
des bloßen Menschen und entwickelt eine Neigung, das Alte zu ver-
werfen, weil es alt, das Neue zu feiern, weil es neu ist.
Demnach giU es zwischen Modernem echter und unechter Art
zu scheiden, einem Modernen, in dem eine geistige Notwendigkeit
wirkt, und einem Modernen, das bloßmenschlicher Lust und Laune
sein Dasein verdankt. Grundverschieden sind die Wirkungen und
Aussichten beider. Erzeugt die Bewegungen nur ein Verlangen der
Menschen nach Veränderung, ein Hin- und Herschwanken der
Stimmung, so mögen sie die Oberfläche noch so sehr erregen, sie
dringen nicht durch bis zur Tiefe und gewinnen keine Kraft des
Schaffens, derselbe Wind, der sie brachte, wird sie bald auch wieder
verwehen, und der rasche Wechsel, der leicht die Menschen von
einem Extrem ins andere umschlagen läßt, muß schließlich eine
starke Ermüdung bewirken; traurig das Leben des Menschen wie
der Zeit, das an solchem Modernen haftet.
Völlig anders steht es, wenn ein Modernes echter Art eine
Wendung des weltgeschichtlichen Lebens vertritt und ihrem Wahr-
heitsgehalt zur Anerkennung verhelfen möchte. Denn dann trägt sie
in sich eine geistige Notwendigkeit, deren Durchdringen für die
Dauer kein Widerstand zu hindern vermag. In einem Modernen
solcher Art wohnt eine wunderbare Kraft. Scheinbar vereinzelte
und zerstreute Vorgänge weisen dann nach derselben Richtung, die
Geschichte. 281
neue Denkweise, der Geist der Zeit ergreift die verschiedensten Ge-
biete, findet einen Weg in die entlegensten Winkel und übt auch
an dem eine Wirkung, der sich als einen schroffen Gegner fühlt.
Eingewurzelte Meinungen, ja selbstische Interessen verlieren ihre
Macht gegenüber einer solchen Bewegung. — Schwierigkeit macht
nur, daß im nächsten Anblick der Dinge Echtes und Unechtes wirr
durcheinanderzugehen pflegt, daß der eine mit der Abweisung
des Flachmodernen auch die geistige Bewegung der Zeiten glaubt
verneinen zu dürfen, während der andere das Recht des Fort-
schrittsgedankens auch für das Erzeugnis flüchtigster Lage und
Laune in Anspruch nimmt. Der Freund des Alten pflegt sich dann
als Vertreter der Ordnung, der des Neuen als Vertreter der Freiheit
zu fühlen, jener dünkt sich moralisch, dieser intellektuell überlegen,
jener glaubt besonders das Interesse der Gesellschaft, dieser das des
Individuums zu wahren. Dabei trägt die Sache in sich selbst eine
eigentümliche Dialektik. Was alt ist, war einst neu; auch Thomas
von Aquino galt einst als «modern"; was heute neu ist, wird ins
Alter kommen und sich eines anderen erwehren müssen. Das
Moderne, das aufstrebt, zieht einen guten Teil seiner Kraft aus seiner
oppositionellen Stellung; im Siege büßt es diese ein und gerät in
Nachteil gegen neue Bildungen.
Die Verwicklung, die aus solchem Kampfe hervorgehen kann,
hat in der Gegenwart eine besondere Höhe erreicht. Auf der einen
Seite findet sich der hartnäckigste Widerstand gegen alles Neue, ihn
vertritt vornehmlich eine große Weltmacht, das römische System,
das sich dem Worte nach katholisch nennt, das aber in der Sache
so unkatholisch wie möglich ist. Denn es setzt allen Eifer daran,
die Bewegung der Menschheit in partikulare Bahnen zu leiten und
bei einer mittelalterlichen Gestalt endgültig festzulegen. Andererseits
aber erscheint die weiteste Verbreitung eines Flachmodernen, die
neueste Gestaltung des Kulturlebens leistet ihr den vielfachsten Vor-
schub. Das Tempo des Lebens hat sich in unheimlicher Weise be-
schleunigt, immer mehr Menschen drängen sich in die Groß- und
Weltstädte zusammen; was dort zu Gehör kommen will, muß dreist,
laut, ja schreiend auftreten, er muß Neues, Prickelndes, Unerhörtes
zu bringen scheinen. Neues, dem sich keiner entziehen darf, der
sich auf der «Höhe der Bildung" fühlt. So ein Sichüberspannen
und Überbieten des Neuen, ein Schätzen des Neuen, bloß weil es neu
ist, mag es an sich noch so leer oder töricht sein, dabei unendlich
282 Zu den Problemen des Menschenlebens.
viel eitler Schein, eine Abneigung gegen allen Ernst und alle Tiefen
des Lebens, eine Lust an keckem Verneinen, alles in allem eine
elende Talmikultur, ein Versuch des Bildungspöbels, die geistige
Bewegung der Menschheit unter sich zu bringen und sich zum
Richter über gut oder böse, wahr oder unwahr zu machen.
So wird das Moderne echter Art unmöglich vordringen können,
ohne sich von derartigem Flachmodernen aufs allerschärfste zu
scheiden und einen heftigen Kampf dagegen aufzunehmen. Sein
eignes Recht aber können die Verirrungen des Flachmodernen nicht
im Mindesten antasten. Unsere Zeit ist, so zeigt es auch der Ge-
samtverlauf unserer Untersuchung, so geartet, daß sie nicht über-
kommene Bahnen ruhig weiterverfolgen kann, sondern daß sie in
energischer Selbstbesinnung und Selbstvertiefung des Lebens neue
zu suchen hat; eine solche Lage stempelt allen willfährigen An-
schluß an das Alte zu einem bloßen und unfruchtbaren Epigonen-
tum; für uns gilt es auf uns selber zu stehen und den geistigen
Notwendigkeiten, die jetzt aufstreben, einen offnen Weg zu schaffen.
Dann wird sich mit frischer und freudiger Ergreifung der Gegen-
wart ein Festhalten ewiger Wahrheit verbinden lassen, dann wird
das eine das andere zu fördern vermögen.
3. Gesellschaft und Individuum.
(Sozialismus.)
a) Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum.
a. Geschichtliches.
t^eim Problem der Gesellschaft steht es heute ähnlich wie bei
*-^ dem der Geschichte. Das 19. Jahrhundert hat einen Rückschlag
gegen die Aufklärung gebracht, dieser aber hat, obschon noch in
voller Wirkung, einen neuen Rückschlag hervorgerufen; so durch-
kreuzren sich Wirkungen mit Gegenwirkungen und erzeugen eine
höchst verworrene Lage; sich ihr 7u entwinden wird keineswegs
leicht sein.
Einige Worte seien zunächst den Ausdrücken gewidmet, soweit
sie eine Aufklärung fordern. Individuum und Individualität sind
ältere Bildungen, aber die Neuzeit erst hat sie weiteren Kreisen zu-
geführt. Individuum hieß anfänglich etwas, das sich nicht teilen oder
trennen läßt; so ist bei Cicero Individuum eine Übersetzung von
(XTOftov. Dieser Sinn überwiegt wie im späteren Altertum^ so im
Mittelalter; die älteste deutsche Übersetzung (bei Notker) ist «un-
spaltig." Aber schon dem Ausgang des Altertums bedeutet indivi-
duum auch das Einzelne als einzigartiges, von anderem unterschiedenes,
in seiner Besonderheit nur einmal vorhandenes;- das Mittelalter ver-
' So z. B. Seneca de provid. 5: quaedam separari a quibusdam non
possunt, cohaerent, individua sunt.
'^ Bemerkenswert ist hier namentlich der höchst einflußreiche Boethius,
aus dessen Kommentar tu Porphyrius (edit. Bas. 1570, pag. 65) folgende Stelle
angeführt sein mag: Individuum autem pluribus dicitur modis. Dicitur In-
dividuum quod omnino secari non potest, ut unitas vel mens; dicitur In-
dividuum quod ob soliditatem dividi nequit, ut adamas; dicitur Individuum
(üujus praedicatio in reliqua similiü non convenit, ut Socrates: nam cum illi
sunt caeteri homines similes, non convenit proprietas et praedicatio Socratis
in caeteris, ergo ab iis quae de uno tantum praedicantur genus differt, eo
quod de pluribus praedicetur. Bei Porphyrius lautet die Hauptstelle (siehe
284 Zu den Problemen des Menschenlebens.
wendet diese Bedeutung weiter und prägt auch (jedenfalls schon im
1 2. Jahrhundert) die Ausdrücke individualis und individualitas. Dem
allgemeinen Leben führt diese erst Leibniz zu, auch hier ein Ver-
mittler alter und neuer Zeit.
Die Anfänge der Kultur zeigen das Individuum als ein Stück
einer engeren oder weiteren Gemeinschaft, das in seinem Tun und
Lassen durch solchen Zusammenhang wesentlich bestimmt wird. Die
Weiterbewegung des Lebens pflegt das Individuum mehr und mehr
zu verstärken, es gewinnt an Selbständigkeit, es beginnt nach einem
Recht der überkommenen Ordnung zu fragen und ihre Vernunft zu
bezweifeln, die Sache gelangt endlich an einen Punkt, wo das In-
dividuum alle Bindung abzuwerfen sucht und die eigne Meinung
zum Maßstab der Wahrheit, das eigne Wohl zum Ziel des Handelns
macht. Das erscheint solchen, die auf den Stand des Ganzen bedacht
sind, als eine verderbliche Zerstörung; so wird von ihnen ein kräftiger
Widerstand geleistet und der Versuch unternommen, das Individuum
bei Zuerkennung eines gewissen Rechtes wieder einem Zusammen-
hange einzufügen und für seine Ziele zu gewinnen; geistige Arbeit soll
wiederherstellen, was als natürlicher Besitz verlören ging. Zu solchem
Zweck der Wiedereinfügung des Individuums ward zunächst der Be-
griff des Organismus verwandt, mit dem wir uns schon befaßten.
Er scheint besonders geeignet, die Ansprüche des Einzelnen und der
Gemeinschaft glücklich miteinander auszugleichen. Denn im leben-
digen Körper ist jedes Glied um so wertvoller für das Ganze, je
kräftiger es sich in seiner Eigentümlichkeit ausbildet. Das Ganze
aber steht um so höher, je differenzierter seine Teile sind. Das
freilich bildet eine unüberschreitbare Grenze, daß alle Betätigung der
Glieder innerhalb des Ganzen zu verbleiben hat, daß das einzelne
Glied aus allem Leben und aller Gestaltung herausfällt, sobald es
vom Ganzen sich ablöst. So duldet diese organische Fassung
kein Recht des Einzelnen gegen das Ganze. Wird diese Lehre
auf das Weltall übertragen, wie es mit voller Bewußtheit zuerst
von der Stoa geschah, so mag es ein besonderer Vorzug der
Prantl, Gesch. der Logik l. 629): axop-a Xe^e-cat -zä Toiaüx«, oti I? JStoxrJTwv
ouv£(rn|xev ?xa(JTOv, wv to a'9-potajjia oux av in i'XXou Ttvo? izore ro auTo yivoixo
Twv xaxä (le'po?. Diese Definition geht durch die Kette der Jahrhunderte bis
zu Leibniz, noch Jakob Thomasius, sein Lehrer, definierte: Individuum est
quod constat ex proprietatibus quarum collectio numquam in alio eadem
esse potest.
Gesellschaft und Individuum. 285
Einrichtung dünken, daß auch in den kleinsten Dingen nicht zweies
einander völlig gleicht, daß nicht zwei Haare, zwei Körner, zwei
Blätter gänzlich zusammenstimmen. ^
Zu dieser organischen Lösung des Problems aber gesellt sich
eine hierarchische, die, dem Ausgang der griechischen Philosophie ent-
sprungen, ^ auf dem Boden des Christentums und im Mittelalter zur
vollen Entfaltung gelangt ist und noch heute mächtige Wirkungen übt.
Hier erscheint das All als eine fortlaufende Stufenfolge, bei der sich
das Leben von oben her in sicherem Fortgang nach unten mitteilt;
jede Stelle hat von der nächsthöheren zu empfangen, um das Emp-
fangene der niederen zuzuführen. Auch hier hat jeder Teil einen
eigentümlichen Wert und ein eigentümliches Werk, aber er hat
sie nur im Gefüge des Ganzen; er fällt ins Leere, sobald er sich
davon losreißt Dieser Gedankengang hat eine geschichtliche Ver-
körperung nicht nur in der kirchlichen Hierarchie, sondern auch in
der mittelalterlichen Lehnsordnung gefunden, indem hier jede Gewalt
als von einem Höheren an den Niederen verliehen gilt.
Die organische wie die hierarchische Fassung lassen dem Indivi-
duum allen Wert aus dem Verhältnis zum Ganzen kommen, ein
Wert für sich selbst wird ihm abgesprochen. Einen solchen gewährt
ihm erst die Fassung, die sich als die mikrokosmische bezeichnen
läßt. Hier wird das Individuum aus einem bloßen Stück der Welt
zum Ganzen einer Welt, zu einer eigentümlichen Konzentration der
Wirklichkeit, zu einer Stätte, wo die Unendlichkeit des Lebens un-
mittelbar gegenwärtig ist. Das All wird damit eine Welt von Welten,
es entzieht sich aller umgrenzenden Zusammenfassung. Auch dieses
Bild entstammt dem spätesten Altertum, wiederum ist es Plotin,
der dabei voransteht. Bei ihm zuerst erscheint mit voller Klarheit
der Gedanke, daß jeder Mensch eine eigne Welt bedeute und das All
eigentümlich spiegle, «jeder einzelne sind wir eine geistige Welt.«
Vom Neuplatonismus aus ist auch der Ausdruck Mikrokosmos, der
bis auf Demokrit und Aristoteles zurückreicht, erst recht in Um-
lauf gekommen. Im Mittelalter hat namentlich die mystische Speku-
lation jene Gedanken festgehalten, von hier kam er durch verschie-
dene Zwischenglieder (Nikolaus von Kues, Giordano Bruno) an die
^ S. Cicero acad. quaest. II; dicis nihil idem quod sit aliud; Stoicum
est quidem nee admodum credibile, nullum esse pilum omnibus rebus talem,
qualis sit pilus alius, nullum granum etc.
' Am meisten hat dafür Plotin gewirkt.
286 Zu den Problemen des Menschenlebens.
moderne Philosophie, um in Leibnizens Monadenlehre eine präzisere
Gestalt zu gewinnen. In engem Zusammenhange damit steht die
hohe Schätzung von Individualität und Persönlichkeit in unserer
klassischen Literatur. So führt auch hier eine fortlaufende Kette
vom Ausgang des Altertums bis zur Höhe der Neuzeit.
Zwischen der organischen und der hierarchischen Fassung einer-
seits, der mikrokosmischen andererseits besteht ein voller Gegensatz,
der einen Kampf unvermeidlich macht. Dort ist das Individuum
ein bloßes Glied, hier ist es ein selbständiges Ganzes, dort hat es
an den geistigen Gütern nur durch die Vermittlung einer Gemein-
schaft teil, hier vermag es sie unmittelbar bei sich selbst zu erreichen.
Damit muß auch der Inhalt des Lebens grundverschieden aus-
fallen. Dort wird zur Hauptsache die Leistung für die Gemein-
schaft, hier die Entfaltung des Individuums selbst in seiner Inner-
lichkeit. Auch die Gemeinschaft wird hier ihre Gestalt und ihre
Kraft erst von den Individuen empfangen und ihnen nie als Selbst-
zweck entgegentreten dürfen. Es wird aber bei solcher Befreiung
das Individuum seinem Leben einen bedeutenden Inhalt vornehm-
lich durch ein unmittelbares Verhältnis zur Utiendlichkeit, zu den
schaffenden Quellen des Lebens, geben, sei es, daß sich das mehr
wissenschaftlich oder mehr künstlerisch oder mehr religiös gestaltet.
So verschlingt sich mit dem Kampf zwischen Individuum und Ge-
sellschaft das Problem, ob wir die Hauptaufgabe unseres Lebens
mehr beim menschlichen Zusammensein oder im Verhältnis zum
All zu suchen haben, ob an erster Stelle eine soziale oder eine kos-
mische Lebensführung zu erstreben ist. Diese Fragen durch den
Wandel der Zeiten zu verfolgen, ist hier nicht wohl möglich; wenden
wir uns daher sofort zur Lage und Stimmung der Gegenwart.
Es unterliegt aber unsere Zeit dem Einfluß dreier Strömungen
von verschiedener Stärke und Breite: es sind das die Gesamtbewegung
der Neuzeit zum Individuum, der Rückschlag des 19. Jahrhunderts
zu gunsten der Gesellschaft, die Wiederbelebung des Individualismus
gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Emanzipation des Individuums ist wohl der hervorstechendste
Zug des gesamten modernen Lebens. Der Einzelne erstrebte und
gewann dabei sowohl ein unmittelbares Verhältnis zur Gottheit und
zum All, als eine selbständige Stellung gegenüber dem sozialen
Ganzen. Allmählich hat sich das von der Renaissance und von der
Reformation aus über das ganze Dasein verbreitet, sich immer tiefer
Gesellschaft und Individuum. 287
darin eingegraben, es durchgängig frischer, kraftvoller, bewegter
gemacht. Wie die neue Wissenschaft in ihre aufsteigende Bahn nur
gekommen ist unter Zerlegung der überkommenen Größen, wie Zeit,
Raum, Masse u. s. w., in diskrete Elemente, so ist auch dem modernen
Leben eine wachsende Selbständigkeit und Sonderung der Individuen
wesentlich. Von der Behandlung der innerlichsten Fragen bis zu
den Äußerlichkeiten von Sitte und Verkehr^ hat sich das immer
mehr durchgesetzt. Es will das keineswegs alle gegenseitige Beziehung
aufheben, aber die Verbindung soll den Individuen nicht von draußen
her aufgedrängt werden, sondern aus ihrer eignen Entscheidung
und freien Vereinbarung hervorgehen. Noch weniger bedeutet die
Individualisierung des Daseins einen Verzicht auf alle inneren Zu-
sammenhänge. Vielmehr ist auf der Höhe der geistigen Arbeit, bei
Männern wie Luther und Kant, das Selbständigwerden des Menschen
gegen die Menschen nur die eine Seite des Lebensprozesses, dessen
andere die unbedingte, aber freie Unterwerfung unter unsichtbare
Gewalten bildet.. Wer solche Männer als Verfechter bloßer Willkür
lobt oder tadelt, der zeigt nur wie wenig er den Kern der Sache
erfaßt hat.
Im breiteren Strome der Zeit ist die Sache minder frei von
Verwicklungen und Bedenken. In Deutschland gewann die Bewegung
zum Individuum seit der Sturm- und Drangzeit vorwiegend einen
künstlerisch-literarischen Charakter; wie das Individuum jener Zeit
sich durch künstlerisches Schaffen über den Durchschnitt hinaushob
und als »Genie" allem «Philistertum" weit überlegen fühlte, so hat
sich öfter die selbstbewußte Erhebung des künstlerischen Individuums
wiederholt. So zunächst in der Romantik, welche eben darin die
Größe des Menschen fand, eine Individualität zu sein (Schleiermacher),
und in Überspannung dieser Denkweise das unumschränkte Recht
der «unendlich freien Subjektivität" verkündete, zugleich geneigt Kunst
und Wissenschaft dem politischen Leben weit voranzustellen,- ähn-
'^ Z. B. findet Ihering (Der Zweck im Recht II, S. 43Q) bei der ästhetischen
Gestaltung des gem.einsamen Mahles einen höchst beachtenswerten Fortschritt
der modernen Zeit gegenüber der Vergangenheit in der »Erhebung vom
Kommunismus zum Individualismus". Während früher die Geräte der Tisch-
genossen gemeinsam waren, erhält sie heute jeder für sich allein zu aus-
schließlichem Gebrauch.
' Bezeichnend dafür sind die Worte Fr. Schlegels: „Nicht in die poli-
tische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Weil
288 Zu den Problemen des Menschenlebens,
liehe Erscheinungen zeigt später das junge Deutschland, zeigt der
heutige Individualismus. Die Hochschätzung des Individuums teilt
unsere klassische Zeit, und die leitenden Pädagogen, Pestalozzi wie
Herbart, übertragen diese Denkweise auf die Erziehung. ^ Aber hier
strebt das Individuum nicht zur Selbständigkeit auf, um in einem
Gegensatz zur Welt und sozialen Umgebung zu bleiben und sich
in das Bewußtsein stolzer Überlegenheit einzuspinnen, sondern es
kehrt freudig dorthin zurück, dehnt seinen Lebenskreis weiter und
weiter aus, wächst schließlich in Versöhnung mit aller Umgebung
zur weltumspannenden Persönlichkeit So stellt es namentlich die
geistige Art und das Lebenswerk Goethes vor Augen,
Der erste Widerstand gegen den Vorrang des Individuums ent-
sprang dem Idealismus selbst, indem der Gedanke eines weltum-
spannenden, durch seine eigne Bewegung getriebenen Prozesses den
Schwerpunkt des menschlichen Daseins von den Individuen in das
Ganze der Menschheit verlegte. Dann aber kam der Realismus mit
seiner Wendung zur anschaulichen Welt. Damit erschien eine un-
absehbare Fülle von Aufgaben, deren Lösung eine Verbindung der
zerstreuten Kräfte verlangte, die Menschen aus der bisherigen Ver-
einzelung heraus zu engerem Zusammenschluß trieb und ein Arbeiten
in Reih und Glied ihnen auferlegte. Dahin wirkte das Verlangen
politischer Freiheit, das Streben nach einer von eigner Kraft und
Gesinnung der Bürger getragenen Ordnung, dahin die Ausbildung
nationaler Kreise, die alle Individuen mit überlegener Art umspannen
und zu großen Aufgaben verbinden, dahin der ungeahnte Aufschwung
der Technik, der die Verkettungen der Arbeit ausdehnt und die
Arbeiter fester zusammenhält, dahin endlich das moderne Wirtschafts-
leben mit seinen Riesenbetrieben, seiner Erzeugimg schroffer Gegen-
sätze, seiner Ansammlung gewaltiger Massen. Auch die moderne
Beschleunigung des Lebens, das Einandernäherrücken der Menschen,
der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Innerstes in den heiligen Feuer-
strom ewiger Bildung".
* Namentlich Pestalozzi verficht mit großer Energie die Überlegenheit
des Individuellen gegen das bloß Kollektive, er spottet über „Kollektivhand-
lungen", über ein „Kollektivgewissen", über „R^mentsbekenntnisse" und
meint : „Die kollektive Existenz unseres Geschlechts kann dasselbe nur zivili-
sieren, sie kann es nicht kultivieren" (Wke. XII, 154). Hier muß immer der
große Einfluß Rousseau's gegenwärtig sein, der für das Ganze des Lebens
zuerst den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft mit voller Klarheit
herausgestellt hat.
Gesellschaft und Individuum. 289
die tausendfache Verschlingung der Lebenskreise trägt viel dazu bei,
die individuellen Züge abzuschleifen und der Summierung zu Massen-
erscheinungen eine überwältigende Macht zu verleihen. Im Zeitalter
der Presse, der Telegraphen und Eisenbahnen bildet sich rascher
eine öffentliche Meinung und gewinnt sie eine größere Stärke; sie
umfängt das Individuum schon in seinem Werden und läßt ihm so
als eignes Werk erscheinen, was in Wahrheit die Umgebung ihm
zugeführt hat.
Endlich steigert, empfangend und zurückwirkend, auch die Theorie
die Abhängigkeit des Individuums. Denn die neuere Gesellschafts-
lehre, die „Soziologie" (Comte, Quetelet u. s. w.), ist eifrigst bemüht,
die völlige Bedingtheit des Menschen durch seine soziale Umgebung,
das „Milieu",^ zu zeigen; bis in seine Wünsche und Träume scheint
er ihr durch das beherrscht, was die Gesellschaft an ihn bringt;
selbst ein heftiger Kampf des Individuums gegen sie wurzelt schließ-
lich in den Bedürfnissen des Ganzen und liegt damit innerhalb
des öanzen. Zugleich tritt der Begriff des gesellschaftlichen Durch-
schnitts, des mittleren Menschen, in den Vordergrund; es wird nach-
gewiesen, daß die Abweichungen des Individuums, soweit meßbar,
sich innerhalb weit engerer Grenzen bewegen, als der erste Eindruck
uns annehmen läßt.^ So verweilt die Aufmerksamkeit weit mehr
bei der Gleichheit als bei der Verschiedenheit der Individuen,^ und
die Analyse des individuellen Seelenlebens, diese Stärke unserer
großen Dichter, weicht der Massenbeobachtung, die sich in der
Statistik ein handliches Werkzeug schafft.
* Milieu in präziser Zuspitzung dürfte zuerst von Lamarck in seiner
Philos. zoologique verwandt sein, Comte hat es von der Zoologie der Qesell-
schaftslehre zugeführt, Taine aber es hier «mit besonderer Vorliebe verwandt.
Erst von ihm aus ist es in Deutschland zu einem Modewort geworden.
^ Hierfür sei namentlich Quetelets „Anthropometrie" erwähnt.
* Der Gedanke der Gleichheit samt dem des gleichen Wertes und
Rechtes aller Menschen hat ältere Wurzeln, zur vollen Entwicklung aber ist
er erst in den letzten Jahrhunderten gelangt. Dem klassischen Altertum ist
er fremd, und auch was sich zu seinen Gunsten im späteren Altertum regte,
kam gegen die tatsächlichen Unterschiede der Menschen nicht auf. Die Wurzel
der Gleichheitsidee liegt in der Religion, für unseren Kulturkreis im Christen-
tum. Es war das Verhältnis zu Gott, in dem alle Abstände der Menschen
verschwanden, es war die Unendlichkeitsidee, der gegenüber alle endlichen
Unterschiede gleichgültig wurden. Aber Konsequenzen für das irdische Da-
sein wurden daraus zunächst recht wenig gezogen, und in der weiteren Ge-
schichte des Christentums trat der Gedanke des allgemeinen Priestertums weit
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 19
290 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Das alles war nicht bloß eine äußere Verschiebung, es war
auch eine innere Wandlung des Lebens. Denn nunmehr wurde
zur Hauptsache an ihm, was wir für die Gemeinschaft leisten, nicht
was wir im eignen Bereiche denken und tun. Energischer wird
alle Kraft zur Betätigung aufgerufen, deutlicher die Bindung des
Individuums an das Ganze hervorgekehrt. Auch eine eigentümliche
Gestaltung des Geisteslebens geht davon aus. Die Verbesserung
der gesellschaftlichen Lage wird das allüberragende Ziel. Die Moral
wird zum Wirken für die Gesellschaft, zum Altruismus, die Kunst
findet keine höhere Aufgabe als die eindringliche Vergegenwärtigung
der gesellschaftlichen Zustände, die Erziehung erstrebt mehr die
Hebung des gemeinsamen Bildungsstandes als die Entwicklung in-
dividueller Art. Einen Zusammenhalt gibt hier dem Individuum
namentlich die Arbeit, die Arbeit, welche weite Komplexe und feste
Methoden entwickelt, damit aber stark genug wird, um einen Kampf
mit aller Unvernunft des Daseins aufzunehmen und die Bedingungen
des Daseins wesentlich zu verbessern. Daß das Ja auch ein Nein
in sich trug, der Gewinn von einem Verluste begleitet war, das
kam einstweilen kaum zur Empfindung.
Wirkt solches Zusammenstreben der Kräfte mit seinen engeren
Verschlingungen gegen das Individuum in versteckterer Weise, so
tut es offensichtlich die mächtige Verstärkung, die der Staat im Lauf
des 19. Jahrhunderts erlangt hat. Am zwingendsten trieben dazu
zurück hinter dem der Hierarchie. Was von einzelnen Nebenströmungen das
Mittelalter mühsam genug bewahrt hatte, das gelangte zu vollerem Durchbruch
in der Reformation, und es war namentlich ihr calvinistischer Zweig, der
daraus energische Folgerungen für die Gestaltung des Gemeindelebens zog.
Von hier aus fand sich auch der Übergang in das politische Gebiet: unter
Cromwell zuerst enthält ein Verfassungsentwurf das Verlangen des allgemeinen
Stimmrechts (1647). Weiter wirkt dann für die Idee der Gleichheit die Auf-
klärung mit ihrer Berufung auf die allen Menschen gleiche Veniunft. So
sagt z. B. Descartes (de methodo zu Anfang): Rationem quod attinet, quia
per illam solam homines sumus, aequalem in omnibus esse facile credo.
Rousseau hat endlich mit besonderer Energie den Gedanken der Gleichheit
ins allgemeine Leben geworfen; der Gedanke der Menschenrechte dürfte aus
Amerika stammen. Die Formel von der „Gleichheit alles dessen, was Menschen-
gesicht trägt", hat Fichte aufgebracht, s. z. B. IV, 423, VII, 673. — Das
18. Jahrhundert bringt auch die Zusammenstellung von Freiheit und Gleich-
heit, und zwar wohl zuerst für das Gebiet des geselligen Verkehrs. So sagt
z. B. schon Montesquieu in seinen lettres Persanes (erschienen zuerst 1721),
Bch. II: A Paris regne la liberte et l'egalite.
Gesellschaft und Individuum. 291
die wirtschaftlichen Entwicklungen, da ihnen gegenüber alle An-
strengung des bloßen Individuums verloren dünkte. Aber dieser
Punkt ist nur der Höhepunkt einer durchgehenden Erscheinung.
Es ist die wachsende Komplikation, die technischere Gestaltung der
Kultur, welche mehr Ineinandergreifen der einzelnen Kräfte und
mehr Organisation des Ganzen verlangt, damit aber nach einer leiten-
den Spitze ruft. Das erzeugte z. B. mit Notwendigkeit eine stärkere
Zentralisation im Unterrichtswesen. Und es fehlte dieser Bewegung
des Kulturlebens nicht die beseelende Kraft einer Gedankenwelt.
Die Erhebung des Staates zum Hauptträger der Kulturarbeit ent-
spricht der modernen Überzeugung von einem Innewohnen abso-
luter Vernunft in unserer Wirklichkeit; es ist kein Zufall, daß die
leitenden Systematiker des Pantheismus, Spinoza und Hegel, ent-
schiedenste Vorkämpfer der Staatsidee waren, daß Spinoza nicht bei
Gott, sondern beim Heil des Vaterlandes geschworen haben wollte,
Hegel 'aber den Staat »wie ein Irdisch-Göttliches" verehrte. So ver-
bünden sich gegen die Selbständigkeit des Individuums die sichtbare
Macht des Staates und die unsichtbare der Gesellschaft; wer der
einen entflieht oder zu entfliehen glaubt, verfällt leicht um so mehr
der anderen.
Aber wie der volle' Sieg leicht eine Überspannung und damit
einen Rückschlag ergibt, so hat auch hier die Umklammerung des
Menschen durch Staat und Gesellschaft gegen Ausgang des 19. Jahr-
hunderts eine Neuerhebung des Individuums hervorgerufen. Was
sich davon geflissen hervordrängt, ist oft unerquicklich genug, so
die Selbstvergötterung unechter Genies und das Sichaufbauschen
subjektiver Stimmung zu vermeintlicher Weltüberlegenheit. Aber
mit der Verspottung jener Auswüchse ist nicht schon die Sache er-
ledigt. Denn hinter allem Problematischen steckt eine Gegenwehr
des Individuums und Subjekts gegen die drohende Einengung und Ver-
kümmerung; was jene Bewegung zur Gesellschaft an Begrenzungen
und Verneinungen enthält, das bringt der Widerspruch jetzt zu deut-
lichem Bewußtsein. Eine Abschleifung der individuellen Züge, eine
Gefährdung der Selbständigkeit, ein Stocken ursprünglichen Lebens
und Schaffens, sie scheinen mit jener Gesellschaftskultur untrennbar
verbunden. Ähnlich wie die Geschichte die Gegenwart unter-
drückte, eine kleine Gegenwart aber auch in der Geschichte nichts
Großes mehr sieht, so scheint die Gesellschaft mit der Verkleinerung
der Individuen unvermeidlich auch bei sich selbst zu sinken. Ge-
19»
292 Zu den Problemen des Menschenlebens.
wahren wir nicht deutlich genug, wie inmitten aller glänzenden
Triumphe technischer Arbeit uns ausgeprägte Persönlichkeiten mehr
und mehr entschwinden, zugleich aber das Niveau des gemeinsamen
Lebens niedriger wird? Die Arbeit, der Kern der neuen Lebens-
gestaltung, sollte die Seele kräftigen; nun kommt zur Empfindung,
daß sie mit ihrer riesenhaften Entwicklung sie schwächt, ja unter-
drückt; das muß die Seele zur Gegenwehr reizen, sie der Gesell-
schaftskultur widerstehen und den Wert ihrer Erfolge bestreiten
lassen. Zugleich sucht das Individuum sich von der gesellschaft-
lichen Bindung möglichst abzulösen, es will sich mit voller Freiheit
entfalten und gänzlich „ausleben", es kehrt sein Unterscheidendes
hervor und strebt sich vom Durchschnitt irgend abzuheben.
Wie viel in dem allen überspannt und verkehrt sein mag, es
hat eine Macht über unsere Zeit; mag es arm an positiver Leistung
sein, in der Kritik ist es stark, und den Glauben an die Allgenug-
samkeit einer bloßgesellschaftlichen Kultur hat es schwer erschüttert.
Aber trotz solcher Erschütterung geht die Arbeit mit ihrer Richtung
auf den Stand der Gesellschaft fort, so wächst ihr Druck auf das
Individuum und mehr noch unsere Empfindung dafür. Demnach
werden wir nach widerstreitenden Richtungen gezogen: die gesell-
schaftliche Kultur behei"rscht unsere Arbeit, eine Individualkultur
verlangt unsere Seele. Müssen wir uns solcher Spaltung wehrlos
ergeben, oder läßt sich ihr widerstehen und nach irgendwelcher
Einheit des Lebens streben?
ß. Die Probleme der Gegenwart.
aa. Die Unzulänglichkeit einer bloßgesellschaftlichen Kultur.
Etwas anderes ist es, die Bedeutung einer gesellschaftlichen
Kultur anzuerkennen, etwas anderes, in sie das ganze Dasein des
Menschen zu setzen. Für das erstere wirkt in unserer Zeit das
Mannigfachste zusammen. Deutlich steht uns vor Augen, wie von
Anfang an der Mensch die eigentümlichen Züge seines Wesens nur
in der Gemeinschaft entwickeln konnte, wie auch später alles Be-
finden wesentlich von der Gestaltung des Zusammenseins abhing,
deutlich auch, wie die Wirkung des Zusammenseins weit tiefer in
das Leben des Einzelnen und den Grund seiner Seele hineinreicht,
als man früher anzunehmen pflegte. Daß der Mensch ein gesell-
schaftliches Wesen ist, das hat erst jetzt seine volle Anerkennung ge-
funden. Aus den neuen Einsichten aber erwachsen sofort Aufgaben
Gesellschaft und Individuum. 293
fruchtbarster Art Sind wir so sehr auf die Gesellschaft angewiesen
und hängt unser Glück so sehr an ihrem Gedeihen, so wird es be-
sonders wichtig, den Stand der Gesellschaft zu heben und alle in
ihr vorhandene Kraft zur vollen Wirkung zu bringen. Der engere
Zusammenschluß hat die Menschheit im Kampf gegen die Unver-
nunft unaufhaltsam vordringen laäsen und mehr Glück in ihr Da-
sein gebracht, die straffere Organisation hat jedes Einzelne gehoben,
das Handeln hat festere Angriffspunkte gewonnen, indem es den
Hebel bei den allgemeinen Verhältnissen ansetzt, nicht auf die Zu-
fälligkeit der bloßen Individuen angewiesen bleibt. Die engere Ver-
bindung im unmittelbaren Zusammensein hat reiche Quellen mora-
lischer Gesinnung erschlossen, die Teilnahme für einander gesteigert,
ein Bewußtsein durchgängiger Solidarität erzeugt. Auch hat das
Miteinanderarbeiten, die Notwendigkeit, sich gegenseitig zu halten
und zu einander zu fügen, mehr Disziplin und zugleich mehr
Mannheit und Kraft in das Leben gebracht, das in der Vereinzelung
leicht verweichlicht.
War es bei solchen Erfolgen ein Wunder, daß die Hoffnungen
und Gedanken die tatsächliche Leistung weit überflogen, daß was
soviel geleistet hatte, alles leisten zu können vermeinte, daß die ge-
sellschaftliche Lebensführung das ganze Dasein des Menschen aus-
zufüllen und alle Wünsche zu befriedigen sich zutrauen konnte.
Indem sie das versuchte, hat sie allen einzelnen Lebensgebieten eine
eigentümliche Gestalt gegeben. Zum Inhalt der Ethik wird hier die
Leistung für die soziale Umgebung, der Altruismus, zum Ziel der
Erziehung die Bildung des Einzelnen für die Zwecke der Gesell-
schaft, die Kunst macht die gesellschaftlichen Zustände zum Haupt-
vorwurf ihrer Arbeit und will mit ihr den weitesten Kreisen dienen,
die Wissenschaft sucht den Menschen nicht als isoliertes Individuum,
sondern vom Ganzen der Gesellschaft her «sozialpsychologisch" zu
verstehen; selbst zum Maßstab der Wahrheit macht der Pragmatis-
mus die Leistung für das Wohlbefinden der Menschheit. Indem in
dem allen das Leben und Handeln direkter auf den lebendigen und
empfindenden Menschen als Ganzes bezogen wird, scheint es eine
größere seelische Nähe zu gewinnen, wird es mehr ins Unmittelbare,
Frische, ja, so scheint es. Wahrhaftige gestaltet; im Hintergrunde
liegen hier alle Verwicklungen der Religion wie der Metaphysik;
je unsicherer die Neuzeit über diese Fragen wurde, desto will-
kommener muß ihr solche Befreiung sein.
294 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Aber mag diese Bewegung noch so fruchtbare Ausblicke und
Aufgaben eröffnen, nur so lange kann sie auf volle und freudige
Zustimmung rechnen, als das Nein unbeachtet bleibt, das dem von
ihr vertretenen Ja zur Seite geht; dieses Nein aber ist sehr be-
stimmter Art. Das Leben läßt sich nicht, wie es dort geschieht,
gänzlich in das Verhältnis zur Umgebung, in die Entwicklung der
gegenseitigen Beziehungen verlegen, ohne daß zugleich die Selbständig-
keit des einzelnen Punktes aufs stärkste herabgesetzt wird. Nun aber
ist das Individuum die einzige Stelle, wo geistiges Leben ursprüng-
lich aufquillt, während das gesellschaftliche Zusammensein nicht
mehr als verbinden und verwerten kann. Die Freihaltung und
Kräftigung dieses ursprünglichen Lebens wäre nun minder bedeut-
sam und eine Einengung ließe sich eher ertragen, wenn das mensch-
liche Leben auf fester Grundlage stünde und nur eine naturgewiesene
Richtung ruhig zu verfolgen brauchte. In Wahrheit steckt es nicht
nur voller Probleme im Einzelnen, sondern, zwischen bloßer Natur
und geistiger Welt befindlich, hat es eine durchgehende Wendung,
einen Aufstieg von halbgeistiger zu echtgeistiger Lebensführung erst
zu vollziehen; so liegen große Entscheidungen in ihm, die nicht
ohne eine Aufrüttelung und kräftige Belebung des gesamten Seelen-
standes erfolgen können, die notwendig auf eine ursprüngliche
Tiefe zurückgreifen und damit auf das Individuum kommen.
Die soziale Lebensführung dagegen ist vorwiegend auf eine
Verbesserung der äußeren Verhältnisse gerichtet, sie hebt und fördert,
sie mildert und glättet, aber wenn sie das Leben angenehmer und
freundlicher macht, am Kern wirkt sie zerstörend, indem sie den
geistigen Gehalt des Lebens als ein Mittel für das menschliche
Wohlsein behandelt. Denn unvermeidlich sinkt alle geistige Be-
tätigung, wo sie nicht als völliger Selbstzweck behandelt wird; der
Utilitarismus, welche Form er auch annehmen mag, ist ein unversöhn-
licher Feind aller echten Geisteskultur. Als ein bloßes Mittel kann
geistiges Leben für den Menschen nie die innere Notwendigkeit
einer Selbsterhaltung erlangen, mit solcher die Seele ergreifen und
sie zu ursprünglichem Schaffen treiben. Daher kann auf diesem
Wege bei aller äußeren Erweiterung keine innere Erhöhung des
Menschen erfolgen, hier fehlt alle Urerzeugung, alles unmittelbare
Verhältnis zum All, alle innere Selbständigkeit. Ein derartiges Leben
kann nie etwas wesentlich Neues bringen, nie hohe Ziele weisen,
an denen sich das Dasein heben könnte, sondern es bannt den
Gesellschaft und Individuum. 295
Menschen an seine eigne Zuständlichkeit und macht ihn zum Sklaven
seiner selbst, es läßt ihn sein Dasein zieren und schmücken, aber
es vollzieht keine gründliche Scheidung zwischen Höherem und
Niederem, es vermag daher nicht den Menschen aus der Trägheit
des Durchschnitts aufzurütteln, nicht der Vermengung von Natur
und Geist, von Kleinmenschlichem und Allgemeingültigem kräftig
entgegenzuwirken, die das gewöhnliche Dasein kennzeichnet; bei
unermeßlicher Emsigkeit und Betriebsamkeit fehlt diesem Leben der
rechte Tatcharakter, fehlt ihm ein unerbittliches Entweder - oder,
fehlt ihm ein wahrhaftiger Gehalt und Sinn. Dies Leben der bloßen
Menschenkultur mag erträglich scheinen, solange der Blick und
das Streben nur vom Einzelnen aufs Einzelne geht und von der
bunten Fülle wechselnder Anregungen eingenommen wird. Aber man
denke darüber hinaus und frage nach dem Ertrage des Ganzen, dann
muß die Dürftigkeit, die Leere dieses Lebens augenscheinlich werden.
Wenn die Sozialkultur solcher innern Leere entrinnen zu können
glauhjt, so pflegt sie das in der Überzeugung zu tun, daß die Ver-
bindung der Elemente etwas wesentlich Höheres entstehen läßt als
in der Vereinzelung vorliegt; so scheint z. B. das Wohl der Ge-
sellschaft das des Einzelnen weit zu überragen, so scheint dem
Durcheinander der individuellen Meinungen gegenüber in der
öffentlichen Meinung sich ein Träger der Wahrheit zu bilden. In
Wirklichkeit kommt der Schein einer inneren Erhöhung nur zu
Stande, indem aus andersartigen Zusammenhängen Neues zugeführt
wird; aus dem bloßen Durch- und Nebeneinander könnte nun und
nimmer eine neue Stufe des Lebens hervorgehen; zu Unrecht wird
hier, wie es freilich in der Neigung der Gegenwart liegt, Quantita-
tives unvermerkt in Qualitatives umgesetzt. Gibt es kein anderes
Ziel als das der natürlichen Selbsterhaltung, gibt es keine geistige
Wesensbildung, so kann auch die Verflechtung der einzelnen Kreise
im gesellschaftlichen Zusammensein nichts wesentlich Neues ent-
stehen lassen, auch bei größter Ausdehnung nähert sich das Nütz-
liche und Angenehme der natürlichen Lebensstufe in keiner Weise
dem Guten. Ebensowenig ergibt die Bildung gewisser Durchschnitte
der Meinungen, mögen sie sich noch so festlegen und noch so
selbstbewußt auftreten, nicht die mindeste Annäherung an den Be-
griff einer echten Wahrheit, die alles menschliche Streben mißt.
Gutes und Wahres werden immer schon vorausgesetzt, wo man
glaubt, sie aus der Verbindung der Elemente ableiten zu können.
296 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Solche Überzeugung zwingt zu starker Skepsis gegenüber der
bekannten Lehre von einer Summierung der Vernunft in der Ge-
sellschaft. Sie ist zuerst philosophisch von Aristoteles^ vertreten.
Die Gesamtheit erscheint ihm befähigter zu politischem wie zu künst-
lerischem Urteil als die Individuen, weil der eine dies, der andere
anderes besser beurteile, im Zusammentreten aber eine gewisse Aus-
gleichung erfolge; auch scheint ihm das Ganze minder dem Zorn
und anderen Affekten unterworfen als das Individuum. Dabei denkt
er aber an den begrenzten Kreis eines Stadtstaates, den gemeinsame
Überlieferungen und Ordnungen auch innerlich zusammenhalten,
nicht an jede beliebige und unübersehbare Masse. So bleibt er
auch in seinem Demokratismus vom Volksglauben eines Rousseau
weit geschieden. — Für die Sache spricht zunächst die alte, auch
Aristoteles gegenwärtige Erfahrung, daß hervorragende literarische
Leistungen gewöhnlich nicht durch das Urteil der Techniker, son-
dern durch das große Publikum zur Anerkennung gelangt sind,
nicht wegen eines moralischen Defektes jener, sondern weil sie sich
zu fest in einen geschlossenen Gedankenkreis eingesponnen hatten.
Die Unbefangenheit weiterer Kreise wiegt namentlich ungewöhn-
lichen Erscheinungen gegenüber hier mehr als die höhere technische
Bildung. — Weiter steht in einer gewissen Verwandtschaft mit jener
Lehre von der Summierung der Vernunft die Überzeugung, daß es
eine Berufung von der Zufälligkeit der Augenblicke und der Indi-
viduen, im besonderen auch von der Enge der Parteien, an das
Ganze der Menschheit gibt, das Vertrauen auf irgendwelchen Sieg
des Guten auch innerhalb des menschlichen Kreises. Ohne solchen
Glauben müßte ja, wer in der Minderheit ist, alles Wirken nach
außen als zwecklos einstellen; so durchdringt jener Glaube nament-
lich das politische Streben. Auch liefert die geschichtliche Er-
fahrung Zeugnisse dafür genug, daß Großes zum Siege kam trotz
anfänglicher schroffer Verfolgung, der Stein, den die Bauleute ver-
warfen, hat sich oft als ein Eckstein erwiesen; was anders aber war
es, das dazu verhalf als das größere Ganze, die weiteren Kreise, die
sich minder festgelegt hatten und neuen Anregungen zugänglicher
waren? Aber solches Durchdringen des Wahren vollzog sich kaum
durch eine bloße Summierung menschlicher Meinungen, sondern
unter dem Zwange einer geistigen Notwendigkeit, welche jenes
* S. Pol. 1281b, 8, 34. Näheres s. in meinen gesammelten Aufsätzen
S. 62 ff.
Gesellschaft und Individuum. 297
Höhere immer deutlicher abhob und es schließlich unwiderstehlich
machte. So ist es nicht der Glaube an die Masse, sondern an eine
innerhalb der Menschheit waltende geistige Notwendigkeit, welcher
jene Hoffnung auf einen Sieg der Vernunft auch im Bereich des
Menschen rechtfertigt. Erst in Berührung mit einer solchen geisti-
gen Notwendigkeit und als ihre Vertreterin gewinnt die öffentliche
Meinung ein gutes Recht und eine sichere Überlegenheit; sonst
kann sie leicht hinter dem Stande der einzelnen Individuen zurück-
bleiben und weniger zur Vernunft als zur Unvernunft wirken. Es
gibt Zeiten, wo der Durchschnitt den Menschen erhöht, es gibt
aber auch solche, wo er ihn herabdrückt. Jedenfalls tut die bloße
Masse es nicht.
Indem die Sozialkultur sich ganz und gar in das unmittelbare
Dasein hineinstellt, wird sie unvermeidlich die Masse zum Haupt-
träger des Lebens machen, wird sie wohl oder übel der Art huldigen,
mit der jene die großen Kulturfragen betreibt: hastig und aufgeregt,
maßlos im Ja wie im Nein, haftend am sinnfälligen Eindruck, mög-
lichst starke Erregung suchend, zwischen Gegensätzen hin- und her-
geworfen, aller Besonnenheit und Gerechtigkeit abgeneigt. Zugleich
wird das Individuum mehr und mehr zurückgestellt; selbst wo es
unbestreitbar Großes wirkt, gilt es hier als ein bloßes Werkzeug
der Gesellschaft,! als gleichgültig in allem, was es an Eigentüm-
lichem hat. Nun hat gewiß auch die größte Leistung ihre geschicht-
lichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhänge, alles
Schaffen wächst aus einer besonderen geistigen Atmosphäre her-
aus, es trägt damit unvermeidlich die Färbung seiner Zeit; ein
Augustin wäre nicht möglich zur Zeit Kants noch ein Kam zur Zeit
Augustins, ein Goethe nicht inmitten der Kreuzzüge. Aber solche
Bedingtheit anerkennen heißt nicht das Ganze für die erzeugende
Kraft erklären und das Individuum zu einem seiner Besonderheit
nach völlig gleichgültigen Werkzeuge machen. Bei allem inneren
Zusammenhang stand das Große zum Durchschnitt seiner Zeit ge-
wöhnlich im Verhältnis des Gegensatzes, meist hat es seine Größe in der
Art entu'ickelt, daß es eine Notwendigkeit seines eignen Wesens dem
Ganzen der Zeit gegenüber siegreich durchzusetzen wußte, sieg-
reich nicht in der Breite des Daseins, aber siegreich in der Sphäre
^ S. z. B. Comte, cours de phil. pos. IV, 269: Les hommes de genie
ne se presentaient essen tiellement que conime les organes d'un niouvement
predetermine, qui, ä leur defaute, se tut ouvert d'autres issues.
298 Zu den Problemen des Menschenlebens.
der geistigen Arbeit. Was dabei seine Leistung auszeichnet, ist vor
allem das Individuelle, Unvergleichliche und Unableitbare. Nur mit
Hilfe dessen ward es möglich, das Geistige, das in der Zeit sich
regte und aufquoll, das aber in ihrer Breite mit Niederem und
Fremdartigem untrennbar zusammenfloß, davon abzulösen und zu
klarer wie kräftiger Gestalt zu bringen, es zu einer aufrüttelnden
und erhöhenden Kraft zu erheben. Dabei erfuhr das Geistige selbst
eine Individualisierung, welche die Geschicke der Menschheit in
eigentümliche Bahnen trieb. Nirgends ist das deutlicher als auf dem
Gebiete der Religion. Denn das steht wohl außer Zweifel, daß ein
Augustin und ein Luther nicht bloß zusammenfaßten, was die Um-
gebung ihnen darbot, sondern daß sie die Probleme der weltge-
schichtlichen Lage in durchaus eigentümlicher Weise gelöst und zu-
gleich ihre geistige Art ganzen Jahrhunderten zwingend auferlegt
haben. Jede Zeit von kräftigerer geistiger Regung enthält verschie-
dene Möglichkeiten; welche von ihnen zur Wirklichkeit wird, das
hängt vor allem an den führenden Individuen. Schon das verbietet
eine Konstruktion der Geschichte aus einer Formel.
War das Große einmal da, so konnte es alles irgend Entgegen-
kommende an sich ziehen, Aufstrebendes verstärken, Zerstreutes ver-
binden, eine Gesamtbewegung erzeugen. Aber es war dabei nicht
ein Ergebnis der Summierung, vielmehr hat es seinerseits die
Summierung erst möglich gemacht. Denn die Summierung, das
Sichzusammenfinden, das den Vertretern der gesellschaftlichen Kultur
als so leicht erscheint, ist in Wahrheit ein überaus schweres Pro-
blem. In einer Zeit kann viel Verschiedenes, ja Widersprechendes
liegen und eine Summierung in mannigfacher Richtung, auch
in sehr abweichender Höhenlage möglich sein; was an Tüchtigem
an einzelnen Stellen aufstrebt, das findet sich oft nicht zusammen
und ist daher für das Ganze wie verloren. Daß die Verbindung der
aufstrebenden Kräfte nicht gelingen will, das kann eine Zeit mit
einem schweren Druck belasten; ein solcher Druck liegt auf unserer
eignen Zeit. Das eben ist das Werk der Großen, durch glückliche
Ausprägung eines geistigen Charakters und mutiges Vordringen eine
Summierung in bestimmter und erhöhender Richtung anzubahnen
und durchzusetzen; so waren sie die Herren, nicht die Diener der
Zeit. Sprechen wir von einer Goethezeit, weil in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts eine humane und künstlerische Denkweise
in der Art Goethes massenhaft verbreitet war, oder weil seine über-
Gesellschaft und Individuum. 299
ragende Persönlichkeit Gestalten schuf und Ziele vorhielt, an denen
sich minder Ausgeprägtes in die Höhe hob und zugleich mitein-
ander zusammenfand?
Wenn dem gegenüber die Sozialkultur die Abstufungen zurück-
stellt und nach möglichster Gleichheit strebt, so ist gewiß die Ab-
sicht der Besten, das Gesamtniveau zu steigern, möglichst viele,
möglichst alle auf die Höhe zu führen, ohne daß diese irgendwelche
Minderung erfährt. Aber auch hier ist die Natur der Dinge stärker
als die Absicht (ier Menschen. Unvermerkt wird der Stand des
Aufnehmenden zum Maß der geistigen Bewegung, und es sinkt
damit unvermeidlich die Höhe des Ganzen, es läßt sich die Arbeit
nicht vorwiegend auf die Wirkung bei anderen richten, ohne daß
sie eine Einbuße bei sich selbst erfährt. Schopenhauer teilte die
Denker in solche ein, die für andere, und solche, die für sich selber
denken, und erklärte nur diese für Denker echter Art; hat. er damit
Recht, wie wir meinen, so kann über die Gefahr einer vorwiegend auf
Mitteilung und Wirkung gerichteten Arbeit keinerlei Zweifel sein;
aus der Verbreiterung muß eine Verflachung werden, wenn nicht
eine Urerzeugung erfolgt, welche jener die Wage hält.
Dazu gesellt sich die Neigung, sich nicht nur des Schwächeren
anzunehmen, was sicherlich edel und recht ist, sondern sich mög-
lichst auf seinen Standort zu versetzen und das Ganze des Lebens
nach seinen Interessen einzurichten. Zeiten harter und weicher Denk-
weise pflegen miteinander abzuwechseln, heute herrscht unzweifel-
haft die weiche Art und erzeugt die Neigung, den Schwachen als
gut, den Starken als schlecht zu denken, daher beim Zusammenstoß
jenem ohne weiteres Recht zu geben. So nimmt eine weitverbreitete
Zeitströmung Partei für die Kinder gegen die Eltern, für die Schüler
gegen den Lehrer, durchgängig für den Untergebenen gegen den
Gebietenden, als sei alle Ordnung und alle Strenge nur ein Ausfluß
selbstischer und brutaler Gesinnung. Der kantische Satz: «Wenn
die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß
Menschen auf Erden leben" würde hier schwerlich Zustimmung
finden. Auch der drohende Feminismus hängt damit zusammen,
der nicht nur den Frauen zu ihrem gebührenden Recht verhelfen,
sondern die Erziehung wie die ganze Kultur möglichst ihren Inter-
essen gemäß gestalten möchte. So wird die höchst problematische
»Coeducation" vornehmlich deshalb empfohlen, damit die Frauen
nur ja genau so viel und genau dasselbe erhalten wie die Männer!
300 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Auf solchem Wege der Qleichmacherei muß die Kultur unvermeid-
lich ins' Welke und Matte geraten, sie wird vor aller kräftigen Art
und aller ausgeprägten Individualität wie vor einem Übel und Un-
recht zurückscheuen, sie wird, was noch schwerer wiegt, das ver-
lieren, was nach Ooethe's Wort »niemand mit auf die Welt bringt,
und worauf doch alles ankommt, damit der Mensch nach allen
Seiten zu ein Mensch sei": die Ehrfurcht.^
Derartige Bewegungen in die Breite und Fläche lassen sich
eine Zeit lang ertragen, der überkommene Lebensstand liefert einst-
weilen eine Ergänzung, für einige Zeit läßt sich ganz wohl vom er-
erbten Kapitale zehren. Aber schließlich erschöpft sich auch das
reichste Kapital, die Frage der Urerzeugung ist nicht dauernd ab-
zuweisen; sobald sie aber erscheint, werden die Schranken der ge-
sellschaftlichen Kultur unverkennbar. Die gesellschaftliche Kultur
konnte das Geistesleben auf den Menschen nicht stellen, ohne ihn
innerlich zu erhöhen; sie konnte der Gesellschaft die höchsten Güter
nicht anvertrauen, ohne mehr aus ihr zu machen. Aber mit eignen
Mitteln kann sie eine solche Erhöhung nicht bewirken, vielmehr
zerstört sie mit der Schwächung und Stagnation des Geisteslebens
die Bedingungen echter Größe und kann daher nicht verhindern,
daß eine bloße Menschen- und Massenkultur eine wesenhafie Geistes-
kultur überflutet und unterdrückt
Treten nicht schon heute solche Erfahrungen deutlich und
schmerzlich hervor? Würden wir unsere eigne Zeit von innen her
und im Ganzen sehen, wie hervorragende Geschichtsschreiber uns
frühere Zeiten sehen lassen, so möchte sich inmitten alles Glanzes
einer Außenkultur ein bewegendes Bild vor Augen stellen. Die
Menschheit wollte durch einen engeren Zusammenschluß und eine
vollere Entfaltung der Kräfte das Leben erhöhen, sie dünkte sich
stark genug, alles Geistesleben selbst zu erzeugen, in rastlosem
Wirken wollte sie einen Turm bis zum Himmel führen. Nun aber
erfährt sie bei allen äußeren Triumphen einen inneren Niedergang,
^ Der kräftige Widerspruch gegen die Mattheit und Schlaffheit jener
Qleichmacherei ist es vornehmlich, welcher Nietzsche Macht über die Seelen
gibt. „In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben
selber: in weite Femen will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten,
— darum braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen
und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und
steigend sich überwinden". (Also sprach Zarathustra.)
Gesellschaft und Individuum. 301
ja sie vermag sich selbst nicht mehr zusammenzufinden, sich selbst
zu verstehen, es droht ihr ein innerer Zerfall. Überall Gegensatz
und Streit, eine wachsende Leidenschaft des Kampfes, eine Auf-
lösung in Parteien, ein Entschwinden gemeinsamer Ideen und Ziele.
Wo wir unter Zurückstellung aller Weltprobleme bei uns selber
einig werden wollten und von solcher Einigung die schönsten
Früchte hofften, da ist eine Sprachverwirrung erfolgt, und wir werden
immer mehr der Zerstreuung und Zerstückelung verfallen, wenn es
nicht gelingt, jener Bewegung Einhalt zu gebieten, das menschliche
Dasein wieder in größere Zusammenhänge zu stellen und ihm einen
festeren Grund zu geben.
Bis dahin beschäftigte uns das Problem der Sozialkultur über-
haupt, es sei nun auch mit- einigen Worten der Stellung des Staates
im modernen Geistesleben gedacht. Die stärkere Machtentwicklung
des Staates steht heute uns allen vor Augen, und es drängen nament-
lich die sozialen Verwicklungen zu noch weiterer Steigerung; damit
aber erwächst die Gefahr, daß mehr und mehr das ganze Geistes-
leben unter den Einfluß des Staates gerät und seine Stemplung er-
fährt, und diese Gefahr, die Gefahr eines Politismus, wir wir sie
nennen möchten, ist nicht gering anzuschlagen. Die leitende Idee
des Staates ist und bleibt die Entwicklung der Macht; nun ist die
Macht keineswegs, wie wohl gesagt ist, an sich etwas böses, aber
sie ist sittlich"^ indifferent, sie kennt kein höheres Ziel als sich selbst.
Sie hat aus ihrer Natur das Streben, alle geistige Betätigung als ein
bloßes Mittel für ihre Zwecke zu behandeln, sie anerkennt keine
Selbständigkeit anderer Lebensgebiete. Wenn aber diese Gebiete
vor allem daraufhin angesehen und danach gemessen werden, was
sie für das staatliche Leben leisten, so verlieren sie ihren Selbst-
wert und müssen zugleich an der Ursprünglichkeit ihres Schaffens
schweren Schaden erleiden. Zugleich muß bei einer Beherrschung
des ganzen Lebens durch die Staatsidee die eigne Art und die freie
Bewegung des Individuums aufs stärkste eingeengt werden. Wenn
der Mensch sein Sinnen und Denken vor allem darauf richtet, einen
Platz im Staatsgefüge zu erringen und in diesem weiter zu kommen,
wenn sein Wert daran hängt, was er in ihm bedeutet und leistet,
so wird damit der Schwerpunkt seines Lebens nach außen verlegt,
die Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Lebens muß unver-
meidlich Schaden erleiden. Ob das Gefüge des Staates mehr demo-
302 Zu den Problemen des Menschenlebens.
kratischer oder aristokratischer Art ist, besagt dabei wenig. Wie
politische Größe mit geistiger Unproduktivität Hand in Hand gehen
kann, dafür liefert die römische Geschichte das schlagendste Bei-
spiel. Denn höchst merkwürdig ist und bleibt es, daß bei so viel
politischer FCraft, Weisheit und Disziplin jenes Volk nicht einen
einzigen großen philosophischen Gedanken, nicht eine einzige große
künstlerische Tat aus eignem Vermögen hervorgebracht hat.
Auch wir Deutschen müssen der Gefahren eingedenk sein,
welche unsere Entwicklung bei diesem Probleme mit sich bringt.
Jene alles zurückdrängende Macht der Staatsidee, jener Politismus,
tritt uns namentlich im preußischen Staat entgegen. Gewiß war eine
zeitweilige Unterordnung aller Aufgaben unter die Staatsidee eine
zwingende Notwendigkeit, wenn dieser Staat seine große weltge-
schichtliche Aufgabe lösen sollte; dabei hat sich hier der Ge-
danke der Macht aufs engste mit dem der Pflicht verbunden und
damit innerlich veredelt. Die Verbindung beider Ideen hat herr-
liche Leistungen hervorgebracht, die das Deutschland der Gegenwart
erst haben entstehen lassen. Aber alles dies darf die Gefahr einer
geistigen Unproduktivität, auch eines Einschnürens der Individuen,
einer typischen und schablonenhaften Gestaltung des Lebens nicht
übersehen lassen. Geistiges Schaffen und ursprüngliche Lebens-
führung wollen schlechterdings als Selbstzwecke behandelt sein, der
Politismus aber, mag er noch so veredelte Formen annehmen, mit
seinem Utilitarismus setzt sie unvermeidlich zu bloßen Mitteln und
Werkzeugen herab.
ßß. Die Unzulänglichkeit einer bloßen Individualkultur.
Die Gegenbewegung gegen die gesellschaftliche Kultur, die das
moderne Individuum vollzieht, entsprang zunächst weniger einer
Sorge um den geistigen Gehalt des Lebens, als sie die Schädigungen
abwehren wollte womit das Vordringen jener Kultur das Individuum
bedrohte; doch standen tiefere Probleme im Hintergrunde und ver-
schärften den Gegensatz. — Die gesellschaftliche Kultur behandelt
das Individuum als ein Stück ihres großen Räderwerkes, sie schätzt
es lediglich nach seinen Leistungen, sie muß es für ihre Zwecke
vielfach beengen und einschränken. Dazu wirkt sie mit ihren Ver-
zahnungen der Elemente, mit ihrer Anhäufung von Massen, ihrem
lauten und fabrikmäßigen Getriebe übermächtig zur Unterdrückung
und Abschleifung der individuellen Züge, sie gewährt keine stille
Gesellschaft und Individuum. 303
Ruhe zur Bildung eigentümlicher Art, sie erzeugt gewisse Durch-
schnitte, die sich selbst zum Maßstab für Gut und Böse, für Wahr
und Unwahr machen. Gegen solche Bindung und Gleichmachung
erhebt sich schließlich das Individuum kräftigerer Art und tritt dafür
ein, daß keineswegs der Mensch in das Verhältnis zur gesellschaft-
lichen Umgebung aufgeht, daß vielmehr das Beste an ihm: die Ein-
heit und die Innerlichkeit des Lebens, jenseit jenes Verhältnisses
liegt. Dabei kann es das Zeugnis der Weltgeschichte dafür anrufen,
daß alle vorwiegend gesellschaftliche Gestaltung der Kultur eine
Veräußerlichung und Mechanisierung bewirkte, und daß es keines-
wegs bloß ein trotziges Selbstgefühl der Individuen, sondern das
unabweisbare Verlangen nach mehr Seelenhaftigkeit des Lebens war,
was einen Bruch damit erzwang. Namentlich auf dem Gebiet der
Religion bringt die gesellschaftliche Gestaltung zur Kirche unver-
meidlich die Neigung mit sich, die Leistung (Gottesdienst, fromme
Werke, korrekte Bekenntnisse, überhaupt die sog. religiösen Ver-
pflichtungen) vor die Gesinnung, vor das persönliche Leben, vor
das Beisichselbstsein des Innern zu stellen; so hat das eigenste
Interesse der Religion immer von neuem einen Kampf gegen die
Kirche nötig gemacht.^ Zu solcher Verfechtung der Selbständigkeit
des Individuums gesellt sich ein flammender Protest gegen die
gleichförmige und schablonenhafte Gestaltung der Kultur, womit die
Gesellschaft das Leben bedroht. Sind die Durchschnitte, die dabei
entstehen, nicht recht geringer Art, und führen sie nicht leicht zur
Festlegung des Lebens auf einer nicht beträchtlichen Mittelhöhe?
Sind nicht in Wahrheit geistige Kraft und edle Gesinnung selten,
und bedürfen sie nicht zu ihrer Ausbildung voller Freiheit, zu einer
Wirkung auf das Ganze aber einer scharfen Ausprägung und
sicheren Befestigung in kleinen Kreisen einer engeren Jüngerschar?
So gab es keinen wesentlichen Fortschritt der Kultur ohne eine
Scheidung der Menschheit, ein Höheres mußte vorausgeworfen
werden, um das übrige nach sich ziehen zu können, eine Feuer-
säule mußte dem großen Haufen voranleuchten und ihm den Weg
durch die Wüste zeigen. Trotz aller Bedenken und Verwahrungen
ist immer wieder ein Gegensatz esoterischer und exoterischer Lebens-
' Beim Begräbnis eines Zentrumsführers wurde seitens eines hohen
Prälaten rühmend hervorgehoben, der Verewigte habe die Sorge für seine
Seele gänzlich den Händen der Kirche überlassen. — Ist es nicht entsetzlich,
daß eine derartige innere Preisgebung des Lebens auch noch belobt wird?
304 Zu den Problemen des Menschenlebens.
führung entstanden, auch die radikalste politische Verfassung hat die
Bildung schroffer sozialer Unterschiede nicht verhindert, ja bis in
die Äußerlichkeiten des Anstandes und der Sitte ist, wie einmal die
Menschen sind, der Ehrgeiz, es Höherstehenden gleichzutun, eine
unentbehrliche Triebkraft der Bewegung. Und bleibt nicht für jeden
Einzelnen alle geistige Tätigkeit matt und wie von außen angeweht,
wenn sie sich nicht mit seiner individuellen Art verflicht und
damit selbst individuell gestaltet, wenn er nicht bei ihr um sein
eignes Wesen kämpft? Bilden heißt scheiden, differenzieren, indivi-
dualisieren; so war die Scheidung überall ein unentbehrliches Mittel
für Bewegung und Weiterkommen.
Aus solchen Erwägungen gehen die Individuen von der Abwehr
zum Angriff vor und rücken der gesellschaftlichen Kultur ihre
Schranken deutlich vor Augen. Der Mensch, als denkendes Wesen,
ist eines unmittelbaren Verhältnisses zur Wirklichkeit fähig, er ist
kein bloßes Glied einer Verkettung, er kann sich der Unendlichkeit
gegenüberstellen und mit ihr ringen, er wird der Enge der bloßen
Zuständlichkeit bewußt und kann von ihr zur eignen Wahrheit der
Dinge streben. Gewiß stößt solches Streben auf Hemmungen über
Hemmungen, aber schon als Streben erweist es eine Überlegenheit
des Menschen über den Kreis der bloßen Gesellschaft. Ist es nun
nicht ein Widersinn, einem solchen Weltwesen das Geistesleben erst
durch die Gesellschaft vermitteln und es dabei an das Maß dessen
binden zu wollen, was der Zusammenschluß der Kräfte an Geistig-
keit erreicht hat? Soll das Wesen, das aus seinem Grundverhältnis
zur* Geisteswelt einen unendlichen Wert besitzt, sich seinen Wert erst
von menschlicher Schätzung zusprechen lassen, soll es von Gnaden
der Menschen leben und damit alle Unabhängigkeit der Gesinnung
verlieren? Soll der Mensch sich einer Wahrheit, ja einer geistigen
Existenz erst froh und sicher fühlen, nachdem die Gesellschaft sie
ihm mit Brief und Siegel verbürgt hat? Soll die Erzeugung geistiger
Güter, wenn nicht auf dem Markt des Lebens, so doch für ihn
erfolgen, und sollen damit jene Güter zu bloßen Marktwaren sinken?
In dem allen erscheint das Individuum, d. h. das geistig be-
wegte Individuum, als der Vertreter der Geisteskultur gegenüber
einer bloßen Menschenkultur, einer inneren Unendlichkeit gegen alle
äußere Begrenzung, es erscheint als eine Kraft, die der Verflachung
widersteht, aus der Erstarrung aufrüttelt, notwendige Ziele vorhält,
das menschliche Streben immer neu auf seine wahren Grundlagen
Gesellschaft und Individuum. 305
zurückführt. Und wenn solche Schätzung des geisterfüllten Indivi-
duums notwendig eine Abhebung vom gesellschaftlichen Durchschnitt
mit sich bringt, so wird sie auch die diesem Durchschnitt eigne
Unduldsamkeit gegen alles irgend Überragende mit sicherem Stolze
abweisen. Es gibt einen gemeinen Neid und Haß des Mittelmäßigen
gegen das Höhere als gegen eine Überschreitung und Herabsetzung
der eignen Dürftigkeit; dies Höhere wird leidlich geduldet nur dann,
wenn es sich bescheiden duckt, für sein Dasein höflichst um Ent-
schuldigung bittet, alle Äußerung des Kraftgefühls behutsam unter-
drückt. Daher steht die Tugend der Bescheidenheit beim Philister-
tum so hoch in Ehren. Nahe verwandt ist dem das Unterordnen
des Verschiedenartigsten und Verschiedenwertigsten unter die gleichen
Begriffe, das Operieren mit nichtssagenden Schablonen von Lob und
Tadel, jene laue und matte Art, die keiner kräftigen Liebe und keines
kräftigen Hasses fähig ist, der Licht und Dunkel in einen grauen Nebel
zusammenfließen. Demgegenüber zur Kräftigung des Empfindens,
zur 'Schärfung des Urteils, zur Scheidung der Geister zu wirken,
das ist ein gutes Recht, ja eine heilige Pflicht des Individuums.
Freilich kann das Individuum in rechtem Sinne überlegen nur
werden, wenn es eine Geisteswelt hinter sich hat und aus ihrer Kraft
zu schöpfen vermag. Dies aber ist keineswegs die Meinung des
modernen Individualismus, wie er sich im Durchschnitt ausnimmt.
Er stellt das Individuum gänzlich auf sein unmittelbares Dasein
und heißt es von da das Leben gestalten; er ist besonders be-
flissen, alle unsichtbaren Zusammenhänge zu lockern, nicht nur die
Bindung an Menschen, sondern auch die an eine Geisteswelt abzu-
streifen. So verbleibt ihm nichts anderes als der unmittelbare
seelische Zustand, das subjektive Befinden; indem dies zum Kern
alles Lebens wird, verschmilzt der Individualismus mit dem Sub-
jektivismus. Augenscheinlich entsteht damit eine gewisse Art von
Wirklichkeit. Jene Zuständlichkeit läßt sich fixieren und steigern.
Eigentümliches vermag sich schrankenlos auszubilden, Leben immer
neu aufzuquellen, sein Stand sich unablässig zu verändern. So
eine große Leichtigkeit, Frische und Flüssigkeit, das Leben scheint
hier ganz auf sich selbst gestellt, und bei solcher Freiheit feiner,
zarter, intimer geworden als irgendwo sonst. Auch der Begriff der
Wahrheit verliert seine sonstige Schwere und Starrheit. Denn als
wahr gilt nunmehr nur das, was die Seele des Einzelnen erlebt und
was sie eben jetzt erlebt; so weicht der Begriff einer einzigen Wahr-
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 20
306 Zii den Problemen des Menschenlebens.
heit dem unzähliger Wahrheiten, jeder Mensch hat hier seine eigne
Wahiheit. Eine besondere Freude und Bewußtheit gibt dem der
Kontrast zur Gesellschaft, deren Einrichtungen und Anordnungen
dem Lebensgefühle des Individuums oft widerstreiten; so heißt es
denn demgegenüber das Leben stets in Freiheit und Fluß zu er-
halten, das Eigentümliche möglichst zu stärken und deutlich her-
vorkehren.
Das alles konnte aber den Stand einer formlosen Erregung und
unklaren Bewegung nicht überschreiten ohne sich irgend in geistige
Arbeit umzusetzen, es fand solche Umsetzung durch die Wendung
zur Kunst und Literatur. Die Kunst in ihrer mannigfachen Ver-
zweigung wird hier zum Hauptmittel, das sonst unstet wogende und
wallende Leben irgend zu fassen und festzulegen, durch die Fassung
aber es zu verstärken, es bei sich selbst voll durchzubilden und
nach außen hin unabhängig zu machen. Konzentration des Lebens
in sich selbst und Steigerung seiner Kraft, das wird damit zur Haupt-
aufgabe der Kunst. Sie wird die Seele einer individuell -aristokra-
tischen Kultur, die sich als die vornehmere einer praktisch-sozialen'
weit überlegen fühlt; die Kunst kann das werden, weil sie selbst
über aller bloßen Zweckmäßigkeit liegt und den Menschen vor-
wiegend auf sein individuelles Vermögen stellt, weiter aber deshalb,
weil sie aus aller Verworrenheit und Vergriffenheit des Durch-
schnittslebens die einfachen Grundzüge menschlichen Seins heraus-
sehen. Ewigjunges in ihm ergreifen und es damit aus aller Erstarr-
ung im Konventionellen aufrütteln kann.
Leicht überträgt sich aber solche Abstufung des Lebens auf
das Bewußtsein der Individuen und gerät dabei rasch auf eine ab-
schüssige Bahn. Nicht nur, wer an der neuen Art mit eignem
Wirken teilnimmt, sondern auch, wer sich bloß dazu bekennt, glaubt
sich der übrigen Menschheit und der gesellschaftlichen Kultur über-
legen; es entsteht eine Neigung, den Abstand hervorzukehren, das
Gegenteil des Landläufigen zu tun, in der Absonderung ein Ge-
fallen, ja eine Größe zu suchen. Und zugleich greift der An-
spruch um sich, unbekümmert um alles, was da gilt, um Sitte und
Gesetz, die eigne Art nach Lust und Laune zu entfalten, sich rück-
sichtslos M auszuleben". Die Individualkultur mag das alles nicht
wollen, unter menschlichen Verhältnissen ist solche Folge schwer zu
vermeiden.
Derartige subjektivistische Strebungen und Stimmungen spielen
Gesellschaft und Individuum. 307
bekanntlich eine große Rolle in der neuesten Gestaltung des Lebens.
Neu ist dabei freilich nur der Name, die Sache ist alt, uralt. Denn
wie in periodischer Wiederkehr kommen immer wieder Lagen, wo
das unmittelbare Lebensgefühl von der dargebotenen Kultur nicht
befriedigt war und nun als Hülfe und Heil die völlige Emanzipation
des Individuums verkündet wurde, wo seine unmittelbare Empfindung,
sein selbstgefundenes Urteil, sein künstlerischer Geschmack eine
Wendung zum Besseren bringen sollte. Wer Piatos Gorgias kennt, der
kennt auch die nahe Verwandtschaft der Sophisten mit den heutigen
Subjektivisten; in Deutschland brachte zuerst die Geniezeit, die Vor-
läuferin der klassischen Literaturepoche, eine derartige Emanzipation
des Einzelnen; damals waren »Genie", »Kraftgenie«, «Originalgenie"
Modewörter wie heute «Übermensch"; auch »schöne Seele" steht in
Verwandtschaft mit dieser Bewegung.^ Dann kam eine neue Welle
in der Romantik, deren nahe Verwandtschaft mit dem ästhetischen
Subjektivismus der Gegenwart deutlich zutage liegt.
Das Ganze gerecht zu beurteilen ist schwer, weil es sich offenbar
um eine Übergangserscheinung handelt, die um so mehr Vernunft
und Recht besitzt, je mehr sie sich weiteren Zusammenhängen einfügt
und über sich selbst hinausweist, die um so mehr ins Unrecht gerät,
^ Über das Aufkommen und die Schicksale des Ausdrucks Genie handelt
in mustergültiger und erschöpfender Weise Hildebrand in Grimms deutschem
Wörterbuch. Hinzufügen möchten wir nur eine Stelle aus dem kürzlich ver-
öffentlichten Briefwechsel zwischen Goethe und Lavater, die für die schärfere
Abgrenzung von „Genie" gegenüber „Talent" von Bedeutung ist. Goethe
schreibt (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 16, S. 125) 24. Juli 1780:. „Bei
Gelegenheit von Wielands Oberon brauchst du das Wort Talent, als wenn es
der Gegensatz von Genie wäre, wo nicht gar, doch wenigstens etwas sehr
subordiniertes. Wir sollten aber bedenken, daß das eigentliche Talent nichts
sein kann als die Sprache des Genies." Lavater antwortet darauf (unterm
5. August 1780) mit einer längeren Auseinandersetzung über den Untei-
schied von Talent und Genie (S. 130ff.), woraus nur folgendes angeführt sei:
„Nur Ein Wort von Talent und Genie. Zwei Worte, die ihrem Sinn und
Gehalte nach ungefähr so verschieden sein mögen wie schön und erhaben.
Talent, mein' ich, macht mit Leichügkeit, was tausend andere nur mit äußerster
Mühe und Langsamkeit machen können; oder es macht mit Frohmut und
Grazie, was andere nur gerecht und korrekt machen; Genie macht, was nie-
mand machen kann. Alle Werke des Talentes erregen bewunderndes Wohl-
gefallen; Genie erweckt Ehrfurcht, erregt ein Gefühl, das der Anbetung
nahekommt." — Über „schöne Seele" bringen die beste Aufklärung die
neuesten von Ippel besorgten Auflagen von Büchmanns Geflügelten Worten.
20*
308 Zu den Problemen des Menschenlebens.
je starrer sie sich festlegt und in sich selber einspinnt. Dazu ver-
hindert hier die Verpönung aller bindenden Normen alle scharfe
Scheidung zwischen Höherem und Niederem, zwischen geistiger
Notwendigkeit und menschlicher Willkür, bunt wirbelt Mannigfachstes
durcheinander, kaum vermeidlich ist die Gefahr, in Anerkennung
des Höheren nachgiebig gegen das Niedere, in Abwehr des Niederen
ungerecht gegen das Höhere zu werden. Trotzdem läßt sich auf
irgendwelche. Würdigung nicht wohl verzichten.
Warum kann eine auf das bloße Individuum und seine Zu-
standlichkeit gestellte Kultur nicht genügen? Aus zwei Hauptgründen
nicht: 1. weil das Individuum des unmittelbaren Daseins — und
das allein steht hier in Frage — weder unabhängig noch selbst-
genugsam ist, 2. weil das von ihm entwickelte Leben um so leerer
und hohler wird, je mehr es seine Folgen hervortreibt. — Das
empirische Individuum ist in Wahrheit alles eher als unabhängig.
Denn Vererbung, Umgebung, Erziehung bedingen es nicht nur aufs
mannigfachste, sie scheinen es gänzlich hervorzubringen; sie flechten
ein so dichtes Netz, daß ihm weder List noch Gewalt entrinnen
kann. Sicherlich reicht diese Bindung auch in jenes Innerste der
Seele, das der Individualismus für völlig freischwebend ausgibt.
Jedenfalls ist es nicht deshalb schon frei, weil der unmittelbare Ein-
druck keine Bindung empfindet. Denn mag sich der Individualist
der Welt noch so keck entgegenwerfen und sich völlig von ihr ab-
zulösen scheinen, er bleibt doch im Schatten und Bannkreis dieser
Welt Seine vermeintliche Unabhängigkeit ist gewöhnlich nur eine
andere Art der Abhängigkeit, eine indirekte Abhängigkeit Der Indi-
vidualist ist geneigt, das Gegenteil dessen zu sagen und zu tun, was
die Umgebung sagt und tut, so ist es diese, we'.he ihm die Richt-
ung vorschreibt; die Kette ist nicht zerbrochen. Der Individualist
fühlt sich der Umgebung überlegen, aber den Abstand ermessen und
genießen kann er nur, sofern er die anderen im Auge behält; so
bleibt er auch hier an sie gebunden. Er wonnt im stolzen Gefühl
der Unabhängigkeit, aber er muß dabei unablässig die anderen als
Zuschauer und Bewunderer solcher Größe denken. Das Leben
kommt also nicht zu einer festen Ruhe und einem freudigen Schaffen
bei sich selbst, es steht nicht auf seinen eignen Notwendigkeiten. So
kann es die Beziehung zum Menschen nicht aufgeben, so muß es
vom Kontraste leben, vom Kontraste zehren, so überwindet es nie
den Stand einer inneren Abhängigkeit
Gesellschaft und Individuum. 309
Auch gerät bei solcher Wendung das Bewußtsein der Größe
in Gefahr, einen Zusatz von Eitelkeit aufzunehmen. Starke Unter-
schiede des Lebens und Wesens sind da, der Grad der Belebung
der Geistigkeit zeigt weiteste Abstände, die ordinäre Gleichmacherei,
deren Stumpfheit alles zusammenwirft, wird mit Recht verworfen.
Auch sei ja nicht die Individualität irgend verdunkelt oder abge-
schwächt! Denn sie ist dem geistigen Schaffen zu seiner vollen
Wahrheit und Durchbildung unentbehrlich; gelangt es an der
einzelnen Stelle nicht auf den Punkt seiner eigentümlichen Stärke,
wo es vollauf seine eigne Natur entfaltet, so wird es nie der Wider-
stände Herr werden. Aber in dem allen muß eine überlegne Not-
wendigkeit des Lebensprozesses walten, ein geistiger Zwang den
Menschen treiben und leiten; nyr dann verbleibt die Sache gesund
und wahr. Sie verfällt sofort ins Künstliche und Ungesunde, wenn
das Individuum darauf ausgeht, sich möglichst an jeder Stelle indi-
viduell und groß zu zeigen, wenn es den Abstand geflissentlich
hervorkehrt, wenn es gar zur Sache reflektierenden Genusses macht,
dessen Ausführung reine Hingebung und selbstlose Liebe verlangt.
Jedes Zurücktreten hinter die Sache, jedes Aufkommen eitler Selbst-
bespiegelung schwächt die geistige Kraft und lockert den Zusammen-
hang mit den inneren Notwendigkeiten, an dem alles Gelingen liegt.
«Originalität muß man haben, nicht danach streben" (J. Burckhardt).
Gewiß kämpft unter der Fahne des modernen Individualismus
vieles, was solchen reflektierenden Subjektivismus mit seinem epikure-
ischen Selbstgenusse weit überragt; namentlich läßt sich der Ernst
und der Eifer der modernen bildenden Kunst, sowie die unverkenn-
bare Größe ihrer Leistung nur verstehen aus dem Erscheinen neuer
sachlicher Aufgaben, frischer Antriebe des Schaffens, welche der
Wirklichkeit neue Seiten abgewinnen und ein innerlicheres Verhältnis
zu ihr eröffnen. Aber je bedeutender die Arbeit, desto mehr ver-
setzt sie in innere Zusammenhänge und Notwendigkeiten, unterwirft
sie das Schaffen einer überlegenen Wahrheit, befreit sie vom bloßen
Subjektivismus und Individualismus. Unvermerkt wird hier aus einem
Individuum gegenüber der Geisteswelt ein Individuum mit der Geistes-
welt; einem solchen aber kann der heutige Sturm und Drang nur
einen Übergang zu einer höheren Stufe der Wahrheit bedeuten.
Ähnlich bewahrt auch bei der Frage des Lebensinhalts den
reinen Individualismus und Subjektivismus nur eine unablässige Er-
gänzung vor unerträglicher Leere. Streng genommen muß er die
310 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Seele in lauter einzelne Vorgänge, schließlich in bloße Stimmungen
auflösen, die in rascher Flucht einander jagen und vertreiben. Da
jeder Augenblick genau so viel Recht wie der andere hat, so hätte
jeder seine eigne Wahrheit; was dabei zunächst ein Gewinn scheinen
mag, das stellt sich schließlich als ein schwerer Verlust heraus.
Das menschliche Leben erschöpft sich keineswegs ganz in lauter
einzelne Augenblicke. Die Augenblicke mit ihren Erlebnissen ver-
sinken nicht völlig, sie kehren zurück, sie stellen sich uns vor die
Seele; so muß der Mensch sie vergleichen und verbinden, sie be-
urteilen und messen, so steht er über den bloßen Augenblicken.
Daher muß er auch das Unwahrwerden dessen erleben, was ihm
heute als wahr gilt, daher empfindet er die Flüchtigkeit und Nichtig-
keit des ganzen Getriebes, daher überzeugt er sich, daß eine Wahr-
heit für gestern oder heute überhaupt keine Wahrheit ist, daß sein
Leben alle und jede Wahrheit verliert^ wenn es an die bloßen Augen-
blicke gebunden bleibt Gibt es etwas, das mehr ermüdet und tiefer
niederdrückt, als der unablässige Umschlag der Meinungen und
Stimmungen, das eifrige Verketzern dessen, was eben noch begeistert
verehrt wurde, die Herabsetzung aller geistigen Bewegung zu einer
Sache bloßer Laune und Mode?
Der Individualismus möchte dem menschlichen Leben zur vollen
Entwicklung seiner Kraft verhelfen und ihm möglichst den Charakter
der Größe geben. Das ist ein Streben, das sich vollauf verstehen
und würdigen läßt. Steht der Mensch an einem Wendepunkt des
Alls, beginnt in ihm eine höhere Stufe der Wirklichkeit, so gilt es
dies Höhere zu ergreifen und gegen allen Widerspruch des Alltages
durchzusetzen, es gilt, um mit Marc Aurel zu sprechen, wie auf
einem Berge zu leben. So hat sich von alters her, wo immer der
Abstand zwischen den Forderungen des Geisteslebens und der Durch-
schnittslage der Menschheit zur deutlichen Empfindung gelangte, mit
zwingender Notwendigkeit der Gedanke einer höheren Art des Lebens,
einer inneren Größe des Menschen entwickelt; er läßt sich von der
Höhe der griechischen Kultur durch mannigfaltigste Wandlungen hin-
durch bis zur Gegenwart verfolgen. ^ Aber wird der moderne Indi-
^ Eine solche Verfolgung des Problems durch die verschiedenen Zeiten
hindurch wäre eine anziehende Aufgabe. Den wissenschaftlichen Ausgangs-
punkt würden dabei die eindringenden Untersuchungen des Aristoteles über
den Großgesinnten (jjLEYaXdlu/o;) bilden. Hier sind die Begriffe noch mitten
im Fluß, der Gedanke einer Größe innerhalb des menschlichen Kreises ver-
Gesellschaft und Individuum. 311
vidualismus zu einer wahrhaftigen Größe gelangen, wenn er alle
inneren Zusammenhänge und damit alle Möglichkeit einer Erweiter-
ung des Menschen zu einem Weltwesen aufgibt? Es gibt kaum
einen härteren Widerspruch, als den Menschen zu einer überlegenen
Innerlichkeit führen zu wollen und zugleich eine selbständige Innen-
welt schroff und erbittert zu bekämpfen. Mag der heutige Stand
der Religion, die ja an erster Stelle jene selbständige Innenwelt ver-
tritt, vielfach unerfreulich sein, wir sollten doch als freie Menschen
unsere Begriffe und Überzeugungen von höchsten Dingen nicht nach
dem bilden, was die Umgebung uns zuführt, sondern nach dem,
was die Notwendigkeit des eignen Lebens verlangt. Ohne eine Um-
kehrung der ersten Lage, ohne Metaphysik gibt es keine selbständige
Innenwelt, keine wahrhaftige Größe des Lebens. Wo immer daher
aus dem Gemenge des modernen Lebens Gestalten merklich hervor-
ragen, da ist eine Wendung zur Metaphysik mit im Spiel. So z. B.
bei Nietzsche.. In seinen Begriffen hat er alle Metaphysik nach-
drücklichst bekämpft, in seinen Stimmungen wirkt eine völlig andere
Welt als die des nächsten Anblicks, und eben als künstlerischer
Bildner dieser Welt, als Metaphysiker der Stimmung, hat er die
hinreißende Gewalt über die Gemüter gewonnen. Ähnlich geht
es der gesamten modernen Strömung zur Romantik. Die bloße
Stimmung aber reicht nun und nimmer aus, eine Größe gegenüber
den verflachenden und niederdrückenden Wirkungen der Umgebung
auszubilden und durchzusetzen, sie gibt nur eine Größe der Mein-
ung, nicht der Wirklichkeit. Aus nichts läßt sich nichts bauen, und
die bloße Stimmung hat nichts hinter sich.
Nicht anders steht es mit dem Verlangen nach Kraft. Ja gerade
heute bedürfen wir gegenüber schweren Verwicklungen und großen
Aufgaben des Qesamtlebens viel Kraft, mehr Kraft, als die bloß-
gesellschaftliche Kultur zu bereiten vermag, aber durch ein bloß-
wandelt sich fast unvermerkt in den einer Größe im Gegensatz zu allem
Menschlichen. Die alte Weit denkt bei der Größe namentlich an eine dem
menschlichen Getriebe überlegene Ruhe und Selbständigkeit, die Neuzeit
mehr an ein überlegenes Leistungsvermögen und eine geistige Schöpfungs-
kraft; so auch hier der Gegensatz der Ideale von Beharren und Bewegung.
Das viele Gerede von Größe dürfte namentlich aus der Zeit Ludwigs XIV.
stammen, wenigstens berauschen sich die Schriftsteller jener Zeit besonders
an jenem Begriffe. Die bedeutendste neuere Untersuchung über historische
Größe dürfte die von Jakob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen
Betrachtungen" sein.
312 Zu den Problemen des Menschenlebens.
subjektives Sichemporheben, ein Sicheinreden der Kraft, ein Sichr
distanzieren von den anderen Menschen kommen wir nun und nimme:
zu wahrhaftiger Kraft Die eigne Erfahrung der Gegenwart zeigt
das deutlich genug. Mehr reden von Kraft, als wir es heute tun,
läßt sich schwerlich; sind wir dadurch kräftig geworden, zeigt unser
literarisches und unser politisches Leben eine Fülle starker, selbst-
wüchsiger, ausgeprägter Persönlichkeiten, eine Fülle großer, erhöhender
Schöpfungen ?
XX- Die Notwendigkeit einer inneren Überwindung des Gegensatzes.
Wenn weder die bloßgesellschaftliche noch die individualistische
Kultur den Aufgaben gewachsen ist, wenn keine von beiden dem
Leben einen wesenhaften Inhalt gibt, und wenn zugleich außer Zweifel
steht, daß nur eine klägliche Stumpfheit einen direkten Kompromiß
zwischen beiden versuchen, das Leben zwischen hier und dort ver-
teilen kann, so müssen wir unbedingt dem Gegensatz überlegen
werden. Individuum und Gesellschaft sind notwendige Seiten und
Erscheinungsweisen des Geisteslebens, zu seiner Ursprünglichkeit be-
darf es der Individuen, zu seiner Befestigung der Gesellschaft; Indi-
viduum und Gesellschaft aber ziehen ihre Kraft und Wahrheit nicht
aus sich selbst, sondern aus den geistigen Zusammenhängen, die sie
umfangen. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird
sich auf dem Boden der Geschichte verschieden gestalten; die Ge-
sellschaft hat für sich den Zug des Lebens, wo es nach Auflösungen
und Erschütterungen vor allem einer Befestigung bedarf, wie z. B.
beim Ausgang des Altertums. Was damals auch die kräftigsten
Individuen zwingend zur Anlehnung an die Gemeinschaft trieb,
das stellt uns Augustin mit voller Klarheit vor Augen. Die Be-
wegung zum Individuum erhält dagegen die Oberhand, wo frisch
aufstrebende Kräfte die überkommenen Ordnungen als zu eng und
starr empfinden und nur in Befreiung von ihnen neue Bahnen zu
suchen vermögen. Das war der Haupttrieb der Neuzeit bis ins
19. Jahrhundert hinein. Daß dann ein Rückschlag kam, und daß in
der Gegenwart zugleich die Gesellschaft und das Individuum eine
Verstärkung verlangen, daß eine praktisch-soziale und eine künstlerisch-
individuale Art um den Menschen kämpfen, das zeigt mit besonderer
Deutlichkeit die innere Zerklüftung unserer Zeit, das muß aber zu-
gleich als ein zwingender Antrieb zur Erhebung über jenen Gegen-
satz, zur Wendung von einer bloßen Menschenkultur zu einer
Gesellschaft und Individuum. 313
Geistes- und Wesenskultur wirken, die jenen zu umspannen vermag.
Nur durch ein inneres Vordringen des Lebens läßt sich jener Zer-
klüftung begegnen; denn was überall von den echten Problemen,
das gilt besonders hier, daß nicht Meinungen gegen Meinungen,
sondern Lebensentfaltungen gegen Lebensentfaltungen stehen.
b) Die sozialdemokratische Bewegung.
Von geistigen Strömungen der Gegenwart läßt sich nicht wohl
handeln, ohne der Sozialdemokratie zu gedenken; da aber über sie
so viel bis zum Überdruß verhandelt und geschrieben wurde, so
empfiehlt sich die strengste Beschränkung auf das, was die philo-
sophische Betrachtung an Eigentümlichem vorzubringen hat.
Ihr muß aber für die sozialdemokratische Bewegung am meisten
charakteristisch scheinen, daß sie drei verschiedene Strömungen zu-
sammenfaßt und zur Wirkung verbindet: die demokratische, die öko-
nomische, die politistische;.es handelt sich einmal um die- Verlegung
des Schwerpunktes des gemeinschaftlichen Lebens in die Massen,
sodann um die Erhebung des wirtschaftlichen Problems zur be-
herrschenden Seele jenes Lebens, endlich um die Anerkennung des
Staates als des einzigen Trägers von Vernunft und Macht. Durch
den Staat zu gunsten der Massen eine ökonomische Umwälzung
herbeizuführen und aufrecht zu erhalten, das ist der Zentralgedanke,
bei dem alle einzelnen Fäden zusammenlaufen. Das Ganze aber
schöpft namentlich daraus Kraft, daß die einzelnen Bewegungen
schon vor ihrer Vereinigung die Menschheit geweckt und begeistert
hatten, und daß ihre Verschmelzung nur zu vollenden scheint, was
sonst bei unbestimmter Fassung verbleibt und vor seinen eignen
Konsequenzen zurückschreckt. Der weltgeschichtliche Verlauf jener
Strömungen sei in Kürze betrachtet.
Bei Demokratie denken wir keineswegs bloß an den Staat,
sondern an alles Zusammenleben der Menschheit und an alles Ver-
hältnis der Individuen zu den gemeinsamen Lebensgütern. Die Neu-
zeit ist schon deswegen jener Richtung günstig, weil schwere Hemm-
ungen früherer Epochen in Wegfall kamen. Im Altertum widerstand
einer Anerkennung der Gleichheit aller Menschen die Beschränkung
der Kultur auf einzelne Völker, so daß die Sklaverei auch den
Besten keinen Anstoß erregte; was dem Christentum die Eröffnung
eines unmittelbaren und eines gleichen Verhältnisses aller Individuen
314 Zu den Problemen des Menschenlebens.
zu Gott an Demokratischem einpflanzte, das wurde sowohl durch
die bis in die Anfänge zurückreichende hierarchische Gestaltung als
durch die transzendente Lebensstimmung recht weit zurückgedrängt.
Erst in einzelnen Zweigen der Reformation kam es zu stärkerer
Entfaltung, um dann aber bald in die moderne Bewegung überzu-
gehen. Die Neuzeit richtet den Menschen immer mehr und immer
ausschließlicher auf das Diesseits, und zugleich macht ihr Hauptzug,
die Aufklärung, zur Hauptsache an ihm etwas, das jenseit aller Unter-
schiede der Individuen liegt: die abstrakte Vernunft, das reine Denken.
Je mehr sich das zu voller Bewußtheit erhebt und auch in die Über-
zeugung der Individuen eindringt, desto unwiderstehlicher wird es;
immer mehr läßt damit das Menschsein alle gesellschaftlichen Unter-
schiede verblassen, immer unabweisbarer wird die Anerkennung der
Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt. Wohl enthält
auch die Neuzeit Gegenwirkungen zu gunsten eines Aristokratismus.
Große Unterschiede von politischer Stellung, von Besitz und von
Bildung übermittelt die Geschichte; aristokratischer als alle Geschichte
erweist sich bleibend die Natur mit ihren Unterschieden der körper-
lichen und seelischen Ausstattung; eine eigentümliche Aristokratie
schafft auch die moderne Kultur mit der technischen Gestaltung und
der wachsenden Verzweigung der Arbeit. Denn je mehr diese zu-
nimmt, desto mehr Gliederung und Abstufung erzeugt sie, desto
mehr Anordnung und Beherrschung bedarf sie, desto stärker wirkt
sie zu gunsten eines neuen Aristokratismus. Alle solche Wider-
stände der Dinge hindern jedoch nicht das Vordringen der
demokratischen Strömung in der menschlichen Überzeugung; die
Abstufung wird bald als künstlich oder doch künstlich geworden
bekämpft, bald als nebensächlich beiseite geschoben; jedenfalls wird
sie nicht wie ein starres Schicksal hingenommen, sondern durch
menschliche Gegenwirkung tunlichst verringert. Mögen bei dieser
Bewegung die kleinen Wogen vielfach zurücklaufen, die große Woge
geht noch immer in der Richtung der Demokratie.
Auch die Selbständigkeit und das Übergewicht der wirtschaft-
lichen Fragen ist erst auf dem Boden der Neuzeit erwachsen. Ge-
wiß war die Sorge um das Mein und Dein den Individuen zu
allen Zeiten die alles überragende Hauptsache; nur ein arger Fehl-
schluß konnte früher das antike Leben lediglich idealen Aufgaben
zugewandt denken, weil die Philosophen das übermächtige Verlangen
nach Geld und Gut aufs stärkste zu brandmarken suchten. Aber
Gesellschaft und Individuum. 315
eine prinzipielle Würdigung fand das wirtschaftliche Gebiet in der
antiken Lebensordnung nicht. Es fand es einmal nicht, weil die
volle Glückseligkeit von der Entfaltung einer festen und begrenzten
Natur erwartet wurde, diese Entfaltung aber nur eines beschränkten
Aufwandes äußerer Mittel bedarf; es fand es auch deshalb nicht,
weil jenes ethisch-künstlerische Lebensideal unbedenklich vom Indi-
viduum auf die Gemeinschaft übertragen und auch bei dieser jene
Grenze gezogen wurde. Das Christentum mit seiner Richtung der
Gedanken auf eine übersinnliche Welt widerstand noch mehr einer
Schätzung der wirtschaftlichen Güter. Die Theorie aber blieb bei
ihm durchaus unter dem Einfluß des Altertums. Die Neuzeit da-
gegen mit ihrem Verlangen nach Entwicklung aller Kraft und ihrem
Streben zur unmittelbaren Welt stand von vornherein anders zur
Sache. Die materiellen Güter gelten hier als ein unentbehrlicher
Hebel zur Bewegung der Kräfte, sie scheinen den Fortschritt sowohl
einzuleiten als weiterzuführen. Dazu wird das wirtschaftliche Streben
durfch die Bildung nationaler Einheiten verstärkt und veredelt, die
alten Bedenken verblassen, indem sich die Ökonomie zur National-
ökonomie gestaltet. Schon die Renaissance zeigt die veränderte
Schätzung, die dann im Frankreich des 17. Jahrhunderts den Über-
gang in die Politik eines Großstaats findet. So war es in den all-
gemeinen Verhältnissen vorbereitet, wenn schließlich die Theorie in
A. Smith die wirtschaftliche Bewegung zum Kern und zum maß-
gebenden Typus des gesamten Kulturlebens machte und als die
Haupttriebkraft aller Bewegung auch in Wissenschaft, Kunst, Er-
ziehung, Religion das Streben nach besserer Lebenshaltung erklärte.
An entschiedenem Widerspruch gegen solche Führerstellung des
Ökonomischen hat es nicht gefehlt, aber andererseits hat das unab-
lässige Wachstum einer technischen und verfeinerten Kultur die Be-
deutung der materiellen Güter immer weiter gesteigert; auch das
Anschwellen des Realismus, der die Abhängigkeit des Geisteslebens
von Naturbedingungen deutlich vor Augen stellt und alles Innere
von außen her ableiten möchte, unterstützt das weiter. Erzeugt nun
in vollem Gegensatz zu A. Smiths Optimismus die neueste Gestalt-
ung der Arbeit schwere Verwicklungen auf wirtschaftlichem Gebiet,
so kann es nicht Wunder nehmen, wenn von der Lösung dieser
Verwicklungen, von der Herstellung einer neuen ökonomischen Ord-
nung Heil für das ganze Leben erwartet wird.
Die dritte Strömung ist der Politismus, die Schätzung und
316 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Überschätzung des Staates. Wie viel im 1 9. Jahrhundert dazu trieb,
das hat uns schon früher beschäftigt; die Neigung, in allen Dingen
den Staat voranzustellen und ihm die Leitung aller Kulturarbeit zu-
zuweisen, ist sichtlich noch immer im Wachsen. Auch hier bringt
die Sozialdemokratie nur zu vollem und starkem Ausdruck, was,
verblaßt und abgeschwächt, die meisten beherrscht Zufällig ist es
jedenfalls nicht, daß in Deutschland mit seiner Neigung zur Staats-
omnipotenz die Sozialdemokratie besonders rasch vordrang, während
sie bei den angelsächsischen Völkern langsamer Boden gewinnt.
Die Verbindung des Demokratismus, Ökonomismus, Politismus
ist an sich keineswegs nötig, ja die Frage liegt nahe, ob sie nicht
harte Widersprüche enthalte, ob im besondem nicht die vom Demo-
kratismus verfochtene Freiheit der Individuen mit der Zwangsgewalt
des Staates unversöhnlich zusammenstoße. Wie immer es aber mit
der Berechtigung jener Verbindung stehen mag, zunächst ist sie eine
geschichtliche Tatsache, und mit der Macht einer Tatsache ergreift sie
die Zeitgenossen. Auch haben jene Hauptrichtungen trotz aller Differenz
eine innere Verwandtschaft, die namentlich in der Verneinung be-
merklich wird. Abgelehnt wird durchgängig alles Jenseitige und
Metaphysische, also auch eine selbständige Qeisteswelt; das Ganze
will durchaus immanent, will bloße Diesseitskultur sein und wird
damit bloße Menschenkultur. Diese Grundüberzeugung spricht aus
dem Glauben an die Masse, sie spricht aus der Voranstellung der
wirtschaftlichen Güter, sie erscheint in der Erhebung des Staates zum
Träger der Vernunft. Daher ist die Meinung verfehlt, mit jener
Gedankenwelt eine religiöse Überzeugung verbinden, sie wohl gar
in das religiöse Fahrwasser überleiten zu können. Denn der säkulare,
bloßmenschliche Charakter ist jener Bewegung wesentlich, er ist
ihr keineswegs von den Individuen nur nebenbei angehängt. Es
handelt sich hier nicht um partielle Theorien, die so oder so zu
wenden sind, sondern um eine Gesamtgestaltung des Lebens und
eine allumfassende Gedankenwelt, die zum ganzen Menschen sprechen
und seine ganze Seele verlangen. Das vornehmlich gibt der Be-
wegimg heute ihre Kraft, daß sie den ganzen Menschen fordert und
alle Mannigfaltigkeit seines Strebens einer allbeherrschenden Idee
unterwirft
Lebensentfaltungen sind nur Lebensentfaltungen gewachsen, alle
bloße Kritik, mag sie noch so geschickt und geistreich sein, verhält
sich ihnen gegenüber wie der flüchtige Schatten zu einem festen
Gesellschaft und Individuum. 317
Körper. So sei auch hier die Kritik auf das Notdürftigste dessen
beschränkt, was besonders die Philosophie und die Lebensanschau-
ung betrifft. — Augenscheinlich ist zunächst der schroffe und unver-
söhnliche Gegensatz des Ganzen unserer Überzeugung mit dem in
jener Bewegung wirksamen Lebensideal. Wir widersprechen aufs
entschiedenste aller bloßen Menschenkultur; wir tun das, weil wir
im Menschen zwei Welten zusammentreffen sehen, und weil nur die
Ergreifung der höheren unserem Leben einen Sinn und Wert zu
geben und es in rechte Bewegung zu setzen vermag. Jene Er-
greifung aber verlangt eine energische Umwandlung nicht nur des
ersten Weltanblicks, sondern mehr noch des eignen Wesens des
Menschen, kräftige Aufrüttelungen, Erhöhungen, Erneuerungen; nur
so ist zu einer Geistes- und Wesenskultur zu gelangen und dadurch
dem Menschen eine innere Größe zu geben. Aus solcher Überzeug-
ung widerstehen wir dem Demokratismus, weil er eine fälschliche
Idealisierung des sinnlichen Menschen vollzieht und die Geisteswelt
dem bloßen Menschentum unterzuordnen geneigt ist, widerstehen
wir ferner dem Ökonomismus, weil sein Bauen von außen nach
innen eine Leugnung selbständiger Probleme des Innenlebens ent-
hält, und weil er mit der Herstellung eines sorgenfreien, behäbigen
Zustandes das volle Glück des Menschen gesichert glaubt, verwerfen
wir endlich den Politismus, weil er die Selbständigkeit der Persön-
lichkeit unterdrückt und damit die Ursprünglichkeit des geistigen
Schaffens gefährdet, auch den Selbstwert der geistigen Güter bloßen
Zweckmäßigkeiten aufzuopfern bereit ist. Überall hier in allem
äußeren Vordringen ein inneres Sinken, eine Behandlung der Haupt-
sachen als Nebendinge, ein geistiges Kleinwerden des Menschen.
So ein voller Gegensatz und eine entschiedene Verneinung.
Aber die bloße Verneinung läßt unerklärt, wie das Ganze so viel
Macht über die Menschheit gewinnen konnte, wie es nicht bloß die
Leidenschaften erregen, sondern auch viel Aufopferung erzeugen,
viel edle Gemüter gewinnen konnte. Es müssen hinter dem, dessen
nähere Zuspitzung das Leben gefährdet, allgemeinere Probleme
wirken, die auch wir anderen nicht ablehnen können, die uns nicht
ruhen und rasten lassen, bis sie irgendwelche, wenn nicht Lösung,
so doch Beschwichtigung gefunden haben.
Ein solches allgemeineres Problem steckt in dem Demokratis-
mus; es ist die Frage einer größeren Verbreitung der Kultur und
einer gleichmäßigeren Verteilung ihrer Güter, einer kräftigeren Teil-
318 Zu den Problemen des Menschenlebens.
nähme der einzelnen Individuen am Geistesleben. Nach aller Arbeit
der Jahrtausende steht es damit noch immer kümmerlich genug.
Wie gering ist trotz aller Fortschritte noch immer das, was der weit
überwiegenden Mehrheit von den Schätzen der Bildung zufällt, wie
dünn ist die Schicht, die an der Bewegung zu einer höheren und
innerlicheren Kultur teilnimmt! Über tausend Jahre wirkt bei uns
das Christentum, wie wenig ist es uns in dieser nach mensch-
lichem Maße langen Zeit zu einer umgestaltenden Macht, zu festem
inneren Besitz, zu wesendurchdringender Überzeugung geworden!
Viel zu sehr ist es bei allem Gerede von Fortschritt und Geistesleben
ein bloßer Überwurf über ein von bloßen Naturtrieben beherrschtes
Dasein geblieben, viel zu wenig sind die großen Gegensätze und
Spannungen, aber auch die großen Möglichkeiten, die unser Leben
enthält, für das Bewußtsein der Einzelnen herausgearbeitet. Nun-
mehr beginnen wir - schon das ist eine Wendung zum Besseren —
es als eine Unwahrheit zu empfinden, daß eine höhere Art des
Lebens in der Menschheit wohl irgend wirksam ist, aber der
Mehrzahl der Individuen innerlich fem und fremd bleibt; ist ein
solches Gefühl einmal wach geworden, so wird es irgendwie zu be-
friedigen sein; selbst wenn im Kampfe nach solchen Zielen die
Schranken menschlichen Vermögens sich noch so bemerklich machen,
es besagt einen gewaltigen Unterschied, ob die bisherige Lage wie
ein Schicksal hingenommen, oder ob ein Kampf für eine stärkere
Teilnahme aller aufgenommen und damit die Menschheit der Schuld
möglichst entlastet wird.
Diese Erwägungen werden durch eine Wahrnehmung verstärkt,
der sich kein Unbefangener verschließen kann. Unsere Zeit enthält
manche Zeichen eines Oreisenhaftwerdens: ein raffinierter Epikureis-
mus des Lebens greift weiter und weiter um sich, manche zur
Führung berufene Kreise zeigen sich geistesträge und abgestumpft;
ohne ihrem Leben einen wertvollen Inhalt zu geben, halten sie hohe
Ansprüche aufrecht; ist es verwunderlich, daß die Überzeugung
immer mehr Boden gewinnt, daß es heute fast mehr noch als neuer
Ideen neuer Menschen, frischer und einfacher Individuen, aufstreben-
der und geistesdurstiger Bevölkerungsschichten bedarf? Wer das
anerkennt, braucht noch keineswegs sich zur Sozialdemokratie zu
bekennen und die von ihr erstrebte Erneuerung für die richtige zu
halten, das Verlangen nach Erneuerung aber wird er verstehen.
Der Ökonomismus droht mit seinem Anspruch auf die Führung
Gesellschaft und Individuum. 319
des Lebens es in eine problematische und abschüssige Bahn zu
leiten, er kann nur da die Gemüter gewinnen, wo ein selbständiges
Innenleben und wo seelische Probleme fehlen. Aber die wirtschaft-
liche Hebung ließe sich nicht als eine Befreiung von aller Not be-
grüßen, lastete nicht die Sorge um die Lebenserhaltung mit pein-
licher Schwere auf vielen Menschen. Es wäre gewiß kein Glück,
wenn der Tisch des Lebens den Menschen fertig bereitet würde und
sie nur zu genießen brauchten, wenn alle Sorge und aller Kampf
entfiele. Aber es bleibt tieftraurig, daß diese eine Sorge um die
Lebenserhaltung so sehr überwiegt und das menschliche Sinnen und
Denken so zwingend festhält, wie es gewöhnlich geschieht. Es
kommt damit ein schwerer Druck auf das Leben, der zu innerer
Kleinheit und Erniedrigung wirkt und mit seiner stumpfen Alltäg-
lichkeit alles frische und freie Aufstreben hemmt. Gewiß hat die
Not viel Großes geboren. Aber mit Recht sagt Pestalozzi: »Es
gibt eine Armut, die zur Emporbildung der menschlichen Kräfte
und 'zur Grundlage seines Glückes und seiner inneren Größe dient.
Aber es gibt auch eine Armut, die zur Verzweiflung führt" (Wke.
VIII, 98). Vieles ist in der Neuzeit zur Bekämpfung solches Druckes
und solcher inneren Erniedrigung geschehen; dürfen wir behaupten,
daß nicht noch viel mehr geschehen könnte, daß nicht bloß in den
Gesinnungen der Individuen, sondern auch in den allgemeinen Ver-
hältnissen nicht manches sich anders und besser gestalten ließe?
Das Bedenkliche des Politismus kam wiederholt zu Erwähnung;
nicht nur der Freiheit der Einzelnen, auch der Seele des Gesamt-
lebens drohen von daher Gefahren. „Wenn alles nach Vorschriften
gehen sollte, so müßte das Leben, das so schon schwer, völlig un-
erträglich werden", so meinte schon Plato vor mehr als zweitausend
Jahren. Aber warum dringt denn die Staatsidee heute so mächtig
vor, gerade auch in Kreisen, welche besonders um die Freiheit be-
sorgt sind? Doch wohl, weil das Individuum bei der Zerreibung
der überkommenen Zusammenhänge und dem völligen Unsicher-
werden der eignen Stellung irgend welchen festen Halt ersehnt, weil
es seine Existenz irgendwie auch vom Ganzen geschätzt und ge-
schützt sehen will. Das greift weit über alle wirtschaftliche Fragen
hinaus auch in das Innere und Ganze des Lebens. Ein solches
Verlangen nach mehr Halt und Schätzung hat beim Zusammenbruch
des Altertums nicht wenig dazu beigetragen, der christlichen Kirche
die Herzen zu gewinnen; heute aber scheint es sich wieder mit
320 Zu den Problemen des Menschenlebens.
neuer Kraft zu erheben. Hüten wir uns, solche Bewegungen gering
zu achten, weil sie still und verborgen im Untergrunde des Lebens
erfolgen. Denn sie sind es, in denen sich die seelischen Lagen
bereiten, die dann plötzlich mit unwiderstehlicher Kraft hervorbrechen
und das Ganze des sichtbaren Lebens in völlig neue Bahnen treiben.
Innere Verschiebungen, molekulare Umwandlungen, wenn dieser
Ausdruck gestattet ist, sind heute im Gange; welche Gestaltung
menschlicher Verhältnisse daraus hervorgehen wird, das liegt einst-
weilen in tiefem Dunkel.
Auch die Einheit der Gedankenwelt, die in der sozialdemokra-
tischen Bewegung wirkt, sei nicht zu gering angeschlagen. Wohl
muß bei unserer Abweisung aller bloßen Menschenkultur die be-
sondere Art dieser Einheit mit ihrer Vergötterung des Menschen als
eine verhängnisvolle Irrung erscheinen. Aber Einheit bleibt Einheit,
sie allein macht es möglich, daß die Verzweigungen der Arbeit sich
gegenseitig unterstützen, und daß an jeder einzelnen Stelle der ganze
Mensch in Tätigkeit tritt. Das einzige System, das außerdem heute
eine allumfassende Einheit bietet, ist der kirchliche Katholizismus, der
aber mit seiner strengen Bindung an die mittelalterliche Denkweise
unvermeidlich in einen immer schrofferen Gegensatz zu den Beweg-
ungen der Zeit und den Bedürfnissen des modernen Menschen, ja
zu den inneren Notwendigkeiten des Geisteslebens gerät. Auf dem
eignen Boden der Neuzeit besaß die Aufklärung eine Art von Lebens-
einheit und zugleich ein allumfassendes Ideal; seit ihrer Erschütter-
ung befinden wir uns in starker innerer Zerklüftung, die immer
unerträglicher wird. Im besonderen pflegen die, welche von der
Freiheit aus das Leben gestalten möchten, dem wunderlichen Wider-
spruch zu verfallen, daß sie praktisch die Größe, Würde, Leistungs-
fähigkeit des Menschen nicht genug rühmen können, daß sie da-
gegen eine Weltanschauung, welche eine solche Schätzung des
Menschen allein zu begründen vermag, mit Feuereifer bekämpfen
und sich ihrer Freiheit um so sicherer dünken, je negativer, je
leerer sich ihre * Gedankenwelt gestaltet. Indem sie so aller Vernein-
ung und Verflachung in der Weltanschauung ihre Sympathie ent-
gegenbringen, untergraben sie selbst den Boden, der ihr Streben
trägt. Solche Unklarheit oder vielmehr Gedankenlosigkeit ist keiner
durchgreifenden Wirkung fähig.
So ist eine schwere Krise nicht zu verkennen; es wird sich
entscheiden müssen, ob die heutige Kultur und Gesellschaft die
Gesellschaft und Individuum. 321
Kraft enthält, eine innere Zusammenfassung und geistige Erhöhung
des Lebens zu vollziehen und damit der Auflösung Widerstand zu
leisten, oder ob sie eine solche nicht aufzubringen vermag. Ersteren
Falls könnte der Angriff nur dazu dienen, die Kultur auf ihre eigne
Tiefe zu bringen und sie der Kleinheit des menschlichen Getriebes
zu entwinden; im anderen Falle müßte die heutige Kultur und Ge-
sellschaft untergehen, und sie würde solchen Untergang dann ver-
dienen. Die geistige Welt selbst, .sowie ihr Wirken zur Mensch-
heit steht sicher und fest über solchen Wandlungen, wie die Ge-
stirne über den Wandlungen der bloßen Erdoberfläche. Ja es
könnte sein, daß erst eine krasse Verneinung aller selbständigen
Geistigkeit und eine Auflösung aller unsichtbaren Zusammenhänge
erforderlich wäre, um der Menschheit auf dem Wege eines indirekten
Beweises ihre Unentbehrlichkeit wieder nachdrücklich zum Bewußt-
sein zu bringen und dadurch dem Leben wieder zu dem Wahr-
heitsgehalt zu verhelfen, der heute schmerzlich vermißt wird.
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 21
4. Probleme der Moral.
a) Die unsichere Stellung der Moral in der Gegenwart.
I |ie Fassung wie die Schätzung der Moral ist heute voller Un-
■'-^ Sicherheit. Einmal erscheint gegenüber der Erschütterung der
religiösen und philosophischen Überzeugungen die Moral als ein fester
Punkt, an dem sich alles zusammenfinden kann, was sonst aus-
einanderfällt. Denn wenn alles ins Wanken gerät, es bleibt der
Mensch und das Verhältnis zum Menschen, unser Zusammensein
stellt uns Aufgaben, die niemand bestreiten kann. So entstand eine
Bewegung zur ethischen Kultur, über den besonderen Kreis hinaus
findet sich viel Bewegung, das Wohlsein der Mitmenschen zu fördern
und zugleich dem eignen Leben einen wertvollen Inhalt zu geben.
Als Moral erscheint hier der Altruismus, das Wirken für andere, das
Zurückstellen der eignen Interessen vor denen der anderen. Diese
Bewegung bildet ein Hauptstück der gegenwärtigen Kultur, breite
Wirkungen zur Hebung von Not und Leid, zur Milderung von
Strenge und Härte, zur Humanisierung des menschlichen Daseins
sind von ihr ausgegangen und gehen unablässig von ihr aus.
Aber inmitten solcher Leistungen verbleibt im Prinzipiellen viel
Bedenken und Widerspruch. Vielleicht finden wir uns bei der
Moral als Altruismus nur deshalb so leicht zusammen, weil die
tieferen Probleme der Sache zurückgeschoben, wenn nicht geleugnet
werden. Ist es denn ausgemacht, daß Moral mit Altruismus, mit
einem Handeln für andere zusammenfällt? Der Ausdruck Altruismus
stammt aus der Gedankenwelt Comtes, das heißt aus einem Systeme,
das alles Beisichselbstsein der Seele preisgibt und das Leben ganz
und gar in das Verhältnis zur Umgebung aufgehen läßt; sollte
die hier der Moral gegebene Fassung ohne weiteres auch für uns
anderen gelten? In Wahrheit heißt Moral und Altruismus gleich-
setzen die Moral im Umfang einengen und im Inhalt verflachen.
Erschöpft denn das soziale und humane Wirken den ganzen Um-
Probleme der Moral. 323
kreis der Moral, tragen wir nicht auch große Aufgaben in uns selbst,
in der Bildung der eignen Seele, auch in dem Verhältnis zur Welt
und zu den Dingen ? Durch das Ganze unseres Lebens geht das Ent-
weder— oder, ob das Handeln unserer eignen Lust, oder ob es einem
sachlichen Ziele dient. Es kann z. B. das Schaffen eines Künstlers
durch Beweggründe verschiedenster Art geleitel sein. Der Schaffende
kann Vorteil, Ruhm, Anerkennung suchen, er kann die Wünsche
und Launen des ihn umgebenden Publikums zu befriedigen trachten,
er kann endlich lediglich und allein der inneren Notwendigkeit des
Schaffens folgen und, wenn es sein muß, diese mit heroischer Kraft
gegen allen Widerspruch der Umgebung bis zu eigner Gefährdung
durchsetzen; ist solche Treue gegen sich selbst und die Sache
nicht auch ein Handeln moralischer Art? Ähnlich kann den Forscher,
ähnlich den religiös Überzeugten die geistige Selbsterhaltung in den
härtesten Widerspruch zur Umgebung führen und ihn ihre Ruhe, ihr
Behagen gründlich zu erschüttern zwingen; ja es mag die ganze Be-
wegung zur Geistigkeit mit ihren Ansprüchen, Sorgen und Zweifeln
als eine Störung des Gleichgewichts und als eine Feindin des un-
mittelbaren Wohlseins erscheinen; ist trotzdem nicht in ihr eine
moralische Aufgabe anzuerkennen? Trifft aber dieses zu, so ist die
Moral sicherlich etwas tieferes und besseres als der bloße Altruismus.
Auch das spricht wider diesen, daß er die Moral nicht aus
der eignen Tiefe der Seele zu begründen, nicht sie zu einer Sache
geistiger Selbsterhaltung zu machen versteht Zu Gute kommt ihm
aber bei den Menschen die Unsicherheit, die heute über einer solchen
Begründung waltet. Von der Vergangenheit her wirken auf uns
zwei Gedankenwelten mit einer innerlicheren Art der Moral: die der
Religion und die eines immanenten Idealismus. Dort war es das
Verhältnis zu einem weltüberlegenen Sein, hier war es die eigne
Vernunft des Menschen, woraus lebenumspannende Aufgaben und
eine ethische Bewertung all unseres Handelns hervorgehen sollte.
Beide Arten aber sind dem Geistesleben der Gegenwart nicht nur
in ihrer Grundlage erschüttert, sondern auch ihrem Inhalt nach
vielfach bedenklich geworden. Die Welt der Religion ist für viele
gänzlich verschwunden, aber auch die einer immanenten Vernunft
ist mehr und mehr verblaßt; zugleich aber erscheint dem Hauptzuge
der Zeit die religiöse Moral als zu weich und zu passiv, die Ver-
nunftmoral aber als zu abstrakt und mit ihrer strengen Pflichtidee
auch als zu rauh. So bleibt als der einzige unbestrittene Punkt die
21*
324 Zu den Problemen des Menschenlebens.
soziale Moral mit ihrem Altruismus, dieser aber hat sich uns als viel
zu eng und flach erwiesen. Demnach bleibt zunächst nur die Tatsache
festzustellen, daß unsere Zeit überhaupt keine Moral besitzt, welche
dem in ihr vorhandenen Stande der weltgeschichtlichen Evolution
des Geisteslebens entspricht, daß sie einer charakteristischen, ihre
innersten Bedürfnisse befriedigenden Moral entbehrt. Ihrem innersten
Wesen nach angesehen, ist die Moral uns heute mindestens ebenso
unsicher als die Religion. ^ Wie sehr solcher Mangel an einer eignen
Moral die Kraft der Moral in unserer Zeit herabsetzt, wie sehr er
es den Gegnern der Moral erleichtert, Karikaturen von ihr zu ent-
werfen und mit der Verspottung dieser sie selbst für widerlegt und
abgetan zu halten, das stellen uns zahlreiche Eindrücke der Gegen-
wart mit voller Klarheit vor Augen. Wir werden solchen Verwick-
lungen nicht gewachsen werden, wenn es nicht gelingt, durch Selbst-
besinnung und Selbstvertiefung des Lebens wieder zu einer eignen,
selbsterlebten Moral zu gelangen. Hier liegt vielleicht das alier-
dringendste Bedürfnis der Zeit.
b) Moral und Metaphysik.
Weithin reicht heute die Neigung, die Moral von den Problemen
der Weltanschauung gänzlich abzulösen und unmittelbar bei sich
selbst zu erfassen. Viele sehen darin eine große Befreiung und
zugleich eine Vereinfachung des Lebens, manche geschichtliche Vor-
bilder werden zur Unterstützung dessen herangerufen, im besondern
ist es der große Name Kants, der dies Unternehmen sanktionieren soll.
Gewiß bestand von altersher die Neigung, alle Verwicklungen
der Weltprobleme von sich zu werfen und sich auf ein rechtschaffenes
Leben zurückzuziehen; der Einzelne mag ein gutes Recht haben,
das zu tun, aber hat es auch das Ganze der Menschheit ? Setzt nicht
die Wendung des Einzelnen voraus, daß unabhängig von ihm eine
Moral gesichert und anerkannt ist? Im besondern kann nur eine
^ Trotz solcher Unsicherheit im Fundament bietet unsere Zeit Lehr-
bücher und Kompendien der Moral in Hülle und Fülle. Und warum auch
nicht? Lichtenberg hat wohl recht, wenn er zu dem Worte Hamlets, es gäbe
eine Menge Dinge im Himmel und auf der Erde, wovon nichts in unseren
Kompendien stünde, bemerkt: «Gut, aber dafür stehen auch wieder eine
Menge von Dingen in unseren Kompendien, wovon weder im Himmel noch
auf der Erde etwas vorkommt« (s. Vermischte Schriften [1801] II, 356).
Probleme der Moral. 325
gänzliche Verkennung Kants ihm die Absicht zuschieben, alle Welt-
probleme von sich zu werfen und in den sicheren Hafen der prak-
tischen Arbeit zu flüchten. Denn sein Denken bewegt sich nicht
um den Gegensatz von Theorie und Praxis, sondern um den von
theoretischer und praktischer Vernunft; wo aber die Vernunft in
Frage kommt, da handelt es sich immer um Weltzusammenhänge;
so verzichtet Kant nicht auf letzte Überzeugungen vom Ganzen der
Wirklichkeit, er sucht nur den Punkt, der über sie entscheidet, an
einer anderen Stelle als die alte Spekulation, er macht die Moral
nicht zum Mittelpunkt seiner Gedankenwelt, ohne sie zur Erscheinung
einer neuen Ordnung der Dinge, eines intelligiblen Reiches der Ver-
nunft zu machen. Kant ist ein Metaphysiker eigner Art, aber er ist
ein Metaphysiker durch und durch, die Alltagsweisheit von dem
Vorrang der praktischen Arbeit über das Denken hat an ihm keinen
Bundesgenossen.
In Wahrheit brauchen wir das Phänomen der Moral nur etwas
genauer zu betrachten, um zu gewahren, daß es mit dem nächsten
Weltanblick aufs schroffste zusammenstößt Wie verschieden die
Moral gefaßt werden mag, immer enthält sie eine Ablösung des
Lebens und Strebens vom bloßen Ich, ein Hinauswachsen über die
natürliche Selbsterhaitung. Sobald wir an einer als moralisch ge-
priesenen Handlung entdecken, daß die Gesinnung, wenn auch
versteckt und auf Umwegen, zu den Zwecken der Selbsterhaltung
wieder zurücklenkt, gilt ihr moralischer Charakter uns als ver-
nichtet. Nun zeigt freilich schon die Natur gewisse Ansätze einer
Befreiung des Lebens von der bloßen Selbsterhaltung, aber diese
bleiben zerstreut und mit fremdem verquickt; so bedeutet es eine
Wendung, ja eine Umwälzung, wenn die neue Art des Handelns
eine reine Ausbildung erlangt und die Herrschaft über das Leben
fordert Neue Größen, neue Werte treten damit ein; bedarf es nicht
einer neuen Welt, um ihnen Kraft und Zusammenhang zu geben?
Einen moralischen Charakter kann ferner das Handeln nur be-
haupten, wo es aus freiem Entschlüsse hervorgeht und ein ursprüng-
liches Leben betätigt. Wo irgend sich daher herausstellt, daß ein
vermeintlich moralisches Tun aus bloßer Gewöhnung, mechanischem
Zwange, autoritativem Drucke hervorgeht, nicht eine eigne Ent-
scheidung und Zuwendung in sich trägt, da verliert es sofort seine
auszeichnende Art und fällt aus der moralischen Sphäre heraus.
Nun aber bietet jener Selbsttätigkeit und jener freien Entscheidung
326 Zu den Problemen des Menschenlebens.
die natürliche Welt mit ihrer durchgängigen Kausalverkettung nicht
den mindesten Platz, ihr Gefüge widerstrebt jeder Lockerung. Be-
steht also nur ein Reich der Natur, und bleiben seine Ordnungen
maßgebend auch für das Geistesleben, so ist kein Platz für irgend-
welche Moral, die mehr als eine Polizei des gesellschaftlichen Lebens
sein will.
Wo die moralische Forderung volle Selbstbewußtheit gewinnt,
da erhebt sie den Anspruch, allen übrigen Zwecken unvergleichlich
überlegen zu sein, da "verwirft sie alle Erwägung der bloßen Zweck-
mäßigkeit und stellt ein Absolutes unmittelbar in das menschliche
Leben hinein. Sie steht und fällt mit dem Wort: «Was hülfe es
dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und litte Schaden
an seiner Seele?" Aber wie ist das möglich, und bedeutet es nicht
eine ungebührliche Überspannung, wenn hinter jener Schätzung nicht
eine neue Art der Wirklichkeit steht? Denn im nächsten Dasein
müssen sich alle Zwecke zueinander fügen und nacheinander be-
messen; hier gibt es nichts Absolutes, das sich unvergleichlich über
alles andere hinaushöbe.
So enthält die Moral, von welchen Seiten her wir sie be-
trachten, die Forderung einer neuen Welt, es liegt in ihr eine Um-
kehrung des nächsten Anblicks der Dinge und damit eine Meta-
physik. Wir werden also die Metaphysik nicht los, wenn wir uns
zur Moral begeben; machen wir Ernst damit, von ihr alles Meta-
physische fernzuhalten, so drücken wir sie unvermeidlich zu kläg-
licher Flachheit herab. Andererseits hat es gewiß einen guten Grund,
die Moral nicht an die verwickelten Gedankengänge der älteren Speku-
lation zu binden, sie nicht als ein sekundäres Phänomen von einer
jenseit ihrer begründeten Weltanschauung abhängig zu machen.
Einen Weg zwischen solcher Scylla und Charybdis hindurch
bietet uns wiederum unser Begriff des Geisteslebens als der Wendung
der Wirklichkeit zu einem Eigen- und Innenleben, dem Zusichselbst-
kommen des Weltprozesses, der Erringung eines Wesens und Sinnes
gegenüber allem sinnlosen Gewebe der Beziehungen und Selbst-
erhaltungen der bloßen Punkte. Mit Anerkennung dieser neuen
Welt sinkt die Natur notwendig zur zweiten, zu einer niedrigeren
Form des Seins. Wie aber die höhere von unablässiger Selbstttätig-
keit getragen werden muß, so ist sie auch an jeder einzelnen Stelle
erst zu erwecken und von ihr selbsttätig anzueignen. Nichts anderes
aber als solche selbsttätige Aneignung der Geisteswelt ist die Moral,
Probleme der Moral. 327
sie ist damit ein Durchdringen des Lebens zur Wesen- und Wahrhaf-
tigkeit, das Gewinnen eines neuen, unendlichen Selbst, ein Unendlich-
verden von innen her. Denn das erkannten wir als der Geistesstufe
wesentlich, daß hier jedes Einzelne unmittelbar am Gesamtleben teil
hat, nicht erst durch die Vermittlung des Punktes es zugefiihrt erhält.
Bei solcher Fassung ist die Moral an erster Stelle eine Beweg-
ung innerhalb des eignen Lebenskreises, ein Streben zu unserem
Selbst, eine Erringung des eignen Wesens. Aber indem dies Wesen
jetzt einen Weltcharakter erweist, erscheint in der Arbeit an uns
selbst unmittelbar eine Bewegung der Welten. Das ist es, was uns
die engste Verbindung von Moral und Metaphysik verlangen heißt,
was uns eine Moral ohne Metaphysik als ein Unding erscheinen
läßt. Die Moral verlangt nicht etwa bloß zu ihrer Erklärung Welt-
begriffe, sondern durch ihr eignes Dasein entwickelt sie unmittelbar
eine neue Welt und umfängt uns damit in einleuchtender Gegen-
wart. Die Verbindung der Moral mit der Metaphysik verwerfen
kann nur, wer entweder unter Metaphysik jene alte Schulmetaphysik
versteht, die aus vermeintlicher Denknotwendigkeit zur vorhandenen
Welt eine neue hinzu ersann, oder wer die Moral zu einer bloß-
gesellschaftlichen Ordnung, zu einer Polizei des Lebens herabdrückt.
Denn dafür bedarf es allerdings keiner neuen Welt, aber es ist dann
auch jene Lebenspolizei nur dem Worte nach Moral. Nach unserer
Überzeugung sinkt alle Moral zu einem bloßen Schein, wenn nicht
das Geistesleben, dessen Aneignung sie vollzieht, den Kern der
Wirklichkeit bildet.
Die dargebotene Fassung der Moral ist den Problemen und
Schwierigkeiten gewachsen, mit denen die Moral zu tun hat, und
an die sich viel Irrung und Mißverständnis knüpft. Die Moral ist
hier an erster Stelle Lebenserhöhung, Gewinn eines wahren Selbst
gegenüber einem nur scheinbaren, Aneignung der ganzen Unendlich-
keit. Aber diese Erhöhung entwickelt sich nicht vom unmittelbaren
Dasein aus durch eine bloße Steigerung der Natur, sondern sie will
im Gegensatz zu jenem ergriffen sein, sie erscheint damit als eine
Aufgabe, eine Forderung, ein Gebot. Aber was dies Gebot an Be-
grenzungen und Verneinungen enthält, dient letzthin der Lebens-
bejahung; der Pflichtgedanke, der hier entsteht, entspringt dem eignen
Wesen, nicht von außen her. So eine Bejahung des Lebens, die
keine Vergötterung der bloßen Natur und Selbstheit bedeutet, sondern
sich durch ein entschiedenes Nein davon abgrenzt.
328 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Bei dieser Fassung besagt die Moral nicht eine bloße Leistung
in einer gegebenen Welt, sondern das Erringen einer neuen Welt,
nicht einen Kampf innerhalb der Welt, sondern einen Kampf um
ganze Welten; es handelt sich nicht um eine neue Art des Wirkens,
sondern um eine neue Art des Seins, die sich freilich unablässig
in ein entsprechendes Wirken umsetzen muß. Im Menschen
begegnen sich nunmehr verschiedene Stufen der Wirklichkeit, ja
ganze Welten, und seine Entscheidung gehört dazu, welche davon
für ihn zur Hauptwelt werde. Ja, indem er nunmehr an seiner be-
sonderen Stelle die höhere Stufe der Wirklichkeit zu behaupten hat,
indem die neue Welt hier nur durch seine Tat zur vollen Verwirk-
lichung kommt, wächst sein Handeln über den einzelnen Punkt
hinaus und gewinnt Bedeutung auch für den Weltstand. So die
sicherste Befreiung von der bloßen Ichheit, ein Weitwerden der
Seele, die Erhebung über alle bloße Zweckmäßigkeit, eine unvergleich-
liche Größe und Würde des Menschen.
Mit der Größe zusammen freilich auch schwere Verwicklungen.
Denn in jener Weise läßt sich die Aufgabe nicht steigern, ohne daß
in der menschlichen Lage weiteste Abstände und härteste Wider-
stände ersichtlich werden. Vor allem hält die natürliche Welt den
Menschen fest beim bloßen Ich, die Bewegung zur Geistigkeit dringt
demgegenüber wenig durch, sie droht ein bloßer Vorsatz zu bleiben,
zu bloßem Scheine zu sinken. Deutlich erhellt, wie, an der Kraft
des bloßen Menschen gemessen, etwas Unmögliches gefordert wird;
so muß der Mensch mehr werden als bloßer Mensch; wie könnte
eine Wendung im Weltleben erfolgen ohne die Kraft einer Welt?
So muß eine Weltkraft von vornherein im Menschen wirken, es
muß dem Tun ein Empfangen, dem Aufsteigen ein Gehobenwerden
entsprechen, in der Freiheit selbst muß eine Gnade ersichtlich werden.
In dem allen vollziehen sich große Wandlungen des ersten Anblicks;
das anfängliche Ja wird unerträglich, aber aus dem Nein erhebt sich
ein neues Ja. Große Forderungen und schwere Erschütterungen,
gewaltige Lebensfluten den Menschen ergreifend und verwandelnd,
viel Unfertigkeit und viel Unsicherheit, viel starrer Widerstand und
lähmende Hemmung. Aber inmitten der Zweifel und Widerstände
ein Aufrechterhalten des Lebens, die Eröffnung größerer Tiefen, das
Gewißwerden einer inneren Unendlichkeit. Wenn irgend etwas, so
zeigt die Moral, daß unser Leben nicht gleichgültig ist, daß Be-
deutendes in ihm vorgeht.
Probleme der Moral, 329
c. Moral und Kunst.
(Ethische und ästhetische Lebensanschauung.)
Daß Kunst und Moral von altersher in feindlicher Spannung
und vielfachem Zusammenstoß stehen, ist keineswegs bloß eine
Folge menschlicher Irrung, es hat einen Grund in der Sache.
Beide Gebiete scheinen das Leben unter entgegengesetzte Aufgaben
und Schätzungen zu stellen. Die Moral verlangt eine Unterordnung
unter allgemeingültige Gesetze, die Kunst dagegen die freieste Ent-
faltung der eignen Individualität; die Moral spricht mit dem strengen
Gebote der Pflicht, die Kunst beruft zum freien Spiel der Kräfte;
die Moral hat ihre Stätte in der reinen Innerlichkeit und ist geneigt
von der sichtbaren Leistung gering zu denken, die Kunst schätzt
nur, was den Weg zur Verkörperung findet Zur richtigen Wür-
digung dieses Gegensatzes und Streites wird es vorteilhaft sein,
ein^n Blick auf die geschichtliche Bewegung zu werfen, schon des-
halb, weil das zur Ablösung des Problems von der Zufälligkeit
augenblicklicher Stimmungen dienen mag.
a. Die Geschichte des Problems.
Merkwürdigerweise hat das alle anderen Völker in künstlerischer
Leistung überragende griechische Volk in seiner Gedankenarbeit der
Kunst keinen bedeutenden Platz gegeben. Kein Geringerer führt
die Anklagen gegen die Kunst als der größte Künstler unter den
Denkern: Plato. Die verschiedensten Richtungen seines Strebens
verbinden sich ihm zur Bemänglung der Kunst. Sein Verlangen nach
einem wesenhaften und unsinnlichen Sein drückt ihm die Kunst
zum Schein des bloßen Scheines herab, anstößig wird ihm femer
der bunte Wechsel ihrer Gestalten, wie ihn vornehmlich das Drama
zeigt, anstößig die Unlauterkeit des mjrthologischen Vorstellungs-
kreises, der sie beherrschte, anstößig endlich die fieberhafte Erregung
des Gefühlslebens, die er immer weiter vordringen sah. Unbeirrt
durch solche Anklagen ging die Kunst ihren Weg und behielt die
Führung des antiken Lebens. Aber je mehr sie sich in subjektive
Virtuosität verlief, bald in barocke Überspannung, bald in weich-
liche Spielerei, und je mehr die Glätte der Form einen bedeutenden
Inhalt verdrängte, desto stärker wurde der Rückschlag einer herben
und harten Moral, desto mehr wurden Kynismus und Stoizismus
330 Zu den Problemen des Menschenlebens.
eine Zuflucht stolzer Seelen, die dem Genüsse des Schönen zu
huldigen verschmähten.
Die volle Anerkennung eines selbständigen Wertes hat die
Kunst erst in Verbindung mit der aufsteigenden religiösen Beweg-
ung, hat sie namentlich bei Plotin erreicht; die Verinnerlichung,
welche die Wirklichkeit dabei erfuhr, hat auch die Aufgabe der
Kunst vertieft. Nach Plotin vollzieht sich beim Schönen ein Be-
wältigtwerden des Niedern durch das Höhere, des Körpers durch
die Seele, des Stoffes durch den Gedanken; das Schaffen versenkt
sich nicht in den Stein, sondern es bleibt bei sich selbst und geht
von Seele zur Seele; nur als Übermittlung des seelischen Standes
hat das sichtbare Werk einen Wert. Die Kunst ist nicht eine bloße
Nachahmung der Natur wie bei Plato, sondern sie sucht die in
jener wirksame höchste Vernunft abzubilden und kann dabei ganz
wohl mehr erreichen als die Natur. Aber die religiöse Grund-
stimmung läßt solche Schätzung des Schönen weit mehr der Be-
trachtung des Alls zugute kommen, als daß sie zu künstlerischem
Schaffen triebe. Eine künstlerische Stimmung durchwaltet hier das
Ganze des Lebens, aber sie scheut vor greifbarer Gestaltung eher
zurück, als daß sie dieselbe suchte.
Das Christentum konnte den Schwerpunkt des Lebens nicht
vom Künstlerischen ins Moralische verlegen, ohne daß die Schätzung
und Stellung der Kunst zunächst den schwersten Abbruch erfuhr.
Auch die besondere Art der Kunst des ausgehenden Altertums konnte
die Abwendung von ihr nur unterstützen. Aber was in der Breite
des Daseins sich oft recht unerquicklich ausnimmt und nicht selten
in eine Geringachtung aller Form verfallen läßt, das hat auf den Höhe-
punkten die entschiedenste Gegenwirkung gefunden; die Verinner-
lichung des Seelenlebens durch die Religion hat auch hier die Kunst
in neue Bahnen geführt. So vornehmlich bei Jesus selbst. Was
überhaupt von den Begründern der geschichtlichen Religionen gilt,
daß nur das Vermögen einer hervorragenden schöpferischen Phantasie
sie einer unsichtbaren Welt eine anschauliche und überwältigende
Gegenwart geben, ja sie zur Hauptwelt des Menschen machen ließ,
das gilt ganz besonders von Jesus; bei ihm gewinnt jenes Bilden eine
besondere Wärme, Zartheit und Innigkeit. Daß er der Menschheit ein
Reich Gottes als ein Reich echter Liebe und kindlichen Vertrauens mit
deutlichen Zügen vorhielt, damit schlummernde Gefühle erweckte und
den Gemütern eine tiefe Sehnsucht einpflanzte, das hat dem mensch-
Probleme der Moral. 331
liehen Dasein auch eine künstlerische Verklärung gebracht; eine
solche tritt mit besonderer Klarheit hervor in dem Entdecken der
Reinheit, Unschuld und Hingebung des kindlichen Lebens und in
dem wunderbaren Gestalten einfachster Naturvorgänge zu Gleich-
nissen menschlicher Seelenstände. So ist hier bei Zurückstellung aller
sinnlichen Kunst der seelischen Kunst eine sichere Bahn bereitet.
Später wirkte der Schönheitsgedanke immer stärker vom Griechen-
tum her. So bei Gregor von Nyssa, so auch bei Augustin. Wohl
haben über diesen kunstfeindliche Stimmungen eine große Macht
gewonnen, seine Wendung zum Christentum ward zum guten Teil
durch einen tiefen Überdruß an einer formalliterarischen Bildung,
durch ein Verlangen nach einem Inhalt des Lebens hervorgetrieben.
Aber in der eignen Gedankenwelt hält er am Schönen fest, das
einen Aufstieg zur allumfassenden Einheit bildet und alle Vielheit
als ein Werk und Zeugnis dieser Einheit verstehen lehrt. So ge-
staltet sich ihm schließlich das ganze Weltall zu einem Kunstwerk
ethischer Art, zu einer Ordnung, die Gerechtigkeit und Liebe zu
voller Ausgleichung bringt; zugleich ist Augustin selbst ein hervor-
ragender Meister des Worts, seine Sprache hat die ganze Kraft und
Weichheit eines zwischen den Gegensätzen des Daseins hin- und her-
bewegten Geistes in sich aufgenommen, durch ihn hat die lateinische
Sprache einen wunderbaren musikalischen Klang erhalten, und ist sie
zu einem angemessenen Gefäß einer in sich selbst vertieften Inner-
lichkeit geworden.
Wie das mittelalterliche Kirchensystem durchgängig eine gewisse
Ausgleichung der großen Gegensätze brachte, so hat es auch dem
Schönen einen Platz innerhalb seiner Ordnung gegeben. So im
Gesamtbau des Lebens, indem die Sorge für die Ordnung und
Harmonie des Ganzen hier sehr hervortritt, so auch in der näheren
Gestaltung, indem die Kunst der Verherrlichung der Religion und
der Kirche in mannigfachster Weise zu dienen hat.
Die Neuzeit mit ihrer größeren Lebensenergie und ihrer Schärf-
ung aller Gegensätze zersprengt die mittelalterliche Ausgleichung,
während ihres ganzen Verlaufes hat der Kampf und Gegensatz nicht
aufgehört. Ihr Beginn in Renaissance und Reformation gibt dem
Gegensatz sofort den stärksten Ausdruck. In der Renaissance ge-
winnt eine ästhetische Welt- und Lebensanschauung zuerst eine volle
Bewußtheit. Das Schöne wird hier zum Hauptwerkzeug der Ent-
wicklung des Lebens, das wichtigste Mittel zur Herausarbeitung aller
332 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Kraft, zur Selbstaneignung und Selbstgenießung des Menschen; die
Kunst lehrt das Leben sich selber finden, seine eigene Höhe er-
reichen. Zugleich wirft das Leben alle unsichtbaren Bindungen von
sich; überwiegend der nächsten Wirklichkeit zugewandt, erstrebt es
in ihrer äußeren und inneren Unterwerfung ein volles und schran-
kenloses Glück. Bei starkem Lebensdurst und stolzem Selbstgefühl
empfindet man leicht die Moral als eine von draußen auferlegte
Fessel, als eine starre Satzung" und widerwärtige Hemmung; je kräf-
tiger die Individualität, desto berechtiger scheint sie, solche Hemm-
ung abzuschütteln und allein der eignen Neigung zu leben. So der
Immoralismus der Renaissance, ein Hauptgrund ihres Zusammen-
bruchs als weltbeherrschender Macht. Auf ihrer Höhe aber fehlt
es nicht an Gestalten, welche den Gegensatz überwunden haben,
und denen die Kunst, mit Einsetzung des ganzen Wesens erfaßt,
sich zugleich zu einem ethischen Lebenswerke gestaltet; es genügt
dafür eines Michelangelo zu gedenken. — Von der Renaissance
pflanzt die künstlerische Bewegung sich in das Barock und Rokoko
fort, auch zieht die Renaissance die Geister immer von neuem zu
sich zurück.
Die Reformation hat ihre Stärke in der entschiedenen Hervor-
kehrung der Moral und der Steigerung der persönlichen Verant-
wortlichkeit, weit über den Kreis ihres eignen Bekenntnisses hinaus
hat sie damit einen gewaltigen Ernst in das Leben gebracht. War
schon solche Verinnerlichung unmittelbar der Kunst nicht günstig,
so kam hinzu, daß jene mit der Fülle ihrer sinnlichen Gestalten dem
Menschen den Zugang zu Gott zu erschweren schien, zu dem ein
unmittelbares Verhältnis zu gewinnen die allüberragende Hauptsache
wurde. So konnte ein heftiger Zorn gegen alles Bild und allen
Schmuck als gegen eine Verdunklung der lebendigen Gegenwart Gottes
in der Seele und als eine Veräußerlichung und Verweichlichung des
Lebens entstehen. Aber wenn damit kunstfeindliche Stimmungen
weithin Boden gewannen, so hat auch hier auf der Höhe des
Schaffens die Kunst in anderer Richtung mannigfachste Förderung
empfangen, sie ist nur mehr von der sinnlichen Anschauung abge-
löst und tiefer in die Seele zurückverlegt. Die Namen eines Luther
und eines Bach genügen, um das zu zeigen.
Die verstandesmäßige Art der Aufklärung mit ihrem Dringen
auf logische Klarheit und kluge Zweckmäßigkeit, auch mit ihrer un-
geschichtlichen Denkweise war der Kunst wenig günstig und stellte
Probleme der Moral. 333
sie weit hinter die Moral zurück. Diese selbst aber gewann dabei
keine besondere Tiefe. Um so stärker wurde das Verlangen nach
Schönheit, als durch das Aufsteigen des Neuhumanismus eine neue
Epoche begann. Es strebt aber auf seiner Höhe, bei den führenden
deutschen Dichtern und Denkern, Gutes und Schönes zusammen und
fördert sich gegenseitig. Daß Kant die moralische Idee zum Eck-
stein des Lebens machte, hat ihn nicht verhindert, dem Schönen eine
Selbständigkeit und einen Selbstwert zuzuerkennen; er zuerst hat es
gegen das Gute wie das Angenehme mit voller Deutlichkeit abge-
grenzt, er hat es im eignen Innern der Seele begründet und es über
allen bloßen Nutzen und Genuß sicher hinausgehoben. So konnte
ein Goethe «die großen Hauptgedanken der Kritik der Urteilskraft
seinem bisherigen Schaffen, Tun, Denken ganz analog" finden. Goethe
selbst aber war bei aller Größe seines künstlerischen Schaffens von
einer Geringschätzung der Moral und zugleich von dem Bekenntnis
zu einer ästhetischen Weltanschauung weit entfernt Dazu war ihm
viel zu sehr sein künstlerisches Schaffen ein ernstes und mühsames
Suchen seines eignen innersten Wesens, ein gewissenhaftes Arbeiten
an sich selbst; eine laxe Auffassung dieser Probleme hat kein Recht,
sich auf Goethe zu berufen, wenn man ihn im Ganzen seines
Wesens nimmt, nicht auf einzelne Äußerungen festlegt So wenig
er die Kunst und eine künstlerische Kultur durch »konventionelle
Sittlichkeiten", durch „Pedanterie und Dünkel" beschränkt wissen
wollte, er gab dem Menschen in der Forderung, die Ordnung der
Welt mit Freiheit zu ergreifen und sich selbst seine Grenze zu
setzen, eine moralische Aufgabe, die sein ganzes Leben umspannt
und ihm überall eine hohe Aufgabe stellt Schiller endlich, zwischen
dem Dichter und dem Denker stehend, war unablässig um eine Ver-
söhnung von Gutem und Schönem, der „Freiheit in der Erschein-
ung" bemüht; „die hohe Reinheit des sittlichen Standpunktes bei
der vollsten Anerkennung des künstlerischen Lebens in seiner Selb-
ständigkeit ist das Eigenartige, ja Einzigartige der Schillerschen
Denkweise" (Kühnemann). Die Ströme haben sich dann wieder
geschieden, die Romantik gab dem Vorrang der Kunst und der ästhe-
tischen Lebensanschauung einen besonders zugespitzten und selbst-
bewußten Ausdruck, Fichte und die anderen Führer der nationalen
Bewegung wirkten kräftig zur Verstärkung der Moral. Die soziale
und technische Kultur, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer
mehr zur Herrschaft kam, ist mit ihrer Richtung auf die gesellschaft-
334 Zu den Problemen des Menschenlebens.
liehe Wohlfahrt und auf die Zweckmäßigkeit des Lebens die Kunst
als einen nebensächlichen Anhang zu behandeln geneigt. Dagegen
erhebt sich nun die moderne Kunst, erstrebt einen Einfluß auf
das Ganze des Lebens, dem sie mehr Leichtigkeit, mehr Freude,
mehr Individualität verheißt, und hält oft der Moral eine ästhetische
Lebensanschauung als allein berechtigt entgegen. So hat zur Zeit
einmal wieder die Entzweiung der beiden Gebiete die Oberhand.
Die geschichtliche Betrachtung zeigte, daß der Gegensatz durch
die Jahrtausende geht, nicht eine Stimmung des bloßen Tages be-
deutet. Immer wieder rückte die Moral der Kunst eine Verweich-
lichung, Ermattung, Auflösung des Lebens vor, aber zugleich mußte
sie dafür den Vorwurf der Härte, Schabion enhaftigkeit, Seelenlosig-
keit entgegennehmen. Aber auch davon überzeugten wir uns, daß,
was in der Breite des Lebens einander floh, auf seiner Höhe sich
suchte; bei den schaffenden Geistern war der Gegensatz, wenn auch
nicht völlig aufgehoben, so doch sehr gemildert; in ihnen ward
deutlich, daß das geistige Leben keiner Seite entbehren kann, und
daß die Schuld des Zwistes weniger an der Sache als am Menschen
liegt. In Wahrheit können Moral und Kunst die eigne Aufgabe
nicht in großem Sinne nehmen, ohne sich gegenseitig als bedeutend,
ja unentbehrlich anzuerkennen, sie können jenes nicht, ohne sich in
ein umfassendes Ganzes des Geisteslebens hineinzustellen und dort
eine Verständigung anzustreben.
Wo die Moral unmittelbar das ganze Leben einnehmen wollte,
da pflegte sie zu einem System von Regeln und Vorschriften zu
werden, die streng zum Menschen sprachen, ihm zugleich aber für
ihre Erfüllung einen hohen Lohn verhießen. Viel Aufrüttelung,
auch viel straffe Konzentration ist damit geleistet worden, aber die
überwiegende Fassung als eines Gebotes ließ hier die Moral nicht
zu voller innerer Aneignung kommen, sowie Liebe und Freude
entzünden. Leicht ward hier der Mensch zwischen einem Bewußt-
sein hülfloser Schwäche und einem selbstbewußten Pharisäismus
hin- und hergeworfen. In der Tat war es immer nur eine gewisse
Mittelhöhe des bürgerlichen oder kirchlichen Lebens, der die bloße
Moral genügte; weder der Durchschnitt der ersten christlichen Jahr-
hunderte noch der der Aufklärung hatte bei allem moralischen Eifer
einen bedeutenden geistigen Gehalt. Die Moral selbst konnte die
Gefahr eines Starr- und Äußerlichwerdens erst überwinden, wenn
sie in weitere Zusammenhänge hineingestellt wurde. Geschah dies
Probleme der Moral. 335
aber und wurde sie ein Weg zur Aneignung einer neuen Wirklich-
keit, galt es in ihr nicht eine korrekte Erfüllung von Geboten, son-
dern eine innere Erneuerung des Menschen, ein Vordringen zu
ursprünglichem Leben, so konnte sie der Kunst in keiner Weise
entbehren. Denn jenes Neue ließ sich nur mit Hülfe einer künstler-
ischen Tätigkeit als Ganzes fassen und in lebendige Gegenwart
stellen, auch konnte es die Breite des Lebens nicht gewinnen ohne
das bildende, Inneres und Äußeres zusammenflechtende Wirken der
Kunst. Ja wenn alles daran liegt, eine neue Welt und ein neues
Leben gegenüber den kleinen Zwecken des bloßen Menschen und
dem Alltagsleben zu erreichen, so muß die Kunst mit ihrem stillen
und sicheren Wirken aus der inneren Notwendigkeit der Dinge,
mit ihrer inneren Befreiung der Seele, mit ihrem Vermögen, uns die
ganze Unendlichkeit innerlich nahe zu bringen und zu eignem
Leben zu machen, unmittelbar als moralisch gelten.
Ebenso wenig kann eine Kunst, die groß von sich selbst und
ihrfer Aufgabe denkt, die Moral verachten. Schwerlich war je ein
schaffender Künstler ersten Ranges einer ästhetischen Lebensanschau-
ung zugetan, und zwar deshalb nicht, weil er nicht die Kunst als
ein Sondergebiet vom übrigen Leben ablösen konnte, weil er in das
Schaffen seine ganze Seele, nicht nur eine gewisse Technik hinein-
legen mußte, und weil er die Mühen, ja die Unzulänglichkeit dieses
Schaffens viel zu stark empfand, um daraus einen bloßen Genuß
zu saugen. In Wahrheit hat die ästhetische Lebensanschauung ihre
Heimat weniger bei den Künstlern als bei den reflektierenden und
genießenden Dilettanten; diese haben sie oft genug auch den
Künstlern aufgedrängt, die, theoretischen Erörterungen wenig hold,
ja ihnen gegenüber wehrlos, kaum empfinden, daß jene Ablösung
der Kunst vom Ganzen des Lebens sie nicht sowohl erhöht als
erniedrigt.
Das Angewiesensein von Kunst und Moral aufeinander wird
namentlich da zu voller Anerkennung gelangen, wo unsere Welt
nicht als eine fertig abgeschlossene, sondern als eine erst im Werden
befindliche, ja als eine solche gilt, in der nicht nur Vorhandenes
auszubauen, sondern eine neue Stufe der Wirklichkeit zu erreichen
ist. Dazu bedarf es eines selbständigen Entscheidens, einer Auf-
rüttelung des Wesens, eines energischen Tuns, welches das ganze
Dasein umfaßt; deutlich ist hier, daß wir nicht an erster Stelle zu
behaglichem Genießen, zur Kontemplation, sondern zu Wirken und
336 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Schaffen, zur Aktivität berufen sind. Aber zugleich bedarf es eines
kräftigen und glücklichen künstlerischen Bildens, wenn die neue
Welt uns nicht in vagem Umriß verbleiben, und wenn sie das Ganze
unserer Seele gewinnen soll; auch die Kunst ist eine unentbehrliche
Helferin zum Aufbau eines neuen Lebens.
ß. Die Probleme der Gegenwart,
aa. Der moderne Ästhetizismus.
Wie wir prinzipiell über den Ästhetizismus denken, bedarf
nach diesen Darlegungen keiner weiteren Erörterung. Den Ästheti-
zismus der Gegenwart aber klagen wir einer inneren Unwahrhaftig-
keit an. Uns zeigen heute die Welt und das Leben viel zu viel
Dunkel und viel zu viel Unvernunft, und es regen uns die großen
Widersprüche des Daseins viel zu sehr auf, als daß wir aus tiefster
Seele und mit voller Hingebung unser Dasein überwiegend in Ge-
nuß verwandeln und eine Harmonie des Ganzen mit reiner Freude
erleben könnten. Der Ästhetizismus ist weniger ein wahrer Aus-
druck des heutigen Lebensgefühls als ein Versuch, seiner Schwere
und seinem Ernst zu entfliehen. Das aber kann er nur, indem er
sich mit dem modernen Subjektivismus verbindet und in solcher
Verbindung Stimmungen erzeugt, die gewiß als Zeichen der Zeit
beachtenswert sind, denen aber alles schöpferisches Vermögen und
alle seelenerhöhende Kraft gebricht.
Ein Zusammenwirken von Individualismus und Ästhetizismus
ließ das Schlagwort einer «neuen Ethik" entstehen, das namentlich
in weiblichen Kreisen viel Einfluß gewonnen hat. Auch eine der-
artige Bewegung sei nicht von vornherein verschrieen, sondern in
ihren Gründen unbefangen gewürdigt. Was die Gesellschaft Moral
nennt, ist nicht mehr als eine gewisse Ordnung des Zusammenlebens,
der Sitte und Gewöhnung einen Heiligenschein verliehen haben, die
daher bei aller Unzulänglichkeit leicht mit starker Selbstbewußtheit
auftritt, wie Diener leicht arroganter als Herren sind. Nun ändert
der geschichtliche Lauf der Dinge die Art des Zusammenseins,
Änderungen können notwendig werden, die starre Festhaltung der
überkommenen Art kann einen peinlichen Druck erzeugen, kann Recht
in Unrecht, Unrecht in Recht verwandeln. Die Neuzeit aber hat in
den gegenseitigen Verhältnissen und in der Art der Arbeit so viel
verschoben, daß eine Revision jener gesellschaftlichen Ordnungen
Probleme der Moral. 337
und damit der konventionellen Moral in verschiedener Richtung not-
wendig ist.
Aber dieses anerkennen heißt nicht der hastigen und summa-
rischen Art beipflichten, mit der von den Vertretern und vielleicht
noch mehr den Vertreterinnen eines ästhetischen Subjektivismus die
schwierigen und verantwortungsvollen Fragen erledigt werden. Zu-
nächst ist Moral selbst etwas anderes als ihre sichtbare Vertreterin,
die gesellschaftliche Ordnung, und moralisches Verhalten etwas anderes
als soziale Korrektheit Wie gering wurde auf der Höhe des moralischen
Schaffens von jener Korrektheit gedacht, wie entschieden wurde hier
abgelehnt, das bloße Mittel zum beherrschenden Zweck zu machen!
Aber auch das Mittel ist bei aller Unzulänglichkeit keineswegs
wertlos. Weil gewisse Einrichtungen problematisch geworden sind,
sollte nicht alle gesellschaftliche Ordnung wie ein ungebühriicher
Druck verrufen werden. Denn wie die menschlichen Dinge stehen,
ist sie ein unentbehrliches Mittel, das Leben auf ein gewisses Niveau
zu heben und den zerstörenden Kräften, die unablässig am Werke
sind, genügenden Widerstand zu leisten. Nur ein grenzenloser, man
möchte sagen kindlichnaiver Optimismus, den man liebenswürdig
nennen möchte, wenn er nicht mit seiner die Halbgebildeten be-
stechenden Flachheit gefähriich wäre, kann wähnen, daß man dem
Menschen nur schrankenlose Freiheit zu gewähren brauche, um das
ganze Leben zu seliger Harmonie zu führen. Daß der Mensch zur
Zügelung seiner Begierden sozialer Ordnungen bedarf, mag be-
klagenswert sein, es ist aber doch nicht die Schuld der Ordnungen;
wer über sie klagt, müßte auch alle Medizin verwerfen, die nicht
angenehm schmeckt; würden wir nicht leicht das Gegenteil der
Absicht erreichen, wenn wir einem verschönernden Bilde zuliebe
alle Schranken einreißen wollten? L'homme n'est ni ange ni bete;
et le malheur veut que qui veut faire Tange fait la bete (Pascal).
Wenn von »neuer Ethik" geredet wird, so müssen wir auch
einem solchen Mißbrauch des Wortes Ethik widersprechen. Ganz
gleichgültig sind die Wörter nicht, ihr Mißbrauch kann zu einer
Verdunklung echter Probleme wirken. Unter Moral hatten wir uns
gewöhnt an die Anerkennung einer willkürentzogenen Ordnung,
die Hochhaltung von Pflicht und Gewissen zu denken. Was aber
der ästhetische Subjektivismus mit seiner „neuen Ethik" bietet, ist
nichts anderes als ein feinerer Epikureismus, als ein Selbstgenuß
des Individuums, das sich von aller Hemmung befreit; wer darin
Eucken, Orundbegriffe. 4. Aufl. 22
338 Zu den Problemen des Menschenlebens.
sein Genüge findet, der sollte die Ethik genau so gut wie die Reli-
gion in Bausch und Bogen für eine Verirrung erklären und aus
seiner Gedankenwelt streichen, nicht aber sollte er durch ihren Namen
seiner andersgearteten Denkweise einen schimmernden Aufputz geben.
Ein schroffer Gegensatz ist hier unverkennbar. Ist der Mensch nicht
mehr als die Summe seiner natürlichen Neigungen und kommt alle
Lebensweisheit darauf hinaus, diese Neigungen in ein leidliches
Gleichgewicht zu bringen, oder steckt in uns eine geistige Kraft,
unser Dasein in freie Tat zu verwandeln und zugleich unser selber
Herr zu werden? Ist unser Verhältnis zur Wirklichkeit vorwiegend
rezeptiver oder ist es aktiver Art? Ist unser subjektives Glück das
Höchste aller Güter, oder treibt uns eine innere Notwendigkeit
über solchen Abschluß hinaus? Dieser Gegensatz steht seit den
Stoikern und den Epikureern mit voller Klarheit vor Augen, und er
schließt jede Vermittlung aus. Die alten Epikureer aber dachten
präziser als die modernen, sie haben sich nicht als Vertreter einer
neuen Ethik gegeben.^
Der Punkt, an dem der moderne Subjektivismus mit anderen
Überzeugungen am härtesten zusammenstößt, ist die Behandlung
des Sinnlichen, besonders in der geschlechtlichen Sphäre. Daß hier
Verwicklungen vorliegen, wird niemand bestreiten können. Im
Christentum, namentlich in seinen katholischen Fassungen, wirkt
vielfach noch eine Geringachtung, ja eine Verachtung der Sinnlich-
keit fort, die in den Stimmungen des ausgehenden Altertums und
seinem Kampf gegen eine entartete Sinnlichkeit wurzelt; ja es ist
hier ein Stück Manichäismus in das Christentum eingedrungen und
wirkt bei aller äußeren Strenge zu innerer Verflachung. Denn eine
Verflachung ist es, wenn die Hauptsorge des Lebens darin gesetzt
* Mit besonderer Kraft und Tiefe hat sich über diese Probleme der aus-
gezeichnete schwedische Philosoph Vitalis Norström in seinem Buch „Das
tausendjährige Reich" (deutsch 1907) ausgesprochen; er sagt z. B. S. 31 : „Selt-
same Schwärmerei, die auf der Ersättigung der Sinne ein stabiles seelisches
Gleichgewicht zu begründen meint! Armselige Weisheit, die kein höheres
Ziel kennt, als sich dauernd, wenn man so sagen kann, einen guten Tag zu
machen! Diese Welt des allgemeinen Genießens — wofern sie überhaupt
möglich wäre — würde das Beste nicht aufkommen lassen, dessen der
Mensch fähig ist: die Erhebung über den Genuß, die Selbstüberwindung.
Sie würde das ausschalten, was unsrem gewiß verbesserungsbedürftigen
Dasein doch eine gewisse Weihe gibt; das, was ein Landsmaim Zolas, der
edle Alfred de Vigny, gefeiert hat als die „majeste dessouffrances humaines.«
Probleme der Moral. 339
wird, einen Kampf mit dem Sinnlichen zu führen, das Sinnliche
möglichst abzuschwächen, zu erniedrigen, zu kasteien, wenn wer es
in solchem Ertöten der Sinnlichkeit weit gebracht hat, und sei er
ein noch so leerer und harter Mensch, als ein Held gefeiert und
als Vorbild erwählt wird. Denn was wird denn mit solcher Miß-
handlung der Sinnlichkeit für eine innere Läuterung der Seele und
für den Aufbau geistigen Lebens gewonnen? Dazu muß jene Unter-
drückung der Sinnlichkeit, wie alles Naturwidrige, schlimmere Schäden
herbeiführen, als sie zu heilen unternimmt; die Natur pflegt sich für
eine Mißhandlung schwer zu rächen. Aber mit der Abweisung einer
derartigen Askese ist die Sache nicht schon erledigt, sie liegt nicht
so einfach, wie es oft dem ästhetischen Subjektivismus scheint. Die
sinnliche und geschlechtliche Seite zeigt den Menschen der Natur
aufs engste verwachsen, mehr als irgendwie sonst hält hier die Natur
ihn fest. Aber zugleich hat er sich mit der Entwicklung geistigen
Lebens weit über sie erhoben und damit die schlichte Naivität auch
auf jenem Gebiete verloren; so wird ihm das Sinnliche zum Problem,
das vom Geistesleben aus sich verschieden beantworten läßt; soll
es sich in voller Freiheit, unbekümmert um höhere Zwecke des
Geistes, nach Lust und Laune des Einzelnen ausleben, oder hat
es sich den Zwecken des Geisteslebens unterzuordnen und in ihnen
ein Maß zu finden? Wer unter Berufung auf das unantastbare
Recht der Natur sich für jenes entscheidet, der pflegt zu übersehen,
daß wir bei unserer gesteigerten und vielfach überspannten KuUur
nicht mit der reinen Natur zu tun haben, daß die heutige Sinnlichkeit
vielfach eine raffinierte, ja entartete ist So können wir schon zur
Scheidung dessen, was an der Natur echt oder unecht ist, geistiger
Arbeit nicht entbehren, eine einfache Kapitulation vor dem, was sich
heute sinnlich nennt, ist schlechterdings ausgeschlossen.
bb. Die Stellung der Kunst im modernen Leben.
Siegreich dringt im modernen Leben die Kunst wieder vor und
mächtig bewegt sie die Geister; so ist es kein Wunder, daß sie alle
Abhängigkeit verschmäht und auf voller Selbständigkeit besteht. Ein
solches Verlangen findet einen Ausdruck in der bekannten Formel
l'art pour l'art.* In dem was sie an Verneinung enthält, wird ihr kein
^ Der Ausdruck (s. darüber Büchmanns Geflügelte Worte, 21. Aufl.,
S. 326) hatte, wie ihn zuerst Victor Cousin 1818 in Vorlesungen an der
Sorbonne gebrauchte, einen ganz unverfänglichen Sinn : II faut de la religion
22»
340 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Freund der Kunst widersprechen. Die Kunst soll nicht fremden Zwecken
dienen, sie darf nicht der Moral, der Politik, der Religion Hand-
reichung leisten und damit zu einer Tendenzkunst sinken, die nur
für einen Augenblick blenden mag, nie aber wahre Förderung bringt
Schwieriger ist es, jenem Wort einen positiven Sinn zu geben. Heute
geschieht das nicht selten mit der Behauptung, die Kunst müsse
gleichgültig gegen allen Stoff und Inhalt sein und sich allein mit
der Vollendung ihrer Form befassen; so allein sei sie ganz bei sich
selbst und könne völlig ungehindert ihre eignen Wege verfolgen.
Aber liegt eine solche Ablösung vom übrigen Leben in ihrem eignen
Interesse, kann sie bei ihr das Höchste leisten, dessen sie fähig
ist? Die Gefahr liegt nahe, daß mit dieser Wendung die Kunst zur
bloßen Formbeherrschung, zu virtuosenhafter, glänzender, blendender
Technik wird, daß sie so weder den ganzen Menschen hinter sich
hat, noch zum ganzen Menschen und zur Menschheit zu wirken
vermag. Eine solche Kunst mag weit mehr in der sinnlichen Er-
fahrung entdecken, sie mag unser Empfinden in ungeahnter Weise
bereichern und verfeinern, sie mag in Überwindung von Widerständen
schwelgen, aber seelisch kann sie uns wenig bieten, und das Geistes-
leben wird sie kaum erhöhen. War nicht dies den großen Kunst-
werken, die dauernd zur Menschheit sprechen, eigentümlich, daß
aller Gegensatz von Inhalt und Form in ihnen überwunden wurde,
haben sie nicht in der Vollendung der Form zugleich zu vollem
Ausdruck gebracht, was das Innere des Lebens erfüllte? Muß nicht
die Kunst die Probleme der Menschheit aufnehmen und in ihrer
Weise zu lösen suchen ?i Auf jene Innerlichkeit kann am wenigsten
pour la religion, de la morale pour la morale, de l'art pour l'art. Erheblich
später erst wurden die letzten Worte zum Bekenntnis einer Schule und zu
einem Zankapfel der Parteien. — Hinzufügen möchten wir nur, daß auch
Comte sich einmal mit jenem Schlag\i'ort befaßt, aber es sehr äußerlich
wendet. Cultiver l'art pour l'art lui-meme bedeutet ihm nichts anderes als
ne se proposer habituellement d'autre bout reel que de divertir le public
(cours de phil. pos. VI, 167).
^ Auch über dies Problem hat sich Norström in vorzüglicher Weise
geäußert. So bemerkt er z. B. über das oft als Beispiel eines bloßen Schön-
heitskultus angeführte Griechentum (Das tausendjährige Reich, S. 73): »Man
bildet sich oft ein, die Grundkraft des griechischen Lebens sei ein unwider-
stehlicher, zwangloser Trieb zur schönen Form gewesen, also ein Bedürfnis,
das an sich schon schöne Dasein noch mehr zu verschönern. Statt dessen
aber dienten bei ihnen die Gebilde der Kunst wesentlich dazu, gefesselte
sittliche Kräfte zu befreien, dunkle Bewußtseinsinhalte aufzuhellen und
Probleme der Moral. 341
der nordische Mensch verzichten. Er besitzt nicht die natürliche
Leichtigkeit der sinnlichen Darstellung wie der Bewohner des Südens,
er findet schwer den Weg von innen nach außen; so bleibt ihm
leicht das Innerste der Seele unausgesprochen und seine eigne
Tiefe verschlossen. Daher wird ihm die Kunst ein unentbehrliches
Mittel, sich selbst zu finden, sein Eigentum in vollen Besitz zu
nehmen, die Kluft im eignen Wesen irgend zu schließen. So kann
ihm auch die vollendetste Form als bloße Form nun und nimmer
genügen.
Wer einen Inhalt der Kunst als etwas ihr fremdes und gefähr-
liches verschmäht, der pflegt dabei an eine Gedankenleistung, eine
abstrakte Idee zu denken. Aber fällt denn Geistesleben mit dem
Denken zusammen, gibt es keinen anderen geistigen Inhalt als eine
Gedankengröße? Der alte Intellektualismus mochte das meinen, heute
aber wollen wir. nicht mehr Intellektualisten sein; wie könnten uns
also jetzt die veralteten Maße binden und uns hindern, in tieferem
und' weiterem Sinne nach einem Inhalt für den ganzen Menschen zu
streben?
Ja wir sehen sogar in der Zurückstellung des Inhalts eine Ge-
fahr für eben die Selbständigkeit der Kunst, zu deren Gunsten sie
verlangt wird. Mit dem Unabhängigwerden vom Stoffe wird nicht eine
Unabhängigkeit schlechthin erreicht. Eine überwiegende Formkunst
wird leicht zu einem Virtuosentum, das vor allem darauf bedacht
ist, wenn nicht anderen, so doch sich selbst das eigne Vermögen
zu zeigen; das aber erzeugt eine Vorliebe für das Abweichende,
Paradoxe, Überspannte, und mit dem Suchen dessen gerät man leicht,
indem man seine Freiheit beteuert, nur in eine andere Art der Ab-
hängigkeit, eine Abhängigkeit von anderen und auch von der eignen
Stimmung. Nur da besteht wahrhaftige Unabhängigkeit, wo das
Schaffen ganz und gar aus einer innem Notwendigkeit des eignen
Wesens hervorgeht; dazu aber muß der Mensch etwas auszusprechen,
zersplitterte Arbeit um gemeinsame praktische Ziele zu sammeln." - Und
weiter: „Tatsächlich gilt von aller großen, echten Kunst, daß sie die Form
dem Inhalte, den sie wiederzugeben sucht, mehr oder weniger unterordnet
und gegen die Lust oder Unlust, die sie — bei dem Künstler und anderen
— erweckt, sich gleichgültig verhält, wenn nur die Bilder den Inhalt mit-
teilen. Die echte Kunst öffnet uns die Tiefe der schöpferischen Phantasie
eher, um uns von dem ,heiteren' Dasein zu befreien, als um uns tiefer in
dasselbe hineinzuführen.«
342 Zu den Problemen des Menschenlebens.
ja zu offenbaren haben. Der bloßen Virtuosenkunst aber fehlt eine
solche Notwendigkeit.
Mit einem Worte sei auch des Verhältnisses der modernen
Kunst zur geschlechtlichen Sphäre gedacht. Daß die Kunst sich
nicht von ihr zurückzieht, sondern sich eingehend mit ihr befaßt,
kann ihr nur eine unkünstlerische Denkweise verargen. Daß sie
oft aber jenes mit sichtlicher Vorliebe in den Vordergrund rückt
und möglichst lange bei ihm verweilt, es so reflektiert und so raffi-
niert bis zur Eckelhaftigkeit ausmalt, das ist mehr ein Zeichen sitt-
licher Fäulnis als technischen Könnens, das kann durch keine ästhe-
tische Theorie verteidigt werden.
Wie viel bei der bildenden Kunst im Fluß und im Streit sein
mag, an hervorragenden Persönlichkeiten und an glänzenden Leist-
ungen fehlt es hier wahrlich nicht. Minder günstig steht die Sache
auf dem Gebiete der Literatur. Anregungen und Aufgaben bietet
hier die Zeit in Hülle und Fülle. Alte Qedankenmassen versinken
und neue steigen auf, über seine Stellung im All ist der Mensch
höchst unsicher geworden, der eigne Kreis der Menschheit ist voller
Bewegungen und Wandlungen, dazu gestattet die wachsende Hast
des Lebens keine genügende Selbstbesinnung; so ist uns das Dasein
verworren und wir selbst sind uns vielfach ein Rätsel. Hätte hier
nicht das literarische Schaffen die Aufgabe einer Klärung, hätte es
nicht, was auf uns eindringt und sich in uns regt, zur deutlichen
Aussprache zu bringen, aus dem Chaos der Erscheinungen, das uns
umwogt einfache Grundlinien herauszuheben, uns das Leben mög-
lichst in ein Ganzes zu fassen und zugleich es weiterzuführen? Dazu
aber bedürfte es einer inneren Überlegenheit über die Gegensätze
der Zeit, einer energischen Synthese, die nicht aufnähme ohne auch
auszuschließen, eines mutig und kräftig vordringenden geistigen
Schaffens. An Ansätzen dazu fehlt es nicht, aber im allgemeinen
ist zu sagen, daß unsere Literatur, die Literatur eines der größten
Kulturvölker, nicht auf der Höhe der Zeit steht, daß sie dem modernen
Menschen in dem Kampf um eine geistige Selbsterhaltung und um
einen Sinn seines Lebens wenig Hilfe gewährt. Es ist eine Pflicht,
dies offen auszusprechen.
5. Persönlichkeit und Charakter.
a) Persönlichkeit.
a. Zur Geschichte des Ausdrucks.
I |en Ausdruck Person, einen der wenigen Termini lateinischen
*-^ Ursprungs, von seinem Ursprung an in seine schon im Alter-
tum reiche Verzweigung zu verfolgen, seine Bedeutung im römischen
Recht wie in der christlichen Theologie darzulegen, das würde uns
zu weit von unserer Aufgabe entfernen.^ So halten wir uns an die
Philosophie und streben auch hier möglichst rasch zur Gegenwart.
Die neuere Philosophie empfing den Ausdruck von der Scholastik,
diese aber folgte der Definition des Boethius, Person sei ein ver-
nünftiges Einzelwesen.2 Aus der Anwendung dieser Definition auf
die Trinitätslehre entstanden ernste Verwicklungen (Roscellin), aber
^ Über das Technische des Ausdrucks berichtet näher die Realenzyklo-
pädie von Pauly. Über seine Anfänge und seine Schicksale bis ins Mittel-
alter schrieb einen anregenden Aufsatz Max Müller in Good Words, Juni
1866, bedeutender ist eine Untersuchung Trendelenburgs, die ich aus seinem
Nachlaß in den Kant-Studien Bd. XIII, Heft 1 u. 2 veröffentlicht habe.
^ Näher lautet die Definition (in der Schrift de duabus naturis, ed.
R. Peiper, pag. 193, 4): persona est rationalis naturae individua substantia.
Im früheren Mittelalter ward Person wohl etymologisch erklärt als per se
una. Über die verschiedenen Fassungen des Begriffes bei den wichtigsten
mittelalterlichen Denkern s. Baumgartner, die Philosophie des Alanus de
insulis, S. 45. Indem Thomas, namentlich in seiner Untersuchung über die
Dreieinigkeit (im 1. Buch der summa theologiae), die Lehre des Boethius
weiter entwickelt, betont er, daß Personen non solum aguntur, sed per se
agunt. Er verteidigt die Anwendung des Ausdrucks auf Gott, obwohl sie
sich nicht in der Bibel finde. Wie andere Scholastiker, so hat auch Thomas
personalitas, dem schon Eckhardt in personlicheit ein deutsches Gewand gab,
wie er auch personlich öfter verwendet. In der späteren Scholastik war die
gebräuchlichste Definition von Person suppositum intelligens, suppositum
aber bedeutete dabei eine substantia singularis viva. Zesen übersetzte persona
mit Selbstand (s. Paul Piur, Studien zur sprachlichen Würdigung Christian
Wulffs, S. 58), Clauberg (Wke. 1691, S. 321) mit „selbständig verständig Ding."
344 Zu den Problemen des Menschenlebens.
sie haben ihren Gebrauch in der Scholastik nicht gehindert. Philo-
sophische Probleme bedeutender Art werden dabei nicht aufgenommen.
Erst die Neuzeit brachte die Sache in regeren Fluß. Der Be-
griff Person wird hier ein Hauptmittel, gegenüber dem Zuge nach
einer gemeinsamen und gleichförmigen Weltordnung dem Menschen
eine ausgezeichnete Stellung zu wahren. Die von der Scholastik^
übernommenen Begriffe Person und Persönlichkeit werden dabei
psychologisch genauer durchgebildet. Leibniz führt diese Bewegung,
indem er das Wesen der Persönlichkeit in das Selbstbewußtsein,
d. h. das Bewußtsein der Identität in den verschiedenen Zeitpunkten
des eignen Daseins, setzt und daraufhin die Unsterblichkeit des
Menschen von der Unzerstörbarkeit der niederen Wesen abhebt^
Wolff wie die Aufklärungsphilosophie nehmen diese Fassung auf,
Herbart führt sie bis ins 19. Jahrhundert hinein.^
Das auszeichnende Merkmal der Persönlichkeit war bis dahin
^ Wie eng in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Zusammenhang
mit der Scholastik noch war, und wie sehr die Ausdrücke als bloße Termini
der Schule galten, zeigt das weitverbreitete philosophische Lexikon von Walch.
Es heißt dort (auch noch in der vierten, von Hennings besorgten Ausgabe
von 1775) unter Person: «Person heißt in der Metaphysik eine besondere,
vollkommene und vernünftige Substanz, welche ihr Wesen und ihre Subsistenz
vor sich hat. Das Abstraktum davon oder die Subsistenz eines solchen Wesens
ist Personalitas genannt worden."
^ Theodic^e I, § 89: l'immortalite, par laquelle on entend dans l'homme,
non seulement que l'äme, mais encore que la personalitesubsiste: c'est-ä-dire,
en disant que l'äme de l'homme est Immortelle, on fait subsister ce qui fait
que c'est la meme personne, laquelle garde ses qualites morales, en conser-
vant la conscience ou le sentiment reflexif interne de ce qu'elle est: ce qui
Ja rend capable de chätiment et de recompense. Femer in dem Briefe an
Wagner (de vi activa corporis et de anima brutorum) S. 466 b der Erdraannschen
Ausgabe: Itaque non tantum vitam et animam, ut bruta, sed et conscientiam
sui et memoriam pristini status, et, ut verbo dicam, personam servat.
' So sagt Wolff (psych, rationalis, §741): Persona dicitur ens, quod
memoriam sui conservat, hoc est, meminit, se esse idem illud ens quod ante
in hoc vel isto fuit statu. Femer in den »vemünftigen Gedanken von Gott,
der Welt und der Seele des Menschen" § 924 (angeführt von Trendelenburg):
»Da man nun eine Person nennet ein Ding, das sich bewußt ist, es sei eben
dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen: "?o sind die
Tiere auch keine Personen. Hingegen weil die Menschen sich bewußt sind,
daß sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande
gewesen: so sind sie Personen." Herbart aber sagt: (Wke. III, 60): »Persön-
lichkeit ist Selbstbewußtsein, worin das Ich sich in allen seinen mannig-
faltigen Zuständen als Eins und Dasselbe betrachtet."
Persönlichkeit und Charakter. 345
die Intelligenz. Nun aber beginnt eine neue, eine ethische Phase.
Nach mannigfacher Vorbereitung hat Kant mit seiner Voranstellung
der praktischen Vernunft sie durchgesetzt BPersönHchkeit« ist einer
der Hauptpunkte, welche die neue Denkweise zu greifbarem Ausdruck
bringen, es wächst bei Kant weit über die bloße Intelligenz hin-
aus, in ihr erscheint eine wesentlich höhere, in Freiheit gegründete
Ordnung. Persönlichkeit bedeutet nämlich »die Freiheit und Unab-
hängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur", das »was den
Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt,
was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand
denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das
empirisch -bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das
Ganze aller Zwecke, unter sich hat« (V, 91 Hart). Als Personen
sind Vemunftswesen Zwecke an sich und dürfen nie als bloße Mittel
gebraucht werden. Ja es wird in uns neben der Tierheit und
Menschheit noch die Persönlichkeit unterschieden; der Mensch ist
zunächst ein lebendes, dann ein lebendes und zugleich vernünftiges,
als Persönlichkeit endlich ein vernünftiges und zugleich der Zurech-
nung fähiges Wesen (VI, 120).
Spätere Denker, wie der ältere Schelling, auch J. H. Fichte,
haben diese ethische Fassung des Persönlichkeitsbegriffes nach der
metaphysischen Seite zu ergänzen und vertiefen gesucht,^ im großen
und ganzen aber ist man bei Kant verblieben. Zum mindesten steht
seit ihm fest, daß das allen einzelnen Handlungen überlegene, als
Persönlichkeit bezeichnete Subjekt auch mit praktischer Vernunft
auszustatten ist, daß zu seinem Wesen nicht bloß das Selbstbewußt-
sein, sondern auch die Selbstbestimmung gehört
ß. Zur Geschichte des Begriffs.
Die letzterrungene Fassung des Begriffs als des selbstbewußten
und selbsttätigen Subjekts ist es, deren Geschichte wir nunmehr in
^ Dne Geschichte des Persönlichkeitsbegriffes im 19. Jahrhundert wäre
eine Aufgabe, die manchen Ertrag verspricht. Über den Gebrauch des Aus-
drucks bei den verschiedenen Völkern bemerkt Alexander Chamberlain in
Harpers Monthly (1003, Juli, pag. 281): The word personality is not a natrve
English term, but has been borrowed, ultiraately frora mediacN-al Latin and
subsequently rescued from the lau^-ers. The corresponding French term,
personnalite, was admitted to the Academy's dictionary so recendy as 1762.
The German Persönlichkeit was once entirely in the possession of the mystics.
346 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Kürze aufrollen möchten. Die griechische Philosophie gelangte nicht
zu einem deutlichen Begriff der Persönlichkeit, sowohl weil die Frage
der Einheit des Seelenlebens nicht im Vordergrunde stand, als weil
dem vorwaltenden Intellektualismus das Denken als der Kern und
das wahre Selbst des Menschen galt. Immerhin arbeitet sich den
großen Durchforschern des Menschenwesens, fast im Widerspruch
mit ihren Hauptlehren, ein gewisser Begriff der Persönlichkeit her-
aus und wirkt in ihrer Gedankenwelt. So bei Plato, so mehr noch
bei Aristoteles, dessen Ethik deutlich genug über einzelne Hand-
lungen zu einem Wesen vordringt, das sich selbst im Handeln er-
lebt. Das spätere Altertum hat mehr und mehr den Menschen auf
sein eignes Innere gestellt und auch den Begriff des Selbstbewußt-
seins entwickelt,^ aber zu einem vollen Begriff der Persönlichkeit ist
es nicht gelangt. Eine unserem Begriff der Persönlichkeit ent-
sprechende Fassung der Gottheit wurde von hervorragenden Denkern
nachdrücklich abgelehnt.^
1 S. Siebeck, Geschichte der Psychologie I, 2, S. 331—342: „Die Her-
ausbildung des Bewußtseinsbegriffes." Trendelenburg hat in dem angeführten
Aufsatz näher dargelegt, wie sehr die Stoiker die Entwicklung dieses Begriffs
gefördert haben; er zeigt, wie »wir bei ihnen, die im Leben auf die Über-
einstimmung mit sich selbst, auf die Konsequenz des mit sich einigen
Charakters gerichtet waren, das r.po'jujxo^j , die persona zum Ausdruck des
Ethischen werden sehen"; und weiter: »die gut gedichtete Rolle ist der Natur
gemäß, wie der erste Grundsatz der Stoiker verlangt, der Natur gemäß zu
leben, d. h. der Vernunft, die der Natur zum Grunde liegt, zu folgen, und
die gut gedichtete Rolle individualisiert ferner das Allgemeine der eigen-
tümlichen Natur des Einzelnen gemäß und gründet es in einem vernünftigen
Mittelpunkt".
* Zuerst tat das, so weit bekannt, der Akademiker Karneades (213/4 bis
129 V. Chr.), später mit größter Kraft und Schärfe Plotin. S. darüber neben
Zellers großem Werk seinen Grundriß der Gesch. d. griech. Philosophie.
Karneades suchte zu zeigen (s. Grundr. 6. Aufl., S. 242 ff.): „daß man sich
die Gottheit nicht als ein lebendes, vertiünftiges Wesen (Cwov Xoyizo'v) denken
könne, ohne ihr Eigenschaften und Zustände beizulegen, die ihrer Ewigkeit
und Vollkommenheit widerstreiten." Besonders energisch aber kämpft Plotin
aus dem Ganzen einer Weltanschauung dagegen, dem schlechthin Unend-
lichen und aller Besonderheit überlegenen Urwesen, wie er es faßt, Denken
oder Wollen und weiter auch Selbstbewußtsein zuzuschreiben (s. Zeller a. a. O.,
S. 293 ff.). „So tritt die von Karneades vorbereitete Leugnung der Persön-
lichkeit Gottes hier zuerst mit grundsätzlicher Entschiedenheit auf« (Zeller).
Plotins Gründe sind für die spekulative Ablehnung einer Persönlichkeit
Gottes maßgebend geblieben, auch Spinoza hat ihnen kaum etwas neues
hinzugefügt.
Persönlichkeit und Charakter. 347
Die kräftigere Belebung und größere seelische Nähe, welche
die Gottesidee im alten Christentum gewann, gestattet hier weit eher,
von einer Persönlichkeit Gottes und einem persönlichen Verhältnis
des Menschen zu Gott zu sprechen. Die darin liegende Gefahr
eines Anthropomorphismus blieb nicht unbemerkt: das zeigt schon
der heftige Streit darüber, ob sich dem höchsten Wesen ein Affekt
wie der Zorn zuschreiben lasse. Eine Lösung fanden die Probleme
im Gottesbegriff unter Augustins Führung schließlich in der Weise,
daß eine menschlich -persönliche Fassung auf die Grundlage einer
spekulativ-mystischen aufgetragen wurde. Gott ist zugleich sittliche
Persönlichkeit und absolutes Sein. Die mattere Denkweise des
Mittelalters empfand in dem Nebeneinander beider Fassungen keinen
Widerspruch. Der Neuzeit verwandelte sich auch hier alsbald in
ein Entweder -oder, was das Mittelalter als ein Sowohl — als auch
ruhig, ja willig ertragen hatte.
So erfolgt denn in der Neuzeit eine energische Scheidung der
Geister beim Gottesbegriff. Was immer dem Zuge zur Immanenz
folgt und auf universalen Weltbegriffen besteht, das bekämpft die
persönliche Fassung der Gottesidee als einen unerträglichen Anthro-
pomorphismus. Der Widerstand und Widerspruch gegen den Pan-
theismus dagegen stützt sich in seinem Verlangen nach einem leben-
digen göttlichen Sein auf die Idee der Persönlichkeit und gibt auch
dem Wort einen besonderen Nachdruck. Bis dahin hatte man viel
von dem Verhältnis der drei Personen im göttlichen Wesen, aber
wenig von der Persönlichkeit Gottes gesprochen.^ Nun aber wird
Persönlichkeit ein Bekenntnis und Lieblingswort der Antipantheisten.
So beteuert z. B. Jakobi in dem bekannten Gespräch mit Lessing
seinen Glauben an eine «verständige persönliche Ursache der Welt"
und vermißt an der Substanz Spinozas „eine eigne, besondere, indi-
viduelle Wirklichkeit", „Persönlichkeit und Leben". Von da aus
zieht sich der Streit durch das 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Wo immer der Lebensprozeß sich vorwiegend künstlerisch oder in-
tellektuell gestaltet, da dünkt leicht die Idee der Persönlichkeit zu eng
und zu klein, um das Ganze der Wirklichkeit zu beherrschen; wo
dagegen der ethische Zug die Führung hat, da möchte man den
* Wiederum sei hier Walch als Zeuge angeführt, der im Artikel Person
wohl von Personen der Dreieinigkeit, nicht aber von einer Persönlichkeit
Gottes spricht und in einer ausführlichen Erörterung des Wesens Gottes
»Persönlichkeit" mit keinem Worte berührt.
348 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Begriff nicht missen und strebt nach einer Fassung, die auch die
Gottesidee zu umspannen vermag (so Lotze und Ritschi). — Die
neueste Zeit Spricht besonders viel von Persönlichkeit, die Wendung
zu dieser erscheint oft als ein sicheres Heilmittel aller Schäden.
Eine kräftigere Belebung der Persönlichkeit will die Kunst, die Re-
ligion, die Moral, das allgemeine Leben; sie dünkt eine unentbehr-
liche Hilfe gegen die drohende Entseelung des Daseins, ein Mittel
zur Abstoßung von Veraltetem und Überlebtem, der einzige Weg
zur ersehnten Verjüngung und Vereinfachung des Lebens; mit der
Persönlichkeit hofft man gegenüber der Erschütterung der Weltbegriffe
einen sicheren Halt im eignen Innern zu gewinnen, auch einen
Punkt, auf den sich die Menschen inmitten unerträglicher Spaltung
und Zersplitterung einigen können.
Wo so viel zusammentrifft, läßt sich viel Verworrenheit er-
warten; es müßte wunderbar zugehen, wenn eine so leichte Wend-
ung, eine einfache Selbstbesinnung, uns den unermeßlichen Verwick-
lungen entwinden könnte, die uns heute umfangen. Vermutlich ist
entweder die Hilfe ein bloßer Schein, oder der Gedanke der Persön-
lichkeit enthält mehr und fordert mehr, als die übliche Fassung ihm
beilegt. Sehen wir, wie es damit steht.
y. Untersuchung des Problems.
An dem Streit über Persönlichkeit ist ohne Zweifel viel Wort-
streit; so lange der eine dem Ausdruck eine engere und niedrigere,
der andere eine weitere und höhere Bedeutung gibt, ist eine Ver-
ständigung ausgeschlossen. Aber wie oft, so ist auch hier der Streit
um das Wort nur die Erscheinung eines sachlichen Gegensatzes.
Nicht deshalb schätzen hervorragende Denker bis zur Gegenwart
»Persönlichkeit", weil ihnen das Wort in die Ohren klingt, sondern
weil sie in ihm, wenn auch unvollkommen, einen Gedanken be-
zeichnet, eine Tatsache behauptet finden, auf die sie nicht glauben
verzichten zu dürfen. Wie Person und Persönlichkeit von alters her
den Vorrang des- Menschen, des geistigen Wesens, zum Ausdruck
brachte, so ist es eine Grundüberzeugung vom Geistesleben, von
seinem Inhalt und seiner Bedeutung, die in ihm sich ein, wenn auch
unzulängliches Werkzeug schuf. Wer im Zusammenhang einer Welt-
anschauung für Persönlichkeit eintritt, behauptet damit, daß das
Geistesleben keinen bloßen Anhang der Natur, sondern eine eigen-
tümliche Art des Seins besagt; er behauptet, daß es nicht in einzelne
Persönlichkeit und Charakter. 349
Betätigungen und Vermögen aufgeht, sondern eine ihnen überlegene
und sie umfassende Einheit enthält und damit zu einem Beisich-
selbstsein, einem Selbstleben wird; er behauptet endlich, daß dies
Selbstleben kein bloßer Sammelpunkt ihm zugeführter Elemente,
sondern aktiver Art ist, eine umwandelnde Kraft an allem Empfan-
genen übt und das ganze Dasein auf eine höhere Stufe hebt. Nur
wenn dieses alles zutrifft, bringt Persönlichkeit etwas wesentlich
Neues in unser Dasein und rechtfertigt damit den Affekt, mit dem
sie von vielen ergriffen wird.
Nun aber ist das Ganze jener Behauptungen nur im Recht,
wenn im Gesamtbilde der Wirklichkeit und unserer Stellung in ihr
sich eingreifende Wandlungen vollziehen. An der besonderen Stelle
kann keine Wahrheit haben, was nicht im Ganzen wahr und in
seinen Zusammenhängen begründet ist; wäre jene Bewegung zur
Persönlichkeit eine bloße Privatangelegenheit des Menschen, so wäre
sie mit ihrem Weltbilde eine bloße Illusion, so würde sie ins Leere
fallen. Ein Durchdringen zur Wahrheit wird sie nur, wenn das Geistes-
leben die Tiefe der Wirklichkeit bildet, in der sie ihr eignes Wesen
erreicht. Nur auf Grund einer neuen Weltstufe und im Zusammen-
hang mit ihr kann der Einzelne die Wendung zur Persönlichkeit
vollziehen und die Menschheit persönliches Leben entfalten. Ja es
muß jenes neue Leben, um den Menschen über die naturhafte Ord-
nung hinauszuheben, die ihn zunächst umfängt und beherrscht, als
Ganzes seiner Seele zugegen sein und in ihm wirken; er muß an
einer inneren Unendlichkeit teilhaben, um der äußeren gewachsen
zu sein. So handelt es sich bei Persönlichkeit um ein neues Grund-
verhältnis zur Welt, um eine neue Art des Lebens und Seins.
Steht aber die Sache so, so ist Persönlichkeit für den Menschen
keine fertige Tatsache, die er bequem und hurtig sich aneignen
könnte, kein sicherer Ausgangspunkt, der sich mühelos einnehmen
ließe, sondern sie bedeutet für ihn eine große und schwere
Aufgabe, sie verlangt eine völlige Umwälzung der vorgefundenen
Lage. Nicht die Entfaltung oder Ausschmückung des natürlichen
Selbst, sondern der Gewinn eines neuen Selbst steht hier in Frage.
Die Wendung wird nur da den vollen Ernst und Nachdruck er-
langen, wo sie auch ein entschiedenes Nein umfaßt, eine Ver-
neinung der naturhaften Selbsterhaltung, ein Hinausstreben über die
bloßmenschliche Form des Geisteslebens. Und es darf solches Nein
keinen flüchtigen Durchgangspunkt bilden, es muß stets zugegen
350 Zu den Problemen des Menschenlebens.
bleiben und energisch festgehalten werden, wenn nicht das Streben
nach dem neuen Sein immer wieder zur naturhaften Lebensform
zurücksinken soll.
Ja auch innerhalb des Geisteslebens bildet Persönlichkeit einen
Anstieg und eine Konzentration, die erst durch Erfahrungen und
Entscheidungen des ganzen Menschen hindurch erreicht wird. Das
Leben durchläuft die drei Stufen einer grundlegenden, kämpfenden,
überwindenden Geistigkeit. Zuerst gilt es die Anerkennung einer
geistigen Aufgabe überhaupt, eine Erhebung des Lebens über die
Natur, eine Entwicklung geistiger Größen und Güter jenseit der
natürlichen Selbsterhaltung. Das ergibt die Scheidung eines Idealis-
mus vom Naturalismus, der alles Geistesleben als eine Weiterführung
der bloßen Natur behandelt, und damit die erste Scheidung der
Geister. Aber der Boden des Idealismus erzeugt alsbald ein neues
Problem: das Reich d£r Erfahrung zeigt starke Widerstände gegen
die vom Idealismus geforderte Ordnung; es fragt sich, ob diese
Widerstände die Bewegung zum Stocken bringen, oder ob sie von
ihr überwunden werden. Dort entsteht der Pessimismus mit seiner
Preisgebung der Sache; hier muß irgendwelche Verstärkung, irgend-
welche Weiterbildung des Geisteslebens erfolgen. Diese aber ist es,
die in der Wendung zum Persönlichsein behauptet wird. Das
Persönlichsein erscheint hier als der Höhepunkt einer geistigen Be-
wegung, und zwar als ein solcher, der sie zu einem Ganzen ver-
bindet, indem er die früheren Stufen als beharrende Momente fest-
hält. Denn das Leben bleibt unablässig in Fluß, immer neu ist der
Aufstieg von der Natur zum Geist zu vollziehen, immer neu der
Widerstand gegen die Vergeistigung des Daseins zu durchleben,
immer neu eine innere Überwindung zu suchen. So bleibt das
Ganze eine fortlaufende Tat, ein unablässiger Aufstieg; es läßt sich
erwarten, daß nicht der ganze Umfang des Daseins darin eingeht,
daß das Persönlichsein bei uns selbst einen inneren Widerstand be-
hält; es ist nicht sowohl unser ganzes Dasein als seine bewegende
Kraft, die Seele der Seele. Augenscheinlich ist es so nicht ein
Besitz, sondern das höchste Ziel, nicht sowohl ein Persönlich-
sein als ein Persönlichwerden. Wie dabei das Streben einem Ein-
strömen des naturhaften Ich unablässig zu widerstehen hat, so haben
die Begriffe immerfort ein Zurücksinken zur bloßmenschlichen Vor-
stellung abzuweisen, womit eine Ermattung des Denkens sie unab-
lässig bedroht.
Persönlichkeit und Charakter. 35I
Wer solche Aufgaben und Verwicklungen im Persönlich>x'erden
anerkennt, der wird auch die Kämpfe zu würdigen wissen, die art
dies Problem sich knüpfen. In der Religion ward die Idee der
Persönlichkeit zugunsten eines unpersönlichen Geisteslebens oft be-
kämpft, weil mit jener das natürliche Ich des Menschen starr fest-
gelegt und zugleich das höchste Wesen zu menschenartig gefaßt
schien; die Wendung zu einem unpersönlichen Sein mit der For-
derung einer völligen Auflösung des Einzelnen in den Ozean der
Unendlichkeit dünkte demgegenüber eine größere, reinere, vor-
nehmere Denkart. So die pantheistische Spekulation und die Mystik,
so die Höhe der indischen Religionen, so Spinoza mit seinem Worte,
daß, wer Gott wahrhaft liebt, nicht verlangen könne, daß Gott ihn
wieder liebe. Solche Denkweise hat ihr Recht in der Abweisung
der kleinmenschlichen Daseinsform, aber mit dieser Verneinung, dem
Versinken in den Abgrund der Ewigkeit, kann nur abschließen, wer
dem, Geistesleben keine neue, selbständige Wirklichkeit zuerkennt,
wer in ihm wohl eine Befreiung von den Wirren und Mühen der
menschlichen Existenz, von der Unruhe und Flucht der Zeit, von
der Enge und Starrheit des kleinen Ich erblickt, nicht aber das Auf-
steigen und den Gewinn eines neuen Lebens. Beruhigen beim
Nein kann sich nur eine kontemplative und vorwiegend passive
Lebensführung, eine weichere, mattere, schlaffere Denkart; wo immer
das Geistesleben mehr Kraft und Zuversicht entwickelt, da wird es
das scheinbar Unmögliche wagen und über das Nein hinaus nach
einem Ja verlangen, da wird es die Bahnen einschlagen, welche die
Idee der Persönlichkeit angibt. Nun aber wird dies Streben stets
von der Gefahr eines Zurücksinkens in die natürliche Lebensform
begleitet sein; in der Tat pflegt bei den Religionen eine höhere und
eine niedere Art durcheinanderzulaufen: dort das Aufstreben zu einer
neuen Welt, einem neuen Leben und auch einem neuen Gedanken-
reiche, für das unser menschliches Dasein nicht mehr als Sym-
bole liefert; hier dagegen die Neigung, innerhalb des gegebenen
Daseins möglichst gut auszukommen, die neue Welt ein bloßes
Gegenstück der alten, die höchsten Begriffe anthropomorph gestaltet,
in dem allen weit mehr eine Festlegung des Kleinmenschlichen als
ein Aufklimmen zu neuen Höhen. Als Abweisung dieser Art mit
ihrer Verdunklung des unentbehrlichen Nein ist der Widerstand
gegen das Persönlichsein in gutem Recht und gewiß dem Ganzen
der weltgeschichtlichen Bewegung unentbehrlich; er gerät aber ins
352 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Unrecht, wenn er mit der niederen Art auch die höhere abweist und
damit alle Hoffnung einer positiven Gestaltung des Geisteslebens
aufgibt. An dem Gewinn einer solchen Gestaltung liegt schließlich
auch alle Hoffnung einer gründlichen Überwindung des niederen
Lebenstriebes. Denn letzthin ist positivem Streben nur ein anderes
positive Streben gewachsen; alle Energie der Verneinung, alles Ver-
schwimmenwollen in die Unendlichkeit wird die Selbstsucht nicht
so gründlich brechen als die Bildung eines neuen geistigen Selbst
mit großen und zwingenden Aufgaben. So steht hier in Frage,
ob der positive Lebens- und Glücksdrang sich der bloßen Natur
entwinden und der Stufe des Geistes zuführen läßt oder nicht. Im
Fall des Nein ist alle unsägliche Mühe schließlich verloren.
Ahnliche Probleme wie die Religion zeigt an dieser Stelle auch
die Kultur. Künstlerische und intellektuelle Weltbilder treffen in der
Abneigung gegen eine leitende Stellung der Persönlichkeit zusammen.
Denn sie sehen darin ein Zurückziehen der geistigen Arbeit zum
bloßen Menschen und eine widrige Störung ihres eignen Fortgangs
durch eine Einmischung seiner kleinen Sorgen. Sich rein und voll-
ständig entfalten zu können scheint das Geistesleben nur, wenn es
unter völliger Ablösung vom Menschen und seinen Zwecken ledig-
lich der eignen sachlichen Notwendigkeit folgt und sich im eignen
Kreise zu einem selbständigen Lebensganzen mit eigentümlichen Ge-
setzen zusammenschließt
Auch hier aber wird eine niedere und eine höhere Fassung
der Persönlichkeitsidee zusammengeworfen und mit dem, was herab-
zieht, etwas aufgegeben, dessen die Kulturarbeit zur Erreichung ihrer
vollen Höhe notwendig bedarf. Recht verstanden liegt das Sein und
die Einheit, die dem Streben nach Persönlichkeit vorschwebt, nicht
neben der Arbeit, sondern innerhalb ihrer. Diese selbst ist dahin
zu bringen, das ein Selbstleben in ihr durchbricht, daß ein geistiges
Sein sich in ihr erfaßt, die Erfahrungen in Erlebnisse umsetzt, dem
Geschehen allererst einen Inhalt verleiht. Denn es gibt schlechter-
dings keinen Inhalt ohne ein Selbst, das im Wirken und Geschehen
sich entfaltet. Nur ein solches innerhalb des Geisteslebens befindliches
Selbst gewährt diesem eine Seele und einen Halt, behütet es vor
der Gefahr, ein leerer Mechanismus oder ein seelenloser Kulturprozeß
zu werden, gibt ihm die Kraft, seine eigne Arbeit zu bewältigen, statt
von ihr bewältigt und erdrückt zu werden. Auch kann nur mit
einem solchen Selbst das Leben eine volle Wirklichkeit gewinnen
Persönlichkeit und Charakter. 353
und sich einer Wirklichkeit sicher fühlen, während es ohne einen
solchen Kern ein schatten- und traumhaftes Dasein führt und darin
alles Empfangene verwandelt. Die Inder zeigen uns solche Ver-
flüchtigung in klassischem Bilde. - Augenscheinlich handelt es sich hier
nicht um eine eifrigere subjektive Aneignung einer gegebenen Wirk-
lichkeit, sondern um eine reale Erhöhung und Umwandlung der
gesamten Wirklichkeit, es handelt sich um den letzten Abschluß der
Kultur, um die Möglichkeit eines neuen, wesenhafteren und seelen-
volleren Kulturideals. Das Entscheidende dabei ist für Menschen
und Völker schließlich die Energie des Lebensaffekts, die kräftigere
oder mattere Erfassung des Lebens; die sachliche Entscheidung aber
liegt nicht bei begrifflichen Erwägungen, sondern bei der Möglich-
keit der Entwicklung einer neuen Wirklichkeit Nirgends mehr als
hier stehen wir bei den letzten Axiomen unserer geistigen Existenz.
Von solchen Überzeugungen aus, die für ein Persönlichwerden
das Aufsteigen einer neuen Welt und eine Umwälzung des natür-
lichen Seins verlangen, muß uns dje heutige Bewegung zum Per-
sönlichsein als verworren, ja in mancher Hinsicht verfehlt erscheinen.
Die übliche Behandlung der Sache erschöpft sich in das Verlangen
einer kräftigeren Konzentration, einer Verstärkung des Subjekts, einer
größeren Selbständigkeit gegenüber der Umgebung. Aber wie soll
das geschehen, wenn der Mensch ein bloßes Stück der vorhandenen
Welt bleibt, nicht von innen her an einer neuen Welt teil gewinnt?
Ohne eine Umkehrung des nächsten Anblicks der Wirklichkeit und
ohne den Gewinn eines neuen Lebensbodens könnte leicht die Sache
mehr schaden als nützen, indem sie in eine bloße Verbrämung des
natürlichen Lebenstriebes, eine Überspannung des Selbstgefühls, ein
bloßes Genießen und Fürsichzurechtlegen aller Dinge auslaufen
müßte. Und wenn gar die Bewegung zur Persönlichkeit als eine
Abwendung von den Weltfragen und eine Zurückziehung auf einen
Sonderkreis verstanden wird, so wäre das kaum etwas anderes als
eine Verherrlichung eines engen und öden Spießbürgertums. Man
macht dadurch nichts Neues aus dem Menschen, daß man ihm die
Etiquette der Persönlichkeit anklebt. Ohne den Gewinn einer neuen
Welt und eine Erhöhung des eignen Lebens bleibt das Ganze eines
jener bequemen Surrogate, welche die Probleme des Menschenwesens
und den Ernst der Zeitlage verdecken.^
^ Es wäre endlich wohl an der Zeit, das unablässige Zitieren des Qoethe-
schen Wortes: „Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit«
Eucken, Qrundbegriffe. 4, Aufl. 23
354 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Nach unserer Überzeugung muß das persönliche Leben einen
neuen Weltanblick entwickeln, aus seiner eignen Belebung, seinen
Erfahrungen, seinen Weiterbildungen ein Reich von Grund- und
Lebenswahrheiten erzeugen. Mögen sich diese nicht in angemessene
Vorstellungsbilder umsetzen lassen, sie bleiben die Wahrheiten, die
schließlich wie alles geistige Leben, so auch das Erkennen tragen,
sie sind die zentralen Wahrheiten, denen gegenüber alle anderen
Einsichten nur periphere bedeuten. Nun behält unsere intellektuelle
und überhaupt unsere geistige Lage dadurch eine starke Spannung,
daß ein Spalt zwischen den zentralen, persönlichen und den peri-
pheren, unpersönlichen verbleibt, daß sich jene nicht unmittelbar in
diese überleiten lassen. Aber trotzdem dürfen wir die Wirklichkeit
nicht in zwei endgültig getrennte Gebiete zerlegen und das Reich
persönlichen Lebens gegen die große Welt starr abschließen. Denn
das wäre nichts anderes, als das Leben zwischen leerer Subjektivität
und seelenloser Arbeit zerteilen, es wäre ein Verzicht auf seine innere
Einheit und zugleich seine volle Wahrheit. Von beiden Seiten ist
daher nach einer Einigung zu streben, es gilt, das Ziel als eine
treibende und richtende Kraft tapfer festzuhalten, obschon wir keine
Aussicht haben, es gänzlich zu erreichen und die beiden Ausgangs-
punkte zu völliger Berührung zu bringen.
Bei solcher Überzeugung treten eine persönliche und eine sub-
jektive Gestaltung von Arbeit und Kultur uns deutlich auseinander.
Die subjektive Art stellt sich der Wirklichkeit gegenüber und trägt,
sobald sie über sich hinausgeht, ihre Besonderheit in alle Dinge
hinein; die persönliche möchte zum eignen Leben der Dinge vor-
dringen, nicht als zu etwas Fernem und Fremdem, sondern als zu
dem, worin das geistige Wesen sich selber, die Wahrheit seines eignen
Seins erreicht. Mit der Verwandlung der Dinge in ein Selbstleben
vollzieht sich hier die Überwindung des Gegensatzes einer subjektiv-
istischen und einer objektivistischen Behandlung zu gunsten einer
solchen, die souverän oder eigenständlich heißen könnte. Denn
hier allein erlangt das Schaffen eine volle Selbständigkeit und wird
die Notwendigkeit der Sache unmittelbar ein eigner Antrieb des
Menschen, hier erst wird die volle Einigung mit der Sache erreicht,
auf Grund derer sie ihre eigne Natur rein und einfach aussprechen
einzustellen. Die liebenswürdige und anmutige Stelle, an der es sich im
Westöstlichen Divan findet, will gar nicht so schwer genommen sein.
Persönlichkeit und Charakter, 355
kann. Erst die persönliche, die souveräne Art ist über das hinaus,
was sich zwischen den Menschen und die Sache zu stellen pflegt.
Der Mensch kann die Sache nicht ohne weiteres ergreifen, er be-
darf vielfacher Mittel, um an sie zu gelangen, er bedarf dazu tech-
nischer Zurüstung, Übung, Gelehrsamkeit u. s. w. Aber nun entsteht
die Gefahr, daß, was nur Mittel und Weg ist, zum Zwecke und
Ziele wird, daß es den Menschen bei sich festhält und von der
Hauptsache ablenkt. Kaum dürfte ein Volk dieser Gefahr so aus-
gesetzt sein wie das deutsche mit der Gründlichkeit, aber auch
Schwerfälligkeit seiner Art; besonders mühsam gelangt es zu voller
Überwindung der Technik durch das Schaffen, zu jenem Sichselbst-
leben in den Dingen, ohne das die Werke keine reinmenschliche
Größe und schlichte Einfalt erlangen können. So besteht eben heute
in unserem Leben ein arges Mißverhältnis zwischen dem Aufgebot
intellektueller und künstlerischer Arbeit und der Erzeugung von
Schöpfungen, die zum ganzen Menschen sprechen und den ganzen
Menschen fördern. Wenn das Verlangen nach einer mehr persön-
lichen Kultur dies heißen soll, daß es einfache Grundzüge aus der
Verwirrung herauszusehen und damit zum Ganzen des Menschen-
wesens zu wirken gilt, so ist dem nur freudig zuzustimmen. Aber
dieses ist keineswegs eine Sache raschen Entschlusses, sondern das
Allerschwerste, etwas, wozu es nicht nur der höchsten Anspannung
aller Kraft, sondern auch vielfacher Gunst des Schicksals bedarf. So
erfahren wir es auch heute: wie wenig hat alle subjektive Beteuer-
ung des Wertes der Persönlichkeit uns innerlich weitergeführt, wie
wenig hat sie starke und selbstwüchsige Persönlichkeiten erzeugt!
b) Charakter,
a. Geschichtliches zum Ausdruck und Begriff.
Charakter bedeutete bei den Griechen sowohl das Werkzeug
zum Zeichnen und Prägen als das Gepräge selbst, das Merkzeichen;
es hat schon im Altertum den naheliegenden Übergang auf das
geistige Gebiet gefunden. Es geschah das aber sowohl in ethischer
als in ästhetisch-literarischer Richtung. Die ethischen Charaktere,
die den Namen Theophrasts, des Schülers und Nachfolgers des
Aristoteles, tragen, sind freilich aller Wahrscheinlichkeit nach eine
spätere Zusammenstellung aus größeren Werken des Mannes, aber
23*
356 Zu den Problemen des Menschenlebens.
die Neigung zu genauer Beobachtung und scharf umrissener Zeich-
nung verschiedener menschlicher Typen ^ geht auf Aristoteles, den
großen Kenner und Freund alles Wirklichen, zurück und blieb
seiner Schule eigentümlich. Nach derselben Richtung wirkten die
neuere Komödie und die Rhetoren; so war dem späteren Altertum
der Blick für die Eigentümlichkeit verschiedener menschlicher Arten
und Handlungen geschärft.^ Zugleich aber bezeichnet Charakter
auch die Eigentümlichkeit schriftstellerischer und künstlerischer Dar
Stellung, das individuelle Gepräge u. s. w. Im kirchlichen Sprach-
•gebrauch wurde es seit Augustin der technische Ausdruck für ein
der Seele durch gewisse Sakramente (im Mittelalter Taufe, Firmung,
Priesterweihe) unverlierbar eingeprägtes geistiges Zeichen (später
character sacramentalis, auch spiritualis genannt). So findet es sich
vereinzelt auch im Mittelhochdeutschen, ebenso vereinzelt ist hier die
Bedeutung Schriftzeichen (der karakter a b c). Wie das bis in die
Gegenwart hineinreicht, so erinnert es auch an jenen älteren Ge-
brauch, wenn der amtliche Stil von der Beilegung eines »Charakters"
(Titels und Ranges) spricht.
Zu allgemeinerer Verwendung im psychologischen und ethischen
Sinn ist bei uns das Wort wohl von Theophrast her und durch die
Vermittlung der Franzosen gelangt.^ Im Jahre 1687 erschien von
La Bruyere: ies caracteres de Theophraste, avec les caracteres ou
^ Typus und typisch im jetzt üblichen Sinne als Bezeichnung gemein-
samer Seins- und Lebensformen dürfte aus der Medizin stammen. Es bemerkt
darüber Dilthey (Sitzungsberichte der K. Preuß. Akademie der Wissenschaften
1896, XIII, S. 18): „In diesem Sinne finden wir auch den Ausdruck zunächst
technisch gebraucht, wenn der Arzt Coelius (wahrscheinlich im 2. Jahrh. n. Chr.)
vom Typus des Wechselfiebers spricht und darunter die Regel seines Ablaufs
versteht. So sprechen wir überhaupt von einem typischen Verlauf."
* S. über das Ganze Sauppe, Philodemi de vitiis 1. X, pag. 7: Peripa-
tetici disciplinae suae principis et auctoris exemplum nulla in re magis secuti
sunt, quam ut omnia quae vel in natura rerum existerent vel in vita hominum
et publica et privata usu venirent accuratissime observarent et observata sive
libris singularibus explicarent sive ad sententias suas firmandas et illustran-
das adhiberent. pag. 8: neque vita ipsa tantum exempla suppeditabat, sed
maximam notationum copiam nova comoedia habebat. Quae ut eidem saeculi
ingenio originem debebat, atque aristoteleum illud Studium vitam quotidianam
moresque hominum observandi, ita quaedam fortasse ex Aristotelis vel Theo-
phrasti libris desumta in usum suum converterat, sed multa plura certe,
quam acceperat, deinde philosophis et rhetoribus suppeditavisse censenda est.
^ Wir besitzen darüber eine ebenso feinsinnige wie tiefdringende Unter-
suchung von R. Hildebrand: „Charakter in der Sprache des vorigen Jahr-
Persönlichkeit und Charakter. 357
les moeurs de ce siede, ein Buch, das auch bei anderen Völkern
viel Beachtung und Einfluß gewann. Sicherlich stehen damit im
Zusammenhang wie andere deutsche Werke zur Charakterschilderung,
so auch Qellerts «Moralische Charaktere", eine Zugabe zu seinen
moralischen Vorlesungen. Hier wie sonst bedeutet Charakter soviel
wie Bildnis, welches Wort bisweilen zu seiner Übersetzung dient,
Zeichnung, Porträt (so spricht z. B. Rabener in seinen Satiren von
w Originalen zu meinen Charakteren"). In dem Ausdruck „charak-
terisieren" lebt das fort bis zur Gegenwart. Von dem Bild über-
trägt sich der Ausdruck auf die Sache und wird zur Bezeichnung
der seelischen, namentlich der moralischen Art, der Orundbeschaffen-
heit des Menschen. In diesem Sinne kann es eine Fülle verschiedener
Charaktere geben, guter und böser Art; keinen Charakter haben,
das heißt hier einer scharfen Ausprägung entbehren. Woher der
Charakter entstanden sei, ob als Gabe der Natur oder als Werk
freier Tat, das bleibt dabei unentschieden.
Erst Kant hebt den Begriff auf die Höhe, die ihn zu einer
wichtigen ethischen These und einem schweren Probleme macht.
Er zieht eine scharfe Grenze zwischen einem physischen und einem
moralischen Charakter. Charakter schlechthin ist nur dieser; jener,
Naturell und Temperament umfassend, zeigt an, was sich aus dem
Menschen machen läßt, der eigentliche Charakter hingegen, was er
aus sich selbst zu machen bereit ist. „Einen Charakter schlechthin
zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher
das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet,
die es sich durch seine eigne Vernunft unabänderlich vorgeschrieben
hat" (VII, 614). „Es kommt hierbei nicht auf das an, was die
Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht."
„Die Gründung eines Charakters ist absolute Einheit des inneren
Prinzipes des Lebenswandels überhaupt" (617). In diesem Sinne
wollte Kant nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter,
sondern er habe überhaupt einen Charakter, „der nur ein einziger
oder gar keiner sein kann."
Diese kantische Fassung mit ihrer Erhebung des Lebens auf
die Stufe geistiger Selbsttätigkeit ist rasch durchgedrungen; ^ der
Hunderts« (Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht, 6. Jahrgang, 7. Heft.) Ihr
folgt unsere Darstellung jener Zeit.
' Wie rasch, zeigt u. a. eine Abhandlung von E. Biester über den
Charakter (in den Abh. d. K. Pr. Akad. d. Wiss. 1803).
358 Zu den Problemen des Menschenlebens.
hohe Ton, in dem die Folgezeit von Charakter spricht, und die
Wertschätzung, die sie der Charakterbildung beilegt, sie weisen auf
Kant zurück. Aber neben seiner ethischen Fassung erhält sich auch
die ältere, empirisch-psychologische; sonst könnte man nicht so viel
von einem ererbten, einem durch Anpassung und Gewöhnung er-
worbenen u. s. w. Charakter sprechen. So laufen wiederum in einem
alltäglichen Wort die Wirkungen verschiedener Zeiten und Welt-
anschauungen bunt durcheinander.
ß. Die Lage der Zeit.
Der Begriff des Charakters im ethischen Sinne steht in engem
Zusammenhange mit dem der Persönlichkeit, nur hebt er die Selbst-
tätigkeit des Menschen mit besonderer Stärke hervor. So gewiß
dieser Begriff eine präzise Bezeichnung erst spät gefunden hat, der
Gedanke einer durch eigene Willensenergie erreichbaren Selbständig-
keit und Weltüberlegenheit reicht weit zurück; besonders hoch
hielten ihn Zeiten, wo die Auflösung überkommener gesellschaft-
licher Zusammenhänge die Individuen ihren Halt in sich selbst zu
suchen zwang. Seinen klassischen Ausdruck hat das bei den
Stoikern gefunden, ein eigentümlicher Lebenstypus zieht sich von
dort durch die ganze Geschichte, er ist namentlich von hervorragen-
den Persönlichkeiten der Aufklärung aufs neue bekräftigt worden.
Auch Kants Erörterungen über den Charakter haben viel Verwandt-
schaft damit und benutzen mit Vorliebe Wendungen aus dem
stoischen Gedankenkreise. Die Entwicklung nach dieser Richtung
enthält die Gefahr einer schroffen Isolierung und stolzen Selbst-
genügsamkeit des Individuums, einer Verkennung der Bedingtheit
des Einzelnen, wenn nicht durch sichtbare, so doch durch unsicht-
bare Zusammenhänge, aber bei solcher Gefahr blieb sie in beson-
deren Zeitlagen das einzige Mittel zur geistigen Selbsterhaltung des
Menschen.
Der Begriff des Charakters reicht aber über solche Zuspitzung
hinaus; als Bezeichnung des Selbstwertes und der Selbständigkeit
des Innenlebens gegenüber aller bloßen Außenwelt, als Bekenntnis
zur Überlegenheit der inneren Güter über alle äußeren kann er
auch da in Ehren stehen, wo jene Isolierung des Individuums ver-
worfen wird. Es berührt sich dann aber der Begriff so eng mit
dem der Persönlichkeit, daß er hier nicht noch einer besonderen
Erörterung bedarf. So sei nur mit einigen Worten darauf hinge-
Persönlichkeit und Charakter. 359
wiesen, wie das Problem des Charakters und der Charakterbildung
vom Standort unserer eignen Zeit sich ausnimmt
Diese Zeit beschäftigt sich viel mit dem Problem des Charakters,
sie klagt zugleich viel über den heutigen Mangel an festen Charak-
teren und ausgeprägten Persönlichkeiten, sie fordert von der Kultur-
arbeit, namentlich von der Erziehung, mehr Fürsorge für die Bildung
von Charakteren. Aber in dem allen erscheint wieder die Unklar-
heit und Halbheit, die solchen Durchschnittsbestrebungen eigen ist
Nicht selten sieht es aus, als ob unversehens ein moralisches Sinken
erfolgt sei, und es nun nur einer eindringlichen Zuspräche oder ge-
schickten Einrichtung bedürfe, um die Sache wieder in Stand zu
bringen. So einfach steht es doch nicht. Der Mangel an selbst-
wüchsigen und selbständigen Menschen, den wir heute schmerzlich
empfinden, hat sicherlich tiefere Gründe, Immer mehr ist in den
Wandlungen der Jahrhunderte der Menschheit die mühsam erkämpfte
Innenwelt erschüttert oder verdunkelt, immer weniger Anziehungs-
kraft üben daher ihre Güter, immer leerer werden zugleich die
Seelen. Dazu die stürmische Okkupation des modernen Menschen
durch die Außenwelt, die Streberei nach sichtbaren Erfolgen, der
wachsende Kampf ums Dasein und die unheimliche Beschleunigung
des Lebens, die Zerstückelung des Menschen durch die immer tech-
nischer, immer komplizierter gestaltete Arbeit, die abschleifende
Wirkung einer Durchschnitts- und Massenkultur. Kann ein solches
Getriebe einen Sinn und einen Platz für die Ausbildung selbstän-
diger Charaktere haben?
Wer im Vertrauen auf die innere Notwendigkeit der Sache jenes
Ziel festhält, der wird seine Erreichung sich keinenfalls so leicht
denken dürfen, wie manche Strömungen der Zeit, die ihre Schätzung
von Persönlichkeit und Charakter mit möglichstem Nachdruck be-
teuern, zugleich aber die Bedingungen zerstören, unter denen allein
für jene Größen ein Platz ist Dies tut z. B. oft ein radikaler Libe-
ralismus, indem er bei den Weltfragen mit besonderer Lust und
Liebe alles begrüßt, was den Menschen als klein und als ein gleich-
gültiges, unselbständiges Stück einer seelenlosen Natur erscheinen
läßt, zugleich aber auf praktischem Gebiet für die Größe und Würde
des Menschen schwärmt, sich für Humanität begeistert und entrüstet
ist, wenn er einen Mangel an selbständigen Charakteren, ein Über-
wuchern der Streberei gewahrt Ein solches Überwuchern, wie wir
es heute in den mannigfachsten Formen gewahren, ist schlimm
360 Zu den Problemen des Menschenlebens.
genug, aber wird ihm kräftig zu begegnen sein, wenn dem Menschen
alle selbständige Innenwelt fehlt, wenn er gar nichts anderes ist als
ein etwas höher geartetes Tier und daher keine anderen Ziele kennt
als die der natürlichen Lebenserhaltung?
Wir werden an dieser Stelle in einen sicheren Fortgang nur
kommen, wenn die Probleme des inneren Menschen wieder zur
Hauptsache werden, und wenn sie sich zum Ganzen einer Lebens-
überzeugung zusammenfassen, das mit aufrüttelnder, richtender, er-
höhender Macht die Gemüter zu ergreifen vermag. Davon sind wir
einstweilen noch weit entfernt. Aber so sehr es abzulehnen ist, daß
die Bildung von Persönlichkeit und Charakter als eine Sache be-
handelt werde, die sich so nebenbei abmachen läßt,^ einigermaßen
wirken dafür läßt sich unmittelbar auch auf dem Boden unserer
eignen Zeit; erwägen wir also in Kürze, in welchen Richtungen
vornehmlich das geschehen kann und geschehen muß.
Zunächst ist notwendig mehr Anerkennung und Hochhaltung
der echten Werte des Lebens, mehr Zurückstellen und Durchschauen
der bloßen Aufmachung und des bloßen Scheins. Was uns daran
hindert, ist namentlich der Epikureismus einer reifen, ja überreifen
Kultur, der jeden Einzelnen möglichst seinem individuellen Behagen
nachgehen, ihn ängstlich allen Zusammenstoß scheuen und willfährig
vor aller sozialen Konvention sich ducken läßt. Der Mensch stellt
alsdann sich weniger auf sich selbst und gibt sich selbst seinen
Wert, als daß er das Gelingen seines Lebens an die Anerkennung
durch andere setzt, damit aber sich unvermeidlich zu ihrem Diener
erniedrigt. Jedes Volk hat hier seine besonderen Gefahren, bei uns
Deutschen nehmen unverkennbar künstliche Abstufungen, Fragen des
Ranges, Dekorationen wie Titel und Orden, alles dieses bloße Bei-
werk des Lebens, einen viel zu breiten Platz ein und schädigen
damit das Aufsichselbststehen des Lebens und seine volle Mann-
haftigkeit. Unmöglich lassen sich Nebensachen wie Hauptsachen
behandeln, ohne daß Hauptsachen zu Nebensachen herabgesetzt
werden. Jeder Beruf und auch jeder Mensch hat ein Recht auf
Achtung und Anerkennung; er muß es sich erstreiten, wenn es ihm
versagt wird. Aber er erringt es nicht dadurch, daß von außen her
1 Es sei hier an das derbe, aber nicht unberechtigte Wort Pestalozzis
erinnert (Wke. XII, 217): „Wohl wachsen Schwämme leicht aus dem Mist,
wenn es nur regnet, aber Menschenwürde, Geistestiefe und Charaktergröße
wächst nicht aus der Routine hervor, wenn ihr auch die Sonne scheint."
Persönlichkeit und Charakter. 361
ihm Rangklassen oder Dekorationen bewilligt, sondern dadurch, daß
seine Arbeit bei sich selbst gestärkt, unabhängig gestaltet, zu vollem
Einfluß auf das Ganze des Lebens gebracht wird.
Das führt schon auf den zweiten Punkt, dessen die Charakter-
bildung bedarf. Das ist die Selbständigkeit, die freie Entscheidung
und die eigne Verantwortung innerhalb unseres Lebenskreises. Wir
pflegen über Vielregiererei und über Schädigung freier Entfaltung
durch die Bureaukratie zu klagen, gewiß insofern mit Recht, als
jener die Tendenz innewohnt, nur eine einzige Stelle zu voller
Selbständigkeit zu berufen und alles andere von ihr abhängig zu
machen^ alle Befugnis als von ihr übertragen zu verstehen. Aber
es hätte die Bureaukratie nimmer eine solche Macht bei uns er-
langt, entspräche sie nicht einer uns innewohnenden Neigung, stäcke
nicht in uns eine Lust zu regulieren und zu schabionisieren, über
den anderen eine Polizei zu üben, unsere Denkweise eigensinnig
auch den anderen aufzudrängen. Es fehlt uns vielfach die Bereitschaft,
den anderen in seiner Art gewähren, ihn auch da frei schalten zu
lassen, wo er uns schroff widerspricht; ein solches Gewährenlassen
erscheint uns leicht als eine Mattheit der eignen Gesinnung, ein
Verleugnen der eignen Überzeugung. Auch stehen uns leicht bei
dem Gedanken der Freiheit vorwiegend die Gefahren eines mög-
lichen Mißbrauclis vor Augen; um ihnen vorzubeugen, drücken wir
lieber den Gesamtstand des Lebens herab, gestalten es nicht sowohl
von der Regel als von der Ausnahme her, schnüren und engen es
möglichst ein. So erhalten wir leicht konventionelle Gestalten,
t)'pische Menschen, Exemplare einer bloßen Gattung, während die
Ausbildung individueller Art unterdrückt wird und damit etwas ver-
loren geht, dessen die Aufrechterhaltung innerer Selbständigkeit
dringend bedarf. Wie vieles wirkt im Leben der Gegenwart zu-
sammen, um den Menschen abzuschleifen und ihn gleichförmig zu
gestalten, wie sehr bedrohen Massenwirkungen die Entfaltung unserer
Individualität, Massenwirkungen namentlich auch da, wo das Recht
der Individualität mit besonderem Nachdruck betont wird! Denn
unsere Individualisten sind oft gar nichts anderes als eine besondere
Art von Gattungsmenschen mit durchaus uniformen Zügen.
Zur freien Entwicklung der Individualität bedarf es aber mehr
Muße, mehr innerer Sammlung, als die Hast des gegenwärtigen
Lebens zu gestatten pflegt. Die Überbürdung mit Arbeit, die nicht
nur zahllose Individuen, sondern ganze Stände bedrückt, wird zu
362 Zu den Problemen des Menschenlebens.
einer ernstlichen Gefahr für eine innere Bildung, indem sie alle
ruhige Selbstbesinnung, alle beharrende Konzentration, allen zu-
sammenhängenden Aufbau des Lebens hemmt. Wir haben einen
ausgezeichneten Lehrstand, den besten auf der Erde, den gebornen
Vertreter einer Innen- und Wesenskultur. Aber dieser Lehrstand
ist schwer überbürdet, zürn Teil mit mechanischen Geschäften, die
ihm ganz wohl abzunehmen wären; daß frische und freudige
Menschen einer ganz anderen Wirkung fähig sind als müde und
abgestumpfte, das wird nicht genügend erwogen, oder es findet,
wenn erwogen, keine durchgreifende Abhilfe. Wer hier wie auf
anderen Gebieten mehr freien Raum für eine innere Bildung, für
ein Beisichselbstsein des Lebens schafft, der hilft auch zur Förder-
ung jener Ziele, die das Problem des Charakters vorhält. Wo so
Großes auf dem Spiele steht, da gewinnt auch das Bedeutung, was,
für sich selbst betrachtet, klein scheinen mag.
6. Freiheit des Willens.
a) Einleitung.
\/\ an kommt nie zu Ende, wenn man sich auf die Fragen der
"*^* Freiheit einläßt; jede Partei hat unbegrenzte Hilfsmittel",
so sagte der große Kritiker Bayle bei Erörterung des Willensproblems.*
Ein angesehener deutscher Gelehrter der Gegenwart erklärt da-
gegen die Akten in Sachen des Determinismus gegen den Indetermi-
nismus für M geschlossen ".2 Wer hat nun Recht? Haben wirklich
die letzten Jahrhunderte so viel Neues gebracht und die Sache so
aufgeklärt, daß für uns völlig erledigt ist, was früher die Geister
unversöhnlich entzweite? Oder erscheint uns vielleicht nur deshalb
die Sache als ausgemacht, weil wir sie unter dem Einfluß besonderer
Gedankenmassen nur von einer besonderen Seite zu betrachten pflegen?
Sehen wir, wie es damit steht, und ob der Sieg des Determinismus
schon als entschieden gelten darf.
Der Determinismus ist seinem Grundgedanken nach alt, ver-
ändert ward nur das Nähere seiner Fassung und Begründung. Bei
den Stoikern, die als die ersten bewußten Deterministen gelten
dürfen, 3 ist es der Gedanke eines durchgängigen Kausalzusammen-
^ Oeuv. div. (Haag 1727) III, 794a: On ne finit point quand on s'en-
gage aux questions de la liberte, chaque parti a des ressources infinies.
' S. Meinong, Psychologisch-ethische UntersuchuTigen zur Werttheorie,
S. 209. Es heißt dort: »Es ist aber nicht die Kontroverse des Determinismus,
die hier aufgenommen werden soll : in ihr sind die Akten längst geschlossen
oder sollten es doch meines Erachtens sein, indem, wer an das Kausalgesetz
glaubt, konsequenter Weise auch nicht Indeterminist sein kann." Höffding
meint bei Anführung dieser Stelle (Ethik, 2. deutsche Aufl., 102), daß man
bei Betrachtung der dänischen Literatur über diese Frage einen anderen
Eindruck erhalte.
^ Daß Aristoteles keineswegs Indeterminist war, aber das Problem noch
nicht zu voller Klarheit brachte, hat in sorgfältigster Untersuchung R. Löning
gezeigt (in dem Werk »Die Zurechnungslehre des Aristoteles", 1903).
364 Zu den Problemen des Menschenlebens.
hanges der Welt, der alle Willkür an den einzelnen Stellen aufhebt;
es drängt hier weniger die psychologische Analyse als das Ganze
der Weltansicht zu jener Behauptung. Nachdem die praktisch-
moralische Richtung des ältesten Christentums der Willensfreiheit
das entschiedene Übergewicht gegeben hatte, ohne sie aber wissen-
schaftlich irgend zu begründen, verficht Augustins theozentrische Be-
trachtung der Wirklichkeit einen völligen Determinismus; jede eigne
Entscheidung des Menschen erscheint hier als eine Aufhebung der
Allmacht und der Allwissenheit Gottes. Die Milderung, welche die
Kirche und das Mittelalter daran vollzogen, wurde von der Refor-
mation, namentlich ihren Anfängen, aufs schroffste abgewiesen und
der religiöse Determinismus wieder in voller Stärke aufgenommen.
Die Höhe der Aufklärung bringt einen kosmischen Determinismus
und gibt ihm bei Spinoza seine klassische Gestalt. Ein scheinbarer
Gegner des Determinismus wie Leibniz bildet diesen in Wahrheit nur
feiner durch, und die kantische Rettung der Freiheit in ein intelli-
gibles Reich gewährt unserm inmitten der Zeit befindlichen Leben
und Handeln keine genügende Hilfe.^
So überwog schon vor dem 19. Jahrhundert in der geistigen
Arbeit entschieden der Determinismus, gerade an ihren Höhepunkten
gewann er besondere Klarheit und Kraft, er scheint hier die Lebens-
energie nicht zu mindern, sondern zu steigern. Paulus stand dem
Determinismus näher als irgend ein anderer zu Beginn des Christen-
tums und durfte zugleich von sich sagen, daß er mehr gearbeitet
habe als die anderen alle; auch Augustin war eine unablässig tätige
Natur und von gewaltigem Organisationsvermögen. Und in den
Kämpfen der Reformationszeit war die Überzeugung, im Tun und
Ergehen ganz und gar, aber auch lediglich und allein von Gott,
nicht von irgendwelcher menschlichen Macht, abhängig zu sein, die
Hauptquelle festen Vertrauens und unbeugsamer Willenskraft.
Zu diesem allen kommt die neueste Phase des Determinismus
im 19. Jahrhundert. Ging er früher aus religiösen oder spekulativen
Überzeugungen hervor, so ist es jetzt die gründlichere Durchforsch-
ung der Erfahrung, welche von den verschiedensten Punkten her
zu ihm drängt und ihn sowohl anschaulicher als eindringlicher
macht Immer dichter sehen wir jetzt das Netz der Kausalität den
* Streng genommen, müßte jene intelligible Freiheit das ganze Leben
in der Zeit zur Untätigkeit verdammen, ihm alle Möglichkeit eigner Be-
wegung rauben.
Freiheit des Willens. 365
Menschen umschlingen, alte Erfahrungen gelangen dabei durch die
präzisere Fassung zu neuer und gesteigerter Wirkung. Den Grund-
stock seiner Natur hat der Mensch augenscheinlich ererbt, seine
weitere Entwicklung hängt an der gesellschaftlichen Umgebung und
an der Erziehung; wenn er zu klarer Bewußtheit erwacht, findet er
sich im wesentlichen schon fertig, das Schicksal, nicht sein eigenes
Wollen, hat ihn gebildet. Die neuere Gesellschaftslehre zeigt, daß
unser Handeln bis in seine Wurzeln hinein dem Einfluß der Ge-
samtverhältnisse unterliegt, die geschichtliche Betrachtung, daß wir
ganz und gar Kinder der Zeit sind, selbst da, wo wir ihr wider-
sprechen. Die moderne Psychologie aber läßt uns genauer in das
Gewebe des Innenlebens blicken, sie zeigt jede einzelne Handlung
verkettet und bedingt, ja ringsumher festgelegt, sie duldet nirgends
ein Geschehen unvermittelter Art. Dabei aber hofft man der moral-
ischen Seite des Lebens ihr volles Recht gewähren zu können. Man
sucht darzutun, daß, was ihr notwendig ist, wie z. B. die Ver-
antwortlichkeit, auch nach Aufhebung der Freiheit verbleibt; ja die
moralische Aufgabe scheint dadurch erheblich zu gewinnen, daß die
einzelne Handlung einem Ganzen des Lebens und dies Ganze wieder
geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen fester eingefügt wird.
Denn wenn damit die Verbesserung dieser Zusammenhänge die
Hauptaufgabe des Handelns wird, so erhält es eine breitere Basis
sowie festere Angriffspunkte. Zugleich entfaltet sich stärker das Ge-
lühl einer moralischen Solidarität und läßt die Verfehlung des Indi-
viduums milder beurteilen. So zeigt namentlich das moderne Straf-
recht bedeutende Bewegungen zu größerer Humanität unter dem Einfluß
des Determinismus. Wenn in dieser Weise ^Ue Interessen zusammen-
streben und die engere Verflechtung mit dem unmittelbaren Dasein dem
alten Gedanken der Jahrtausende eine gesteigerte Wirkung gibt, so
scheint aller Widerspruch verstummen zu müssen und an dem end-
gültigen Siege des Determinismus sich nicht mehr zweifeln zu lassen. So
reicht denn das Bekenntnis zum Determinismus weit über die Kreise
der Wissenschaft hinaus und gehört, wenigstens in Deutschland, zu
den Ausrüstungsstücken des Menschen, der sich »auf der Höhe der
Bildung" fühlt Von hier aus glaubt der Adept moderner Weisheit
auf alle, die gegen den Determinismus noch irgend welche Bedenken
haben, als auf arg Zurückgebliebene stolz herabsehen zu dürfen.
Zu einiger Behutsamkeit demgegenüber könnte wohl die Wahr-
nehmung stimmen, daß es noch immer eine ganze Anzahl von
366 Zu den Problemen des Menschenlebens.
tüchtigen Forschern gibt, welche dem Determinismus widerstehen,
und daß sie eher zu wachsen als abzunehmen scheint, ^ sowie die
andere Wahrnehmung, daß bei anderen. Kulturvölkern der Determi-
nismus keineswegs in so argem Verruf steht wie bei uns Deutschen.
Das gilt namentlich von Frankreich, wo die «Diskontinuitätsphilosophie"
bewußt und energisch den Determinismus ablehnt, wo ein Boutroux
selbst die „Kontingenz" der Naturgesetze verteidigt,^ wo ein Bergson
in ein lebensvolles Gemälde des Seelenlebens die Freiheit als wesent-
lich einschließt. Das bezeugt doch vielleicht, daß die Sache weniger
schon endgültig erledigt ist als unter besonderen Strömungen des
deutschen Lebens als erledigt erscheint.^
b) Erwägungen zur Behauptung des Determinismus.
Ein Problem, das so viel Verwicklung in sich trägt, und das
so sehr die Zeiten wie die Geister entzweit, in raschem Fluge neben-
bei behandeln zu wollen, das müßte als unbescheiden, ja vermessen
gelten. Aber wer sich mit den geistigen Strömungen der Gegenwart
befaßt, der muß irgend auch der Bewegungen gedenken, welche in
der Behandlung jenes Problems zutage treten. Die Art, wie sich
heute der Determinismus in der Breite des Lebens ausnimmt, scheint
uns an einem starken Dogmatismus zu leiden und das alte Problem
viel zu einseitig aus dem Gesichtswinkel der besonderen Zeit zu
behandeln. Wer auf die Geschichte blickt, der erhält nicht den
Eindruck, daß der Determinismus sich zu seinem Gegner wie Höheres
zu Niederem verhält, und daß bei wachsender Aufklärung der Wider-
stand mehr und mehr verschwunden ist. Denn schon vor Jahr-
tausenden lag die deterministische These deutlich vor Augen, es sind
dann immer wieder Gegenströmungen gekommen, und zwar nicht
nur in den Niederungen des Durchschnittslebens, sondern auch auf
^ Es seien u. a. von Werken der letzten Jahre erwähnt: von Rohland
»Die Willensfreiheit und ihre Gegner" (1905), Froehlich «Freiheit und Not-
wendigkeit" (1908), Joel „Der freie Wille" (1908).
"^ E. Boutroux „Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft
und in der Philosophie der Gegenwart" (deutsche Übers. 1907), s. auch
Boelitz „Die Lehre vom Zufall bei Emile Boutroux" (1907).
^ In vortrefflicher Weise hat zur Klärung des Problems neuerdings
Windelband gewirkt („Über Willensfreiheit", 2. Aufl. 1905), indem er die
Notwendigkeit einer Scheidung verschiedener Formen zeigte, „die in dem
Worte ,Willensfreiheit' kritiklos zusammengefaßt zu werden pflegen" (s. S. 222).
Freiheit des Willens. 367
der Höhe der geistigen Arbeit, ja, was am schwersten wiegt, bei
den leitenden Deterministen selbst. Zur vollen Konsequenz der
Durchführung ist der Determinismus wohl an keiner Stelle gelangt.
Wenn die Stoiker das All in ein kausales Gefüge verwandeln und
dieses auch das Schicksal des Menschen gänzlich bestimmen lassen, so
bleibt seiner eignen Entscheidung vorbehalten, ob er den Weltlauf an-
erkennt und in die eigne Überzeugung aufnimmt, oder ob er sich
widerwillig von ihm fortschleppen läßt; die Möglichkeit einer solchen
Entscheidung, dieser Kern der stoischen Moral, durchbricht aber augen-
scheinlich den Determinismus. Augustin ist strenger Determinist nur
so lange, als ihn gänzlich die theozentrische Betrachtung erfüllt; so-
bald er das menschliche Handeln, im besondern das praktisch-kirch-
liche Leben, ins Auge faßt, gilt ihm der Mensch als zu selbstständiger
Mitarbeit und zu eigner Entscheidung berufen. Auch Luther hat
die anfängliche Strenge seines Determinismus später beträchtlich ge-
mildert. Spinoza endlich mag den Menschen noch so sehr einer
lückenlosen Weltverkettung angehörig zeigen, für ihre Anerkennung
ist er erst zu gewinnen; mit ihr ergibt sich aber eine völlige
Wendung des Lebens, eine Wendung von einem Gewebe mensch-
licher Illusionen zu einem Reiche lauterer Wahrheit Macht es
nicht endlich auch bei einer mehr empirischen Fassung des Deter-
minismus wie in der Gegenwart einen großen Unterschied, ob die
Verkettung uns gänzlich unbewußt wirkt, oder ob sie von uns durch-
schaut und in unser Handeln aufgenommen wird? Durchgängig
sehen wir die Tatsache einer kausalen Ordnung nicht schon ihre
Anerkennung mit sich bringen, nach dem Ja oder Nein an dieser
Stelle aber das Leben sich grundverschieden gestalten. Ganz gleich-
gültig scheint die Entscheidung des Menschen also nicht zu sein.
Auch die Stellung Kants zu unserem Problem könnte die
heutigen Deterministen vor einem allzu sicheren Auftreten warnen.
Kant pflegt auch ihnen als ein großer Denker zu gelten und sein
System als die gewaltigste philosophische Leistung der Neuzeit Die
Freiheit aber ist ein unentbehrlicher Eckstein dieses Systems, ihn
entfernen heißt seinen Gesamtbau zerstören.^ Hat doch Kant die
^ Man sehe nur die Äußerungen Kants in der Vorrede zur Kritik der
praktischen Vernunft: »Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch
ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun
den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst
der spekulativen Vernunft aus« (V, 3, Hart.). Femer: „Freiheit ist aber auch
368 Zu den Problemen des Menschenlebens.
Idealität von Raum und Zeit und die Realität des Freiheitsbegriffes
die beiden Angeln genannt, um welche sich die Vernunftkritik drehe,
und ist auch seiner Erkenntnislehre der Freiheitsgedanke von Anfang
an gegenwärtig. Mag man der besonderen Art, wie Kant das Frei-
heitsproblem löste, noch so kritisch gegenüberstehen, es gibt doch
zu denken, daß dieser große Philosoph auf Freiheit glaubte unmög-
lich verzichten zu können.
Was ist es wohl, das trotz aller Häufung anscheinend unwider-
leglicher Gründe immer wieder über den Determinismus hinaustreibt?
Dieses wohl, daß seine konsequente Durchführung alles zerstören
müßte, was dem geistigen Leben des Menschen eigentümlich ist.
Dem Determinismus ist, wie die Dinge draußen, so auch die Seele
des Menschen eine gegebene Größe; aus dem Zusammentreffen
beider geht ihm ein gewisses Ergebnis mit zwingender Notwendig-
keit hervor. Aber läßt sich im Grunde dann noch von eignem
Handeln reden, und können wir uns innerlich irgend dafür verant-
wortlich fühlen? Wird die Sache in ihren eignen Grenzen gehalten
und nicht unvermerkt durch das überkommene Bild unseres Lebens
und Wesens verändert oder ergänzt, so müßten wir bloße Zuschauer
dessen werden, was an uns vorgeht, an der Seele genau wie an dem
Körper; was je aus uns werden wird, das liegt mit sicherem Zuge
schon vorgebildet, wir spielen eine zugewiesene Rolle, wir müssen
eine vorgezeichnete Landstraße geduldig weiter und weiter wandeln
als völlige Sklaven des Schicksals. Verschwinden würde damit alle
wahrhaftige Gegenwart, denn wo es keinen Aufruf zur Entscheidung,
keine Spannung, kein ursprüngliches Handeln gibt, wo die Zukunft
aus der Vergangenheit wie die Frucht aus dem Samen hervorgeht,
da gibt es nur den Schein einer Gegenwart. Auch verschwindet
zugleich aller innere Zusammenhang und alle beherrschende Einheit
des Lebens, denn eine solche läßt sich nicht überliefern, sie kann
nur aus eigner, ursprünglicher Tätigkeit hervorgehen, sie muß immer
von neuem geschaffen werden; so verwandelt sich unsere Seele dort
in ein Nebeneinander einzelner Elemente, das nach außen hin ein
Ganzes scheinen mag, das in Wahrheit aller inneren Verbindung
entbehrt. In Summa ist es namentlich die Leugnung aller Ursprüng-
lichkeit, welche jener Denkweise anhaftet, und dieser Verzicht auf
die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die
Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Be-
dingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen" (V, 4).
Freiheit des Willens. 35g
Ursprünglichkeit, dies gänzliche Geschoben- und Getriebenwerden
durch ein dunkles Geschick, ist, näher erwogen, etwas ganz Ent-
setzliches, schlechterdings Unerträgliches. Das Entsetzliche einer
Verstrickung in ein allgewaltiges, unentrinnbares Schicksal, das uns
nun und nimmer losläßt, haben namentlich die tieferen Geister unter
den Indern mit erschütternder Stärke empfunden; so ward ihnen die
Befreiung von solchem Schicksal, von dem Rad der Wiedergeburt,
zum dringendsten Anliegen, zur sehnlichsten Hoffnung.
Aber, so wird uns eingewandt, was hilft alles Sträuben gegen
eine eherne Notwendigkeit? Ergebung und Resignation ist das einzige,
das dem Menschen bleibt und ziemt. Erhält er nicht in Wahrheit
seine Natur als ein unabweisbares Erbe mitgeteilt, haben ihn zusammen
mit diesem nicht seine nähere und seine weitere Umgebung zu dem
gemacht, was er heute ist? Und ist es nicht das Schicksal, das den
Fertigen hieher oder dorthin stellt, ihn dieses oder jenes wirken
läßt? Bedarf ferner nicht das menschliche Handeln bestimmter
Motive, und würde nicht das Leben in ein wirres Chaos zerfallen,
wenn unter diesen Motiven willkürlich zu wählen wäre, wenn sich
ohne allen Zusammenhang mit dem bisherigen Tun der Gute zum
Bösen, der Böse zum Guten entschließen könnte?
Sicherlich verlangen solche Wahrheiten eine gewissenhafte
Würdigung; ob sie aber die Sache erschöpfen, ob sie das Eigen-
tümliche des Menschen mit seiner geistigen Art vollauf zur Geltung
bringen, das ist nicht so leicht zu sagen. Es ist eine unbestreitbare
Tatsache, daß der Mensch, zunächst mit seinem Denken, nicht einfach
innerhalb der Verkettungen des Daseins verbleibt, wie das Tier,
sondern daß er aus diesen Verkettungen heraustritt, sich ihnen
gegenüberzustellen und sie als Ganzes zu überschauen vermag. Ohne
das gäbe es kein Fragen nach Wahrheit, und schon daß eine solche
Frage überhaupt gestellt wird, enthält eine erhebliche Weiterbildung
des Lebens. Steht es mit dem Tun nicht ähnlich? Wir gehen nicht
auf in ein Nebeneinander einzelner Antriebe, wir erheben uns zu
einer überlegenen Einheit und gewinnen damit eine Selbsttätigkeit
als eine neue Stufe des Lebens; von hier aus können wir jene Viel-
heit überblicken und jedes Stück nach seinem Werte schätzen; dieser
Wert ist nicht schlechthin gegeben und ausgemacht, er gestaltet sich
erst von jener Einheit aus, und ihre Umgestaltung muß auch ihn
verändern. Fragt man uns, wie jene Selbsttätigkeit, wie jenes Hervor-
brechen ursprünglichen Geisteslebens im Menschen möglich sei, wie
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 24
370 Zu den Problemen des Menschenlebens.
sie sich aus dem Ganzen des Alls erkläre, so bekennen wir offen
und ehrlich das Unvermögen einer Antwort darauf. Aber wie arm
würden wir werden, wenn wir alles leugnen wollten, was wir nicht
zu erklären vermögen ? Wir sehen um uns in unerschöpflicher Fülle
bewußte und fühlende Wesen, eigentümliche Lebenseinheiten, immer
von neuem entstehen. Ist uns das irgend erklärlich, könnte man
nicht, wenn es nicht eine unbestreitbare Tatsache wäre, es ebenso
als unmöglich verwerfen wie ein Erwachen von Selbsttätigkeit?
Denn eine Lebenseinheit scheint weder durch eine Zusammensetzung
von Leblosem noch durch eine Teilung von Lebendigem entstehen
zu können. Also kann es neue Lebenseinheiten in keiner Weise
geben. Aber sie quellen unablässig auf, wir können sie unmöglich
leugnen. So müssen wir doch wohl unsere Begriffe von Möglich-
keit der Wirklichkeit der Dinge unterordnen, nicht diese in ein von
unserm engen und kleinen Verstände gebildetes Maß hineinzwängen.
Im Grunde ist es der Intellektualismus, der dem Determinismus die
stärksten Wurzeln liefert
Dazu sei bei diesem Problem auch die besondere Lage des
Menschen mit ihrer Verwicklung nicht vergessen. Daß er einerseits
zur Natur gehört und andererseits den Beginn einer neuen Stufe
der Wirklichkeit, eines Reiches des Beisichselbstseins, bildet, das ver-
wandelt sein ganzes Leben in eine Aufgabe, zu deren Lösung es
unbedingt seiner eignen Entscheidung bedarf. Das stellt es unter
entgegengesetzte Antriebe, das macht die Motive hie und da
schlechterdings unvergleichlich. Dort das« natürliche oder auch das
gesellschaftliche Dasein mit seiner Lust, hier die geistige Ordnung
mit ihrem neuen Selbst und seiner Unendlichkeit, Läßt sich direkt
miteinander vergleichen, und aneinander messen, was ein Handeln
an selbstischem Glück, und was es an Erhöhung des Wesens in
Erfüllung von Pflicht und Entwicklung von Liebe bringt?^ Augen-
scheinlich stehen hier nicht einzelne Leistungen, sondern es steht
die Hauptrichtung des Lebens in Frage, es handelt sich nicht so-
wohl um das, was wir tun, als um das, was wir sind, oder vielmehr
* So müssen wir auch die Vorstellung ablehnen, als ob die Motive
feste und gegebene Größen wären, die in der Seele wie Gewichte auf einer
Wagschale zusammenträfen und eine Entscheidung bewirkten. Muß denn
alles Handeln aus gegebenen Motiven erfolgen, können bei innerer Wandlung
des Lebens nicht neue entstehen? Und muß die Seele den Motiven ihren
Wert nicht immer von neuem erteilen?
Freiheit des Willens. 371
um das, worin wir unser Wesen setzen. Die Seele des Menschen
bildet nicht einen bloßen Schauplatz, an dem zwei Stufen der Wirk-
lichkeit sich begegnen, sondern sie wird selbst zur Mitwirkung auf-
gerufen, nur durch selbsttätige Aneignung hindurch kann das Geistes-
leben an dieser Stelle zur vollen Wirklichkeit kommen. Was aber
darin an Entscheidung liegt, das vollzieht nicht ein besonderer
Augenblick, sondern das vollzieht unser ganzes Leben, das will un-
ablässig bejaht und bekräftigt sein. Geistiges Leben, so sahen wir,
verbleibt nicht, wie es einmal sich findet, es muß immer von neuem
entstehen, soll es nicht aufs rascheste sinken. So behält unser Leben
stets eine Spannung, es wird, geistig angesehen, nie zu ruhigem Besitz.
Damit erscheint freies Wirken nicht als eine Sache des bloßen
Augenblicks, die Wendung nicht als ein plötzlicher Einfall. Denn
so gewiß auch der Augenblick eine hervorragende Bedeutung ge-
winnen kann, er kann das nur in weiteren Zusammenhängen, nur als
der Höhepunkt eines durchgehenden Strebens. An erster Stelle geht
die Frage auf das Ganze, auf die Hauptrichtung des Lebens, nicht
auf einzelne Punkte.
Wie in unserem Leben Freiheit und Schicksal zusammenwirken,
wie das eine auf das andere angewiesen ist, das zeigt mit beson-
derer Anschaulichkeit die Bildung einer geistigen Individualität Un-
möglich kann eine solche aus bloßem Entschlüsse entstehen, das
Schicksal geht hier voran und weist uns die Richtung des Weges.
Aber sofern dieses Individuelle geistiger Art ist, muß es von uns
erst errungen, in eigne Tätigkeit aufgenommen, von Fremdem
geschieden, als Mittelpunkt anerkannt sein. Der Punkt unserer
Stärke muß erst freigelegt und ergriffen werden. Das Suchen
des eignen Wesens, der Seele der Seele, kann harte Mühen und
schwere Irrungen kosten, wir können uns weit verlaufen, ehe wir
zu jenem Punkte gelangen. Und wenn wir ihn gefunden haben,
so bedarf es weiterer Mühe und Arbeit, um ihn festzuhalten
und durchzusetzen; so verwandelt der Verlauf des Lebens mehr
und mehr die Gabe des Schicksals in ein eignes Werk des
Menschen, so erhebt sich unser Leben immer mehr zur Selbst-
tätigkeit
Ähnliches gilt von ganzen Völkern und Zeiten. Was an Ge-
gebenem vorliegt, ist, geistig angesehen, nur eine Möglichkeit, die
zur Verwirklichung und zugleich zur konkreten Gestaltung immer
nur durch unsere eigne Tat gelangt. Wir können uns willenlos
24«
372 Zu den Problemen des Menschenlebens.
treiben lassen von dem, was wir empfangen und was uns umgibt,
wir können ihm gegenüber eine Selbständigkeit gewinnen und von
ihr aus erst ihm entringen, was an Geistigem in ihm angelegt ist.
Die Geschichte baut sich ihrem Geistesgehalt nach nicht auf einer
gegebenen und gesicherten Grundlage auf, sondern immer von
neuem mag über ihr Ganzes Zweifel entstehen, immer von neuem
gilt es, ihr eine Grundlage eret zu sichern, immer neu ist sie in ein
Ganzes zusammenzuschließen.
Solche Überzeugungen ergeben ein wesentlich anderes Bild der
Wirklichkeit, als es dem Determinismus vorschwebt. Vor allem ein
anderes Bild von unserem eignen Seelenleben. Dem Determinismus
scheint bei ihm alles in einer einzigen Fläche zu liegen oder doch aus
einem gegebenen Grundstock hervorzugehen, in Wahrheit ist unser
Leben nicht so einfach und sein Inhalt nicht so gleichartig. Ver-
schiedene Möglichkeiten und verschiedene Höhenlagen durchkreuzen
einander und ziehen bald hierher bald dorthin. Eine von ihnen ist
durch den Verlauf des Lebens zur Herrschaft gelangt und gilt leicht
als das Ganze unseres Lebens und Seins. Aber es brauchen nur
wesentlich neue Aufgaben, nur große Erschütterungen und Umwälz-
ungen zu kommen, und es steigt etwas völlig neues, etwas uner-
wartetes in uns auf, während altes verblaßt und versinkt, es wird
anderes in uns belebt, und es verändern sich alle Werte; es kann
uns unsäglich klein und nichtig erscheinen, was früher unsere Seele
erfüllte. Das alles aber nicht durch ein mechanisches Vorgehen
an uns, sondern durch unsere eigne Erregung und Bewegung hin-
durch. Alsdann wird deutlich, daß was uns vorher das Ganze
dünkte, nur eine gewisse Schicht, nur eine besondere Möglichkeit
war, daß wir nur ein Stück unseres Wesens erlebten. Das gesell-
schaftliche Dasein und der Zwang der Lebenserhaltung drängen zu
einer Festlegung auf eine solche Besonderheit, hier gilt der Mensch
nur als Träger eines eigentümlichen Berufes, hier soll er möglichst
darin aufgehen, hier wird ihm alles verübelt, was nicht die dadurch
gezogene Linie einhält. Wer sich aber ganz einer solchen Vereng-
ung ergibt, seinem Leben nicht eine größere Weite mit offnen Mög-
lichkeiten wahrt, dem muß es erstarren und verknöchern, der handelt
weniger als durch ihn gewirkt wird, der geht in Wahrheit jene
abgesteckte Chaussee, in die der Determinismus unser aller Leben
verwandeln möchte. Das ist der Segen des Leides und aller großen
Erschütterung, daß es den Menschen solcher Erstarrung zu entreißen
Freiheit des Willens. 373
und ihm neue Lebensquellen zu eröffnen vermag. Und darin hat
auch die Kunst eine hervorragende Aufgabe, der üblichen Einpferch-
ung des Lebens den weiteren Kreis mit seinen offnen Möglichkeiten
entgegenzuhalten und dadurch der Bindung der Verhältnisse gegen-
über zur Befreiung der Seele zu wirken. Immer ist dies der Scheide-
punkt, ob unser Leben sich aus fertigen Daten zusammensetzt, oder
ob es noch mitten im Fluß ist.
Was vom Einzelnen, das gilt auch von der Menschheit im
Ganzen. Wie jenen die Besonderheit seines Berufes und seines Ge-
schickes festlegt und einspinnt, so ist es bei der Menschheit eine
besondere Art der Kultur, auf welche die gewöhnliche Denkweise
sie festlegt, und in die man sie einspinnen möchte. Das aber bringt
zur Verengung auch eine Erstarrung des Lebens. Die Menschheit
hätte dann nur eine gewiesene Bahn zu verfolgen, sie würde ein
bloßes Mittel zu irgendwelcher Leistung; wer sich auf der Höhe
einer, solchen Kultur fühlt, der mag glauben, mit voller Sicherheit
nachweisen zu können, wie alles gekommen ist, wie alles so kommen
mußte, dem stellt sich die ganze Geschichte als eine Kette der Not-
wendigkeit dar. Aber auch Kulturen leben sich aus, welken und
altem; es wäre schlimm, wenn die Menschheit in ihrem Verhältnis
zum All nicht andere Möglichkeiten als die durchlaufenen in sich
trüge und sie ergreifen wie ausbilden könnte. Ist nun dies Neue
von dem Alten her irgendwie ableitbar? Konnte das griechische
Altertum die Gestaltung irgend voraussehen, die sich durch das
Christentum und den Aufstieg neuer Völker vollzogen hat? Oder
war vom Mittelalter aus die Wendung zu erwarten, welche die
Neuzeit brachte? Und wenn wir jetzt innere Schranken der
modernen Kultur, ein Greisenhaftwerden ihres inneren Bestandes
immer stärker empfinden, was anderes läßt uns freudig am Streben
und Wirken festhalten, als die Hoffnung, daß die Menschheit sich
auf den bisherigen Bahnen nicht schon ausgelebt hat, daß noch
offne Möglichkeiten vor ihr liegen? Aber ohne unsere Selbsttätig-
keit werden solche Möglichkeiten sich schwerlich beleben lassen;
wir dürfen dabei nicht bloße Zuschauer sein, wir müssen Mitarbeiter
werden.
Sollte eine derartige Denkweise mit ihrer Erweiterung und Be-
lebung des Wirklichkeitsbildes nicht auch für das Ganze des Welt-
alls gelten? Viel zu sehr neigen wir Modernen dahin, die Welt
und den Weltstand, der uns umfängt, als die einzige Möglichkeit,
374 Zu den Problemen des Menschenlebens.
als den Inbegriff alles Wirklichen anzusehen. Ist jene nicht viel-
leicht nur eine besondere Art, neben der andere bestehen können,
ja bestehen müssen? Als ein Anzeichen dessen könnten die mannig-
fachen Unfertigkeiten, Verwicklungen, Widersprüche gelten, in denen
unsere Welt sich befindet, das Gemenge von Vernunft und Unver-
nunft, das sie aufweist. Von hier aus muß es als ein starrer und
einengender Dogmatismus erscheinen, alle Wirklichkeitsbildung an das
»Gegebene" zu binden. Dies «Gegebene" ist ein höchst unglück-
licher und irreleitender Begriff, da es eine höchst problematische
Behauptung als selbstverständlich gibt, und da es alle Selbsttätigkeit
mit ihrer Ursprünglichkeit leugnet. Eine eingeschüchterte Denk-
weise empfindet heute kaum, welche Herabsetzung der geistigen
Energie in der völligen Bindung an die Gegebenheit liegt. »Der
Geist geht auf alle Arten an die Kost und schmiegt sich an das Ge-
gebene" (J. Burckhardt).
Wie sich von unseren Überzeugungen aus das Problem der
Freiheit und Gebundenheit des Handelns darstellt, das läßt sich in
der hier gebotenen Kürze unmöglich erörtern, das hoffen wir bald
in einer Grundlegung der Ethik näher darlegen zu können. Hier galt
es nur bemerklich zu machen, daß der Determinismus auf ganz be-
stimmten Voraussetzungen von der Wirklichkeit ruht, und daß die
Erkenntnis dessen seine Selbstverständlichkeit sofort zerstört. Er be-
handelt die Welt als gegeben und geschlossen und uns Menschen
als ein bloßes Stück dieser Welt; hat er damit Recht, so wird es
zu einer kaum verständlichen Torheit, an seiner Wahrheit noch
irgend zu zweifeln; ist aber die Welt noch im Fluß und können
wir selbst an vordringendem Schaffen teilnehmen, so wird jemand,
der andere Wege versucht, nicht schon als ein intellektuell Verlorener
anzusehen sein. Schlimmsten Falles freilich müßte er sich dessen in
Gemeinschaft mit einem Plato und einem Kant vertrösten.
Die große Klärung und Förderung, welche der moderne De-
terminismus dem Freiheitsprobleme gebracht hat, wird damit keines-
wegs verkannt, er hat das ganze Problem der Freiheit aufs wesent-
lichste vertieft und ihre naive Bejahung schlechterdings unmöglich
gemacht. Daß viel Notwendigkeit in unserem Leben waltet, daß
zum guten Teil das Schicksal es bereitet, ist nicht zu verkennen;
nur das bleibt in Frage, ob dieses das Ganze ist, ob nicht zugleich
auch die Freiheit ein Recht behält, und ob nicht eben der Zu-
sammenstoß von Freiheit und Notwendigkeit unserem Leben seinen
Freiheit des Willens. 375
eigentümlichen Charakter verleiht, ob er nicht Leben in vollem
Sinne erst möglich macht Wir stehen zu Schelling, wenn er sagt:
»Ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht
Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den
Tod versinken."
D
E. Letzte Probleme.
1. Der Wert des Lebens.
a) Einleitendes.
en Wert des Lebens nach der individuellen Empfindung mit
ihrer Zufälligkeit und ihren Schwankungen abzuschätzen, ist
ein Ding der Unmöglichkeit; hat die Frage des Optimismus oder
Pessimismus* keinen anderen Sinn, so ist sie von vornherein abzu-
weisen. Aber unmöglich läßt sich alles Urteil über das Leben ein-
stellen, schon deshalb nicht, weil dies uns nicht mit schlichter und
unwiderstehlicher Tatsächlichkeit einnimmt, sondern weil es eine
Entscheidung unsererseits verlangt, diese aber entgegengesetzt aus-
fallen kann. Denn entweder mögen wir uns seinem Strome freudig
anschließen und ihn möglichst durch unsere Kraft verstärken, oder
aber wir mögen uns ihm entgegenstemmen und ihn bei uns zum
^ Die Ausdrücke Optimismus und Pessimismus sind neueren Ursprungs,
jenes ist zuerst zur Bezeichnung der Leibnizischen Lehre von der besten
Welt verwandt worden. Brucker (IV, 2, S. 385) bemerkt darüber: Non
tacendum vero, ipsos Jesuitas Trivaltinos, magnos cetera Leibnizii admiratores,
cum recensione Theodiceae facta sententiam dicerent (wie eine Anmerkung
hinzufügt 1737, Febr. art. 1), laudata ingenti lectionis et judicii copia, et
tractationis ordine, accuratione et concinnitate systematica, fateri tamen, multos
errores philosophum summum admisisse, maxime vero optimi mundi asser-
tionem (optimismum vocant) non nisi larvatum materialismum et spiritualem
Spinozismum involvere, s. auch S. 415. Zu seiner Verbreitung hat wohl nament-
lich Voltaire mit seinem Candide ou l'optimisme beigetragen. — Bei Pessimismus
pflegen wir zuerst an Schopenhauer zu denken, aber dieser selbst gebraucht
das Wort nur spärlich; Caldwell in seinem vortrefflichen Werke über Schopen-
hauer bemerkt darüber (S. 522): He rarely uses the word pessimism — perhaps
three or four times at all — and than only about the philosophy of others,
and generally in the adjective form as opposed to an optimistic view of
things.
Der Wert des Lebens. 377
Stillstand zu bringen suchen. Große geschichtliche Entwicklungen
stellen uns beide Antworten deutlich vor Augen. Die Höhe des
indischen Lebens war von der Überzeugung beseelt, daß das Leben
mit seiner endlosen Sorge, Mühe und Not vornehmlich ein Leiden
sei, und daß das Streben nach Befreiung von ihm oder doch nach
Herabsetzung seiner Stärke die Summe der Lebensweisheit bilde.
Entgegen solcher Lebensverneinung folgt unser westlicher Kultur-
kreis einer anderen Schätzung: hier dünkt das Leben ein hohes
Gut, das man eifrig festhalten und steigern möchte; so bemühen
sich auch die Denker, jene Bejahung zu begründen und die Wirk-
lichkeit als wertvoll zu erweisen. Die geschichtliche Bewegung nach
dieser Richtung zerfällt aber in drei Hauptphasen. Die griechischen
Denker suchten den Dunkelheiten und Widersprüchen der Welt
überlegen zu werden, indem sie diese als ein vollendetes Kunstwerk,
eine allumfassende Harmonie erweisen; die christlichen Denker,
soweit das Problem sie beschäftigte, wie z. B. einen Augustin, sahen
in der Wirklichkeit eine sittliche Ordnung, die den Gegensatz von
Gerechtigkeit und Liebe zu voller Ausgleichung bringe; den
modernen Denkern endlich ward die Welt ein vordringender Lebens-
strom, ein unaufhörliches Anschwellen der Kraft; als ein Reiz und
Antrieb dafür schien- sich auch das zu rechtfertigen, was zunächst
als Störung und Widerspruch erscheint
Diese Versuche der Denker sind oft hart angegriffen, ja arg ver-
spottet worden; sie möchten eine solche Behandlung verdienen, wenn
nur spielende Reflexion sie hervorgebracht hätte, nicht tiefere Beweg-
ungen hinter ihnen stünden. Dieses aber war in der Tat der Fall. Denn
jene Versuche einer Rechtfertigung des Lebens wurzelten in einer tatsäch-
lichen Gestaltung seiner, in einer Selbstkonzentration, die einen Kern
vom übrigen Dasein schied und von ihm aus eine Weiterbildung des
Ganzen erstrebte. So wären die griechischen Versuche, die Welt als
ein Kunstwerk darzustellen, ohne Saft und Kraft gewesen, hätte nicht
die großartige künstlerisch-plastische Gestaltung des Lebens und der
ganzen Wirklichkeit, die wir an den Griechen bewundern, sie ge-
tragen und getrieben; dies künstlerische Schaffen mit der ihm eignen
Kraft und Freude war es, was die griechische Welt gegen die Unver-
nunft des Daseins wappnete, die sie keineswegs gering anschlug, und
was ihr die Zuversicht gab, dem Dunkel und Leid gewachsen zu sein.
Das Leben zerlegte sich damit in eine höhere und eine niedere Stufe, in
Gestalt und Ungestalt; der Mensch aber vermochte sich auf die Seite
378 Letzte Probleme.
des Höheren zu stellen und in seinem Bereiche dafür zu wirken.
Nicht anders stand es auf dem Boden des Christentums. An stärkster
Empfindung des Bösen fehlte es hier wahrhaftig nicht, aber das
Bewußtsein, ein unverlierbares Glied einer weltbeherrschenden sitt-
lichen Ordnung zu sein, verlieh dem Menschen eine Größe und
Zuversicht, es gab ihm viel zu tun, es stählte ihn, den schweren
Kampf gegen die überwuchernde Unvernunft getrost zu beginnen.
Daß es sich in der Neuzeit ähnlich verhält, daß hinter dem Glauben
an das Vermögen der Entwicklung eine tatsächliche Steigerung des
Lebens, eine rastlose Arbeit zur Verbesserung des menschlichen
Daseins steht, das haben wir alle deutlich vor Augen; ohne solche
Erfahrung des Fortschritts hätte der Glaube an die Entwicklung die
Gemüter wohl nur flüchtig berührt.
So waren es durchgängig eigentümliche Lebensgestaltungen, es
waren Konzentrationen des Lebens bei sich selbst, Tatsynthesen,
nicht bloße Begriffsklaubereien, Tatsynthesen, Lebensenergien, welche
dem Menschen die Überzeugung einflößten, den Gründen der Wirk-
lichkeit verbunden zu sein und aus ihnen Kraft zu empfangen, die
ihn aus dem Stande eines bloßen Übersichergehenlassens in den
der Aktivität versetzten und ihn zugleich mit freudigem Mute er-
füllten. Die Unvernunft verschwand damit keineswegs, sie mochte
eher noch gesteigert scheinen. Aber nun stand der Mensch ihr
nicht mehr einsam und wehrlos gegenüber, nun durfte er mitarbeiten
am Bau der Wirklichkeit, nun hatte sein Leben einen Sinn und zu-
gleich einen Wert gewonnen. Wer solche Zusammenhänge vor
Augen hat, der wird jene Versuche der Denker minder gering-
schätzig ansehen, wie unzulänglich er das Nähere ihrer Beweis-
führung finden mag. Aus Beweisen hat das Leben nie seine Kraft
gezogen.
b) Die Verwicklung der Gegenwart.
Heute ergeht es uns bei diesem Problem wie bei vielen an-
deren; aus vermeintlichem Besitz sind wir wieder in ein tastendes
Suchen geworfen. Alle jene Lebenskonzentrationen sind in ihrem
Bestände und in ihrer Herrschaft aufs schwerste erschüttert: von der
künstlerischen und der ethischen ist es augenscheinlich, aber auch
der Fortschrittsgedanke hat nicht mehr die alte Kraft und den alten
Zauber; wir wissen nicht recht, wohin uns der Fortschritt führt und
Der Wert des Lebens. 379
wem er zugute kommt, auch seine Tatsächlichkeit ist uns bei den
tieferen Lebensfragen stark ins Wanken geraten; ein hohles Phrasen-
tum umspinnt hier oft den Kern der Behauptung und zieht das
Ganze herab. Fehlt demnach dem heutigen Leben überhaupt ein
fester Zusammenschluß und mit ihm ein allbeherrschendes Ziel, so
fehlt zugleich die Kraft, dem Zustrom der Wirklichkeit gewachsen
zu werden, ihn innerlich zu bewältigen und in solcher Verwandlung
des Daseins in Aktivität das Bewußtsein einer Größe zu finden.
Dieser Mangel muß um so empfindlicher werden, als eben die Be-
wegung der Neuzeit die Außenwelt aufs gewaltigste anschwellen
läßt, sie uns unvergleichlich größer vor Augen stellt und stärker
auf uns eindringen läßt als je zuvor. Indem so immer mehr die
Welt uns besiegt und uns zu ihrem bloßen Anhange herabsetzt,
verfallen wir bei aller Ausdehnung des Lebens einer inneren Schwäche
und Kleinmütigkeit; immer mehr greift die Neigung um sich, in
den mannigfachen Erfahrungen vor allem das zu sehen, was den
Menschen als klein darstellt und ihm alle Besonderheit raubt;
durchgängig scheint es, als ob sich mehr ein Schicksal an uns voll-
ziehe, als daß wir zu Herren der Dinge werden und ein inneres
Verhältnis zur Wirklichkeit ausbilden können. Weniger daß die
Außenwelt größer geworden ist, als daß wir ihr nichts entgegenzu-
setzen haben, ist es, was unseren Lebensmut niederdrückt und uns
am Inhalt der Wirklichkeit vor allem die Verneinung gewahren läßt
So erfahren wir es zunächst im Verhältnis zur großen Natur.
Ins Auge fällt uns vor allem ihre Unermeßlichkeit, ihre Unendlich-
keit in Raum und Zeit, ihre Grenzenlosigkeit im Großen wie auch
im Kleinen. Dieser Gedanke der Unendlichkeit hat frühere Zeiten
freudig ergriffen und innerlich erhöht, indem er ihnen ein Aus-
druck der unbegrenzten Lebensfülle der Wirklichkeit war;i auch
fanden sie darin einen besonderen Vorzug des Menschen, daß sein
Denken ihn über alle Begrenzung hinaus zum Unendlichen und
Ewigen führe und ihn daran teilnehmen lasse. Heute aber denken
wir weniger an die innere Gegenwart der Unendlichkeit, als daß
sie ausgebreitet in Raum und Zeit um uns liegt und zugleich unser
ganzes Dasein zu verschwindender Kleinheit herabsetzt Zu voller
Gleichgültigkeit scheint es damit zu sinken. Denn was bedeutet.
^ Die klassische Zeit des Altertums scheut das Unendliche als etwas
Grenzenloses und damit einer künstlerischen Gestaltung Entzogenes, zu posi-
tiver Schätzung hat den Begriff erst Plotin gebracht.
380 Letzte Probleme.
so hören wir, alles, was auf dieser winzigen Erde vorgeht, gegen-
über der unermeßlichen Fülle der Welten, die das geschärfte Auge
der Neuzeit uns wahrnehmen läßt? Die äußere Größe gibt hier
das Maß, ein anderes kennen wir nicht — Dazu bleibt die Natur
uns innerlich fremd und verschlossen, sie scheint, indem die Forsch-
ung ihr immer mehr Boden abgewinnt, ihrem Grunde nach ferner
und ferner zu rücken. Denn es fehlt uns ein inneres Verhältnis
zu ihr, wie es früheren Zeiten eine religiöse oder eine künstlerische
Überzeugung gab. Uns erfüHt ganz und gar der Gedanke der Be-
grenztheit des Menschen, wir scheinen einem besonderen Kreise an-
zugehören und ihn in keiner Weise überschreiten zu können. Sind
wir derart von den großen Zusammenhängen abgeschnitten, so
wird es zu einem vermessenen Unterfangen, zu einem eingebildeten
Anthropomorphismus, die Natur mit ihrem Gestalten irgendwie
deuten und verstehen zu wollen. Sie bleibt uns ein tiefes Geheim-
nis, ein ganz unlösbares Rätsel. In unermeßlicher Fülle erzeugt
sie Bildungen, die wir uns nur durch die Analogie eines zweck-
tätigen Handelns irgend vorstellbar machen können, aber wenn sich
überhaupt von Zwecken der Natur reden läßt, so scheinen diese
einander zu widersprechen und sich gegenseitig aufzuheben. In-
dem nämlich die Natur mit bewunderungswürdiger Sorgfalt eine
Art von Wesen bereitet, bereitet sie mit gleicher Sorgfalt eine andere,
die jene zu zerstören vermag, so scheint sie hier zu verneinen, was
sie dort bejaht, sie hetzt ihre eignen Geschöpfe gegeneinander und
treibt sie in einen unerbittlichen Daseinskampf. Massenhaft werden
Individuen, oft auf mühsamen Umwegen, gebildet, aber ebenso
massenhaft werden sie aufgeopfert. Inmitten alles Kampfes ist ein
aufsteigender Zug des Lebens nicht zu verkennen, immer kompli-
zierter wird der Bau der Organismen, immer abgewogener die Diffe-
renzierung der Teile, immer größer die seelische Leistung. Aber
auf dem eignen Gebiet der Natur sehen wir keinen rechten Gewinn
dieses Forttriebs. Denn wenn auch die höchste Stufe über die
Lebenserhaltung Im Kampf ums Dasein nicht hinauskommt, so wird
im Grunde nur dasselbe Ziel, was auch schon die niedere Stufe
hat, in weit umständlicherer Weise erreicht; ist das nicht eher ein
Rückschritt als ein Fortschritt zu nennen? Der ungeheure Drang
nach Leben und die völlige Leere des mühsam errungenen Lebens
bilden den härtesten Widerspruch. Gierig klammern sich die Indi-
viduen an das Dasein, zu seiner Festhaltung bieten sie höchste
Der Wert des Lebens. 381
Kraft und Leidenschaft auf. Aber was liefert dieses Dasein den Lebe-
wesen selbst, was gewinnen sie damit, welchen Sinn hat dies ganze
Getriebe? Wir finden darauf keine Antwort, und weil wir keine
finden, so fühlen wir uns verwirrt und niedergeschlagen, sobald
wir die Frage aufs Ganze richten.^ Irgendwelche Vernunft scheint
zu walten, aber sie scheint gehemmt und gebunden, ja sie scheint
unablässig sich selbst zu durchkreuzen, sie scheint in eine Breite
aufgelöst, die sich innerlich nicht zusammenfindet. Dazu zeigt die
Entwicklungslehre uns diesem dunklen Getriebe weit enger verkettet,
als der Vorstellung früherer Zeiten gegenwärtig war, immer enger
ziehen sich die Fäden zwischen uns und dem was unter uns liegt;
nicht nur körperlich, auch seelisch scheinen uns ganz dieselben
Kräfte zu beherrschen, die dort das Leben bestimmen; so wird das
Dunkel der Welt auch zum Dunkel für unser eignes Leben, eine
Notwendigkeit drängt und treibt uns, aber wie weit sie einer Ver-
nunft dient, ist nicht zu ersehen.
Nun verbleibt dem Menschen die Wendung von der Natur
zur Kultur, er kann sich ein eignes Reich aufbauen und in ihm sich
eine Größe, sowie seinem Leben einen Wert bereiten. Aber auch
hier sieht heute, wer die Sache ins Ganze faßt, mehr Verwicklung
als reinen Gewinn. Daß die Kultur den Einzelnen nicht unmittelbar
befriedigt und glücklich macht, daran zweifeln wir heute nicht; so
muß sie ihm etwas über das Glück hinaus gewähren; was aber dies
sei, das wissen wir nicht. Gewiß wächst unaufhörlich unsere Macht
über die Umgebung, sicherlich verbessern sich unablässig die Be-
dingungen unseres Daseins, Schmerz und Not werden siegreich be-
kämpft, Genüsse eröffnen sich in reichster Fülle, selbst an Dauer
gewinnt unser Leben. Aber alles zusammen gibt ihm als einem
Ganzen noch keinen Gehalt und Sinn; nach einem solchen zu fragen,
kann aber ein denkendes und überschauendes Wesen nicht lassen.
Es fehlt unserer Kultur bei aller Größe der Leistung jene Konzen-
tration des Lebens bei sich selbst, die, wie wir sahen, dem Menschen
einen festen Halt und das Bewußtsein eines inneren Zusammen-
hanges mit dem Ganzen der Wirklichkeit gab, die ihm das Leben
zu einer großen und aussichtsreichen Aufgabe gestaltete. Damit
aber fehlt uns die Möglichkeit, uns über die Verwicklungen hinaus-
^ So mag sich wohl bei Erwägung des Ganzen das aristotelische Wort
aufdrängen: r «püm? SatjjLovia, aXX' ou ö-£(« (463b, 14).
382 Letzte Probleme.
zuheben und ihnen kräftig zu begegnen, die jeder Kultur anhaften,
die aber unsere moderne Kultur in besonderem Maße zeigt Große
Komplexe entstehen, die Kräfte verbinden und verweben sich, mit
solchem Zusammenschluß befreit sich die Arbeit von der Zufälligkeit
der bloßen Individuen und gewinnt eine Selbständigkeit; kraft solcher
kann sie eigne Wege verfolgen und glänzende Triumphe feiern.
Aber zugleich sinkt der Einzelne immer mehr zu einem bloßen
Mittel und Werkzeug, und je mehr er das tut, desto mehr wird
das Ganze der Kultur seiner Seele fremd, desto weniger kann er
im Wirken für sie ein geistiges Selbst behaupten. So kann mit
größter Betriebsamkeit nach außen hin, mit atemloser Hast des
Lebens eine innere Gleichgültigkeit verbunden sein und dem Leben
die rechte Kraft und Freude fehlen. Wird es doch in lauter ein-
zelne Erscheinungen aufgelöst und beinahe sich selbst entfremdet.
Auch das ist schwer zu vermeiden, daß, wo der Kultur eine be-
herrschende und bewegende Seele fehlt, das Kleinmenschliche, das
alle Kulturentwicklung begleitet, besonders aufwuchert und besonders
stark zur Empfindung kommt: die Verquickung alles Strebens mit
kleinmenschlichen Zwecken, die durchgängige Unwahrhaftigkeit des
gewöhnlichen Betriebes, der hohe Ziele verkündet, zugleich aber
die Handelnden in erster Linie ihr eignes Wohl verfolgen lehrt;
dazu die vielfache Eitelkeit, die allen Erfolg zum Preise des kleinen
Ich verkehrt; alles das braucht nur ins Ganze gefaßt zu werden,
und es kann uns eine starke Unlust an diesem Ganzen befallen;
wir haben das Gefühl, hier Mächten gegenüberzustehen, denen wir
das Feld unmöglich überlassen dürfen, und denen gegenüber wir
doch nichts rechtes vermögen. Auch der Fortschrittsgedanke, der
zeitweilig eine Hülfe zu bieten schien, verblaßt uns bei diesen Pro-
blemen mehr und mehr; denn augenscheinlich reicht der Fortschritt
nicht in diese elementaren Verhältnisse hinein; allem Aufstreben
scheinen hier natürliche Triebe und Leidenschaften eine Grenze zu
setzen, die wir doch als Schranke peinlich zu empfinden nicht auf-
hören können. So läßt sich nicht sagen, daß der Mensch der
Gegenwart in der Kultur einen genügenden Sinn und Wert seines
Lebens findet, und daß ihn die Arbeit für sie über die Zweifel und
Nöte des Daseins sicher hinaushebt
Die Kultur bildet nicht die äußerste Grenze menschlichen
Strebens. In kühnem Aufschwung kann der Mensch sich über ihr
ganzes Gebiet erheben, sich auf seine eigne Innerlichkeit stellen, in
Der Wert des Lebens. 383
Ausbildung weltumspannender Persönlichkeit jenem ganzen Gewirr
und Schein überlegen werden, von dort aus ein unmittelbares Verhältnis
zur Wirklichkeit suchen. Das haben mit bewußtem Streben zuerst die
Stoiker unternommen, von ihnen zieht diese Denkweise sich als ein
bleibender Typus durch die weitere Geschichte, sie hat besonders
in der Aufklärungszeit stark auf die Seelen gewirkt. In anderer
Weise sucht die Religion durch die Entwicklung eines unmittelbaren
Verhältnisses zu Gott den Menschen über alle Verwicklungen des
nächsten Daseins hinauszuheben. Wir wollen hier nicht erörtern,
ob die dabei empfohlene Ablösung von der Welt und Zurück-
ziehung in die eigne Seele mit ihrer Spaltung des Daseins nicht
Gefahren und Schranken hat, wir fragen nur, ob uns heute dieser
Weg zu betreten möglich ist Jene Ablösung von der sichtbaren
Welt und vom Kreise des Menschen verlangt, um nicht ins Leere
zu fallen, den sicheren Besitz einer Innenwelt, und ein solcher kann
nur aus einem unmittelbaren Verhältnis zu einer überlegenen Macht,
möge sie als Gottheit, möge sie als Weltvemunft vorgestellt werden,
hervorgehen. Dem modernen Menschen aber ist alle Wirklichkeit einer
solchen Macht unsicher geworden. So hat bei ihm auch eine selb-
ständige Innenwelt keinen festen Grund, und er verliert damit
die Möglichkeit eines Selbständigwerdens gegen die sichtbare Welt
und das menschliche Getriebe. Das Sichgroßfühlen der Persönlich-
keit wird mit solchem Schwinden des Grundes zu einem eitlen
Dünkel und zu einer leeren Phrase; was hat denn der Mensch ohne
ein Reich selbstwüchsiger Innerlichkeit der Welt entgegenzusetzen,
die mit überwältigender Macht ihn umklammert? Ja die besondere
Art der modernen Kultur steigert noch das Gefühl der Abhängig-
keit, indem sie den Menschen in seiner Arbeit in wachsendem Maße
an seine Umgebung bindet, ihn immer mehr auf ein Wirken und
Schaffen in Reih und Glied verweist Wo aber das Vermögen des
Einzelnen als engbegrenzt und gering erscheint, da muß zugleich
der Antrieb zu eignem Beginnen sinken; dazu stellt bei mattem
Seelenstande unsere eigne Meinung uns oft noch abhängiger dar,
als wir es in Wahrheit sind, wir neigen dahin, überall Anschluß an
andere zu suchen, unser Wollen dadurch bestätigen zu lassen, nur
das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit; auch erwarten wir vieles
vom Vermögen gemeinsamer Einrichtungen, wo die Hauptsache
bei der Gesinnung des Einzelnen liegt, kurz wir drücken die
Energie des Lebens ohne zwingende Not herab. Ist bei Überwiegen
384 Letzte Probleme.
solcher Gesinnung von einem Aufruf zur Selbständigkeit viel zu
hoffen ?i
So ist der Anblick des Ganzen wenig erfreulich. Ein undurch-
sichtiges Reich der Natur umschließt und beherrscht uns, ein Reich
der Kultur strebt darüber hinaus, aber es fällt unter den Gegensatz
seelenloser Arbeit und kleinmenschlicher Subjektivität und befriedigt
daher unser Glücksverlangen nicht, gesteigerte Anspannung geistiger
Kraft möchte uns darüber erheben und uns einen sicheren Grund
im eignen Wesen geben, aber dem Wunsche entspricht nicht das
Vermögen, und der Versuch der Befreiung läßt unsere Bindung nur
noch stärker empfinden. Die unsägliche Mühe und Arbeit ver-
wandelt sich uns nicht in einen reinen Ertrag, ja sie scheint alles
Sinnes zu entbehren; was in der Erfahrung des Lebens besonders
schmerzlich berührt: innerlich Überlegenes von Niederem abhängig
zu sehen, das scheint die Gesamtgestaltung unseres Daseins uns auf-
zuerlegen. Denn wohl regt sich in ihm aufsteigende Kraft, das
Leben dringt vor und neue Ausblicke tun sich auf. Aber das Neue
und Aufstrebende gelangt nicht zur Selbständigkeit, es bleibt an
eben das gebunden, worüber es hinaus will, oft wird es dadurch zurück-
gezogen und in seinem Wirken gelähmt. Ist es ein Wunder, wenn
bei Erfahrung dessen, namentlich v/enn diese Lage als unveränder-
lich gilt, eben den tieferen Seelen der Lebensmut schwindet, und
ein trüber Pessimismus um sich greift? Wir hören ja heute viel von
Lebensbejahung reden, ja Hymnen auf das Leben singen, aber es
* Jenen Mangel an Selbstvertrauen, jenes Hoffen und Karren auf andere
schildert vorirefflich ein Artikel im Spectator über English Pessimism (11. Aug.
1906); es heißt dort S. 190: If we were to suggest the spirit which, when
we try to correct our pessimism, would be most efficacious; it would be an
increase in individual self-reliance. We are not beaten in public affairs as
we imagine we are, and there is no necessity in carrying out our works of
philanthropy for relying so entirely upon associations. We establish far too
many societies. Everybody seems too feel that before he can do anything
he needs the protection of a crowd. He cannot even denounce or defend
motor-cars unless hundreds will join him to protect him from the conse-
quences of thinking independently. The result is that every one who wants
to do something good devotes to it some fraction of his mind, some little
Chip of his energy, and that the slrength which we would derive from the
strong will of a leader is seldom or nfever present. We develop some new
and small group, not a Loyola or a Wesley. This, always the danger of
democracy, is the danger also of the mental processes of our time, and de-
prives us first and foremost of all help from mdividual genius.
Der Wert des Lebens. 385
gehört das zu den vielen, innerlich hohlen Schaustücken der Zeit-
oberfläche, es ist das eine erkünstelte Lebensbejahung, die dem Grunde
der Seele fremd bleibt, es ist wie ein Rausch, der ein unbefriedigen-
des Dasein zeitweilig vergessen machen soll. Ein derartiges Schein-
wesen kann dem Pessimismus kaum etwas anhaben.
Aber jede eingehendere Erwägung des Pessimismus zeigt, daß
er in sich selbst einen Widerspruch trägt, daß sich daher unmöglich
mit ihm abschließen läßt Ein wahrhaftiger Schmerz kann nur ent-
stehen, wo es etwas wertvolles zu verlieren gibt; wo alles nichtig und
gleichgültig wäre, da könnte auch die Versagung oder der Verlust in
keiner Weise erregen. Das ausgehende Altertum und mit ihm das
alte Christentum verfochten die Lehre, daß das Böse keine selb-
ständige Wirklichkeit, sondern nur die Wegnahme eines Guten sei,
wie z. B. erblinden nur könne, wer von Natur das Augenlicht besitzt;
sie schöpften daraus die Überzeugung von einem sicheren Über-
wiegen des Guten. ^ So einfach ist nun freilich über die Klippe
nicht hinwegzukommen, das Böse bedeutet wohl mehr als einen
bloßen Mangel. Aber richtig ist, daß eine Empfindung, und gar
eine starke Empfindung des Bösen ohne irgendwelches Gegengewicht
schlechterdings undenkbar wäre. »Wer anders findet sich unglück-
lich darüber, nicht König zu sein, als ein entthronter König", so
meint Pascal gewiß mit Recht; würden z. B. die Menschen die Ver-
gänglichkeit der Dinge und den raschen Flug des Lebens so un-
ablässig beklagen, wenn sie bloße Eintagsfliegen wären, nicht in ihnen
irgend etwas wirkte, was in sich die Forderung ewiger Dauer trägt?
So ist inmitten aller Bedrängnisse der Zeit die tiefe Empfindung
dieser Bedrängnisse ein vollgültiges Zeugnis dafür, daß der Mensch
in jene Lage nicht ganz und gar aufgeht, daß sein Wesen etwas
enthält, was ihr Widerstand leistet. Könnten wir so sehnlich eine
Befreiung von dem bloßen Kulturgetriebe erstreben, wenn nicht
etwas an uns ihm überlegen wäre? Könnte uns in der Kultur der
Mangel innerer Zusammenhänge und reiner Sachlichkeit so sehr
schmerzen, wenn unsere Natur nicht solche verlangte? Könnte das
tiefe Dunkel der Welt unserem Leben zur Einengung werden, wenn
wir nicht auf irgendwelchem inneren Verhältnis zu ihr bestehen
müßten? Unmittelbar mag uns das alles an Positivem kaum etwas
* Mit besonderem Nachdruck hat Augustin jene Lehre vertreten, nament-
lich in dem enchiridion ad Laurentium de fide, spe et caritate. Nach seiner
Bezeichnung ist das Böse nicht causa efficiens, sondern nur causa deficiens.
Eucken, Grundbeg^riffe. 4. Aufl. 25
386 Letzte Probleme.
liefern, wohl aber überzeugt es uns, daß die glatte Verneinung die
Sache nicht erschöpft, daß jenseit ihrer manches zu fragen bleibt.
Aber wir dürfen noch einen Schritt weiter gehen, wenn wir
uns das Ganze des gegenwärtigen Lebens vor Augen stellen. Auch
wie es vorliegt, geht es nicht auf in das Bild, das eine von der
grenzenlosen Ausdehnung des modernen Lebens überwältigte Ge-
sinnung von ihm entwirft; schon das, was wir haben, nicht erst er-
streben, enthält mehr, als dort den Blick und die Schätzung be-
herrscht. Ein Leben aus weltumspannender Persönlichkeit ist uns
mehr als ein frommer und matter Wunsch; wohl können wir es
nicht mit Einem Schlage erreichen, aber wir bemühen uns eifrig
darum, wir suchen auf, was solches Streben verstärken könnte, wir
möchten im besondern die großen Persönlichkeiten, welche das ge-
schichtliche Leben bietet, uns näher rücken und mit ihnen das eigne
Leben verknüpfen; mag das alles unvollkommen und unfertig sein,
eine Bewegung zu jenem Ziele ist zweifellos im Gange.
Noch deutlicher sind die Schranken der pessimistischen Be-
trachtung gegenüber der Kultur. Es ist nicht richtig, daß uns heute
nur der Mechanismus der Arbeit verbindet und uns ganz und gar
zu Stücken seines Räderwerkes macht; wir besitzen inmitten alles
Streites auch eine gemeinsame Gedankenwelt — ohne eine solche
wäre überhaupt nicht zu streiten — , uns umfängt mit geistigen In-
halten und Werten eine gemeinsame Atmosphäre, wir sehen bei
näherer Betrachtung dessen eine innere Weiterbildung und Erhöhung
des Menschen durch die Kultur; wir überzeugen uns, daß in ihr
eine neue Stufe der Wirklichkeit aufsteigt, daß hier die Welt aus
einem bloßen Neben- und Gegeneinander ein innerer Zusammenhang
wird, und daß, was hier geschieht, über die Zwecke des bloßen
Menschen weit hinausreicht. So läßt sich auch die Leistung der
Gegenwart unmöglich verstehen vom kleinen Ich des Menschen her.
Das gewaltige Vordringen der Wissenschaft und das unermüdliche
Gestalten der Kunst ist nur begreiflich als das Werk von inneren
Notwendigkeiten, die den Menschen packen und ins Schaffen treiben;
mag kleinmenschliche Art dies Schaffen noch so umspinnen, seine
Überlegenheit wird dadurch nicht gebrochen. Nicht anders steht
es mit dem praktischen Wirken der Gegenwart. Eine Zeit, die an
Erweisung humaner Gesinnung alle früheren Zeiten weit überflügelt,
die zugleich das Recht jedes Einzelnen auf Entwicklung seiner geistigen
Kraft und auf Teilnahme an den Lebensgütern bereitwillig anerkennt,
Der Wert des Lebens. 387
die der sozialen Idee so viel Macht über die Gemüter gfewährt, ist
keineswegs ganz und gar odec auch nur überwiegend vom bloßen
Egoismus beherrscht. Wir sehen dieses Große nicht klar, weil wir
die einzelnen Erscheinungen nicht kräftig genug in ein Ganzes
fassen, aber es ist da, wir müssen es gewahren, sobald uns durch
die trübe Oberfläche des Alltags hindurch die richtenden Grundlinien
hervorscheinen.
Die Anerkennung einer in der Menschheit aufsteigenden Geistes-
welt verändert aber auch den Gesamtanblick des Alls und unsere
Aufgabe ihm gegenüber. Nun bildet die Natur nicht mehr das Ganze
der Wirklichkeit, nun gewinnt diese eine größere Tiefe. Denn dar-
über kann kein Zweifel sein, daß, wenn eine solche Wendung zur
Innerlichkeit statthat, das Ganze von Haus aus mehr sein muß, als
es dem ersten Anblick erscheint. Auch die Entwicklung nimmt sich
anders aus, wenn das Geistesleben kein Erzeugnis der bloßen
Natur ist, sondern es aus der Natur nur hervorgehen kann, weil
diese eine tiefere Wirklichkeit hinter sich hat; die engere Verbindung
des Menschen mit der Natur wird dann nicht sowohl ihn herab-
drücken als die Natur erhöhen. Solche Wandlung der Grund-
anschauung muß auch der Arbeit neue Aufgaben stellen. Ist der
Mensch mit seiner Geistigkeit kein bloßes, auf einen Sonderkreis
beschränktes Einzelwesen, sondern wirkt ein Weltleben in ihm, so
tritt auch sein Erkenntnisstreben unter günstigere Bedingungen.
Denn nun läßt sich fragen, ob sich bei ihm nicht zwischen Echt-
geistigem und Kleinmenschlichem scheiden läßt, und ob sich von
jenem aus nicht eine Brücke finden mag, die uns enger mit der
Welt verbindet und sie uns mehr zur Heimat macht.
Doch solche Gedankengänge lassen sich hier nicht weiter ver-
folgen. Hier galt es nur festzustellen, daß das Weltbild des
Pessimismus nicht das Ganze der Wirklichkeit aufnimmt, sondern
nur eine gewisse Durchsicht bietet, die einer eigentümlichen Seelen-
lage entspricht, einer Seelenlage, die uns keineswegs endgültig
bindet. Es steckt weit mehr in unserer Wirklichkeit, als der Durch-
schnitt des Zeitlebens uns sehen läßt.
Freilich ist nicht zu bestreiten, daß solches Mehr erst zu-
sammengefaßt und vollauf angeeignet werden muß, um den Wider-
ständen gewachsen zu sein; jenes aber kann nur geschehen, wenn
es gelingt, wieder zu einer Selbstkonzentration des Lebens, damit zu
einem ausgeprägteren Charakter und zugleich zu einem aktiveren
25'
388 Letzte Probleme.
Verhalten zur Wirklichkeit zu gelangen.* Mit einer Wendung des
bekannten Dürerschen Wortes könnten wir sagen: «Die Vernunft
steckt in der Wirklichkeit; wer sie herausreißt, der hat sie." Aber
wir können sie nicht herausreißen, bevor sich uns selbst das Leben
zusammenschließt und sich damit unsere inneren Organe weiter-
bilden.
Es kann sich uns aber unmöglich das Positive in Leben und
Wirklichkeit zusammenschließen, ohne daß sich uns das Dasein zer-
legt, Licht und Dunkel sich schärfer scheiden, sich das ganze Leben
des Menschen wie der Menschheit in eine durchgehende Aufgabe
verwandelt. So verschwindet mit dieser Wendung die Unvernunft
keineswegs, wohl aber gewinnen wir die Möglichkeit, ihr innerlich
überlegen zu werden und damit ihrem lähmenden Druck zu
entrinnen. Woher der Widerstand stamme, woher die Herab-
ziehung des Höheren zum Niedern, woher die scheinbare Gleich-
gültigkeit des Weltlaufs gegen das, was er selbst als Ziel hervor-
zubringen scheint, das können wir Menschen unmöglich enträtseln;
die Philosophie wie die Religion haben das Problem beim Versuch
einer Lösung nur immer weiter verwickelt. So muß uns genügen und
kann uns genügen, daß bedeutendes bei uns vorgeht, und daß wir
nicht als tatenlose Zuschauer das Weltgeschick über uns ergehen
lassen müssen, sondern daß wir uns auf die Seite der Vernunft zu
stellen und zu ihrer Förderung zu wirken vermögen. Damit be-
kommt das Wort von Vauvenargues ein gewisses Recht: «Die
Welt ist, was sie für ein tätiges Wesen sein muß, voll von Hinder-
nissen." Je mehr wir uns wieder einer vollen Lebenssynthese nähern,
desto mehr läßt sich auch der Lebensmut wiedergewinnen, desto mehr
wird uns das innere Gefüge des Lebens selbst einen sicheren Halt
gegen die Unvernunft des Daseins gewähren.
Wenn so unsere Zeit mit der Ergreifung tieferer Zusammen-
hänge der Wirklichkeit wieder zu einer positiven Schätzung des
Daseins zurückkehren muß, so bleibt dabei aller Optimismus, alle
Abschwächung des Dunkels fern; wir müssen im besondern eine
nicht geringe Differenz zwischen der hier gewonnenen Lebensstimmung
und derjenigen anerkennen, welche die Höhe unserer klassischen
Literatur beherrschte. Dort schien die Welt ein Reich ungetrübter
^ Daß der von uns geforderte Aktivismus keineswegs mit der Wendung
zur praktischen Vernunft oder gar zur moralischen Betätigung zusammen-
fällt, kam schon oben zur Sprache.
Der Wert des Lebens. 339
Vernunft zu bilden, der Mensch aber die Höhe seines Lebens in der
künstlerischen Anschauung oder im denkenden Begreifen der Welt-
harmonie zu finden; die Hauptaufgabe der Menschheit war hier, zu
voller Bewußtheit zu bringen, was uns mit unbewußtem Wirken von
allen Seiten umfängt. Uns Neueren haben sich in der Natur wie
im menschlichen Leben die Probleme viel zu sehr verschärft, als
daß wir so rasch einen Abschluß wagen und aus dem Kampf
heraustreten dürften. Aber wenn wir mit solcher Erschwerung des
Daseins vieles verloren haben, wir haben eines gewonnen, das alle
Verluste mehr als aufwiegt: wir dürfen selbst zur Förderung des
Ganzen wirken, weit mehr sind wir aus Zuschauern zu Mitarbeitern
am großen All geworden.
2. Das Problem der Religion.
(Immanenz — Transzendenz.)
I |ie Behandlung des Gegensatzes von Immanenz und Transzen-
*-^ denz könnte zur Aufrollung des gesamten religiösen Problemes
führen; sie soll es um so weniger, als wir uns über dies neuerdings
wiederholt geäußert haben ;i so sei nur das der Gegenwart eigen-
tümliche Verhalten zu diesem Problem in Kürze erörtert. Auch
hier mag das Wort uns zur Sache leiten.
a) Zur Geschichte der Ausdrücke.
Die jetzt übliche Zusammenstellung von immanent und trans-
zendent reicht nicht hinter Kant zurück.^ Bis dahin standen ein-
ander immanens (auch permanens) und transiens gegenüber; seit
dem 13. Jahrhundert nannte man eine Handlung oder eine Ursache
immanent, sofern sie innerhalb des wirkenden Subjekts verbleibt,
transeunt, sofern sie darüber hinaus auf etwas anderes geht.^ So
ist das berühmte Wort Spinozas zu verstehen, daß Gott die imma-
^ S. „Der Wahrheitsgehalt der Religion", 2. Aufl. 1905, »Hauptprobleme
der Religionsphilosophie der Gegenwart", 1907.
"^ S. z. B. III, 245 (Hart.): „Wir wollen die Grundsätze, deren Anwen-
dung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, imma-
nente, diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollten, transzendente
Grundsätze nennen."
^ So unterscheidet z. B. Thomas v. Aquino eine actio manens und actio
transiens; s. Thomaslexikon von Schütz unter actio: duplex est actio, una
quae transit in exteriorem materiam, ut calefacere et secare, alia, quae manet
in agente, ut intelligere, sentire et velle. Das erstreckt sich bis in die Neuzeit.
Clauberg (op. omn. 1691, S. 322) gibt der Sache die Fassung: si ipsius rei,
quae dicitur agere, Status mutetur, est actio immanens, sin alterius, est actio
transiens. Es stammt aber diese Unterscheidung, wie der gesamte Grund-
stock der scholastischen Terminologie, von Aristoteles. S. z. B. Met. 1050a, 24:
TtTv [i£v eoyaTov r\ y^r'jii, oTov oJ/ew? ri opaat;, xa\ ouO'kv yiYvexat jrapa Tau"n)v
£T£pov aKo T^; o'ieo)«; epyov, aTi'Evi'wv 8e Yt^vexai Tt, o!ov axo xf? o?xo5o[itxf?
ot/.t'a napa x;^v oiy.oo6[xri^v/. In soIcher Unterscheidung eines Tuns, das gegen
Das Problem der Religion. 39I
nente, nicht aber die transeunte Ursache aller Dinge sei.^ Es
bedeutet, daß Gott nicht aus sich selbst heraustritt, wenn er zu den
Dingen wirkt, sondern daß er dabei bei sich selbst verbleibt, die
Welt also in sich trägt. Demnach ist hier nicht sowohl Gott in
der Welt als die Welt in Gott. Neu .gegenüber der Scholastik ist
dabei nur die Ausschließiichkeit der Immanenz, ein immanentes
Wirken neben dem transeunten hat auch jene bereitwillig aner-
kannt - Einen anderen Ausgangspunkt hat transzendent und trans-
zendental. Transzendent (transzendentia) hießen in der zweiten
Hälfte des Mittelalters die allgemeinsten Eigenschaften der Dinge,
welche nach neuplatonischer Lehre jenseit der einzelnen Kategorien
liegen. 2 Von hier aus ergab sich leicht eine Beziehung auf Gott
als das allen menschlichen Begriffen überlegene Sein; so wirkt der
Sprachgebrauch auch bis in die Neuzeit.^ Kant hat dann transzendent
und transzendental geschieden und unter Umprägung der Bedeutung
zu "V^erkzeugen seiner eigentümlichen Denkweise gemacht.*
sich selbst und eines anderen, das auf die Hervorbringung eines Werkes ge-
richtet ist, begründet sich das deutliche Auseinandertreten von praktischer
und künstlerischer Wirksamkeit. Für den Ausdruck Immanenz sei noch die
von Heman (Kantstudien VIII, 1, S. 58) angeführte Stelle des Augustin er-
wähnt (epist. 268 ad Nebr.): In se habeat haec tria et prae se gerat, primo
ut sit, deinde ut hoc vel illud sit, tertio, ut in eo quod est maneat, quantum
potest. Primum illud causam ipsam naturae ostentat, ex qua sunt omnia.
Alterum speciem, per quam fabricantur et quodammodo formantur omnia.
Tertium manentiam quandam, ut ita dicam, in qua omnia sunt.
^ Ethic. pars I, prop. XVIII: deus est omnium rerum causa immanens,
non vero transiens. In der Begründung heißt es: om.nia quae sunt in deo
sunt et per deum concipi debent, adeoque deus rerum, quae in ipso sunt,
est causa.
' Als solche gelten auf Grund der Schrift de causis zuerst die vier Be-
griffe ens, unum, verum, bonum, später außerdem res und aliquid; so sprach
man von einer unitas, veritas transcendentalis u. s. w.
' S. z. B. Bayle oeuv div. (Haag 1727) III, 871a: Si l'Origeniste repond
que les vertus de Dieu sont transcendentelles, qu'elles ne peuvent point etre
dans la meme categorie que Celles de l'homme. Transzendental im älteren
Sinne verwenden noch Ch. Wolff und Lessing. Lambert nennt transzendente
Begriffe solche, die „das Allgemeine der Körper- und Geisterwelt zusammen-
nehmen".
* Über transzendent s. 0., über transzendental sagt er (Kritik d. r. V. III, 49) :
»Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegen-
ständen, sondern mit unserer Erkenntnis von Gegenständen sofern diese
a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt."
392 Letzte Probleme,
b) Die Bewegung der Neuzeit zur Immanenz.
Der Gesamtverlauf der Neuzeit zeigt einen Zug zur Immanenz,
dessen Eigentümlichkeit durch eine Vergleichung mit der Haupt-
bewegung der griechischen Kultur besonders deutlich erhellt. Das
Griechentum wurde durch die Erfahrungen seiner Arbeit immer
weiter über die sinnliche Welt hinausgetrieben. Von der Außenwelt,
von der die Forschung begann, verlegte sich ihr der Schwerpunkt
schrittweise zurück in die Innenwelt, bis in der abschließenden
religiösen Gestaltung der Wirklichkeit bei Plotin die nächste Welt
zum bloßen Gleichnis einer unsichtbaren wurde. Die Neuzeit ver-
folgt die gerade entgegengesetzte Richtung. Galt im Mittelalter der
religiösen Überzeugung das Jenseits als das wahre Vaterland und
gab nur die Beziehung darauf dem Diesseits einen Wert, so beginnt
die Neuzeit mit dem Verlangen, das Wirken des Göttlichen mehr
innerhalb der Welt aufzusuchen, ja diese als einen Ausdruck und
Abglanz des göttlichen Wesens zu verstehen. Das ergibt zunächst
einen Panentheismus, das Bekenntnis der edelsten Geister der Re-
naissance. Bald aber verschiebt sich das weiter dahin, daß mehr
und mehr die Welt zur Hauptsache wird, daß die Gottesidee mehr
dahin wirkt, ihr eine größere Tiefe zu geben als eine neue Wirk-
lichkeit zu eröffnen. So der Pantheismus eines Giordano Bruno
und eines Spinoza. Er hat die klassische Zeit der deutschen Lite-
ratur überwältigend angezogen, indem er alle Gegensätze zu über-
brücken, im besondern die weiteste und freieste Behandlung der
sichtbaren Welt mit aufrichtiger Anerkennung einer unsichtbaren zu
verbinden versprach. Solche pantheistische Denkweise ist auch im
19. Jahrhundert keineswegs erloschen; aber wo dies seine eigentüm-
liche Art vollauf entfaltet, da neigt es weit mehr, wenn nicht zum
Atheismus, so doch zu einem Agnostizismus,^ einer Ablehnung aller
transzendenten Fragen als schlechterdings unlösbarer Probleme.
* Über den Ursprung des Ausdrucks berichtet genau R. Flint in seinem
hervorragenden Werke Agnosticism (1903). Der Schöpfer des Wortes agnostic,
aus dem dann bald agnosticism hervorging, ist Huxley. „According to Mr.
R. S. Hutton this latter word (d. h. agnostic) was suggested by Professor
Huxley, at a party held previous to the now defunct Metaphysical Society,
at iVlr. James Knowles's house on Clapham Common, one evening in 1869,
in my Hearing. He took it from St. Paul 's mention of the altar to ,the
unknown God'" (s. Hint, S. Iff.).
Das Problem der Religion. 393
Praktisch ergibt das eine wie das andere eine Ausscheidung der
Religion aus dem Leben. War also das Göttliche zuerst unserem
Dasein angenähert, dann als beseelende Kraft ihm aufs engste ver-
bunden, so verschwindet es schließlich gänzlich oder wird zu einer
unzugänglichen Ferne; so ist die Religion dem modernen Menschen
aus der allesbeherrschenden Macht zu einer Nebensache, ja zu
einer bloßen Illusion gesunken, und es hat die unmittelbar gegen-
wärtige Welt immer ausschließlicher alles Sinnen und Denken an
sich gezogen. Natürlich fehlte und fehlt es nicht an Widerständen
gegen eine solche Bewegung, schon deshalb nicht, weil jede frühere
Phase sich gegen die späteren behauptet; aufgehalten aber haben
sie jene nicht.
So tiefgehende Wandlungen bloß dem Unglauben und bösen
Willen der Individuen schuldgeben kann nur eine flache Denkweise;
sicherlich hatte die Sache tiefere Gründe in den allgemeinen Verhält-
nissen, Gründe, die unbefangen gewürdigt sein wollen. — Die ältere
Art der Religion stieß zunächst mit einem wesentlich veränderten Lebens-
gefühle der Menschheit hart zusammen. Sie entsprach einer Zeit,
wo aller Lebensmut, aller Glaube an eine irdische Zukunft ge-
brochen war, und wo man zur Religion seine Zuflucht nahm, um
dort Ruhe, Frieden und Sicherheit zu finden. Nun aber hatten
lange Jahrhunderte bei jugendfrischen Völkern einen neuen Lebens-
mut erzeugt; ein solcher wollte nicht sowohl Ruhe als Betätigung,
nicht sowohl ein sicheres Geborgensein als Wagnis, Gefahr und
Kampf; er konnte die Welt nicht verschmähen, ihn trieb es mächtig
in sie hinein, um seine Kraft an ihr zu erproben und durch sie zu
steigern. Zu solcher Wandlung der Grundstimmung kamen die
Erfolge einer Arbeit, die ihr entsprach und zu ihrer Verstärkung
wirkte. Nach den verschiedensten Richtungen hin ist die sinnlich-
nächste Welt dem Menschen bedeutender geworden, hat sie ihm sich
tiefer erschlossen und zugleich einen engeren Zusammenhang bei
sich selbst gefunden, hat sie sein Handeln stärker bewegt und zu
größeren Leistungen geführt. Die Wissenschaft zeigt die Natur unter
allgemeinen Gesetzen und in festen Zusammenhängen, sie entfernt
auch aus der Geschichte das Wunderbare und versteht sie aus ihren
eignen Verkettungen. Das gesellschaftliche Zusammensein der Mensch-
heit nimmt mehr geistige Aufgaben an sich und sucht mit Ein-
setzung gewaltiger Kraft aus unserm Dasein ein Reich der Vernunft
zu machen. Alles zusammen hat diese Welt mehr als je zuvor dem
394 Letzte Probleme.
Menschen auch geistig zur Heimat gemacht. Zugleich aber wird
seine Sonderstellung aufs ärgste bedroht. Je größer und selb-
ständiger nämlich die Welt wird, je mehr sie durch alles Wirken
und Walten eigne Gesetze erweist, desto kleiner, desto verschwinden-
der wird ihr gegenüber der Mensch. Bei solcher Kleinheit können
unmöglich die ihm eigentümlichen Größen die Wirklichkeit fassen
und seelisch nahebringen. Rückt so die Welt bei aller äußeren
Annäherung innerlich in weite Ferne, so entfällt alles innere Ver-
hältnis zu ihren Gründen, so droht alle Religion ein bloßer Anthro-
pomorphismus zu werden und zur Mythologie zu sinken. Auch
wo die Religion sich behauptet, rückt sie leicht aus dem Zentrum
des Lebens in seine Peripherie, und wird sie aus einer natürlichen,
beinahe selbstverständlichen Überzeugung zu einer kühnen, mühsam
haltbaren Behauptung. So ist es kein Wunder, daß die Stimmen
derer, die alles Überschreiten der Erfahrung verwerfen und alle Auf-
gaben «immanent" fassen wollen, sich immer lauter erheben und
ein wachsendes Echo finden; nie dürfte die Verneinung der Religion
so in die Massen gedrungen sein, nie so viel Antipathie gegen sie
gewaltet haben, wie es heute der Fall ist Mag der eine in ihr
mehr eine Hemmung klarer Einsicht, der andere eine Lähmung der
Tatkraft, der dritte eine Unterdrückung freudigen Lebensgefühls er-
blicken: hier wie dort dünkt sie ein verderblicher Wahn, der mit
allen Kräften auszutreiben sei. Ist das der endgültige Abschluß des
alten Problems, oder ist es eine bloße Woge der Zeit, die vorbeigehen
und vielleicht das gerade Gegenteil der eignen Absicht bewirken wird?
c) Die Verwicklungen im Begriffe der Immanenz.
Ihre Stärke hat die Bewegung gegen die Religion vornehmlich
im Angriff; sobald sie ihr eignes Vermögen zeigen und von sich
aus das Leben gestalten soll, erscheinen Verwicklungen über Ver-
wicklungen. Erschreckend dürftig pflegt zu sein, was als Ersatz der
Religion geboten wird, und selbst dies Dürftige ist zum guten Teil
auf fremdem Boden gewachsen und von dort aus zugeführt. Die
«immanente" Lebensführung und Weltanschauung pflegt keineswegs
aus reiner Erfahrung zu schöpfen, sondern sie idealisiert diese un-
vermerkt, sie mischt ihr etwas bei, was einer ganz anderen, nämlich
der pantheistischen Denkweise angehört; ein Pantheismus verblaßter
Gestalt hat sich der einzelnen Gebiete bemächtigt und gilt dort
als selbstverständlich. Er pflegt dabei kein offenes Bekenntnis zu
Das Problem der Religion. 395
wagen, sondern seine Erhöhung der Dinge eher zu verstecken, er ist
mit solcher Unklarheit gegenüber dem Pantheismus eines Spinoza und
eines Goethe ein unechter und schlechter Pantheismus. Ein solcher
schlechter Pantheismus erscheint in einer monistischen Naturphilo-
sophie, welche unbedenklich die Natur beseelt und als einen hohen
Wertbegriff behandelt; er erscheint in einer Geschichtsphilosophie,
welche bloße Massenbewegungen Vernunft erzeugen läßt und eine
Evolution zur Vernunft verkündet, obwohl dieser Begriff in ihrer Ge-
dankenwelt keinerlei Grundlage hat; er erscheint in politischsozialen
Bewegungen, die den Menschen wie er leibt und lebt als edel und
groß behandeln. Überall ein verstecktes Idealisieren der Erfahrung,
zugleich aber ein Abschleifen der Gegensätze, ein Verkümmern der
eigentümlich geistigen Art, ein Einschläfern aller Selbsttätigkeit.
Auch wissenschaftlich angesehen ist der Begriff der Immanenz
nicht so einfach wie er sich zu geben pflegt. Was ist denn die
nächste Wirklichkeit, die uns ganz und gar einnehmen soll, was ist
wirklich an uns selbst? Ist es der unmittelbare Befund des Neben-
einander, wenn er völlig rein herausgestellt wird? Dann müßten
wir uns in einen Haufen, ein Bündel einzelner Empfindungen auflösen;
das aber geht aus dem einfachen Grunde nicht, weil es freischwebende
Empfindungen überhaupt nicht gibt, sondern immer nur Empfind-
ungen eines Ich, meine und deine Empfindungen, nicht Empfind-
ungen an sich. So werden wir von der Empfindung immer wieder auf
eine zusammenhaltende Einheit gewiesen, es erscheint in unserem
eignen Bereich ein Gegensatz, und es wird zur Frage, wo der Kern
des Lebens liegt. Reicht aber das Problem so weit zurück, und
erscheint bei uns selbst eine Abstufung, so erhellt deutlich, wie
wenig mit dem Schlagwort der Immanenz gewonnen wird.
Beim religiösen Problem im besondern geht gewiß mit gutem
Recht der Zug der Neuzeit gegen die mittelalterliche Transzendenz
mit ihrer Verdopplung der nächsten Welt, aber damit ist keineswegs
entschieden, daß unser ganzes Leben eine einzige Fläche bildet. Es
könnten Abstufungen notwendig werden, ja es könnte eine Um-
kehrung dahin erfolgen müssen, daß, was uns zunächst als der
sichere Boden unseres Lebens und Wirkens gilt, selbst einen Halt
in einer tiefer gegründeten Welt erst zu suchen hätte. Was ist denn
die Wirklichkeit, die unser ganzes Leben und Streben umfassen soll?
Die Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks dafür zu erklären, das
hieße den großen Vorkämpfern der Im.manenz, einem Spinoza und
396 Letzte Probleme.
einem Goethe, schroff widersprechen, das hieße die seeHsche Tiefe
der gesamten modernen Kultur verkennen. Die Anerkennung einer
von geistigem Leben getragenen WirkHchkeit aber erzeugt sofort die
Frage, ob jenes den ganzen Umkreis unmittelbar an sich zieht, ob
es nicht draußen und drinnen auf Hemmungen stößt, deren Über-
windung, ja Bekämpfung es erst nach weiterer Kräftigung und mit
Hilfe weiterer Zusammenhänge unternehmen kann. Namentlich ist es
die Tatsache der vielfachen Unvernunft im Natur- und Menschenleben,
an der jedes System ausschließlich immanenter Vernunft mit seinem
Pantheismus scheitert. Denn hier bleibt nur die Wahl, entweder
die Unvernunft wegzudeuten und abzuschwächen, sie möglichst
aus den Augen zu rücken, oder sie als ein Grundelement der
Wirklichkeit anzuerkennen und damit für unangreifbar zu erklären.
Entweder also eine Tendenz zum Optimismus mit seiner verflachen-
den Art, oder zum Pessimismus mit seiner Verneinung und schließ-
lichen Verzweiflung. So einfach liegen demnach die Dinge nicht,
wie das Verlangen nach Immanenz es darstellt. Hüten wir uns, ein
Weltbild deshalb für wahr zu erklären, weil es sich unserer Vor-
stellung als das glatteste und bequemste empfiehlt. Denn was anderes
wäre das als eine neue Art von Anthropomorphismus, die das mensch-
liche Wollen und Wünschen zum Maßstab der Wirklichkeit macht?
d) Das Wiedererwachen des religiösen Problems.
So erscheinen arge Verwicklungen beim Versuch eines Aufbaues
des Lebens ohne alle Religion. Aber das würde eine derartige Be-
wegung noch keineswegs hemmen; sehr viel Unklarheit und Wider-
spruch läßt sich ertragen, wenn der Zug des Lebens kräftig und
selbstbewußt ist. Nun aber ist ein Wiederaufsteigen des religiösen
Problems inmitten aller leidenschaftlichen Befehdung der Religion
heute nicht zu verkennen; das Vordringen der Verneinung in immer
breitere Massen hindert nicht, daß auf der Höhe des Geisteslebens
die Religion wieder weit mehr das Denken beschäftigt und Leiden-
schaften erregt; es ist einmal so, daß in derselben Zeit verschiedene
Strömungen durch- und gegeneinandergehen können, und daß dabei
der Unterstrom dem Zuge der Oberfläche direkt widersprechen mag.
Um aber der Tatsache eines Wiederaufsteigens der Religion gewiß
zu werden, brauchen wir nur unsere Zeit mit der unserer Klassiker
zu vergleichen; dort war die Religion mehr eine freundliche Um-
säumung des Lebens, heute ist sie in seinen Mittelpunkt getreten,
Das Problem der Religion. 397
entzweit sie die Menschen bis zu härtestem Kampf, fließt sie in die
Behandlung aller Angelegenheiten ein, übt sie im Ja wie im Nein
eine gewaltige Kraft. Denn auch die Verneinung ist heute nicht
der Art, daß die Religion als etwas welkes und greisenhaftes ruhig
bei Seite geschoben würde, sondern die stürmische Leidenschaft des
Angriffs zeigt sie deutlich genug als etwas noch sehr Reales, Kräf-
tiges und Wirksames. Vielleicht besagt sogar die Verneinung selbst
oft weniger eine völlige Ablehnung der Religion, als sie ein Verlangen
nach einer anderen, einfacheren, den Bedürfnissen der Gegenwart an-
gemesseneren Art der Religion bekundet. Jedenfalls erscheint danach
die Religion nicht wie ein mattes Licht, das langsam und still verglimmt.
Was mag es sein, das diesen Umschlag herbeigeführt hat?
Schwerlich war er die Frucht von apologetischer Arbelt. Denn
diese pflegt vorwiegend auf solche zu wirken, welche schon ge-
wonnen sind; sie mag befestigen und zusammenhalten, vorzudringen
ist nicht ihre Art. In Wahrheit ist es ein Rückschlag im modernen
Lebeh selbst, in dem die Bewegung wurzelt; eben indem jenes Leben
mit seiner Weltfreudigkeit sich frei entfalten und sein volles Ver-
mögen einsetzen konnte, sind seine Schranken, ja ist seine Ohnmacht
gegenüber den letzten Fragen deutlich geworden; wieder einmal
erfahren wir jene indirekte Beweisführung der Weltgeschichte,
welche durch die Verneinung hindurch, durch das ungehemmte
Sichausleben des Gegenteils, die Unerläßlichkeit einer Behauptung
zwingend erweist. Die Richtung des Lebens auf das unmittelbare
Dasein hat viel Wahn und Aberglauben ausgetrieben, viel sonst
schlummernde Kraft erweckt, jenes Dasein in mannigfachster Weise
gefördert und weitergebildet. Aber was immer in dieser Richtung
geleistet wurde, das ist vorwiegend peripherer Art, es hat die Be-
dingungen unseres Lebens verbessert, nicht aber das Leben selbst
vertieft; aus aller unsäglichen Arbeit steigt daher schließlich eine
innere Leere auf, und damit muß alles jenes Bemühen als unzu-
länglich erscheinen. Die Ablehnung aller und jeder unsichtbaren
Zusammenhänge gestaltete die Kultur mehr und mehr zu einer
bloßen Menschenkultur; das mochte so lange keinen Anstoß erregen,
als das Menschsein selbst als ein hoher Idealbegriff galt und in ver-
klärter Gestalt gesehen wurde.^ Das aber geschah unter dem Ein-
^ So machte in vornehmster Weise Herder die „Humanität" zum all-
umfassenden Ideal. „Der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung,
als Er selbst ist."
398 Letzte Probleme.
fluß derselben Denkweise, die jetzt als eine Verfälschung der Wirk-
lichkeit abgelehnt wird; so muß mit ihrem Schwinden auch jene
Verklärung fallen, der Mensch in seiner natürlichen Beschaffenheit
ohne Hülle erscheinen und zum einzigen Maß alles Wahren und
Guten werden. Nun hat aber eben das moderne Leben mit seiner
Entfesselung aller Kräfte so viel Unerquickliches, Trübes und
Niederes aufgewühlt, es stellt uns das Kleine und Scheinhafte einer
bloßen Menschenkultur so sichtlich vor Augen, daß die Hoffnung
immer geringer wird, von hier aus einen zusagenden Lebensstand
erreichen und dem menschlichen Dasein einen Sinn und Wert ver-
leihen zu können. Immer mehr greift die Empfindung um sich, daß
im Menschen etwas steckt, was durch jenes immanente Kulturleben
nicht belebt wird, und daß jenes Verkümmerte etwas Unentbehr-
liches, vielleicht das Beste von allem ist.
So erwächst ein Verlangen nach einer inneren Wandlung des
Menschen, nach einer Befreiung von der kleinen Art, die ihn.
festhält und niederdrückt; eine neue Zeit ist gekommen, es treibt
einmal wieder von einer bloßen Menschenkultur zu einer wesen-
erhöhenden und umbildenden Geisteskultur; das aber führt mit Not-
wendigkeit zur Forderung einer neuen Wirklichkeit und damit auf
den Weg der Religion.
Zunächst freilich ergibt es eine höchst verworrene Lage. Während
von innen her eine neue Art des Lebens und Seins verlangt wird,
hält unser Verstand und unsere Arbeit uns beim unmittelbaren Da-
sein fest; wir möchten etwas Höheres, aber wir finden keinen Weg
dahin und können doch vom Ziele nicht lassen. So werden wir
vom einen zum andern hin- und hergeworfen und widersprechen
unablässig uns selbst. Aber bei aller Unfertigkeit und allem Unbehagen
ist wenigstens das eine gewonnen, daß wir aus dem vermeintlichen
Besitz wieder in ein Suchen, ein redliches und eifriges Suchen
gekommen sind, daß die alten und ewigen Fragen mit frischer
Kraft wieder aufsteigen. Wie sich das freilich weitergestalten wird,
das liegt an vielfachsten Bedingungen des Menschen und des Ge-
schicks; darüber kann erst die Zukunft entscheiden.
e) Forderungen für die gegenwärtige Lage der
Religion.
Beim Überblick der gegenwärtigen Lage der Religion fällt als
bemerkenswert besonders die Tatsache ins Auge, daß zwischen der
Das Problem der Religion. 399
überkommenen kirchlichen Form der Religion und einer univer-
saleren Bewegung zur Religion aus dem eignen Streben der Zeit
eine schroffe Spannung besteht; es gibt heute viele, welche religiös,
aber durchaus nicht kirchlich sein wollen, welche sich ebenso sehr
von der Kirche abgestoßen als von der Religion angezogen fühlen.
Den nächsten Grund dessen mag man darin suchen, daß zwischen
der überkommenen Form des Christentums und dem Kulturleben der
Gegenwart eine weite Kluft besteht, die ein gegenseitiges Verständnis
aufs Äußerste erschwert. Das Weltbild hat sich wesentlich ver-
ändert, namentlich ins Große und Außermenschliche verschoben, die
ältere Gefühlslage erscheint dem modernen Menschen als zu weich
und zu matt, die Zeit stellt ihm neue praktische Aufgaben, die seine
ganze Kraft verlangen; während das alte Christentum einer ermüdeten
und eingeschüchterten Menschheit neue Kraft und frischen Lebens-
mut zuzuführen suchte, hat jetzt die Religion mit einer Menschheit
starken Lebensdranges und rastlosen Wirkens zu tun. Die Haupt-
sache aber und was vornehmlich dem Widerspruch seine Schärfe
gibt, ist dieses, daß sich der Zeit nicht mehr aus eigner Erfahrung
das Leben in die eine Frage zusammenfaßt, deren Beantwortung
den Kern des Christentums bildet: in die Frage der moralischen
Rettung, der inneren Befreiung und Erneuerung der Menschheit.
Vor all dem Wirken und Schaffen in die sichtbare Welt hinein und
vor jugendlich frischem Kraftgefühl ist jene Frage der modernen
Menschheit verblaßt; wo aber der Frage die volle Kraft und Ur-
sprünglichkeit fehlt, da muß auch die Antwort die Herzen gleich-
gültig finden, da verdunkelt sich das Recht und die Notwendigkeit der
Sache, da wird hingegen alles grell in die Augen fallen und leicht
die Schätzung beherrschen, was die überlieferte Fassung an Un-
voUkommnem enthält. Endlich hat wohl auch bei uns Deutschen
die Abhängigkeit der Kirche vom Staate und die ihr vom Staate
gewährte Hilfe viel dazu beigetragen, jener die Gemüter innerlich
zu entfremden. Denn bei den anderen germanischen Völkern ist
die Entfremdung anscheinend nicht so groß.
So ist es begreiflich, daß die neu aufsteigende religiöse Be-
wegung ihre eignen Bahnen sucht. Vor allem erstrebt sie der
älteren Art gegenüber, die ihr zu eng und gebunden dünkt, eine
größere Weite, eine möglichste Universalität, mehr Offenheit
für die Weltumgebung; sie sorgt sich weniger um die Verwick-
lungen im eignen Innern des Menschen als um sein Verhältnis zum
400 Letzte Probleme.
All; dieses möchte sie ihm innerlich naherücken, seine Unendlich-
keit ihn miterleben, seine Schönheit ihn genießen lassen; in solcher
künstlerischen Stimmung scheint sich eine Befreiung von allem
Kleinmenschlichen zu vollziehen und die Seele im reinen Äther des
Alls sicher und selig zu schweben.
Solches Streben gegen ein Sicheinspinnen des Menschen in die
bloße Menschlichkeit, solches Verlangen zum All bedeutet eine
wesentliche Seite der Religion und hat in ihrer Geschichte be-
deutende Wirkungen geübt. Aber eine andere Frage ist, ob, was
hier aufstrebt, die Gesamtaufgabe der Religion zu lösen und damit
alle geschichtliche Gestalt zu verdrängen und ersetzen vermag. Wird
nämlich das Neue streng auf sein eignes Vermögen beschränkt und
nicht stillschweigend durch das von der geschichtlichen Religion ge-
botene Leben in mannigfachster Weise ergänzt, so kann alle Weite
und Freiheit eine starke Vagheit und Leere nicht wohl verdecken.
Diese Art der Religion dringt über feine und zarte Stimmungen
nicht vor zu einer echten Tatsächlichkeit; statt dem Menschen eine
neue Welt zu eröffnen, stellt sie ihm nur die vorhandene Welt in
eine liebenswürdigere Beleuchtung, oder umsäumt sie sein Leben
mit gefälligen Stimmungen, welche Mußestunden angenehm ausfüllen
mögen, die aber gegenüber dem Ernst des Lebens in kläglicher Weise
versagen. Denn nun und nimmer wird damit eine Weiterbildung
der Seele erreicht, werden Kräfte entbunden, die von Not und
Schuld befreien, wird dem Leben ein fester Halt geboten, wird die
Menschheit durch eine bei sich selbst befindliche Innenwelt zu-
sammengeführt. Schöne Bilder, schöne Aussichten, aber Bilder, die
den bloßen Entwurf nicht überschreiten können ! Die hier erwachsende
ästhetisch -pantheistische Stimmung mag wertvolle Anregungen und
Vorbereitungen liefern, der Hauptaufgabe der Religion ist sie nicht
gewachsen; was sie an Wahrheit enthält, das muß sich mit anderem
und festerem verbinden, um zur Förderung zu wirken.
Aber so wenig jene neue Art der Religion befriedigen kann,
es bleibt die Tatsache des Widerspruchs gegen die kirchliche Form,
es bleibt ein Spalt im religiösen Leben und Streben der Gegenwart;
unabweisbar wird damit die Frage, ob und wie sich zu seiner
Überwindung arbeiten läßt. Sollen sich die Zeit und die Religion
wieder zusammenfinden, so muß die Zeit der Religion eine Frage
entgegenbringen, so muß diese sie aber in einer Weise beantworten,
welche anzunehmen der Zeit nicht unmöglich ist; dazu aber wird
Das Problem der Religion. 401
es auf beiden Seiten erheblicher Wandlungen oder doch Weiter-
bildungen bedürfen. Nur dann wird das Verlangen der Zeit nach
Religion wieder stark und überwältigend werden, wenn jene im
menschlichen Leben große innere Verwicklungen erkennt und zum
eignen Erlebnis macht, und wenn sie zugleich die Spitze dieser
Verwicklungen im moralischen Probleme findet. Aber andererseits
muß auch die Religion das moralische Problem nicht nach der Enge
des unmittelbaren Eindrucks, sondern als den Gipfel einer allum-
fassenden Bewegung verstehen und behandeln; damit wird sie selbst
eine breitere Grundlage gewinnen und der Partikularität entgehen,
die ihr sonst unvermeidlich anhaftet. Hat an diesem Zentralpunkt
die Religion einen sicheren Kontakt mit dem innersten Streben
der Zeit gewonnen, und ist sie dabei ihrer eignen Grundtatsache
klar und sicher geworden, so kann sie ohne Gefahr ihren über-
kommenen Bestand einer Prüfung daraufhin unterziehen, was in
ihm wesentlich und unwandelbar, was aber nebensächlich und den
Wa'ndlungen der Zeit unterworfen ist. Vor allem muß die Religion
sich kräftig auf ihr eignes Wesen besinnen und sich fest in ihm
verschanzen. Ihrer letzten Absicht nach bringt sie dem Menschen
nicht intellektuelle Aufklärungen über die Welt, sie erweckt auch
nicht bloß neue Gefühle oder stellt neue praktische Aufgaben, sondern
sie eröffnet aus einem direkten Verhältnis zum tiefsten Grunde des
Seins, zur beherrschenden Urkraft des Lebens ein neues Leben,
ja eine neue Welt; sie führt den Beweis dieses neuen Lebens an
erster Stelle durch die Tatsächlichkeit seiner weltgeschichtlichen Ent-
wicklung, durch die Umgestaltung der Wirklichkeit, die unablässig
von ihm ausgeht; darauf freilich muß sie dringen, daß das hier ge-
botene Leben als die beherrschende Seele alles Lebens, als die un-
erläßliche Bedingung aller Geistigkeit anerkannt wird. Aber so sehr
dies Leben seinem Grunde nach überzeitlicher Art ist, seine Ent-
faltung auf dem Boden der Menschheit steht unter den Bedingungen
der Zeit und Geschichte; es muß sich mit ihnen auseinandersetzen,
es kann das, ohne sich selbst zu verlieren, nur, wenn bei ihm
zwischen Substanz und Daseinsform deutlich geschieden wird; denn
dann wird eine Unwandelbarkeit der Substanz mit einer geschicht-
lichen Bewegung der Daseinsform vereinbar. Hier nun liegt eine
besonders wichtige und schwierige Aufgabe der Gegenwart, es gilt
eine der weltgeschichtlichen Lage des Geisteslebens — nicht den
bloßen Strömungen der Zeitoberfläche - entsprechende Daseinsform
Eucken, Grundbegriffe. 4. Aufl. 26
402 Letzte Probleme.
der Religion zu gewinnen, ohne darüber ihre Substanz zu verlieren
oder auch nur irgend abzuschwächen.^
Diese Verständigung zwischen Christentum und Neuzeit ist aber
minder leicht, als sie manchen erscheint. Vor allem ist dazu nötig,
daß der große Wandel der Zeiten mit allem, was in ihm an inneren
Notwendigkeiten liegt, volle Anerkennung und Würdigung finde.
In der gewöhnlichen Apologetik geschieht das nicht Sie faßlr nicht
die Sache ins Ganze, sondern sje verbleibt bei zerstreuten Punkten,
sie versetzt sich nicht in den anderen hinein, sondern behandelt
ihn gänzlich von außen her, sie operiert mit bloßen Möglichkeiten,
indem sie zeigt, daß die moderne Bewegung noch immer gewisse
Wege offen lasse, die bei gutem Willen wohl mit dem kirch-
lichen Glauben vereinbar seien, sie gerät damit immer mehr ins
Künstliche hinein, ja sie kommt in die Gefahr einer inneren Unwahr-
haftigkeit; man mag hier des Hume'schen Wortes von der Vergeb-
lichkeit eines Unternehmens gedenken, einen Durchbruch des Ozeans
mit Strohwischen verstopfen zu wollen. Auf diesem Wege wird
nun und nimmer die Religion die erstrebte Stellung im Ganzen des-
Lebens wiedererringen, nun und nimmer kann sie so die schlichte
Einfalt, die seelische Nähe, die sichere Überzeugungskraft erlangen, ohne
die ihre Aufgabe sich nicht lösen läßt. Ein Unsicherwerden der
Religion in der Gegenwart ist nicht zu verkennen und sei nicht ver-
dunkelt. Der christliche Lebenstypus ist heute der Menschheit keines-
wegs mit solcher überzeugenden Nähe gegenwärtig, daß ihn sowohl
jeder einzelne unmittelbar ergreifen und erfahren, als von ihm die
Gesamtgestaltung des Lebens mächtige Einflüsse empfangen
könnte. Wo die Religion so viel Fremdes und Veraltetes mit sich
schleppt, wo vielfach der Schutt von Jahrtausenden die ewigen Wahr-
heiten verdeckt, da kann die Religion nicht ihre volle Kraft mit
siegesgewisser Zuversicht entfalten, da kann sie keine axiomatische
Gewißheit haben, da wird sie selbst durch Angriffe von kläglicher
^ Weshalb uns das Christentum bei allem, was an ihm vergänglich ist,
einen unvergänglichen Kern zu enthalten, und es daher keines Bruches mit
ihm zu bedürfen scheint, darüber haben wir uns in den religionsphiloso-
phischen Werken näher geäußert. Hier sei nur noch gesagt, daß uns kaum
ein Unterfangen so töricht erscheint als das, eine Religion durch bewußte
Reflexion bereiten zu wollen. In allen anderen Gebieten haben wir eine
derartige Denkweise der sich verflachenden Aufklärung glücklich über-
wunden, gerade das allerinnerlichste Gebiet aber, das sie am wenigsten ver-
trägt, muß sich ihrer noch immer erwehren.
Das Problem der Religion. 403
Flachheit beunruhigt, die an einer gefestigten und selbsterlebten Über-
zeugung ohne weiteres abprallen müßten. So bedarf sie dringend
einer durchgreifenden Revision, einer energischen Freilegung ihrer
beherrschenden Grundlinien, einer Abstoßung alles dessen, was welk
und morsch ward, sie bedarf dessen besonders in ihrem eignen
Interesse. Eine solche Aufgabe aber kann nur im Elemente voller
Freiheit gelingen.
Aber zugleich muß auch die Substanz der Religion energisch
gewahrt, zu kräftiger Betätigung aufgerufen, zur Scheidung von Echtem
und Unechtem, von Wesen und Schein im Befunde der Zeit ver-
wandt werden. Ohne eine Selbständigkeit gegen die Zeitlage kann
die Religion nichts Bedeutendes leisten; im besonderen steht das
Christentum mit seiner Verneinung nicht freilich der nächsten Welt
schlechthin, wohl aber eines letzten Abschließens bei dieser Welt in
unversöhnlichem Gegensatze zu einer bloßen Daseins- und Menschen-
kultur, wie sie den Hauptzug des modernen Lebens beherrscht. Hier
ist "keinerlei Ausgleichung möglich, sondern nur ein ehrlicher Kampf;
gewiß muß auch er einen schließlichen Frieden ins Auge fassen, aber
es macht für das Ergebnis einen gewaltigen Unterschied, ob der Gegen-
satz vor allem zunächst mit voller Klarheit herausgestellt, oder ob er
von vornherein abgeschwächt wird. Hier findet sich nun auf dem
Boden des Protestantismus viel schwächliche Konnivenz und viel ängst-
liche Reverenz gegen die moderne Kultur, als sei sie im Ganzen ihres
Seins schon eine ausgemachte Wahrheit und nicht selbst voll schwerer
Probleme; man scheut alles kräftige Nein, als könne ein Ja von Wert
sein, aus 'dem nicht ein Nein hervorspringt; man denkt zu klein von
der eignen Sache und kommt daher natürlich nicht weiter. Bescheiden-
heit mag den Menschen zieren, für die Sache kann sie zum Unrecht
werden. Eine Religion von Gnaden der bloßen Kultur, eine Religion,
die gar allen Wandlungen der Zeitoberfläche folgeleistet, ist ein kläg-
liches und haltloses Ding. So muß das Verlangen nach mehr
Freiheit und Ursprünglichkeit sich mit dem nach mehr Tiefe ver-
binden; in der Sache ist das möglich, es liegt nur am Menschen, es
zu erreichen. So zeigt sich auch hier, daß freilich die Lage der
Gegenwart voller Verwicklungen und Widersprüche ist, daß wir
aber diesen keineswegs wehrlos ausgeliefert sind, sondern bei Auf-
bietung geistiger Kraft über sie hinauskommen können.
26*
Schlußwort
\ V/ir haben verschiedene Gebiete durchwandert und verschiedene
^^ Probleme behandelt, soweit es im Plan unserer Arbeit lag. Wir
überzeugten uns dabei von der überströmenden Fülle des Lebens,
das unsere Zeit durchdringt; eine greisenhafte Zeit ist es wahrlich
nicht, die so bedeutende Probleme hat und so h-ervorragende
Arbeit leistet. Aber es ist, auf den geistigen Gehalt und die Haupt-
richtung angesehen, eine durchaus unfertige Zeit; sie ist das
aber namentlich deshalb, weil dem unermeßlichen Zustrom des
Stoffes die Kraft des Zusammenfassens nicht entspricht, weil die
Expansion des Lebens seine Konzentration bei weitem überwiegt.
Aber wir sahen zugleich, daß das nicht wie ein starres Schicksal
hingenommen zu werden braucht, daß vielmehr das Leben der Gegen-
wart auch voller Möglichkeiten ist, die eine Synthese vorbereiten
und fördern können; nur muß ein vordringendes Schaffen diese
Möglichkeiten ergreifen und weiterführen. Wir sahen dabei weiter,
daß das nicht unmittelbar aus der «gegebenen" Lage heraus ge-
schehen kann, daß es vielmehr dazu eines Überlegenwerdens gegen
diese Lage, der Erreichung eines neuen Standorts des Lebens, einer
Umkehrung des nächsten Daseins bedarf; eine solche Umkehrung
aber geigte sich möglich und nicht anders möglich als durch ein Selb-
ständigwerden des Geisteslebens; so führten alle einzelnen Punkte
darauf zurück, und an jeder Stelle kam zur Sprache, wie die Über-
zeugung von solcher Selbständigkeit die Aufgabe verändert und ihre
Lösung anbahnt.
Bei solchem Gedankengange drängt die Betrachtung der Zeit
über den eignen Befund der Zeit hinaus zum Ausblick in die Zu-
kunft; daß wir aber aus der Zerstreuung in vielfache Aufgaben zu einer
allumfassenden Aufgabe, von betrachtender und zerlegender Reflexion
zu mehr schöpferischer Synthese, von überwiegender Hingabe an
die Außenwelt zu mehr Leben bei uns selbst und mehr innerer
Selbständigkeit gelangen, dazu nach bestem Vermögen mitzuwirken
ist auch die Philosophie berufen.
Sachregister
Abstrakt, Geschichte des Begriffes
55 ; — Macht abstrakter Begriffe in
der Gegenwart 55.
Agnostizismus, Ursprung des Aus-
drucks 392.
Aktivismus, sein Unterschied vom
Pragmatismus 51.
Aktuell, Geschichte des Wortes 220 ;
— Zurückweisung der landläufigen
Aktualität 220.
Allegorische Deutung, ihre Wirk-
ung auf das logische Denken 58.
Allgemeinbegriffe, ihre einge-
wurzelte Überschätzung 54 ff.
Allgemeines Stimmrecht, wann
zuerst gefordert 290.
Altertum (s. Griechentum) sein In-
tellektualismus 39; — was an ihm
zu verschiedenen Zeiten geschätzt
263 ff.
A priori — a posteriori, Aus-
druck und Begriff 84 ff.; — mo-
derne Verflachung abgewiesen 86.
Arbeit, Eigentümlichkeit und Pro-
bleme der modernen Arbeit 18 ff.,
73 ff.
Arbeitswelt (des Menschen) 113ff.
Ästhetizismus 336ff.
Aufklärung, ihr Intellektualismus
41; — ihre Scheidung von Natur
und Seele 173; — ihre Stellung zur
Geschichte 254; — Folgen ihrer
Ungeschichtlichkeit 261 ff.; — ihre
Fassung des Geisteslebens 271.
Ausgangspunkt der Erkenntnis-
arbeit, wo gesucht 64ff., 222.
Beharrungslehre (im Altertum
und Mittelalter) 194 ff.
Beharrungs- und Bewegungs-
lehre, ihr Kampf 216; — drei ver-
schiedene Lebenstypen dabei 223 ff.
Bevölkerungszunahme, ihre Be-
deutung für die Auffassung der
Geschichte 214.
Bildung, Geschichte des Begriffs
und Ausdrucks 232 ff.
Charakter, Geschichte des Aus-
drucks 355 ff.; — Erörterung aus
der Lage der Zeit 358 ff.
Christentum, seine Stellung zum
Intellektualismus 39 ff.; — seine
Steigerung der Geschichte 197.
Demokratismus, seineEntwicklung
313ff.; — seine Bedeutung und
seine Schranke 317 ff.
Denken, Verschiedenheit seiner ge-
schichtlichen Stniktur 58.
Denknotwendigkeit, Kritik ihres
Vermögens 94 ff.
Determinismus, seine verschiede-
nen geschichtlichen Formen 363 ff.
— sein Wachstum im 19. Jahr-
hundert 364 ff.; — seine Voraus-
setzungen 368; — sein Bild der
Wirklichkeit 372.
Diskontinuitätsphilosophie (in
Frankreich) 146.
406
Sachregister.
Dualismus, das Wort 170; — sein
Hervortreten in der Neuzeit 173;
— Dualismus innerhalb des Monis-
mus der Gegenwart 190.
Empirismus, sein Erkenntnisbild
88, 90; — sein Recht und sein Un-
recht 117ff.; — sein Ungenügen
für die Gegenwart 124.
Energie, Definition von Ostwald
141 ; — geistige Energie = Lebens-
konzentrationen 60, 62.
Entwicklung, Ausdruck 192ff.; —
ihr Aufkommen und Vordringen
197 ff.; — drei Hauptphasen der
Entwicklungslehre (religiöse, künst-
lerische, empirische) 198 ff.; —
neuer Lebenstypus 204 ff.; — Schei-
dung von Entwicklung und Evolu-
tionismus 204 ff., 226; — Gefahren
des Evolutionismus 210, 215.
Erfahrung, Ausdrücke 84; — ihre
zwiefache Bedeutung für das Er-
kennen 114 ff.; — ihre Schwierig-
keit auf dem Gebiet des Geistes-
lebens 120.
Erfahrung und Denken, irre-
leitender Sprachgebrauch 119.
Erkennen, seine Abhängigkeit vom
Lebensprozesse 56 ff. ; 100 ff .; 1 1 1 ff. ;
— Kampf über seinen Ursprung
87; — Erkennen unterschieden vom
Kennen 99; — inwiefern imma-
nenter Art 113; — inwiefern auf
Erfahrung angewiesen 114, — ver-
schiedene Stufen 116; — wo die
letzte Entscheidung darüber 121 ff.
Erkenntnislehre (moderne), ihr
Einfluß auf das Weltbild 187.
Evolution (s. Entwicklung), Aus-
druck 192ff.; — evolutionistische
Ästhetik, Ethik, Rechtslehre 212 ff.
Fortschritt, Ausdruck 200; — Auf-
kommen und Durchdringen der
Idee 199ff.; — seine Verschieden-
heit in verschiedenen Lebensgebieten
215; — vager Fortschrittsglaube
213; — Schranken 382.
Freiheit und Gleichheit, ihre Ver-
bindung 290.
Freiheit und Schicksal 371 ff.
Gefühl, Kritik des Zurückgehens
auf das Gefühl 20 ff.
Gegebenes, das Bedenkliche dieses
Begriffes 374.
Geistesleben, sein Grundbegriff
30ff., 111; — sein Verhältnis zum
geschichtlich -gesellschaftlichen Da-
sein lOOff., 103ff.
Geistigkeit, ihre drei Stufen (grund-
legende, kämpfende, überwindende)
350 ff.
Genie, zur Geschichte d^s Ausdrucks
307.
Geschichte, Zusammentreffen von
Zeitlichem und Zeitlosem in ihr 5,
103; — ihre Bedeutung für die
Philosophie 65; — Bedingungen
der menschlichen Geschichte 21 7 ff.;
— Bedeutung und Schranke der
Geschichte 253 ff.; — Gründe der
Bewegung zur Geschichte 254 ff ; —
der Bewegung gegen die Geschichte
260ff.; — Bedeutung der Geschichte
für das Geistesleben 265 ff.
Geschichte der Philosophie,
Forderungen für ihre Behandlung
66 ff.
Geschichtliche Gesetze 166ff.
Geschichtsforschung und Ge-
schichtsphilosophie 256.
Geschlechtliches, seine Behand-
lung im modernen Subjektivismus
338; — in der modernen Kunst 342.
Gesellschaft und Individuum,
283 ff.; — Art der gesellschaftlichen
Kultur 288.
Gesetz, Geschichte und Problem
154 ff.; — Kampf darum in den
verschiedenen Gebieten 159ff.
Gleichheitsidee, ihr Ursprung
und ihre Geschichte 289.
Gleichmacherei, ihre Gefahren in
der Gegenwart 299 ff.
Sachregister.
407
Gottesidee, der Streit über ihre
Fassung 346ff.; — zweierlei Fass-
ungen innerhalb des Christentums
347.
Griechische Denkweise (s. Alter-
tum), ihr Verhältnis zum Wahrheits-
problem 12; — ihr Intellektualis-
mus 39; — Eigentümlichkeit ihres
logischen Verfahrens 58; — ihr Vor-
anstellen des Beharrens 194 ff.
Größe, ihr Problem auf geistigem
Gebiet 31 Off. ; — große Persön-
lichkeit, ihr Verhältnis zur Zeitum-
gebung 297 ff.
Hierarchische Ordnung 285.
Historismus, seine Gefahr 258ff.;
— Abwägung von Historismus und
Rationalismus 271 ff.
Humanismus, als moderner Ter-
minus 48.
Höher, Ausdruck und Begriff 78.
Idealismus, Ausdruck 68ff.; —
Kritik der überkommenen Formen
des Idealismus 76 ff.; — Forder-
ungen für einen neuen Idealismus
81 ff.; — kritischer und positiver
Idealismus 124 ff.
Immanenz, Ausdruck 390; — Be-
wegung der Neuzeit zur Immanenz
392; — VePÄ'icklungen im Begriff
der Immanenz 394 ff.
Individualkultur 302ff.
Individuum und Individualität,
Ausdruck 283 ff.; — Begriff 284 ff . ;
— verschiedene geschichtliche Ge-
staltungen(organische, hierarchische,
mikrokosmische) 284 ff.; — Bild-
ung der geistigen Individualität
371; — Bedeutung der Individuen
in der Geschichte 297 ff.; — mo-
derner Individualismus 306 ff.
Intellekt, seiner Geringschätzung
widersprochen 52 ff.
Intellektualismus, Wort und Sache
37 ff.; — Überflutung des modernen
Lebens durch ihn 53 ff.; — seine
Brechung durch Kant 41 ff.; —
intellektualistischer Lebenstypus 39.
Kultur, Geschichte des Ausdrucks
und Begriffs 228ff.; — unterschie-
den von Zivilisation 231 ff.; — ihr
Wesen und Wert 235 ff.; — ihre
geschichtlichen Arten 237 ff.; —
das Verhälthis von Mensch und
Kultur 240 ff.; — Kultur und
Geistesleben 243 ff.; — Teilkulturen
und Gesamtkultur 249; — Probleme
der gegenwärtigen Kultur 250 ff.,
381 ff.
Kulturstaat, bei Fichte 231.
Kunst, ihr Verhältnis zur Moral
329 ff.; — ihre Stellung im mo-
dernen Leben 339; — Verhältnis
von Inhalt und Form 340; — Be-
deutung der Kunst für den nordi-
schen Menschen 341.
Künstlerischer Individualis-
mus 306ff.
L'art pour l'art, Geschichte des
Ausdrucks 339 ff.
Leben, wissenschaftliche Versuche
einer näheren Bestimmung 145 ff.
Lebensbejahung und Lebens-
verneinung 376 ff.; — gegen er-
künstelte Lebensbejahung 384 ff.
Lebensenergien 60.
Lebensprozeß als Ausgangspunkt
der Untersuchung 31.
Literatur, ihre gegenwärtige Stell-
ung zum Geistesproblem 342.
Logik, Überschätzung ihrer Form
54ff. ; — ihre Abhängigkeit vom
Lebensprozeß 58 ff.
Materialismus, Ausdruck und
Lehre 175 ff.
Mechanismus, zur Geschichte des
Ausdrucks 126; — zur Geschichte
des Problems 133 ff.; — unzulängr
lieh als philosophische Weltanschau-
ung 142.
Mechanismus und Teleologie,
ihre Ausgleichung bei Leibniz 134;
— bei Lotze 138.
408
Sachregister.
Metaphysik, der Ausdruck 108;
das Problem 104 ff.; — Metaphysik
und Kultur 108; — Metaphysik
und Moral 324 ff.
Mikrokosmos, Ausdruck 285.
Milieu, Geschichte des Ausdrucks
289.
Mittelalter, Art seines logischen
Verfahrens 58; — Hauptstätte der
organischen Lehre 151 ; — sein Ord-
nungssystem 196 ff.; — Bekämpf-
ung dieses Begriffes 277 ff.
Mittlerer Mensch 289.
Modern, Verschärfung des Begriffes
durch die Entwicklungslehre 205;
— Ausdruck und Begriff 273 ff.;
— echtes und falsches Moderne
280ff.
Monismus, Wort 170ff.; — Lehre
179ff.; _ Monismus der Gegen-
wart 183 ff.
Moral, gegenwärtiger Mangel einer
genügenden Begründung 322ff.; —
überkommene Typen 323 ff.; —
Moral und Metaphysik 324 ff.; —
Moral und Kunst 329 ff.; — Ab-
lehnung der ;neuen Ethik" 336ff.
Natur, der Ausdruck angegriffen
von Boyle 127; — Definition des
Aristoteles 172; — Naturbild der
Gegenwart 380ff.
Naturgesetz, zur Geschichte 154 ff.;
Naturgesetz und Sittengesetz
163.
Naturkultus, seit Giordano Bruno
158.
Naturwissenschaft und Ge-
schichte 168.
Neunzehntes jahrhundert, seine
innere Bewegung 18ff.; — seine
Bewegung^ gegen den Intellek-
tualismus 43 ff.; — sein Realismus
72 ff.
Neuzeit, ihre zwiefache Stellung
zum Geistesproblem 13ff.; — ihre
Behandlung des Denkens 41ff.; —
ihr wissenschaftliches Verfahren 59,
156 ff.; — ihr Eintreten für Ent-
wicklung 197 ff.; — ihre Befrei-
ung des Individuums 151, 286 ff.
Noologische Betrachtung, unter-
schieden von psychologischer 33.
Normen 24, 163.
Objektiv, Wort lOff.; — Problem
12 ff.; — Bedeutung bei Kant 16,
bei Goethe 28.
Öffentliche Meinung 297.
Ökonomismus 311ff., 318ff.
Ontologie, Ausdruck 109.
Optimismus, Ausdruck und Pro-
blem 376ff.
Organisch und Organismus,
Geschichte des Ausdrucks 128ff.,
des Problems 130 ff.; — Organische
Natur- und Geschichtsauffassung
136 ff.; — Unterschied der alten
und der neuen Fassung 139; —
organische Gesellschaftslehre 149 ff.
Panentheismus 392.
Pantheismus, der Neuzeit 392; —
sein Verblassen in der Gegenwart
394 ff.
Persönlichkeit, Geschichte des
Ausdrucks 343 ff.; — des Begriffes
345 ff.; — Problem der Persönlich-
keit Gottes 346; — Motive des
Kampfes gegen die Persönlichkeits-
idee 347 ff.; — Persönlichkeit und
Metaphysik 349 ff.; — Kritik der
h^tigen Bewegung zur Persönlich-
keit 353; — persönliche Gestaltung
der Arbeit unterschieden von sub-
jektiver 354 ff.; — Bedeutung der
Persönlichkeiten im geschichtlichen
Leben 297 ff.
Pessimismus, Ausdruck und Pro-
blem 376ff.
Phantasie, ihre Unentbehriichkeit
für die Philosophie 98, 106 ff.
Philosophie, ihre Aufgabe und Me-
thode 63; — das Recht einer selb-
ständigen Philosophie 63 ff.; 93 ff.;
— ihr Zusammenhang mit der
Sachre
Bewegung der Weltgeschichte 62,
100 ff.; — philosophia perennis
278.
Politismus, 301 ff., 305 ff.
Pragmatismus, Darstellung und
Kritik 47.
Praktische und theoretii^che
Vernunft, ihre Scheidung durch
Aristoteles 37; — Geschichte der
Begriffe 37 ff.; — verschiedene
Lebenstypen 39 ff.
Psychologismus, abgelehnt 19.
Rationalismus, sein Recht und
sein Unrecht 11 7 ff.; — sein Er-
kenntnisbild 88; — sein Geschichts-
bild 118.
Realismus (s. Idealismus) Ausdruck
69; — im 19. Jahrhundert 72ff.;
— seine Schranken 74 ff.
Reformation, ihre Stellung zum
Intellektualismus und zum Volun-
tarismus 40 ff.; — ihre Stellung
zur Kunst 332.
Rein (reiner Verstand, reine Ver-
nunft) 86.
Religion, Bewegung gegen sie in
der Neuzeit 392 ff.; — ihr Wieder-
aufsteigen 395ff.; — Forderungen
für ihre gegenwärtige Lage 398 ff.
Renaissance, ihre Stellung zur
Kunst und zur Moral 331 ff.
Romantik, ihre Schätzung des Or-
ganischen 136 ff.; — ihre Entwick-
lungsidee 204, 215; — ihre Ge-
schichtsauffassung 255.
Schöne Seele 307.
Scholastik, ihre Fassung der Wahr-
heit 12 ff.; — ihre Stellung zum
Intellektualismus 40; — Grenze
ihrer Leistung 57; — ihr Mangel
an disjunktiver Kraft 58ff.
Selektionslehre 208ff.
Souverän, souveräne Art der
geistigen Arbeit 354 ff.
Sozialdemokratische Bewegung
313ff.
gister. ^9
Soziale Gesetze 164.
Soziale Lebensführung 292ff.
Spiritualismus 178ff.
Staatsidee, ihr stärkeres Hervor-
treten im 19. Jahrhundert 290, 301,
318.
Stufen des Lebens und des Er-
kennens 102, 350.
Subjektiv, Wort 10; — Wendung
der Gegenwart zum Subjekt 19 ff.
Summierungder Vernunft 296 ff.
System, Bedeutung und Grenze 67.
Teleologie 135ff.; — empirische
Teleologie 141.
Theoretische Vernunft (s. prak-
tisch) 37 ff.
Transzendenz, Ausdruck 391.
Typus und typisch, Ursprung des
Ausdrucks 356,
Unendlichkeitsgedanke, seine
verschiedene Schätzung und Be-
handlung 379.
Vitalismus 144ff.
Volltätigkeit 31.
Voluntarismus, Wort und Problem
37 ff.; — seine Entwicklung 43.
Von vornherein 86.
Wahrheitsbegriff und Wahr-
heitsproblem 12ff.; — nicht
bloß intellektuell 35ff., 64, 122;
— unsere Fassung 35 ff.
Weltgeschichtlicher Stand der
Arbeit, als Maßstab 267.
Wert, Erörterung 22ff.
Wert des Lebens 376ff.
Wertschätzungen in der Ge-
schichte 257.
Werturteile 20ff.
Willensfreiheit, Erörterung des
Problems 363 ff.
Wirklichkeitsproblem 79ff.
Wirtschaftliche Frage, ihre ge-
schichtliche Entwicklung 314 ff.
Wirtschaftliche Gesetze 104ff.
410
Sachregister.
Zeitgeist, Aufkommen des Begriffs
und Problems 273.
Zivilisation, Urspnmg des Aus-
drucks 229; — unterschieden von
Kultur -231 ff.
Zufall, Grenze seines Vermögens
nach Aristoteles 132.
Zweck, sein Recht in der Weltan-
schauung 143 ff.
Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig
GESCHICHTE DER MEÜEREH PHILOSOPHIE
VON NIKOLAUS VON KUES BIS ZUR GEGENWART.
Im Grundriß dargestellt «
von
Richard Faickenberg,
o. Professor an der Universität Erlangen.
Sechste, verbesserte und ergänzte Auflage,
gr. 8, 1908. geh. 9 M., geb. in Ganzleinen 10 M.
,,Ein Buch von mäßigem Umfange und doch ein großartiges Werk. Großartig durch die
Fülle des verarbeiteten Stoffes, da nicht allein alle Philosophen von Fach, sondern alle Männer,
deren Denkarbeit bestimmend auf das Geistesleben der modernen Völker eingewirkt hat, Berück-
sichtigung gefunden haben."
Durch die Gediegenheit des Inhaltes, die geschickte Anordnung und die Klarheit der Darstellung,
durch vorzügliche bibliographische Nachweise hat sich Falckenbergs Geschichte der neueren Philo-
sophie allgemeine Anerkennung erworben, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande. —
Den Schluß des Werkes bildet eine Erläuterung der wichtigsten philosophischen Kunstausdrücke.
GRIECHISCHE^ DENKER,
Eine Geschichte der antiken Philosophie.
Von
Theodor Gomperz.
» Vollständig in drei Bänden.
Erster und zweiter Band.
Zweite Auflage.
Lex. 8. 1903. geh. 23 M, geb. in Halbfranz 28 M.
In diesem einzig dastehenden, die Summe seiner durch zahllose Einzel-
forschungen ausgefüllten Lebensarbeit ziehenden Werke behandelt der große
Gelehrte nicht die Gedanken oder die Systeme oder die Geschichte der grie-
chischen Philosophie, sondern die „Denker", die Individuen. Der Werdegang ihrer
Ideen wird auf dem Hintergrund ihrer Zeit geschildert, und die geistige, Jahrtausende
überspannende Brücke, die sie mit der Gegenwart verbindet, wird geschlagen.
Der dritte Band, dessen erste bis dritte Lieferung erschienen sind, wird
Aristoteles behandeln.
GESCHICHTE DES GELEHRTEN UNTERRICHTS
auf den deutschen Schulen und Universitäten
vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenv^^art.
Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht.
Von
Dr. Friedrich Paulsen,
o. ö. Professor an der Universität Berlin.
Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage.
Zwei Bände.
gr. 8. 1896 u. 1897. geh. 30 M, geb. in Halbfranz 34 M.
Erster Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des alten Humaniimus. 1450—1740.
Zweiter Band : Der gelehrte Unterricht Im Zeichen des Neuhumanismus. 1740—1892.
„Wenn diese Deutung der historischen Tatsachen nicht gänzlich fehlgeht,
so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern, daß der gelehrte Unterricht bei den
modernen Völkern sich immer mehr einem Zustande annähern wird, in welchem
er aus den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Bildung dieser Völker bestritten
wird."
Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig
JOHANN HEINRICH PESTALOZZI.
Seine Ideen in systematischer Würdigung.
Von
Dr. Hermann Leser,
Professor an der Universität Erlangen,
gr. 8. 1908. geh. 3 M 50 Pf.
VORLESünQEM ÜBER HRTÜRPHILOSOPHIE,
gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig
von
Wilhelm Ostwaid.
Dritte, vermehrte Auflage.
Lex. 8. 1905. geh. 12 M, geb. in Halbfranz 14 M 50 Pf.
Die „Vorlesungen über Naturphilosophie" des berühmten Chemikers sind
eine der interessantesten neuzeitlichen Erscheinungen. Die „Vorlesungen" stellen
kein Lehrbuch oder System dar, sondern sind das Ergebnis umfassender Erfahr-
ung bei Forschung und Unterricht, das durch die schöne Form, in der es ge-
boten wird, eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf den Leser ausübt.
PSYCHOLOGIE DER NATURVOLKER.
ENTWICKLUNGSPSVCHOLOOISCHE CHARAKTERISTIK
DES NATURMENSCHEN
IN INTELLEKTUELLER, AESTHETISCHER, ETHISCHER UND
RELIGIÖSER BEZIEHUNG.
Eine natürliche Schöpfungsgeschichte des menschl. Vorstellens, Wollens und Glaubens
von
Dr. Fritz Schultze,
ordentlicher Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Dresden,
gr. 8. 1900. geh. 10 M.
WIRTSCHAFT UND RECHT
nach der materialistischen Geschichtsauffassung.
Eine sozialphilosophische Untersuchung
von
Dr. Rudolf Stammler,
o. 5. Professor an der Universität Halle a. S.
Vitam impendere vero.
Zweite, verbesserte Auflage.
Lex. 8. 1906. geh. 15 M, geb. in Halbfranz 17 M 50 Pf.
Die Erforschung der allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit, unter der das
soziale Leben des Menschen steht, bildet den Inhalt dieses Werkes. Der Ver-
fasser gelangt zu dem Ergebnis, daß die allgemein gültige Richtschnur für das
dem sozialen Ideal entsprechende Recht nur die Herstellung einer Gemeinschaft von
Menschen sein kann, deren Wollen von bloß subjektivem Begehren frei ist, von
denen vielmehr jeder die objektiven Zwecke der anderen zu den seinigen macht.