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Full text of "Generelle morphologie der organismen. Allgemeine grundzüge der organischen formen-wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte descendenztheorie"

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GENERELLE  MORPHOLOGIE 

DER  ORGANISMEN. 


ALLGEMEINE  GRÜNDZÜGE 
DER  ORGANISCHEN  FORMEN-WISSENSCHAFT, 

MECHANISCH  BEGRÜNDET  DURCH  DIE  VON 

CHARLES  DARWIN 

REF0RM1RTE  DESCENDENZ-THEORIE, 

VON 

ERNST  HAECKEL 


ERSTER  BAND: 

ALLGEMEINE    ANATOMIE 

DER  ORGANISMEN. 


,,E   PUR   Sl  MUOVE!« 


MIT  ZWEI  PROMORPHOLOGISCHEN  TAFELN. 


BERLIN. 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER. 

1866. 


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ALLGEMEINE  ANATOMIE 


DER  ORGANISMEN. 


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KRITISCHE  GRUNDZÜGE 


DER  MECHANISCHEN  WISSENSCHAFT 
VON  DEN  ENTWICKELTEN  FORMEN 


DER  ORGANISMEN, 


BEGRÜNDET  DURCH  DIE  DESCENDENZ- THEORIE, 


VON 

ERNST  HAECKEL, 

DOCTOR    DER    PHILOSOPHIE    UND    MEDICIN,    ORDENTLICHEM    PROFESSOR    DER    ZOOLOGIE 
UND    DIRECTOR    DES    ZOOLOGISCHEN    INSTITUTES    UND     DES    ZOOLOGISCHEN    MUSEUMS 

AN    DER    UNIVERSITAET    JENA. 


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„E   PUR  SlS^JE^V      )■  " 


MIT  ZWEI  PROMORPHOLOGISCHEN  TAFELN, 


BERLIN. 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER. 
1866. 


„Die  Natur  schafft  ewig  neue  Gestalten;  was  da  ist,  war  noch 
nie;  was  war,  kommt  nicht  wieder:  Alles  ist  neu,  und  doch 
immer  das  Alte. 

,,Es  ist  ein  ewiges  Leben,  Werden  und  Bewegen  in  ihr.  Sie 
verwandelt  sich  ewig,  und  ist  kein  Moment  Stillstehen  in  ihr. 
Für's  Bleiben  hat  sie  keinen  Begriff,  und  ihren  Fluch  hat  sie  an's 
Stillstehen  gehängt.  Sie  ist  fest:  ihr  Tritt  ist  gemessen,  ihre 
Gesetze  unwandelbar.  Gedacht  hat  sie  und  sinnt  beständig;  aber 
nicht  als  ein  Mensch,  sondern  als  Natur.  Jedem  erscheint  sie 
in  einer  eigenen  Gestalt.  Sie  verbirgt  sich  in  tausend  Namen 
und  Tennen,  und  ist  immer  dieselbe. 

,,Die  Natur  hat  mich  hereingestellt,  sie  wird  mich  auch  heraus- 
führen. Ich  vertraue  mich  ihr.  Sie  mag  mit  mir  schalten;  sie 
wird  ihr  Werk  nicht  hassen.  Ich  sprach  nicht  von  ihr;  nein, 
was  wahr  ist  und  was  falsch  ist,  Alles  hat  sie  gesprochen.  Alles 
ist  ihre  Schuld,  Alles  ist  ihr  Verdienst." 

Goethe. 


SEINEM  THEÜREN  FREUNDE  UND  COLLEGEN 


CARL  GEGENBAUR 


WIDMET   DIESE 


GRUNDZÜGE  DER  ALLGEMEINEN  ANATOMIE 


IN  TREUER  DANKBARKEIT 


DER    VERFASSER. 


An  Carl  Gegenbaur. 

indem  ich  den  ersten  Band  der  generellen  Morpho- 
logie Dir,  mein  theurer  Freund,  den  zweiten  Band  den  drei 
Begründern  der  Descendenz- Theorie  widme,  will  ich  damit 
nicht  sowohl  die  besondere  Beziehung  ausdrücken,  welche 
Du  als  hervorragender  Förderer  der  Anatomie,  jene  als  Re- 
formatoren der  Entwickelungsgeschichte  zu  den  beiden  Zwei- 
gen der  organischen  Morphologie  einnehmen,  als  vielmehr 
meiner  dankbaren  Verehrung  gegen  Dich  und  gegen  Jene 
gleichmässigen  Ausdruck  geben.  Denn  wie  es  mir  einerseits 
als  eine  Pflicht  der  Dankbarkeit  erschien,  durch  Dedication  der 
„allgemeinen  Entwickelungsgeschichte"  an  Charles  Darwin, 
Wolfgang  Goethe  und  Jean  Lamarck  das  causale  Fun- 
dament zu  bezeichnen,  auf  welchem  ich  meine  organische  Mor- 
phologie errichtet  habe,  so  empfand  ich  andererseits  nicht 
minder  lebhaft  das  Bedürfniss,  durch  Widmung  der  „allge- 
meinen Anatomie"  an  Dich,  mein  treuer  Genosse,  die  Ver- 
dienste dankbar  anzuerkennen,  welche  Du  um  die  Förderung 
meines  Unternehmens  besitzest. 


Um  diese  Beziehungen  in  das  rechte  Licht  zu  stellen, 
müsste  ich  freilich  eigentlich  eine  Geschichte  unseres  brüder- 
lichen Freundschafts-Bündnisses  schreiben,  von  dem  Tage  an, 
als  ich  Dich  1853  nach  Deiner  Rückkehr  von  Messina  im 
Gutenberger  Walde  bei  Würzburg  zum  ersten  Male  sah,  und 
Du  in  mir  die  Sehnsucht  nach  den  hesperischen  Gestaden 
Siciliens  wecktest,  die  mir  sieben  Jahre  später  in  den  Ra- 
diolarien  so  reiche  Früchte  tragen  sollte.  Seit  jenem  Tage 
hat  ein  seltener  Parallelismus  der  Schicksale  zwischen  uns 
fester  und  fester  die  unauflöslichen  Bande  geknüpft,  welche 
schon  frühzeitig  gleiche  Empfänglichkeit  für  den  Naturgenuss, 
gleiche  Begeisterung  für  die  Naturwissenschaft,  gleiche  Liebe 
für  die  Naturwahrheit  in  unseren  gleichstrebenden  Gemüthern 
vorbereitet  hatte.  Du  warst  es,  der  mich  vor  sechs  Jahren 
veranlasste,  meine  akademische  Lehrthätigkeit  in  unserem 
geliebten  Jena  zu  beginnen,  an  der  Thüringer  Universität 
im  Herzen  Deutschlands,  welche  seit  drei  Jahrhunderten  als 
das    pulsirende   Herz   deutscher   Geistes -Freiheit    und    deut- 


sehen  Geistes  -  Kampfes  nach  allen  Richtungen  ihre  lebendi- 
gen Schwingungen  fortgepflanzt  hat.  An  dieser  Pflanzschule 
deutscher  Philosophie  und  deutscher  Naturwissenschaft,  unter 
dem  Schutze  eines  freien  Staatswesens,  dessen  fürstliche  Re- 
genten jederzeit  dem  freien  Worte  eine  Zufluchtsstätte  ge- 
währt, und  ihren  Namen  mit  der  Reformations- Bewegung, 
wie  mit  der  Blüthezeit  der  deutschen  Poesie  untrennbar  ver- 
flochten haben,  konnte  ich  mit  Dir  vereint  wirken.  Hier  ha- 
ben wir  in  der  glücklichsten  Arbeitstheilung  unser  gemein- 
sames Wissenschafts-Gebiet  bebaut,  treu  mit  einander  gelehrt 
und  gelernt,  und  in  denselben  Räumen,  in  welchen  Goethe 
vor  einem  halben  Jahrhundert  seine  Untersuchungen  „zur 
Morphologie  der  Organismen"  begann,  zum  Theil  noch  mit 
denselben  wissenschaftlichen  Hülfsmitteln,  die  von  ihm  aus- 
gestreuten Keime  der  vergleichenden  und  denkenden  Natur- 
forschung gepflegt.  Wie  wir  in  dem  harten  Kampfe  des  Le- 
bens Glück  und  Unglück  brüderlich  mit  einander  getheilt,  so 
haben   sich   auch  unsere  wissenschaftlichen  Bestrebungen  in 


so  inniger  und  beständiger  Wechselwirkung  entwickelt  und 
befestigt,  in  täglicher  Mittheilung  und  Besprechung  so  ge- 
genseitig durchdrungen  und  geläutert,  dass  es  uns  wohl  Bei- 
den unmöglich  sein  würde,  den  speciellen  Antheil  eines  Jeden 
an  unserer  geistigen  Gütergemeinschaft  zu  bestimmen.  Nur 
im  Allgemeinen  kann  ich  sagen,  dass  das  Wenige,  was  meine 
rasche  und  rastlose  Jugend  hie  und  da  Dir  bieten  konnte, 
nicht  in  Verhältniss  steht  zu  dem  Vielen,  was  ich  von  Dir, 
dem  acht  Jahre  älteren,  erfahrneren  und  reiferen  Manne 
empfangen  habe. 

So  ist  denn  Vieles,  was  in  dem  vorliegenden  Werke 
als  meine  Leistung  erscheint,  von  Dir  geweckt  und  genährt. 
Vieles,  von  dem  ich  Förderung  unserer  Wissenschaft  hoffe, 
ist  die  gemeinsame  Frucht  des  Ideen -Austausches,  der  uns 
ebenso  daheim  in  unserer  stillen  Werkstätte  erfreute,  wie  er 
uns  draussen  auf  unseren  erfrischenden  Wanderungen  durch 
die  felsigen  Schluchten  und  über  die  waldigen  Höhen  des 
reizenden   Saalthaies    begleitete.      Manches   dürfte  selbst  das 


Product  des  erhebenden  gemeinsamen  Naturgenusses  sein, 
welchen  uns  die  malerischen  Formen  der  Jenenser  Muschelkalk- 
Berge  bereiteten,  wenn  sie  im  letzten  Abendsonnenstrahl  uns 
durch  die  Farben -Harmonie  ihrer  purpur-goldigen  Felsen- 
flanken und  violett -blauen  Schlagschatten  die  entschwundenen 
Zauberbilder  der  calabrischen  Gebirgskette  wieder  vor  Augen 
führten. 

Es  dürfte  befremdend  erscheinen,  einer  „mechanischen 
Morphologie"  solche  Erinnerungen  voranzuschicken.  Und 
dennoch  geschieht  es  mit  Fug  und  Recht.  Denn  wie  jeder 
Organismus,  wie  jede  Form  und  jede  Function  des  Organis- 
mus ,  so  ist  auch  das  vorliegende  Werk  weiter  Nichts ,  als 
das  nothwendige  Product  aus  der  Wechselwirkung  zweier 
Factoren,  der  Vererbung  und  der  Anpassung.  Wenn  dasselbe, 
wie  ich  zu  hoffen  wage,  zur  weiteren  Entwickelung  unserer 
Wissenschaft  beitragen  sollte,  so  bin  ich  weit  entfernt,  mir 
dies  als  mein  freies  Verdienst  anzurechnen.  Denn  die  per- 
sönlichen Eigenschaften,  welche  mir  die  grosse  und  schwierige 


Aufgabe  zu  erfassen  und  durchzuführen  erlaubten,  habe  ich 
zum  grössten  Theile  durch  Vererbung  von  meinen  trefflichen 
Eltern  erhalten.  Unter  den  vielen  Anpassungs- Bedingungen 
aber,  welche  in  Wechselwirkung  mit  jenen  erblichen  Func- 
tionen das  Werk  zur  Reife  brachten,  nehmen  die  angeführ- 
ten Verhältnisse  die  erste  Stelle  ein. 

In  diesem  Sinne,  mein  theurer  Freund,  als  mein  Gesin- 
nungs-  Genosse  und  mein  Schicksals -Bruder,  als  mein  aka- 
demischer College  und  mein  Wander -Gefährte,  nimm  die 
Widmung  dieser  Zeilen  freundlich  auf,  und  lass  uns  auch 
fernerhin  treu  und  fest  zusammenstehen  in  dem  grossen 
Kampfe,  in  welchen  uns  die  Pflicht  unseres  Berufes  treibt, 
und  in  welchen  das  vorliegende  Werk  entschlossen  ein- 
greift —  in  dem  heiligen  Kampfe  um  die  Freiheit  der  Wis- 
senschaft und  um  die  Erkenntniss  der  Wahrheit  in  der 
Natur. 


Vorwort. 


V  on  allen  Hauptzweigen  der  Naturwissenschaft  ist  die 
Morphologie  der  Organismen  bisher  am  meisten  zurückge- 
blieben. Der  ausserordentlich  schnelle  und  reiche,  quantita- 
tive Zuwachs  an  empirischen  Kenntnissen ,  welcher  in  den 
letzten  Jahrzehnten  alle  Zweige  der  Anatomie  und  Entwicke- 
lungsgeschichte  zu  einer  vielbewunderten  Höhe  getrieben  hat, 
ist  in  der  That  nicht  mit  einer  entsprechenden  qualitativen 
Vervollkommnung  dieser  Wissenschaften  gepaart  gewesen. 
Während  ihre  nicht  minder  rasch  entwickelte  Zwillings- 
schwester, die  Physiologie,  in  den  letzten  Decennien  mit  ihrer 
dualistischen  Vergangenheit  völlig  gebrochen  und  sich  auf 
den  mechanisch- causalen  Standpunkt  der  anorganischen  Na- 
turwissenschaften erhoben  hat,  ist  die  Morphologie  der  Or- 
ganismen noch  weit  davon  entfernt,  diesen  Standpunkt  als 
den  einzig  richtigen  allgemein  anerkannt,  geschweige  denn 
erreicht  zu  haben.  Die  Frage  nach  den  bewirkenden  Ursachen 
der  Erscheinungen,  und  das  Streben  nach  der  Erkenntniss 
des  Gesetzes  in  denselben,  welche  dort  allgemein  die  Rieht- 


XIV  Vorwort. 

schnür  aller  Untersuchungen  bilden,  sind  hier  noch  den  Mei- 
sten unbekannt.  Die  alten  teleologischen  und  vitalistischen 
Dogmen,  welche  aus  der  Physiologie  und  Anorganologie  jetzt 
gänzlich  verbannt  sind,  finden  wir  in  der  organischen  Mor- 
phologie nicht  allein  geduldet,  sondern  sogar  noch  herr- 
schend, und  allgemein  zu  Erklärungen  benutzt,  die  in  der 
That  keine  Erklärungen  sind.  Die  meisten  Morphologen  be- 
gnügen sich  sogar  mit  der  blossen  Kenntniss  der  Formen, 
ohne  überhaupt  nach  ihrer  Erklärung  zu  streben  und  nach 
ihren  Bildungsgesetzen  zu  fragen. 

So  bietet  uns   denn    der    gegenwärtige  Zustand  unserer 
wissenschaftlichen  Bildung  das  seltsame  Schauspiel  von  zwei 
völlig  getrennten  Arten   der  Naturwissenschaft  dar:    auf  der 
einen  Seite  die  gesammte  Wissenschaft  von  der  anorganischen 
Natur  (Abiologie),   und   neben   ihr   die  Physiologie    der   Or- 
ganismen, auf  der  anderen  Seite  allein  die  Morphologie  der 
Organismen,  Entwicklungsgeschichte  und  Anatomie  —  jene 
monistisch,  diese  dualistisch;  jene  nach  wahren  bewirkenden 
Ursachen,  diese  nach  zweckthätigen  Scheingründen  suchend; 
jene  mechanisch,   diese  yitalistisch   erklärend.      Während  die 
Physiologen  in  richtiger  kritischer  Erkenntniss  ~  den  Organis- 
mus als  eine  nach  mechanischen  Gesetzen  gebaute  und  wir- 
kende Maschine  ansehen  und  untersuchen,  betrachten  ihn  die 
Morphologen   nach  Darwin' s  treffendem  Vergleiche   immer 
noch  ebenso,   wie  die  Wilden  ein  Linienschiff. 

Die  vorliegenden  Grundzüge  der  „generellen  Morpho- 
logie der  Organismen"  unternehmen  zum  ersten  Male  den 
Versuch,  diesen  heillosen  und  grundverkehrten  Dualismus  aus 
allen  Gebietsteilen  der  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte 
völlig  zu  verdrängen,  und  die  gesammte  Wissenschaft  von 
den  entwickelten  und  von  den  entstehenden  Formen  der  Or- 


Vorwort.  XV 

ganismen  durch  mechanisch -causale  Begründung  auf  dieselbe 
feste  Höhe  des  Monismus  zu  erheben,  in  welcher  alle  übri- 
gen Naturwissenschaften  seit  längerer  oder  kürzerer  Zeit  ihr 
unerschütterliches  Fundament  gefunden  haben.  Der  grossen 
Schwierigkeiten  und  der  vielen  Gefahren  dieses  Unternehmens 
bin  ich  mir  vollkommen  bewusst.  Noch  stehen  alle  allge- 
meinen morphologischen  Anschauungen  in  Zoologie  und  Bo- 
tanik unter  der  Herrschaft  eines  gelehrten  Zunftwesens,  wel- 
ches nur  in  der  scholastischen  Gelehrsamkeit  des  Mittelalters 
seines  Gleichen  findet.  Dogma  und  Autorität,  wechselseitig 
zur  Unterdrückung  jedes  freien  Gedankens  und  jeder  un- 
mittelbaren Naturerkenntniss  verschworen,  haben  eine  dop- 
pelte und  dreifache  chinesische  Mauer  von  Vorurtheilen  aller 
Art  rings  um  die  Festung  der  organischen  Morphologie  auf- 
geführt, in  welche  sich  der  allerorts  verdrängte  Wunder- 
glaube jetzt  als  in  seine  letzte  Citadelle  zurückgezogen  hat. 
Dennoch  gehen  wir  siegesgewiss  und  furchtlos  in  diesen 
Kampf.  Der  Ausgang  desselben  kann  nicht  mehr  zweifelhaft 
sein,  nachdem  Charles  Darwin  vor  sieben  Jahren  den 
Schlüssel  zu  jener  Festung  gefunden,  und  durch  seine  be- 
wundrungswürdige  Selections- Theorie  die  von  Wolf  gang 
Goethe  und  Jean  Lamarck  aufgestellte Descendenz-Theorie 
zur  siegreichen  Eroberungs- Waffe  gestaltet  hat. 

Ein  Werk,  welches  eine  so  umfassende  und  schwierige 
Aufgabe  unternimmt,  ist  nicht  das  flüchtige  Product  vorüber- 
gehender Gedanken -Bewegungen,  sondern  das  langsam  ge- 
reifte Resultat  langjähriger  und  inniger  Erkenntniss -Mühen, 
und  ich  darf  wohl  sagen ,  dass  viele  der  hier  dargelegten 
Ansichten  mich  beschäftigt  haben,  seit  ich  überhaupt  mit 
kritischem  Bewusstsein  in  das  Wundergebiet  der  organischen 
Formen- Welt  einzudringen  versuchte.  Die  allgemeinste  Streit- 


XVI  Vorwort. 

frage  der  organischen  Morphologie,  welche  gewissermaassen 
das  Feldgeschrei  der  beiden  feindlichen  Heere  bildet,  das 
Problem  von  der  Constanz  oder  Transmutation  der  Species 
hat  mich  schon  lebhaft  interessirt,  als  ich  vor  nunmehr  zwan- 
zig Jahren,  als  zwölfjähriger  Knabe,  zum  ersten  Male  mit 
leidenschaftlichem  Eifer  die  „guten  und  schlechten  Species" 
der  Brombeeren  und  Weiden,  Rosen  und  Disteln  vergeb- 
lich zu  bestimmen  und  zu  unterscheiden  suchte.  Mit  heiterer 
Genugthuung  muss  ich  jetzt  der  kritischen  Beängstigungen 
gedenken,  welche  damals  mein  zweifelsüchtiges  Knabengemüth 
in  die  schmerzlichste  Aufregung  versetzten,  da  ich  bestän- 
dig hin  und  her  schwankte,  ob  ich  (nach  Art  der  meisten 
sogenannten  „guten  Systematiker")  die  „guten"  Exemplare 
allein  in  das  Herbarium  aufnehmen  und  die  „schlechten"  aus- 
weisen, oder  aber  durch  Aufnahme  der  letzteren  eine  voll- 
ständige Kette  von  vermittelnden  Uebergangsformen  zwischen 
den  „guten  Arten"  herstellen  sollte,  welche  die  Illusion  von 
deren  „Güte"  vernichteten.  Ich  beseitigte  diesen  Zwiespalt 
damals  durch  einen  Compromiss,  welchen  ich  allen  Systema- 
tikern zur  Nachahmung  empfehlen  kann:  ich  legte  zwei  Her- 
barien an,  ein  officielles,  welches  den  theilnehmenden  Be- 
schauern alle  Arten  in  „typischen"  Exemplaren  als  grundver- 
schiedene Formen,  jede  mit  ihrer  schönen  Etikette  beklebt, 
vor  Augen  führte,  und  ein  geheimes,  nur  einem  vertrauten 
Freunde  zugängliches,  in  welchem  nur  die  verdächtigen  Genera 
Aufnahme  fanden,  welche  Goethe  treffend  die  „charakter- 
losen oder  liederlichen  Geschlechter"  genannt  hat,  „denen  man 
vielleicht  kaum  Species  zuschreiben  darf,  da  sie  sich  in  grän- 
zenlose  Varietäten  verlieren":  Rvbus,  Salix,  Verbascum,  Hie- 
r actum,  Rosa,  Cirsium  etc.  Hier  zeigten  Massen  von  Indivi- 
duen, nach  Nummern  in  eine  lange  Kette  geordnet,  den  un- 


Vorwort.  XVII 

mittelbaren  Uebergang  von  einer  guten  Art  zur  andern.  Es 
waren  die  von  der  Schule  verbotenen  Früchte  der  Erkennt- 
niss,  an  denen  ich  in  stillen  Mussestunden  mein  geheimes, 
kindisches  Vergnügen  hatte. 

Jene  vergeblichen  Bemühungen,  des  eigentlichen  Wesens 
der  „Species"  habhaft  zu  werden,  leiteten  mich  seitdem  bei 
allen  meinen  Formen -Beobachtungen,  und  als  ich  später  das 
unschätzbare  Glück  hatte,  in  unmittelbarem  Verkehr  mit  mei- 
nem unvergesslichen  Lehrer  Johannes  Müller  die  empiri- 
schen Grundlagen  und  die  herrschenden  Anschauungen  der 
dualistischen  Morphologie  nach  ihrem  ganzen  Umfang  und 
Inhalt  kennen  zu  lernen,  bildete  sich  bereits  im  Stillen  jene 
monistische  Opposition  aus,  welche  in  dem  vorliegenden 
Werke  ihren  entschiedenen  Ausdruck  findet.  Nicht  wenig  trug 
dazu  auch  der  kritische  Einfluss  meines  hochverehrten  Leh- 
rers und  Freundes  Rudolph  Virchow  bei,  dessen  ich  hier- 
bei dankbarst  erwähnen  muss.  Als  sein  Assistent  lernte  ich 
in  der  „Cellular- Pathologie"  des  menschlichen  Organismus 
jene  wunderbare  Biegsamkeit  und  Flüssigkeit,  jene  erstaun- 
liche Veränderlichkeit  und  Anpassungsfähigkeit  der  organi- 
schen Formen  kennen,  welche  für  deren  Verstau dniss  so  un- 
endlich wichtig  ist,  und  von  der  doch  nur  die  wenigsten 
Morphologen  eine  ungefähre  Idee  haben.  Man  wird  nun  be- 
greifen, weshalb  ich,  um  mich  Bär's  Ausdrucks  zu  bedienen, 
Darwin' s  That  „mit  so  jubelndem  Entzücken  begrüsste,  als 
ob  ich  von  einem  Alp,  der  bisher  auf  der  Kenntniss  der 
Organismen  ruhte,  mich  befreit  fühlte".  Es  fielen  mir  in  der 
That  „die  Schuppen  von  den  Augen". 

Durch  eine  Reihe  von  akademischen  Vorträgen,  welche 
sich  abwechselnd  über  alle  einzelnen  Gebietsteile  der  orga- 
nischen Morphologie,   und  ausserdem  jährlich  über  das  Ge- 

b 


XVTII  V  o  rwort. 

sammtgebiet  der  Zoologie  erstreckten,  war  ich  in  die  glück- 
liche Lage  versetzt,  die  in  dem  vorliegenden  Werke  begrün- 
deten Anschauungen  schon  seit  längerer  Zeit  zu  einem  be- 
stimmten Ausdruck  vorbereitet  und  durch  vielfache  Betrach- 
tung von  allen  Seiten  mir  selbst  zu  voller  Klarheit  gebracht 
zu  haben.  Gleichzeitig  war  ich  bemüht,  durch  fortgesetzte 
specielle  Detail -Untersuchungen  mir  den  festen  empirischen 
Boden  zu  erhalten,  ohne  welchen  jeder  generelle  Gedanken- 
Bau  nur  zu  leicht  zum  speculativen  Luftschloss  wird.  Während 
so  die  einzelnen  Haupttheile  der  allgemeinen  Anatomie  und 
Entwickelungsgeschiehte-allmähligund  langsam  einer  gewissen 
Reife  entgegen  gingen,  wurde  dagegen  der  wagnissvolle  Plan,  sie 
zu  einem  umfassenden,  systematisch  construirten  Lehrgebäude 
der  generellen  Morphologie  zusammenzufassen,  erst  vor  ver- 
hältnissinässig  kurzer  Zeit  in  mir  zum  bestimmten  Entschlüsse. 
Innere  und  äussere  Gründe  verschiedener  Art  zwangen  mich, 
die  Ausarbeitung  des  Ganzen  schneller  und  in  viel  kür- 
zerer Zeit  zu  vollenden,  als  ich  ursprünglich  gewünscht  und 
beabsichtigt  hatte.  Ein  grosser  Theil  des  ersten  Bandes  war 
bereits  gedruckt,  ehe  der  zweite  zum  Abschluss  gelangte. 
Ausserdem  griffen  schmerzliche  Schicksale  vielfach  störend 
in  die  Arbeit  ein.  Diese  und  andere,  hier  nicht  weiter  zu 
erörternde  Hindernisse  mögen  die  mancherlei  Nachlässigkei- 
ten in  der  Form  des  Ganzen,  kleine  Ungenauigkeiten  im  Ein- 
zelnen ,  und  mannichfache  Wiederholungen  entschuldigen, 
welche  der  kritische  Leser  leicht  herausfinden  wird.  So  gern 
ich  auch  in  dieser  Beziehung  die  Arbeit  wesentlich  verbes- 
sert und  formell  einheitlicher  abgerundet  hätte,  so  wollte  ich 
doch  deshalb  die  Herausgabe  des  Ganzen  nicht  um  Jahre 
verzögern.  Bis  dat,  qui  cito  dat!  Auch  lege  ich  jenen  Män- 
geln   insofern    nur    untergeordnete  Bedeutung   bei,    als     sie 


Vorwort.  XIX 

der  umfassenden  Erkenntniss  des  grossen  Ganzen  der  orga- 
nischen Formenwelt,  welche  das  Werk  erstrebt,  dem   allge- 
meinen Ueberblick    über    die   grossen    Bildlingsgesetze  jenes 
herrlichen  und  gewaltigen  Gestaltenreichs  keinen  Eintrag  thun. 
Was  die  Form  des  ganzen  Werkes  betrifft,  so  erschien 
es  mir  unerlässlich,  bei  der  völligen  Zerfahrenheit  und  Zer- 
rissenheit,   dem    gänzlichen    Mangel   an   Zusammenhang   und 
Einheit,  die  auf  allen  Gebietsteilen    der  Anatomie  und  Ent- 
wickelungsgeschichte  herrschen,  die  strenge  Form  eines  syste- 
matisch geordneten  Lehrgebäudes  zu  wählen.    Vorläufig  kann 
allerdings  dieser  erste  Versuch   eines    solchen   weiter  Nichts 
sein,    als  ein    nach  einem   bestimmten  Plan   und    auf  festem 
Fundament    angelegtes    Gerüst,    ein    Fachwerk    von   Balken, 
welches  statt  geschlossener  Wände  und  bewohnbarer  Zimmer 
grösstentheils    nur    durchbrochenes   Zimmerwerk    und    leere 
Räume  enthält.    Mögen  andere  Naturforscher  dieselben  aus- 
füllen und  das  Ganze  zu  einem  wohnlichen  Gebäude  gestal- 
ten.    Mir  schien  schon  viel  gewonnen  zu  sein,  wenn  nur  erst 
jenes  feste  Gerüst  aufgerichtet,  und  der  Raum  zur  geordne- 
ten und  übersichtlichen  Aufstellung  der  massenhaft  angehäuf- 
ten empirischen  Schätze  gewonnen  wäre.     Natürlich  musste 
auch   die  Behandlung  und  Ausführung   der  einzelnen   Theile 
sehr  ungleich  ausfallen,    entsprechend  dem  höchst  ungleich- 
massig  entwickelten  Zustande  unserer  Wissenschaft  selbst,  von 
welcher  viele    der   wichtigsten    und    interessantesten   Theile, 
wie  namentlich  die  Genealogie,   noch  fast  unangebaut  dalie- 
gen.    Einzelne  Capitel,  in  denen  ich  speciellere  Studien  ge- 
macht hatte,  sind  eingehender  ausgeführt;  andere,  in  denen  mir 
weniger  eigenes  Material  zu  Gebote  stand,  flüchtiger  skizzirt. 
Das  siebente  und  achte   Buch  dürfen   bloss  als  aphoristische 
Anhänge  gelten,  die  ich  bei  der  hohen  Wichtigkeit  der  darin 

b* 


XX  Vorwort. 

kurz  berührten  Fragen  nicht  weglassen  mochte,  deren  specielle 
Ausführung  aber,    ebenso  wie    die  des  sechsten  Buches,   ich 
mir  für  eine  andere  Arbeit  verspare.    Dasselbe  gilt  von  der 
„genealogischen  Uebersicht  des  natürlichen  Systems  der  Or- 
ganismen",  welche  ich  als   „systematische  Einleitung   in    die 
allgemeine  Entwickelungsgeschichte"  dem  zweiten  Bande  vor- 
angeschickt  habe.      Da    dieselbe    eine   kurze  Uebersicht   der 
speciellen    Phylogenie    giebt,   gehört   sie   eigentlich   nicht  in 
die    „generelle   Morphologie"    der   Organismen  oder   könnte 
hier   nur   als    specielle   Erläuterung    des    vierundzwanzigsten 
Capitels   ihre  Stelle   finden.      Da  jedoch   die  meisten  Zoolo- 
gen und  Botaniker  der  Gegenwart  überhaupt  nur  ein  gerin- 
ges oder   gar   kein  Interesse  für  allgemeine  und  umfassende 
Fragen   haben,    sondern    lediglich    den   Cnltus   des  Einzelnen 
und  Speciellen  betreiben ,    so  werden  dieselben  wohl   gerade 
auf  diese  specielle  Anwendung  der  Descendenz-  Theorie  das 
grösste  Gewicht  legen,  und  desshalb  schien  es  mir  passend, 
sie  dem  zweiten  Bande  voran  zu  stellen.    Sie  dient  zugleich 
zur  Erläuterung  der  angehängten  genealogischen  Tafeln,  dem 
ersten  Versuche  dieser  Art,    der   hoffentlich    bald    viele   und 
bessere  Nachfolger  finden   wird.     Der   Entwurf    der    organi- 
schen    Stammbäume,     obwohl    gegenwärtig     noch     äusserst 
schwierig  und  bedenklich ,  wird  meines  Erachtens  die  wich- 
tigste  und   interessanteste  Aufgabe   für  die  Morphologie  der 
Zukunft  bilden. 

Besonderer  Nachsicht  bedarf  der  botanische  Theil  meiner 
Morphologie.  Bei  der  ausserordentlich  weit  vorgeschrittenen 
Arbeitstheilung  der  neuesten  Zeit  ist  die  völlige  Decentrali- 
sation  aller  biologischen  Wissenschaftsgebiete  zu  dem  Grade 
gediehen,  dass  es  überhaupt  nur  noch  sehr  wenige  Zoologen 
und  Botaniker  im  vollen  Sinne  des  Wortes  giebt,  und  statt 


Vorwort.  XXI 

dessen  auf  der  einen  Seite  Mastozoologen,  Ornithologen,  Ma- 
lakozoologen,  Entomologen,  Mycetologen,  Phycologen  etc., 
auf  der  anderen  Seite  Histologen,  Organologen,  Embryologen, 
Palaeontologen  etc.  Unter  diesen  Umständen  werden  alle 
diese  scholastischen,  meist  mit  sehr  langen  Zöpfen  versehenen 
Zunftgelehrten  es  für  eine  überhebliche  Anmaassung  erklären, 
dass  „ein  Einzelner"  es  noch  wagt,  das  Ganze  der  organi- 
schen Formenwelt  mit  einem  Blick  umfassen  zu  wollen. 
Namentlich  aber  werden  die  „eigentlichen"  Botaniker  ent- 
rüstet sein,  dass  ein  Zoologe  sich  einen  Einfall  in  ihr  abge- 
grenztes Gebiet  erlaubt.  Dass  ich  dieses  Wagniss  dennoch 
unternehme,  hat  seinen  zwiefachen  Grund.  Einerseits  zeigt 
mir  die  kühle  oder  ganz  negative  Haltung  des  bei  weitem 
grössten  Theiles  der  Botaniker  gegenüber  Darwin' s  Selec- 
tions-Theorie  —  diesem  wahren  Prüfstein  aller  echten,  d.  h. 
denkenden  Naturforschung  —  dass  die  Pflanzenkunde  noch 
weit  mehr  als  die  Thierkunde  unter  der  gedankenlosen  Spe- 
cialkrämerei  gelitten  hat,  welche  man  als  „exacte  Empirie" 
zu  verherrlichen  liebt  und  dass  man  dort  noch  weit  mehr 
als  hier  die  grossen  und  erhabenen  Ziele  des  Wissenschafts- 
Ganzen,  das  Bewusstsein  ihrer  Einheit  und  Zusammengehörig- 
keit verloren  hat.  Andererseits  aber  ist  nach  meiner  festesten 
Ueberzeugung  für  alle  fundamentalen  Fragen  der  generellen 
Morphologie  (wie  überhaupt  der  gesammten  Biologie),  für 
alle  tectologischen  und  promorphologischen,  ontogenetischen 
und  phylogenetischen  Probleme,  die  gegenseitige  Ergänzung 
der  Zoologie  und  Botanik  so  äusserst  werthvoll,  ihre  innigste 
Wechselwirkung  so  unbedingt  nothwendig,  dass  ich  durch 
blosse  Beschränkung  auf  mein  zoologisches  Fachgebiet  mir 
selbst  die  beste  Quelle  des  Verständnisses  verstopft  hätte. 
Wenn  ich  in  vielen    allgemeinen  Fragen  einen  guten  Schritt 


XXII  Vorwort. 

weiter  gekommen  bin,  so  verdanke  ich  dies  wesentlich  der 
Vergleichung  der  thierischen  und  pflanzlichen  Formen.  Zwei- 
felsohne würde  der  botanische  Theil  meiner  Arbeit  viel  reich- 
haltiger und  besser  ausgefallen  sein,  wenn  mir  das  Glück  der 
Unterstützung  eines  Botanikers  zu  Theil  geworden  wäre, 
dessen  offenes  Auge  auf  das  grosse  Ganze  der  pflanzlichen 
Formenwelt  und  ihren  genealogischen  Causalnexus  gerichtet 
ist.  Da  es  mir  aber  nur  dann  und  wann  auf  kurze  Stunden  ge- 
gönnt war,  aus  dem  jugendfrischen  und  gedankenreichen 
Wissensquell  meines  hochverehrten  Lehrers,  Alexander 
Braun  in  Berlin,  Belehrung  und  Rath  zu  erholen,  so  blieb 
ich  grösstenteils  auf  die  mangelhafte  empirische  Grundlage 
beschränkt,  welche  ich  mir  durch  leidenschaftliche  Zuneigung 
zur  Scientia  amabilis  in  früherer  Zeit  erworben  hatte,  ehe  ich 
durch  den  überwiegenden  Einfluss  von  Johannes  Müller 
zur  vergleichenden  Anatomie  der  Thiere  herübergezogen 
wurde. 

Bei  dem  höchst  unvollkommenen  und  niedrigen  Entwicke- 
lungs- Zustande,  auf  welchem  sich  die  allgemeine  Anatomie 
und  Entwickelungsgeschichte  noch  gegenwärtig  befindet, 
rnusste  der  vorliegende  Versuch,  sie  als  einheitliches  Ganzes 
zusammenzufassen,  mehr  eine  Sammlung  von  bestimmt  for- 
mulirten  Problemen,  als  von  bereits  gelösten  Aufgaben 
werden.  Unter  diesen  Umständen  schien  es  mir  eines  der  drin- 
gendsten Bedürfnisse,  besondere  Aufmerksamkeit  der  schar- 
fen Bestimmung  und  Umschreibung  der  morphologischen  Be- 
griffe zuzuwenden.  In  Folge  der  allgemeinen  Vernachlässi- 
gung der  unentbehrlichen  philosophischen  Grundlagen  ist  in 
der  gesammten  Zoologie  und  Botanik  eine  so  weitgehende 
Unklarheit  und  eine  so  babylonische  Sprachverwirrung  einge- 
rissen, dass  es  oft  unmöglich  ist,  sich  ohne  weitläufige  Um- 


Vorwort.  XXm 

Schreibungen  über  die  allgemeinsten  Grundbegriffe  zu  ver- 
ständigen. Ueberall  in  der  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte ist  Ueberfluss  an  unnützen  und  Mangel  an  den 
unentbehrlichsten  Bezeichnungen.  Viele  der  wichtigsten  und 
alltäglich  gebrauchten  Begriffe  wie  z.  B.  Zelle,  Organ,  regulär, 
symmetrisch,  Embryo,  Metamorphose,  Species,  Verwandt- 
schaft u.  s.  w.  haben  gar  keine  bestimmte  Bedeutung  mehr, 
da  fast  jeder  Morphologe,  falls  er  sich  überhaupt  dabei  etwas 
Bestimmtes  denkt,  etwas  Anderes  darunter  versteht.  In  der 
Botanik  und  Zoologie,  und  ebenso  in  den  einzelnen  Zweigen 
dieser  Wissenschaften,  werden  dieselben  Objecte  mit  ver- 
schiedenen Namen  und  ganz  verschiedene  Objecte  mit  den- 
selben Namen  bezeichnet.  Unter  diesen  Umständen  war  es 
unvermeidlich,  eine  ziemliche  Anzahl  von  neuen  Wörtern 
(dem  internationalen  Herkommen  gemäss  aus  dem  Griechi- 
schen gebildet)  einzuführen,  welche  bestimmte  und  klare  Be- 
griffe fest  und  ausschliesslich  bezeichnen  sollen. 

Die  dunkeln  Schattenseiten  der  herrschenden  organischen 
Morphologie  habe  ich  mir  erlaubt  scharf  zu  beleuchten  und 
ihre  Irrthümer  rücksichtslos  aufzudecken.  Möge  man  in 
meiner  offenen  Sprache  nicht  eitle  Selbstüberhebung  oder 
Verkennung  der  wirklichen  Verdienste  Anderer  erblicken, 
sondern  lediglich  den  Ausdruck  der  festen  Ueberzeugung, 
dass  nur  durch  unumwundene  Wahrheit  der  Fortschritt  in 
der  Wissenschaft  gefördert  werden  kann. 

Wenn  ich  auch  alle  meine  Kräfte  aufgeboten  habe,  um  die- 
sem ersten  systematisch  geordneten  Versuche  einer  allgemeinen 
Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte  ein  möglichst  annehm- 
bares Gewand  zu  geben,  so  bin  ich  mir  doch  wohl  bewusst, 
dass  das  Erreichte  weit,  sehr  weit  hinter  dem  Erstrebten 
zurück  geblieben  ist.     Das  Werk  soll  aber  auch  nichts  Fer- 


XXTV  Vorwort. 

tiges,  sondern  nur  Werdendes  bieten.  Handelt  es  sich  ja  doch 
noch  um  definitive  Sicherstellung  des  festen  Gerüstes  jenes 
erhabenen  Lehrgebäudes ,  welches  die  organische :  Morpho- 
logie der  Zukunft  ausführen  soll.  Meine  Anstrengungen  wer- 
den hinlänglich  belohnt  sein,  wenn  sie  frische  Kräfte  zur  Ver- 
besserung des  Gegebenen  anregen,  und  wenn  dadurch  mehr 
und  mehr  der  Grundgedanke  zur  Geltung  kommt,  welchen 
ich  für  die  erste  und  notwendigste  Vorbedingung  jedes  wirk- 
lichen Fortschritts  auf  unserm  Wissenschafts -Gebiete  halte: 
der  Gedanke  von  der  Einheit  der  gesammten  organischen 
und  anorganischen  Natur,  der  Gedanke  von  der  allgemeinen 
Wirksamkeit  mechanischer  Ursachen  in  allen  erkennbaren  Er- 
scheinungen, der  Gedanke,  dass  die  entstehenden  und  die 
entwickelten  Formen  der  Organismen  nichts  Anderes  sind, 
als  das  nothwendige  Product  ausnahmsloser  und  ewiger 
Naturgesetze. 

Jena,  am  14ten  September  1866. 


Ernst  Heinrich  Haeckel. 


Inhaltsverzeichniss 

des  ersten  Bandes 

der  generellen  Morphologie. 


Seite. 

An  Carl  Gegenbaur.      . VII 

Vorwort XIII 


Erstes  Buch. 

Kritische  und  methodologische  Einleitung  in  die  generelle  Mor- 
phologie der  Organismen 1 

Erstes  Capltel :    Begriff   und  Aufgabe    der  Morphologie    der  Orga- 
nismen   3 

Zweites  Capitel:    Verhältnisa  der  Morphologie   zu  den  anderen  Na- 
turwissenschaften   8 

I.    Morphologie  und  Biologie 8 

H.     Morphologie  und  Physik  (Statik  und  Dynamik) 10 

III.  Morphologie  und  Chemie 12 

IV.  Morphologie  und  Physiologie 17 

Drittes  Capitel:    Eintheilung    der    Morphologie    in    untergeordnete 

Wissenschaften 22 

I.    Eintheilung  der  Morphologie  in  Anatomie  und  Morphogenie.    ...  22 

II.    Eintheilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften.  24 

III.  Anatomie  und  Systematik 31 

IV.  Organologie  und  Histologie 42 

V.    Tectologie  und  Promorphologie , 46 

VI.    Morphogenie  oder  Entwickelungsgeschichte 50 

VII.    Entwickelungsgeschichte  der  Individuen 53 

VIII.    Entwickelungsgeschichte  der  Stämme 57 

IX.    Generelle  und  specielle  Morphologie 60 


2       >n 


XXVI  Inhalt. 

Seite 

Viertes  Capitel:    Methodik   der  Morphologie  der   Organismen.      .     .  63 

Viertes  Capitel:  Erste  Hälfte:  Kritik  der  naturwissenschaft- 
lichen Methoden,  welche  sich  gegenseitig  nothwendig  ergänzen  müssen.  63 

I.     Empirie  und  Philosophie  (Erfahrung  und  Erkenntniss) 63 

II.     Analyse  und  Synthese 74 

III.  Induction  und  Deduction 79 

Viertes   Capitel:    Zweite   Hälfte:    Kritik    der    naturwissen- 
schaftlichen Methoden,  welche  sich  gegenseitig  nothwendig  ausschliessen 

müssen , gg 

IV.  Dogmatik  und  Kritik gg 

V.     Teleologie  und  Causalität  (Vitalismus  und  Mechanismus),     ....  94 

VI.     Dualismus  und  Monismus 105 


Zweites  Buch. 
Allgemeine  Untersuchungen  über  die  Natur  und  erste  Entstehung 
der  Organismen,  ihr  Verhältniss  zu  den  Anorganen,  und  ihre 

Eintheilung  in  Thiere  und  Pflanzen.     .    .    , 109 

Fünftes  Capitel:   Organismen   und  Anorgane 111 

I.     Organische  und  anorganische  Stoffe 111 

I,  1.     Differentielle  Bedeutung  der  organischen  und  anorganischen  Ma- 
terien   111 

I,  2.     Atomistische   Zusammensetzung  der  organischen  und  anorgani- 
schen Materien 115 

I,  3.     Verbindungen   der  Elemente   zu  organischen  und  anorganischen 

Materien. 11g 

I,  4.    Aggregatzustände  der  organischen  und  anorganischen  Materien.  122 
II.     Organische  und  anorganische  Formen 130 

II,  1.     Individualität  der  organischen  und  anorganischen  Gestalten.     .  130 

II,  2.     Grundformen  der  organischen  und  anorganischen  Gestalten.     .  137 
in.     Organische  und  anorganische  Kräfte 140 

III,  1.     Lebenserscheinungen  der  Organismen  und  physikalische  Kräfte 

der  Anorgane 140 

III,  2.     Wachsthum  der  organischen  und  anorganischen  Individuen.    .  141 

III,  3.     Selbsterhaltung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen.  149 

III,  4.     Anpassung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen.     .  152 
III,  5.     Correlation  der  Theile  in  den  organischen  und  anorganischen 

Individuen 158 

III,  6.     Zellenbildung  und  Krystallbildung 159 

IV.     Einheit  der  organischen  und  anorganischen  Natur 164 

Sechstes  Capitel:  Schöpfung  und    S  elbstzougung 167 

I.     Entstehung  der  ersten  Organismen 167 

II.     Schöpfung 171 

HI.     Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.    ' 174 

IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie 179 


Inhalt.  XXVII 

Seite 

Siebentes  Capitel:   Thiere  und   Pflanzen 191 

I.     Unterscheidung  von  Thier  und  Pflanze 191 

IL     Bedeutung  der  Systemgruppen 195 

III.  Ursprung  des  Thier-  und  Pflanzen -Reiches 198 

IV.  Stämme  der  drei  Reiche 203 

V.     Characteristik  der  Stämme  und  Reiche 206 

VI.     Character  des  Thierreiches 209 

VI,  A.    Chemischer  Character  des  Thierreiches 209 

VI,  B.     Morphologischer  Character  des  Thierreiches 210 

VI,  V.     Physiologischer  Character  des  Thierreiches 212 

VII.     Character  des  Protistenreiches ....  215 

VII,  A.     Chemischer  Character  des  Protistenreiches 215 

VII,  B.    Morphologischer  Character  des  Protistenreiches 216 

VII,  C.    Physiologischer  Character  des  Protistenreiches 218 

VIII.     Character  des  Pflanzenreiches 220 

VIII,  A.     Chemischer  Character  des  Pflanzenreiches 220 

VIII,  B.    Morphologischer  Character  des  Pflanzenreiches 222 

VIII,  C.    Physiologischer  Character  des  Pflanzenreiches 223 

IX.    Vergleichung  der  drei  Reiche 226 

X.     Wechselwirkung  der  drei  Reiche 230 

XI.    Die  Seele  als  Character  der  Thiere 232 

XII.     Zoologie,  Protistik,  Botanik 234 

Uebersicht  aller  Zweige  der  Zoologie 238 


Drittes  Buch. 
Erster  Theil  der  allgemeinen  Anatomie. 

Generelle  Tectologie  oder  allgemeine  Structurlehre  der 

Organismen 239 

Achtes  Capitel:  Begriff  und  Aufgabe   der    Tectologie 241 

I.     Die  Tectologie  als  Lehre  von  der  organischen  Individualität.  .     .     .  241 

IL    Begriff  des  organischen  Individuums  im  Allgemeinen 243 

III.  Verschiedene  Auffassungen  des  pflanzlichen  Individuums.     ....  245 

IV.  Verschiedene  Auffassungen  des  protistischen  Individuums 251 

V.     Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums 255 

VI.     Morphologische  und  physiologische  Individualität 265 

Neuntes  Capitel:   Morphologische  Individualität  der  Organismen.  .  269 
I.     Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden  oder  Plasma- 
stücke       269 

I,  1.    Unterscheidung  von  Cytoden  und  Zellen 269 

I,  2.     Zusammensetzung  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen)  aus  ver- 
schiedenen Formbestandtheilen 275 

A.  Plasma  (Protoplasma)  Zellstoff. 275 

B.  Nucleus  (Cytoblastus)  Zellkern 278 


XXVIII  Inhalt. 

Seite 

C.  Plasma  -Producte        279 

D.  Plasma  und  Nucleus  als  active  Zellsubstanz     ....  287 
II.     Morphologische   Individuen    zweiter  Ordnung:    Organe    oder    Werk- 
etücke   289 

II,  1.     Morphologischer  Begriff  des  Organs 291 

II,  2.     Eintheilung  der  Organe  in  verschiedene  Ordnungen 291 

A.  Organe  erster  Ordnung:    Zellfusionen 296 

B.  Organe  zweiter  Ordnung:    Einfache  oder  homoplastische 
Organe 298 

C.  Organe  dritter  Ordnung:  Zusammengesetzte  oder  hetero- 
plastische Organe 299 

D.  Organe  vierter  Ordnung:    Organ- Systeme 301 

E.  Organe  fünfter  Ordnung:   Organ  -  Apparate 302 

III.  Morphologische    Individuen    dritter  Ordnung:    Antimeren    oder  Ge- 
genstücke   303 

IV.  Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:   Metameren  oder  Folge- 
stücke   QIC) 

V.     Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Personen  oder  Prosopen.  318 

VI.     Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung:    Stöcke  oder  Cormen.  326 

Zehntes  Capitel:    Physiologische   Individualität   der  Organismen.  332 

I.     Die  Piastiden  als  Bionten.   (Physiologische  Individuen  erster  Ordnung.'  332 

I,  A.     Die  Piastiden  als  actuelle  Bionten qog 

I,  B.     Die  Piastiden  als  virtuelle  Bionten. 33g 

I,  V.    Die  Piastiden  als  partielle  Bionten _  33g 

II.     Die  Organe  als  Bionten.     Physiologische  Individuen  zweiter  Ordnung.)  340 

DI,  A.    Die  Organe  als  actuelle  Bionten 343 

II,  B.     Die  Organe  als  virtuelle  Bionten 343 

II,  C.     Die  Organe  als  partielle  Bionten ....  345 

III.     Die  Antimeren  als  Bionten.   (Physiologische  Individuen  dritter  Ordn.).  347 

III,  A.     Die  Antimeren  als  actuelle  Bionten 347 

III,  B.     Die  Antimeren  als  virtuelle  Bionten 348 

III,  C.    Die  Antimeren  als  partielle  Biont  n 351 

IV.    Die  Metameren  als  Bionten.  (Physiologische  Individuen  vierter  Ordn.).  351 

IV,  A.    Die  Metameren  als  actuelle  Bionten. 352 

IV,  B.    Die  Metameren  als  virtuelle  Bionten 355 

IV,  C.    Die  Metameren  als  partielle  Bionten 356 

V.  Die  Personen  als  Bionten.    (Physiologische  Individuen  fünfter  Ordn.).  357 

V,  A.    Die  Personen  als  actuelle  Bionten 357 

V,  B.     Die  Personen  als  virtuelle  Bionten 359 

V,  C.    Die  Personen  als  partielle  Bionten 359 

VI.     Die  Stöcke  als  Bionten.    (Physiologische  Individuen  sechster  Ordn.).  360 

VI,  A.     Die  Stöcke  als  actuelle  Bionten 361 

VI,  B.     Die  Stöcke  als  virtuelle  Bionten 363 

VI,  C.    Die  Stöcke  als  partielle  Bionten 363 

Elftes  Capitel:  Tectologische   Thesen 364 

I.     Thesen  von  der  Fundamental  -  Structur  der  Organismen 364 

II.     Thesen  von  der  organischen  Individualität 366 


Inhalt.  XXIX 

Seite 

III.  Thesen  von  den  einfachen  organischen  Individuen 368 

IV.  Thesen  von  den  zusammengesetzten   organischen  Individuen.    .     .     .     368 
V.     Thesen  von  der  physiologischen  Individualität 369 

VI.     Thesen  von  der  tectologischen  Differenzirung  und  Centralisation.      .     370 
VII.     Thesen  von  der  Vollkommenheit  der  verschiedenen  Individualitäten.     372 


Viertes  Buch. 
Zweiter  Theil  der  allgemeinen  Anatomie. 

Generelle    Promorphologie    oder    allgemeine   Grundfor- 
menlehre  der  Organismen 375 

Zwölftes  (apitel:   Begriff  und  Aufgabe   der  Promorphologie.  .     .     .  377 

1.  Die  Promorphologie  als  Lehre  von  den  organischen  Grundformen.    .  377 
II.     Begriff  der  organischen  Grundform  im  Allgemeinen 379 

III.  Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen.     .     .     .  381 

IV.  Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie 387 

V.     Grundformen  aller  Individualitäten. 390 

VI.     Promorphologische  Bedeutung  der  Antimeren 392 

VII.     Systematische  Bedeutung  der  Grundformen 394 

VIII.     Promorphologie  und  Orismologie 396 

Dreizehntes  Capitel:    System  der  organischen  Grundformen 400 

Er ste  Hauptabtheilung  der  organischen  Grundformen: 
Lipostaura.  Organische  Grundformen  ohne  Kreuz- 
axen  und   ohne  M'edianebene  (Sagittalebene). 

I.     Axenlose.     Anaxonia.     Spougilla-Form 400 

II.     Axenfeste.     Axonia 402 

II,  1.     Gleichaxige.     Homaxonia.     Kugeln.     Sphaerozoum-Form 404 

II,  2.     Ungleichaxige.     Hcteraxonia 405 

2,  A.     Vielaxige.     Polyaxoni«.     Endosphärische  Polyeder 406 

An.     Irreguläre  Vielaxige.     Polyaxonia  arrhythmn.       .......  407 

a,  I.     TJngleichvieleckige.     Allopolyyonu.     Rhizosphaera- Forin.      .     .  408 

a,  II.     Gleichvieleckige.     Isopolyyona.     Ethmosphaera-Form.      .     .     .  409 
Ah.     Reguläre  Vielaxige.     Pohjaxonin  rhythmica 410 

b,  I.     Icosaedra      Aulosphaera-icosaedra-Form 411 

b,  II.     Dodecaedra.     Pollen -Form  von  Bucholzia  maritima.    .     .     .  412 

b,  III.     Octaedra.     Antheridien-Form  von  Ohara 412 

b,  IV.    Hexaedro.     Hexaedromma-Form  (Actinomma  drymodes).     .     .  413 

b,  V.     Tetraedra.     Pollen -Form  von  Corydalis  sempervirens.    .     .     .  415 

2,  B.     Hauptaxige.     Protaxonia .  416 

Bft-     Einaxige.     Monaxonia 420 

(i,  I.     Gleichpolige  Einaxige.     Haplopola 422 

I,  1.      Sphaeroide.     Haplopola  anepipeda.     Ooccodiscus-Form.  .     .  423 

I,  2.     Cylinder.     Haplopola  amphepipeda.     Pyrosoma-Form. .     .     .  424 


XXX  Inhalt. 

Seite 

n,  II.     Ungleichpolige  Einaxige.     Diplopola 426 

II,  1.     Eier.     Diplopola  nnepipeda.     Ovaliua 426 

II,  2.     Kegel.     Diplopola  monepipeda.     Couulina.   ■ 428 

II,  3.     Kegelstumpfe.      Diplopola   amphepipeda 429 

Bli.    Kreuzaxige.     Stauraxonia 430 

Zweite  Hauptabtheilung  der  organischen  Grundformen: 

Stauraxonia  (mit  Ausschluss  der  Zeugiten.) 
Organische   Grundformen  mit  Kreuzaxen  und  ohne  Me- 
diauebene  (Sagittalebene) :  Doppel-Pyramiden  oder  Pyramiden 
(mit  Ausschluss   der  Allopolen).     (Strahlige  oder  reguläre  For- 
men der  meisten  Autoren. 430 

I.     Gleichpolige  Kreuzaxige.     Homopola.     Doppelpyramiden 436 

I,  1.     Gleichpolige  Gleichkreuzaxige.   Isoslanra.   Reguläre  Doppelpyramiden.  437 
1,  A.     Vielseitige  reguläre  Doppelpyramiden.     Isostaura  polypleura.     He- 

liodiscus-Form 438 

1,  H.     Quadrat -Octaeder.    Isoslaura  octopleura.    Acanthostaurus-Form.  440 
1,2.     Gleichpolige  Ungleichkreuzaxige.     Allostaura      Amphithecte  Doppel  - 

Pyramiden 446 

1,  A.     Vielseitige  amphithecte  Doppelpyramiden.     Allostaura  polypleura. 

Amphilonche-Form 447 

1,  B.     Rhomben -Octaeder.    Allostaura  octopleura.    Stephanastrum -Form.  450 

II.     Ungleichpolige  Kreuzaxige.     Heteropola.     Pyramiden 452 

II,  1.     Ungleichpolige  Kreuzaxige.     Homostaura.    Reguläre  Pyramiden.   .     .  459 

1,  A.     Geradzahlige  reguläre  Pyramiden.     lsopola 465 

Aa.     Geradzahlige  Vielstrahler.     Myrittctinota.     Aequorea-Form.     .     .  466 

Ab.     Zehnstrahler.     Dccactinota.     Aegineta-globosa-Form 467 

Ac.    Achtstrahler.     Octactinota.     Alcyonium-Form 468 

Ad.     Sechsstrahler.     Hexadinola.     Carmarina-Form 469 

Ae.     Vierstrahler.     Tetractinota     Aurelia -Form 469 

1,  B.     Ungeradzahlige  reguläre  Pyramiden.     Anisopola 471 

ha.     Ungeradzahlige  Vielstrahler.     Pohjactinota.     Brisinga -Form.    .     .  471 

Bh.     Neunstrahler.     Enneactinota.     Enneactis-Form 472 

Bv.     Siebenstrahler.     Heptactinota.     Trieutalis-Form 472 

Bd.    Fünfstrahler.     Pentactinota.     Ophiura-Form 473 

Be.     Dreistrahler.     Triactinota.     Iris -Form 474 

II,  2.     Ungleichpolige    Ungleichkreuzaxige.     Heterostaura.     Irreguläre    Py- 

ramiden   475 

2,  A.     Amphithecte  Pyramiden.     Antopola 479 

Aa.     Vielseitige  amphithecte  Pyramiden:    Oxystaura 481 

a,  I.     Achtreifige.     Octophragma.     Eucharis-Form •.     .     .  482 

a,  II.     Sechsreifige.     Hexaphfagma.     Flabellum-Form.      .     ...     .     .  485 

Ab.     Rhomben -Pyramiden.     Orthoslaura 488 

b,  I.     Vierreifige.     Tetraphragma.     Saphenia-Form 489 

b,  II.     Zweireifige.     Diphragma.     Petalospyris-Form 492 

2,  B.     Halbe  amphithecte  Pyramiden.     Allopola  (Zeugita) 495 

Dritte  Hauptabtheilung'  der  organischen  Grundformen: 
Zeugita  (Allopola).  Organische  Grundformen  mit 
Kreuzaxen  und  mit  einer  Mediauebene    (Sagittalebene). 

(Bilaterale  oder  symmetrische  Forme  nder  meisten  Autoren.)     .  495 


Inhalt.  XXXI 

Seite 
I.     Schienige    Grundformen.      Amphipleura.      (Hälften    einer    amphithecten 

Pyramide  von  4+2n  Seiten.)       500 

I,  1.     Siebenschienige.     Heptamphipleura.     Disandra-Form 501 

I,  2.     Sechsschienige.     Hexamphipleum     Oculina-Form 501 

1,3.     Fünfschienige.     Pentamphipleura.     Spatangus-  Form 502 

I,  4.     Dreischienige.     Triamphiplewa.     Orchis-Form 505 

II.     Jochpaarige  Grundformen:     Ztjiiopleurn     (Halbe    Rhomben  -  Pyramiden 

oder  gleichschenkelige  Pyramiden.)      .     .     , 507 

II,  1.     Zweipaarige.     Telraplcnrn.     Doppelt- gleichschenkelige  Pyramiden.  .  511 

1,  A.     Gleichhälftige  Zweipaarige.     Eutelrapleura 513 

An.     Eutetrapleura  radialia:  mit  drei  Antimeren-Formeu.  Praya-Form.  513 
Ab.     Eutetrapleura  interradialia:  mit  zwei  Antimeren-Formen.    Nereis- 

Form 515 

1,  ß.     Ungleichhälftige    Zweipaarige.     Dystelrapleura.       Abyla-Form.  518 

II,  2.     Einpaarige.     Diplenra.     Einfach -gleichschenkelige  Pyramiden.       .     .  519 

2,  A.     Gleichhälftige  Einpaarige:   Eudiplenr«.     Homo -Form 521 

2,  B.     Ungleichhälftige  Einpaarige:    Dysdipleura .     Pleuronectes-Form.  .  524 

Vierzehntes  Capitel:    Grundformen    der    sechs    Iudividualitäts-Ord- 

nungen 528 

I.  Grundformen  der  Piastiden 528 

II.     Grundformen  der  Organe 531 

III.  Grundformen  der  Antimeren 533 

IV.  Grundformen  der  Metameren .. 535 

V.  Grundformen  der  Personen 537 

VI.  Grundformen  der  Stöcke 538 

Fünfzehntes  Capitel:  Promorphologische   Thesen 540 

I.     Thesen  von  der  Fundamentalform  der  Organismen 540 

II.  Thesen  von    dem  Verhältniss  der  organischen  zu  den  anorganischen 

Grundformen 541 

III.  Thesen  von  der  Constitution  der  individuellen  Grundformen.    .     .     .  543 

IV.  Thesen  von  den  Mitten -Differenzen  der  Grundformen 544 

V.     Thesen  von  den  lipostauren  Grundformen 545 

VI.     Thesen  von  den  stauraxonien  Grundformen 547 

VII.     Thesen  von  den  zeugiten  Grundformen 548 

VIII.     Thesen  von  der  Vollkommenheit  der  organischen  Grundformen.   .     .  550 

IX.  Thesen  von  der  Hemiedrie  der  organischen  Grundformen 551 

X.  Thesen  von  der  Krystallform  organischer  Individuen 552 

XI.     Thesen  von  den  Grundformen  der  sechs  Individualitäts  -  Ordnungen.  552 


XXXII 


Inhalt. 


Anhang  zum  vierten  Buche. 

Seite 

I.     Das  promorphologische  System  als  generelles  Formensystem.     .     .     .  554 

II.     Uebersicht  der   wichtigsten  stereometrischen  Grundformen  nach  ihrem  555 

verschiedenen  Verhalten  zur  Körpermitte 

III.  Tabelle  zur  Bestimmung  der  Grundformen 556 

IV.  Uebersicht  der  realen  Typen  der  Grundformen 557 

V.     Tabelle  über  die  promorphologischen  Kategorieen 558 

Erklärung  der  Tafeln .• 559 


Berichtigungen: 

Seite  45,  Zeile  14  von  oben,  lies:  Zellfusionen  —  statt:  Zellenstöcke. 


50, 

53, 
57, 
57, 

59, 
60, 
137, 
266, 
411, 
413, 
413, 


10  von  oben,  lies:  Entwick  elungsge  schichte  —  statt:  Mor- 

phogenesis. 
15  von  unten,  lies:  Buche  —  statt:  Abschnitt. 

1  von  oben,  lies:  fünften  —  statt:  dritten. 

3  und  6  von  oben,  lies:  Zeugungskreise  •-  statt:  Eiproducte. 

2  von  unten,  lies:  Bionten  —  statt:  Personen. 

4  von  oben,  lies:  Genealogie        statt:  Phylogenesis. 
19  von  unten,  setze:  unmittelbar  —  vor:  zugänglich. 
7  von  unten,  streiche:  Salpenketten. 

17  von  unten,  lies:  zwölf  —  statt:  zwanzig. 

10  von  unten,  lies:  Pyramide  —  statt:  Octaeder. 

9  von  unten,  setze:  ungleichpolige  —  vor:  Hauptaxe. 


Erstes  Buch. 


Kritische   und    methodologische   Einleitung   in   die 
generelle  Morphologie   der  Organismen. 


Ilaecke],    Generelle  Morphologie. 


„Wenn  wir  Naturgegenstände,  besonders  aber  die  lebendigen,  dergestalt  gewahr 
werden,  dass  wir  uns  eine  Einsicht  in  den  Zusammenhang  ihres  Wesens  und  Wir- 
kens zu  verschärfen  wünschen,  so  glauben  wir  zu  einer  solchen  Kenntniss  am  besten 
durch  Trennung  der  Theile  gelangen  zu  können;  wie  denn  auch  wirklich  dieser 
Weg  uns  sehr  weit  zu  führen  geeignet  ist.  Was  Chemie  und  Anatomie  zur  Ein- 
und  Uebersicht  der  Natur  beigetragen  haben,  dürfen  wir  nur  mit  wenig  Worten  den 
Freunden  des  Wissens  in's  Gedächtniss  zurückrufen. 

„Aber  diese  trennenden  Bemühungen,  immer  und  immer  fortgesetzt,  bringen  auch 
manchen  Nacht  heil  hervor  Das  Lebendige  ist  zwar  in  Elemente  zerlegt,  aber  man 
kann  es  aus  diesen  nicht  wieder  zusammenstellen  und  heieben.  Dieses  gilt  schon 
von  vielen  anorganischen,  geschweige  von  organischen  Körpern. 

,,Es  hat  sich  daher  auch  in  dem  wissenschaftlichen  Menschen  zu  allen  Zeiten 
ein  Trieb  hervorgethan,  die  lebendigen  Bildungen  als  solche  zu  erkennen,  ihre  äusse- 
ren sichtbaren  greiflichen  Theile  im  Zusammenhange  zu  erfassen,  sie  als  Andeutun- 
gen des  Inneren  aufzunehmen,  und  so  das  Ganze  in  der  Anschauung  gewissermaassen 
zu  beherrschen.  Wie  nahe  dieses  wissenschaftliche  Verlangen  mit  dem  Kunst-  und 
Nachahmungstriebe    zusammenhänge ,    braucht  wohl  nicht  umständlich  ausgeführt  zu 

werden. 

„Man  findet  daher  in  dem  Gange  der  Kunst,  des  Wissens  und  der  Wissenschaft 
mehrere  Versuche,  eine  Lehre  zu  gründen  und  auszubilden,  welche  wir  die  Mor- 
phologie nennen  möchten." 

Goethe  (Jena,   1807). 


Erstes   Capitel. 

Begriff  und  Aufgabe    der  Morphologie  der  Organismen. 

„Weil  ich  für  mich  und  Andere  einen  freieren  Spielraum  in 
der  Naturwissenschaft,  als  man  uns  bisher  gegönnt,  zu  erringen 
wünsche,  so  darf  man  mir  und  den  Gleichgesinnten  keineswegs 
verargen,  wenn  wir  dasjenige,  was  unseren  rechtmässigen  For- 
derungen entgegensteht,  scharf  bezeichnen  und  uns  nicht  mehr 
gefallen  lassen,  was  man  seit  so  vielen  Jahren  herkömmlich  gegen 
uns  verübte"  Goethe. 


Die  Morphologie  oder  Formenlehre  der  Organismen  ist 
die  gesammte  Wissenschaft  von  den  inneren  und  äusseren 
Formenverhältnissen  der  belebten  Naturkörper,  der  Thiere 
und  Pflanzen,  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  Die  Aufgabe  der 
organischen  Morphologie  ist  mithin  die  Erkenntniss  und  die 
Erklärung  dieser  Formenverhältnisse,  d.  h.  die  Zurückführuug 
ihrer  Erscheinung  auf  bestimmte  Naturgesetze. 

Wenn  die  Morphologie  ihre  eigentliche  Aufgabe  erkennt  und  eine 
Wissenschaft  sein  will,  so  darf  sie  sich  nicht  begnügen  mit  der  Kennt- 
niss  der  Formen,  sondern  sie  muss  ihre  Erkenntniss  und  ihre  Er- 
klärung erstreben,  sie  muss  nach  den  Gesetzen  suchen,  nach  denen 
die  Formen  gebildet  sind.  Es  muss  diese  hohe  Aufgabe  unserer  Wis- 
senschaft desshalb  hier  gleich  beim  Eintritt  in  dieselbe  ausdrücklich 
hervorgehoben  werden,  weil  eine  entgegengesetzte  irrige  Ansicht  von 
derselben  weit  verbreitet,  ja  selbst  heutzutage  noch  die  bei  weitem 
vorherrschende  ist.  Die  grosse  Mehrzahl  der  Naturforscher,  welche 
sich  mit  den  Formen  der  Organismen  beschäftigen,  Zoologen  sowohl, 
als  Botaniker,  begnügt  sich  mit  der  blossen  Kenntniss  derselben; 
sie  sucht  die  unendlich  mannichfaltigen  Formen,  die  äusseren  und  in- 
neren Gestaltungs-Verhältnisse  der  thierischen  und  pflanzlichen  Körper 
auf  und  ergötzt  sich  an  ihrer  Schönheit,  bewundert  ihre  Mannichfaltig- 
keit  und  erstaunt  über  ihre  Zweckmässigkeit;  sie  beschreibt  und  unter- 

1* 


4  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen. 

scheidet  alle  einzelnen  Formen,  belegt  jede  mit  einem  besonderen  Namen 
und  findet  in  deren  systematischer  Anordnung-  ihr  höchstes  Ziel. 

Diese  Kenntniss  der  organischen  Formen  gilt  leider  noch  heute 
in  den  weitesten  Kreisen  als  wissenschaftliche  Morphologie  der  Orga- 
nismen. Man  verachtet  und  verspottet  zwar  die  früher  fast  ausschliess- 
lich herrschende  oberflächliche  Systematik,  welche  sich  mit  der  blossen 
Kenntniss  der  äusseren  Formenverhältnisse  der  Thiere  und  Pflanzen 
und  mit  deren  systematischer  Classification  begnügte.  Man  vergisst 
dabei  aber  ganz,  dass  die  gegenwärtig  die  meisten  Zoologen  und  Bo- 
taniker beschäftigende  Kenntniss  der  inneren  Formenverhältnisse  an  sich 
betrachtet  nicht  um  ein  Haar  höher  steht,  und  ebenso  wenig  an  und 
für  sich  auf  den  Rang  einer  erkennenden  Wissenschaft  Anspruch  machen 
kann.  Die  anatomischen  und  histologischen  Darstellungen  einzelner  Theile 
von  Thieren  und  Pflanzen,  sowie  die  anatomisch-histologischen  Mono- 
graphieen  einzelner  Formen,  welche  sich  in  unseren  zoologischen  und 
botanischen  Zeitschriften  von  Jahr  zu  Jahr  immer  massenhafter  anhäu- 
fen und  in  deren  Production  von  den  Meisten  das  eigentliche  Ziel  der 
morphologischen  Wissenschaft  gesucht  wird,  sind  für  diese  von  ebenso 
untergeordnetem  Werttie,  als  die  im  vorigen  Jahrhundert  vorherrschenden 
Beschreibungen  und  Classificationen  der  äusseren  Species-Formen.  Die 
Zootomie  und  die  Phytotomie  sind  an  sich  so  wenig  wirkliche  Wissen- 
schaften, als  die  von  ihnen  so  verachtete,  sogenannte  Systematik;  sie 
haben,  wie  diese,  bloss  den  Rang  einer  unterhaltenden  Gemüths-  und 
Augen-Ergötzung.  Alle  Kenntnisse,  die  wir  auf  diesem  Wege  erlangen, 
sind  nichts  als  Bausteine,  aus  deren  Verbindung  das  Gebäude  unserer 
\\  issenschaft  erst  aufgerichtet  werden  soll. 

Indem  sich  nun  die  grosse  Mehrzahl  der  sogenannten  Zoologen 
und  Botaniker  mit  dem  Aufsuchen,  Ausgraben  und  Herbeischleppen 
dieser  Bausteine  begnügt,  und  in  dem  Wahne  lebt,  dass  diese  Kunst 
die  eigentliche  Wissenschaft  sei,  indem  sie  das  Kennen  mit  dem  Er- 
kennen verwechsele  kann  es  uns  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  der 
Bau  unseres  wissenschaftlichen  Lehrgebäudes  selbst  noch  unendlich 
hinter  den  bescheidensten  Anforderungen  unserer  heutigen  Bildung  zu- 
rück ist.  Der  denkenden  Baumeister  sind  nur  wenige,  und  diese  we- 
nigen stehen  so  vereinzelt,  dass  sie  unter  der  Masse  der  Handlanger 
verschwinden  und  nicht  von  den  letzteren  verstanden  werden. 

So  gleicht  denn  leider  die  wissenschaftliche  Morphologie  der  Or- 
ganismen heutzutage  mehr  einem  grossen  wüsten  Steinhaufen,  als  einem 
bewohnbaren  Gebäude.  Und  dieser  Steinhaufen  wird  niemals  dadurch 
ein  Gebäude,  dass  man  alle  einzelnen  Steine  inwendig  und  auswendig 
untersucht  und  mikroskopirt,  beschreibt  und  abbildet,  benennt  und  dann 
wieder  hinwirft.  Wir  kennen  zwar  die  üblichen  Phrasen  von  den 
riesenhaften   Fortschritten   der  organischen    Naturwissenschaften,    und 


Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  5 

der  Morphologie  insbesondere;  die  Selbstbewunderung;,  mit  der  man 
die  quantitative  Vermehrung-  unserer  zoologischen  und  botanischen 
Kenntnisse  alljährlich  anstaunt,  Wo  aber,  fragen  wir,  bleibt  die  den- 
kende und  erkennende  Verwerthung  dieser  Kenntnisse?  Wo  bleibt 
der  qualitative  Fortschritt  in  der  Erkenntniss?  Wo  bleibt  das  erklä- 
rende Licht  in  dem  dunklen  Chaos  der  Gestalten?  Wo  bleiben  die 
morphologischen  Naturgesetze?  Wir  müssen  offen  gestehen,  in 
diesem  rein  quantitativen  Zuwachs  mehr  Ballast,  als  Nutzen  zu  sehen. 
Der  Steinhaufen  wird  nicht  dadurch  zum  Gebäude ;  dass  er  alle  Jahr 
um  so  und  so  viel  höher  wird.  Im  Gegentheil,  es  wird  nur  schwie- 
riger, sich  in  demselben  zurechtzufinden,  und  die  Ausführung  des  Baues 
wird  dadurch  nur  in  immer  weitere  Ferne  gerückt. 

Nicht  mit  Unrecht  erhebt  die  heutige  Physiologie  stolz  ihr  Haupt 
über  ihre  Schwester,  die  armselige  Morphologie.  So  lange  die  letztere 
nicht  nach  der  Erklärung  der  Formen,  nach  der  Erkenntniss  ihrer 
Bildungsgesetze  strebt,  ist  sie  dieser  Verachtung  werth.  Zwar  möchte 
sie  dann  wenigstens  auf  den  Rang  einer  dcscriptiven  Wissenschaft  An- 
spruch machen.  Indessen  ist  diese  Bezeichnung  selbst  ihr  nicht  zu 
gewähren.  Denn  eine  bloss  beschreibende  Wissenschaft  ist  eine  Con- 
tradictio  in  adjecto.  Nur  dadurch,  dass  der  gesetzmässige  Zusam- 
menhang in  der  Fülle  der  einzelnen  Erscheinungen  gefunden 
wird,  nur  dadurch  erhebt  sich  die  Kunst  der  Formbeschreibung  zur 
Wissenschaft  der  Formerkenntniss. 

Wenn  wir  nun  nach  den  Gründen  fragen,  warum  die  wissenschaft- 
liche Morphologie  noch  so  unendlich  zurück  ist,  warum  noch  kaum  die 
ersten  Grundlinien  dieses  grossen  und  herrlichen  Gebäudes  gelegt  sind, 
warum  der  grosse  Steinhaufen  noch  roh  und  ungeordnet  ausserhalb 
dieser  Grundlinien  liegt,  so  finden  wir  freilich  die  rechtfertigende  Ant- 
wort theilweis  in  der  ausserordentlichen  Schwierigkeit  der  Aufgabe. 
Denn  die  wissenschaftliche  Morphologie  der  Organismen  ist  vielleicht 
von  allen  Naturwissenschaften  die  schwierigste  und  unzugänglichste. 
Wohl  in  keiner  andern  Naturwissenschaft  steht  die  reiche  Fülle  der 
Erscheinungen  in  einem  solchen  Missverhältnisse  zu  unseren  dürftigen 
Mitteln,  sie  zu  erklären,  ihre  Gesetzmässigkeit  zu  erkennen  und  zu  be- 
gründen. Das  Zusammenwirken  der  verschiedensten  Zweige  der  Natur- 
wissenschaft, welches  z.  B.  die  Physiologie  in  dem  letzten  Decennium 
auf  eine  so  ansehnliche  Höhe  erhoben  hat,  kommt  der  Morphologie 
nur  in  äusserst  geringem  Maasse  zu  statten.  Und  die  untrügliche 
mathematische  Sicherheit  der  messenden  und  rechnenden  Methode, 
welche  die  Morphologie  der  anorganischen  Naturkörper,  die  Krystallo- 
graphie,  auf  einen  so  hohen  Grad  der  Vollendung  erhoben  hat,  ist  in 
der  Morphologie  der  Organismen  fast  nirgends  anwendbar. 

Zum  grossen  Theil  aber  liegt  der  höchst  unvollkommene  Zustand 


6  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen. 

unserer  heutigen  Morphologie  der  Organismen  auch  an  dem  unwissen- 
schaftlichen Verfahren  der  Morphologen,  welches  wir  in  den  obigen 
Sätzen  bei  weitem  noch  nicht  so  scharf  gerügt  haben,  wie  es  gerügt 
zu  werden  verdiente.  Vor  Allem  ist  es  die  übermässige  Vernachlässi- 
gung strenger  Denkthätigkeit,  der  fast  allgemeine  Mangel  an 
wirklich  vergleichender  und  denkender  Naturbetrachtung,  dem  wir  hier 
den  grössten  Theil  der  Schuld  beimessen  müssen.  Freilich  ist  es  un- 
endlich viel  bequemer,  irgend  eine  der  unzähligen  Thier-  und  Pflan- 
zen-Formen herzunehmen,  sie  mit  den  ausgebildeten  anatomischen  und 
mikroskopischen  Hülfsmitteln  der  Neuzeit  eingehend  zu  untersuchen, 
und  die  gefundenen  Formenverhältnisse  ausführlich  zu  beschreiben  und 
abzubilden;  freilich  ist  es  unendlich  viel  bequemer  und  wohlfeiler  solche 
sogenannte  „Entdeckungen"  zu  machen,  als  durch  methodische  Ver- 
gleichung,  durch  angestrengtes  Denken  das  Verständniss  der  beob- 
achteten Form  zu  gewinnen  und  die  Gesetzmässigkeit  der  Form- 
Erscheinung  nachzuweisen.  Insbesondere  in  den  letzten  acht  Jahren, 
seit  dem  allzufrühen  und  nicht  genug  zu  beklagenden  Tode  von  Jo- 
hannes Müller  (1858),  dessen  gewaltige  Autorität  bei  seinen  Lebzeiten 
noch  einigermaassen  strenge  Ordnung  auf  dem  weiten  Gebiete  der  or- 
ganischen Morphologie  aufrecht  zu  erhalten  wusste,  ist  eine  fortschrei- 
tende Verwilderung  und  allgemeine  Anarchie  auf  demselben  eingerissen, 
so  dass  jede  strenge  Vergleichung  der  quantitativ  so  bedeutend  wach- 
senden jährlichen  Leistungen  einen  eben  so  jährlich  beschleunigten  qua- 
litativen Rückschritt  nachweist.  In  der  That  nimmt  die  denkende 
Betrachtung  der  organischen  Formen  heutzutage  in  demselben  Verhält- 
nisse alljährlich  ab;  als  die  gedankenlose  Production  des  Rohmaterials 
zunimmt.  Sehr  richtig  sprach  in  dieser  Beziehung  schon  Victor  Carus 
vor  nunmehr  13  Jahren  die  freilich  wenig  beherzigten  Worte:  „Wie  es 
für  unsere  Zeit  charakteristisch  ist,  dass  fast  alle  Wissenschaften  sich 
in  endlose  Specialitäten  verlieren  und  nur  selten  zu  dem  rothen  Faden 
ihrer  Entwicklung  zurückkommen,  so  scheut  man  sich  auch  in 
der  Biologie  (und  ganz  vorzüglich  in  der  Morphologie!)  vor  An- 
wendung selbst  der  ungefährlichsten  Denkprocesse." 

Neben  der  fast  allgemein  herrschenden  Denkträgheit  ist  es  freilich 
auch  sehr  oft  die  höchst  mangelhafte  allgemeine  Bildung,  der 
Mangel  an  philosophischer  Vorbildung  und  an  Ueberblick  der  gesamm- 
ten  Naturwissenschaft,  welcher  den  Morphologen  unserer  Tage  den  Ge- 
sichtskreis so  verengt,  dass  sie  das  Ziel  ihrer  eigenen  Wissenschaft 
nicht  mehr  sehen  können.  Die  grosse  Mehrzahl  der  heutigen  Mor- 
phologen, und  zwar  sowohl  der  sogenannten  „Systcniatiker,"  welche 
die  äusseren  Formen,  als  der  sogenannten  „vergleichenden  Anatomen, u 
welche  den  inneren  Bau  der  Organismen  beschreiben  (ohne  ihn  zu 
vergleichen,  und  ohne  über  den  Gegenstand  überhaupt  ernstlich  nach- 


Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  7 

zudenken!)  hat  das  hohe  und  so  weit  entfernte  Ziel  unserer  Wissen- 
schaft völlig1  aus  den  Augen  verloren.  Sie  begnügen  sich  damit,  die 
organischen  Formen  (gleichgültig  ob  die  äussere  Gestalt  oder  den  inneren 
Bau)  ohne  sich  bestimmte  Fragen  vorzulegen,  oberflächlich  zu  unter- 
suchen und  in  -dicken  papierreichen  und  gedankenleeren  Büchern  weit- 
läufig zu  beschreiben  und  abzubilden.  Wenn  dieser  ganz  unnütze  Bal- 
last in  den  Jahrbüchern  der  Morphologie  aufgeführt  und  bewundert 
wird,  haben  sie  ihr  Ziel  erreicht. 

Wir  erlauben  uns  diesen  traurigen  Zustand  hier  rücksichtslos  und 
scharf  hervorzuheben,  weil  wir  von  der  Ueberzeugung  durchdrungen  sind, 
dass  nur  durch  die  Erkenntniss  desselben  und  durch  die  offene  Be- 
leuchtung des  dunkeln  Chaos,  welches  die  sogenannte  Morphologie 
gegenwärtig  darstellt,  eine  bessere  Behandlung  derselben,  eine  wirk- 
lich fördernde  Erkenntniss  der  Gestalten  angebahnt  werden  kann.  Erst 
wenn  man  allgemein  danach  streben  wird,  den  gesetzmässigen  Zusam- 
menhang in  den  endlosen  Reihen  der  einzelnen  Gestalt-Erscheinungen 
aufzufinden,  wird  es  möglich  werden,  an  das  grosse  und  gewaltige 
Gebäude  der  Morphologie  selbst  construirend  heranzutreten.  Erst  wenn 
die  Kenntniss  der  Formen  sich  zur  Erkenntniss,  wenn  die  Betrachtung 
der  Gestalten  sich  zur  Erklärung  erheben  wird,  erst  wenn  aus  dem 
bunten  Chaos  der  Gestalten  sich  die  Gesetze  ihrer  Bildung 
entwickeln  werden,  erst  dann  wird  die  niedere  Kunst  der  Mor- 
phographie  sich  in  die  erhabene  Wissenschaft  der  Morpholo- 
gie verwandeln  können. 

Man  wird  uns  von  vielen  Seiten  entgegnen,  dass  die  Zeit  dafür  noch 
nicht  gekommen,  dass  unsere  empirische  Basis  hierzu  noch  nicht  ge- 
nug breit,  unsere  Naturanschauung  noch  nicht  genug  reif,  unsere  Kennt- 
niss der  organischen  Gestalten  noch  viel  zu  unvollkommen  sei.  Dieser 
selbst  von  hervorragenden  Morphologen  getheilten  Anschauung  müssen 
wir  auf  das  Entschiedenste  entgegentreten.  Niemals  wird  ein  so  hohes 
und  fernes  Ziel,  wie  ;das  der  wissenschaftlichen  Morphologie  ist,  er- 
reicht werden,  wenn  man  dasselbe  nicht  stets  im  Auge  behält.  Will 
man  mit  der  Construction  des  Gebäudes,  mit  der  Aufsuchung  von  all- 
gemeinen Gestaltungs-Gesetzen  warten,  bis  wir  alle  existirenden  For- 
men kennen,  so  werden  wir  niemals  damit  fertig  werden;  ja  wir  wer- 
den niemals  auch  nur  zum  Fundament  einer  wissenschaftlichen  Formen- 
lehre gelangen.  Des  Ausbaues  und  der  Verbesserung  bedürftig  wird 
das  Gebäude  ewig  bleiben ;  das  hindert  aber  nicht,  dass  wir  uns  wohn- 
lich darin  einrichten,  und  dass  wir  uns  der  Gesetzmässigkeit  der  Ge- 
stalten erfreuen,  auch  wenn  wir  wissen,  dass  unsere  Erkenntniss  der- 
selben eine  beschränkte  ist. 


8  Verhältniss  der  Morphologie   zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 


Zweites  Capitel. 

Verhältniss  der  Morphologie  zu  den  änderen 
Naturwissenschaften. 

„Eine  höchst  wichtige  Betrachtung  in  der  Geschichte  der  Wis- 
senschaft ist  die,  dass  sich  aus  den  ersten  Anfängen  einer  Ent- 
deckung Manches  in  den  Gang  des  Wissens  heran-  und  durch- 
zieht, welches  den  Fortschritt  hindert,  sogar  öfters  lähmt.  So 
hat  auch  jeder  Weg,  durch  den  wir  zu  einer  neuen  Entdeckung 
gelangen,  Einfluss  auf  Ansicht  und  Theorie.  Was  würden  wir 
von  einem  Architecten  sagen,  der  durch  eine  Seiten thüre  in  einen 
Palast  gekommen  wäre,  und  nun,  hei  Beschreibung  und  Darstel- 
lung eines  solchen  Gebäudes,  Alles  auf  diese  erste  untergeordnete 
Seite  beziehen  wollte?  Und  doch  geschieht  dies  in  den  Wissen- 
schaften jeden  Tag."  Goethe. 


I.    Morphologie  und  Biologie. 

Den  Begriff  der  Morphologie  der  Organismen  haben  wir  im  ersten 
Capitel  dahin  bestimmt,  dass  dieselbe  die  gesammte  Wissenschaft  von 
den  inneren  und  äusseren  Formenverhältnissen  der  belebten  Naturkör- 
per ist;  wir  haben  ihr  die  Aufgabe  gesteckt,  diese  Formen-Verhältnisse 
zu  erklären  und  auf  bestimmte  Naturgesetze  zurückzuführen.  Wir  ha- 
ben nun  zunächst  den  Umfang  und  Inhalt  jenes  Begriffs  noch  näher 
zu  erläutern,  indem  wir  das  Verhältniss  der  Morphologie  zu  den  an- 
deren Naturwissenschaften  ins  Auge  fassen. 

Indem  die  Morphologie  der  Organismen  die  Bildungs-Gesetze  der 
thierischen  und  pflanzlichen  Formen  untersucht,  bildet  sie  einen  Theil 
der  Biologie  oder  Lebenswissenschaft,  wenn  wir  unter  diesem  Namen, 
wie  es  neuerdings  geschieht,  die  gesammte  Wissenschaft  von  den 
Organismen  oder  belebten  Naturkörpern  unseres  Erdballs  zusammen- 
fassen. ')     Gewöhnlich   wird  die  Morphologie  als  der  eine  der  beiden 


')  Indem  wir  den  Begriff  der  Biologie  auf  diesen  umfassendsten  und  wei- 
testen Umfang  ausdehnen,  schliessen  wir  den  engen  und  beschränkten  Sinn  aus, 
in  welchem  man  häufig  (insbesondere  in  der  Entomologie)  die  Biologie  mit  der 
Oecologie  verwechselt,  mit  der  Wissenschaft  von  der  Oeconomie,  von  der  Lebens- 
weise, von  den  äusseren  Lebeusbeziehungen  der  Organismen  zu  einander  etc. 


I.    Morphologie   und  Biologie.  9 

Haupttheile  der  Biologie  betrachtet  und  ihr  als  zweiter  Haupttheil  der 
letzteren  die  Physiologie  als  die  Wissenschaft  von  den  Leistungen  der 
Organismen  gegenüber  gestellt.  Morphologie  und  Physiologie  sind 
demnach  als  zwei  coordinirte  Disciplinen  der  allumfassenden  Biologie 
untergeordnet.  Da  jedoch  in  dieser  Beziehung  sich  sehr  verschiedene 
Auffassungen  geltend  machen,  und  da  sowohl  das  Verhältniss  der  Mor^ 
phologie  zur  Biologie  als  dasjenige  zur  Physiologie  vielfach  verkannt 
wird,  so  erscheint  es  nothwendig  dieses  Verhältniss  in  nähere  Erwä- 
gung zu  ziehen  und  namentlich  den  Gebietsumfang  der  beiden  coordi- 
nirten  Wissenschaften  scharf  von  einander  abzugrenzen. 

Wir  schicken  voraus,  dass  dieser  Versuch,  wie  jede  ähnliche  sy- 
stematisirende  Bestimmung,  nur  einen  bedingten  Werth  hat,  indem  es 
niemals  möglich  ist,  die  einzelnen  Wissensgebiete  vollkommen  scharf 
von  einander  abzugrenzen.  Vielmehr  greifen  dieselben,  der  Natur  der 
Dinge  gemäss,  überall  so  vielfältig  in  einander  über,  dass  die  Grenz- 
bestimmung der  einzelnen  Lehrgebiete  immer  mehr  oder  weniger  dem 
subjectiven  Gutdünken  des  philosophischen  Naturforschers  überlassen 
bleiben  muss.  Ferner  bedingt  der  beständige  Fortschritt  aller  Wissen- 
schaften, die  ungleich  schnelle  Entwicklung  und  ungleich  hohe  Aus- 
bildung der  einzelnen  Disciplinen,  der  jeweilige  Grad  des  herrschenden 
Interesses  für  die  eine  oder  die  andere,  dass  der  Umfang  der  einzel- 
nen Wissensgebiete  ebenso  wie  ihr  Inhalt  einer  beständigen  Verände- 
rung unterworfen  ist.  Auch  sind  ja  die  Gesichtspunkte  der  einzelnen 
Zeiten  ebenso  wie  diejenigen  der  einzelnen  Philosophen  verschieden, 
und  mit  der  fortschreitenden  Erkenntniss,  mit  der  sich  entwickelnden 
Denkweise  ändert  sich  zugleich  die  Sprache  und  ändern  sich  deren 
Begriffe. 

Wir  würden  daher  diese  schwierigen  allgemeinen  Fragen  gerne 
umgehen,  wenn  es  nicht  für  eine  klare  Auffassung  unserer  eigenen 
Aufgabe  nothwendig  erschiene,  den  Umfang  unseres  morphologischen 
Forschungs-Gebiets  scharf  abzugrenzen  und  die  grosse  Verwirrung  der 
Begriffe,  welche  hier  herrscht,  zu  lichten.  Schon  die  ganz  verschiedene 
Bedeutung,  welche  selbst  den  Begriffen  der  Morphologie,  Physiologie 
und  Biologie  zu  verschiedenen  Zeiten  und  von  verschiedenen  Seiten 
der  Jetztzeit  (z.  B.  von  den  sehr  verschiedenen  Richtungen  und  Schulen 
in  der  Zoologie  und  Botanik)  beigelegt  worden  ist,  zwingt  uns  zu  die- 
ser Erörterung.  Wollen  wir  zu  einer  festen  Begriffsbestimmung  dieser 
Wissenschaften  gelangen,  so  ist  es  aber  nöthig,  von  den  allgemeinsten 
Kategorieen  der  naturwissenschaftlichen  Disciplinen  auszugehen.  Zu- 
nächst ist  hier  das  Verhältniss  der  Biologie  zur  Anorganologie,  dem- 
nächst das  Verhältniss  der  gesainmten  Morphologie  zur  Physik  und 
Chemie  besonders  zu  berücksichtigen,  und  der  Begriff  dieser  Wissen- 
schaften seinem  Umfang  und  Inhalt  nach  festzustellen.     Denn  wir  müssen 


10        Verhältniss  der  Morphologie  zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 

gleichzeitig-  die  Morphologie  der  unorganischen  und  der  organischen 
Naturkörper  vergleichend  ins  Auge  fassen,  um  die  Stellung  zu  bestim- 
men, welche  die  Morphologie  der  Organismen  unter,  neben  und  über 
den  benachbarten  Naturwissenschaften  einnimmt. 

II.    Morphologie  und  Physik. 
(Statik  und  Dynamik.) 

Wenn  wir  als  Eintheilungsprincip  der  gesammten  Naturwissen- 
schaft die  Anwesenheit  oder  den  Mangel  derjenigen  eigentümlichen 
Bewegungserscheinungen  eines  Theils  der  Naturkörper  anwenden,  welche 
man  unter  dem  Begriffe  des  „Lebens"  zusammenfasst,  so  müssen  wir 
die  Gesainmtwissenschaft  von  den  Naturkörpern  unserer  Erde  eintei- 
len in  die  beiden  Hauptzweige  der  Biologie  und  der  Abiologie.  Die 
Biologie  oder  Organismen-Lehre  ist  die  Gesammtwissenschaft  von 
den  Organismen,  oder  den  sogenannten  „belebten"  Naturkörpern,  Thie- 
ren,  Protisten  und  Pflanzen.  Die  Abiologie  oder  Anorganologie,  die 
Anorganen-Lehre,  ist  die  Gesammtwissenschaft  von  den  Anorganismen 
(Abien)  oder  den  sogenannten  „leblosen"  Naturkörpern,  Mineralien, 
Wasser,  atmosphärischer  Lüftete.1)  Wie  diese  beiden  Hauptzweige 
der  irdischen  Naturwissenschaft,2)  welche  ihren  gesammten  Inhalt  bil- 
den, Biologie  und  Abiologie,  sich  coordinirt  gegenüber  stehen,  so  wer- 
den wir  auch  zwischen  den  ihnen  subordinirten  Disciplinen  eine  Pa- 
rallele herstellen  können,  welche  uns  für  die  Werthschätzung  und 
Rangordnung  der  einzelnen  Zweige  einen  schätzenswerthen  Maassstab 
liefert. 

Wenn  wir  dagegen  von  den  charaktistischen  Lebenserscheinungen, 
welche  die  Organismen  auszeichnen  und  von  den  Anorganen  unter- 
scheiden, zunächst  absehen,  so  können  wir  an  jedem  Naturkörper  drei 
verschiedene  Qualitäten  unterscheiden,  nämlich  1,  den  Stoff  oder  die 
Materie;  2,  die  Form  oder  die  Morphe;  3,  die  Kraft  oder  die  Func- 
tion. Hieraus  würden  sich  als  die  drei  Hauptzweige  der  Naturwissen- 
schaft folgende  drei  Disciplinen  ergeben:  1,  die  Stoff  lehre  oder  Che- 
mie; 2,  die  Formlehre  oder  Morphologie  (im  Aveitesten  Sinne  des 
Worts);  3,  die  Kraftlehre  oder  Physik. 

Die  gesammte  Natur,  organische  und  anorganische,  erkennen  wir 


')  Gewöhnlich  wird  der  Biologie  als  coordinirter  anderer  Hauptzweig  der 
Naturwissenschaft  die  Mineralogie  gegenübergestellt,  welche  jedoch  nur  die  Wis- 
senschaft von  den  festen  (nicht  von  den  tropfbar  flüssigen  und  gasförmigen)  leb- 
losen Naturkörpern  umfasst. 

2)  Von  der  Kosmologie,  der  Wissenschaft  von  den  gesammten  Weltkörpern, 
sehen  wir  hier  ganz  ab  und  beschränken  uns  auf  die  Betrachtung  der  irdischen 
Natur  körper. 


IL    Morphologie  und  Physik.  11 

als  ein  System  von  bewegenden  Kräften,  welche  der  Materie 
inhäriren  und  von  dieser  nicht  trennbar  sind.  Wir  kennen  keine 
Kraft  ohne  Materie,  ohne  materielles  Substrat,  und  keine  Materie  ohne 
Kraft,  ohne  Function.  Die  Gesammtheit  der  Functionen  eines  Theils 
der  Materie  oder  eines  Naturkörpers  ist  nichts  Anderes,  als  die  Ge- 
sammtheit der  Bewegungs-Erscheinungeu,  welche  an  demselben  als  Re- 
sultanten auftreten  aus  seinen  eigenen  Kräften  und  den  Kräften  derje- 
nigen anderen  Naturkörper  oder  Theile  der  Materie,  welche  mit  ihm 
in  Wechselwirkung  treten. 

Da  die  gesammte  Natur  nichts  Anderes  als  ein  System  von  be- 
wegenden Kräften  ist,  so  folgt  hieraus,  dass  wirkliche  Ruhe  nirgends 
existirt  und  dass  da,  wo  scheinbare  Ruhe  in  einem  Theile  der  Materie 
vorhanden  ist,  diese  bloss  die  Resultante  aus  der  Wechselwirkung  der 
verschiedenen  bewegenden  Kräfte  ist ,  die  in  diesem  Theile  der 
Materie  zusammentreffen  und  sich  das  Gleichgewicht  halten.  Sobald 
das  Gleichgewicht  aufhört,  sobald  eine  der  bewegenden  Kräfte  über 
die  Andern  das  Uebergewicht  gewinnt,  tritt  die  Bewegung  als  solche 
wieder  in  die  Erscheinung.  Man  kann  demgemäss  jeden  Naturkörper 
entweder  im  Zustande  des  Gleichgewichts  der  bewegenden  Kräfte, 
d.  h.  im  Momente  der  Ruhe,  oder  im  Zustande  der  Bewegung,  d.  h. 
im  Momente  des  Uebergewichts  einer  oder  mehrerer  der  bewegenden 
Kräfte  untersuchen.  Hierauf  beruht  die  Eintheilung  der  gesammten 
Naturwissenschaft  in  eine  statische  und  in  eine  dynamische.  Die 
Statik  oder  Gleichgewichtslehre  will  die  Gesetze  erkennen,  unter  de- 
nen das  Gleichgewicht  der  Bewegungen  zu  Stande  kommt  und 
untersucht  das  Resultat  dieses  Gleichgewichts.  Die  Dynamik  oder 
Bewegungslehre  dagegen  untersucht  die  Gesetze  der  Bewegungen, 
welche  in  die  Erscheinung  treten,  sobald  das  Gleichgewicht  aller  der 
Materie  inhärirenden  Kräfte  durch  das  Uebergewicht  einer  oder 
mehrerer  derselben  vernichtet  wird,  und  sucht  das  Resultat  dieses  Ueber- 
gewichts zu  erklären. 

Setzen  wir  nun  die  Materie  der  Naturkörper  als  das  ursprünglich 
Gegebene  voraus  und  suchen  das  Verhältniss  der  Form  der  Materie 
zu  den  beständig  in  ihr  thätigen  bewegenden  Kräften  mit  Rücksicht 
auf  die  eben  gegebenen  Erläuterungen  näher  zu  bestimmen,  so  wird 
uns  sofort  klar,  dass  die  jeweilige  Form  der  Materie  nichts  Anderes 
ist,  als  das  in  die  Erscheinung  tretende  Resultat  des  Gleichgewichts 
aller  bewegenden  Kräfte  in  einem  bestimmten  Momente.  Die  Formen- 
lehre oder  Morphologie  der  Naturkörper  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes  ist  mithin  die  Statik  der  Materie. 

Wenn  nun  nach  dieser  Ableitung  die  Form  als  die  Materie 
im  Zustande  des  Gleichgewichts  ihrer  bewegenden  Kräfte 
zu  definiren  ist,  so  erscheint  sie  streng  genommen  selbst  schon  als  das 


12        Verhält niss  der  Morphologie  zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 

Resultat  einer  Function  der  Materie.  Wir  müssen  daher,  wollen  wir 
die  übliche  Antithese  von  Form  und  Function  festhalten,  die  Leistung, 
Kraft  oder  Function  bestimmen  als  die  Materie  im  Zustande  der  Be- 
wegung, welche  durch  das  Uebergewicht  einer  oder  mehrerer  ihrer 
bewegenden  Kräfte  über  die  anderen  entsteht.  Die  Wissenschaft  von 
den  Leistungen  oder  Functionen,  welche  wir  oben  als  Kraftlehre  oder 
Physik  bezeichnet  haben,  würde  dann  wesentlich  die  Dynamik  der 
Materie  sein. 

Wenn  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Gesammtwissenschaft 
von  den  irdischen  Naturkörpern  eintheilen,  wenn  wir  also  von  den 
eigenthünilichen  „Lebenserscheinungen"  ganz  absehen  und  als  Einthei- 
lungsprincip  lediglich  die  Anwesenheit  oder  den  Mangel  des  Gleich- 
gewichts der  der  Materie  inhärirenden  Kräfte  betrachten,  so  spaltet 
sich  die  gesammte  Naturwissenschaft  in  die  beiden  coordinirten  Haupt- 
zweige der  Formenlehre  oder  Gleichgewichtsichre  (Morphologie,  Statik) 
und  der  Functionslehre  oder  Bewegungslehre  (Physik,  Dynamik). 

III.    Morphologie  und  Chemie. 

Von  der  so  eben  begründeten  Anschauungsweise  wird  die  Materie 
selbst  als  gegeben  und  bekannt  vorausgesetzt,  und  es  wird  mithin  die 
Chemie  oder  Stoff  lehre,  welche  wir  oben  als  die  erste  von  den  drei 
Fundamental -Wissenschaften  aufgeführt  haben,  nicht  mit  in  Betracht 
gezogen.  Es  entsteht  nun  aber  die  Frage,  welche  Stellung  die  Che- 
mie den  beiden  coordinirten  Zweigen  der  Statik  oder  Morphologie  und 
der  Dynamik  oder  Physik  gegenüber  eigentlich  einnimmt.  Die  Beant- 
wortung dieser  Frage  ist  für  uns  desshalb  von  grosser  Wichtigkeit, 
weil  auch  ein  Theil  der  Chemie  als  zur  Morphologie  der  Organismen 
gehörig  beansprucht  worden  ist.  Offenbar  liegen  hier  drei  Möglich- 
keiten vor:  Entweder  ist  die  Chemie  der  beiden  coordinirten  Discipli- 
nen,  der  Dynamik  (Physik)  und  der  Statik  (Morphologie)  übergeordnet, 
oder  sie  ist  ihnen  als  dritter  gleichwerthiger  Zweig  beigeordnet,  oder 
sie  ist  ihnen  beiden  oder  einer  von  ihnen  untergeordnet.  Jede  dieser 
drei  möglichen  Auffassungen  lässt  sich  von  ihrem  eigenthümlichen  und 
besonderen  Standpunkte  aus  rechtfertigen.. 

I.  Im  ersten  Falle,  wenn  man,  wie  es  von  mehreren  Seiten, 
namentlich  von  manchen  Physiologen  geschieht,  Statik  und  Dynamik  als 
die  beiden  coordinirten  Hauptzweige  der  Naturwissenschaft  auffasst, 
welche  der  Stoff  lehre  untergeordnet  sind  und  ihren  Inhalt  bilden,  er- 
scheint die  Chemie  im  allgemeinsten  Sinne,  als  die  allumfassende  Na- 
turwissenschaft selbst,  als  die  einzige  Fundamentalwissenschaft,  welche 
alle  übrigen  in  sich  begreift.  Diese  Auffassung  lässt  sich  damit  recht- 
fertigen, dass  die  Kenntniss  des  Stoffs  der  Untersuchung  aller  Formen, 
aller  Bcwcgungscrschciuungcn  vorausgehen  muss,  dass  in  der  That  alle 


III.    Morphologie  und  Chemie.  13 

Formen  nur  Erscheinungsweisen,  Functionen  des  Stoffs,  und  zwar 
Gleichgewichtszustände  der  Materie  sind,  und  dass  andererseits  alle 
die  Functionen  oder  Kräfte,  welche  als  Bewegungen  in  die  Erscheinung 
treten,  ebenso  unmittelbar  durch  die  Materie  selbst  bedingt  sind,  und 
von  der  Materie  ausgehen.  Da  wir  es  hier  nur  mit  Naturkörpern  zu 
thun  haben,  welche  den  Raum  erfüllen,  und  nicht  mit  den  stofflosen 
Körpern  der  Mathematik,  und  da  wir  Naturkörper  ohne  Materie  nicht 
kennen,  so  muss  die  Materie  dieser  Körper  als  gegeben  voraus  gesetzt 
werden,  wenn  wir  ihre  Formen  und  ihre  Kräfte  oder  Leistungen  unter- 
suchen wollen.  Von  diesem  Standpunkte  aus  (dem  „materialistischen" 
im  strengsten  Sinne)  ist  die  Chemie  die  allumfassende  Naturwissen- 
schaft, und  Morphologie  und  Physik  sind  ihre  beiden  nächstuntergeord- 
neten Hauptzweige. 

IL  Im  zweiten  Falle,  wenn  man,  wie  es  gewöhnlich  geschieht, 
Chemie,  Physik  (Dynamik)  und  Morphologie  (Statik)  als  die  drei  coor- 
dinirten  Hauptzweige  der  Naturwissenschaft  auffasst,  erscheint  keiner 
der  drei  Begriffe  hinsichtlich  seines  Umfangs  vor  den  anderen  beiden 
bevorzugt,  und  ihnen  übergeordnet.  Diese  Anschauungsweise  lässt  sich 
damit  begründen,  dass,  wie  wir  oben  bereits  gezeigt  haben,  zunächst 
bei  der  einfachsten  Betrachtung  jedes  Naturkörpers  Stoff,  Form  und 
Kraft  als  die  drei  allgemeinsten  Grund-Eigenschaften  desselben  uns 
entgegentreten,  welche  gleichen  Anspruch  auf  eine  gesonderte  und  un- 
abhängige wissenschaftliche  Behandlung  inachen  können.  Dieser  For- 
derung entspricht  z.  B.  die  gewöhnliche  Untersuchungsweise  und  Ver- 
theilung  des  Lehrstoffs  in  der  Abiologie,  indem  meistens  die  Natur- 
wissenschaft von  den  Anorganen  in  die  drei  coordinirten  Lehrzweige 
der  (anorganischen)  Chemie,  der  Physik  (im  engeren  Sinne)  und  der 
Mineralogie  (im  weitesten  Sinne)  gespalten  wird.  Wollte  man  dieselbe 
Eintheilung  auch  in  der  Biologie  scharf  durchführen  (was  aber  niemals 
geschieht),  so  würde  man  als  drei  coordinirte  Zweige  derselben  erhal- 
ten: 1,  die  Chemie  der  Organismen  (organische  Chemie  im  weitesten 
Sinne);  2,  die  (rein  physikalische)  Physiologie  (Dynamik  der  Organis- 
men); 3,  die  Morphologie  der  Organismen.  Doch  lässt  sich  die  gegen- 
seitige Abgrenzung  der  Gebiete  der  Chemie,  Physik  und  Morphologie 
als  drei  coordinirter  Disciplinen  weder  in  dem  Bereiche  der  organischen, 
noch  der  unorganischen  Naturwissenschaft  so  scharf  thatsächlich  durch- 
führen, als  diese  Begriffsbestimmung  es  erfordert. 

III.  Im  dritten  Falle,  wenn  man,  wie  es  von  Seiten  vieler  Bio- 
logen geschieht,  die  Chemie  als  eine  Hülfswissenschaft  betrachtet,  und 
ihr  einen  Platz  weder  über,  noch  neben  den  beiden  anderen  Disciplinen 
der  Statik  und  Dynamik  gönnt,  muss  die  Chemie  den  letzteren  unter- 
geordnet erscheinen,  und  es  fragt  sich  dann  nur,  ob  sie  Beiden,  oder 


14        Verhältniss  der  Morphologie   zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 

ob  sie  einer  von  Beiden,  —  und  im  letzteren  Falle,  welcher  von  Bei- 
den sie  subordinirt  ist. 

Thatsächlich  machen  sich  hier  nun  sehr  verschiedenartige  Auffas- 
sungen geltend.  In  der  Biologie  wird  gewöhnlich,  ja  fast  immer, 
die  Chemie  der  Organismen  als  ein  Theil  der  organischen  Functions- 
lehre,  der  Physiologie  betrachtet;  und  die  übliche  Definition  der  Phy- 
siologie bestimmt  sie  als  die  ,;Physik  und  Chemie  der  Organismen." 
In  physiologischen  Lehrbüchern  und  Lehrvorträgen  spielt  die  Chemie 
eine  eben  so  hervorragende  Kolle,  als  die  Physik.  Dagegen  wird  die 
organische  Chemie  von  der  Morphologie  nur  selten,  oder  nur  ganz 
beiläufig  als  eine  innerhalb  ihres  Umfanges  stehende  Hülfswissenschaft 
in  Anspruch  genommen.  Ganz  anders  gestaltet  sich  dagegen  die  Stel- 
lung der  Chemie  in  der  Abiologie,  indem  hier,  wie  erwähnt,  gewöhn- 
lich Chemie,  Physik  und  Morphologie  (Krystallographie  etc.)  als  coor- 
dinirte  Disciplinen  auftreten.  Freilich  lässt  sich  hier  auch  die  Che- 
mie als  ein  Inhaltstheil  der  Physik  betrachten,  indem  man  dieselbe 
als  eine  „Physik  der  Atome"  auffässt.  Die  Beurtheilung  dieses  Verhält- 
nisses wird  verschieden  ausfallen,  je  nachdem  man  den  herrschenden 
atomistischen  oder  den  entgegengesetzten  dynamischen  Ansichten  von 
der  fundamentalen  Constitution  der  Materie  huldigt. 

Nach  unserer  Auffassung  darf  die  Chemie,  wenn  man  sie,  wie  dies 
in  der  Biologie  thatsächlich  geschieht,  weder  als  übergeordnet  noch 
als  coordinirt  der  Statik  und  Dynamik  anerkennen  will,  nicht  aus- 
schliesslich einer  von  diesen  beiden  Disciplinen  untergeordnet  werden. 
Vielmehr  müssen  wir  dann  die  Chemie  ebenfalls  in  einen  statischen 
und  in  einen  dynamischen  Zweig  spalten ,  von  denen  jener  der  Mor- 
phologie, dieser  der  Physik  zufällt.  Die  statische  Chemie,  welche 
sich  dann  der  Morphologie  unterordnet,  ist  die  Chemie  der  Sub- 
strate, und  begnügt  sich  mit  der  analytischen  Erkenn  tniss  der 
chemischen  Zusammensetzung  des  Naturkörpers,  dessen  Form 
Object  der  Betrachtung  ist.  Auf  dem  anorganischen  Wissenschaftsge- 
biete gehört  hierher  z.  B.  der  chemische  Theil  der  Mineralogie,  fer- 
ner die  Lehre  von  der  chemischen  Zusammensetzung  des  Wassers,  der 
atmosphärischen  Luft  etc.  Auf  dem  organischen  Wissenschaftsgebiete 
dagegen  ist  diese  statische  Chemie  derjenige  Theil  der  „organischen" 
(fälschlich  „physiologisch"  genannten)  Chemie,  welcher  häufig  als  „de- 
scriptive  Chemie"  bezeichnet  und  als  „Chemie  der  Substrate"  von  der 
Physiologie,  vollkommen  mit  Unrecht,  in  Anspruch  genommen  wird. 
Denn  es  ist  klar,  dass  dieser  statische  Theil  der  Chemie  entschieden 
zur  Morphologie  gerechnet  werden  niuss;  thatsächlich  wird  derselbe  auch 
vielfältig  von  der  Morphologie  als  wesentlicher  Inhaltstheil  benutzt,  sel- 
ten aber  ausdrücklich  als  solcher  in  Anspruch  genommen.  Victor  Carus, 
dessen  Behandlung  der  Morphologie   sich  so  hoch  über  die  allgemein 


III.    Morphologie  und  Chemie.  15 

übliche  erhebt,  sagt  in  dieser  Beziehung  mit  Recht,  „dass  die  Kenntniss 
der  chemischen  Natur  des  lebensfähigen  Substrates  einen  integri- 
renden  Theil  der  statischen  Biologie  ausmacht,  insofern  die  während 
des  Lebens  auftretenden  chemischen  Vorgänge,  (welche  das  Object 
der  Physiologie  bilden)  nicht  verstanden  werden  können  ohne  das  Ver- 
ständniss  der  chemischen  Mittel,  die  das  Substrat  mit  sich  bringt." 
Freilich  wird  gewöhnlich  auch  dieser  Theil  der  Chemie  von  der  Phy- 
siologie beansprucht;  so  sehr  aber  auch  praktische  Gründe  diese  An- 
nexion rechtfertigen  (so  vor  Allem  der  Mangel  an  chemischen  Kennt- 
nissen bei  den  meisten  Morphologen),  so  kann  doch  theoretisch  die- 
selbe nicht  zugestanden  werden;  vielmehr  müssen  wir  die  Chemie  der 
Substrate  von  unserem  Standpunkt  aus  als  rein  statisch  der  Mor- 
phologie zuweisen.  So  ist  sie  von  Schieiden  in  seinen  ausgezeich- 
neten Grundzügen  der  wissenschaftlichen  Botanik  als  „vegetabilische 
oder  botanische  Stofflehre"  der  Lehre  von  der  Pnanzenzelle  und  der 
Morphologie  vorausgeschickt  worden.  Ebenso  sollte  auch  die  „thie- 
rische  Stofflehre"  als  erstes  Capitel  der  thierischen  Morphologie  vor- 
ausgehen. Indess  fügen  wir  dieser  theoretisch  berechtigten  Forderung 
zugleich  die  Entschuldigung  bei,  dass  der  unvollkommene  Zustand 
dieses  Theils  der  Wissenschaft,  und  vor  Allem  unsere  höchst  mangel- 
hafte Kenntniss  von  dem  Causal-Zusammenhang  zwischen  Stoff  und 
Form  allerdings  zunächst  eine  Ausscheidung  der  statischen  Chemie 
aus  dem  Arbeitsgebiet  der  Morphologie  rechtfertigen,  und  dass  wir 
selbst  aus  diesen  Gründen  auf  eine  allgemeine  Darstellung  der  che- 
mischen Substrate  der  Organismen  in  unserer  generellen  Morphologie 
grösstenteils  verzichten  werden. 

Die  dynamische  Chemie,  welche  sich  der  Physik  unterordnet, 
ist  die  Chemie  der  Processe  und  strebt  nach  der  Erkcnntniss 
der  chemischen  Veränderungen,  des  Stoffwechsels  in  den  Natur- 
körpern, deren  Function  Object  der  Betrachtung  ist.  Auf  dem  Ge- 
biete der  Abiologie  würde  hierher  der  chemische  Theil  der  Meteoro- 
logie und  der  Geologie  gehören,  die  Lehre  von  den  in  der  anorga- 
nischen Natur  auftretenden  Zersetzungsprocessen  der  Mineralien,  des 
Wassers,  der  atmosphärischen  Luft  etc.  Auf  dem  Gebiete  der  Biologie 
dagegen  würden  wir  hierher  die  eigentliche  „physiologische  Chemie" 
im  wahren  Sinne  des  Worts  rechnen  müssen,  d.  h.  die  Lehre  von  den 
chemischen  Processen  der  lebenden  Naturkörper,  die  Lehre  von  den 
Veränderungen  in  ihrer  chemischen  Zusammensetzung,  welche  mit  den 
Bewegungs-Erscheinungen,  die  wir  Leben  nennen,  wesentlich  verbun- 
den sind.  Dieser  Theil  der  „Zoochemie"  und  „Phytochemie"  ist  es, 
welcher  einen  integrirenden  und  höchst  wesentlichen  Bestandteil  der 
Physiologie  bildet,  sobald  wir  die  Chemie  als  der  Statik  und  Dynamik 
subordinirt  betrachten. 


\Q         Verhältuiss  der  Morphologie  zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 

So  gut  wir  nun  auch  nach  dieser  Erörterung-  im  Stande  sind, 
die  beiden  Hauptzweige  der  Chemie,  den  statischen  und  dynamischen, 
den  beiden  selbstständigen  Naturwissenschaften  der  Statik  und  Dyna- 
mik unterzuordnen,  und  so  sehr  sich  einerseits  die  Vereinigung  der 
Morphologie  mit  der  Chemie  der  Substrate  und  andererseits  die  Ver- 
schmelzung der  Physik  mit  der  Chemie  der  Processe  rechtfertigen 
lässt,  so  können  wir  doch  nicht  umhin,  auch  die  beiden  anderen,  vor- 
her angeführten  Auffassungsweisen  als  ebenfalls  in  ihrer  Weise  berech- 
tigt anzuerkennen.  Es  zeigt  sieh  hierin  wieder  der  innige  Zusammen- 
hang, indem  alle  diese  einzelnen  naturwissenschaftlichen  Disciplinen 
unter  einander  stehen;  und  es  zeigt  sich  zugleich,  dass  alle  unsere 
künstlichen  Eintheilungs-Versuche  subjectiver  Natur  sind  und  der  be- 
schränkten Stellung  entspringen,  welche  das  menschliche  Erkenntniss- 
Vermögen  dem  inneren  Wesen  der  Naturkörper  gegenüber  einnimmt. 

Mögen  wir  nun  die  Chemie  als  die  oberste  und  umfassendste  Na- 
turwissenschaft betrachten,  der  die  beiden  gleichwerthigen  Disciplinen 
der  Statik  (Morphologie)  und  Dynamik  (Physik)  untergeordnet  sind  - 
oder  mögen  wir  Chemie,  Physik  und  Morphologie,  entsprechend  den 
drei  Grundeigenschaften  der  Naturkörper,  Stoff,  Kraft  und  Form,  als 
drei  coordinirte  Hauptlehren  der  Gesamintnaturwissensehaft  ansehen  — 
oder  mögen  wir  endlich  nur  die  Statik  und  Dynamik  als  solche  be- 
trachten, und  die  Chemie  der  Substrate  mit  der  Morphologie,  die  Che- 
mie der  Processe  mit  der  Physik  als  untergeordnete  Discipliu  vereini- 
gen, stets  wird  uns  überall  das  innige  Wechselverhältniss  dieser  ver- 
schiedenen Hauptzweige  der  Naturwissenschaft  entgegentreten.  Diese 
Beziehungen  sind  so  innig,  wie  das  Verhältniss,  welches  zwischen  Stoff, 
Forin  und  Kraft  der  Naturkörper  selbst  überall  stattfindet.  Wir  sind 
als  Menschen  nicht  vermögend,  uns  eine  Materie  ohne  Kraft  und  ohne 
Form  (sei  letztere  auch  nur  aus  Aggregatszustand  und  Raum  zusam- 
mengesetzt) vorzustellen;  ebenso  wenig  können  wir  eine  Kraft  begrei- 
fen, welche  ausserhalb  der  Materie  steht  und  nie  als  Form  in  die 
Erscheinung  tritt;  ebenso  wenig  endlich  können  wir  uns  einen  Natur- 
körper (keinen  mathematischen  Körper!)  denken,  welcher  bloss  als 
Form  und  nicht  zugleich  als  Stoff  und  Kraft  uns  entgegentritt.  Auf 
dem  organischen,  wie  auf  dem  anorgauischen  Gebiete  müssen  stets 
Stoff,  Form  und  Kraft  zusammenwirken,  um  uns  den  Naturkörper  zur 
vollständigen  Anschauung  zu  bringen. 

Ohne  die  innigen  Wechselbeziehungen  zwischen  den  eben  behan- 
delten Wissenschaften  zu  verkennen,  erscheint  doch  behufs  klaren  Ver- 
ständnisses eine  scharfe  Begriffsbestimmung  und  Abgrenzung  ihres  Ge- 
biets sehr  wünschenswerth.  Vielleicht  dürfte  es  sich  nun  in  dieser 
Beziehung  empfehlen,  die  Morphologie  der  Naturkörper  im  weitesten 
Sinne  (mit  Einbegriff  der  Chemie   der  Substrate)  ausschliesslich    mit 


IV.    Morphologie  und  Physiologie.  \1 

dem  Namen  der  Statik  oder  der  Morplionomie  zu  bezeichnen,  und  den 
Begriff  der  Morphologie  (im  engeren  Sinne)  auf  die  Formenlehre  nach 
Ausschluss  der  statischen  Chemie  zu  beschränken.  Dann  würde  dem 
entsprechend  der  Begriff  der  Physik  auf  die  Functionslehre  im  engeren 
Sinne  (nach  Ausschluss  der  dynamischen  Chemie)  zu  beschränken  sein, 
während  wir  unter  Dynamik  oder  Phoronomie  die  Physik  im  weitesten 
Sinne  (mit  Einbegriff  der  Chemie  der  Processe)  verstehen  würden. 
Die  gegenseitigen  Beziehungen  dieser  verschiedenen  Disciplinen  wür- 
den durch  folgendes  Schema  übersichtlich   dargestellt  werden  können: 

Gesammtwissenschaft 
von  den  leblosen  und  belebten  naturkörpern 

der  Erde. 


Chemie 


Morphonomie 
oder  Statik 
(Morphologie  im  weitereu  Sinne) 


Phoronomie 
oder  Dynamik 
(Physik  im  weiteren  Sinne) 


Morphologie       rChemie  der"]     TChemie  der"]  Physik 

(im  engeren  Sinne)     L  Substrate  J      L  Processe   J    (im  engeren  Sinne) 


IV.   Morphologie  und  Physiologie. 

Nachdem  wir  das  Verhältnis  der  Morphologie  im  Allgemeinen  zur 
Physik  und  zur  Chemie  bestimmt  haben,  ohne  auf  den  Unterschied 
der  organischen  und  anorganischen  Naturkörper  Rücksicht  zu  nehmen, 
kehren  wir  zurück  zur  Betrachtung  des  Verhältnisses,  welches  dieser 
Unterschied  in  den  genannten  Wissenschaften  bedingt.  Hierbei  er- 
scheint es  sehr  lehrreich,  die  entsprechenden  Wissenschaftsgebiete  des 
organischen  und  des  anorganischen  Körperreichs  vergleichend  in  Pa- 
rallele zu  stellen,  weil  die  einfacheren  Verhältnisse  der  Anorgane  uns 
viele  Beziehungen  klar  enthüllen,  welche  durch  die  complicirteren  Be- 
schaffenheiten der  Organismen  vielfach  verdeckt  werden.  Die  Abiolo- 
gie  kann  hier,  wie  in  vielen  anderen  Fällen,  der  Biologie  als  Leuchte 
auf  ihrem  dunkelen  und  schwierigen  Pfade  dienen. 

Wie  wir  die  Gesammtwissenschaft  von  den  Naturkörpern  der  Erde 
in  die  drei  Hauptzweige  der  Chemie,  Statik  (Morphologie)  und  Dynamik 
(Physik)  gespalten  haben,  so  ist  diese  Eintheilung  auch  auf  die  vom  Ge= 
Sichtspunkte  des  „Lebens"  aus  unterschiedenen  beiden  Disciplinen  der 
Biologie  (Organismenlehre)  und  Abiologie  (Anorganenlehre)  anwendbar. 
Es  werden  sich  die  so  entstehenden  kleineren  Zweige  in  beiden  Wissen- 
schaften vollkommen  coordinirt  gegenüberstehen.  Wenn  wir  nun,  gemäss 
dem  unter  No.  H.  im  letzten  Abschnitt  entwickelten  Staudpunkt,  Chemie, 
Morphologie  und  Physik  als  drei  coordinirte  Hauptwissenschaften  betrach- 

Haeckel,    Generelle  Morphologie.  O 


ip         Verhältuiss  der  Morphologie  7.11  den  anderen  Naturwissenschaften. 

teil,  so  erhalten  wir  durch  ihre  Spaltung  in  einen  biologischen  und  in 
einen  abiologischen  Zweig  folgendes  Verhältniss  von  sechs  coordinirten 
Disciplinen. 

1,  Die  Chemie,  und  zwar  die  vereinigte  Chemie  der  Substrate 
und  der  Processe,  zerfällt  in  die  beiden  Aeste  der  anorganischen  und 
organischen  Stofflehre.  Da  diese  Begriffe  in  mehrfach  verschiedenem 
und  unbestimmtem  Sinne  gebraucht  werden,  so  wird  die  anorganische 
Chemie  besser  als  abiologische  oder  als  Chemie  der  Anorgane  be- 
zeichnet, die  organische  richtiger  als  biologische  oder  Chemie  der 
Organismen. 

2,  Die  Physik  oder  Dynamik  spaltet  sich  in  die  beiden  Aeste 
der  anorganischen  (Abiodynamik)  und  der  organischen  Kraftlehre 
(Biodynamik).  Die  anorganische  oder  abiologische  Physik,  welche 
die  Leistungen  der  Anorgane  untersucht,  wird  gewöhnlich  als  Phj'-sik 
im  engsten  Sinne  bezeichnet.  Dagegen  ist  für  die  organische  oder  bio- 
logische Physik  (Biodynamik),  welche  die  Functionen  der  Organis- 
men erforscht,  allgemein  die  Bezeichnung  der  Physiologie  gebräuch- 
lich. In  dem  beschränkten  Sinne,  in  welchem  letztere  jetzt  meistens 
aufgefasst  wird,  ist  sie  in  der  That  lediglich  eine  ,, Dynamik  der  Or- 
ganismen" und  entspricht  mithin  vollkommen  der  Dynamik  oder  Phy- 
sik der  Anorgane.  Es  ist  also  der  Begriff  der  heutigen  Physiologie 
von  beträchtlich  geringerem  Umfang  und  entsprechend  grösserem  In- 
halt, als  der  Begriff  der  früheren  Physiologie,  welche  nicht  bloss  die 
Function,  sondern  zugleich  die  Gestaltung  der  Organismen  unter- 
suchte und  mit  unserer  heutigen  Biologie  identisch  ist.  So  ist  z.  B. 
Johannes  Müller's  klassisches  und  unübertroffenes  Werk,  welches 
den  bescheidenen  Titel  eines  „Handbuchs  der  Physiologie  des  Men- 
schen" führt,  vielmehr  eine  umfassende  allgemeine  vergleichende  Bio- 
logie der  Thiere  (und  bis  zu  gewissem  Grade  selbst  der  Organismen, 
insofern  auch  die  Biologie  der  Pflanzen  darin  vielfach  vergleichend 
berücksichtigt  wird). 

3,  Die  Morphologie  oder  Statik  endlich  theilt  sich  in  die  beiden 
Aeste  der  anorganischen  und  organischen  Formenlehre.  Die  anorga- 
nische oder  abiologische  Formenlehre  (Abiostatik),  umfasst  die 
Krystallographie,  die  Lehre  von  der  Form  der  tropfbaren  und  elasti- 
schen Flüssigkeiten  im  Gleichgewicht  (Hydrostatik,  Aerostatik  etc.). 
Ihr  steht  coordinirt  und  parallel  gegenüber  die  Morphologie  der  Orga- 
nismen, die  organische  oder  biologische  Formenlehre  (Biostatik), 
deren  allgemeine  Darstellung  Gegenstand  des  vorliegenden  Werkes  ist. 

Dass  die  sechs  Wissenschaften,  welche  wir  durch  diese  Eintheilung 
der  Gesammtwissenschaft  von  den  irdischen  Naturkörpern  erhalten, 
von  dem  obeu  sub  II.  erörterten  Gesichtspunkte  aus  ihrem  Range  nach 
beigeordnet  sind  und  neben  einander  stehen,  liegt  auf  der  Hand.     Die 


IV.    Morphologie  und  Physiologie.  19 

biologische  und  die  abiologische  Chemie,  die  Physiologie  und  die  Phy- 
sik der  Anorgane,  die  Morphologie  der  Organismen  und  der  Anorgane, 
können  in  der  That  als  sechs  vollkommen  coordinirte  Naturwissen- 
schaften angesehen  werden. 

Dieses  Resultat  ist  für  uns  insofern  von  grosser  Bedeutung,  als 
dadurch  die  coordinirte  Stellung  der  organischen  Morphologie 
gegenüber  und  neben  der  Physiologie  fest  bestimmt  wird.  Die- 
ses nebengeordnete  Verhältniss  der  beiden  gleichwerthigen  biologischen 
Disciplinen  ist  gerade  in  neuerer  Zeit  sehr  oft  völlig  verkannt  worden. 
Indem  nämlich  die  Physiologie  sich  in  den  beiden  letzten  Decennien 
als  exacte  „Physik  der  Organismen"  oder  als  (unpassend)  sogenannte 
„physikalische  Physiologie"  ungemein  rasch  und  vielseitig  zu  einer 
ganz  selbstständigen  Disciplin  entwickelt  hat,  während  sie  vorher  in 
scheinbar  untergeordnetem  Verhältnisse  auf  das  Engste  mit  der  Mor- 
phologie verbunden  war,  ist  ihr  Selbstbewusstsein  dadurch  so  über- 
mässig gestiegen,  dass  sie  nunmehr  auf  die  überwundene  Morphologie 
stolz  herabsieht  und  diese  lediglich  als  ihre  Dienerin,  als  eine  unter- 
geordnete Hülfswissenschaft  betrachtet.  Insbesondere  nimmt  die  Phy- 
siologie sehr  häufig  für  sich  den  höheren  Rang  einer  erklärenden 
Naturwissenschaft  in  Anspruch,  während  sie  der  Morphologie  bloss 
den  niederen  Rang  einer  beschreibenden  Disciplin  zugesteht.  Leider 
ist  freilich  diese  Selbstüberhebung  der  Physiologie  durch  den  traurigen 
Zustand  und  den  zwar  nicht  extensiven,  wohl  aber  intensiven  Rück- 
schritt der  Morphologie  nur  zu  sehr  gerechtfertigt  und  begünstigt.  Wäh- 
rend die  Physiologie  auf  streng  naturwissenschaftlicher  Basis  Schritt 
für  Schritt  vordringt  und  ihr  Ziel  fest  und  klar  im  Auge  behält,  ver- 
liert die  verwildernde  Morphologie  das  Ihrige  immer  mehr  aus  dem 
Auge,  und  hat  sich  ebenso  von  einer  denkenden  Behandlung  ihres 
Gegenstandes,  wie  von  einer  strengen  Methode  stets  mehr  und  mehr 
entfernt.  Während  sie  quantitativ  immer  mächtiger  zu  wachsen 
scheint,  schreitet  sie  qualitativ  immer  weiter  zurück.  Aus  jeglichem 
Mangel  an  denkender  Erforschung  und  an  fester  Begriffsbestimmung 
dienen  die  meisten  morphologischen  Arbeiten  mehr  dazu,  den  Bal- 
last der  Wissenschaft  zu  häufen,  statt  ihren  wirklichen  Fortschritt  zu 
fördern. 

Dieser  traurige  augenblickliche  Zustand  unserer  morphologischen 
Wissenschaft  kann  ihren  Werth  zwar  zeitweise  in  den  Augen  der  heu- 
tigen Physiologie  tief  herabdrücken;  er  vermag  aber  doch  nicht,  den 
coordinirten  Rang,  welcher  der  Morphologie  neben  der  Physiologie 
gebührt,  auf  die  Dauer  verkennen  zu  lassen.  Vielmehr  müssen  wir 
ausdrücklich  behaupten,  dass  auch  die  Morphologie  der  Organismen, 
so  gut  wie  ihre  coordinirte  Schwester,  die  Physiologie,  nicht  bloss 
eine  beschreibende,  sondern  zugleich  eine  erklärende  Wissenschaft  ist, 

2* 


20        Verhältniss  der  Morphologie   zu  den  anderen  Naturwissenschaften. 

oder  doch  wenigstens  sein  soll.  Beide  verfolgen  die  hohe  Aufgabe, 
die  beobachteten  Thatsachen  zu  erklären,  d.  h.  auf  allgemeine  Natur- 
gesetze zurückzuführen.  Die  Physiologie  oder  Biodynainik  be- 
schreibt und  erklärt  die  Leistungen  (Functionen,  Bewegungen, 
Kräfte)  der  Organismen.1)  Die  Morphologie  beschreibt  und  er- 
klärt die  Formen  (äussere  Gestalt  und  innere  formelle  Zusammen- 
setzung) der  Organismen.  Das  Ziel  wenigstens  liegt  klar  vor  ihr,  und 
wenn  sie  es  zeitweise  aus  den  Augen  zu  verlieren  scheint,  so  ist  es 
die  Schuld  ihrer  jeweiligen  Vertreter.  Morphologie  und  Physio- 
logie sind  demnach  vollkommen  coordinirte  Wissenschaften, 
in  gleichem  Maasse  und  auf  gleicher  Stufe  der  Biologie  untergeordnet, 
deren  Inhalt  sie  bilden. 

Dieses  beigeordnete  schwesterliche  Verhältniss  der  Morphologie 
zur  Physiologie  wird  auch  durchaus  nicht  geändert,  wenn  wir  die 
Chemie  nicht  (wie  es  so  eben  geschah)  als  coordinirt  der  Physik  und 
Morphologie  betrachten,  sondern  sie  diesen  beiden  Disciplinen  unter- 
ordnen, wie  es  in  der  vorhergehenden  Betrachtung  (p.  13  sub  III)  ge- 
schehen ist.  Es  ergiebt  sich  dann  nämlich,  wenn  wir  die  biologische 
Chemie  oder  die  Chemie  der  Organismen  in  die  beiden  Aeste  der 
statischen   und  dynamischen   Chemie  spalten,   dass  wir    die    statische 


l)  Wenn  wir  hier  einerseits  der  Physiologie  der  Neuzeit  zugestanden  haben, 
dass  sie  die  organische  Morphologie  an  bewusster  Erkenntniss  ihres  Zieles  und 
au  klarem  Verständniss  der  allein  richtigen  Methode  weit  überflügelt  hat,  so 
müssen  wir  doch  andererseits  darauf  aufmerksam  machen,  dass  sie  in  anderen 
Beziehungen  weit  hinter  der  Morphologie  zurück  ist.  Insbesondere  ist  hier  der 
thierischen  Physiologie  sowohl  die  allgemeine  Vernachlässigung  der  Bnt- 
stehungs-Verhältnisse  der  Functionen  (embryonale  Eutwickelung  und 
Differenzirung  der  Lebens-Erscheinungen)  als  der  noch  auffallendere  Mangel 
an  vergleichender  Betrachtung  der  Functionen  (Ableitung  der  com- 
plicirten  Lebens-Erscheinungen  höherer  aus  den  einfacheren  Functionen  der  ver- 
wandten niederen  Organismen'  zum  Vorwurfe  zu  machen.  Von  einer  genetischen 
Physiologie  kann  heutzutage  noch  ebeuso  wenig,  als  von  einer  vergleichenden 
Physiologie  die  Rede  sein;  mindestens  befinden  sich  Beide  noch  in  der  ersten 
Kindheit.  Und  doch  ist  die  genetische  sowohl  als  die  vergleichende 
Methode  für  die  Physiologie  ebenso  unentbehrlich,  als  für  die  Morphologie,  wo 
dies  längst  anerkannt  ist.  In  keinem  Gebiete  der  Physiologie  wird  sich  diese 
Wahrheit  schlagender  zeigen,  als  in  demjenigen  Theile  der  Physiologie  des  Ceu- 
tral-Nervensystems ,  welchen  man  gewöhnlich  als  „Psychologie"  den  nicht  phy- 
siologisch gebildeten  sogenannten  „Philosophen"  überlassen  hat.  Sobald  man 
sich  entschliessen  wird,  hier  die  genetische  und  die  vergleichende  Untersuchungs- 
raethode  in  der  weitesten  Ausdehnung  anzuwenden,  wird  dieses  gänzlich  unculti- 
virte  und  wüste  Gebiet  die  reichsten  und  überraschendsten  Früchte  zur  Reife 
bringen.  Niemals  aber  wird  man  z.  B.  zu  einer  Psychologie  des  reifen  Menschen 
gelangen,  wenn  mau  dieselbe  nicht  aus  der  genetischen  Psychologie  des  Kin- 
des, und  aus  der  vergleichenden  Psychologie   der  Wirbelthiere  ableitet. 


IV.    Morphologie  und  Physiologie. 


21 


Organochemie  oder  die  Chemie  der  organischen  Substrate  nothwendig 
mit  der  Morphologie,  sowie  andererseits  die  dynamische  Organochemie 
oder  die  Chemie  der  organischen  Processe  mit  der  Physiologie  ver- 
binden müssen.  Es  ergiebt  sich  dies  klar  und  unzweifelhaft,  wenn 
wir  das  oben  (p.  1 7)  begründete  Schema  von  dem  Verhältniss  der  Mor- 
phologie und  Physik  zur  Chemie,  gemäss  der  Unterscheidung  der  Or- 
ganismen und  Anorgane,  in  die  folgenden  beiden  vollkommen  paralle- 
len Schemata  spalten: 


I.    Abiologie  oder  Anorganologie. 

(Gesammtwissenschaft  von  den  leblosen  oder  anorganischen  Naturkörpern 

der  Erde.) 

(A.  Mineralogie.     B.  Hydrologie.     C.  Meteorologie). 


Abiostatik 
oder  anorganische  Morphonomie 
(Anorganische  Morphologie  im  weiteren 
Sinne.) 


Abiologische  Chemie. 
(Chemie  der  Anorgane.") 

Abio  dynamik 

oder   anorganische  Phoronomie. 

(Anorganische  Physik  im  weiteren 

Sinne.) 


Anorganische  Morpho- f  Chemie  der             Chemi     d           Anorganische  Physik 

logie  im  engeren  Sinne.  rganischen        anorganischen     ,  ™  «g™  SinM; 

(SÄ83Ü!5Ä"L  Sub8trate-     JL     P-cesse.     Jl-Phys.k^m.engsten 
Petrographie  etc.) 


Sinne.) 


II.     Biologie  oder  Lebenskunde. 

(Gesammtwissenschaft  von  den  belebten  oder  organisirteu  Naturkörpern 

der  Erde.) 

(A.  Zoologie.     B.  Protistologie.     C.  Botanik). 

Biologische  Chemie. 
(Chemie  der  Organismen.) 


Biostatik 

oder  organische  Morphonomie. 

(Organische  Morphologie 

im  weiteren  Sinne.) 


Morphologie  der 

Organismen 

(im  engeren  Sinne). 


Chemie  der 
organischen 

Substrate 
(Organische 
Stofflehre). 


Biodynamik 

oder  organische  Phoronomie. 

(Physiologie 

im  weiteren  Sinne.) 


Chemie  der 

organischen 

Processe. 

(Physiologische 

[       Chemie.) 


Physiologie 
(im  engeren  Sinne). 


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-7. 


[ujIlIBRARYJ^: 


An 


22  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 


Drittes  Capitel. 


Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

„Indem  sich  jeder  einzelne  Wirkungskreis  absondert,  so  ver- 
einzelt, zersplittert  sich  auch  in  jedem  Kreise  die  Behandlung. 
Nur  ein  Hauch  von  Theorie  erregt  schon  Furcht;  denn  seit  mehr 
als  einem  Jahrhundert  hat  man  sie  wie  ein  Gespenst  geflohen 
und,  bei  einer  fragmentarischen  Erfahrung,  sich  doch  zuletzt  den 
gemeinsten  Vorstellungen  in  die  Arme  geworfen.  Niemand  will 
gestehen,  dass  eine  Idee,  ein  Begriff  der  Beobachtung  zum  Grunde 
liegen ,  die  Erfahrung  befördern,  ja  das  Finden  und  Erfinden  be- 
günstigen könne."  Goethe    (1819). 


I.    Eintheilung  der  Morphologie  in  Anatomie  und  Worphogenie. 

Nachdem  wir  den  Begriff  und  die  Aufgabe  der  Morphologie  fest- 
gestellt und  das  Verhältniss  betrachtet  haben,  welches  dieselbe  gegen- 
über anderen,  theils  beigeordneten,  theils  übergeordneten  Naturwissen- 
schaften einnimmt,  werden  wir  nun  zunächst  die  verschiedenen  unter- 
geordneten wissenschaftlichen  Disciplinen  zu  betrachten  haben,  in  welche 
die  Morphologie  der  Organismen  selbst  einzutheilen  ist.  Auch  diese 
Auseinandersetzung  wird  uns  nicht  weniger  Schwierigkeiten  als  die 
vorhergehende  bereiten.  Denn  es  wiederholt  sich  hier,  und  sogar  in 
noch  höherem  Grade,  als  bei  der  vorhergehenden  Erörterung,  die  merk- 
würdige Erscheinung,  dass  durchaus  keine  festen,  klaren  und  unzwei- 
deutigen Begriffe  über  Inhalt  und  Umfang  der  einzelnen  Wissenschafts- 
zweige existiren,  und  dass,  während  Tausende  von  Arbeitern  in  allen 
diesen  Disciplinen  unaufhörlich  thätig  sind,  kaum  Einer  von  Hunderten 
sich  über  die  eigentlichen  Aufgaben  und  das  letzte  Ziel  seiner  Wissen- 
schaft klar  zu  werden  sucht. 

Indem  wir  die  Begriffe  der  einzelnen  untergeordneten  Wissenschaf- 
ten nach  Inhalt  und  Umfang  zu  bestimmen  suchen,  aus  denen  sich  die 
Morphologie  der  Organismen  zusammensetzt,  werden  wir  diese  letztere 
Wissenschaft,  ebenso  wie  bei  allen  folgenden  Untersuchungen,  in  dem 
so  eben  näher  bestimmten  engeren  Sinne  fassen,  in  welchem  die  sta- 
tische Organochemie  oder  die  Chemie  der  organischen  Substrate  von 
der  Morphologie   ausgeschlossen   wird.     Es  bleibt  uns  dann  also  als 


I.    Eintheilung  der  Morphologie  in  Anatomie  und  Morphogenie.  23 

Aufgabe  lediglich  die  erklärende  Betrachtung  der  organischen  Formen 
an  sich,  ohne  jede  Kücksicht  auf  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden  che- 
mischen Substrate  und  auf  ihre  stoffliche  Zusammensetzung. 

Da  unsere  Aufgabe  nun  dahin  geht,  die  verschiedenen  Formen 
der  Organismen  nicht  allein  kennen  zu  lernen  und  zu  beschreiben, 
sondern  dieselben  auch  vergleichend  zu  untersuchen  und  ihre  Bildung 
auf  allgemeine  Gesetze  zurückzuführen,  so  würde  sich  als  nächste  Ein- 
theilung  der  Morphologie  vielleicht  die  Spaltung  in  eine  beschrei- 
bende und  in  eine  erklärende  Formenlehre  darbieten.  Diese  Unter- 
scheidung ist  in  der  That  theoretisch  gemacht  und  häutig  auch  prak- 
tisch durchgeführt  worden.  Auf  ihr  beruht  z.  B.  die  Differenz  zwischen 
der  „Zootomie"  und  der  „vergleichenden  Anatomie,"  von  denen 
sich  die  erstere  auf  die  Beschreibung  aller  einzelnen  thierischen  Or- 
ganisations-Verhältnisse beschränkt,  während  die  letztere  dieselben 
zu  erklären,  d.  h.  auf  allgemeine  Gesetze  zurückzuführen  strebt.  Wäh- 
rend die  Zootomie  in  dem  Labyrinthe  der  zahllosen  Einzelformen  und 
in  der  unendlichen  Mannichfaltigkeit  der  einzelnen  Organisationswei- 
seu  sich  verliert  und  es  bloss  zu  einer  einfachen  Aneinanderreihung 
der  beobachteten  Thatsachen  bringt,  weiss  die  vergleichende  Anatomie 
den  leitenden  Ariadne-Faden  durch  alle  verwickelten  Windungen  des 
Labyrinthes  hindurch  festzuhalten  und  schwingt  sich  dadurch  zum  be- 
herrschenden Ueberblick  des  Ganzen  empor.  So  wesentlich  dieser 
Unterschied  zwischen  beiden  Disciplinen  aber  auch  ist,  so  ist  er  doch 
im  Grunde  nur  ein  Unterschied  in  der  Methode  und  in  der  Intentisät 
der  Erkenntniss.  Die  Zootomie  verfährt  analytisch  und  begnügt 
sich  mit  der  Kenntniss,  die  vergleichende  Anatomie  verfährt 
synthetisch  und  strebt  nach  der  Erklärung  der  Erscheinungen;  da- 
her können  wir  eigentlich  nur  die  letztere  als  wirklich  wissenschaft- 
liche Morphologie  bezeichnen,  welcher  die  erstere  als  untergeordnete 
Hülfswissenschaft  nur  das  Material  liefert.  Die  Spaltung  der  Morpho- 
logie in  eine  beschreibende  (descriptive)  und  eine  erklärende  (philoso- 
phische) Formenlehre  als  zwei  coordinirte  Hauptzweige  ist  demnach 
zu  verwerfen. 

Weit  wichtiger  ist  für  uns  der  Unterschied  zwischen  der  werden- 
den und  der  vollendeten  Form  der  Organismen.  Jedes  Sein  wird 
nur  durch  sein  Werden  erkannt.  Dieser  wichtige  Grundsatz  ist  in 
der  wissenschaftlichen  Morphologie  längst  thatsächlich  vielfach  berück- 
sichtigt und  darauf  hin  die  Entwickelungsgesckichte  der  organischen 
Formen  als  einer  der  wichtigsten  Zweige  der  letzteren  anerkannt  wor- 
den. Wir  theilen  diese  Anerkennung  so  sehr,  dass  wir  der  Wissen- 
schaft von  der  werdenden  und  sich  entwickelnden  Form  des  Organis- 
mus den  gleichen  Werth,  wie  der  Wissenschaft  von  der  vollendeten 
Form  zugestehen,   und  darauf  hin  die  gesainmte  Morphologie  in   die 


24  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

beiden  coordinirten  Zweige  der  Anatomie    und  der  Morphogenie 
oder  Entwicklungsgeschichte  spalten. 

II.  Eintheilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften. 

Grössere  Schwierigkeiten  als  die  Unterscheidung  bietet  uns  die 
weitere  Eintheilung  der  genannten  beiden  Hauptzweige  der  Morpholo- 
gie dar.  Die  Anatomie  wird  gewöhnlich  in  die  beiden  Zweige  der 
gröberen  Anatomie  oder  Organologie  und  der  feineren  (mikroskopi- 
schen) Anatomie  oder  Histologie  gespalten;  der  ersteren  wird  die 
Untersuchung  der  Zusammensetzung  des  Körpers  aus  seinen  ver- 
schiedenen Organen  zugewiesen,  der  letzteren  die  Erforschung  der 
Zusammensetzung  seiner  Gewebe  aus  den  Elementartheilen.  Indess 
beruht  diese  Unterscheidung  auf  unvollständiger  Basis  der  Erkenntniss 
und  kann,  wie  wir  unten  zeigen  werden,  nicht  in  dieser  Weise  beibe- 
halten werden. 

Um  zu  einer  weiteren  Eintheilung  der  Anatomie  und  der  Morpho- 
genie in  untergeordnete  Wissenschaftszweige  zu  gelangen,  erscheint  es 
nothwendig,  die  verschiedenen  Qualitäten  der  organischen  For- 
men, welche  das  Object  jener  Disciplinen  bilden,  eingehender  zu  be- 
trachten. Diese  stellen  sich  am  deutlichsten  und  klarsten  heraus,  wenn 
man  die  anorganischen  und  organischen  Formen  mit  einander  ver- 
gleicht. 

Alle  Naturkörper  der  Erde,  Organismen  und  Anorgane,  haben  das 
mit  einander  gemein,  dass  sie  uns  entweder  als  bestimmt  abgeschlossene 
räumliche  Einheiten,  als  Individuen,  unmittelbar  entgegentreten,  oder 
dass  sie  sich  in  mehrere  derartige  concrete  Raumeinheiten  oder  In- 
dividuen zerlegen  lassen.  Diese  Individuen,  deren  Form  des  Morpho- 
logen  concretes  und  nächstes  Object  ist,  sind  nun  bei  Organismen  und 
Anorganen  von  wesentlich  verschiedener  Qualität. 

Die  anorganischen  Individuen,  wie  z.  B.  die  einzelnen  Kry- 
stalle,  die  einzelnen  amorphen  Körner  unkrystallinischer  Verbindungen, 
die  einzelnen  Wassertropfen  etc.,  zeigen  sich  fast  stets  durch  und 
durch  homogen,  in  sich  gleichartig ;  aus  Molekülen  einer  und  der- 
selben Art  zusammengesetzt.  Da  sie  im  Inneren  nicht  aus  ungleich- 
artigen Theilen  zusammengesetzt  sind,  so  können  wir,  wenigstens  im 
gröberen  Sinne,  keine  Organe  an  denselben  unterscheiden;  und  die 
ganze  Morphologie  dieser  Körper  wird  sich  daher  wesentlich  auf  eine 
Untersuchung  ihrer  äusseren  Form  beschränken.  Von  einer  Organo- 
logie kann  bei  den  Anorganen  eben  so  wenig,  als  von  einer  Zusam- 
mensetzung des  Körpers  aus  Individuen  verschiedener  Ordnung  die 
Rede  sein. ') 


')  Wir  stellen   hier  absichtlich  die  wesentlichen  Formunterschiede   zwischen 
Organismen   und  Anorganen   so   scharf  und   durchgreifend   gegenüber,    wie   dies 


II.    Eintheilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften.    25 

Ganz  anders  zeigen  sich  schon  auf  den  ersten  oberflächlichen  Blick 
die  organischen  Individuen,  wie  z.  B.  die  einzelnen  Wirbelthiere.  Diese 
Körper  sind  durch  und  durch  heterogen,  in  sich  ungleichartig,  aus 
Molekülen  nicht  nur,  sondern  auch  aus  gröberen  Theilen  von  ganz  ver- 
schiedener Art  zusammengesetzt.  Die  ungleichartigen  Theile,  welche 
ihren  Körper  zusammensetzen,  können  wir,  entweder  in  gröberem  oder 
in  feinerem  Sinne,  Organe  nennen.  Diese  Zusammensetzung  des 
organischen  Körpers  aus  verschiedenen  Organen  ist  es,  welche  in  der 
gewöhnlichen  Anschauung  den  Organismus  macht.  Die  Morphologie 
dieser  Körper  kann  sich  mithin  unmöglich  auf  die  Untersuchung  ihrer 
äusseren  Form  beschränken,  sondern  sie  muss  neben  dieser  nothwendig 
ebenso  auch  die  innere  Form  berücksichtigen,  d.  h.  den  Bau  (die 
Structur)  des  Organismus,  oder  seine  Zusammensetzung  aus  verschie- 
denen gleichartigen  und  ungleichartigen  Theilen;  sowie  dann  weiter- 
hin die  Form  dieser  Theile  selbst,  ihr  gegenseitiges  Lagerungs-  und 
Verbindung^ -Verhältniss,  und  endlich  ihre  eventuelle  weitere  Zusam- 
mensetzung aus  verschiedenartigen  Formtheilen,  Gegenstand  der  or- 
ganischen Morphologie  sein  wird.  In  diesem  Sinne  könnte  man  die 
Morphologie  der  Organismen  auch  als  Organologie  im  weitesten 
Sinne  bezeichnen,  oder  besser  noch  als  Merologie,  als  Lehre  von 
den  Theilen,  oder  als  Tectologie,  als  Lehre  von  der  Zusam- 
mensetzung des  Körpers  aus  ungleichartigen  Theilen.  Gegen 
diesen  wichtigsten  Theil  der  Morphologie  der  Organismen  tritt  die  Be- 
trachtung ihrer  äusseren  Form  ganz  zurück,  oder  erscheint  vielmehr 
nur  als  ein  secundäres  Resultat  der  ersteren.  Von  anderem  Gesichts- 
punkte aus  könnten  wir  diesen  wichtigsten  Theil  unserer  Wissenschaft 
auch  als  Lehre  von  den  Individuen  bezeichnen,  da  nämlich,  wie 
das  dritte  Buch  zeigen  wird,  die  constituirenden  Theile  der  Indi- 
viduen, die  wir  so  eben  als  Organe  verschiedener  Ordnung  unter- 
schieden haben,  selbst  wieder  im  gewissen  Sinne  Individuen  sind,  so 
dass  wir  den  ganzen  individuellen  Organismus  als  ein  System  von 
einheitlich  verbundenen  Individuen  verschiedener  Ordnung  betrachten 
können. 

Ein  zweiter  wesentlicher  Unterschied  in  der  Form  zwischen  den 
organischen  und  anorganischen  Individuen  beruht  darauf,  dass  die  Form 
der  anorganischen  Individuen  (wenn  es  nicht  vollkommen  un- 
regelmässig gestaltete,  ganz  amorphe  Körper  sind)  einer  vollkommen 
exacten  mathematischen  Betrachtung  ohne  Weiteres  zugänglich  ist,  und 


fast  von  allen  Naturforschern  geschieht.  Im  zweiten  und  sechsten  Buche  wer- 
den wir  dagegen  zeigen,  dass  diese  Unterschiede  keineswegs  so  absoluter 
Natur  sind  und  dass  auch  hier  wahre  Uebergangsbildungen  und  Zwischenstufen 
vorkommen. 


26  Einteilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

dass  mit  der  stereometrischen  Ausmessung  derselben  die  Aufgabe 
ihrer  morphologischen  Erkenntniss  völlig  gelöst  ist.  Die  anorganischen 
Individuen  sind  fast  immer  von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und 
bestimmten  messbaren  Winkeln  begrenzt.  Die  Hauptaufgabe  der  Kri- 
stallographie, welche  den  grössten  Theil  der  abiologischen  Morphologie 
ausmacht,  ist  daher  die  Ausmessung  und  Berechnung  dieser  relativ 
einfachen  geometrischen  Form-Verhältnisse. 

In  vollem  Gegensatz  hierzu  sind  organischelndividuen,  deren 
Form  einer  stereometrischen  Behandlung  zugänglich  ist,  seltene 
Ausnahmen.  Fast  immer  ist  ihr  Körper  von  gekrümmten  Flächen,  ge- 
bogenen Linien  und  unmessbaren  sphärischen  WTinkeln  begrenzt.  Die 
Curven,  welche  hier  sich  finden,  sind  so  zusammengesetzter  und  dabei 
meist  scheinbar  so  unbestimmter  Natur,  dass  ihre  Ausmessung  und 
Berechnung  als  ein  unlösbares  Problem  erscheint.  Zwar  wird  die 
stereometrische  Behandlung  der  organischen  Formen  sehr  häufig  als 
Ziel  einer  späteren  vollendeteren,  exact-mathematischen  Methode  ihrer 
Untersuchung  hingestellt.  Indessen  müssen  wir  unseres  Theils  diese 
weit  verbreitete  Ansicht  als  eine  irrige  bezeichnen.  Es  wird  nämlich 
durch  die  unbegrenzte  Variabilität  aller  organischen  Formen, 
welche  im  sechsten  Buche  erläutert  werden  wird,  bereits  die  Möglich- 
keit einer  exacten  geometrischen  Behandlung,  wie  sie  die  Krystallo- 
graphie  durchführt,  von  vornherein  ausgeschlossen.  Da  nämlich  factisch 
schon  nächstverwandte  Individuen  einer  und  derselben  Species,  z.  B. 
verschiedene  Geschwister  die  von  einem  und  demselben  Elternpaar  ab- 
stammen, in  Beziehung  auf  äussere  und  innere  Form  unendlich  viele, 
gröbere  und  feinere  individuelle  Verschiedenheiten  zeigen,  da  niemals 
bei  allen  Individuen  einer  und  derselben  organischen  Species  sämmt- 
liche  gekrümmte  Flächen,  Linien  und  Winkel  des  Körpers  und  seiner 
einzelnen  Theile  absolut  identisch,  sondern  stets  nur  annähernd  gleich 
oder  ähnlich  sind,  so  ist  eine  derartige  absolute  mathematische 
Betrachtungsweise  der  organischen  Form,  wie  sie  gewöhnlich 
gefordert  wird,  gar  nicht  möglich;  und  wenn  man  selbst  die  compli- 
cirten  Curven  etc.  bei  allen  einzelnen  Individuen  berechnen  und  dann 
vergleichen  könnte,  so  hätte  eine  solche  mühsame  Arbeit  nicht  das 
mindeste  Interesse  und  die  Arbeit  selbst  wäre  eine  wahre  Danaiden- 
Arbeit.  Dagegen  ist  eine  anderweitige  mathematische  Betrachtungs- 
weise der  organischen  Formen,  welche  der  krystallographischen  Methode 
ähnlich,  aber  doch  wesentlich  verschieden  ist,  allerdings  möglich.  Es 
lassen  sich  nämlich,  wie  das  vierte  Buch  unseres  Werkes  zeigen  wird, 
gewisse  einfache  stereometrische  Grundformen  der  Organismen 
aufrinden,  welche  unter  den  scheinbar  ganz  unzugänglichen  Curven- 
systemen  der  unberechenbar  complicirten  Formen  der  organischen  In- 
dividuen  versteckt   liegen.     Diese    neue   Lehre    von   den    Grund- 


IL    Eintheilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften.  27 

formen  (Promorphen  ')  oder  Promorphologie  werden  wir  als  einen 
besonderen  und  höchst  wesentlichen  Theil  der  Morphologie  der  Organis- 
men auszubauen  haben.  Er  wird  uns  das  Aequivalent  einer  organischen 
Krystallographie  sein.  Die  Betrachtung  der  Form  der  einzelnen  In- 
dividuen verschiedener  Ordnung,  welche  den  Organismus  zusammen- 
setzen, wird  sich  stets  an  diese  Betrachtung  der  geometrischen  Grund- 
formen als  an  ihr  festes  und  sicheres  Skelet  anlehnen  müssen.  Wie 
dies  zu  verstehen  ist,  wird  das  vierte  Buch  zeigen. 

Während  die  beiden  wesentlichen  eben  hervorgehobenen  Unter- 
schiede in  der  Formbildung  der  Organismen  und  der  Anorgane  die 
vollendete  Form  betreffen,  so  finden  wir  zwei  andere  nicht  minder 
bedeutende  Differenzen  zwischen  beiden  Hauptreihen  von  Naturkörpern 
in  der  Entstehung  der  Formen.  Die  Formen  der  anorganischen 
Individuen  entstehen  dadurch,  dass  sich  die  gleichartigen  Moleküle 
der  homogenen  Materie,  aus  der  sie  bestehen,  nach  bestimmten  physi- 
kalischen Gesetzen  um  einen  bestimmten  Mittelpunkt  herum  ansammeln. 
Die  Form  des  Individuums  (z.  B.  des  Krystalls)  ist  hier  zu  jeder  Zeit 
seiner  Existenz  dieselbe;  sobald  der  Krystall  überhaupt  in  bestimm- 
ter Form  gebildet  ist,  bleibt  diese  mathematisch  bestimmbare  Form, 
so  lange  er  besteht,  dieselbe,  mag  das  Individuum  nachher  noch  so  sehr 
an  Grösse  zunehmen.  Jedes  Wachsthum  der  Anorgane  beruht  bloss 
auf  Apposition  neuer  Moleküle  von  aussen  her.  Weder  die  innere 
Gleichartigkeit  der  Substanz,  noch  die  äussere  charakteristische  Form 
wird  durch  dieses  Wachsthum  irgendwie  verändert.  Das  anorganische 
Individuum  entwickelt  sich  nicht. 

Grundverschieden  von  dieser  Wachsthums-Art  der  Anorgane  durch 
äussere  Apposition  ist  das  Wachsthum  der  Organismen,  welches 
durch  innere  Intussusception  geschieht  und  welches  nicht  bloss 
eine  Veränderung  der  Grösse,  sondern  auch  der  Form  des  organischen 
Individuums  herbeiführt.  Das  organische  Individuum  entwickelt 
sich.  Es  durchläuft  während  seines  Lebens  eine  Keihe  von  ver- 
schiedenen Formen.  Wir  können  daher  niemals  die  Form  des  con- 
creten  orgauischen  Individuums  aus  einem  einzigen  gegebenen  Form- 
zustand wahrhaft  erkennen,  sondern  müssen  zu  diesem  Zwecke  die 
ganze  Kette  von  auf  einander  folgenden  Formen  untersuchen  und  ver- 
gleichen, welche  das  organische  Individuum  während  der  ganzen  Zeit 
seines  Lebens  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchläuft.  Diese  Aufgabe 
löst  die  Entwicklungsgeschichte  oder  die  Embryologie,  welche 
passender  Ontoge nie  heissen  würde  (siehe  unten).  Die  allgemeinen 
Grundzüge  dieser  Wissenschaft  werden  wir  im  fünften  Buche  festzu-^ 


')  TKJOjxoQif.'r},  >],  die  Grundform,  Vorform,  Urform. 


28  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

stellen  haben.  Die  Ontogenie  wird  immer  einen  wesentlichen  und 
nicht  zu  entbehrenden  Bestandtheil  der  wissenschaftlichen  Morphologie 
ausmachen.  Durch  sie  wird  die  letztere  mit  der  Physiologie  auf  das 
engste  verbunden. 

Ein  vierter  und  letzter  sehr  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
den  Formen  der  anorganischen  uud  der  organischen  Individuen  betrifft 
nicht  die  Beschaffenheit  oder  Entstehung  der  Form  der  concreten  ein- 
zelnen Individuen,  sondern  diejenige  der  abstracten  Einheiten,  welche 
man.  Arten  nennt.  Unter  dem  Namen  der  Art  oder  Species  fasst 
man  gewöhnlich  oberflächlich  alle  diejenigen  Individuen  zusammen, 
welche  einander  gleich  oder  ähnlich  sind,  d.  h.  welche  in  allen  soge- 
nannten wesentlichen  Characteren  übereinstimmen.  Alle  unorgani- 
schen Individuen,  welche  zu  einer  und  derselben  Art  gehören,  z.  B.  zu 
einer  bestimmten  Krystall-Art,  haben  vollkommen  dieselbe  Form 
(feste  Krystallform)  und  dieselbe  chemische  Zusammensetzung.  Die 
einzelnen  Individuen  jeder  anorganischen  Species  unterscheiden  sich 
lediglich  durch  ihre  Grösse.  Andererseits  gehören  alle  anorganischen 
Individuen,  welche  entweder  durch  ihr  chemisches  Substrat  oder  durch 
ihre  Form  (Krystallform  etc.)  verschieden  sind,  verschiedenen  Arten  an. 
Die  Form  jeder  anorganischen  Art  ist  aber  unveränderlich,  und 
die  Kochsalzkrvstalle,  welche  zu  allererst  auf  unserer  Erde  entstanden 
sind,  werden  in  keiner  Beziehung  verschieden  von  denjenigen  gewesen 
sein,  die  heutzutage  sich  bilden. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung  hat  der  Begriff  der  Art  oder  Spe- 
cies für  die  Form  der  organischen  Individuen.  Hier  ist  das  Kriterium 
der  Species  nicht  die  Gleichheit  der  Form  aller  Individuen ,  auch  nicht 
einmal  die  Aehnlichkeit  derselben.  Denn  in  vielen  Fällen  sind  Larven 
und  Erwachsene,  Männchen  und  Weibchen  derselben  Art  so  gänzlich 
verschiedene  Formen,  dass  sie  in  keinem  einzigen  speciellen  Forni- 
character  übereinstimmen,  und  dass  man  sie  nur  in  eine  einzige  Species 
zusammenstellt,  weil  sie  von  einem  und  demselben  gemeinsamen  Stamm- 
vater abstammen.  Nun  sind  aber  diese  „Arten"  oder  Species,  welche 
der  Inbegriff  aller  Descendenten  einer  einzigen  Stammform  sind,  kei- 
neswegs unveränderlich.  Es  erzeugt  nicht  Gleiches  nur  Gleiches,  wie 
gewöhnlich  falsch  gesagt  wird,  sondern  Aehnliches  erzeugt  Aehnliches, 
und  nach  Verlauf  eines  gewissen  Zeitraums  gehen  die  organischen 
Species  unter,  während  neue  sich  aus  ihnen  entwickeln.  —  Die  Form 
jeder  organischen  Species  ist  also  durchaus  veränderlich,  und 
die  Species  selbst  mithin  keine  abgeschlossene  Einheit.  Wohl  aber  ist 
eine  solche  reale  und  vollkommen  abgeschlossene  Einheit  die  Summe 
aller  Species,  welche  aus  einer  und  derselben  gemeinschaft- 
lichen Stammform  allmählig  sich  entwickelt  haben,  wie  z.  B. 


IL    Eintheilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften.    29 

alle  Wirbelthiere.  Diese  Summe  'nennen  wir  Stamm  (Phylon).  ') 
Die  Untersuchung-  der  Entwicklung-  dieser  Stämme  und  die  Feststellung 
der  genealogischen  Verwandtschaft  aller  Species,  die  zu  einem  Stamm 
gehören,  halten  wir  für  die  höchste  und  letzte  besondere  Aufgabe  der 
organischen  Morphologie.  Im  sechsten  Buche  werden  wir  die  Grund- 
züge dieser  Phylogenie  oder  Entwicklungsgeschichte  der  or- 
ganischen Stämme  (Kreise  oder  „Typen")  festzustellen  haben.  Das 
Material  zu  dieser  bisher  gänzlich  vernachlässigten  Wissenschaft  liefert 
uns  vor  Allem  die  Palaeontologie,  die  Erkenntniss  der  ausge- 
storbenen Lebensformen,  welche  die  Stammeltern  und  Blutsverwandten 
der  jetzt  lebenden  Organismen  sind.  Die  ganze  Disciplin  könnte  aber 
auch  als  organische  Verwandtschaftslehre  oder  Genealogie  bezeich- 
net werden,  wie  wir  deren  Bedeutung  im  sechsten  Buche  feststellen 
werden. 

Aus  den  vorausgehenden  Erörterungen  über  die  charakteristischen 
Qualitäten  der  organischen  Formen  haben  sich  uns  nun  bereits  von 
selbst  die  speciellen  einzelnen  Aufgaben  entwickelt,  welche  die  Morpho- 
logie der  Organismen  als  die  erklärende  organische  Formenlehre  zu 
lösen  haben  wird.  Es  wird  jede  der  vier  angeführten  Qualitäten  der 
organischen  Form  ihre  gesonderte  Behandlung  verlangen,  und  es  wird 
diese  Aufgabe  vier  gesonderten  Disciplinen  zufallen. 

Wir  werden  zunächst  als  die  beiden  Hauptzweige,  in  welche  sich 
die  Morphologie  der  Organismen  (nach  Ausschluss  der  statischen  Or- 
ganochemie)  spaltet,  zu  unterscheiden  haben:  I)  die  Wissenschaft  von 
der  vollendeten  organischen  Form  oder  die  Anatomie,  und  II)  die 
Wissenschaft  von  der  werdenden  organischen  Form  oder  die  Ent- 
wickelungsgeschichte,  M  o rp h o  g e ni  e. 

Die  Anatomie  (im  weitesten  Sinne)  oder  die  gesammte  For- 
menlehre des  vollendeten  Organismus,  wird  auch  häufig  als 
Organologie  oder  als  Morphologie  bezeichnet,  und  von  Anderen  wieder 
als  ein  Theil  der  Systematik  betrachtet.  Die  verschiedenen  hierüber 
herrschenden  Ansichten,  sowie  die  verschiedenen  Eintheilungen  der 
Anatomie  in  untergeordnete  Disciplinen,  werden  wir  sogleich  einer  ge- 
sonderten Betrachtung  unterwerfen.  Nach  unserer  Anschauung,  die 
wir  so  eben  entwickelt  haben,  spaltet  sich  die  Anatomie  zunächst  in 
zwei  verschiedene  Disciplinen:  1)  die  Lehre  von  der  Zusammensetzung 
des  Organismus  aus  gleichartigen  und  ungleichartigen  Theilen,  welche 
man  passend  entweder  Zusammeusetzungslehre  oder  Baulehre  (Tecto- 
logie)  oder  Lehre  von  den  Theilen  (Merologie)  nennen  könnte  (drittes 
Buch),  und  II)  die  Lehre  von  den  Formen  der  einzelnen  Theile  oder  der 
einzelnen    Individuen    verschiedener    Ordnung    und    insbesondere    von 

/<£,*  *•"*  *y£A 


')  (fiilov,  tö  ;  der  Stamm  (Volksstamm,  Nation). 


30  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

deren  geometrischen  Grundformen,  Promorphologie,  an  welche  sich 
unmittelbar  die  Betrachtung-  der  nicht  geometrisch  bestimmbaren  äus- 
seren Formen  derselben  anschliessen  wird.    (Viertes  Buch.) 

Die  Morphogenie  oder  die  Entwickelungsgeschichte  (im  weite- 
sten Sinne)  als  die  Formenlehre  des  werdenden  Organismus,  zerfällt 
ebenfalls  in  zwei  Disciplinen,  welche  nach  unserer  Anschauung  nächst- 
verwandt und  eng  verbunden  sind,  obwohl  sie  gewöhnlich  als  weit 
getrennte  Wissenschaften  behandelt  werden.  I)  Die  erste  derselben 
untersucht  die  Entwickelungsgeschichte  der  Individuen  und 
kann  demgemäss  als  Ontogenie  bezeichnet  werden.  Gewöhnlich  wird 
sie  „Embryologie"  genannt,  obwohl  dieser  Begriff  viel  zu  enge,  und 
nur  auf  die  höheren  Organismen  anwendbar  ist.  (Fünftes  Buch.)  II)  Der 
andere  Zweig  der  Morphogenie  ist  die  Entwickelungsgeschichte 
der  Stämme  oder  Phylogenie  und  untersucht  die  zusammenhängende 
Formenkette  aller  derjenigen  organischen  Individuen,  die  von  einer 
und  derselben  gemeinsamen  Stammform  sich  abgezweigt  haben.  Da  so 
wesentlich  die  Erkenntniss  der  Verwandtschaft  der  organischen  Formen 
ihre  Aufgabe  ist,  könnte  sie  auch  Genealogie  der  Organismen, 
und  da  ihr  wesentliches  empirisches  Substrat  die  Petrefactenkunde  ist, 
„wissenschaftliche  Palaeontologie'"  genannt  werden.  (Sechstes 
Buch.) 

Das  gegenseitige  Verhältniss  dieser  vier  Disciplinen,  welche  wir 
als  die  Hauptzweige  der  Morphologie  der  Organismen  betrachten, 
ist  bisher,  theils  wegen  der  einseitig  herrschenden  analytischen  Er- 
kenntniss-Methoden, theils  wegen  des  allgemeinen  Glaubens  an  das 
Species-Dogma,  meist  vollständig  verkannt  worden.  Unsere  Auffas- 
sung desselben  dürfte  durch  folgendes  Schema  übersichtlich  erläutert 
werden: 


Morphologie  der  Organismen 
(im  engeren  Sinne,  nach  Ausschluss  der  statischen  Chemie). 


Anatomie 

oder  Morphologie  im  engsten  Sinne. 

(Gesammtwissenschaft  von  der  voll- 


endeten Form  der 


Organismen. 


Tectologie 
(oder  Structur- 
lehre\ 
l Wissenschaft    von' 
der    Zusammmen-, 
|setzung  der  Orga- 
nismen   ans   orga- 
Jnischenlndividuenl 
[verschiedenerOrd- 
nung. 


Promorphologie 
(oder  Grundformen- 
lehre). 
Wissenschaft  von\ 
den  äusseren  For-i 
men  der  organi-f 
sehen  Individuen/ 
und  deren  stereo-[ 
metrischen  Grund- 1 
formen.  / 


Morphogenie 
oder  Entwickelungsgeschichte. 
(Gesammtwissenschaft   von  der  wer- 
denden Form  der  Organismen. 


Ontogenie 
(oder  Embryologie). 

Entwickelungsge- 

I .schichte  der  orga- 
nischen Individuen! 
(Onta). 


Phylogenie 
(oder  Palaeon- 
tologie) 
Entwickelungsge- 
schichte der  orga- 
nischen     Stämme! 
(Phyla). 


III.    Anatomie  und  Systematik.  31 

III.   Anatomie  und  Systematik. 

Bevor  wir  die  Disciplinen  der  Tectologie  und  der  Promorphologie 
näher  ins  Auge  fassen,  erscheint  es  nothwendig,  uns  über  das  Ver- 
hältniss  der  Morphologie  und  insbesondere  der  Anatomie  zu  einigen 
Disciplinen  zu  verständigen,  welche  theils  der  Anatomie  entgegenge- 
setzt, theils  derselben  untergeordnet  werden ;  dahin  gehört  insbesondere 
die  Systematik,  die  Organologie  und  die  Histologie.  Auch  die  ge- 
bräuchliche Bezeichnung  der  Anatomie,  welche  wir  im  Folgenden  als 
allgemeinen  Ausdruck  für  unsere  gesammten  Kenntnisse  von  der  voll- 
endeten organischen  Form  beibehalten  werden,  bedarf  einer  gewissen 
Erläuterung  und  Rechtfertigung.  Es  werden  nämlich  die  Ausdrücke 
der  Anatomie  und  Morphologie  auf  den  nächstverwandten  und  unmittel- 
bar sich  berührenden  Gebieten  der  Zoologie  und  Botanik  in  einem  so 
gänzlich  verschiedenen  Sinne  und  so  wechselnd  gebraucht,  dass  es  durch- 
aus nothwendig  erscheint,  diese  Begriffe  scharf  zu  definiren  und  ihnen 
eine  bestimmte  und  bleibende  Bedeutung  beizulegen. 

Die  Zoologie  (als  Biologie  der  Thiere)  gebraucht  das  Wort  Anatomie 
meistentheils  zur  Bezeichnung  der  gesammten  Structurverhältnisse  des  zu 
untersuchenden  Organismus.  Ursprünglich  nur  „Zergliederungskunde"  und 
die  daraus  folgende  Erkenntniss  des  inneren  Baues  der  Organismen  be- 
deutend, hat  sich  späterhin  der  Begriff  der  Anatomie  dahin  erweitert, 
dass  man  darunter  die  gesammte  Lehre  von  den  Form- Verhältnissen  des 
entwickelten  Organismus  versteht,  also  nicht  nur  die  Lehre  von  der  inneren 
Zusammensetzung,  sondern  auch  von  der  äusseren  Form.  Dabei  ist  jedoch 
zu  bemerken,  dass  die  meisten  sogenannten  Zoologen  mehr  oder  minder 
ausgesprochen  einen  Gegensatz  von  Systematik  und  Anatomie  schon 
seit  langer  Zeit  ausgebildet  haben,  uud  in  der  Praxis  ist  dieser  Gegensatz 
so  exclusiv  geworden,  dass  die  „reinen  Systematiker"  die  Anatomie  als 
gar  nicht  zur  Zoologie  gehörig  betrachten  und  ebenso  die  „reinen  Ana- 
tomen" die  Systematik  als  eine  ihnen  fremde  Wissenschaft  ansehen.  So 
stehen  sich  in  der  Anschauung  sehr  vieler  Naturforscher  (und  nicht  bloss 
vieler  Zoologen)  diese  beiden  Disciplinen  ganz  fremdartig  einander  ge- 
genüber. 

Dieses  seltsame  Verhältniss  rührt  daher,  dass  die  grosse  Mehrzahl 
aller  Zoologen,  die  seit  Linne"  und  seit  der  durch  diesen  erfolgten  Neube- 
gründung der  Zoologie  als  besonderer  Wissenschaft  sich  deren  Dienste  ge- 
widmet haben,  von  den  eigentlichen  Aufgaben  der  Zoologie  entweder  gar 
keine  oder  nur  eine  ganz  dunkle  Ahnung  haben.  Der  allgemeine  und  schnelle 
Aufschwung,  den  Zoologie  und  Botanik  durch  Linn6's  ausserordentliche 
formelle  Verdienste  um  die  „systematische"  Kenntniss  der  Thiere  und  Pflan- 
zen, durch  die  von  ihm  eingeführte  biliäre  Nomenclatur  uud  systematische 
Ordnung  nahmen,  die  Leichtigkeit  nach  einem  auf  kurze  bündige  Beschrei- 
bung gegründeten  künstlichen  Systeme  sich  in  dem  Chaos  der  zahllosen 
Gestalten   zurecht  zu   finden,   führte  zu   dem  Irrthum,   dass  dieses  System 


32  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

selbst  das  Ziel  der  Wissenschaft  sei,  und  dass  man  das  System  nur  mit 
möglichst  viel  neuen  Formen  bereichern  müsse,  um  sich  um  die  zoologische  und 
botanische  „Wissenschaft"  bleibende  Verdienste  zu  erwerben.  So  entstand 
denn  die  grosse  und  traurige  Schaar  der  ,, Museumszoologen"  und  der  „Her- 
bariumsbotaniker", die  zwar  in  ihrem  Museum  und  ihrem  Herbarium  auf  das 
genaueste  Bescheid  wussten  und  jede  von  ihren  tausend  Species  mit  Na- 
men auswendig  benennen  konnten,  dafür  aber  auch  von  den  gröberen  und 
feineren  Structurverhältnissen  dieser  Species,  von  ihrer  Entwickelung  und 
Lebensgeschichte,  von  ihren  physiologischen  und  anatomischen  Verhältnissen 
nicht  das  Mindeste  wussten.  Mit  der  wachsenden  Zahl  der  verschiedenen 
Formen,  die  neu  bekannt  und  benannt  wurden,  wuchs  die  Zahl  dieser  sam- 
melnden „Systematiker",  deuen  das  Museum  und  Herbarium  nicht  Mittel 
und  Material  zum  Studium  der  Organismen,  sondern  selbst  Zweck  wurde 
und  die  über  diesem  nebensächlichen  Mittel  den  Hauptzweck  ganz  vergasseu. 
So  kam  denn  die  Zeit,  wo  (wie  Schieiden  sehr  treffend  sagt)  „ein  Mann, 
der  6000  Pflanzen  mit  Namen  zu  nennen  wusste,  schon  desshalb  ein  Bo- 
taniker, einer  der  10,000  Pflanzen  zu  nennen  wusste,  ein  grosser  Botaniker 
genannt  wurde",  ein  Missverständniss,  welches  auch  in  der  Zoologie  gleicher- 
weise herrschte. 

Wenn  man  bedenkt,  welche  unendlichen  Massen  der  besten  Kräfte  und 
Mittel,  welcher  Aufwand  von  Arbeit  und  Mühe,  von  Geld  und  Zeit,  von 
Papier  und  Druckerschwärze  vergeudet  wurde,  bloss  um  möglichst  viele 
verschiedene  Formen  in  den  zoologischen  Museen  und  in  den  botanischen 
Herbarien  aufzuspeichern,  und  wenn  man  mit  diesem  ungeheuren  Aufwände 
von  Mitteln  den  äusserst  laugsamen  und  unterbrochenen  Fortschritt  ver- 
gleicht, den  der  wirklich  wissenschaftliche  Kern  der  Zoologie  und  Botanik 
in  dem  ganzen  vorigen  Jahrhundert  und  in  der  ersten  Hälfte  des  gegen- 
wärtigen gemacht  hat,  so  kann  man  nur  in  die  gerechten  Klagen  und  Vor- 
würfe einstimmen,  welche  Schieiden  seiner  Zeit  gegen  die  herrschende 
Systematik  auf  dem  Gebiete  der  Pflanzenkunde  schleuderte.  Leider  steht  es 
aber  mit  der  Thierkunde  nicht  viel  besser.  Auch  die  grosse  Mehrzahl  der 
Zoologen  vergass  das  Ziel  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  über  der  Be- 
schaffung der  Mittel  und  Wege,  die  dazu  führen  sollen.  Das  „System" 
wurde  für  diese  wie  für  jene  das  Ideal  und  das  eigentliche  Ziel  der 
Wissenschaft. 

Im  Grossen  und  Ganzen  betrachtet  haben  nun  die  meisten  dieser  syste- 
matischen Bestrebungen,  so  weit  sie  sich  lediglich  mit  Betrachtung,  Unter- 
scheidung und  Benennung  der  äusseren  Form  der  „Species"  beschäftigen, 
nicht  mehr  Werth,  als  die  gleichen  systematischen  Bestrebungen,  welche  zur 
Anlegung  aller  möglichen  Curiositäten-Sammlungen  führen.  Auch  die  Lieb- 
haber und  Sammler  von  Kunst-Gegenständen  aller  Art  können  den  gleichen 
Anspruch  auf  wissenschaftliche  Leistung  erheben.  Systematisch  geordnete 
Sammlungen  von  Wappen  z.B.,  von  alten  Meubles,  Waffen,  Kostümen,  von  den 
neuerdings  so  beliebten  Briefmarken  und  anderen  derartigen  Kunstprodukten 
können  mit  eben  so  viel  Specifications-Sinu,  mit  eben  so  viel  Freude  und 
Interesse  an  den  verschiedenen  Formen  und  ihrer  systematischen  Gruppirung 
gepflegt  werden   und   sind    sehr  häufig  mit  mehr  logischem  Sinue  geordnet 


III.    Anatomie  und  Systematik.  33 

und  classificirt,  als  die  Sammlungen  von  Schneckenschalen,  Muschelschalen, 
Vogelbälgen  u.  s.  w.,  deren  Liebhaber  „Zoologen"  zu  sein  glauben.  Man 
frage  nur  die  sogenannten  Ornithologen,  die  jede  Vogel-Species  mit  Namen 
kennen,  ob  sie  vom  Bau  der  Federn,  oder  gar  von  der  Structur  des  Ge- 
hirns und  des  Auges  irgend  eines  Vogels,  von  der  Entwickelungsgeschichte 
des  Hühnchens  im  Ei,  von  den  innigen  Verwandtschaftsverhältnissen  der 
Vögel  zu  den  nächststehenden  Reptilien  irgend  welche  eingehende  Kennt- 
nisse besitzen '{  Oder  man  frage  die  Entomologen,  die  sich  mit  ihren  kost- 
baren Käfer-  uud  Schmetterlings-Sammlungen  brüsten,  ob  sie  den  Bau  und 
die  Entwicklung  der  Chitinausscheidungen,  mit  deren  Form  sie  sich  aus- 
schliesslich beschäftigen,  kennen,  ob  sie  die  Entwickelungsgeschichte  einer 
einzigen  Form  von  Anfang  an  verfolgt  haben,  ob  sie  von  den  fossilen  Insec- 
ten  oder  von  den  den  Insecten  nächstverwandten  Spinnen  etwas  wissen?  Lei- 
der wird  man  in  den  allermeisten  Fällen  auf  die  erstaunlichste  Beschränkt- 
heit und  auf  die  gröbste  Unwissenheit  in  den  wichtigsten  Zweigen  der 
Zoologie  selbst  auf  dem  kleinen  und  engbegränzten  Felde  stossen,  welches 
diese  „Systematiker"  für  ihr  Specialfach  ausgeben.  So  lange  dieser  syste- 
matische Dilettantismus,  der  mit  der  Heraldik  und  der  Briefmarkologie  voll- 
kommen auf  einer  Stufe  der  „Wissenschaft14  steht,  nichts  Anderes  sein  will, 
als  eine  harmlose  Geniüths-  und  Augen-Ergötzung,  kann  man  ihn  ruhig  ge- 
währen lassen.  Von  löyoc,  ist  in  der  einen  Logie  so  viel  als  in  der  anderen. 
Sobald  er  aber  den  Anspruch  macht,  „Zoologie"  oder  „Phytologie"  zu 
sein,  muss  er  auf  den  ihm  gebührenden  Platz   aufmerksam  gemacht  werden. 

Nur  durch  das  Ueberwuchern  dieser  ganz  oberflächlichen  Systematik, 
welche  sich  mit  der  Betrachtung  der  äusserlichsten  und  oberflächlichsten 
Formverhältnisse  begnügte,  und  dennoch  sich  für  die  „eigentliche  Zoologie" 
ausgab,  war  es  möglich,  dass  der  Gegensatz  zwischen  Systematik 
und  Anatomie  in  der  Weise  sich  ausbildete,  wie  er  noch  heutzutage  von 
sehr  vielen  Seiten  festgehalten  wird.  Diese  Systematik,  die  sich  so  scharf 
der  Anatomie  gegenübersetzt,  ist  selbst  nur  ein  ganz  kleines  und  unbedeu- 
tendes Bruchstück  derselben.  Denn  die  Anatomie  kann  sich  nicht  be- 
gnügen mit  der  Erkenntniss  bloss  des  inneren  Baues,  der  Structur  uud  Ver- 
bindungsweise der  Organe,  sondern  sie  muss  zugleich  stets  die  äussere 
Form  mit  in  Betracht  ziehen.  Die  Anatomie  hat  demnach  die  gröberen 
und  feineren  Form-  und  Structur- Verhältnisse  des  ganzen  Körpers  zu  er- 
mitteln. Jeder  Zweifel  an  dieser  Notwendigkeit  muss  schwinden  beim 
Studium  der  niedersten  Organismen-Gruppen.  Während  es  bei  den  höheren 
Thieren  und  Pflanzen  wenigstens  möglich  ist,  die  Trennung  zwischen 
„Systematik"  als  Lehre  von  der  äusseren  Form,  und  „Anatomie"  als  Lehre 
vom  inneren  Bau  durchzuführen,  so  stösst  diese  künstliche  Trennung  da- 
gegen bei  den  niederen  Pflanzen  und  Thieren  überall  auf  unüberwindliche 
Schwierigkeiten. 

Anders  als  in  der  Zoologie  hat  sich  der  Begriff  der  Anatomie  und  ihr 
Gegensatz  zur  Systematik  in  der  Botanik  (als  Biologie  der  Pflanzen) 
gestaltet.  Da  nämlich  vorwiegend,  vorzüglich  wenn  man  die  höheren  For- 
men beider  Reiche  vergleicht,  die  Organ-Entwickelung  bei  den  frei  beweg- 
lichen Thieren  im  Innern  des  Körpers,   bei  den   festsitzenden  Pflanzen  da- 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  3 


34  Eintheihmg  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

gegen  auf  der  Oberfläche  stattfindet,  so  dass  hier  die  äussere,  dort  die  innere  Form- 
Entfaltung  vorherrscht,  so  ist  die  Morphologie,  soweit  sie  die  Gestaltung  der 
Organe  und  nicht  die  der  Elementartheile  erfassen  will,  bei  den  höheren  Pflan- 
zen nur  selten,  bei  den  höheren  Thieren  dagegen  immer  genöthigt,  in  das  Innere 
einzudringen  und  wirklich  zergliedernd  zur  Anatomie  zu  werden.  Von  den  Bo- 
tanikern wird  daher  auch  gewöhnlich  unter  Anatomie  nur  diejenige  der  Elemen- 
tartheile, d.  h.  die  Histologie  verstanden,  während  die  ..gröbere  Anatomie'*, 
welche  bei  den  Thieren  schlechtweg  so  genannt  wird,  hier  bald  Organologie, 
bald  Morphologie  genannt  wird.  Unter  Organologie  verstehen  dagegen  an- 
dere Botaniker  (z.  B.  Schieiden)  wieder  die  eigentliche  Physiologie  der 
Pflanzen,  die  wieder  von  Anderen  mit  der  Biologie  verwechselt  wird- 

Dagegen  hat  sich  der  Gegensatz  zwischen  Systematik  und  Morphologie 
im  engeren  Sinne  oder  Anatomie  auf  dem  Gebiete  der  Botanik  nicht  so, 
wie  auf  dem  der  Zoologie  entwickelt.  Da  hier  eben  die  meisten  Organe, 
wie  vor  allen  die  Ernährungs-Organe  (Blätter,  Wurzeln  etc.)  und  die  Fort- 
pflanzungs-Organe (Bliithen,  Früchte  etc.)  ganz  äusserlich  entwickelt  sind, 
so  mussten  sie  nothwendig  von  der  Systematik  weit  mehr,  als  dies  in  der  Zoo- 
logie der  Fall  war,  berücksichtigt  und  benutzt  werden,  und  lieferten  meistens 
sogar  die  Hauptstütze  derselben.  Umgekehrt  musste  die  fchierieche  Systematik, 
da  sie  jedes  Eindringen  in  das  Innere  des  Körpers  und  somit  jede  tiefere 
Brkenntniss  der  Organisation  vermied,  zu  den  unbedeutendsten  äusserli- 
chen  Form  -  Modifikationen  der  äusseren  Körperoberfläche  und  ihrer  An-  \ 
hängsei  greifen,  um  ihre  systematischen  Charactere  zu  gewinnen. 

So  ist  es  denn  gekommen,  dass  die  Systematik  im  Sinne  der  Botaniker 
einen  weit  grösseren  Theil  der  Anatomie  (eigentlich  nur  die  Histologie  aus- 
geschlossen) umfasst,  als  im  Sinne  der  Zoologen.  Was  diese  letzteren 
Histologie  nennen,  heisst  bei  den  ersteren  Anatomie,  und  was  die  Botaniker 
gewöhnlich  unter  Organologie  verstehen,  ist  bei  den  Zoologen  ein  Theil  der 
Physiologie.  Vergleicht  man  aber  über  diesen  Gegenstand,  der  doch  von 
so  fundamentaler  Wichtigkeit  ist,  eine  grössere  Anzahl  von  botanischen  und 
zoologischen  Handbüchern  (namentlich  die  einleitenden  Capitel  zu  morpholo- 
gischen und  physiologischen  Werken)  so  wird  man  erstaunen  über  die  un-  ' 
glaublichen  Widersprüche  und  die  gänzlich  verschiedeneu  Ansichten,  welche 
die  verschiedenen  Autoren  über  die  wechselseitigen  Beziehungen  der  Haupt- 
zweige ihrer  Wissenschaft  hegen. 

Soll  eine  gegenseitige  Verständigung  möglich  werden,  so  ist  es  durch- 
aus nothwendig,  Inhalt  und  Umfang  der  einzelnen  Disciplinen  scharf  zu  um- 
schreiben und  die  so  gewonnene  Definition  des  Wortes  consequent  in  der- 
selben Bedeutung  festzuhalten.  Wenn  dies  geschieht,  ist  es  unseres  Er- 
achtens  nicht  schwer,  auf  sehr  einfachem  Wege  eine  befriedigende  Lichtung 
und  Klärung  der  Begriffe  herbeizuführen. 

Was  zunächst  die  Systematik  betrifft,  so  kann  sie  nicht,  wie  es  bis- 
her meist  geschah,  als  eine  besondere  Wissenschaft  der  Morphologie  gegen- 
über gestellt  werden.  In  diesen  Irrthum,  der  sehr  verbreitet  erscheint,  ist 
selbst  Victor  Ca rus  in  seinem  System  der  thierischen  Morphologie  ge-  J 
fallen,  indem  er  gleich  im  Eingänge  sagt,  dass  die  statische  Biologie  „auf 
zwei   ihrem   innersten  Wesen    nach    verschiedene   Zweige    der   wissenschaft- 


III.    Anatomie  und  Systematik.  35 

liehen  Erkenntniss  führt.  Der  eine  hiervon  ist  das  Streben  nach  einer  voll- 
ständigen Classification  der  Pflanzen  und  Thiere,  die  organische  Sy- 
stematik, Biotaxie,  welche  sich  vorläufig  mit  dem  Aufsuchen  der  Ver- 
wandtschaft der  organischen  Geschöpfe  beschäftigt;  der  andere  ist  die 
Kenntniss  von  der  äusseren  und  inneren  Gestaltung  derselben,  die  Ana- 
tomie, pflanzliche  und  thierische  Formenlehre,  Morphologie.  In 
beiden  wird  die  Organisation  der  Pflanze,  des  Thieres  untersucht,  jedoch 
bloss  bei  der  letzteren  als  Object,  bei  der  ersteren  nur  als  Mittel  zum 
Zweck.  Während  die  Systematik  nur  so  viel  anatomische  Thatsachen  zu 
verwerthen  braucht,  als  die  organische  Verwandtschaft  zu  ihrem  Nachweise 
bedarf,  sind  die  organischen  Formen  an  sich  Gegenstand  der  letzteren." 
Nach  dieser  Definition,  die  Carus  noch  weiter  ausführt,  würde  also  die 
Anatomie  die  eigentliche  Formenlehre  sein,  indem  sie  die  Formen 
der  Organismen  an  sich  in  Betrachtung  zieht,  wogegen  die  coordinirte 
Systematik  oder  Biotaxie  wesentlich  eine  Verwandtschaftslehre  sein 
würde,  welche  die  Organismen  rücksichtlich  ihrer  Form  vergleicht,  sie 
darauf  hin  zu  classificiren  sucht,  und  aus  der  Vergleichung  und  Zusammen- 
stellung der  verwandten  Formen  das  System  construirt.  Offenbar  ist  aber 
der  Unterschied,  der  so  nach  Carus  die  Systematik  und  die  Anatomie  als 
zwei  ihrem  innersten  Wesen  nach  verschiedene  Zweige  der  Biostatik  tren- 
nen würde,  lediglich  ein  Unterschied  einerseits  der  Methode  oder  der  Be- 
trachtungsweise, andererseits  der  formalen  Darstellung.  Die  Systematik 
verfährt  synthetisch,  vergleichend,  die  Morphologie  oder  Anatomie  da- 
gegen,' wie  sie  hier  definirt  ist,  rein  analytisch,  nicht  vergleichend.  Es 
würde  mithin  auf  dem  Gebiete  der  thierischen  Biostatik  die  letztere  (die 
Morphologie)  der  „Zootomie",  die  erstere  (die  Systematik)  wesentlich  der 
„vergleichenden  Anatomie"  entsprechen.  Denn  die  Verwandtschafts- 
lehre,  wie  sie  Carus  hier  zeichnet,  ist  nicht  die  gewöhnliche  Systematik, 
sondern  die  vergleichende  Anatomie  in  der  Form  des  Systems; 
während  die  Morphologie  oder  Anatomie  in  dem  dort  bezeichneten  Sinne 
die  rein  analytische  Zootomie  sein  würde,  welche  die  Formen  der  Thiere 
an  sich  untersucht,  ohne  sie  vergleichend  zusammen  zu  stellen  und  ohne  sie 
in  systematischer  Form  übersichtlich  zu  machen.  Ein  weiterer  Unterschied 
zwischen  Morphologie  und  Biotaxie  ,  wie  sie  thatsächlich  einander  gegen- 
überstehen, würde  nach  der  Definition  von  Carus  darin  bestehen,  dass  die 
Systematik  sich  mit  einer  oberflächlichen  Erkenntniss  des  innern  Baues 
begnügt,  und  vorzugsweise  die  äusseren  Formen  vergleicht,  während  die 
Anatomie  den  inneren  Bau  gründlich  untersucht  und  der  äusseren  Form 
nur  eine  beiläufige  Berücksichtigung  schenkt.  Dieser  Unterschied  hat 
sich  allerdings  in  der  Praxis  zwischen  Systematik  und  Morphologie  heraus- 
gebildet; er  beruht  aber  auf  einer  fehlerhaften  und  leichtfertigen  Methode 
beider  Disciplinen.  Wenn  die  Systematik  die  wirklichen  natürlichen  Ver- 
wandtschafts-Verhältnisse der  Organismen  vollständig  erkennen  will,  so  be- 
darf sie  der  vollständigsten  morphologischen  Kenntnisse  der  inneren  sowohl, 
als  der  äusseren  Form -Verhältnisse.  Die  Anatomie  ist  dann  also  nur  ein 
Theil  der  Systematik.  Umgekehrt,  wenn  die  Anatomie  vollständige  Morpho- 
logie der  Organismen  sein  will,  so  muss  sie  nothwendig  neben  dem  inneren 

3* 


36  Eintheilung  der  Morphologie   in  untergeordnete  Wissenschaften. 

Bau  ganz  ebenso  die  äussere  Form,  und  zwar  vergleichend  berücksichtigen, 
und    wenn  sie  die  so  erworbenen  Kenntnisse  in  kürzester  Form  zusammen- 
lassen,  und  übersichtlich   darstellen  will,    so   muss    sie  sich   dazu  der  Forap 
des  Systems  bedienen.     Die  Systematik  ist  dann  also  nur  die  allumfassende 
Anatomie  der  Organismen  in  Form  eines  Specitications-Systems. 

Wir  haben  hier  absichtlich  als  Beispiel  einer  irrigen  Auffassung  des 
Verhältnisses  der  Systematik  zur  Morphologie  die  Definition  von  Victor 
Carus  gewählt,  weil  dieser  Morphologe  sehr  hoch  über  den  meisten  Anderen 
steht,  und  sich  sonst  besonders  durch  richtige  Autfassung  allgemeiner  der- 
artiger Beziehungen  auszeichnet.  Auch  beweist  sein  „System  der  thierischeu 
Morphologie"  selbst,  dass  er  diese  Wissenschaft  nicht  in  dem  engen  Sinne 
seiner  Definition  als  „Erkenntniss  der  Form  an  sich"  auffasst,  sondern 
ihr  das  höhere  Ziel  einer  wirklichen  vergleichenden  Verwandtschaftslehre 
steckt,  wenn  auch  nicht  in  systematischer  Form.  Noch  weit  irriger,  un- 
klarer und  dunkler  sind  aber  die  Vorstellungen,  welche  die  ineisten  anderen 
Morphologen  über  den  Werth  und  die  gegenseitigen  Beziehungen  der  Morpho- 
logie und  ihrer  einzelnen  Zweige  zur  Systematik  hegen.  Wie  überhaupt 
Ziel  und  Aufgabe  der  Morphologie  und  der  einzelnen  ihr  untergeordneten 
Disciplineu  meist  gänzlich  verkannt  wird,  und  wie  die  wechselseitigen  Be- 
ziehungen der  Organologie  und  Anatomie ,  der  Zootomie  und  vergleichen- 
den Anatomie,  in  der  verschiedenartigsten  Weise  betrachtet  werden,  so  ist 
ganz  besonders  das  Verhältuiss  der  Morphologie  zur  Systematik  von  den 
verschiedenen  Autoren  in  so  gänzlich  verschiedenem  Sinne  aufgefasst  wor- 
den, dass  es  uns  unerlässlich  erscheint,  diejenige  bestimmte  Auffassung 
dieses  Verhältnisses,  welche  wir  für  die  allein  richtige  halten,  an  diesem 
Orte  ausführlich  zu  begründen. ') 


')  Es  gilt  hier  von  der  Systematik  dasselbe  ,  was  leider  von  so  vielen  Ar- 
beiten auf  den  anderen  oben  genannten  Gebieten  behauptet  werden  muss.  Mit  wie 
vielen  „vergleichend  anatomischen"  und  ,,comparativ  morphologischen"  Arbeiten 
hat  uns  die  neuere  Zeit  beschenkt,  in  denen  kaum  eine  Spur  von  ,,  Vergleichung" 
zu  entdecken  ist!  Wie  viele  „anatomische"  und  „zootomisehe"  Monographieen 
lassen  in  ihrer  Untersuchung  die  wesentlichsten  morphologischen  Beziehungen, 
z.  B.  die  äusseren  Form- Verhältnisse,  ganz  ausser  Acht!  Wie  viele  „morpholo- 
gische" Untersuchungen  erscheinen  nicht,  die  weder  von  Logik,  noch  von  Logos 
die  Spur  an  sich  tragen;  und  in  denen  man  den  ).öynq  ebenso  wenig  erblicken 
kann ,  als  in  den  descriptiven  „systematischen"  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der 
Ornithographie,  Entomographie,  Malakogr aphie  etc.,  die  sich  allerdings 
mit  dem  Namen  der  Ornithologie,  Entomologie,  Malakologie  u.  s.  w.  brüsten. 
Die  Form  des  Systems,  welche  zunächst  eben  nur  die  übersichtlichste  und  be- 
quemste Darstellungsform  der  complicirten  verwandtschaftlichen  Beziehungen 
der  Organismen  sein  soll,  ist  an  sich  das  Ziel  der  Bestrebungen  und  der  End- 
zweck der  Morphologie  geworden,  während  der  Inhalt  selbst  dabei  in  der  ober- 
flächlichsten Weise  vernachlässigt  worden  ist.  Nach  unserer  Ansicht  kann  aller- 
dings das  System  wirklich  als  der  höchste  Zweck  der  Wissenschaft  hingestellt 
werden;  dann  muss  es  aber  nach  Inhalt  und  Form  gleich  vollendet  sein.  Der 
Inhalt  muss  durch  die  Form  des  Systems  nur  seinen  übersichtlichsten  und  kür- 
zesten Ausdruck  finden. 


III.    Anatomie  und  Systematik.  37 

Die  Systeme' der  Organismen,  deren  Construction  gewöhnlich 
als  die  Hauptaufgabe  der  sogenannten  Systematik  hingestellt  wird,  und 
welche  einen  so  grossen  Bestandtheil  der  zoologischen  und  botanischen 
Literatur  ausmachen,  führen  uns  die  verschiedenen  Formen  der  Or- 
ganismen in  einer  übersichtlich  geordneten  Reihenfolge  vor,  indem  sie 
dieselben  specificiren  oder  classificiren,  indem  sie  nach  dem  grösseren 
oder  geringeren  Grade  der  Verwandtschaft,  d.  h.  der  Formähnlichkeit, 
die  verwandten  oder  ähnlichen  Formen  in  kleinere  und  grössere  Grup- 
pen ordnen.  Welchen  Werth  und  welche  Bedeutung  diese  Gruppen- 
bildung oder  die  Specification  hat,  wird  im  sechsten  Buche  ausführlich 
auseinander  gesetzt  werden. 

Bekanntlich  werden  diese  zoologischen  und  botanischen  Systeme 
allgemein  in  natürliche  und  künstliche  Systeme  eingetheilt,  und 
der  Unterschied  dieser  beiden  Classifications-Weisen  gewöhnlich  dahin 
bestimmt,  dass  die  ersteren  die  organischen  Formen  im  Ganzen  ver- 
gleichend betrachten  und  demnach  aus  der  Gesammtheit  aller  ihrer 
morphologischen  Eigentümlichkeiten  sich  ein  Bild  von  ihrem  ver- 
wandtschaftlichen Zusammenhange  machen,  während  dagegen  die  künst- 
lichen Systeme  nur  ein  einziges  oder  einige  wenige  Merkmale  der 
Formen  herausnehmen  und  diese  als  Classifications- Basis  benutzen. 
Dass  diese  letzteren  keinen  wissenschaftlichen  Werth  haben,  und  ledig- 
lich zum  analytischen  Bestimmen,  zur  speciellen  Orientirung  in  dem 
Chaos  der  mannichfaltigen  Gestalten  dienen  können,  liegt  auf  der  Haud 
und  wird  allgemein  anerkannt.  Ueber  Werth  und  Bedeutung  des  so- 
genannten natürlichen  Systems  dagegen  wurden  früher  und  noch  heut- 
zutage die  verschiedensten  Ansichten  laut.  Nach  der  Ansicht  der 
Einen  giebt  es  ein  natürliches  System,  nach  der  Ansicht  Anderer 
mehrere;  noch  Andere  aber  leugnen  seine  reale  Existenz  völlig. 
Ohne  auf  diese  sehr  verschiedenen  Ansichten  und  auf  die  sehr  weit- 
läufigen und  oft  höchst  seltsamen  Streitigkeiten,  welche  über  diese 
Frage  geführt  worden  sind,  Hier  einzugehen,  wollen  wir  nur  ganz 
kurz  unsere  eigene  Ansicht  von  der  Bedeutung  des  natürlichen  Sy- 
stems darlegen,  welche  unten  im  sechsten  Buche  noch  näher  begrün- 
det werden  soll. 

Nach  unserer  Ansicht  giebt  es  ein  natürliches  System  der 
Organismen,  und  dies  System  ist  der  natürliche  Stammbaum  der 
Organismen,  welcher  uns  den  realen  verwandtschaftlichen  Zusam- 
menhang, die  Blutsverwandtschaft  zwischen  allen  Organismen  enthüllt, 
die  ursprünglich  von  einer  und  derselben  Stammform  abstammen. 
Indem  nun  das  natürliche  System  zahlreiche  engere  und  weitere  über 
und  neben  einander  geordnete  Gruppen  bildet,  indem  es  die  zahl- 
reichen verwandten  Formen  classificirt,  drückt  es  durch  die  Einreihung 
der  einzelnen  verwandten  Formen  in  diese  Gruppen  den  verschiedenen 


38  Eintheilung  der  Morphologie   in  untergeordnete  Wissenschaften. 

Grad  der  Verwandtschaft  in  der  kürzesten  und  übersichtlichsten  Form 
aus  und  gewährt  uns  auf  dem  engsten  Räume  den  klarsten  Einblick 
in  die  verwickelten  Beziehungen  jenes  Stammbaumes.  Dasselbe  also, 
was  die  Morphologie  in  allen  Einzelnheiten  ausführlich  begründet,  was 
sie  als  ,, vergleichende  Anatomie"  durch  ausgedehnte  synthetische 
Untersuchungsreihen  nachweist,  was  sie  als  comparative  „Embryo- 
logie" durch  die  Uebereinstimmung  der  individuellen  Entwickelungs- 
geschichten,  als  Palaeontologie  durch  die  parallelen  Entwiekelungs- 
reihen  der  Stämme  nachweist,  dasselbe  soll  uns  das  wahre  natürliche 
System  auf  dem  engsten  Räume  in  der  kürzesten,  übersichtlichsten  und 
klarsten  Form  auf  einen  Blick  enthüllen.  Das  natürliche  System  der 
Organismen  verhält  sich  demgemäss  nach  unserer  Anschauung  zur  ge- 
sammten  Morphologie,  wie  der  Stammbaum  einer  alten  preussischen 
Adels-Familie  oder  einer  arabischen  Pferde-Familie,  der  in  Form  einer 
einzigen  übersichtlichen  Stammtafel  das  gesammte  historische  Ver- 
wandtschafts-Verhältniss  derselben  enthüllt,  sich  zu  ihrer  ausführlichen 
Familien-Chronik  sammt  speciellen  Biographieen  aller  einzelnen  Indi- 
viduen verhält. 

Freilich  sind  dann  von  unserem  Standpunkte  aus  ganz  andere  An- 
forderungen an  das  natürliche  System  zu  machen,  als  die  meisten  der- 
artigen Systeme  bisher  erfüllt  haben.  Wir  verlangen  als  Grundlage 
jedes  wirklich  natürlichen  Systems  die  ausgedehnteste  Berücksichtigung 
sämmtlicher  morphologischer  Verhältnisse  der  betreffenden  Organismen- 
gruppe. Wir  verlangen  gleichmässig  eingehende  und  sorgfältige  Be- 
rücksichtigung aller  inneren  und  äusseren  Formverhältnisse,  der  gröberen 
und  feineren  Structur,  gleichmässig  vollständiges  und  übersichtliches 
Eingehen  auf  alle  embryologischen  und  palaeontologischen  Verhältnisse 
der  betreffenden  Gruppe,  auf  alle  Entwickelungsreihen  der  physiologi- 
schen und  der  genealogischen  Individuen.  Während  nun  so  das  na- 
türliche System  alle  verschiedenen  morphologischen  Verhältnisse  der 
Organismen  in  der  kürzesten,  klarsten  und  übersichtlichsten  Weise  auf 
dem  engsten  Raum  darstellen  soll,  wird  doch  durch  diese  übersicht- 
liche Darstellung  selbst  ein  Verhältniss  vor  allen  bedeutend  in  den 
Vordergrund  treten,  welches  gewissermaassen  der  concentrirte  Extract 
aller  vergleichenden  Morphologie  ist:  das  verschiedene  Verwandt- 
schafts-Verhältniss  aller  Formen,  die  von  einer  und  der- 
selben Stammform  abstammen.  Wenn  das  natürliche  System  die 
von  uns  gestellten  Anforderungen  erfüllt,  so  wird  es  dann  von  selbst 
zur  natürlichen  „Verwandtschaftslehre"  oder  Genealogie  der 
Organismen.  Wir  werden  aber  desshalb  keineswegs  genöthigt  sein, 
einen  besonderen  Wissenschaftszweig  für  diese  Disciplin  zu  begründen. 
Vielmehr  ist  diese  genealogische  Systematik  dann  der  wesentlichste 
Kern  der  gesammten  Morphologie  der  Organismen  selbst. 


III.    Anatomie  und  Systematik.  39 

Wenn  diese  unsere  Auffassung  richtig  ist  —  und  wir  können  nicht 
daran  zweifeln  so  können  wir  nicht  länger  die  Systematik  als  eine 
besondere  Wissenschaft  neben  der  Morphologie  fortfuhren,  oder  sie  als 
einen  besonderen  Zweig  derselben  betrachten.  Es  ist  dann  vielmehr 
die  Systematik  der  concentrirte  Extract  aller  Resultate  der  gesammten 
Morphologie  selbst;  es  ist  lediglich  die  übersichtliche  und  compacte 
Darstellungsform,  welche  die  Systematik  auszeichnet,  während 
der  Morphologie  die  Aufsuchung  und  Begründung,  die  Erklärung  und 
specielle  Betrachtung  aller  der  einzelnen  morphologischen  Verhältnisse 
anheimfällt,  über  welche  uns  das  System  gewissermassen  ein  übersicht- 
lich nach  der  Blutsverwandtschhft  geordnetes  Sach-  und  Namen- 
Register  liefert.    - 

Die  Kluft,  welche  diese  unsere  Auffassnng  des  Verhältnisses  der 
Systematik  zur  Morphologie  von  den  gewöhnlichen  Ansichten  der 
Systematiker  trennt,  ist  freilich  gross.  Wir  können  aber  in  der  Syste- 
matik, soll  sie  überhaupt  eine  wissenschaftliche  Aufgabe  verfolgen, 
und  nicht  blosse  Spielerei  zur  Gemüths-  und  Augen-Ergötzung  sein, 
nichts  Anderes  —  und,  sagen  wir,  nichts  Geringeres  —  finden,  als  die  sy- 
stematische Darstellungsform  der  gesammten  Morphologie  selbst.  Die 
sogenannte  Systematik  der  Thiere  und  Pflanzen  ist  die  concentrirte 
Morphologie  der  Organismen  im  knappen  systematischen  Gewände. 

Freilich  sind  die  allermeisten  Systeme  unserer  Zeit  noch  sehr  weit 
entfernt  davon,  dieser  Anforderung  sich  auch  nur  zu  nähern.  Da  fin- 
den wir  Hunderte  und  Tausende  von  einzelnen  Formen  beschrieben, 
die  man  ganz  willkührlich  als  „Species"  bezeichnet.  Diese  werden 
kurz  mit  ihren  unterscheidenden  Characteren  aufgeführt,  und  dann  die 
nächstverwandten  Arten  in  eine  Gattung,  die  verwandten  Gattungen  in 
eine  Familie  zusammengestellt  u.  s.  w.  Je  höher  wir  in  den  Kate- 
gorieen  des  Systems  hinaufsteigen,  desto  kürzer  und  unvollkommener 
wird  meist  ihre  Charakteristik,  während  diese  gerade  bei  den  höheren 
und  umfassenderen  Kategorieen  (Klasse,  Ordnung  etc.)  am  ausführlich- 
sten und  vollständigsten  alle  wesentlichen  Charactere  kurz  hervorheben 
sollte.  Gewöhnlich  wird  aber  diese  Hauptaufgabe  der  Systematik, 
namentlich  die  Begründung  der  Blutsverwandtschafts-Verhältnisse,  voll- 
kommen über  der  ganz  untergeordneten  Aufgabe  der  Species  -  Unter- 
scheidung übersehen.  *) 


l)  Die  noch  fast  überall  verbreitete  Verkennung  dieser  eigentlichen  hohen 
Aufgabe  des  Systems  lässt  sich  nur  durch  die  mangelhafte  allgemein-morpholo- 
gische Bildung  und  durch  den  gänzlichen  Mangel  an  Uebersicht  der  Morphologie 
erklären,  der  die  meisten  Systematiker  auszeichnet.  In  der  That  sieht  die  grosse 
Mehrzahl,  wie  das  Sprichwort  sagt,  „den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht."  Wie 
Schnecken  oder  flügellose  Insecten-Larven  kriechen  sie  unter  der  Einde  und  auf  den 
einzelnen  Blättern  der  Bäume  umher,  aus  deren  Verwandtschafts-Beziehungen  sie  die 


40  Eintheilung  der  Morphologie   in  untergeordnete  Wissenschaften. 

Die  gegenwärtig  leider  noch  fast  allgemein  herrschende  syste- 
matische Kleinigkeitskrämerei  und  Speciesfabrication  verhält  sich  zur 
Systematik  der  Zukunft,  deren  Aufgabe  wir  hier  formuliren,  ungefähr 
so,  wie  etwa  die  Statistik  einzelner  Staaten,  die  Chronikschreiberei 
einzelner  Städte  und  die  Biographie  einzelner  Menschen  zu  der  Völker- 
geschichte (oder  sogenannten  Weltgeschichte),  welche  die  Aufgabe  des 
Historikers  ist.  Wie  der  Historiker  den  gesetzmässigen  Zusammen- 
hang in  der  Masse  der  einzelnen  Erscheinungen  erfassen  und  aus  den 
Biographieen  der  einzelnen  hervorragenden  Individuen,  den  Chroniken 
der  Städte  und  den  Statistiken  der  Staaten  sich  das  Bild  der  Völker 
und  die  Entwickelungsgeschichte  der  Nationen  construiren  soll,  so  soll 
der  Systematiker  als  wirklicher  vergleichender  Morphologe  aus  der 
Kenntniss  der  Species  sich  das  Bild  der  Klasse,  und  aus  der  Ent- 
wickelungsgeschichte der  Arten  diejenige  der  Stämme  construiren.  Die 
Geschichtstabellen  des  Historikers  sollen  dasselbe  für  die  Völkerge- 
schichte, wie  das  morphologische  System  für  die  Geschichte  der  Or- 
ganismen leisten. 

Die  Anatomie  haben  wir  bereits  oben  als  die  Lehre  von  der 
vollendeten  Form  der  Organismen  definirt  und  sie  als  solche 
der  coordinirten  Morphogenie  oder  Entwickelungsgeschichte  entgegen- 
gesetzt, welche  die  Lehre  von  der  werdenden  Form  der  Organismen 
ist.  Wenn  man  die  Entwickelungs-Geschichte,  wie  es  streng  genommen 
bei  vollkommener  Erkenntniss  ihrer  Gesetze  der  Fall  sein  mttsste,  von 
der  Morphologie  trennen  und  als  dynamische  Disciplin  zur  Physio- 
logie hinüberstellen  wollte,  so  würde  die  Anatomie  (im  weitesten  Sinne) 
als  alleiniger  Inhalt  der  Morphologie  übrig  bleiben  und  würden  mit- 
hin diese  beiden  Begriffe  zusammenfallen. 

Welches  Verhältniss  die  Anatomie  im  Ganzen  zur  Systematik  hat, 
der  man  sie  so  häufig  als  eine  besondere  coordinirte  Disciplin  gegen- 
überstellt, wird  aus  dem  Vorhergehenden  klar  geworden  sein.  Es  ist 
hier  nur  nochmals  ausdrücklich  zu  wiederholen,  dass  die  Anatomie 
die  gesammte  vollendete  Form  des  Organismus  (d.  h.  äussere  Ge- 
stalt und  innere  Stmctur-Verhältnisse)  zu  betrachten  hat,  und  dass  es 
auf  einer  vollkommen  schiefen  Auflassung  beruht,  wenn  man,  wie  es 


Kategorieen  ihres  Systems  bilden  sollten.  Wie  viele  Morphologen  (sowohl  Anato- 
men als  Systematiker)  giebt  es  nicht,  die  ihre  Lebtage  nicht  von  einem*  solchen 
Blatte  heruntergekommen,  die  niemals  unter  der  Baumrinde  hervorgekrochen  sind, 
und  die  dennoch  in  dem  Wahne  arbeiten,  eine  vollkommene  Uebersicht  des  gan- 
zen Baumes  nicht  nur,  sondern  des  ganzen  Waldes  zu  haben!  Diese  Uebersicht 
kann  nur  das  vollendete  Insect  sich  erwerben,  welches  den  flügellosen  Larvenzu- 
staud  überwunden,  die  Puppenhülle  abgestreift  und  sich  mittelst  seiner  Flügel 
über  den  engen  Bezirk  der  Einzelbetrachtung  erhoben  hat,  auf  welche  es  im  flü- 
gellosen Zustande  allein  beschrankt  war. 


ITT.    Anatomie  und  Systematik.  41 

sehr  häufig  geschieht,  der  Anatomie  bloss  die  Untersuchung  des 
inneren  Organismus,  der  Systematik  dagegen  die  Darstellung  der 
äusseren  Form  desselben  zuweisen  will.  Aeussere  Gestalt  und  innere 
Structur  und  Zusammensetzung  sind  so  unzertrennlich  verbunden,  dass 
jede  gesonderte  Betrachtung  des  Einen  und  des  Anderen  nur  zu  einer 
unvollständigen  und  daher  fehlerhaften  Erkenntniss  des  Organismus 
führen  kann.  Beide  fallen  gleichmässig  der  Anatomie  und  der  Syste- 
matik anheim,  und  die  letztere  soll  nur  das  Wichtigste  desjenigen  in 
kürzester  übersichtlicher  Form  darstellen,  was  die  erstere  auf  ihrem 
langen  mühsamen  Wege  im  Einzelnen  alles  gewonnen  und  ausführlich 
bewiesen  hat. 

Wollen  wir  den  üblichen  Unterschied  von  Anatomen  und  Systematikern, 
der  in  der  zoologischen  und  botanischen  Praxis  so  vielfach  gebraucht  wird, 
festhalten,  so  können  wir  nur  sagen:  der  „reine  Systematiker"  begnügt  sich 
mit  der  oberflächlichsten  Erkenntniss  der  Organismen  und  legt  allen  Werth 
auf  möglichst  extensive  (und  möglichst  wenig  intensive!)  Kenntniss  zahl- 
reicher verschiedener  Formen  und  ihrer  äusserlich  unterscheidenden  Charak- 
tere. Er  versteht  wenig  oder  nichts  von  den  wesentlichsten  und  den  für 
die  Erkenntniss  der  Verwandtschaft  wichtigsten  (inneren)  Form-Verhältnissen. 
Der  „reine  Anatom"  dagegeu  legt  auf  letztere  mit  Recht  den  Hauptwerth, 
kommt  dadurch  der  Erkenntniss  der  wahren  Blutsverwandtschaft  der  Or- 
ganismen viel  näher  und  nähert  sich  beim  Aufbau  eines  Systems  viel  mehr 
dem  natürlichen  Systeme,  als  es  der  eigentliche  Systematiker  thut,  der  nur 
die  äusseren,  viel  minder  wichtigen  Charactere  benutzt.  Die  letzteren  sind 
viel  unzuverlässiger,  weil  sie  grossentheils  nur  durch  Anpassung  erworben 
sind,  während  die  inneren  oder  anatomischen  Charactere  weniger  durch  An- 
passung verändert  sind,  und  daher  den  erblichen  Character  des  gemein- 
samen Stammes  in  weit  höherem  Grade,  als  die  äusseren  Körperformen  beibe- 
halten haben.  Dagegen  verliert  der  exclusive  reine  Anatom,  welcher  die 
Systematik  vernachlässigt,  dadurch  den  Ueberblick  der  unendlichen  Fornien- 
Mannichlältigkeit,  welche  durch  das  innere  Band  der  Verwandtschaft  zu 
einem  harmonischen  Ganzen  geordnet  wird,  und  die  Genealogie  der  Or- 
ganismen, die  Phylogenie  oder  Entwicklungsgeschichte  der  Stämme  (Phyla) 
bleibt  ihm  verschlossen. 

Wenn  bei  den  höheren  Thieren,  insbesondere  bei  den  Wirbel-,  Glie- 
der- und  Weichthieren  der  übliche  Sprachgebrauch  noch  einigermaassen 
im  Stande  ist,  die  Systematik  als  „Betrachtung  der  äusseren  Körper- 
form" von  der  Anatomie  als  „Betrachtung  des  inneren  Körperbaues" 
zu  unterscheiden,  so  ist  dagegen  diese  Unterscheidung  bei  den  meisten 
niederen  Thieren,  ebenso  wie  bei  den  meisten  Pflanzen,  ganz  unmöglich. 
Bei  allen  rein  mikroskopischen  Organismen,  sowie  bei  allen  vollkommen 
durchsichtigen  Thieren  fällt  'von  selbst  die  Betrachtung  des  inneren  und 
äusseren  Organismus  zusammen.  Hier  ist  eine  Anatomie  im  eigentlichen 
Sinne  des  Worts,  eine  Zergliederungskunde,  in  den  meisten  Fällen  weder 
nöthig,  noch  überhaupt  nur  möglich.     Wo,  wie  bei  den  meisten  Coelenteraten 


42  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  AYissenschaften. 

nnd  den  meisten  Phanerogamen,  die  Organentwickelung  vorwiegend  äusser- 
lich  ist  und  an  der  Oberfläche  des  Körpers  stattfindet,  da  ist  eine  Unter- 
suchung des  inneren  feinen  Baues  für  die  organologische  (nicht  histologische) 
Erkenntniss  durchaus  überflüssig.  Aus  diesem  Grunde  hat  denn  auch  bei 
den  Botanikern  der  Begriff  der  „Anatomie "  die  Bedeutung  der  „Histo- 
logie" gewonnen,  während  sie  die  „eigentliche  Morphologie,"  d.  h. 
die  auf  die  äussere  Form  beschränkt  bleibende  Organologie  jener  inneren 
„Anatomie"  (die  sich  aber  bloss  mit  den  Geweben,  nicht  mit  den  Organen 
beschäftigt)  gegenüberstellen.  So  gelangt  z.  B.  Schieiden  zu  dem  Aus- 
spruche, dass,  wenn  man  das  Wort  Anatomie  in  seiner  eigentlichen,  ur- 
sprünglichen Bedeutung  nimmt,  es  gar  keine  Pflanzenanatomie  giebt,  oder 
doch  nur  höchstens  bei  den  Fortpflanzungsorganen  einiger  weniger  Pflan- 
zen. „Wenn  wir  aber  Anatomie  als  die  Lehre  von  den  Organen 
ansehen,  so  wird  dieselbe  Wissenschaft  bei  den  Thieren  vorzugsweise 
eine  Untersuchung  des  Inneren  (Anatomie),  bei  den  Pflanzen  eine  Be- 
trachtung des  Aeusseren  (Morphologie)."  Indess  lässt  sich  diese  Unter- 
scheidung durchaus  nicht  streng  durchführen.  Wir  dürften  sonst  auch  bei 
den  meisten  Coelenteraten  und  insbesondere  bei  den  Anthozoen  und  Hydroid- 
polypen  nicht  von  Anatomie  reden,  ebenso  nicht  bei  den  meisten  Protisten  etc. 
Es  ist  allerdings  richtig,  dass,  wenn  wir  unter  Anatomie  nicht  bloss  die 
durch  Zergliederung,  mit  Messer  und  Pincette  erworbenen  Kenntnisse,  son- 
dern die  Gesammtwissenschaft  von  der  vollendeten  Form  (äusseren  Gestalt 
und  innerem  Bau)  des  Organismus  verstehen,  die  ursprüngliche  Bedeutung 
des  Worts  als  „  Zergliederungskunde "  verloren  geht.  Allein  mit  wie 
unendlich  vielen  anderen  Begriffen  ist  es  ganz  derselbe  Fall!  Brauchen 
wir  ja  doch  die  allermeisten  wissenschaftlichen  Begriffe  nicht  in  ihrer  ur- 
sprünglichen und  eigentlichen,  sondern  in  einer  abgeleiteten  und  metaphori- 
schen Bedeutung!  So  hat  sich  z.  B.  der  Begriff  der  Physiologie,  der 
ursprünglich  mit  Biologie  identisch  war,  gegenwärtig  bedeutend  durch  die 
fortschreitende  Arbeitstheilung  in  der  wissenschaftlichen  Praxis  verengt. 
Umgekehrt  hat  sich  in  der  letzteren  thatsächlich  der  Begriff  der  Anatomie 
immer  mehr  erweitert,  und  wir  dürfen,  wenn  wir  den  Begriff  bestimmt  um- 
schreiben und  uns  dabei  an  die  gegebenen  Verhältnisse  möglichst  anlehnen 
wollen,  unter  Anatomie  nichts  Anderes  verstehen,  als  die  gesammte  Wis- 
senschaft von  der  vollendeten  (inneren  und  äusseren)  Form  der  Organismen. 
Dabei  ist  es  vollkommen  gleichgültig,  ob  wir  dabei  zergliedernd,  oder  ledig- 
lich beobachtend  in  das  Geheimniss  des  inneren  Baues  eindringen,  ob  wir 
dabei  Messer  und  Pincette,  oder  bloss  Auge  und  Mikroskop  verwenden. 

IV.    Organologie  und  Histologie. 

Um  unsere  Eintheilung-  der  Anatomie  in  Tectologie  und  Promorpho- 
logie zu  rechtfertigen,  ist  es  uöthig,  die  Unbrauchbarkeit  und  Unvoll- 
ständigkeit  der  bisher  üblichen  Eintheilung  der  Anatomie  nachzuweisen. 
Wir  können  daher  hier  eine  kurze  Erörterung  der  letzteren  nicht  um- 
gehen. 


IV.     Organologie  und  Histologie.  43 

Wie  schon  bemerkt,  ist  die  Eintheilung  der  Anatomie  in  unter- 
geordnete Disciplinen,  ebenso  wie  ihr  Begriff  selbst,  auf  den  verschie- 
denartigen Gebieten  der  Biologie  und  von  den  verschiedenen  Autoren 
in  sehr  abweichender  und  mannichfaltiger  Weise  aufgefasst  worden. 
Als  die  wichtigsten  und  allgemein  gültigsten  Ansichten  dieser  Verhält- 
nisse dürfen  wohl  in  erster  Linie  Anspruch  auf  Beachtung  die  ana- 
tomischen Behandlungsweisen  desjenigeu  Organismus  machen,  der  am 
genauesten  von  allen  untersucht  und  der  am  längsten  Gegenstand 
anatomischer  Forschungen  gewesen  ist,  die  Anatomie  des  Menschen 
selbst. 

Die  Anatomie  des  Menschen,  welche  in  der  That  nach  dem  ge- 
wöhnlichen Sprachgebrauch  vollkommen  dem  Begriffe  der  Anatomie 
entspricht,  wie  wir  ihn  als  „die  gesammte  Formenlehre  des  vollende- 
ten Organismus"  hingestellt  haben,  wird  von  den  verschiedenen  An- 
thropotomen  selbst  wieder  in  sehr  abweichender  Weise  in  unterge- 
ordnete Disciplinen  eingetheilt.  Viele  von  diesen  Disciplinen  sind  gar 
keine  Wissenschaften,  sondern  Künste,  so  z.  B.  die  sogenannte  praktische 
Anatomie,  die  topographische  Anatomie,  die  chirurgische  Anatomie,  die 
plastische  Anatomie.  Andere  von  diesen  Disciplinen  behandeln  die 
Lehre  von  den  Formen  des  Organismus,  wie  sie  sich-  unter  bestimmten 
Bedingungen  modificirt  haben,  so  z.  B.  die  pathologische  Anatomie. 
Alle  diese  Zweige  der  menschlichen  Anatomie  kommen  natürlich  hier 
nicht  in  Betracht;  ebenso  sehen  wir  von  den  seltsamen  Einteilungen 
älterer  Anatomen  ab. 

Die  wissenschaftliche  Anatomie  des  Menschen,  die  sogenannte 
„normale  Anatomie,"  wird  von  den  meisten  Anthropotomen  in  zwei 
Hauptzweige  eingetheilt,  die  Anatomie  der  Organe  und  die  Anatomie 
der  Elementartheile.  Letztere  wird  gewöhnlich  als  Histologie,  er- 
stere  oft  als  Organologie  bezeichnet.  Beide  Wissenschaften  unter- 
suchen die  gesammten  Formqualitäten  von  bestimmten  Formbestand- 
theilen  des  Körpers,  also  ihre  äussere  Gestalt  und  inneren  Bau,  ihre 
gegenseitige  Lagerung  und  Verbindungsweise,  ihre  Grösse  und  Farbe, 
ihre  Zusammensetzung  aus  untergeordneten  Formbestandtheilen  u.  s.  w. 
Die  Histologie  untersucht  in  allen  diesen  Beziehungen  die  feineren 
und  kleineren,  dem  blossen  Auge  meist  nicht  wahrnehmbaren  Formbe- 
standtheile  oder  die  sogenannten  Elementartheile  (Zellen  und  Zellen- 
derivate) und  die  aus  ihnen  zunächst  zusammengesetzten  „Gewebe;" 
die  Organologie  dagegen  beschäftigt  sich  in  allen  genannten  Bezie- 
hungen mit  den  sogenannten  „gröberen"  und  grösseren  Formbestand- 
theilen, welche  aus  jenen  zusammengesetzt  sind  und  welche  man  all- 
gemein als  „Organe,  Organ  -  Systeme ,  Organ  -  Apparate  "  u.  s.  w.  zu- 
sammenfasst.  Die  Histologie  oder  Gewebelehre  wird  auch  häufig 
sehr  unpassend  mit  dem  Namen  der  „allgemeinen  Anatomie"  oder  der 


44  Emtheil.üng  der  Morphologie    in  untergeordnete  Wissenschaften. 

..mikroskopischen  Anatomie"  bezeichnet.  Die  Organologie  oder  Or- 
ganlehre  wird  ihr  unter  dein  ebenso  unpassenden  Namen  der  „beson- 
deren oder  speciellen,"  der  beschreibenden  oder  descriptiven,  oder  der 
systematischen  Anatomie  (letzteres  im  Gegensatz  zur  ..topographischen'' 
Anatomie)  entgegengesezt. 

Der  Unterschied,  worauf  man  diese  fast  allgemein  übliche  Einthei- 
lung  der  Anatomie  in  die  Organologie  und  Histologie  gründet,  liegt 
also  weder  in  der  verschiedenen  Behandlungsmethode  des  Anatomen, 
noch  in  den  verschiedenen  Qualitäten  oder  Beziehungen  des  einzelnen 
an  sich  betrachteten  Formbestandtheiles  des  Körpers,  sondern  in  dem 
differenten  Verhalten  der  verschiedenen  Formbestandtheile  zu  einander 
und  zum  ganzen  Körper.  Es  ist  der  qualitative  Unterschied  der  „Ge- 
webe" und  „Elementartheile"  von  den  „Organen,"  worauf  jene  Unter- 
scheidung basirt,  und  nicht  etwa  der  Unterschied  der  verschiedenen 
Beziehungen  und  Eigenschaften,  welche  das  einzelne  Organ  oder  der 
einzelne  Elementartheil  oder  das  einzelne  Gewebe  an  sich  zeigt. 

Beiderlei  Formbestandtheile  des  Organismus,  die  gröberen  und 
zusammengesetzteren  oder  Organe,  und  die  feineren  und  einfacheren  oder 
Elementartheile  und  Gewebe,  gehören  zu  denjenigen  räumlich  abge- 
schlossenen Formeinheiten,  welche  wir  oben  als  „Individuen  verschie- 
dener Ordnung''  bezeichnet  haben.  Die  übliche  Eintheilung  der  Ana- 
tomie in  die  Organologie  und  Histologie  würde  nun  haltbar  und  logisch 
richtig  sein,  wenn  die  Organe  und  die  Elementartheile  die  einzigen 
derartigen  Individuen  verschiedener  Ordnung  wären,  welche  den  Orga- 
nismus zusammensetzen.  Nun  haben  wir  aber,  wie  im  dritten  Buche 
gezeigt  werden  wird,  nicht  diese  zwei,  sondern  sechs  verschiedene 
Ordnungen  von  Individuen  zu  unterscheiden,  welche  das  complicirte 
Gebäude  des  Organismus  zusammensetzen.  Diese  sechs  Ordnungen 
von  subordinirten  Individuen  sind:  1.  die  Piastiden  (Cytoden  und 
Zellen)  oder  die  sogenannten  „Elementartheile;"  2.  die  Organe  (selbst, 
wieder  verschiedener  Ordnung:  Zellenstöcke,  einfache  und  zusammen- 
gesetzte Organe,  Organ-Systeme,  Organ- Apparate) ;  3.  die  Antimeren 
oder  Gegenstücke,  oder  homotypischen  Theile;  4.  die  Metameren  oder 
Folgestücke,  oder  homodynamen  Theile;  5.  die  Personen  oder  Proso- 
pen,  oder  Individuen  im  engeren  Sinne;  6.  die  Stöcke  oder  Cormen, 
Colonieen  etc. 

Will  man  nun  die  qualitativen  Unterschiede,  welche  zwischen  die- 
sen Individuen  verschiedener  Ordnung  herrschen,  zur  Eintheilungs- 
basis  der  Anatomie  machen,  so  wird  man  nicht  nur  die  üblichen  zwei 
Diseiplinen  der  Histologie  und  Organologie,  sondern  man  wird  deren 
sechs  verschiedene  unterscheiden  müssen.  Jede  dieser  Wissenschaften 
wird    zur  Aufgabe    die   gesammte    Formenlehre    der    Individuen  einer 


IV.    Organologie  und  Histologie.  45 

und  derselben  Ordnung-  haben.     Die  Aufgaben   der  sechs  DiscipHinen 
würden  in  folgender  Weise  zu  bestimmen  sein: 

1.  Histologie  oder  Plastidologie,  die  Anatomie  der  Piastiden 
(Cytoden  und  Zellen)  oder  der  „Elementartheile"  (die  Formenlehre 
der  „Zelle"  etc.).  Diese  Wissenschaft  würde  im  Ganzen  der  gegen- 
wärtig geltenden  ..Gewebelehre'"  entsprechen,  nur  dass  wir  die  Behand- 
lung der^sogenannten  ..höheren  Elementartheile"  und  der  sogenannten 
„zusammengesetzten  Gewebe"  ausschliessen  würden,  da  diese  com- 
plexen  Formelemente  bereits  zu  den  Organen  gehören. 

2.  Organologie  oder  Organlehre,  die  Anatomie  der  Organe. 
Da  die  Organe  selbst  wiederum  sich  nach  den  niederen  und  höheren 
Graden  ihrer  Zusammensetzung  als  Organe  von  fünf  verschiedenen  Ord- 
nungen unterscheiden  lassen,  so  würde  sich  die  Organologie  weiter 
gliedern  in  1 )  die  Anatomie  der  Zellenstöcke  oder.  Cytocormeu;  2)  die 
Anatomie  der  einfachen  oder  homoplastischen  Organe ;  3)  die  Anato- 
mie der  zusammengesetzten  oder  heteroplastischen  Organe;  4)  die  Ana- 
tomie der  Organ-Systeme;  5)  die  Anatomie  der  Organ- Apparate. 

3.  Antimerologie  oder  Homotypenlehre,  die  Anatomie  der 
Antimeren  (Gegenstücke)  oder  homotypischen  Theile.  Dieser  wich- 
tige und  selbstständige  Zweig  der  Anatomie  ist  bis  jetzt  so  gut  wie 
gar  nicht  cultivirt  und  doch  ist  er  für  das  tiefere  Verständniss  der  Ge- 
sammtform  des  Organismus  von  der  grössten  Bedeutung.  Ist  es  doch 
lediglich  das  verschiedenartige  Verhältniss  der  Antimeren  zu  einander 
und  zum  Ganzen,  welches  die  allgemeine  Grundform,  den  „strahligen" 
oder  „regulären"  und  „bilateralen"  oder  „symmetrischen"  Bau  etc. 
bedingt. 

4.  Metamerologie  oder  Homody namenlehre,  die  Anatomie  der 
Metameren  (Folgestücke)  oder  homodynamen  Theile.  Auch  dieser 
wichtige  und  selbstständige  Zweig  der  Anatomie  ist  bis  jetzt  im  höch- 
sten Grade  vernachlässigt,  und  doch  ist  auch  die  Bildung  der  Meta- 
meren für  die  charakteristischen  Gesammtformen  der  Organismen  von 
der  allergrössten  Bedeutung.  Da  die  Metamerenbildung  allein  es  ist, 
welche  die  äussere  Gliederung  der  Articulaten  und  die  innere  Gliede- 
rung der  Vertebraten  bestimmt,  da  auf  ihr  allein  die  Bildung  der  Sten- 
gelglieder bei  den  Phanerogamen  beruht,  so  bedarf  es  für  die  grosse 
Zukunft,  welche  auch  dieser  Zweig  der  Anatomie  haben  wird,  keines 
Beweises. 

5.  Prosopologie  oder  Personenlehre,  die  Anatomie  der  Per- 
sonen oder  Prosopen,  welche  man  bei  den  höheren  Thieren  ge- 
wöhnlich schlechtweg  als  Individuen  bezeichnet.  Da  bei  den  letzteren, 
insbesondere  bei  den  Wirbel-  und  Glieder-Thieren,  sowie  bei  den  Echi- 
nodermen,  das  physiologische  Individuum  stets  in  der  Form  des  mor- 
phologischen Individuums   fünfter  Ordnung  oder  der  Person  erscheint, 


46  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  "Wissenschaften. 

so  würde  dieser  Zweig  der  Anatomie  hier  Alles  zu  behandeln  haben, 
was  sich  auf  die  Form  des  Organismus  als  Person  bezieht,  also  die  ge- 
sammte  äussere  Form  des  Ganzen,  seine  Zusammensetzung  aus  den  unter- 
geordneten Individuen  niederer  Ordnung,  und  insbesondere  die  Gesetze, 
nach  denen  die  Metameren  und  Antimeren  zur  Bildung  des  Ganzen 
zusammentreten.  Da  dieser  Zweig  der  Anatomie  bei  denjenigen  Or- 
ganismen, bei  denen  das  physiologische  Individuum  als  Person  (nicht 
als  Metamer  etc.)  auftritt,  ganz  vorzugsweise  die  äussere  Gestalt,  und 
die  äussere  Topographie  des  Organismus  zu  berücksichtigen  hätte,  so 
würde  hierher  namentlich  ein  grosser  Theil  sogenannter  Sj^stematik  zu 
ziehen  sein. 

6.  Cormologie  oder  Stocklehre,  die  Anatomie  der  Stöcke 
(Cormen)  oder  Colonieen.  Auch  dieser  ebenso  wichtige  als  inter- 
essante Zweig  der  Anatomie  ist  gleich  der  Antimerenlehre  und  der 
Metamerenlehre  noch  in  hohem  Grade  vernachlässigt,  wie  sich  dies 
schon  daraus  ergiebt,  dass  nicht  einmal  irgend  eine  technische  Bezeich- 
nung für  diese  drei  wichtigen  Disciplinen  existirt,  und  dass  wir  ge- 
zwungen gewesen  sind,  einen  neuen  Namen  dafür  zu  bilden.  Die 
Cormologie  ist  natürlich  nur  bei  denjenigen  Organismen  möglich, 
welche  wirklich  morphologische  Individuen  sechsten  Grades  oder  Stöcke 
(Colonieen)  bilden,  also  im  Thierreiche  nur  bei  den  niederen  Thieren, 
insbesondere  bei  den  Coelenteraten;  im  Pflanzenreiche  dagegen,  wo 
die  Stockbildung  so  allgemein  herrschend  ist,  bei  der  grossen  Mehr- 
zahl aller  Pflanzen.  Die  Aufgabe  der  Cormologie  würde  in  der  gesamm- 
ten  Anatomie  der  Stöcke  bestehen,  also  in  der  Untersuchung  ihrer  äusse- 
ren Gesammtform,  und  in  der  Erforschung  der  Gesetze,  nach  denen 
die  Personen  zur  Bildung  der  Stöcke  zusammentreten.  Aus  dem  bo- 
tanischen Gebiete  würde  die  Lehre  von  der  Sprossfolge  hierher  gehören. 

V.    Tectologie  und  Promorphologie. 

Wenn  wir  so  eben  als  Zweige  der  Anatomie  sechs  verschiedene 
Disciplinen  unterschieden  haben,  welche  die  gesammte  Anatomie  der 
Individuen  von  •sechs  verschiedenen  Ordnungen  behandeln,  so  legten 
wir  dabei  als  Eintheilungsprincip  die  Unterschiede  zu  Grunde,  welche 
sich  zwischen  diesen  sechs  Ordnungen  von  Individuen  wirklich  vor- 
finden. Diese  Eintheilungsweise  der  Anatomie  besteht  insofern  zum 
Theil  thatsächlich,  als  zwei  der  so  entstehenden  Disciplinen,  die  Or- 
ganologie  und  die  Histologie,  wirklich  von  den  meisten  Anatomen 
als  die  beiden  Hauptzweige  der  Anatomie  angesehen  werden.  Dage- 
gen bestehen  die  vier  anderen,  ihnen  coordinirten  Disciplinen  zwar 
zum  Theil,  unter  einem  selbstständigen  Namen  aber  noch  gar  nicht;  und 
der  Gegenstand,  deu  sie  behandeln,  wird  entweder  ganz  vernachlässigt 


V.    Tectologie  uutl  Promorphologie.  47 

(wie  die  Antimerologie)  oder  er  wird  unmerklich  in  die  Organologie 
verflochten  (wie  die  Prosopologie).  Will  man  jenes  Emtheilungsprin- 
cip  beibehalten  und  consequent  sein,  so  muss  man  alle  sechs  Wissen- 
schaften als  coordinirte  Hauptzweige  der  Anatomie  betrachten. 

Will  man  diese  sechs  anatomischen  Disciplinen  dann  weiter  ein- 
theilen,  so  würde  jede  derselben  in  zwei  Wissenschaftszweige  zerfallen, 
einen  tectologischen  und  einen  promorphologischen.  Ersterer  würde 
die  Zusammensetzungsart,  letzterer  die  äussere  Gestalt  und  die  Grund- 
form, welche  jedem  Individuum  einer  bestimmten  Ordnung  zum  Grunde 
liegt,  zu  behandeln  haben.  Nehmen  wir  z.  B.  die  Organologie,  so 
würde  der  tectologische  Theil  derselben  die  Art  und  Weise  zu  be- 
schreiben und  die  Gesetze  zu  erläutern  haben,  nach  denen  das  zusam- 
mengesetzte Organ  aus  den  einfacheren,  und  diese  aus  den  Piastiden 
zusammengesetzt  sind.  Der  promorphologische  Theil  der  Organologie 
würde  hieraus  die  äussere  Gestalt  des  betreffenden  Organs  erklären 
und  die  geometrische  Grundform  desselben  aufzusuchen  haben.  Oder 
nehmen  wir,  um  ein  concretes  Beispiel  zu  wählen,  die  Prosopologie 
eines  sogenannten  bilateral -symmetrischen  Seeigels,  z.  B.  eines  Spa- 
tangus  oder  Clypeaster,  so  würde  der  tectologische  Theil  derselben 
die  Zusammensetzung  des  gesannnten  Körpers  aus  den  fünf  verschie- 
denen Antimeren  und  den  zahlreichen  Metameren  zu  beschreiben  und 
zu  erklären  haben,  wogegen  der  promorphologische  Theil  die  hieraus 
resultirende  äussere  Form  zu  beschreiben  und  die  stereometrische 
Grundform  zu  erklären  hätte,  die  der  letzteren  zu  Grunde  liegt.  Oder 
um  ein  concretes  Beispiel  aus  dem  Pflanzenreich  hinzuzufügen,  so 
würde  die  Cormologie  eines  Baumes  in  einen  tectologischen  Theil  zer- 
fallen, der  die  Zusammensetzung  desselben  aus  seinen  zahlreichen 
Sprossen  darzulegen  und  auf  Gesetze  zurückzuführen  hätte;  und  in 
einen  promorphologischen  Theil,  welcher  die  hieraus  hervorgehende 
Gesammtform  zu  untersuchen  und  auf  eine  geometrische  Grundform  zu 
reduciren  hätte. 

Wir  selbst  haben  es  oben  (p.  30)  vorgezogen,  den  Unterschied 
zwischen  der  Zusamme n setz ungs weise  des  Organismus  aus  ver- 
schiedenen Theilen  (Ordnungen  von  Individuen)  und  der  daraus  re- 
sultirenden  Form  (nebst  der  ihr  zu  Grunde  liegenden  geometrischen 
Grundform)  als  oberstes  Eintheilungs-Princip  an  die  Spitze  der  ge- 
sanimten  Anatomie  zu  stellen,  und  erst  in  zweiter  Linie  die  Unter- 
schiede zwischen  den  Individuen  verschiedener  Ordnung  selbst  näher 
in  Betracht  zu  ziehen.  Es  scheint  uns  diese  Methode  desshalb  passen- 
der, weil  dadurch  die  einheitliche  Betrachtung  des  vorliegenden  Ob- 
jectes  besser  gewahrt  bleibt,  und  weil  es  ausserdem  nur  mittelst  die- 
ser Methode  möglich  ist,  die  Anatomie  aller  Organismen  gleichmässig 
zu  behandeln  und  einzutheilen.     Letzteres  ist  nicht  möglich,  wenn  man 


48  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

die  Anatomie  von  vorn  herein  in  die  sechs  soeben  besprochenen  coor- 
dinirten  Zweige  spaltet;  denn  es  giebt  zahlreiche  Organismen,  welche 
als  physiologische  Individuen  bloss  den  morphologischen  Werth  eines 
Organs  oder  eines  Metamers  erhalten,  und  welche  sich  niemals  zum 
Range  einer  Person  oder  eines  Stockes  erheben. 

Aus  diesen  Gründen  und  aus  anderen,  die  sich  aus  den  Betrach- 
tungen des  dritten  und  vierten  Buches  von  selbst  ergeben  werden, 
benutzen  wir  also  den  wichtigen  Unterschied  zwischen  der  Zusammen- 
setzungsweise oder  Tectonik  (Structur)  und  der  hieraus  resultirenden 
(inneren  und  äusseren)  Form  des  Organismus,  welcher  sich  an  eine 
geometrische  Grundform  (Promorphe)  anlehnt,  als  das  erste  und 
oberste  Eintheilungsprincip  der  Anatomie  und  unterscheiden  demnach, 
wie  bereits  oben  (p.  29)  begründet,  bei  der  Anatomie  eines  jeden  Or- 
ganismus als  die  beiden  Hauptzweige  die  Tectologie  oder  Structurlehre 
und  die  Promorphologie  oder  Grundformenlehre.  Die  Tectologie 
untersucht  gewissermaassen  die  innere  Form  des  ganzen  Organismus, 
d.  h.  die  Gesetze,  nach  denen  der  ganze  Organismus  aus  allen  Fonu- 
bestandtheilen  (oder  Individuen  verschiedener  Ordnung)  zusammen- 
gesetzt ist.  Die  Promorphologie  beschreibt  und  erklärt  die  äus- 
sere Form  des  ganzen  Organismus  und  aller  seiner  einzelnen 
Formbestandtheile  (oder  Individuen  verschiedener  Ordnung)  an  sich, 
und  sucht  diese  Formen  auf  geometrische  Grundformen  zurückzu- 
führen. *) 

Wollen  wir  diese  beiden  Hauptzweige  der  Anatomie  dann  noch 
weiter  in  untergeordnete  Disciplinen  zerlegen,  so  würde  dies  auf  Grund 
der  qualitativen  Unterschiede  der  Individuen  verschiedener  Ordnung 
geschehen  können,  und  wir  würden  demnach  sowohl  in  der  Tectologie 
als  in  der  Promorphologie  sechs  untergeordnete  Wissenschaften  zu 
unterscheiden  haben,  welche  den  sechs  verschiedenen  Ordnungen  von 
Individuen  entsprechen.  Welche  Aufgabe  diesen  einzelnen  Disciplinen 
speciell  zufällt,  wird  sich  aus  dem  dritten  und  vierten  Buche  des  vor- 
liegenden Werkes  ergeben,  welche  die  Aufgabe  und  Bedeutung  der 
Tectologie  und  der  Promorphologie  wissenschaftlich  zu  begründen  su- 
chen. Eine  Uebersicht  des  gegenseitigen  Verhältnisses  der  so  entste- 
henden zwölf  anatomischen  Disciplinen  giebt  das  nachstehende  Schema: 


')  Diese  gesonderte  Behandlung  der  Tectologie  und  Promorphologie  wird 
sich  namentlich  für  die  generelle  und  synthetische  Anatomie  der  gesammten 
Organismen  oder  einer  einzelnen  Gruppe  empfehlen,  wogegen  es  in  der  spe- 
cialen und  analytischen  Anatomie  einer  einzelnen  Gruppe  oder  eines  einzel- 
nen Organismus  oft  passender  sein  wird,  Tectologie  und  Promorphologie  ver- 
einigt in  den  p.  45  aufgeführten  sechs   Disciplinen  abzuhandeln. 


V.    Tectologie  und  Proruorphologie. 


49 


Anatomie. 
Gesarnmtwissenschaft  von  der  vollendeten  Form   der  Organismen. 


I.  Tectologie  oder  Baulehre. 
Structur lehre. 


II.  Promorphologie  oder  Grund 
formenlehr  e. 


1)  Histologie  oder  Plastidenlehre. 

Formenlehre  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen)  oder 

Anatomie  der  Form-Individuen  erster  Ordnung. 


I.  1)  Tectologie  der  Piastiden. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
mensetzung der  Piastiden,  von  denForm- 
bestandtheilen,  welche  im  Inneren  der  Cy- 
toden und  Zellen  vorkommen. 


II.    1)   Promorphologie  der 

Pias  ti  den. 

Lehre  von  der  äusseren  Form  der  Pla- 

stiden  und  der  ihr  zu  Grunde  liegenden 

stereometrischen  Grundform. 


2)  Organologie  oder  Organ  lehre. 
Formenlehre  der  Organe,  (Zellenstöcke,  einfache  Organe,  zusammengesetzte  Or- 
gane, Organ-Systeme,  Organ-Apparate)  oder 
Anatomie  der  Form-Individuen  zweiter  Ordnung. 

II.  2)  Promorphologie  der  Organe. 
Lehre   von   der  äusseren  Form   der  Or- 
gane  und  der   ihr  zu  Grunde   liegenden 
stereometrischen   Grundform. 


I.  2)  Tectologie    der  Organe. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
der   Organe    aus  Plastideu 


mensetzung 


(Cytoden  und  Zellen)  oder  Form-Indivi- 
duen erster 


Ordnung. 


3)  Antimerologie    oder  Homo  typen  lehre. 

Formenlehre  der  Antimeren  (Gegenstücke  oder  homotypischen  Theile)  oder 

Anatomie  der  Form-Individuen  dritter  Ordnung. 


I.  3)  Tectologie   der  Antimeren. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
mensetzung der  intimeren  aus  Orgauen 
(Organen    verschiedener   Ordnung)   oder 
Form-Individuen  zweiter  Ordnung. 


IL  3)  Promorphologie  der  An- 
timeren. 
Lehre  von  der  äusseren  Form  der  Anti- 
meren und   der  ihr  zu  Grunde  liegenden 
stereometrischen   Grundform. 


4)  Metamer  ologie  oder  Ho  modynamenlehre. 

Formenlehre  der  Metameren  (Folgestücke  oder  homodynamen  Theile)  oder 

Anatomie  der  Form-Individuen  vierter  Ordnung. 


I.  4)  Tectologie   der  Metameren. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
mensetzung der  Metameren  aus  Antime- 
ren (Gegenstücken)  oder  Form-Individuen 


dritter 


Ordnung. 


II.  4)  Promorphologie  der  Me- 
tameren. 
Lehre   von  der  äusseren  Form   der  Me- 
tameren und  der  ihr  zu  Grunde  liegen- 
den stereometrischen  Grundform. 


5)  Prosopologie  oder  Personenlehre. 

Formenlehre  der  Personen  oderProsopeu  (Individuen  im  gewöhnlichen  Sinne)  oder 

Anatomie  der  Form-Individuen  fünfter  Ordnung. 


I.  5)  Tectologie   der  Personen. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
mensetzung der  Personen  aus  Metameren 
(Folgestücken)     oder    Form -Individuen 
vierter  Ordnung. 


II.  5)  P  r  o  m  o  r  p  h  o  1  o  g  i  e  d  e  r  P  e  r  s  o  n  e  n. 
Lehre  von  der  äusseren  Form  der  Per- 
sonen und  der  ihr  zu  Grunde  liegenden 
stereometrischen  Grundform. 


6)  Cormologie  oder  Stocklehre. 

Formenlehre  der  Stöcke  oder  Cormen  (Colonieen)  oder 

Anatomie  der  Form-Individuen   sechster  Ordnung;. 


I.  6)  Tectologie  der  Stöcke. 
Lehre  von  der  formellen  inneren  Zusam- 
mensetzung   der    Stöcke    aus    Personen 
(Prosopen)  oder  Form-Individuen  fünfter 
Ordnung. 
Haeckel,    Generelle  Morphologie. 


II.  6)  Promorphologie  der  Stöcke. 
Lehre  von  der  äusseren  Form  der  Stöcke 
und  der  ihr  zu  Grunde  liegenden  stereo- 
metrischen Grundform. 


50  Eintheilung  der  Morphologie   in  untergeordnete  Wissenschaften. 

VI.    Morphogenie  oder  Entwicklungsgeschichte. 

Unter  den  vielen  Schwierigkeiten,  welche  die  vielfach  sehr  ver- 
wickelten Beziehungen  der  einzelnen  biologischen  Disciplinen,  ihre 
mannichfach  gekreuzten  und  unter  einander  zusammenhängenden  Ver- 
kettungen, einer  Einreihung  in  das  oben  aufgestellte  Schema  ihrer  Spe- 
cification  entgegensetzen,  ist  eine  für  uns  von  besonderer  Bedeutung. 
Es  ist  dies  das  Verhältniss  der  Entwickelungsgeschichte  der  Or- 
ganismen oder  der  Morphogenie  einerseits  zur  statischen,  andererseits 
zur  dynamischen  Biologie.  Während  nämlich  auf  der  einen  Seite  die 
Morphogenesis  oder  Morphogenie  als  ein  Theil  der  Morphologie  an- 
gesehen wird,  nehmen  sie  Andere  als  eine  Disciplin  der  Physiologie 
in  Anspruch.  Beide  entgegengesetzte  Auffassungen  lassen  sich  durch 
triftige  Gründe  rechtfertigen. 

Vom  Standpunkte  der  oben  gegebenen  Eintheilung  der  Biologie 
streng  theoretisch  betrachtet,  könnte  es  keinem  Zweifel  zu  unterliegen 
scheinen ,  dass  die  wissenschaftliche,  cl.  h.  nicht  bloss  beschreibende, 
sondern  auch  erklärende  Entwickelungsgeschichte  eine  dynamische 
Disciplin,  also  ein  Theil  der  Biodynamik  oder  Physiologie  sei,  indem 
sie  die  continuirliche  Kette  von  Bewegungs-Erscheinungen  untersucht 
und  auf  allgemeine  Gesetze  zurückzuführen  strebt,  als  deren  Endresul- 
tat die  reife  Form  des  Organismus  erscheint.  Dies  gilt  sowohl  von 
der  Entwickelungsgeschichte  der  individuellen  Organismen  oder  der 
Embryologie,  als  von  der  Entwickelungsgeschichte  der  Organismen- 
Stämme  oder  Phylen  (Typen),  der  Palaeontologie.  Bei  Beiden 
handelt  es  sich  um  die  Erkenntniss  der  Beihe  von  Veränderungen, 
die  der  Organismus  (im  ersteren  Falle  das  Individuum,  im  letzteren  der 
Stamm  oder  Typus)  während  der  Entwickelungsbewegungen  durch- 
macht, und  es  könnte  demnach  als  bewiesen  erscheinen,  dass  die  Bio- 
statik, welche  sich  nur  mit  dem  Organismus  im  Gleichgewichtszustand 
seiner  bewegenden  Kräfte  zu  beschäftigen  hat,  keinen  Anspruch  auf 
die  Morphogenie  erheben  dürfe. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  dagegen  die  Stellung  der  Entwickelungs- 
Geschichte  in  der  biologischen  Praxis.  Gewöhnlich  wird  sowohl  in 
den  Lehrvorträgen  als  in  den  Lehrbüchern  über  Physiologie  die  Mor- 
phogenie entweder  gar  nicht  oder  nur  ganz  beiläufig  berücksichtigt; 
fast  immer  wird  sie  von  den  Physiologen  den  Morphologen  überwie- 
sen, die  sich  mit  ebenso  grossem  Eifer  der  Entwickelungsgeschichte 
annehmen,  als  die  ersteren  sie  vernachlässigen.  Auch  sind  fast  alle 
unsere  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  Biogenie  ausschliesslich  den 
Bemühungen  der  Morphologen  zu  verdanken,  während  die  Physiologen 
fast  Nichts  dafür  gethan  haben. 

Diese   scheinbare  Anomalie  ist   in   sehr  verschiedenen  Umständen 


VI.    Morphogenie  oder  Entwickelungsgeschichte.  51 

begründet,  zunächst  darin,  dass  die  Kenntuiss  der  Formentwickelung 
für  das  Verständniss  der  entwickelten  Form  unerlässlich  ist,  und  dass 
nur  die  vollständige  Erkenntniss  der  continuirlichen  Bewegungen,  als 
deren  Endproduct  die  Form  erscheint,  die  Bedeutung  der  letzteren  rich- 
tig zu  erfassen  gestattet.  Für  die  wissenschaftliche  Morphologie  ist 
also  die  Morphogenesis  eine  nothwendige  Vorbedingung,  eine  wirkliche 
Lebensbedingung.  Andererseits  hat  die  Physiologie,  wenigstens  in  dem 
heutigen  Stadium  ihrer  Entwickelung ,  an  der  Morphogenie  ein  unter- 
geordnetes Interesse.  Von  allen  Bewegungs-Erscheinungen  des  Orga- 
nismus sind  ihr  diejenigen,  welche  die  Bildung  der  orgauisirten  Form 
veranlassen,  verhältnissmässig  am  Gleichgültigsten.  Auf  keinem  Ge- 
biete der  Biologie  ist  der  Zusammenhang  von  Stoff,  Kraft  und  Form, 
die  Abhängigkeit  der  Form  von  der  Function  des  Stoffes  so  wenig 
ersichtlich  und  so  ganz  unbekannt,  als  auf  dem  der  Morphogenie.  Da- 
her sind  wir  hier  weiter  als  irgendwo  von  dem  Ziele  der  Erklä- 
rung der  Form- Veränderungen  entfernt,  und  die  gesammte  Entwicke- 
lungsgeschichte  erscheint  daher  noch  heutzutage  so  weit  von  einer  gesetz- 
lichen Begründung  entfernt,  dass  sie  weit  mehr  eine  descriptive  als 
eine  erklärende  Disciplin  ist.  Schon  aus  diesem  Grunde  haben  die 
Physiologen  das  Feld  der  Entwicklungsgeschichte  fast  ganz  den  Mor- 
phologen  überlassen.  Dazu  kommt  noch,  dass  die  Methoden  der  Un- 
tersuchung auf  dem  Gebiete  der  Embryologie  und  Palaeontologie  sehr 
verschieden  von  denjenigen  sind,  welche  auf  den  übrigen  Gebieten 
der  Physiologie  vorzugsweise  angewendet  werden,  während  die  Mor- 
phologen  mit  diesen  Methoden  und  mit  dem  ihnen  zu  unterwerfenden 
Materiale  weit  besser  vertraut  sind. 

Aus  diesen,  durch  die  biologische  Praxis  gerechtfertigten  Gründen 
wird  im  gegenwärtigen  Stadium  unserer  wissenschaftlichen  Entwicke- 
lung die  Morphogenie  eine  viel  nähere  Beziehung  zur  Morphologie, 
für  die  sie  ein  Bedürfniss  ist,  als  zur  Physiologie,  zu  der  sie  eigentlich 
gehört,  von  der  sie  aber  höchst  stiefmütterlich  behandelt  wird,  beibe- 
halten. Und  selbst  wenn  es  künftighin  der  Physiologie  gelingen  sollte, 
die  allgemeinen  Gesetze  der  organischen  Form-Entwickelung  physio- 
logisch zu  erklären,  d.  h.  die  Erscheinungsreihen  der  Morphogenie  auf 
chemisch-physikalische  Gesetze  zurückzuführen;  so  würde  durch  diesen 
grossen  biologischen  Fortschritt  doch  das  innige  Verhältniss  der  Ent- 
wickelungsgeschichte zur  Anatomie  und  ihr  Abhängigkeits-Verhältniss 
von  der  ihr  übergeordneten  Morphologie  keineswegs  gelockert  werden. 
Vielmehr  würde  durch  diese  innigere  Verkettung  der  Morphogenie  und 
der  Physiologie  das  jetzt  sehr  gelockerte  Band  zwischen  der  letzteren 
und  der  Anatomie  wieder  fester  geschlungen  werden,  und  eine  ein- 
heitliche biologische  Betrachtungsweise  der  Organismen  wieder  mehr 
in  den  Vordergrund  treten. 

4* 


52  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

Wenn  die  Morphogenie  diesen  höchsten  Grad  der  Vollkommenheit  er- 
reicht haben  wird  (was  vorläufig  nicht  entfernt  zu  hoffen  ist),  wenn  es  ihr 
gelungen  sein  wird,  mit  Hülfe  der  Physiologie  die  Entwickelungs-Vorgänge 
der  Organismen' — und  zwar  sowohl  diejenigen  der  Individuen  (Ontogenese) 
als  diejenigen  der  Stämme  (Phylogenese)  ■ —  als  die  nothwendigen  Folgen 
des  Zusammenwirkens  einer  Reihe  von  physikalischen  und  chemischen  Be- 
dingungen nachzuweisen,  so  wird  sich  der  Streit  der  Physiologie  und  der 
Morphologie,  ob  die  Entwicklungsgeschichte  zur  einen  oder  zur  anderen  ge- 
höre, einfach  durch  ein  Beiden  gerechtes  Urtheil  entscheiden  lassen,  welches 
die  Morphogenie  in  zwei  Hälften  spaltet.  Wir  werden  dann  als  zwei  coordinirte 
Hauptzweige  derEntwickelungsgeschichte  eine  dynamische  oderphysiologische 
und  eine  statische  oder  morphologische  Entwicklungsgeschichte  zu  unterschei- 
den haben.  Die  morphologische  oder  statische  Morphogenie,  welche  der 
Morphologie  anheimfällt,  wird  dann  fernerhin,  wie  bisher  die  gesammte  Morpho- 
genie, die  Aufgabe  verfolgen,  die  verschiedenen  Formen,  welche  bei  der  Ent- 
wicklung des  Organismus  —  und  zwar  sowohl  des  Individuums  als  des  Stam- 
mes ,  —  nach  einander  auftreten ,  einzeln  aufzusuchen  und  anatomisch  zu 
erklären,  den  Zusammenhang  der  zusammengehörigen  Formen  nachzuweisen 
und  daraus  die  continuirlich-zusammenhängende  Formenreihe  herzustellen. 
Der  physiologischen  oder  dynamischen  Morphogenie  dagegen,  welche 
zur  Physiologie  zu  rechnen  sein  würde,  miisste  die  Aufgabe  anheimfallen, 
die  absolute  Notwendigkeit  dieser  Erscheinungsreihen  nachzuweisen,  ihre 
physikalisch  -  chemischen  Ursachen  aufzusuchen,  und  die  Gesetze  zu  be- 
stimmen, nach  denen  der  Organismus  —  und  zwar  eben  sowohl  das  In- 
dividuum als  der  Stamm  — •  eine  bestimmte  Reihe  verschiedener  Formen 
durchlaufen  m  u  s  s. 

Nun  ist  aber  eine  physiologische  Entwickelungsgeschichte  der  Or- 
ganismen in  dem  so  eben  geforderten  Sinne  gegenwärtig  noch  gänzlich  un- 
entwickelt. Ihre  Aufgabe,  wie  wir  sie  hier  formulirt  haben,  ist  kaum  ge- 
nannt, geschweige  denn  ausgeführt,  oder  auch  nur  allgemein  begonnen. 
Kein  Zweig  der  gesammten  Biologie  ist  in  dieser  Beziehung  noch  so  weit 
von  seinem  eigentlichen  Ziele  entfernt.  Die  gesammte  Morphogenie,  wie  sie 
gegenwärtig  existirt,  uiud  zwar  sowohl  die  Entwickelungsgeschichte  der  In- 
dividuen, als  der  Stämme,  denkt  noch  nicht  daran,  die  physikalischen  und 
chemischen  Bedingungen  der  Entwickelungs-Vorgänge  zu  erforschen,  und 
begnügt  sich  noch  vollständig  mit  der  thatsächlichen  Feststellung  derselben, 
und  selbst  auf  diesem  rein  morphologischen  Gebiete  ist  sie  noch  so  weit 
zurück,  dass  wir  überall  mehr  von  einzelnen  zerrissenen  und  zusammen- 
hangslosen Skizzen,  als  von  einer  zusammenhängenden  Geschichte  sprechen 
können.  Aus  diesem  Grunde  können  wir  die  Entwickelungsgeschichte  der 
Organismen,  wie  sie  heute  ist,  und  wie  sie  voraussichtlich  noch  sehr  lange 
sein  wird,  als  eine  rein  morphologische  Disciplin  für  uns  in  Anspruch 
nehmen,  und  wir  sind  hierzu  um  so  mehr  berechtigt,  ja  verpflichtet,  als  die 
Kenntnis«  des  Werdens  der  organischen  Formen  uns  allein  das  Verständ- 
nis« ihres  Seins  gewährt,  und  als  die  Anatomie  der  Organismen  nur  durch 
die  Wechselwirkung  mit  der  Morphogenie  in  den  Stand  gesetzt  wird,  die 
Bildung  der  organischen  Formen  gesetzlich  zu  erklären.     Die  Wissenschaft- 


VII.    Entwickelungsgeschichte  der  Individuen.  53 

liehe  Morphologie  kann  nur  durch  die  innigste  gegenseitige  Ergänzung  und 
Wechselwirkung  der  Anatomie  und  der  Morphogenie  ihr  eigentliches  Ziel 
erreichen. 

VII.    Entwickelungsgeschichte  der  Individuen. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  den  Begriff  der  Morphogenie  oder 
Entwickelungsgeschichte  der  Organismen  in  seinem  weitesten  Sinne 
gefasst,  indem  wir  die  Gesammtwissenschaft  von  den  werdenden  Or- 
ganismen darunter  verstanden.  In  dem  gewöhnlichen  Sinne  des  Worts 
versteht  man  aber  unter  Entwickelungsgeschichte  nur  diejenige  der  In- 
dividuen oder  die  sogenannte  Embryologie,  welche  besser  als  Onto- 
genie  bezeichnet  wird.  Nach  unserer  eigenen  Auffassung  ist  diese 
Disciplin  jedoch  nur  ein  Theil,  ein  Zweig  der  Morphogenie  und  diesem 
steht  als  anderer  coordinirter  Hauptzweig  der  letzteren  die  Entwicke- 
lungsgeschichte der  Stämme  (Phyla)  oder  die  Phylogenie  gegenüber, 
eine  Wissenschaft,  deren  wesentlichste  Grundlage  die  Palaeontologie 
ist.  Entgegen  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  würden  wir  also  die 
Entwickelungsgeschichte  in  die  beiden  Zweige  der  Embryologie  und 
der  Palaeontologie  zu  spalten  haben.  Wir  halten  diese  beiden  Haupt- 
zweige der  Morphogenie  für  nächstverwandte  Disciplinen,  welche  zu 
einander  die  innigsten  und  nächsten  Beziehungen  haben,  und  welche 
nur  durch  gemeinsames  Zusammenwirken  und  gegenseitiges  Erläutern 
hoffen  können,  ihr  gemeinsames  Ziel,  eine  Erklärung  des  organischen 
Werdens  zu  erreichen.  Nach  der  gewöhnlichen  biologischen  Anschauungs- 
weise sind  nun  aber  die  Embryologie  und  die  Palaeontologie  ganz 
verschiedenartige  und  weit  von  einander  entfernte  Zweige  der  Biologie, 
die  nichts  als  das  Object  des  Organismus  mit  einander  gemein  haben. 
Wir  werden  daher  unsere  entgegengesetzte  Anschauung,  welche  im 
fünften  und  sechsten  Abschnitt  ausführlich  begründet  werden  wird,  hier 
zunächst  dadurch  zu  erläutern  haben,  dass  wir  den  Begriff  der  Em- 
bryologie (Ontogenie)  und  der  Palaeontologie  (Phylogenie)  nach  Um- 
fang und  Inhalt  scharf  bestimmen. 

Die  Entwickelungsgeschichte  der  Individuen  oder  die  Onto- 
genie ist  derjenige  Hauptzweig  der  Morphogenie,  welcher  von  der  ge- 
wöhnlichen Biologie  heutzutage  allein  als  „Entwickelungsgeschichte" 
betrachtet  und  mit  dem  unpassenden  Namen  der  Embryologie  be- 
legt wird.  Wenn  der  Ausdruck  „Embryo"  einen  bestimmten  Be- 
griff bezeichnen  soll,  so  kann  darunter,  wie  unten  im  sechsten 
Buche  gezeigt  werden  wird,  nur  „der  Organismus  innerhalb  der 
Ei  hüllen"  verstanden  werden,  und  die  häufig  gebrauchte  Bezeichnung 
der  „freien  Embryonen"  für  gewisse  Larvenformen  niederer  Thiere  ist 
eine  Contradictio  in  adjeeto.  Sobald  der  Embryo  die  Eihüllen  durch- 
brochen und  verlassen  hat,  ist   er  nicht  mehr  Embryo,   sondern  ent- 


54  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

weder  bereits  das  Junge  oder  der  jugendliche  Organismus  selbst 
(wenn  er  durch  blosses  Wachsthum  zum  erwachsenen  und  geschleehts- 
reifen  Organismus  wird),  oder  eine  Larve  (wenn  noch  eine  Reihe  von 
Formveränderungen  mit  dem  Wachsthum  verbunden  ist),  oder  eine 
Amme  (wenn  er  mittelbar  erst,  durch  Dazwischentreten  einer  zweiten 
oder  mehrerer  Generationen,  in  die  Form  des  geschlechtsreifen  erwach- 
senen Organismus  zurückkehrt).  Unter  Embryologie  können  wir  da- 
her, wenn  dieser  Ausdruck  einen  bestimmten  Sinn  haben  soll,  nur 
die  Wissenschaft  von  denjenigen  Formveränderungen  und  Formen- 
reihen verstehen,  welche  der  Organismus  innerhalb  der  Eihüllen 
durchläuft. 

Die  Bezeichnung  „Embryologie"  ist  der  Entwicklungsgeschichte 
der  Wirbelthiere  entnommen,  bei  denen  fast  immer  (nur  die  Amphibien, 
Cyclostomen  und  einige  Fische  ausgenommen),  sämmtliche  wesent- 
liche Formveränderungen  des  Körpers  innerhalb  der  Eihüllen  durch- 
laufen werden.  Hier  kann  daher  der  Ausdruck  Embryologie  mit 
einigem  Rechte  zur  Bezeichnung  der  gesammten  Entwickelungsge- 
schichte  des  Organismus  verwandt  werden,  zumal  die  späteren  oder 
postembryonalen  Formveränderungen  (z.  B.  diejenigen,  w eiche  die 
Senilität  einleiten  und  die  Decrescenz  begleiten)  in  der  Regel  nicht  von 
der  Morphologie  in  Betracht  gezogen  werden  (obschon  sie  es  verdien- 
ten). Ganz  anders  gestaltet  sich  aber  die  Bedeutung  der  Embryologie 
bei  den  wirbellosen  Thieren,  bei  denen,  gleichwie  bei  den  Amphibien, 
Cyclostomen  etc.  bedeutende  Formveränderungen,  und  zwar  häufig 
die  grössten  und  wichtigsten,  erst  in  der  Periode  des  Larvenlebens 
eintreten,  wenn  der  Embryo  die  Eihüllen  verlassen  und  damit  seinen 
embryonalen  Character  aufgegeben  hat.  Wollen  wir  bei  diesen  Or- 
ganismen, welche  also  eine  „Metamorphose"  durchlaufen,  für  die  Er- 
kenntniss  der  embryonalen  Formveränderungen  die  Bezeichnung  der 
Embryologie  beibehalten,  so  können  wir  diese  nur  als  einen  Zweig 
ihrer  Entwickelungsgeschichte  ansehen,  und  müssen  diesem  den  anderen 
Zweig  der  Wissenschaft  von  den  postembryonalen  Form  Veränderungen 
(Metamorphosen  etc.)  entgegen  setzen ;  dieser  liesse  sich  dann  passend 
als  Metamorphologie  (Metamorphosenlehre)  oder  als  Schadonologie ') 
(Larvenlehre)  bezeichnen. 

Die  gesammte  Entwickelungsgeschichte  der  Individuen  würde  dem- 
nach in  zwei  Theile  zerfallen,  die  Embryologie  oder  Entwickelungs- 
geschichte des  Organismus  innerhalb  der  Eihüllen,  und  die  Schadono- 
logie oder  Entwickelungsgeschichte  des  Organismus  ausserhalb  der 
Eihüllen.  Für  die  gesammte  Entwickelungsgeschichte  des  Individuums, 
welche  sich  aus  diesen  beiden  Disciplinen  zusammensetzt,  würden  wir, 


')  axaihöt',  iy,  die  Larve,  besonders  die  Insecten-Larve  (Aristoteles). 


VII.    Entwickelungsgeschichte  der  Individuen.  55 

da  es  an  einer  technischen  Bezeichnung  für  dieselbe  gänzlich  fehlt, 
den  Ausdruck  Ontogenesis  oder  Ontogenie  vorschlagen.  Onta1)  sind 
die  concreten  Individuen  (räumlich  abgeschlossene  Formeinheiten),  welche 
zu  einer  gegebenen  Zeit  concretes  Object  der  Betrachtung  und  der 
Untersuchung  sind,  und  die  Onta  oder  Individuen  in  diesem  Sinne  stehen 
gegenüber  den  Phyla  oder  Individuen-Stämmen,  unter  welchen  wir  die 
abstracte  Summe  aller  durch  Blutsverwandtschaft  verbundenen  con- 
creten Onta  verstehen.  Hieraus  ergiebt  sich  schon  zum  Theil,  inwie- 
fern wir  die  Ontogenie  der  Phylogenie  entgegen  setzen  können. 

Wenn  wir  unter  Onta  demgemäss  allgemein  die  organischen  In- 
dividuen als  selbstständige  und  räumlich  abgeschlossene  Formeinheiten 
und  unter  Ontogenie  die  Entwickelungsgeschichte  dieser  Individuen 
verstehen,  so  drängt  sich  nun  zunächst  die  Frage  auf,  zu  welcher  von 
den  oben  aufgezählten  sechs  Ordnungen  organischer  Individuen  diese 
Onten  gehören.  Hierauf  ist  zu  antworten,  dass  jede  dieser  sechs  ver- 
schiedenen Individualitäten  ihre  eigene  Entwickelungsgeschichte  hat, 
und  dass  sie  demnach  alle  sechs  als  Onten  betrachtet  und  so  Object 
der  Entwickelungsgeschichte  oder  Ontogenie  werden  können.  Diese 
Wissenschaft  würde  demgemäss  wiederum  in  sechs  untergeordnete 
Disciplinen  zerfallen,  welche  den  sechs  morphologischen  Individuali- 
täten verschiedener  Ordnung  entsprechen,  nämlich: 

1)  Ontogenie  der  Piastiden  oder  Individuen  erster  Ordnung. 
Entwickelungsgeschichte  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen).  Plastido- 
genie.  Diese  Disciplin,  welche  noch  sehr  jugendlichen  Alters  ist,  wird 
gewöhnlich  als  Histogenie  oder  Entwickelungsgeschichte  der  Gewebe 
bezeichnet,  und  als  solche  der  Histologie  (Plastidologie)  angefügt. 
Diese  Bezeichnung  ist  aber  insofern  nicht  correct,  als  ein  Theil  der 
„Gewebe'4  bereits  zu  den  Organen  oder  Individuen  zweiter  Ordnung 
gehört. 

2)  Ontogenie  der  Organe  oder  Individuen  zweiter  Ordnung. 
Entwickelungsgeschichte  der  Organe  verschiedener  Ordnung  (Zellen- 
stöcke, einfache  Organe,  zusammengesetzte  Organe,  Organ -Systeme, 
Organ-Apparate).  Diese  Wissenschaft  bildet  den  grössten  Bestandtheil 
der  gewöhnlich  so  genannten  „Embryologie"  und  wird  bisweilen  als 
Organogenie  den  übrigen  Theilen  derselben  und  insbesondere  der 
Histogenie  entgegengesetzt. 

3)  Ontogenie  der  Antimeren  oder  Individuen  dritter  Ordnung. 
Entwickelungsgeschichte  der  Gegenstücke  oder  homotypischen  Theile. 
Antimerogenie.  Diese  wichtige  Disciplin,  welche  für  unser  Ver- 
ständniss  der  Gesammtform  der  Organismen  von  der  grössten  Wichtig- 


')  oj't«,  t«,  die  concreten,  wirklichen  Körper,  im  Gegensatz  zu  den  abstracten, 
gedachten. 


56  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

keit  ist,  ist  bisher  fast  gänzlich  unbeachtet  geblieben  und  gehört,  wie 
die  gesammte  Antimerologie,  der  Zukunft  an,  in  der  sie  sicher  eine 
bedeutende  Entwickelung  erreichen  wird. 

4)  Ontogenie  der  Metameren  oder  Individuen  vierter  Ord- 
nung. Entwickelungsgeschichte  der  Folgestücke  oder  homodynamen 
Theile.  Metamerogenie.  Diese  Wissenschaft,  welche  in  der  Ent- 
wickelungsgeschichte aller  aus  Metameren  zusammengesetzten  Organis- 
men, der  Wirbelthiere,  Gliederthiere,  Echinodermen,  Phanerogamen, 
eine  bedeutende  Rolle  spielt,  wird  ebenfalls  erst  in  der  Zukunft  ihre 
volle  Würdigung  finden.  Es  gehört  hierher  z.  B.  die  Lehre  von  dem 
successiven  Auftreten  und  der  Entwickelung  der  einzelnen  Urwirbel 
bei  den  Wirbelthieren,  der  Zoniten  (Segmente)  bei  den  Gliederthieren, 
der  Stengelglieder  bei  den  Phanerogamen. 

5)  Ontogenie  der  Personen  oder  Individuen  fünfter  Ordnung. 
Entwickelungsgeschichte  der  „Individuen"  im  engsten  Sinne,  der  Pro- 
sopen  oder  Personen.  Prosopogenie.  Dieser  Zweig  der  Entwicke- 
kiDgsgeschichte  begreift  in  der  Embryologie  der  Wirbelthiere  (welche 
bisher  vor  allen  anderen  thierischen  Entwicklungsgeschichten  sich 
durch  planvolle  und  denkende  Behandlung  ausgezeichnet  hat)  den- 
jenigen Theil,  welcher  gewöhnlich  als  „Entwickelung  der  äusseren 
Körperform"  bezeichnet  wird.  Seine  Hauptaufgabe  ist  die  Darstellung 
der  Entwickelung  der  Person  aus  den  differenzirten  Metameren. 

6)  Ontogenie  der  Stöcke  oder  Individuen  sechster  Ordnung. 
Entwickelungsgeschichte  der  Stöcke  (Cormi)  oder  Colonieen.  Cormo- 
genie.  Diese  Wissenschaft,  welche  natürlich  nur  bei  denjenigen  Or- 
ganismen existirt,  bei  denen  Personen  zur  Bildung  von  Stöcken  zu- 
sammentreten, würde  die  Gesetze  zu  bestimmen  haben,  nach  denen 
dieser  Zusammentritt  stattfindet.  In  der  Botanik  ist  diese  Disciplin  als 
die  „Lehre  von  der  Sprossfolge"  in  hohem  Grade  entwickelt,  auf  den 
entsprechenden  Gebieten  der  Zoologie  dagegen  (z.  B.  bei  den  Coelen- 
teraten,  deren  Stockbildung  auf  ganz  ähnlichen  Gesetzen,  wie  die  der 
Phanerogamen  beruht)  kaum  begonnen. 

Die  Gesammtsumme  der  Formen,  welche  jeder  individuelle  Organis- 
mus von  seiner  ersten  Entstehung  im  Ei  an  bis  wieder  zur  Production 
von  Eiern  durchläuft,  ist  von  verschiedenen  Morphologen  (insbesondere 
vonHuxley)  als  das  organische  „Individuum"  xcct*  «^^hingestellt 
worden;  eine  Auffassung,  welche  besonders  in  England  vielen  Beifall 
gefunden  hat.  Diese  Formenreihe  wird  bald  nur  durch  ein  einziges 
physiologisches  Individuum,  bald  aber  (beim  Generationswechsel)  durch 
eine  Mehrzahl  von  physiologischen  Individuen,  welche  alle  einem  und 
demselben  Ei  ihre  Entstehung  verdanken,  rcpräsentirt,  Von  einem  ge- 
wissen Gesichtspunkt  aus  lässt  sich  die  Auffassung  dieser  continuirlich 
zusammenhängenden Forruenkette  (als  eines  zeitlichen  Individuums)  aller- 


VIII.    Entwickelungsgeschichte  der  Stämme.  57 

dings  rechtfertigen.  Im  dritten  Buche,  wo  wir  dies  näher  ausführen 
werden,  haben  wir  diese  Individualität  als  ein  „genealogisches  Indivi- 
duum erster  Ordnung"  oder  als  „Eiproduct"  bezeichnet.  Die  Onto- 
genie  könnte  daher  genauer  auch  als  Entwickelungsgeschichte  der 
genealogischen  Individuen  erster  Ordnung  oder  als  Entwickelungs- 
geschichte der  Eiproducte  bezeichnet  werden. 

VIII.    Entwickelungsgeschichte  der  Stämme. 

Der  Ontogenie  oder  der  Entwickelungsgeschichte  der  Individuen 
steht  als  zweiter  coordinirter  Hauptzweig  der  Morphogenese  die  Phylo- 
genie  oder  die  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme  (Phyla)  gegen- 
über. Unter  einem  Stamm  oder  Phylon  verstehen  wir,  wie  schon 
bemerkt,  die  Summe  aller  derjenigen  Organismen -Formen, 
welche,  wie  z.  B.  alle  Wirbelthiere  oder  alle  Coelenteraten,  von 
einer  und  derselben  Stammform  ihren  gemeinsamen  Ursprung 
ableiten.  Diese  Stämme  lassen  sich,  wie  wir  unten  im  dritten 
Buche  zeigen  werden,  als  „genealogische  Individuen  dritter  Ordnung" 
den  „Eiproducten"  oder  genealogischen  Individuen  erster  Ordnung, 
welche  Object  der  Ontogenie  sind,  entgegenstellen.  Die  wesentlichste 
Grundlage  der  Phylogenie,  welche  demgemäss  der  Ontogenie  nächst 
verwandt  ist,  bildet  die  wissenschaftliche  Palaeontologie. 

Unter  Palaeontologie  versteht  man  gewöhnlich  die  Wissenschaft 
von  den  Versteinerungen,  welche  auch  oft  mit  dem  barbarischen  Namen 
der  „Petrefactologie"  belegt  wird.  Es  hat  sich  diese  Disciplin  bisher 
in  der  grössten  Abhängigkeit  von  der  Geologie  befunden,  in  deren 
Dienste  sie  sich  überhaupt  erst  entwickelt  hat.  Für  die  Geologie  ist 
die  Petrefactenkenntniss  die  notwendigste  Grundlage.  Denn  nur 
mittelst  der  versteinerten  Reste  und  der  in  den  Erdschichten  zurück- 
gelassenen Abdrücke  der  Organismen,  welche  unsere  Erde  in  den  ver- 
schiedenen Perioden  ihrer  historischen  Entwickelung  bevölkerten,  ist 
die  Geologie  im  Stande,  das  relative  Alter  der  verschiedenen  Schich- 
tengruppeu  und  Formationen,  welche  die  Erdrinde  bilden,  zu  erkennen 
und  daraus  die  Geschichte  unseres  Planeten  selbst  zu  construiren.  Wäh- 
rend aber  so  die  Petrefacten  als  „Leitmuscheln,''  als  Denkmünzen, 
welche  in  den  verschiedenen  Perioden  geprägt  sind,  für  die  Geologie 
vom  höchsten  Werthe  sind,  ist  die  historische  Entwickelungsgeschichte 
der  Organismen,  welche  sich  aus  denselben  erkennen  lässt,  für  sie  nur 
von  untergeordnetem  Werthe.  Es  ist  dem  Geologen  und  Geognosten 
an  sich  gleichgültig,  welchen  verwandtschaftlichen  Zusammenhang  die 
Organismen-Arten  der  verschiedenen  Erdperioden  unter  einander  be- 
sitzen, und  welche  Formenreihen  auf  einander  gefolgt  sind.  Wenn 
die  Petrefacten  das  relative  Alter  der  Schichten,  in  denen  sie  sich  fin- 


58  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

den,  sicher  bestimmen,  erfüllen  sie  ihren  Zweck  für  die  Geognosie 
und  Geologie  vollkommen. 

Ganz  anders  und  ungleich  bedeutender  ist  das  Interesse,  welches 
die  Biologie  und  ganz  besonders  die  Morphologie  an  den  Petrefacten 
haben  muss.  Sie  vergleicht  die  Formenreihen  der  ausgestorbenen  Or- 
ganismen unter  einander  und  mit  den  jetzt  lebenden,  uud  entwirft  sich 
daraus  ein  ßild  von  den  ganz  verschiedenen  Floren  und  Faunen, 
welche  im  Verlaufe  der  Erdgeschichte  auf  der  Oberfläche  unseres 
Planeten  nach  einander  erschienen  sind.  Freilich  hatte  diese  Erkennt- 
niss  der  ausgestorbenen  Organismen  für  die  meisten  Palaeontologen 
bisher  nur  ein  ähnliches  Interesse,  wie  die  geographische  Verbreitung 
der  Thiere  und  Pflanzen  in  der  Jetztzeit  noch  für  die  meisten  Biologen 
besitzt.  Man  bewunderte  die  Mannichfaltigkeit  und  Seltsamkeit  der 
zahlreichen  Organismen-Formen,  welche  in  der  „Vorzeit"  die  Erdober- 
fläche belebt  haben,  man  ergötzte  sich  an  der  abnormen  Entwicklung 
einzelner  Theile,  an  der  riesenmässigen  Grösse,  welche  Viele  derselben 
zeigten,  man  beschäftigte  seine  Phantasie  mit  der  Reconstruction  der 
abenteuerlichen  und  fremdartigen  Gestalten,  deren  Skelete  uns  allein 
erhalten  sind.  Aber  nur  den  wenigsten  Palaeontologen  fiel  es  ein, 
den  Grund  und  den  gesetzlichen  Zusammenhang  dieser  seltsamen  Er- 
scheinungsreihen aufzusuchen,  die  Erkenntniss  der  Verwandtschaft 
der  auf  einander  folgenden  Gestaltenketten  anzustreben,  und  eine  zu- 
sammenhängende Entwicklungsgeschichte  des  Thier-  und  Pflanzen- 
lebens auf  der  Erde  zu  entwerfen. 

Ihre  eigentliche  Bedeutung  konnte  freilich  die  Palaeontologie  erst 
gewinnen,  seitdem  1859  durch  Darwin  das  Signal  zu  einer  denken- 
den Erforschung  und  vergleichenden  Betrachtung  der  organischen  Ver- 
wandtschaften gegeben  war,  und  seitdem  von  ihm  in  der  Blutsver- 
wandtschaft zwischen  den  Thieren  und  Pflanzen  aller  Zeiten  die 
entscheidende  Lösung  des  „heiligen  Ptäthsels"  von  der  Aehnlichkeit 
der  verschiedenen  Gestalten  gefunden  war.  Die  von  Darwin  neu  be- 
gründete Descendenztheorie  verknüpft  die  unendliche  Menge  der  ein- 
zelnen palaeontologischen  Thatsachen  durch  den  erleuchtenden  Ge- 
danken ihres  causalen  genealogischen  Zusammenhangs  und  findet  dem- 
gemäss  in  der  Palaeontologie  die  zeitliche  Entwicklungsge- 
schichte der  Organismen-Reihen.  Wie  wir  im  sechsten  Buche 
zeigen  werden,  erlaubt  uns  die  Summe  der  gesammten  jetzt  bekannten 
biologischen  Thatsachen,  und  vor  Allem  die  unschätzbare  dreifache 
Parallele  zwischen  der  palaeontologischen,  embryologischen  und  syste- 
matischen Entwickelung  den  sicheren  Schluss,  dass  alle  jetzt  lebenden 
Organismen  und  alle  diejenigen,  die  zu  irgend  einer  Zeit  auf  der  Erde 
gelebt  haben,  die  blutsverwandten  Nachkommen  von  einer  verhältniss- 
mässig  geringen  Anzahl  spontan  entstandener  Stammformen  sind.    Wenn 


VIII.    Entwickelungsgeschichte  der  Stämme.  59 

wir  die  Summe  aller  Organismen,  welche  von  einer  und  derselben 
einfachsten,  spontan  entstandenen  Stammform  ihren  gemeinschaftlichen 
Ursprung  ableiten,  als  einen  organischen  Stamm  oder  Phylon  be- 
zeichnen, so  können  wir  demnach  die  Palaeontologie  die  Ent- 
wickelungsgeschichte der  Stämme  oder  Phylogenie  nennen. 

Allerdings  existirt  die  Palaeontologie  in  diesem  Sinne  noch  kaum 
als  Wissenschaft;  und  erst  nachdem  durch  Darwin  die  Abstammungs- 
lehre neu  begründet  war,  haben  in  den  letzten  Jahren  einige  Palaeonto- 
logen  angefangen,  hier  und  da  den  genealogischen  Massstab  an  die 
palaeontologi sehen  Entwickelungsreihen  anzulegen,  und  in  der  Formen- 
Aehnlichkeit  der  nach  einander  auftretenden  Arten  ihre  wirkliche  Bluts- 
verwandtschaft zu  erkennen.  Wir  können  aber  nicht  daran  zweifeln, 
dass  dieser  kaum  erst  emporgekeimte  Samen  sich  rasch  zu  einem  ge- 
waltigen Baume  entwickeln  wird,  dessen  Krone  bald  eine  ganze  Reihe 
von  anderen  wissenschaftlichen  Disciplinen  in  ihren  Schatten  aufnehmen 
und  überdecken  wird.  So  wird  es  hoffentlich,  um  nur  eine  hieraus 
sich  ergebende  Perspective  zu  eröffnen,  nicht  mehr  lange  dauern,  bis 
der  thatsächlich  schon  theilweis  bekannte  Stammbaum  unseres  eigenen 
Geschlechts  sich  auf  dieser  Basis  neu  wird  aufrichten  lassen.  Von 
keinem  Stamme  der  Organismen  ist  bis  jetzt  die  palaeontologische 
Entwickelungsgeschichte  so  genau  gekannt,  als  von  demjenigen,  zu  dem 
wir  selbst  gehören,  vom  Stamme  der  Wirbelthiere.  Wir  wissen,  dass 
auf  die  ältesten,  tiefstehenden  silurischen  Fische  vollkommenere  folgten, 
aus  denen  sich  die  Amphibien  hervorbildeten,  dass  erst  weit  später  die 
höheren  Wirbelthiere,  die  Säugethiere  erschienen,  und  zwar  zunächst 
nur  didelphe,  niedere  Beutelthiere,  und  erst  später  die  monodelphen, 
aus  deren  affenartigen  Formen  das  Menschengeschlecht  selbst  sich  erst 
sehr  spät  und  allmählig  entwickelt  hat.  Wie  anders  wird  das  Studium 
der  historischen  menschlichen  Entwickelung,  welche  wir  mit  echt 
menschlichem  verblendetem  Hochmuthe  die  „Weltgeschichte"  zu 
nennen  pflegen,  sich  gestalten,  wenn  diese  Thatsache  erst  allgemein 
anerkannt  sein  wird,  und  wenn  diese  Weltgeschichte  mit  ihren  wenigen 
tausend  Jahren  nur  als  ein  ganz  kleiner,  winziger  Ausläufer  von  der 
Millionen-Reihe  von  Jahrtausenden  erscheinen  wird,  innerhalb  deren 
unsere  Verwandten  und  unsere  Vorfahren,  die  Wirbelthiere,  sich  lang- 
sam und  allmählig  aus  niederen  Amphioxus  ähnlichen  Fischen  ent- 
wickelt haben,  deren  gemeinsame  Stammwurzel  auf  eine  einfache,  spon- 
tan entstandene  Plastide  zurückzuführen  ist, 

Die  wissenschaftliche  Palaeontologie  ist  für  uns  also 
ebenso  die  Entwickelungsgeschichte  der  organischen  Stämme, 
wie  die  Embryologie  die  Entwickelungsgeschichte  der  Indi- 
viduen oder  Personen.  Die  überraschende  parallele  Stufenleiter, 
welche  zwischen  diesen  beiden  aufsteigenden  Entwickelungsreihen  statt- 


GO  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

findet,  bestätigt  diese  Auffassung  vollständig.  Da  der  Name  der 
palaeontologischen  Entwickelungsgeschichte  aber  schleppend  ist,  so 
wäre  für  denselben  vielleicht  besser  der  Ausdruck  Phylogenie,  oder 
Phylogenesis,  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme  einzu- 
führen. Phylogenie  und  Ontogenie  wären  demnach  die  beiden  coordi- 
nirten  Zweige  der  Morphogenie.  Die  Phylogenie  ist  die  Entwickelungs- 
geschichte der  abstracten  genealogischen  Individuen,  die  Ontogenie 
dagegen  die  Entwickelungsgeschichte  der  concreten  morphologischen 
Individuen. 


IX.    Generelle  und  specielle  Morphologie. 

Die  Morphologie  der  Organismen  kann  in  eine  allgemeine 
(generelle)  und  eine  besondere  (specielle)  Morphologie  gespalten 
werden,  von  denen  jede  wiederum  in  alle  die  einzelnen  Disciplinen 
zerfällt,  die  wir  im  Vorhergehenden  als  Hauptzweige  und  Zweige  der 
gesammten  Morphologie  überhaupt  unterschieden  haben. 

Die  generelle  Morphologie  der  Organismen,  deren  Grund- 
züge allein  wir  in  dem  vorliegenden  Werke  festzustellen  versuchen, 
hat  die  Aufgabe,  in  vergleichender  Uebersicht  die  allgemeinsten  Formen 
Verhältnisse  (Anatomie  und  Morphogenie)  sämmtlicher  Organismen  zu 
erklären,  ohne  auf  die  einzelnen  Gruppen  und  Untergruppen  derselben 
einzugehen,  und  ohne  die  einzelnen  inneren  und  äusseren  Formen- 
Verhältnisse  anatomisch  und  genetisch  zu  beschreiben  und  zu  erklären. 
Die  generelle  Morphologie  hat  mithin  nur  die  obersten  und  allgemein- 
sten, für  die  gesammte  organische  Natur  gültigen  Gesetze  der  organi- 
schen Formbildimg  überhaupt  zu  ermitteln,  und  zwar  sowohl  die 
anatomischen  als  die  genetischen  Gesetze. 

Sie  hat  also  zunächst  als  generelle  Anatomie  (im  weitesten 
Sinne)  die  Art  und  Weise  zu  untersuchen  und  zu  erklären,  nach 
welcher  die  vollendeten  Organismen  überhaupt  aus  gleichartigen  und 
ungleichartigen  Theilen  (Individuen  verschiedener  Ordnung)  zusammen- 
gesetzt sind,  und  hat  die  allgemein  gültigen  Gesetze  zu  bestimmen, 
nach  denen  der  Zusammentritt  dieser  Theile  zu  einem  Ganzen,  die  Zu- 
sammenfügung der  Individuen  verschiedener  Ordnung  zu  einer  höheren 
Einheit  erfolgt:  Allgemeine  Baulehre  oder  generelle  Tectologie 
(Drittes  Buch).  Weiterhin  fällt  dann  zweitens  der  allgemeinen  Formen- 
lehre des  vollendeten  Organismus  oder  der  generellen  Anatomie  die 
Aufgabe  zu,  die  verschiedenen  stereometrischen  Grundformen  aufzu- 
suchen, welche  den  realen  Formen  jener  Individuen  verschiedener  Ord- 
nung zu  Grunde  liegen,  und  nachzuweisen,  dass  die  unendliche  Mannich- 
faltigkeit  der  existirenden  Formen  auf  jene  einfachen  mathematisch 
bestimmbaren  Fundamental -Gestalten  zurückzuführen,   und  dass  auch 


IX.    Generelle  und  specielle  Morphologie.  gl 

gleicherweise  eine  allgemeine  Gesetzmässigkeit  in  den  äusseren  Formen 
der  Organismen  überhaupt  nachzuweisen  ist:  Allgemeine  Grund- 
formenlehre oder  generelle  Promorphologie  der  Organismen 
(Viertes  Buch). 

Diesen  beiden  Hauptzweigen  der  generellen  Anatomie  würden  sich 
als  coordinirte  Disciplinen  die  beiden  Hauptzweige  der  generellen 
Morphogenie  gegenüberstellen:  die  allgemeine  Ontogenie  und  die 
allgemeine  Phylogenie.  Die  Bestimmung  der  grossen  allgemeinen 
Gesetze,  nach  denen  sieh  die  einzelnen  organischen  Individuen  über- 
haupt entwickeln,  und  meistens  innerhalb  der  genealogischen  Einheit 
des  Eiproducts  eine  bestimmte  Reihe  von  Formen  durchlaufen,  die  all- 
gemeine Betrachtung  der  wichtigsten  und  höchsten  Modifikationen, 
welche  hier  möglich  sind,  die  Untersuchung  der  hauptsächlichsten  Ver- 
schiedenheiten in  den  Entwickelungs- Vorgängen,  welche  man  als 
Epigenese,  Metamorphose,  Metagenese  etc.  bezeichnet,  und  endlich 
die  Feststellung  allgemeiner  Bildungsgesetze  der  genealogischen  In- 
dividuen erster  Ordnung  oder  der  Eiproducte,  diese  Aufgaben  würden 
zu  lösen  sein  von  der  allgemeinen  Entwicklungsgeschichte  der 
Individuen  (Eiproducte)  oder  der  generellen  Ontogenie  (Fünftes 
Buch.)  An  diese  würde  dann  endlich  als  letzte  und  höchste,  bisher  fast 
ganz  vernachlässigte  Aufgabe,  sich  unmittelbar  anschliessen  die  Fest- 
stellung der  allgemeinen  grossen  Gesetze,  nach  denen  sich  alle  vei> 
schiedenen  Organismen- Formen  unserer  Erde  durch  allmählige  Um- 
änderung im  Laufe  unendlicher  Zeiträume  aus  einigen  wenigen  einfa- 
chen, spontan  entstandenen  Grundformen  entwickelt  haben.  Die  Summe 
aller  verschiedenen  Organismen,  welche  von  einer  und  derselben 
Stammform  abstammen,  betrachten  wir  selbst  wieder  als  eine  zusam- 
menhängende Formeinheit  höheren  Ranges  und  werden  dieselbe  unten 
als  genealogisches  Individuum  dritter  Ordnung  oder  Stamm  (Phylon) 
näher  ins  Auge  fassen.  Die  Begründung  der  allgemeinen  Gesetze, 
nach  denen  jene  allmählige  Entwickelung  zahlreicher  und  mannich- 
faltiger  Organismen -Formen  aus  diesen  wenigen,  höchst  einfachen, 
spontan  entstandenen  Stammformen  erfolgt  ist  und  immer  noch  weiter  er- 
folgt, würde  sich  daher  auch  bezeichnen  lassen  als  allgemeine  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Stämme  oder  generelle  Phylogenie 
(Sechstes  Buch). 

Die  specielle  Morphologie  der  Organismen,  deren  Behandlung 
ausserhalb  des  Plans  dieses  Werkes  liegt,  hat  alle  die  verschiedenen  Seiten 
der  Formeuerkenntniss,  die  wir  in  der  generellen  Morphologie  nur  ganz  im 
Allgemeinen  erörtern,  auf  einen  einzelnen  Organismus  oder  auf  eine  be- 
stimmte Gruppe  von  Organismen  (eine  Klasse,  Familie  etc.)  im  Einzelnen 
anzuwenden  und  vollständig  auszuführen  und  im  weitesten  Sinne  alle  Or- 
ganismen in   dieser  Weise  vergleichend  zu  untersuchen.     Es  wird   also  die 


62  Eintheilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

specielle  Morphologie  jedes  einzelnen  Organismus  oder  jeder  einzelnen  Or- 
ganismen-Gruppe zunächst  in  die  beiden  Hauptzweige  ihrer  specielleu  Ana- 
tomie und  speciellen  Morphogenie  zerfallen,  von  denen  die  erstere  dann 
wieder  in  Tectologie  und  Promorphologie,  die  letztere  in  Morphogenie  und 
Phylogenie  zu  spalten  wäre. 

Während  eine  generelle  Morphologie  der  Organismen  bisher  von  den 
meisten  Morphologen  gar  nicht  in  Erwägung  gezogen  und  von  keinem  ernst- 
lich in  Angriff  genommen  war,  so  dass  wir  mit  diesem  ersten  gewagten 
Versuche  überall  Gefahr  laufen,  in  dem  unabsehbar  weiten  Gebiete  unser 
eben  so  hohes  als  entferntes  Ziel  aus  den  Augen  zu  verlieren  und  uns  auf 
trügerischen  Seitenpfaden  zu  verirren,  so  liegt  dagegen  für  die  specielle 
Morphologie  vieler  einzelner  grösserer  und  kleinerer  Organismen -Gruppen 
schon  sehr  viel  werthvolles,  durch  den  Fleiss  zahlreicher  emsiger  Arbeiter 
gehäuftes  Material  vor,  welches  oft  nur  des  verbindenden  Gedankens  be- 
darf, um  als  ein  leidlich  vollkommenes  und  relativ  fertiges  Ganzes  zu  er- 
scheinen. 

Eine  ganz  vollkommene  und  allen  Anforderungen  menschlicher  Erkennt- 
niss  entsprechende  specielle  Morphologie  giebt  es  freilich  trotz  der  zahllosen 
einzelnen  morphologischen  Arbeiten  noch  von  keinem  einzigen  Organismus, 
geschweige  von  einer  ganzen  Organismen-Gruppe.  Selbst  die  Form-Erkennt- 
niss  desjenigen  Organismus,  der  bei  weitem  am  genauesten  von  den  zahl- 
reichsten Arbeitern  untersucht  ist,  und  den  wir  daher  im  Ganzen  genommen 
am  besten  kennen,  die  Morphologie  des  Menschen,  zeigt  dennoch  so  zahl- 
reiche und  grosse  Lücken,  dass  wir  von  einem  vollständigen  Yerständniss 
noch  weit  entfernt  sind.  Dies  gilt  sowohl  von  der  Anatomie  (Tectologie 
und  Promorphologie)  des  Menschen,  als  von  der  Ontogenie,  und  ganz  be- 
sonders von  der  Phylogenie  desselben,  die  überhaupt  von  allen  Zweigen  der 
Morphologie  nicht  allein  der  wichtigste,  sondern  auch  der  am  meisten  ver- 
nachlässigte ist.  Die  zukünftige  Phylogenie  des  Menschen  hat  die  hohe 
Aufgabe,  seine  allmählige  Entwicklung  aus  dem  Wirbelthier- Stamme  und 
die  stufenweise  historische  Differenzirung  desselben  bis  zum  Anfange  der 
sogenannten  „  Weltgeschichte "  hinauf  zu  verfolgen.  Die  vergleichende 
Ethnographie  (oder  die  comparative  Anthropologie  im  engeren  Sinne),  ein 
höchst  wichtiger  Zweig  der  menschlichen  Biologie,  der  aber  noch  ganz  in 
der  Wiege  liegt,  wird  hier  das  unlösbare  Band  zu  knüpfen  haben,  welches 
die  vergleichende  Anatomie  nnd  Physiologie  der  Wirbelthiere  mit  der  Völ- 
kergeschichte (oder  der  sogenannten  „Weltgeschichte")  unmittelbar  zu 
einem  grossen,  harmonischen  Ganzen  verbindet.  Hier,  wie  überall  in  un- 
serer Wissenschaft,  liegen  aber  noch  die  einzelnen  Haufen  des  rohen  Bau- 
materials unverbunden  neben  einander,  und  es  wird  wohl  noch  lauge  dauern, 
ehe  auch  nur  das  Bewusstsein  von  der  Notwendigkeit  ihrer  Verbindung  in 
der  Wissenschaft  wird  allgemein  geworden  sein. 


I.    Empirie  und  Philosophie. 


Viertes  Capitel. 


Methodik   der  Morphologie  der  Organismen. 

„Wenn  ein  Wissen  reif  ist,  Wissenschaft  zu  werden,  so  muss 
nothwendig  eine  Krise  entstehen :  denn  es  wird  die  Differenz 
offenbar  zwischen  denen ,  die  das  Einzelne  trennen  und  getrennt 
darstellen,  und  solchen,  die  das  Allgemeine  im  Auge  haben  und 
gern  das  Besondere  an-  und  einfügen  möchten.  Wie  nun  aber 
die  wissenschaftliche,  ideelle,  umgreifendere  Behandlung  sich  mehr 
und  mehr  Freunde,  Gönner  und  Mitarbeiter  wirbt,  so  bleibt  anf 
der  höheren  Stufe  jene  Trennung  zwar  nicht  so  entschieden,  aber 
doch   genugsam   merklich."  Goethe. 


Viertes  Capitel:    Erste  Hälfte. 

Kritik    der    naturwissenschaftlichen  Methoden,    welche   sich  gegen- 
seitig  NOTHWENDIG    ERGÄNZEN    MÜSSEN. 

I.    Empirie  und  Philosophie. 

(Erfahrung  und  Erkenntniss.) 

„Die  wichtigsten  Wahrheiten  in  den  Naturwissenschaften  sind  we- 
der allein  durch  Zergliederung  der  Begriffe  der  Philosophie,  noch  allein 
durch  blosses  Erfahren  gefunden  worden,  sondern  durch  eine  den- 
kende Erfahrung,  welche  das  Wesentliche  von  dem  Zufälligen  in 
der  Erfahrung  unterscheidet,  und  dadurch  Grundsätze  findet,  aus 
welchen  viele  Erfahrungen  abgeleitet  werden.  Dies  ist  mehr  als  blosses 
Erfahren,  und  wenn  man  will,  eine  philosophische  Erfahrung."  Jo- 
hannes Müller  (Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen.  II.  p.  522;) 

„Vergleichen  wir  die  morphologischen  Wissenschaften  mit  den 
physikalischen  Theorieen,  so  müssen  wir  uns  gestehen,  dass  erstere  in 
jeder  Hinsicht  unendlich  weit  zurück  sind.  Die  Ursache  dieser  Er- 
scheinung liegt  nun  allerdings  zum  Tb. eil  in  dem  Gegenstande,  dessen 
verwickeitere  Verhältnisse  sich  noch  am  meisten  der  mathematischen 
Behandlung  entziehen;  aber  grossentheils  ist  auch  die  grosse  Nichtach- 
tung methodologischer  Verständigung   daran  schuld,   indem   man  sich 


(j^  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

einerseits  durchaus  nicht  um  scharfe  Fassung-  der  leitenden  Principien 
bekümmert,  andererseits  selbst  die  allgemeinsten  und  bekanntesten 
Anforderungen  der  Philosophie  hintangesetzt  hat,  weil  bei  dem  wei- 
ten Abstände  ihrer  allgemeinen  Aussprüche  von  den  Einzelheiten,  mit 
denen  sich  die  empirischen  Naturwissenschaften  beschäftigen,  die  Not- 
wendigkeit ihrer  Anwendung  sich  der  unmittelbaren  Auffassung  entzog. 
So  sind  gar  viele  Arbeiter  in  dieser  Beziehung  durchaus  nicht  mit  ihrer 
Aufgabe  verständigt,  und  die  Fortschritte  in  der  Wissenschaft  hängen 
oft  rein  vom  Zufall  ab."  Schieiden  (Grundzüge  der  wissenschaftlichen 
Botanik.  ..§.  3.  Methodik  oder  über  die  Mittel  zur  Lösung  der  Aufgaben 
in  der  Botanik.") 

Wir  erlauben  uns,  dieses  methodologische  Capitel,  welches  die 
Mittel  und  Wege  zur  Lösung  unserer  morphologischen  Aufgaben  zeigen 
soll,  mit  zwei  vortrefflichen  Aussprüchen  von  den  beiden  grössten  Mor- 
phologen  einzuleiten,  welche  im  fünften  Decennium  unseres  Jahrhun- 
derts die  organische  Naturwissenschaft  in  Deutschland  beherrschten. 
Wie  Johannes  Müller  für  die  Zoologie,  so  hat  Schieiden  damals 
für  die  Botanik  mit  der  klarsten  Bestimmtheit  den  Weg  gewiesen,  wel- 
cher uns  allein  auf  dem  Gebiete  der  Biologie,  und  insbesondere  auf 
dem  der  Morphologie,  zu  dem  Ziele  unserer  Wissenschaft  hinzuführen 
vermag.  Dieser  einzig  mögliche  Weg  kann  natürlich  kein  anderer 
sein,  als  derjenige,  weleher  für  alle  Naturwissenschaften  —  oder,  was 
dasselbe  ist,  für  alle  wahren  Wissenschaften  —  ausschliessliche 
Gültigkeit  hat.  Es  ist  dies  der  Weg  der  denkenden  Erfahrung, 
der  Weg  der  philosophischen  Empirie.  Wir  könnten  ihn  ebenso 
gut  als  den  Weg  des  erfahrungsmässigen  Denkens,  den  Weg  der 
empirischen  Philosophie  bezeichnen. 

Absichtlich  stellen  wir  die  bedeutenden  Aussprüche  dieser  beiden 
grossen  „empirischen  und  exaeten"  Naturforscher  an  die  Spitze  dieses 
methodologischen  Capitels,  weil  wir  dadurch  hoffen,  die  Aufmerksam- 
keit der  heutigen  Morphologen  und  der  Biologen  überhaupt  intensiver 
auf  einen  Punkt  zu  lenken,  der  nach  unserer  innigsten  Ueberzeugung 
für  den  Fortschritt  der  gesammten  Biologie,  und  der  Morphologie  ins- 
besondere, von  der  allergrössten  Bedeutung  ist,  der  aber  gerade  im 
gegenwärtigen  Zeitpunkte  in  demselben  Maasse  von  den  allermeisten 
Naturforschern  völlig  vernachlässigt  wird,  als  er  vor  allen  anderen  hervor- 
gehoben zu  werden  verdiente.  Es  ist  dies  die  gegenseitige  Ergänzung 
von  Beobachtung  und  Gedanken,  der  innige  Zusammenhang 
von  Naturbeschreibung  und  Naturphilosophie,  die  notwen- 
dige Wechselwirkung  zwischen  Empirie  und  Theorie. 

Einer  der  grössten  Morphologen,  den  unser  deutsches  Vaterland 
erzeugt  hat,  der  jetzt  noch  lebende  Nestor  der  deutschen  Naturforscher, 
Carl   Ernst  v.  Bär,  hat  dem  classischen  Werke,  durch  welches  er 


I.     Empirie  und  Philosophie.  65 

die  thierische  Ontogenie,  eine  sogenannte  „rein  empirische  und  de- 
scriptive  Wissenschaft,"  neu  begründete,  den  Titel  vorangesetzt:  ,,Ueber 
Entwicklungsgeschichte  der  Thiere.  Beobachtung  und  Reflexion." 
Wenn  seine  Nachfolger  diese  drei  Worte  stets  bei  ihren  Arbeiten  im 
Auge  behalten  hätten,  würde  es  besser  um  unsere  Wissenschaft  aus- 
sehen, als  es  jetzt  leider  aussieht.  „Beobachtung  und  Reflexion'*  sollte 
die  Ueberschrift  jeder  wahrhaft  naturwissenschaftlichen  Arbeit  lau- 
ten können.  Bei  wie  vielen  aber  ist  dies  möglich?  Wenn  wir  ehrlich 
sein  wollen,  können  wir  ihre  Zahl  kaum  gering  genug  anschlagen, 
und  finden  unter  hunderten  kaum  eine.  Und  dennoch  können  nur  durch 
die  innigste  Wechselwirkung  von  Beobachtung  und  Reflexion  wirkliche 
Fortschritte  in  jeder  Naturwissenschaft,  und  also  auch  in  der  Morpho- 
logie, gemacht  werden.  Hören  wir  weiter,  was  C.  E.  v.  Bär,  der 
..empirische  und  exacte"  Naturforscher,  in  dieser  Beziehung  sagt: 

„Zwei  Wege  sind  es,  auf  denen  die  Naturwissenschaft  gefördert 
werden  kann,  Beobachtung  und  Reflexion.  Die  Forscher  ergrei- 
fen meistens  für  den  einen  von  beiden  Partei.  Einige  verlangen  nach 
Thatsachen,  andere  nach  'Resultaten  und  allgemeinen  Gesetzen, 
jene  nach  Kenntniss,  diese  nach  Erkenntniss,  jene  möchten  für 
besonnen,  diese  für  tiefblickend  gelten.  Glücklicherweise  ist  der  Geist 
des  Menschen  selten  so  einseitig  ausgebildet,  dass  es  ihm  möglich 
wird,  nur  den  einen  Weg  der  Forschung  zu  gehen,  ohne  auf  den  an- 
deren Rücksicht  zu  nehmen.  Unwillkührlich  wird  der  Verächter  der 
Abstraction  sich  von  Gedanken  bei  seiner  Beobachtung  -beschleichen 
lassen;  und  nur  in  kurzen  Perioden  der  Fieberhitze  ist  sein  Gegner  ver- 
mögend, sich  der  Speculation  im  Felde  der  Naturwissenschaft  mit  völ- 
liger Hintauset/Aing  der  Erfahrung  hinzugeben.  Indessen  bleibt  immer, 
für  die  Individuen  sowohl  als  für  ganze  Perioden  der  Wissenschaft, 
die  eine  Tendenz  die  vorherrschende,  der  man  mit  Bewusstsein  des 
Zwecks  sich  hingiebt,  wenn  auch  die  andere  nicht  ganz  fehlt. ')" 

Mit  diesen  wenigen  Worten  ist  das  gegenseitige  Wechselverhält- 
niss  von  Beobachtung  und  Reflexion,  die  nothwendige  Verbindung  von 
empirischer  Thatsachen -Kenntniss  und  von  philosophischer  Gesetzes- 
Erkenntniss  treffend  bezeichnet.  Aber  auch  die  Thatsache,  dass  in 
den  einzelnen  Naturforschern .  sowohl  als  in  den  einzelnen  Perioden 
der  Naturwissenschaft  selten  beide  Richtungen  in  harmonischer  Ein- 
tracht und  gegenseitiger  Durchdringung  zusammenwirken,  vielmehr  eine 
von  Beiden  fast  immer  bedeutend  über  die  andere  überwiegt,  ist  von 
Bär  sehr  richtig  hervorgehoben  worden,   und  gerade   dieser  Punkt  ist 


l)  C.  E.  v.Bär.  Zwei  Worte  über  den  jetzigen  Zustand  der  Naturgeschichte. 
Königsberg  1821.  —  Treffliche  Worte,  welche  auch  heute  noch  in  den  weitesten 
Kreisen  Beherzigung  verdienen! 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  5 


(3(3  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

es,  auf  den  wir  hier  zunächst  die  besondere  Aufmerksamkeit  lenken 
möchten.  Denn  wenn  wir  einerseits  überzeugt  sind,  dass  wir  nur  durch 
die  gemeinsame  Thätigkeit  beider  Richtungen  dem  Ziele  unserer  Wissen- 
schaft uns  nähern  können,  und  wenn  wir  andererseits  zu  der  Einsicht 
gelangen,  welche  von  beiden  Richtungen  im  gegenwärtigen  Stadium 
unserer  wissenschaftlichen  Entwicklung  die  einseitig  überwiegende  ist, 
so  werden  wir  auch  die  Mittel  zur  Hebung  dieser  Einseitigkeit  angeben 
und  die  Methode  bestimmen  können,  welche  die  Morphologie  gegen- 
wärtig zunächst  und  vorzugsweise  einzuschlagen  hat. 

Es  bedarf  nun  keines  allzutiefen  Scharfblicks  und  keines  allzuweiten 
Ueberblicks,  um  alsbald  zu  der  Ueberzengung  zu  gelangen,  dass  in 
dem  ganzen  zweiten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  und  dar- 
über hinaus  bis  jetzt,  und  zwar  vorzüglich  vom  Jahre  1840—1860,  die 
rein  empirische  und  ..exacte"  Richtung  ganz  überwiegend  in  der  Bio- 
logie, und  vor  Allem  in  der  Morphologie  geherrscht,  und  dass  sie  diese 
Alleinherrschaft  in  fortschreitendem  Maasse  dergestalt  ausgedehnt  hat, 
dass  die  speculative  oder  philosophische  Richtung  im  fünften  Decen- 
nium  unseres  Jahrhunderts  fast  vollständig  von  ihr  verdrängt  war. 
Auf  allen  Gebieten  der  Biologie,  sowohl  in  der  Zoologie,  als  in  der 
Botanik,  galt  während  dieses  Zeitraums  allgemein  die  Naturbeobach- 
tung und  die  Naturbeschreibung  als  „die  eigentliche  Naturwissenschaft," 
und  die  „Naturphilosophie"  wTurde  als  eine  Verirrung  betrachtet,  als 
ein  Phantasiespiel,  welches  nicht  nur  nichts  mit  der  Beobachtung  und 
Beschreibung  zu  thun  habe,  sondern  auch  gänzlich  aus  dem  Gebiete 
der  „eigentlichen  Naturwissenschaft"  zu  verbannen  sei.  Freilich  war 
diese  einseitige  Verkennung  der  Philosophie  nur  zu  sehr  gefördert  und 
gerechtfertigt  durch  das  verkehrte  und  willkührliche  Verfahren  der  so- 
genannten „Naturphilosophie,"  welche  im  ersten  Drittel  unseres  Jahr- 
hunderts die  Naturwissenschaft  zu  unterwerfen  suchte,  und  wrelche, 
statt  von  empirischer  Basis  auszugehen,  in  der  ungemessensten  Weise 
ihrer  wilden  und  erfahrungslosen  Phantasie  die  Zügel  schiessen  Hess. 
Diese  namentlich  von  Oken,  Sehe  Hing  u.  s.  w.  ausgehende  Natur- 
phantasterei musste  ganz  natürlich  als  anderes  Extrem  den  crassesten 
Empirismus  hervorrufen.  Der  natürliche  Rückschlag  gegen  diese  letz- 
tere in  demselben  Grade  einseitige  Richtung  trat  erst  im  Jahre  1859 
ein,  als  Charles  Darwin  seine  grossartige  Entdeckung  der  „natür- 
lichen Züchtung"  veröffentlichte  und  damit  den  Anstoss  zu  einem  all- 
gemeinen Umschwung  der  gesammten  Biologie,  und  namentlich  der 
Morphologie  gab.  Die  gedankenvolle  Naturbetrachtung,  der  im  besten 
Sinne  philosophische,  d.  h.  naturgemäss  denkende  Geist,  welcher  sein 
epochemachendes  Werk  durchzieht,  wird  der  vergessenen  und  ver- 
lassenen Naturphilosophie  wieder  zu  dem  ihr  gebührenden  Platze 
verhelfen  und  den  Beginn  einer  neuen   Periode   der  Wissenschaft  be- 


I.    Empirie  und  Philosophie.  67 

zeichnen.  Freilich  ist  dieser  gewaltige  Umschwung  bei  weitem  noch 
nicht  zu  allgemeinem  Durchbrach  gelangt;  die  Mehrzahl  der  Biologen 
ist  noch  zu  sehr  und  zu  allgemein  in  den  Folgen  der  vorher  überall 
herrschenden  einseitig  empirischen  Richtung  befangen,  als  dass  wir 
die  Rückkehr  zur  denkenden  Naturbetrachtimg  als  eine  bewusste  und 
allgemeine  bezeichnen  könnten.  Indess  hat  dieselbe  doch  bereits  in 
einigen  Kreisen  begonnen,  an  vielen  Stellen  feste  Wurzel  geschlagen, 
und  wird  voraussichtlich  nicht  allein  in  den  nächsten  Jahren  schon  das 
verlorene  Terrain  wieder  erobern,  sondern  in  wenigen  Decennien  sich 
so  allgemeine  Geltung  verschafft  haben,  dass  man  (wohl  noch  vor  Ab- 
lauf unseres  Jahrhunderts)  verwundert  auf  die  Beschränktheit  und  Ver- 
blendung zahlreicher  Naturforscher  zurückblicken  wird,  die  heute  noch  die 
Philosophie  von  dem  Gebiete  der  Biologie  ausschliessen  wollen.  Wir  un- 
sererseits sind  unerschütterlich  davon  überzeugt,  dass  man  in  der  wahrhaft 
„erkennenden'-  Wissenschaft  die  Empirie  und  die  Philosophie  gar  nicht 
von  einander  trennen  kann.  Jene  ist  nur  die  erste  und  niederste, 
diese  die  letzte  und  höchste  Stufe  der  Erkenntniss.  Alle  wahre  Na- 
turwissenschaft ist  Philosophie  und  alle  wahre  Philosophie 
ist  Naturwissenschaft.  Alle  wahre  Wissenschaft  aber  ist 
in  diesem  Sinne  Naturphilosophie.1) 

In  der  That  könnte  heute  schon  die  allgemein  übliche  einseitige  Aus- 
schliessung der  Philosophie  aus  der  Naturwissenschaft  jedem  objectiv  dies 
Verhältuiss  betrachtenden  Gebildeten  als  ein  befremdendes  Räthsel  erschei- 
nen, wenn  nicht  der  Entwicklungsgang  der  Biologie  selbst  ihm  die  Lösung 
dieses  Räthsels  sehr  nahe  legte.  Wenn  wir  die  Geschichte  unserer  Wissen- 
schaft iu  den  allgemeinsten  Zügen  überblicken,  so  bemerken  wir  alsbald, 
dass  die  beiden  scheinbar  entgegengesetzten,  in  der  That  aber  innig  ver- 
bundenen Forschungsrichtungen  in  der  Naturwissenschaft,  die  beobachtende 
oder  empirische  und  die  denkende  oder  philosophische,  zwar  stets  mehr  oder 
minder   eng  verbunden  neben  einender  herlaufen,   dass   aber  doch,   wie   es 


*)  Wir  zweifeln  nicht,  dass  diese  Sätze,  welche  wir  für  unumstössliche 
Wahrheiten  halten,  bei  dem  gegenwärtigen  niederen  Zustande  unserer  allge- 
meinen wissenschaftlichen  Bildung  noch  sehr  wenig  Aussicht  haben,  allgemeine 
Geltung  zu  erlangen.  Durch  die  alpenhohe  Gebirgskette  von  Vorurtheilen,  welche 
wir  durch  lange  Generationsreihen  ererbt,  und  Jahrtausende  hindurch  in  unserer 
allgemeinen  Weltanschauung  befestigt  haben,  durch  den  äusserst  mangelhaften, 
verkehrten  und  oft  geradezu  verderblichen  Jugendunterricht ,  durch  welchen 
wir  in  der  bildsamsten  Lebenszeit  mit  den  absurdesten  Irrthümern,  statt  mit 
natürlichen  Wahrheiten  augefüllt  werden,  ist  unser  gesammter  geistiger  Horizont 
gewöhnlich  so  beschränkt,  unser  natürlicher  Blick  so  getrübt,  dass  wir  als  reife 
und  erwachsene  Männer  gewöhnlich  die  grösste  Mühe  haben,  den  einfachen  Weg 
zu  unserer  Mutter  „Natur"  zurückzufinden.  Sind  ja  die  meisten  sogenannten 
„Wissenschaften,"  z.  B.  die  historischen,  gewohnt,  den  Menschen  als  etwas  ausser 
und  über  der  Natur  Stehendes  hinzustellen! 

5* 


ßg  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

Bär  sehr  richtig  ausdrückt,  immer  die  eine  der  beiden  Richtungen  über  die 
andere  bedeutend  überwiegt,  und  zwar  „sowohl  für  die  Individuen,  als  für 
ganze  Perioden  der  Wissenschaft/'  So  finden  wir  ein  beständiges  Oscilliren, 
einen  Wechsel  der  beiden  Richtungen,  der  uns  zeigt,  dass  niemals  in  gleich- 
massigem  Fortschritt,  sondern  stets  in  wechselnder  Wellenbewegung  die 
Biologie  ihrem  Ziele  sich  nähert.  Die  Excesse,  welche  jede  der  beiden 
Forschuugsrichtungen  begeht,  sobald  sie  das  Uebergewicht  über  die  andere 
gewonnen  hat,  die  Ausschliesslichkeit,  durch  welche  jede  in  der  Regel  sich 
als  die  allein  richtige,  als  die  „eigentliche1'  Methode  der  Naturwissenschaft 
betrachtet,  führen  nach  längerer  oder  kürzerer  Dauer  wieder  zu  einem 
Umschwung,  welcher  der  überlegenen  Gegnerin  abermals  zur  Herrschaft 
verhilft. 

Wie  dieser  regelmässige  Regierungs-  Wechsel  von  empirischer  und 
philosophischer  Naturforschung  auf  dem  gesammten  Gebiete  der  Biologie 
uns  überall  entgegentritt,  so  sehen  wir  ganz  besonders  bei  einem  allge- 
meinen Ueberblick  des  Entwickelungsganges,  den  die  Morphologie  vom 
Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  an  genommen ,  dass  die  beiden  feindlichen 
Schwestern,  die  doch  im  Grunde  nicht  ohne  einander  leben  können,  stets 
abwechselnd  die  Herrschaft  behauptet  haben.  Nachdem  Linne  die  Morpho- 
logie der  Organismen  zum  ersten  Male  in  feste  wissenschaftliche  Form  ge- 
bracht, und  ihr  das  systematische  Gewand  angezogen  hatte,  wurde  zunächst 
der  allgemeine  Strom  der  neubelebten  Naturforschung  auf  die  rein  empirische 
Beobachtung  und  Beschreibung  der  zahllosen  neuen  Formen  hingelenkt, 
welche  unterschieden,  benannt  und  in  das  Fachwerk  des  Systems  einge- 
ordnet werden  mussten.  Die  systematische  Beschreibung  und  Benennung, 
als  Mittel  des  geordneten  Ueberblicks  der  zahllosen  Einzelfo'rmen ,  wurde 
aber  bald  Selbstzweck,  und  damit  verlor  sich  die  Formbeobachtung  der 
Thiere  und  Pflanzen  in  der  gedankenlosesten  Empirie.  Das  massenhaft 
sich  anhäufende  Roh-Material  forderte  mehr  und  mehr  zu  einer  denkenden 
Verwerthung  desselben  auf,  und  so  entstand  die  Schule  der  Naturphilo- 
sophen, als  deren  bedeutendsten  Forscher,  wenn  auch  nicht  (wegen  man- 
gelnder Anerkennung)  als  deren  eigentlichen  Begründer  wir  Lamarck  be- 
zeichnen müssen1).  In  Deutschland  vorzüglich  durch  Oken  und  Goethe,  in 
Frankreich  durch  Lamarck  und  Etienne  Geoffroy  S.  Hilaire  vertreten, 
war  diese  ältere  Naturphilosophie  eifrigst  bemüht,  aus  dem  Chaos  der 
zahllosen  Einzelbeobachtungen,  die  sich  immer  mehr  zu  einem  unüberseh- 
baren Berge  häuften,  allgemeine  Gesetze  abzuleiten  und  den  Zusammenhang 
der  Erscheinungen    zu    ermitteln.     Wie    weit   sie  schon   damals    auf  diesem 


')  Selten  ist  wohl  das  Verdienst  eines  der  bedeutendsten  Männer  so  völlig 
von  seinen  Zeitgenossen  verkannt  und  gar  nicht  gewürdigt  winden,  wie  es  mit 
Lamarck  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  der  Fall  war.  Nichts  beweist  dies 
vielleicht  so  schlagend,  als  der  Umstand,  dass  Ouvier  in  seinem  Bericht  über 
die  Fortschritte  der  Naturwissenschaften  ,  in  welchem  auch  die  unbedeutendsten 
Bereicherungen  des  empirischen  Materials  aufgeführt  werden,  des  bedeutendsten 
aller  biologischen  Werke  jenes  Zeitraums,  der  Philosophie  zoologique  von  La- 
marck, mit  keinem  Worte  Erwähnung  thut! 


I.    Empirie  und  Philosophie.  69 

Wege  gelangte,  zeigt  die  classische  Philosophie  zoologique  von  Lamarck 
(1809)  und  die  bewunderungswürdige  Metamorphose  der  Pflanzen  von 
Goethe  (1790).  Doch  war  die  empirische  Basis,  auf  welcher  diese  Heroen 
der  Naturforschung  ihre  genialen  Gedankengebäude  errichteten,  noch  zu 
schmal  und  unvollkommen,  die  ganze  damalige  Kenntnis«  der  Organismen 
noch  zu  sehr  bloss  auf  die  äusseren  Form-Verhältnisse  beschränkt,  als  dass 
ihre  denkende  Naturbetrachtung  die  festesten  Anhaltspunkte  hätte  gewinnen 
und  die  darauf  gegründeten  allgemeinen  Gesetze  schon  damals  eine  weitere 
Geltung  hätten  erringen  können.  Entwickelungsgeschichte  und  Palaeonto- 
logie  existirten  noch  nicht,  und  die  vergleichende  Anatomie  hatte  kaum 
noch  Wurzeln  geschlagen.  Wie  weit  aber  diese  Genien  trotzdem  ihrer  Zeit 
vorauseilten,  bezeugt  vor  Allem  die  (in  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts 
fast  allgemein  ignorirte)  Thatsache,  dass  Beide,  sowohl  Lamarck,  als 
Goethe,  die  wichtigsten  Sätze  der  Descendenz-Theorie  bereits  mit  voller 
Klarheit  und  Bestimmtheit  aussprachen.  Erst  ein  volles  halbes  Jahrhundert 
später  sollte  Darwin  dafür  die  Beweise  liefern. 

Die  eigentliche  Blüthezeit  der  älteren  Naturphilosophie  fällt  in  die  er- 
sten Decennien  unseres  Jahrhunderts.  Aber  schon  im  zweiten  und  noch 
schneller  im  dritten  näherte  sie  sich  ihrem  jähen  Untergange,  theils  durch 
eigene  Verblendung  und  Ausartung,  theils  durch  Mangel  an  Verständniss 
bei  der  Mehrzahl  der  Zeitgenossen,  theils  durch  das  rasche  und  glänzende 
Emporblühen  der  empirischen  Richtung,  welche  in  Cu vier  einen  neuen  und 
gewaltigen  Reformator  fand.  Gegenüber  der  willkührlichen  und  verkehrten 
Phantasterei,  in  welche  die  Naturphilosophie  bald  sowohl  in  Frankreich  als 
in  Deutschland  damals  ausartete,  war  es  dem  exacten,  strengen  und  auf 
der  breitesten  empirischen  Basis  stehenden  Cuvier  ein  Leichtes,  die  ver- 
wilderten und  undisciplinirten  Gegner  aus  dem  Felde  zu  schlagen.  Bekannt- 
lich war  es  der  22.  Februar  1830,  an  welchem  der  Conflict  zwischen  den 
beiden  entgegengesetzten  Richtungen  in  der  Pariser  Akademie  zum  öffent- 
lichen Austrage  kam,  und  damit  definitiv  geendigt  zu  sein  schien,  dass 
Cuvier  seinen  Hauptgegner  E.  Geoffroy  S.  Hilaire  mit  Hülfe  seiner 
überwiegenden  empirischen  Beweismittel  in  den  Augen  der  grossen  Mehr- 
heit vollständig  besiegte.  Dieser  merkwürdige  öffentliche  Conflict,  durch 
welchen  die  Niederlage  der  älteren  Naturphilosophie  besiegelt  wurde ,  ist 
in  mehrfacher  Beziehuug  vom  höchsten  Interesse,  vorzüglich  auch  desshalb, 
weil  er  von  Goethe  in  der  meisterhaftesten  Form  in  einem  kritischen  Auf- 
satze dargestellt  wurde,  welchen  derselbe  wenige  Tage  vor  seinem  Tode 
(im  März  1832)  vollendete.  Dieser  höchst  lesenswerthe  Aufsatz,  das  letzte 
schriftliche  Vermächtuiss,  welches  der  deutsche  Dichterfürst  uns  hinterlassen, 
enthält  nicht  allein  eine  vortreffliche  Characteristik  von  Cuvier  und 
Geoffroy  S.  Hilaire,  sondern  auch  eine  ausgezeichnete  Darstellung  der 
beiden  entgegengesetzten  von  ihnen  vertretenen  Richtungen,  „des  immer- 
währenden Conflictes  zwischen  den  Denkweisen,  in  die  sich  die  wissen- 
schaftliche Welt  schon  lange  trennt;  zwei  Denkweisen,  welche  sich  in  dem 
menschlichen  Geschlechte  meistens  getrennt  und  dergestalt  vertheilt  finden, 
dass  sie,  wie  überall,  so  auch  im  Wissenschaftlichen,  schwer  zusammen  ver- 
bunden angetroffen  werden,    und  wie    sie    getrennt  sind,    sich   nicht  wohl 


70  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

vereinigen  mögen.  Haben  wir  die  Geschichte  der  Wissenschaften  und 
eine  eigene  lange  Erfahrung  vor  Augen,  so  möchte  man  befürchten,  die 
menschliche  Natur  werde  sich  von  diesem  Zwiespalt  kaum  jemals  retten 
können. " 

Die  Niederlage   der   älteren    Naturphilosophie,  welche  Cuvier  als  der 
Heerführer   der   neu   erstehenden    „exacten   Empirie"  herbeigeführt    und  in 
jenem   Conflict    offenbar   gemacht  hatte,    war   so  vollständig,    dass    in   den 
folgenden  drei  Decennien,   von  1830 — 1860,   unter   der  nun    allgemein   sich 
ausbreitenden    empirischen  Schule    von  Philosophie    gar    keine   Rede    mehr 
war.     Mit  den  Träumereien  und  Phantasiespielen  jeuer  ausgearteten  Natur- 
phantasterei wurden  auch  die  wahren  und  grossen  Verdienste  der  alten  Na- 
turphilosophie vergessen,    aus  der  jene  hervorgegangen  war,   und   man  ge- 
wöhnte sich  sehr  allgemein  an  die  Vorstellung,  dass  Naturwissenschaft  und 
Philosophie    iu    einem    uuversöhulicheu    Gegensatze    zu    einander    ständen. 
Dieser  Irrthum  wurde  dadurch  insbesondere  begünstigt,  dass  die  verbesser- 
ten Instrumente  und  Beobachtungs- Methoden  der  Neuzeit,   und  vor  Allem 
die    sehr    verbesserten  Mikroskope,   der    empirischen  Naturbeobachtung  ein 
unendlich  weites  Feld  der  Forschung  eröffneten,  auf  welchem  es  ein  Leichtes 
war,  mit  wenig  Mühe  und  ohne  grosse  Gedanken-Anstrengung,  Entdeckungen 
neuer  Formverhältnisse  in  Hülle   und  Fülle    zu  machen.     Während  die  Be- 
obachtungen   der    ersten    empirischen   Periode,    welche    sich   aus   Linne's 
Schule  entwickelte,  vorzugsweise  nur  auf  die  äusseren  Formenverhältnisse 
der    Orgauismen    gerichtet    gewesen    waren,     wandte    sich    nun    die    zweite 
empirische  Periode,  welche  aus  Cuvier' s  Schule  hervorging,  vorwiegend  der 
Beobachtung  des  inneren  Baues  der  Thiere  und  Pflanzen  zu.     Und  in  der 
That  gab    es   hier,   nachdem  Cuvier    durch  Begründung   der   vergleichen- 
den Anatomie  und  der  Palaeontologie  ein  weites  neues  Feld  der  Beobachtung 
geöffnet,    nachdem   Bär    durch    Reformation    der   Entwickelungsgeschichte 
und   Schwann   durch   Begründung    der   Gewebelehre   auf  dem  thierischen, 
Schieiden  auf  dem  pflanzlichen  Gebiete   neue  und   grosse  Ziele   gesteckt, 
nachdem  Johannes  Müller  die  gesammte  Biologie  mit  gewaltiger  Hand 
in  die  neu  geöffneten  Bahnen  der  exacten  Beobachtung  hineingewiesen  hatte, 
überall  so  unendlich  Viel  zu  beobachten  und  zu  beschreiben ,    es  wurde  so 
leicht,   mit    nur   wenig  Geduld,    Fleiss    und  Beobachtungsgabe    neue  That- 
sachen  zu  entdecken,    dass  wir  uns   nicht  wundern   können,    wenn  darüber 
die   leitenden  Principien    der   Naturforschung   gänzlich    vernachlässigt    und 
die    erklärende  Gedanken- Arbeit   von   den  meisten   völlig  vergessen  wurde. 
Da  noch   im   gegenwärtigen  Augenblick   diese   „rein   empirische"   Richtuug 
die  allgemein   überwiegende  ist,   da   die  Bezeichnung   der  Naturphilosophie 
noch  in  den  weitesten  naturwissenschaftlichen  Kreisen  nur  als  Schimpfwort 
gilt  und  selbst  von  den  hervorragendsten  Biologen  nur  in  diesem  Sinne  ge- 
braucht wird,  so  haben  wir  nicht  nöthig,  die  grenzenlose  Einseitigkeit  dieser 
Richtung  noch    näher    zu    erläutern,    und   werden   nur   noch  insofern  näher 
darauf  eingehen,  als  wir  gezwungen  sind,  unseren  Zeitgenossen  ihr  „exact- 
empirisches,"  d.  h.  gedankenloses  und  beschränktes  Spiegelbild  vorzuhalten. 
Theilweise  ist  dies  schon  im  vorigen  Capitel  geschehen.  Wiederholt  wollen  wir 
hier   nur  nochmals  auf  die  seltsame  Selbsttäuschung  hinweisen,    in  welcher 


I.    Empirie  und  Philosophie.  71 

die  neuere  Biologie  befangen  ist,  wenn  sie  die  nackte  gedankenlose  Be 
Schreibung  innerer  und  feinerer,  insbesondere  mikroskopischer  Form- 
verhältnisse als  „wissenschaftliche  Zoologie"  und  „wissenschaft- 
liche Botanik "  preist  und  mit  nicht  geringem  Stolze  der  früher  aus- 
schliesslich herrschenden  reinen  Beschreibung  der  äusseren  und  gröberen 
Form  Verhältnisse  gegenüberstellt,  welche  die  sogenannten  „Systematiker" 
beschäftigt.  Sobald  bei  diesen  beiden  Richtungen,  die  sich  so  scharf  gegen- 
über zu  stellen  belieben,  die  Beschreibung  an  sich  das  Ziel  ist  (—  gleich- 
viel ob  der  inneren  oder  äusseren,  der  feineren  oder  gröberen  Formen  — ), 
so  ist  die  eine  genau  so  viel  werth,  als  die  andere.  Beide  werden  erst  zur 
Wissenschaft,  wenn  sie  die  Form  zu  erklären  und  auf  Gesetze  zurückzu- 
führen streben. 

Nach  unserer  eigenen  innigsten  Ueberzeugung  ist  der  Rückschlag,  der 
gegen  diese  ganz  einseitige  und  daher  beschränkte  Empirie  nothwendig  frü- 
her oder  später  erfolgen  musste,  bereits  thatsächlich  erfolgt,  wenn  auch  zu- 
nächst nur  in  wenigen  engen  Kreisen.  Die  1859  von  Charles  Darwin 
veröffentlichte  Entdeckung  der  natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  ums  Da- 
sein,  eine  der  grössten  Entdeckungen  des  menschlichen  Forschungstriebes, 
hat  mit  einem  Male  ein  so  gewaltiges  und  klärendes  Licht  in  das  dunkle 
Chaos  der  haufenweis  gesammelten  biologischen  Thatsachen  geworfen,  dass 
es  auch  den  crassesten  Empirikern  fernerhin,  wenn  sie  überhaupt  mit  der 
Wissenschaft  fortschreiten  wollen,  nicht  mehr  möglich  sein  wird,  sich  der 
daraus  emporwachsenden  neuen  Naturphilosophie  zu  entziehen.  Indem  die 
von  Darwin  neu  begründete  Descendenz-Theorie  die  ganze  gewaltige  Fülle 
der  seither  empirisch  angehäuften  Thatsachen-Massen  durch  einen  einzigen 
genialen  Gedanken  erleuchtet,  die  schwierigsten  Probleme  der  Biologie  aus 
dem  einen  obersten  Gesetze  der  „wirkenden  Ursachen"  vollständig  erklärt, 
die  unzusammenhängende  Masse  aller  biologischen  Erscheinungen  auf  die- 
ses eine  einfache  grosse  Naturgesetz  zurückführt,  hat  sie  bereits  thatsäch- 
lich die  bisher  ausschliesslich  herrschende  Empirie  völlig  überflügelt  und 
einer  neuen  und  gesunden  Philosophie  die  weiteste  und  fruchtbarste  Bahn 
geöffnet.  Es  ist  eine  Hauptaufgabe  des  vorliegenden  Werkes,  zu  zeigen, 
wie  die  wichtigsten  Erscheinungsreihen  der  Morphologie  sich  mit  Hülfe  der- 
selben vollständig  erklären  und  auf  grosse  und  allgemeine  Naturgesetze 
zurückführen  lassen. 

Wenn  wir  das  Resultat  dieses  flüchtigen  Ueberblickes  über  den  inneren 
Entwickelungsgang  der  Morphologie  in  wenigen  Worten  zusammenfassen,  so 
können  wir  füglich  von  Beginn  des  achtzehnten  Jahrhunderts  an  bis  jetzt 
vier,  abwechselnd  empirische  und  philosophische  Perioden  der  Morphologie 
unterscheiden,  welche  durch  die  Namen  von  Linne,  Lamarck,  Cuvier, 
Darwin  bezeichnet  sind,  nämlich:  I.  Periode:  Linne  (geb.  1707).  Erste 
empirische  Periode  (Achtzehntes  Jahrhundert).  Herrschaft  der  empiri- 
schen äusseren  Morphologie  (Systematik).  IL  Periode:  Lamarck  (geb.  1744) 
und  Goethe  (geb.  1749').     Erste   philosophische   Periode.     (Erstes 


')  Wir  nennen  hier  absichtlich  Lamarck  und  Goethe  als  die  geistvollsten 
Repräsentanten  der  älteren  Naturphilosophie,  wenngleich  sie  sich  entfernt  nicht 


72  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. - 

Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts).  Herrschaft  der  phantastisch-philo- 
sophischen Morphologie  (Aeltere  Naturphilosophie).  III.  Periode:  Cuvier 
(geb.  1769). ')  Zweite  empirische  Periode.  (Zweites  Drittel  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts).  Herrschaft  der  empirischen  inneren  Morphologie 
(Anatomie).  IV.  Periode:  Darwin  (geb.  1808).  Zweite  philosophische 
Periode.  Begonnen  1859.  Herrschaft  der  empirisch-philosophischen  Mor- 
phologie (Neuere  Naturphilosophie). 

Indem  wir  die  beiden  Richtungen  der  organischen  Morphologie,  die 
empirische  und  philosophische,  so  schroff  einander  gegenüberstellen,  müssen 
wir  ausdrücklich  bemerken,  dass  nur  die  grosse  Masse  der  beschränkteren 
und  gröber  organisirten  Naturforscher  es  war,  welche  diesen  Gegensatz  in 
seiner  ganzen  Schärfe  ausbildete  und  entweder  die  eine  oder  die  andere 
Methode  als  die  allein  seligmachende  pries  und  für  die  „eigentliche"  Na- 
turwissenschaft hielt.  Die  umfassenderen  und  feiner  organisirten  Naturfor- 
forscher, und  vor  Allen  die  grossen  Coryphaeen,  deren  Namen  wir  an  die 
Spitze  der  von  ihnen  beherrschten  Perioden  gestellt  haben,  waren  stets 
mehr  oder  minder  überzeugt,  dass  nur  eine  innige  Verbindung  von  Beob- 
achtung und  Theorie,  von  Empirie  und  Philosophie,  den  Fortschritt  der  Na- 
turwissenschaft wahrhaft  fördern  könnte.  Man  pflegt  gewöhnlich  Cuvier 
als  den  strengsten  und  exclusivsten  Empiriker,  als  den  abgesagtesten  Feind 
jeder  Naturphilosophie  hinzustellen.  Und  sind  nicht  seine  besten  Arbeiten, 
seine  werthvollsten  Entdeckungen,  wie  z.  B.  die  Aufstellung  der  4  thieri- 
schen  Typen  (Stämme),  die  Begründung  des  Gesetzes  von  der  Correlation 
der  Theile,  von  den  Causes  finales,  Ausflüsse  der  reinsten  Naturphilosophie? 
Ist  nicht  die  von  ihm  neu  begründete  „vergleichende  Anatomie"  ihrem  gan- 
zen Wesen  nach  eine  rein  philosophische  Wissenschaft,  welche  das  empirische 
Material  der  Zootomie  bloss  als  Basis  braucht?  Ist  es  nicht  lediglich  der 
Gedanke,  die  Theorie,  welche  auf  der  rein  empirischen  Zootomie  als 
nothwendiger  Grundlage  das  philosophische  Lehrgebäude  der  vergleichenden 
Anatomie  errichten?  Und  wenn  Cuvier  aus  einem  einzigen  Zahne  oder 
Knochen  eines  fossilen  Thieres  die  ganze  Natur  und  systematische  Stellung 
desselben  mit  Sicherheit  erkannte,  war  dies  Beobachtung  oder  war  es  Re- 
flexion? Betrachten  wir  andererseits  den  Stifter  der  älteren  Naturphilo- 
sophie, Lamarck,  so  brauchen  wir,  um  den  Vorwurf  der  Einseitigkeit  zu 
widerlegen,  bloss  darauf  hinzuweisen,  dass  dieser  eminente  Mann  seinen 
Ruf  als  grosser  Naturforscher  grösstentheils  einem  vorwiegend  descriptiven 
Wei*ke,  der  berühmten  „Histoire  naturelle  des  animaux  sans  vertebres"  ver- 
dankte.    Seine  „Philosophie  zoologique,"  welche  die  Descendenz-Lehre  zum 


desselben  Einflusses  und  derselben  Anerkennung  zu  erfreuen  hatten,  wie  Etienne 
Geoffroy  S.  Hilaire  (geb.  1771)  und  Lorenz  Oken  (geb.  1779),  die  gewöhn- 
lich als  die  Coryphaeen  dieser  Richtung  vorangestellt  werden. 

l)  Als  hervorragende  Coryphaeen  dieser  Periode  würden  wir  hier  noch  Jo- 
hannes Müller,  Söhlei den  und  einige  Andere  hervorzuheben  haben,  wenn  nicht 
gerade  diese  bedeutendsten  Männer,  als  wahrhaft  philosophische  Naturforscher, 
sich  von  der  grossen  Einseitigkeit  frei  gehalten  hätten,  welche  Cuvier's  Schule 
und  der  grosse  Tross  der  Zeitgenossen  zum  extremsten  Empirismus  ausbildete. 


I.    Empirie  und  Philosophie.  73 

ersten  Male  als  vollkommen  abgerundete  Theorie  aufstellte,  eilte  mit  ihrem 
prophetischen  Gedankenfluge  seiner  Zeit  so  voraus,  da&s  sie  von  seinen 
Zeitgenossen  gar  nicht  verstanden  und  ein  volles  halbes  Jahrundert  hin- 
durch (1809-1859)  todtgeschwiegen  wurde.  Johannes  Müller,  den  wir 
Deutschen  mit  gerechtem  Stolz  als  den  grössten  Biologen  der  ersten  Hälfte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  unser  eigen  nennen,  und  der  in  den  Augen 
der  meisten  jetzt  lebenden  Biologen  als  der  strengste  Empiriker  und  Geg- 
ner der  Naturphilosophie  gilt,  verdankt  die  Fülle  seiner  zahlreichen  und 
grossen  Entdeckungen  viel  weniger  seinem  ausgezeichneten  sinnlichen  Be- 
obaehtungstalent,  als  seinem  cömbinirenden  Gedankenreichthum  und  der 
natürlichen  Philosophie  seiner  wahrhaft  denkenden  Beobachtungsmethode. 
Charles  Darwin,  der  grösste  aller  jetzt  lebenden  Naturforscher,  über- 
ragt uns  Alle  nicht  allein  durch  Ideenreichthum  und  Gedankenfülle  seines  die 
ganze  organische  Natur  umfassenden  Geistes,  sondern  eben  so  sehr  durch 
die  intensiv  und  extensiv  gleich  bedeutende  und  fruchtbare  Methode  seiner 
empirischen  Naturbeobachtung. 

Nach  unserer  festesten  Ueberzeugung  können  nur  diejenigen  Natur- 
forscher wahrhaft  fördernd  und  schaffend  in  den  Gang  der  Wissenschaft 
eingreifen,  welche,  bewusst  oder  unbewusst,  eben  so  scharfe  Denker,  als 
sorgfältige  Beobachter  sind.  Niemals  kann  die  blosse  Entdeckung  einer 
nackten  Thatsache,  und  wäre  sie  noch  so  merkwürdig,  einen  wahrhaften 
Fortschritt  in  der  Naturwissenschaft  herbeiführen,  sondern  stets  nur  der 
Gedanke,  die  Theorie,  welche  diese  Thatsache  erklärt,  sie  mit  den  ver- 
wandten Thatsachen  vergleichend  verbindet,  und  daraus  ein  Gesetz  ab- 
leitet. Betrachten  wir  die  grössten  Naturforscher,  welche  zu  allen  Zeiten 
auf  dem  biologischen  Gebiete  thätig  gewesen  sind,  von  Aristoteles  an, 
Linne  und  Cuvier,  Lamarck  und  Goethe,  Bär  und  Johannes  Müller 
und  wie^die  Reihe  der  glänzenden  Sterne  erster  Grösse,  bis  auf  Charles 
Darwin  herab,  weiter  heisst  —  sie  alle  sind  ebenso  grosse  Denker,  als 
Beobachter  gewesen,  und  sie  alle  verdanken  ihren  unsterblichen  Ruhm 
nicht  der  Summe  der  einzelnen  von  ihnen  entdeckten  Thatsachen,  sondern 
ihrem  denkenden  Geiste,  der  diese  Thatsachen  in  Zusammenhang  zu  bringen 
und  daraus  Gesetze  abzuleiten  verstand.  Die  rein  empirischen  Naturforscher, 
welche  nur  durch  Entdeckung  neuer  Thatsachen  die  Wissenschaft  zu  för- 
dern glauben,  können  in  derselben  ebenso  wenig  etwas  leisten,  als  die  rein 
speculativen  Philosophen,  welche  der  Thatsachen  entbehren  zu  können 
glauben  und  die  Natur  aus  ihren  Gedanken  construiren  wollen.  Diese  wer- 
den zu  phantastischen  Träumern,  jene  im  besten  Falle  zu  genauen  Copir- 
maschinen  der  Natur.  Im  Grunde  freilich  gestaltet  sich  das  thatsächliche 
Verhältniss  überall  so,  dass  die  reinen  Empiriker  sich  mit  einer  unvollstän- 
digen und  unklaren,  ihnen  selbst  nicht  bewussten  Philosophie,  die  reinen  Phi- 
lo s  o  p  he  n  dagegen  mit  einer  eben  solchen,  unreinen  und  mangelhaften  Empirie 
begnügen.  Das  Ziel  der  Naturwissenschaft  ist  die  Herstellung  eines  vollkom- 
men architectonisch  geordneten  Lehrgebäudes.  Der  reine  Empiriker  bringt 
statt  dessen  einen  ungeordneten  Steinhaufen  zusammen;  der  reine  Philosoph 
auf  der  andern  Seite  baut  Luftschlösser,  welche  der  erste  empirische  Wind- 
stoss  über  den  Haufen  wirft.     Jener  begnügt    sich   mit  dem  Rohmaterial, 


74  Methodik  der  Morphologie   der  Organismen. 

dieser  mit  dem  Plan  des  Gebäudes.  Aber  nur  durch  die  innigste 
Wechselwirkung  von  empirischer  Beobachtung  und  philosophi- 
scher Theorie  kann  das  Lehrgebäude  der  Naturwissenschaft 
wirklich  zu  Stande  kommen. 

Wir  schliessen  diesen  Abschnitt,  wie  wir  ihn  begonnen,  mit  einem  Aus- 
spruch von  Johannes  Müller:  „Die  Phantasie  ist  ein  unentbehrliches  Gut; 
denn  sie  ist  es,  durch  welche  neue  Combinationen  zur  Veranlassung  wich- 
tiger Entdeckungen  gemacht  werden.  Die  Kraft  der  Unterscheidung 
des  isolirenden  Verstandes  sowohl,  als  der  erweiternden  und 
zum  Allgemeinen  strebenden  Phantasie  sind  dem  Naturforscher 
in  einem  harmonischeu  Wechselwirken  nothwendig.  Durch  Stö- 
rung dieses  Gleichgewichts  wird  der  Naturforscher  von  der  Phantasie  zu 
Träumereien  hingerissen,  während  diese  Gabe  den  talentvollen  Naturfor- 
scher von  hinreichender  Yerstandesstärke  zu  den  wichtigsten  Entdeckungen 
führt. ') 

II.    Analyse  und  Synthese. 

„Ein  Jahrhundert,  das  sich  bloss  auf  die  Analyse  verlegt,  und  sich 
vor  der  Synthese  gleichsam  fürchtet,  ist  nicht  auf  dem  rechten  Wege; 
denn  nur  beide  zusammen,  wie  Aus-  und  Einathmen,  machen  das  Le- 
ben der  Wissenschaft.  -  -  Die  Hauptsache,  woran  man  bei/  ausschliess- 
licher Anwendung  der  Analyse  nicht  zu  denken  scheint,  ist,  dass  jede 
Analyse  eine  Synthese  voraussetzt.  —  Sondern  und  Verknüpfen  sind 
zwei  unzertrennliche  Lebensacte.  Vielleicht  ist  es  besser  gesagt,  dass 
es  unerlässlich  ist,  man  möge  wollen  oder  nicht,  aus  dem  Ganzen  ins 
Einzelne,  aus  dem  Einzelnen  ins  Ganze  zu  gehen;  und  je  lebendiger 
diese  Functionen  des  Geistes,  wie  Aus-  und  Einathmen,  sich  zusammen 
verhalten,  desto  besser  wird  für  die  Wissenschaften  und  ihre  Freunde 
gesorgt  sein." 

Die  vorstehenden  Worte  von  Goethe  bezeichnen  das  nothwendige 
Wechselverhältniss  zwischen  der  sondernden  Analyse  und  der  ver- 
knüpfenden Synthese  so  treffend,  dass  wir  mit  keinen  besseren  Wor- 
ten die  folgende  Betrachtung  einleiten  konnten.  Wenn  wir  hier  diese 
wichtigen  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  der  analytischen  und 
synthetischen,  der  auflösenden  und  zusammensetzenden  Naturforschung 
kurz  einer  gesonderten  Betrachtung  unterziehen,  so  geschieht  es  haupt- 
sächlich, weil  wir  die  vielfach  verkannte  nothwendige  Wechselwirkung 
zwischen  diesen  wichtigen  Methoden  für  die  Morphologie  besonders 
eindringlich  hervorzuheben  wünschen,  und  weil  gerade  im  gegenwär- 
tigen Zeitpunkte  eine  klare  Beleuchtung  dieses  Verhältnisses  von  be- 
sonderer Wichtigkeit  erscheint.     Da    die   analytische   oder    sondernde 


')  Johannes  Muller,   Archiv  für  Anatomie  etc.  I.  Jahrgg.  1834.  p.  4. 


IL'  Aüalyse  und  Synthese.  75 

Methode  vorzugsweise  von  der  empirischen  Naturbeobachtung,  die  syn- 
thetische oder  verknüpfende  Methode  vorzugsweise  von  der  philoso- 
phischen Naturbetrachtung  angewendet  wird,  so  schliessen  sich  die 
folgenden  Bemerkungen  darüber  unmittelbar  an  das  im  vorigen  Ab- 
schnitt Gesagte  an.  Hiervon  ausgehend  werden  wir  schon  im  Voraus 
sagen  können,  dass  ein  Grundfehler  der  gegenwärtig  in  der  Biologie 
herrschenden  Richtung  in  der  einseitigen  Ausbildung  der  Analyse,  und 
in  der  übermässigen  Vernachlässigung  der  Synthese  liegen  wird.  Und 
so  verhält  es  sich  auch  in  der  That.  Auf  allen  Gebieten  der  organi- 
schen Morphologie,  in  der  Urganologie  und  in  der  Histologie,  in  der 
Entwicklungsgeschichte  der  Individuen  und  in  derjeuigen  der  Stämme 
ist  man  seit  langer  Zeit  fast  ausschliesslich  analytisch  verfahren  und 
hat  die  synthetische  Betrachtung  eigentlich  nur  selten,  und  in  so  ge- 
ringer Ausdehnung,  mit  so  übertriebener  Scheu  angewendet,  dass  man 
sich  ihrer  Fruchtbarkeit,  ja  ihrer  Unentbehrlichkeit  gar  nicht  bewusst 
geworden  ist.  Und  doch  ist  es  die  Synthese,  durch  welche  die  Analyse 
erst  ihren  wahren  Werth  erhält,  und  durch  welche  wir  zu  einem  wirk- 
lichen Verständniss  des  durch  die  Analyse  uns  bekannt  gewordenen 
Organismus  gelangen. 

Bei  einem  Rückblicke  auf  die  beiden  empirischen  Perioden  der 
Morphologie,  die  wir  im  vorigen  Abschnitt  charakterisirt  haben,  fin- 
den wir,  dass  zwar  Beide,  im  Gegensatz  zu  der  dazwischen  liegenden, 
vorzugsweis  der  Synthese  zugewandten  Periode  der  Naturphilosophie, 
vorwiegend  die  Analyse  cultivirten,  dass  aber  die  zweite  empirische 
Periode,  seit  Cuvier,  in  dieser  Beziehung  sich  noch  viel  einseitiger 
entwickelte,  als  die  erste  empirische  Periode,  seit  Linne.  Denn  die 
von  der  letzteren  fast  ausschliesslich  betriebene  Unterscheidung  und  Be- 
schreibung der  äusseren  Körperlbrmen  führte  immer  zuletzt  zur  Sy- 
stematik hin,  welche  an  sich  schon  einen  gewissen  Grad  von  synthe- 
tischer Thätigkeit  erfordert,  wogegen  die  analytische  Untersuchung  und 
Darstellung  der  inneren  Körperformen,  die  „Anatomie"  im  enge- 
ren Sinne,  welche  Cuvier's  Nachfolger  vorzugsweise  beschäftigte,  der 
Synthese  in  weit  höherem  Maasse  entbehren  konnte.  Zwar  hatte  Cu- 
vier der  letzteren  das  hohe  Ziel  gesteckt,  durch  Vergleichung  (und 
das  ist  ja  eben  auch  Synthese)  sich  zur  vergleichenden  Anatomie  zu 
erheben;  indess  wurde  eine  wahrhaft  philosophische  Vergleichung,  wie 
Cuvier  selbst  und  Johannes  Müller  sie  so  fruchtbar  und  so  viel- 
fach geübt  hatten,  von  der  Mehrzahl  ihrer  Nachfolger  so  selten  ange- 
wandt, dass  die  meisten  Arbeiten,  welche  sich  „vergleichend  anatomisch" 
nennen,  diesen  Namen  nicht  verdienen.  Diese  einseitige  Ausbildung 
der  Analyse,  welche  sich  mit  der  Kenntniss  der  einzelnen  Theile  des 
Organismus  begnügt,  ohne  die  Erkenntniss  des  Ganzen  im  Auge  zu 
behalten,  hat  sich  in  den  letzten  drei  Decennien  jährlich  in  zunehmen- 


7ß  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

der  Progression  gesteigert,  insbesondere  seitdem  Jedermann  mit  dem 
Mikroskop  anfing  „Entdeckungen-'  zu  machen.  Eine  möglichst  voll- 
ständige histologische  Analyse  des  Körpers  wurde  bald  allgemein  das 
höchste  Ziel;  und  über  der  Beschreibung  und  Abbildung  der  einzelnen 
Zellenformen  vergass  man  völlig  den  ganzen  Organismus,  welchen  die- 
selben zusammensetzen. 

Nun  ist  zwar  nach  unserer  Ansicht  durch  Darwin,  welcher  die 
Synthese  wieder  im  grossartigsten  Maassstabe  aufgenommen  und  mit 
dem  überwältigendsten  Erfolge  in  der  gesammten  organischen  Mor- 
phologie angewandt  hat,  deren  hohe  Bedeutung  so  sehr  zu  Tage  ge- 
treten, dass  die  bisherige  einseitige  Analyse  sich  in  ihrer  exclusiven 
Richtung  nicht  fürder  wird  behaupten  können.  Indess  halten  wir  es 
doch  nicht  für  überflüssig,  die  äusserst  wichtige  Wechselbeziehung 
zwischen  der  analytischen  Untersuchung  des  Einzelnen  und 
und  der  synthetischen  Betrachtung  des  Ganzen  hier  nochmals 
ausdrücklich  zu  betonen.  Allerdings  muss  die  erstere  der  letzteren 
vorausgehen,  aber  nur  als  die  erste  Stufe  der  Erkenntniss,  welche  erst 
mit  der  letzteren  ihren  wrahren  Abschluss  erreicht.  Bleibt  die  Natur- 
forschung, wie  es  nur  zu  häufig  geschieht,  bei  dem  Resultate  der  reinen 
Analyse  stehen,  so  kommt  bei  ihr  der  Spruch  von  Goethe1)  zur  An- 
wendung : 

„Wer  will  was  Lebendig's  erkennen  und  beschreiben, 
Sucht  erst  den  Geist  herauszutreiben; 
Dann  hat  er  die  Theile  in  seiner  Hand, 
Fehlt  leider  nur  das  geistige  Band." 

Der  grosse  Nachtheil,  den  die  einseitige  Ausbildung  der  Analyse  und 
die  Vernachlässigung  der  Synthese  unserer  Wissenschaft  gebracht  hat,  zeigt 
sich  vielleicht  nirgends  in  so  auffallendem  Maassstabe,  als  in  den  Folgen, 
welche  für  die  Morphologie  das  eben  so  verderbliche  als  seltsame  Dogma 
von  der  Constanz  und  von  der  absoluten  Individualität  der 
Species  gehabt  hat.  Wer  die  Geschichte  unserer  Wissenschaft  seit  Linue, 
der  sich  durch  Aufstellung  des  Species -Begriffs  ein  grosses  Verdienst  um 
die  formelle  Ausbildung  derselben  erwarb,    kennt,    der  weiss,    dass   dieses 

')  Eine  vorzügliche  Schilderung  des  Gegensatzes  der  Analyse  und  Synthese, 
an  den  hervorragenden  Persönlichkeiten  von  Cuvier  und  Geoffroy  S.  Hi. 
laire  durchgeführt,  hat  Goethe  in  seiner  merkwürdigen  oben  erwähnten  Kritik 
der  „Philosophie  zoologique"  gegeben.  Es  heisst  darin  unter  Anderem  :  „Cuvier 
arbeitet  unermüdlich  als  Unterscheidender,  das  Vorliegende  genau  Beschreiben- 
der, und  gewinnt  sich  eine  Herrschaft  über  eine  unermessliche  Breite.  Geoffroy 
Saint-Hi  hii  re  hingegen  ist  im  Stillen  um  die  Analogieen  der  Geschöpfe  und 
ihre  geheimnissvollen  Verwandtschaften  bemüht;  jener  geht  aus  dem  Einzelnen 
in  ein  Ganzes,  welches  zwar  vorausgesetzt,  aber  als  nie  erkennbar  betrachtet 
wird;  dieser  hegt  das  Ganze  im  inneren  Sinne,  und  lebt  in  der  Ueberzeugung 
fort,  das  Einzelne  könne  daraus  nach  und  nach  entwickelt  werden." 


IT.    Analyse  und  Synthese.  77 

Dogma  seitdem  fast  allgemein  geherrscht  hat,  und  dass  nur  in  der  ersten 
naturphilosophischen  Periode  Lamarck  und  eine  Anzahl  anderer  bedeu- 
tender Naturforscher  die  allgemeine  Vorstellung  von  der  Wesenheit  und 
Beständigkeit  der  organischen  „Art"  zu  verwerfen  wagten,  während  in  den 
beiden  empirischen  Perioden  selbst  die  bedeutendsten  Coryphaeen  der  Bio- 
logie sich  dem  harten  Joche  dieses  wunderlichen  Dogma  beugten.  Kein 
anderer  Irrthum  hat  sich  so  allgemeine  Geltung  erworben,  hat  so  sehr  ge- 
schadet als  dieser,  und  auf  keinen  ist  in  höherem  Grade  der  bekannte 
Spruch  von  Goethe  anwendbar:  „Immerfort  wiederholte  Phrasen 
verknöchern  sich  zuletzt  zur  Ueberzeugung,  und  verstumpfen 
völlig  die  Organe  des  Anschauens." 

Das  Dogma  von  der  Constanz  der  Species  behauptet  bekanntlich,  dass 
alle  organischen  Formen  sich  in  den  Begriff  der  Species  einpferchen  lassen, 
d.  h.  in  einen  geschlossenen  und  selbstständigen  Formenkreis,  innerhalb 
dessen  zwar  der  Species  oder  Art  ein  gewisser  Grad  der  Variation  zu- 
gestanden wird,  dessen  scharf  bestimmte  Grenzen  aber  die  Art  niemals 
überschreiten  soll.  Jede  Species  ist  für  sich,  unabhängig  von  den  anderen, 
erschaffen  worden,  keine  ist  durch  Abänderung  aus  einer  andern  hervorge- 
gangen. Als  das  morphologische  Kriterium  der  Art  wird  dabei  ge- 
wöhnlich die  Constanz  aller  „wesentlichen"  Merkmale  (und  die  Variabilität 
der  „unwesentlichen"  Charaktere)  angeführt;  als  das  physiologische 
Kriterium  dagegen  die  Fähigkeit  aller  Varietäten  einer  Species,  unter 
sich  fruchtbare  Bastarde  zu  erzeugen  (und  die  Unfähigkeit  jeder  Species, 
mit  irgend  einer  anderen  Art  vermischt  fruchtbare  Bastarde  zu  erzeugen). 
Obgleich  nun  diese  Kriterien  der  Species,  gleich  allen  anderen  die  man 
aufzustellen  versucht  hat,  sich  leicht  und  sicher  als  vollkommen  unhalt- 
bare und  willkührliehe  Voraussetzungen  ausweisen  lassen  (wie  im  dritten 
Buche  gezeigt  werden  soll),  obgleich  die  Gesammtheit  aller  allgemeinen 
organischen  Erscheinungs-Reihen  auf  das  Entschiedenste  dagegen  spricht, 
obgleich  nicht  zwei  Naturforscher  in  allen  Fällen  über  die  Begrenzung 
der  Species  einig  sind,  so  hat  dennoch  dieses  Dogma  von  der  Species- 
Constanz  die  gesammte  Biologie  bis  auf  Darwin  fast  allgemein  beherrscht. 
Erst  Darwin' s  gewaltige  Argumente  vermochten  eine  Bresche  in  diese 
Zwingburg  des  Wunderglaubens  zu  schiessen,  eine  entscheidende  Bresche, 
welche  den  unüberwindlichen  Gedanken  des  combinirenden  synthetischen 
Verstandes  den  Weg  in  dieses  innerste  Asyl  vitalistischer  Thorheiten  öffuete. 

Ohne  uns  hier  weiter  auf  eine  eingehende  Widerlegung  des  Species- 
Dogma  einlassen  zu  wollen,  die  späteren  Oapiteln  vorbehalten  bleibt,  führen 
wir  dasselbe  hier  nur  an,  um  zu  zeigen,  welchen  verderblichen  Einfluss 
eine  ausschliesslich  analytische  Methode  in  den  Naturwissenschaften  ausüben 
kann.  Denn  durch  keinen  Umstand  ist  das  Species -Dogma  so  sehr  ge- 
stützt, so  allgemein  in  Geltung  und  Ansehen  erhalten  worden,  als  durch 
die  allgemein  vorherrschende  analytische  Beobachtung  einzelner  Individuen, 
und  durch  den  Mangel  an  synthetischer  und  vergleichender  Betrachtung 
der  Individuen-Summe,  welche  die  Species  erst  zusammensetzt.  Indem  man 
seit  Linne  fast  allgemein  und  ausschliesslich  bemüht  war,  möglichst  viele 
neue  Formen  von  Organismen   als   sogenannte  Species   einzeln   aufzustellen, 


7R  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

und  diese  durch  präcise  Unterschiede  von  einander  möglichst  scharf  zu  un- 
terscheiden, verlor  mau  gänzlich  den  Blick  für  die  grosse  und  allgemeine 
Uebereinstimmung,  welche  alle  verwandten  Species  auf  das  Innigste  ver- 
bindet. Man  wandte  bei  Vergleichung  derselben  seine  ganze  Aufmerksam- 
keit auf  die  Unterscheidung  und  Hervorhebung  der  unbedeutenden  äusser- 
lichen  Formunterschiede,  welche  dieser  oder  jener  Theil  des  thierischen 
und  pflanzlichen  Körpers  darbot,  und  man  vergass  dabei  gänzlich  die  völlige 
oder  doch  grosse  Uebereinstimmung,  welche  in  allen  übrigen  wesentlichen 
Theilen,  und  insbesondere  fast  in  allen  einzelnen  Verhältnissen  des  innern 
Baues,  die  verwandten  Species  zeigen.  Ueber  einem  einzigen  unterscheiden- 
den Charakter  zweier  Formen  übersah  man  völlig  die  hunderttausend 
Charaktere,  welche  beiden  gemein  sind,  und  um  beide  als  Species  unter- 
scheiden zu  können,  hob  man  den  ersteren  ganz  allein  hervor,  während  man 
von  den  übrigen  völlig  schwieg. 

Im  weiteren  Gange  der  sich  entwickelnden  Systematik  trat  nun  bald 
allgemein  diese  kleinliche  Analyse  so  sehr  in  den  Vordergrund,  dass  die 
Unterscheidung  der  einzelnen  Formen,  welche  ursprünglich  nur  Mittel  zur 
systematischen  Anordnung  und  Benennung  gewesen  war,  nunmehr  selbst 
Zweck  wurde,  und  dass  die  Synthese,  welche  stets  mit  der  Analyse  Hand 
in  Hand  gehen  sollte,  nur  ganz  zuletzt  in  Anwendung  kam,  wenn  aus  den 
einzelnen  isolirten  Bausteinen  der  Species  das  System  aufgebaut  werden  sollte, 
in  welchem  dieselben  sich  scharf  und  glatt  von  einander  absetzen  mussten. 
Da  nun  bei  diesem  Geschäfte  den  Systematikern  nichts  hinderlicher  war, 
als  die  zahlreichen  Mittelformen  und  Uebergangsstufen,  welche  die  ver- 
wandten Arten  verbinden,  so  wurden  diese  fast  allgemein  gänzlich  vernach- 
lässigt, und  statt  diesen  wichtigsten  Wegweisern  der  natürlichen  Verwandt- 
schaft eine  besoudere  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  wandte  man  sich  mei- 
stens von  ihnen  mit  Widerwillen  ab.  Nur  durch  dieses  verkehrte  Verfahren, 
durch  diese  gänzliche  Verkennung  des  natürlichen  Zusammenhanges  der 
Arten,  und  durch  diese  gegenseitige  Zuschärfung  der  analytischen  Unter- 
suchungsmethode und  der  Species-Dogmatik,  war  es  möglich,  das  Ansehen 
der  letzteren  so  allgemein  und  so  lange  zu  erhalten,  und  sich  der  Erkennt- 
niss  von  der  genealogischen  Verwandtschaft  der  Species  zu  verschliessen, 
auf  welche  alle  allgemeinen  Erscheinungsreihen  der  organischen  Natur  mit 
zwingender  Gewalt  hindeuten. 

Hieraus  ergiebt  sich  nun  von  selbst,  dass  wir,  um  einen  neuen  Auf- 
schwung der  Morphologie  herbeizuführen,  vor  Allem  die  vergessene  und 
verlassene  Synthese  wieder  in  ihre  alten  Rechte  einzusetzen  haben.  Viele 
Zweifel  gegen  die  Descendenz-Theorie,  viele  eingerostete  Vorurtheile  gegen 
die  Veränderlichkeit  der  Species  werden  von  selbst  fortfallen,  sobald  mau 
die  bereits  bekannten  Thatsachen-Reihen  der  Biologie,  statt  wie  bisher 
sondernd  vom  analytischen,  nun  auch  einmal  verknüpfend  vom  synthetischen 
Standpunkte  aus  betrachtet,  In  der  That  genügt  in  vielen  Fällen  die  ein- 
fache Zusammenstellung  und  Arergleichung  einer  Reihe  von  einzelnen  That- 
sachen,  um  zu  einem  ganz  entgegengesetzten  allgemeinen  Schlüsse  zu  ge- 
langen, als  dieselben  vorher  einzeln  und  für  sich  betrachtet,  ziehen  Hessen. 
Nur    durch  Synthese  ist  es  möglich,    zu   den   wichtigsten  allge- 


III.    Induction  und  Deduction.  79 

meinen  Naturgesetzen  zu  gelangen,  zu  denen  die  ausgedehnteste 
Analyse  niemals  hinführt. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  höchst  einseitig  von  der  gesammten  Biologie, 
insbesondere  in  den  letzten  30  Jahren,  die  empirische  Analyse  betrieben 
worden  ist,  wie  man  stets  nur  bedacht  war,  das  Ganze  in  seine  Theile  zu 
zerlegen,  die  isolirten  Theile  zu  untersuchen,  und  sich  nicht  weiter  um  den 
Zusammenhang  derselben  zu  kümmern,  so  wird  man  über  den  Widerstand, 
den  die  Descendenz- Theorie  bei  den  meisten  Biologen  noch  heute  findet, 
nicht  erstaunt  sein.  Denn  es  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass  diese  Theorie, 
wie  alle  ähnlichen  grossen  und  umfassenden  Theorieen,  wesentlich  auf  der 
ausgedehntesten  philosophischen  Synthese  beruht,  und  dass  nur  durch  die  den- 
kende Verknüpfung  der  zahllosen ,  von  der  beobachtenden  Analyse  gewon- 
nenen Einzelheiten  die  allgemeinen  Gesetze  gewonnen  werden  können,  zu  de- 
nen uns  jene  Theorie  hinführt.  Aus  diesen  Gründen  erwarten  wir  zunächst  von 
einer  durchgreifenden  und  allgemeinen  Synthese  auf  dem  gesammten  Ge- 
biete der  organischen  Morphologie  den  grössten  Fortschritt,  und  sind  fest 
überzeugt,  dass  durch  diese  allein  schon  unsere  ganze  Wissenschaft  ein 
verjüngtes  Ansehen  gewinnen  wird.  Vergessen  wir  dabei  aber  niemals, 
dass  empirische  Analyse  und  philosophische  Synthese  sich  gegenseitig  be- 
dingen, ergänzen  und  durchdringen  müssen;  denn  „nur  Beide  zusammen, 
wie  Ein-  uud  Aus-Athmen,  machen  das  Leben  der  Wissenschaft." 


III.   Induction  und  Deduction. 

..Die  allein  richtige  Methode  in  den  Naturwissenschaften  ist  die 
induetive.  Ihre  wesentliche  Eigerithümlichkeit,  worin  eben  die  Sicher- 
heit der  durch  sie  gewonnenen  Resultate  begründet  ist,  besteht  darin, 
dass  man  mit  Verwerfung  jeder  Hypothese  ohne  alle  Ausnahme  (z.  B. 
der  Hypothese  einer  besonderen  Lebenskraft)  von  dem  unmittelbar 
Gewissen  der  Wahrnehmung  ausgeht,  durch  dieselbe  sich  zur 
Erfahrung  erhebt,  indem  man  die  einzelne  Wahrnehmung  mit  dem 
anderweit  schon  Festgestellten  in  Verbindung  setzt,  aus  Vergleichung 
verwandter  Erfahrungen  durch  Induction  bestimmt,  ob  sie  unter  einem 
Gesetze,  und  unter  welchem  sie  stehen  und  so  fort,  indem  man  mit 
den  so  gefundenen  Gesetzen  ebenso  verfahrt,  rückwärts  fortschreitet, 
bis  man  bei  sich  selbst  genügenden,  mathematischen  Axiomen  ange- 
kommen ist."  Schieiden  (Grundzüge  der  wissenschaftlichen  Botanik 
§.  3.  Methodik). ') 


')  „Von  den  Thatsachen  werden  wir  weiter  geführt  zur  Theorie  hauptsäch- 
lich durch  Induction,  Hypothese  und  Analogie.  Alle  drei  sind  blosse 
W  ahrscheinlichkeits  schlüss  e  und  können  also  für  sich  nie  logische  Ge- 
wissheit geben.  Wenn  mau  sie  daher  richtig  gebrauchen  will,  so  muss  man  sehr 
genau  über  das  Verhältniss  derselben  zum  Ganzen  unserer  Erkenutnissthätigkeit 
orientirt  sein;   denn   so   wie   sie   richtig  gebraucht   die  einzigen  Förderungsmittel 


80  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

..Die  Methode  der  Untersuchung,  welche  uns  wegen  der  Unan- 
wendbarkeit  der  directen  Methoden  der  Beobachtung  und  des  Experi- 
mentirens  als  die  Hauptquelle  unserer  Kenntnisse,  die  wir  in  Beziehung 
auf  die  Bedingungen  und  Gesetze  der  Wiederkehr  der  verwickeltereh 
Naturerscheinungen  besitzen  oder  erlangen  können,  übrig  bleibt,  wird 
in  dem  allgemeinsten  Ausdruck  die  deduetive  Methode  genannt. — 
Dieser  deduetiven  Methode  verdankt  der  menschliche  Geist  seine  rühm- 
lichsten Triumphe  in  der  Erforschung  der  Natur.  Ihr  verdanken  wir 
alle  Theorieen,  durch  welche  ausgedehnte  und  verwickelte  Naturer- 
scheinungen in  wenigen  Gesetzen  umfasst  werden,  und  die,  als  Gesetze 
dieser  grossen  Erscheinungen  betrachtet,  durch  directes  Studium  nie 
hätten  entdeckt  werden  können. ') 


aller  Erfahrungswissenschaft  sind,  so  werden  sie,  fehlerhaft  oder  leichtfertig  an- 
gewendet, auch  die  Quelle  aller  Verkehrtheiten  und  Phantasieen ,  die  beständig 
in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  auftauchen,  dieselbe  verwirren  und  in  ihrem 
Fortschritt  hemmen. 

Alle  drei,  Induction,  Hypothese  und  Analogie,  sind  unvollständige  di- 
visive  Schlüsse,  die  Induction  unter  kategorischer  Form,  indem  ich 
von  vielen  Fällen  (statt  von  allen)  auf  die  Gültigkeit  einer  allgemeinen  Regel, 
die  Hypothese  unter  hypothetischer  Form,  indem  ich  von  einigen  Folgen 
(statt  von  allen)  auf  die  Einheit  des  Grundes  schliesse,  endlich  die  Analogie, 
welche  eigentlich  nur  der  durch  Induction  gefundenen  Regel  unterordnet,  wo 
es  also  allein  auf  die  Gültigkeit  der  Tnduction  ankommt.  Dass  wir  einem  sol- 
chen unvollständigen  Schlüsse,  bei  dem  bloss  logisch  gar  keine  Schlusskraft 
vorhanden  ist,  vollen  Glauben  beimessen,  liegt  in  der  Natur  der  erkennenden 
Vernunft,  welche  überall  Einheit  und  Zusammenklang  in  ihren  Erkenntnissen  for- 
dert. Die  Schlussformen  gelten  aber  desshalh  auch  nur  im  Einklang  mit  der 
ganzen  Erkenntnisskraft  und  den  daraus  abzuleitenden  Principien."  Schieiden 
(1.  c.)  \  4.     Von  der  Induction  insbesondere. 

-  ')  „Die  deduetive  Methode  ist  bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wissen- 
schaft unwiderruflich  bestimmt,  den  (rang  der  wissenschaftlichen  Untersuchung 
von  nun  an  zu  beherrschen.  Friedlich  und  allmählig  geht  in  der  Wissenschaft 
eine  Revolution  vor  sich,  das  Gegentheil  von  der,  an  welche  Bacon  seinen  Na- 
men knüpfte.  Dieser  grosse  Mann  verwandelte  die  deduetive  Methode  der  Wis- 
senschaften in  eine  experimentelle,  die  sich  nun  wieder  in  die  deduetive  umkehrt. 
Aber  die  Deductionen,  welche  Bacon  verbannte,  waren  aus  voreilig  erhaschten 
oder  willkührlich  angenommenen  Prämissen  abgeleitet.  Die  Principien  waren 
weder  durch  die  gesetzmässigen  Regeln  der  experimentellen  Forschung  festge- 
setzt, noch  waren  die  Resultate  durch  jenes  unentbehrliche  Element  einer  ratio- 
nellen deduetiven  Methode,  die  Bestätigung  durch  die  speeifische  Erfahrung  ge- 
prüft. 

„Unter  den  unseren  Fähigkeiten  zugänglichen  Gegenständen  sind  diejenigen, 
welche  noch  in  einem  Zustande  von  Düsterheit  und  Ungewissheit  verweilen 
(indem  das  Aufeinanderfolgen  ihrer  Erscheinungen  noch  nicht  unter  feste  und 
erkennbare  Gesetze  gebracht  worden  ist),  meistens  von  einer  verwickelten  Natur, 
solche  in  denen  viele  Agentien  thätig  sind,  deren  Wirkungen  sich  fortwährend 
aufheben    oder  vermischen.     Die    Entwirrung   dieses   Knäuels    ist    eine  Aufgabe, 


III.    Induction  und  Deduction.  81 

Die  deductive  Methode  bestellt  aus  drei  Operationen:  die 
erste  ist  eine  directe  Induction,  die  zweite  eine  Folgerung, 
die  dritte  eine  Bestätigung.  Ich  nenne  den  ersten  Sehritt  in  dem 
Verfahren  eine  inductive  Operation,  weil  eine  directe  Induction  als  die 
Basis  des  Ganzen  vorhanden  sein  muss,  obgleich  in  vielen  besonderen 
Untersuchungen  die  Induction  von  einer  früheren  Deduction  vertreten 
werden  kann;  die  Prämissen  dieser  früheren  Deduction  müssen  aber 
von    einer  Induction   abgeleitet   sein.  Die  Gesetze  einer  jeden   be- 

sonderen Ursache,  die  Antheil  an  der  Erzeugung  der  Wirkung  nimmt, 
zu  ermitteln,  ist  daher  das  erste  Erfordernis»  (das  erste  Stadium)  der 
deductiven  Methode;  —  der  zweite  Theil  (das  zweite  Stadium)  der- 
selben ist  die  Bestimmung  aus  den  Gesetzen  der  Ursachen,  welche 
Wirkung  eine  gegebene  Combination  dieser  Ursachen  hervorbringen 
wird.  Dies  ist  ein  Process  der  Berechnung  in  dem  weitesten  Sinne 
des  Wortes,  und  schliesst  häufig  eine  Berechnung  in  dem  engeren 
Sinne  ein.  —  Den  dritten  wesentlichen  Bestandteil  (das  dritte  Sta- 
dium) der  deductiven  Methode,  und  ohne  welchen  alle  Resultate,  die 
sie  gewähren  kann,  keinen  anderen  Werth  haben,  als  den  einer  Ver- 
muthung,  bildet  die  Bestätigung  (Verification)  oder  Probe  der  Folgerung. 
Um  das  Vertrauen  auf  die  durch  Deduction  erhaltenen  allgemeinen 
Schlüsse  zu  rechtfertigen,  müssen  diese  Schlüsse  bei  einer  sorgfältigen 
Vergleichung  mit  den  Resultaten  der  directen  Beobachtung,  wo  man 
sie  immer  haben  kann,  übereinstimmend  befunden  werden."  John 
Stuart  Mill  (die  inductive  Logik.  Braunschweig,  1849;  p.  180,  181, 
187,  190). 

An  die  Spitze  dieses  Abschnittes,  welcher  die  höchst  wichtige 
und  nothwendige  Wechselwirkung  der  induetiven  und  der 
deductiven  Methode  erläutern  soll,  stellen  wir  die  Aussprüche  zweier 
ausgezeichneter  Männer,  von  denen  der  eine  als  „Naturforscher"",  der 
andere  als  „Philosoph"  die  grössten  Verdienste  hat.  Auf  den  ersten 
Blick  scheinen  sich  vielleicht  beide  geradezu  zu  widersprechen.  Schlei- 
den  preist  die  inductive,  Mill  die  deductive  Methode,  welche  diametral 
von  der  ersteren  verschieden  zu  sein  scheint,  als  die  ..allein  richtige" 
und  ausschliesslich  zu  befolgende  Methode  der  Naturwissenschaft.  In- 
dessen ergiebt  eine  genauere  Betrachtung  ihrer  Erklärungen  alsbald, 
dass  dieser  Gegensatz  nur  ein  theilweiser,  nur  insofern  vorhanden  ist; 


welche  von  Schwierigkeiten  begleitet  ist,  die,  wie  bereits  gezeigt  wurde,  nur 
durch  die  Deduction  allein  gelöst  werden  können.  Deduction  heisst  das 
grosse  wissenschaftli  che  W  erk  unserer  uud  der  zukünft igen  Zeiten. 
Der  Theil,  welcher  fortan  der  speeifischen  Erfahrung  bei  der  Vervollkommnung 
der  Wissenschaft  bewahrt  ist,  besteht  hauptsächlich  darin,  dass  sie  dem  deducti- 
ven Forscher  Winke  giebt,  die  er  zu  verfolgen  hat,  und  in  der  Bestätigung  oder 
Einschränkung  seiner  Schlüsse."  John  Stuart  Mill  (1.  c)  p.  223,  224. 
Haeckel,    Generelle  Morphologie.  Q 


82  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

als  Schi  ei  den  für  die  philosophische  Naturwissenschaft  eine  engere, 
Mill  eine  weitere  Grenze  der  Schlussfolgerung  aus  der  Beobachtung 
zieht.  Allerdings  will  der  erstere  zunächst  nur  die  Induction  gelten 
lassen  und  schliesst  die  Deduction  ganz  aus,  während  der  letztere 
die  Induction  ausdrücklich  nur  als  eine  Voraussetzung,  als  das  noth- 
wendige  „  erste  Stadium "  der  Deduction  gelten  lässt.  Nach  Seh  leiden 
würde  die  Erfahrung  nur  vom  Einzelnen  aus  in  das  Ganze,  vom  Be- 
sonderen aus  in  das  Allgemeine  gehen  und  nur  von  der  Wirkung  aus 
auf  die  Ursache,  von  der  Thatsache  ans  auf  das  Gesetz  schliesseu 
dürfen.  Nach  Mill  dagegen  darf  die  Naturwissenschaft  nicht  auf  die- 
ser Stufe  stehen  bleiben,  sondern  sie  darf  und  muss  auch  den  umge- 
kehrten Weg  der  Schlussfolgerung  gehen;  sie  darf  und  muss  von  dem 
Ganzen  auf  das  Einzelne,  von  dem  Allgemeinen  auf  das  Besondere 
schliessen;  sie  darf  und  muss  aus  der  Ursache  die  Wirkung,  aus  dem 
Gesetze  die  Thatsache  folgern  können. 

Die  hier  offen  zu  Tage  tretende  thatsächliche  Differenz  über  die 
wichtigste  Methode  der  Naturforschuug  zwischen  zwei  scharfsinnigen 
Männern,  die  beide  mit  tiefem  philosophischen  Blick  die  Geistesopera- 
tionen der  naturwissenschaftlichen  Schlussfolgerungen  untersucht  haben, 
ist  desshalb  für  uns  von  hohem  Interesse,  weil  sie  uns  auf  zwei  ver- 
schiedene Denkweisen  unter  den  biologischen  Naturforschern  hinweist, 
die  gerade  jetzt  im  Begriffe  sind,  sich  mit  irTebr  oder  weniger  klarem 
Bewusstsein  von  einander  zu  trennen  und  einseitig  sich  gegenüber  zu 
treten.  Es  kann  nämlich  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  von 
Schieiden  als  die  allein  richtige  Methode  gepriesene  Induction,  welche 
damals  allerdings,  den  phantastischen  Träumereien  und  den  unreifen 
Deductionen  der  früheren  Naturphilosophen  gegenüber,  vollkommen  am 
Platze  war,  durch  ihre  ausschliessliche  Geltung  sehr  viel  zu  der  ein- 
seitigen „  exaet-empirischen "  Richtung  beigetragen  hat,  die  in  den  letz- 
ten Decennien  mehr  und  mehr  die  herrschende  geworden  ist.  Indem 
man  hier  immer  allgemeiner  nur  die  Induction  allein  als  die 
„  eigentliche"  Methode  der  Naturforschung  gelten  Hess  und  die  Deduction 
völlig  ausschloss,  beraubte  man  sich  selbst  des  fruchtbarsten  Denk. 
processes,  der  gerade  in  den  biologischen  Disciplinen  zu  den  grössten 
Entdeckungen  führt,  Zum  Wenigsten  wollte  man  Nichts  von  dem- 
selben wissen,  wenn  gleich  man  unbewusst  sich  desselben  häufig  und 
mit  dem  grössten  Erfolge  bediente.  Denn  es  ist  nicht  schwer  nachzu- 
weisen, dass  die  wichtigsten  Entdeckungen,  welche  in  dem  letztver- 
flossenen Zeitraum  gemacht  wurden,  und  insbesondere  die  allgemeineren 
biologischen  Gesetze,  zu  denen  man  gelangte,  zwar  durch  vorhergehende 
und  höchst  wesentliche,  aber  nicht  durch  ausschliessliche  Hülfe  der  In- 
duction gemacht  wurden,   dass  vielmehr  fast  immer  die  der  Induction 


III.    Induction  und  Deduction.  83 

nachfolgende,  meist  unbewusste  Deduction  die  allgemeine  und  sichere 
Geltung  der  Erfahrung  erst  begründete. 

Wenn  die  Induction  ausschliesslich  in  dem  strengsten  Sinne,  wie 
Schieiden  will,  die  Methode  der  naturwissenschaftlichen  Untersuchung 
und  Schlussfolgerung  sein  und  bleiben  sollte,  so  würde  der  Fortschritt 
unserer  Erkenntnisse  und  ganz  besonders  der  Fortschritt  in  der  Fest- 
stellung allgemeiner  Gesetze  nur  ein  äusserst  langsamer  und  allmähliger 
sein;  ja,  wir  würden  sogar  zur  Aufstellung  der  allgemeinsten  und 
wichtigsten  Naturgesetze  niemals  gelangen,  und  den  allgemeinen  Zu- 
sammenhang der  grössten  und  umfassendsten  Erscheinungsreihen  nie- 
mals erkennen.  Zu  diesen  können  wir  immer  nur  durch  deductive 
Verstandes -Operationen  gelangen,  und  zwar  nur  durch  reichliche  und 
häufige,  allerdings  aber  auch  nur  durch  richtige  und  sehr  vorsichtige 
Anwendung  der  Deduction. 

Induction  und  Deduction  stehen  nach  unserer  Ansicht  in  der 
innigsten  und  notwendigsten  Wechselwirkung,  in  ähnlicher  Weise,  wie 
es  Goethe  von  der  Analyse  und  Synthese  ausspricht:  „Nur  Beide 
zusammen,  wie  Aus-  und  Ein-Athmen,  machen  das  Leben  der  Wissen- 
schaft." Mi  11  ist  sicher  im  vollkommensten  Rechte,  wenn  er  der  De- 
duction die  grösste  Zukunft  prophezeit,  und  die  Induction  vorzüglich 
nur  als  die  erste  Stufe,  als  das  erste  Stadium  der  Deduction  gelten 
lässt.  Diese  Vorbedingung  ist  für  eine  richtige  Deduction  aber  auch 
unerlässlich.  Entweder  muss  eine  directe  Induction  die  Basis  der  gan- 
zen deductiven  Operation  bilden,  oder  es  muss  statt  jener  directen 
Induction  eine  andere  Deduction  zu  Grunde  liegen,  die  selbst  wieder 
direct  oder  indirect  durch  eine  Induction  sicher  begründet  ist.  Es 
muss  also  in  allen  Fällen,  —  und  dies  hervorzuheben  ist  sehr  wichtig  — 
eine  Induction  die  Basis,  den  ersten  Schritt  des  ganzen  Schlussver- 
fahrens bilden,  und  erst  auf  dieser  Basis  kann  sich  dann  die  Deduction 
sicher  aufbauen. 

Es  wird  also  dadurch,  dass  man  die  deductive  Methode  als  die 
wichtigste,  fruchtbarste  und  bedeutendste  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung  hinstellt,  die  Bedeutung  der  inductiven  Methode  keineswegs 
geschmälert,  sondern  vielmehr  nur  insofern  moditicirt,  als  sie  die  not- 
wendige Basis,  die  unentbehrliche  Einleitung  der  ersteren  sein  muss. 
Wir  können  mithin  allgemein  aussprechen,  dass  die  Induction  die  erste, 
unentbehrlichste  und  allgemeinste  Methode  der  Naturforschung  sein 
muss,  dass  aber  die  letztere,  wenn  sie  zu  allgemeinen  Gesetzen  ge- 
langen, diese  mit  Sicherheit  beweisen  und  den  fundamentalen  und  all- 
gemeinen Zusammenhang  der  Erscheinungen  erkenneu  will,  nicht  bei 
der  Induction  stehen  bleiben  darf,  sondern  sich  zur  Deduction  wenden 
muss.  Die  Induction  gelangt  durch  vergleichende  Zusammenstellung 
vieler    einzelner    verwandter    specieller   Erfahrungen    zur    Aufstellung 

6* 


S4  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

eines  allgemeinen  Gesetzes.  Die  Deduction  folgert  aus  diesem  generellen 
Gesetze  eine  einzelne  specielle  Thatsache.  Wird  diese  letztere  nun 
nachher  durch  die  Erfahrung  als  wirklich  erwiesen,  so  war  die  de- 
ductive  Folgerung  richtig,  und  durch  die  Probe  oder  Verification, 
welche  diese  nachträgliche  Erfahrung  liefert,  ist  das  Gesetz  bestätigt, 
ist  die  allgemeine  Gültigkeit  des  Gesetzes  mit  weit  grösserer  Sicher- 
heit festgestellt,  als  es  durch  die  Induction  jemals  hätte  geschehen 
können. 

Eine  klare   und  vollständige  Erkenntniss  von    dem  Wesen   dieser 
beiden  wichtigsten  Verstandes -Operationen,   eine   vollkommene  Ueber- 
zeugung  von  der  Notwendigkeit  ihrer  präcisen  Anwendung,  und  eine 
richtige  Auffassung  des  innigen  gegenseitigen  Wechselverhältnisses,  in 
welchem  Induction  und  Deduction  zu  einander  stehen,  halten  wir   für 
äusserst  wichtig,  und  für  einen  jeden  Naturforscher,  der  die  Mittel  zur 
Lösung   seiner  Aufgabe  klar  erkennen  und   sein  Ziel  mit  Bewusstsein 
verfolgen  will,    ganz   unerlässlich.      Wenn    die   meisten  Naturforscher 
gegenwärtig  von  diesen  Methoden,   sowie  überhaupt  von   einer  streng 
philosophischen  Behandlung  ihrer  Aufgabe,    Nichts  wissen   und   leider 
auch    meist  Nichts    wissen    wollen ,    so   ist   es    ihr   eigener   schlimmer 
Nachtheil.      Denn    ^tatsächlich    können    sie    diese    beiden    wichtigsten 
Geistesoperationen  des   Naturforschers    nirgends   entbehren,    und  that- 
sächlich bedienen  sie  sich  derselben  fortwährend,  wenn  auch  ganz  un- 
bewusst,    und    daher    meist    unvollständig.      Inductive    und    deduetive 
Methode   sind  keineswegs,   wie  Viele  meinen,    besondere    Erfindungen 
der  Philosophen,    sondern  es  sind  natürliche  Operationen  des  mensch- 
lichen Geistes,   welche  wir    überall   und   allgemein,   wenn  auch  meist 
unklar,  unvollständig  und  unbewusst  anwenden.     Wenn  aber  die  wis- 
senschaftliche Anwendung  der  Induction   und  Deduction  mit  Bewusst- 
sein  erfolgt,    wenn    sich  der   Naturforscher    der  Bedeutung    und    des 
Nutzens,   der  Tragweite   und    der  Gefahren   dieser  Methoden   bewusst 
ist,    so  kann  er   sich   derselben   mit  weit  grösserem   Erfolge  und  mit 
weit  vollkommnerer  Sicherheit  bedienen,  als  wenn  er  sie  unklar,  unbe- 
wusst   und    daher    unvollständig    und    unvorsichtig    anwendet.     Jeder 
Wanderer,  der  auf  verwickelten  Wegen,    durch  Wald  und  Feld,    über 
Berg  und  Thal,  sein  Wanderziel  verfolgt,  erreicht  dasselbe  rascher  und 
sicherer,   mit  weniger  Gefahr  des  Irrthums  und   mit  geringerem  Zeit- 
aufwand, wenn  er  die  Wege  kennt,  als  wenn  sie  ihm  unbekannt  sind. 
Methoden,  und  zwar  ganz  vorzüglich  die  philosophischen  Methoden  der 
Naturwissenschaft,  sind  aber  nichts  Anderes,  als  Wege  der  Forschung, 
und  wer  diese  Wege  genau  kennt  und  mit  sicherem  Bewusstsein  ver- 
folgt,   wird    sein   wissenschaftliches  Ziel    ohne   Zweifel    immer  besser 
und  schneller  erreichen,  als  derjenige,  dem  diese  Kenntniss  der  richti- 
gen Wege  fehlt. 


III.    Iuduction  und  Deduction.  g5 

Obwohl  Induction  und  Deduction  zweifelsohne  die  wichtigsten  psychi- 
schen Functionen  des  erkennenden  Menschen,  und  vor  Allem  des  am  tief- 
sten und  gründlichsten  erkennenden  Menschen,  d.  h.  des  Naturforschers 
sind,  so  mangelt  es  dennoch  gänzlich  an  einer  gründlichen  psychologischen 
Erläuterung  derselben.  Freilich  geht  es  hier  diesen  beiden  Methoden  nicht 
viel  schlechter,  als  vielen  anderen  wichtigen  Denkprocessen.  Auf  eine 
wahrhaft  natürliche,  d.  h.  genetische  Erklärung  derselben  werden  wir  erst 
dann  hoffen  können,  wenn  ein  naturwissenschaftlich  und  namentlich  biologisch 
gebildeter  Philosoph,  d.  h.  ein  an  klares  strenges  Denken  gewöhnter  Naturfor- 
scher (eine  seltene  Erscheinung!)  endlich  einmal  eine  vergleichende  Psycho- 
logie schaffen  wird,  d.  h.  eine  Seelenlehre,  welche  die  gesammten  psychi- 
schen Functionen  durch  die  ganze  Thierreihe  und  namentlich  durch  die 
Stufenleiter  des  Wirbelthier-Stammes  hindurch  verfolgt  und  die  allmählige 
Differenzirung  derselben  bis  zu  ihrer  höchsten  Blüthe  im  Menschen  nach- 
weist. Da  diejenigen  Functionen  des  Centralnervensystems,  welche  man 
unter  dem  Namen  des  „Seelenlebens"  zusammenfasst,  durchaus  nach  den- 
selben Gesetzen  entstehen  und  sich  entwickeln,  durchaus  in  gleicher  Weise 
an  die  sich  diffcrenzirenden  Organe  gebunden  sind,  wie  die  übrigen  soma- 
tischen Functionen,  so  können  wir  zu  einer  richtigen  Erkenntniss  derselben 
(die  einen  Theil  der  Physiologie  bildet)  auch  nur  auf  dem  gleichen  Wege  wie 
bei  den  letzteren  gelangen,  d.  h.  auf  dem  vergleichenden  und  dem 
genetischen  Wege.  Nur  allein  die  Vergleichung  der  verschiedenen  Ent- 
wicklungsstufen des  Seelenlebens  bei  unseren  Verwandten,  den  übrigen 
Wirbelthieren,  das  Studium  der  allmähligen  Entwicklung  desselben  von 
frühester  Jugend  an  bei  allen  Vertebraten,  und  die  Herstellung  der  voll- 
ständigen Stufenleiter  von  allmähligen  Uebergangsformen,  welche  das  Seelen- 
leben von  den  niederen  zu  den  höheren  Wirbelthieren,  und  insbesondere 
von  den  niedersten  Säugethieren  an  bis  zu  den  höchsten,  von  den  Beutel- 
thieren  durch  die  Reihe  der  Halbaffen  und  Affen  hindurch  bis  zum  Men- 
schen darstellt  —  nur  allein  diese  auf  dem  vergleichenden  und  genetischen 
Wege  erlangten  psychologischen  Erkenntnisse  werden  uns  das  volle  Ver- 
ständniss  unseres  eigenen  Seelenlebens  eröffnen  und  uns  die  bewunderns- 
würdig weit  gehende  Differenzirung  der  psychischen  Functionen  erkennen 
lassen,  welche  uns  vor  allen  andern  Wirbelthieren  auszeichnet. ') 


')  Wenn  wir  hier  die  Differenzirung  und  Entwickelung  der  menschlichen 
Psyche  im  Ganzen  genommen  über  diejenige  aller  anderen  Wirbelthiere  stel- 
len ,  so  wird  vielleicht  die  vergleichende  und  genetische  Psychologie  diese  An- 
sicht künftig  insofern  einschränken ,  als  sie  darthuu ,  wird  dass  einzelne  See- 
lenerscheinungen, welche  deu  drei  Functionsgruppeu  des  Erkennens  (Denkens), 
Wollens  und  Empfindens  untergeordnet  sind,  bei  einzelnen  Wirbelthieren  hö- 
her als  beim  Menschen  entwickelt  sind.  Gegenwärtig  lässt  sich  über  diesen 
äusserst  wichtigen  und  interessanten  Gegenstand  fast  noch  Nichts  aussagen ,  da 
erst  sehr  wenige  ernste  Versuche  zu  einer  wissenschaftlichen,  d.  h.  ver- 
gleichenden und  genetischen  Psychologie  der  Wirbelthiere  ge- 
macht sind.  Der  gänzlich  nichtssagende  Ausdruck  „Instinkt,"  mit  welchem  man 
das  gesammte  Seeleuleben  der  Thiere,  gegenüber  dem  des  Menschen  zu  b^än^jahP  /TT" 


/4v°:xt 


86  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

Dass  die  induetive  und  deductive  Geistesoperation  bei  den  uns  nächst- 
verwandten Wirbelthieren  überall  nach  denselben  Gesetzen  und  in  derselben 
Weise,    wie  bei  uns  selbst,    zu  Stande  kommt  und  angewendet  wird,    und 
dass  hier  nur   quantitative,   keine  qualitativen  Differenzen  sich  finden,   lehrt 
jede   nur   einigermaassen   unbefangene   und    sorgfältige  Beobachtung,    z.  B. 
schon   bei  den   uns    am  meisten   umgebenden  Hausthieren.     Auch  hier  ge- 
hören induetive  und  deductive  Erkenntnisse  zu  den  allgemeinsten  und  wich- 
tigsten psychischen  Processen.     Wenn   z.  B.   Jagdhunde,  wie   bekannt,   in 
die  tödtlichste  Angst  gerathen,   sobald  der  Jäger  das   Schiessgewehr    auf 
sie  anlegt,   so   ist  diese  Erregung   die  Folge   eines  vollständigen  induetiven 
und    deduetiven   Denkprocesses.      Durch    zahlreiche    einzelne    Erfahrungen 
haben   sie   die   tödtliche  Wirkung   des  Schiessgewehrs   kennen  gelernt.     Sie 
schliessen   daraus,   dass   diese  Wirkung   stets   eintritt,    sobald   das  Gewehr 
auf  ein  lebendes  Wesen  gerichtet  wird.     Aus  diesem   als  allgemein  erkann- 
ten Gesetze  folgern  sie,  dass  in  diesem   speciellen  Falle   dieselbe  Wirkuug 
eintreten  werde,  und  wenn  der  Jäger  nun  wirklich  auf  sie  schösse,  so  hät- 
ten   sie    den    vollständigen    Beweis    von    der    Richtigkeit   ihres    deduetiven 
Schlusses   erhalten.     Auf   dieselben    psychischen   Operationen   gründet   sich 
auch  die   gesammte   Erziehung    der  Hausthiere,    wie    der   Menschenkinder, 
mittelst  der  gebräuchlichsten  und  allgemeinsten  Erziehungsmittel,  der  Schläge. 
Ein  Pferd  z.  B.  macht  in  zahlreichen  einzelnen  Fällen  die  Erfahrung,  dass 
mit  einem  bestimmten  Zurufe   des  Kutschers   Schläge   verbunden   sind,   die 
aufhören,   so   bald   es    sich   in    Trab  -setzt.     Es   folgert    daraus    durch    In- 
duetion  das  Gesetz  (die  Erziehungs-Maxime),   dass    diese  Schläge  constant 
und  allgemein  mit  dem  Zurufe  verbunden  sind,  und  setzt  sich,  um  jene  zu 
vermeiden,   späterhin  sofort  von   selbst  in  Trab,   sobald   der  Zuruf  ertönt. 
Das  Pferd  schliesst  hier  in  jedem   einzelnen  Falle  durch  Deduction  zurück, 
dass  auf  den  Zuruf  die  Schläge   erfolgen  werden,    und    wenn   sie   wirklich 
erfolgen,  so  war  die  Yerification  seiner  Deduction  geliefert. 

Diese  einfachen  Verhältnisse  der  Induction  und  Deduction,  welche  ge- 
wissermassen  eine  in  sich  selbst  zurücklaufende  Kette  von  Ideen -Associa- 
tionen herstellen  (indem  von  vielen  Einzelnen  auf  das  Allgemeine  geschlos- 
sen und  von  diesem  auf  ein  anderes  Einzelnes  zurück  geschlossen  wird), 
sind  ganz  dieselben,  welche  zur  Erkenntniss  der  complicirtesten  Ver- 
hältnisse und  zur  Entdeckung  der  wichtigsten  Gesetze  in  der  Naturwis- 
senschaft geführt  haben.     Vor  Allen  in  den  am  meisten  „exaeten"  Wissen- 


nen  pflegt,  ist  nur  ein  trauriger  Deckmantel  für  unsere  bodenlose  Unkenntniss. 
Wenn  man  freilich  bedenkt,  wie  gänzlich  verkehrt  noch  unser  gesammter  Jugend- 
unterricht ist,  wie  wir  von  den  Thieren ,  mit  denen  wir  leben,  und  die  unsere 
nächsten  Verwandten  sind,  fast  Nichts  lernen,  wie  unsere  sogenannten  „gebilde- 
ten" Gesellschaftsklassen  sich  in  der  gröbsten  Unkenntniss  der  Natur,  die  sie. 
umgiebt,  in  der  vollkommensten  Unklarheit  über  ihre  Beziehungen  zu  derselben 
befinden,  so  kann  man  sich  nicht  wundern,  wenn  gerade  über  diesen  wichtigsten 
Punkt,  über  die  qualitative  Uebereinstimmung  (und  die  nur  quantitative  Diffe- 
renz) der  menschlichen  und  thierischen  Psyche  die  verkehrtesten  Vorstellungen 
herrschen. 


III.    Induction  und  Deduction.  87 

schafteu,  in  der  Astronomie  und  Mechanik,  in  der  Chemie  und  Physik,  in 
der  Geologie  und  Mineralogie  wird  von  der  inductiven  und  der  ergänzen- 
den deductiven  Methode  allgemein  der  weiteste  und  fruchtbarste  Gebrauch 
gemacht.  Nur  in  den  biologischen  Wissenschaften,,  und  ganz  besonders  in 
der  Morphologie  der  Organismen,  besteht  noch  allgemein  eine  solche  Scheu 
vor  Anwendung  dieser  wichtigsten  Erkenntniss- Methoden,  dass  man  sich 
lieber  der  rohesten  und  gedankenlosesten  Empirie  in  die  Arme  wirft,  als 
dass  man  zu  ihnen  seine  Zuflucht  nähme.  Fragen  wir  nach  den  Gründen 
dieser  seltsamen  Erscheinung,  so  finden  wir  sie  auch  hier  wieder  theils  in 
der  allgemeinen  Abneigung  der  Biologen,  und  namentlich  der  Morphologen, 
gegen  alle  strengen  philosophischen  Methoden,  theils  in  der  Unkenntniss 
derselben,  theils  in  der  Furcht  vor  den  Schwierigkeiten  ihrer  Anwendung 
und  vor  den  Gefahren,  welche  dieselben  mit  sich  bringen. 

Nun  ist  es  allerdings  richtig,  dass  diese  Gefahren,  welche  in  der  na- 
türlichen Unvollständigkeit,  in  der  nur  annähernden  Sicherheit  der  inductiven 
und  deductiven  Methode  selbst  begründet  sind,  gerade  auf  dem  Gebiete 
der  organischen  Morphologie  grösser  sind,  als  irgendwo.  Denn  nirgends 
so  wie  hier  ist  einer  subjectiven  und  willkührlichen  Erkenntniss  Thür  und 
Thor  geöffnet;  nirgends  gelten  so  wenig  feste  unverbrüchliche  Gesetze  und 
Regeln  als  auf  diesem  Gebiete;  und  nirgends  so  wie  hier,  gehen  factisch 
die  Ansichten  der  verschiedenen  Naturforscher  über  eine  und  dieselbe  Sache 
auf  das  Weiteste  aus  einander.  Allein  wenn  auch  der  Weg  hier  besonders 
schlüpfrig  und  gefährlich,  wenn  der  Irrthum  und  Fehltritt  hier  besonders 
leicht  und  nahe  ist,  so  müssen  wir  dennoch  diesen  Weg  betreten,  als  den 
einzig  möglichen,  auf  dem  wir  überhaupt  vorwärts  kommen  können. 

Auf  allen  Gebieten  der  organischen  Morphologie,  in  der  Tectologie 
wie  in  der  Promorphologie,  in  der  Ontogenie  wie  in  der  Phylogenie,  überall 
werden  wir  der  Induction  und  der  darauffolgenden  Deduction,  deren  Veri- 
fication  selbst  erst  die  Induction  sicher  stellt,  den  weitesten  Spielraum 
gönnen,  die  allgemeinste  Anwendung  geben  müssen,  wenn  wir  überhaupt 
zu  unserm  Ziele,  zur  Erkenntniss  allgemeiner  Bildungsgesetze  gelangen 
wollen.  Kaum  werden  wir  aber  so  oft  und  so  allgemein  irgendwo  inductive 
und  deductive  Methode  verbunden  zur  Anwendung  bringen  müssen,  als  in 
der  Phylogenie,  in  der  paläontologischen  Entwickelungsgeschichte  und  der 
genealogischen  Verwandtschaftslehre  der  Organismen.  Hier  beruht  ge- 
radezu jeder  Fortschritt  zu  der  Erkenntniss  der  allgemeinen  Gesetze  auf 
der  weitesten  und  vollständigsten  Anwendung  der  Deduction.  Mit  der  In- 
duction allein  würden  wir  hier  keinen  Schritt  vorwärts  kommen.  Die  In- 
duction fusst  ausschliesslich  auf  der  unmittelbaren  sinnlichen  Wahrnehmung. 
Da  wir  nun  von  keinem  einzigen  fossilen,  ausgestorbenen  Organismus  den 
ganzen  Körper,  sondern  stets  nur  einzelne  Theile  desselben,  meist  sogar 
nur  unbedeutende  Fragmente  kennen,  so  müssen  wir  nothwendig  zur  Er- 
gänzung derselben  unsere  Zuflucht  zur  Deduction  nehmen.  Wir  haben  aus 
der  vergleichenden  Anatomie  der  lebenden  Verwandten  des  fossilen  Or- 
ganismus, von  dem  wir  nur  ein  kleines,  aber  charakteristisches  Fragment  be- 
sitzen, die  allgemeinen  Organisationsgesetze  inductiv  erschlossen,  welche 
dieser  ganzen  Gruppe  eigenthümlich  sind,  und  wir  folgern  daraus,  dass  auch 


3g  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

diese  ausgestorbene  Art  dieselben  Verhältnisse  gezeigt  haben  werde.  Fin 
den  wir  nun  nachträglich  noch  vollständigere  Reste  derselben,  welche  diese 
Folgerung  bestätigen,  so  ist  unsere  Deduction  vcrificirt.  Cuvier  hatte  durch 
die  genauesten  vergleichend  anatomischen  Untersuchungen  sich  (auf  in- 
ductivem  Wege)  eine  vollständige  Kenntniss  vom  Bau  der  Beutelthiere  ge- 
bildet. Als  ihm  eines  Tages  ein  fossiler  Unterkiefer  gebracht  wurde,  schloss 
er  aus  einer  gewissen  Formeigenthümlichkeit  desselben  sofort  (auf  deductivem 
Wege),  dass  derselbe  einem  Beutelthier  angehöre,  und  die  nachfolgende 
Ausgrabung  des  ganzen  Skelets  verificirte  diese  Deduction  vollständig, 
machte  die  Probe,  die  zu  seiner  Rechnung  stimmte. 

In  äusserst  zahlreichen  Fällen  bilden  wir  uns  auf  vergleichend  ana- 
tomischem und  embryologischem  Wege,  durch  Induction,  bestimmte  allge- 
meine Vorstellungen  von  den  natürlichen  Verwandtschaftsverhältnissen  gan- 
zer Organismen-Gruppen.  Diese  drücken  wir  am  kürzesten  und  anschau- 
lichsten dadurch  aus,  dass  wir  dieselben  in  Form  eines  Stammbaums,  einer 
genealogischen  Tabelle  zusammenstellen.  Niemals  aber  ist  dieser  Stamm- 
baum vollständig,  indem  immer  zahlreiche  (lebende  oder  fossile)  Ueber- 
gangsglieder  zwischen  den  verwandten  Formen  fehlen.  Durch  Deduction 
schliessen  wir  auf  die  (jetzige  oder  frühere)  Existenz  dieser  verbindenden 
Uebergangsglieder,  und  wenn  dieselben  (wie  das  schon  oftmals  geschehen 
ist)  nachträglich  wirklich  entdeckt  werden,  so  ist  unsere  Deduction  durch 
die  nachfolgende  Verification  auf  das  Glänzendste  gerechtfertigt. 


Viertes  Capitel:   Zweite  Hälfte. 

Kritik    der    naturwissenschaftlichen  Methoden,    welche   sich  gegen- 
seitig   NOTHWENDIG    AUSSCHLÜSSEN    MÜSSEN. 


IV.   Dogmatik  und  Kritik. 

„In  aller  Bearbeitung  der  Wissenschaften  treten  sich  stets  zwei 
Methoden  als  unmittelbare  Gegensätze  gegenüber.  Einerseits  ist  es 
die  dogmatische  Behandlung,  die  schon  Alles  weiss,  der  mit  ihrem 
augenblicklichen  Standpunkt  die  Geschichte  ein  Ende  erreicht  hat, 
die  ihre  Weisheit  wohl  vertheilt  und  wohl  geordnet  vorträgt,  und  von 
ihren  Schülern  keinen  andern  Bestimmungsgrund  zur  Annahme  des 
Gehörten  fordert,  als  das  avzog  e<pa.  Dieser  in  ihrem  ganzen  Wesen 
falschen  Weise  tritt  nun  die  andere  entgegen,  die  wir  für  die  reine 
Philosophie  die  kritische,  für  die  angewandte  Philosophie  und  für 
die  Naturwissenschaften  die  inductorische  Methode  nennen;  die  sich  be- 
scheidet noch  wenig  zu  wissen;  die  ihren  Standpunkt  von  vornherein 
nur  als  eine  Stufe  in  der  Geschichte  der  Menschheit  ansieht,  über 
welche  hinaus  es  noch  viele  folgende  und  höhere  giebt,  die  aber  frei- 


IV.    Dogmatik  und  Kritik.  g9 

lieh  nur  als  ihr  folgende  angesehen  werden  können;  und  die  ihre 
Schüler  auffordert,  sie  zu  begleiten  und  unter  ihrer  Anleitung  im  eige- 
nen Geist  und  in  der  Natur  zu  suchen  und  zu  finden."')  Schiei- 
den (Grundzüge  der  wissensch.  Botanik,  III.  Aufl.  p.  4). 

Obgleich  es  wohl  nach  dem  vorstehenden  Ausspruche  Seh  leid  ens, 
der  den  Gegensatz  zwischen  kritischer  und  dogmatischer  Methode 
scharf  characterisirt,  scheinen  könnte,  als  ob  die  kritische  Methode  mit 
der  im  vorigen  Abschnitte  erläuterten  induetiven  Methode  identisch 
sei,  so  glauben  wir  doch,  dass  man  richtiger  die  letztere  nur  als 
einen  Inhaltstheil  der  ersteren,  als  eine  ihr  subordinirte  Methode  auf- 
fasst.  Der  Umfang  des  Begriffs  der  „Kritik"  ist  weiter,  als  derjenige 
der  „Induction",  und  nach  unserer  Ueberzeugung  muss  auch  die  De- 
duetion,  welche  doch  von  der  Induction  wesentlich  verschieden  und  ihr 
gewissermaassen  entgegengesetzt  ist  (indem  sie  umgekehrt  verfährt), 
stets  nicht  minder  „  kritisch "  zu  Werke  gehen,  als  die  Induction  selbst. 
Wir  halten  es  daher  nicht  für  überflüssig,  die  Bedeutung  der  kritischen 
Forschungsmethode  hier  noch  besonders  zu  erörtern;  um  so  mehr,  als 
einerseits  wir  im  vorigen  Abschnitt  die  Induction  nur  im  Gegensatz 
zur  Deduction  (und  nicht  zur  Dogmatik)  besprochen  haben,  anderer- 
seits aber  die  nur  allzuhäufige  Vernachlässigung  der  kritischen  Methode 
den  biologischen  Naturwissenschaften,  und  ganz  besonders  den  ver- 
schiedenen Zweigen  der  organischen  Morphologie  offenbar  gescha- 
det hat. 

Denn  wenn  man  die  vielen  grundverschiedenen  Ansichten  über- 
blickt und  vergleicht,  welche  von  den  verschiedenen  Morphologen  zur 
Erklärung  sowohl  zahlloser  Einzel -Erscheinungen  als  auch  grösserer 
Erscheinungsreihen  auf  dem  botanischen  und  zoologischen  Gebiete  auf- 
gestellt worden  sind,  so  erkennt  man  bald,  dass  nicht  bloss  die  Schwierig- 
keit des  höchst  verwickelten  Gegenstandes  selbst,  sondern  mehr  noch 
Mangel  an  allgemeinem  Ueberblick,  und  vor  Allem  Mangel  an  Kritik 
diese  grellen   und  seltsamen  Widersprüche  bedingt.     Statt  umsichtiger 


')  „Freilich  ist  die  dogmatische  Methode  in  ihrer  strengsten  Consequenz 
eine  an  sich  unmögliche,  und  jeder  Einzelne,  der  ihr  anhängt,  muss  immer  mehr 
oder  weniger  eine  Zeit  lang  der  kritischen  Methode  gefolgt  sein,  um  nur  zur 
dogmatischen  Behandlungsweise  kommen  zu  können;  und  seine  wissenschaftliche 
Thätigkeit  wird  daher  sehr  verschiedene  Abstufungen  darbieten,  je  nachdem  er 
mehr  oder  weniger  die  allein  richtige  kritische  Methode  in  Anwendung  gebracht 
und  in  seiner  Darstellung  durchscheinen  lässt.  Verfolgen  wir  nun  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  die  Geschichte  der  Menschheit,  so  sehen  wir,  wie  aller  Fort- 
schritt in  den  einzelnen  Disciplinen  immer  nur  an  die  Herrschaft  der  induetiven 
und  kritischen  Methoden  geknüpft  ist,  und  wie  sich  die  einzelnen  Methoden  erst 
ganz  allmählig  eine  nach  der  anderen  das  Bewusstsein  der  allein  richtigen  Me- 
thode erobern."     Sc  hl  ei  den  (I.e.)  p.  5. 


90  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

und  auf  breite  inductive  Basis  wohl  begründeter  Theorieen,  treffen  wir 
vielmehr  fast  allenthalben  höchst  vage  Hypothesen  von  durchaus  dog- 
matischen] Character  an;  ja  bei  aufrichtiger  Prüfung  des  gegenwärtigen 
Zustaudes  unserer  Wissenschaft  müssen  wir  zu  unserni  Leidwesen  ge- 
stehen, dass  überall  in  derselben  die  dogmatische  Richtung  noch  weit 
über  die  kritische  überwiegt. 

Leider  ist  dieser  höchst  schädliche  Mangel  an  Kritik  so  allge- 
mein und  hat  insbesondere  in  den  letzten  Decennien,  gleichzeitig 
und  in  gleichem  Schritt  mit  dem  extensiven  Wachsthum  und  der  da- 
mit verbundenen  Verflachung  der  organischen  Morphologie,  so  sehr  zu- 
genommen, dass  wir  kein  einzelnes  Beispiel  anzuführen  und  den  un- 
parteiischen Leser  bloss  zu  ersuchen  brauchen,  einen  Blick  in  eine  belie- 
bige Zeitschrift  für  „wissenschaftliche"  Zoologie  oder  Botanik  zu  werfen,  um 
sich  von  dem  dogmatischen  und  kritiklosen  -Character  der  meisten 
Arbeiten  zu  überzeugen.  Nirgends  aber  tritt  dieser  Character  so  nackt 
und  abschreckend  zu  Tage,  als  in  der  Mehrzahl  derjenigen  Schriften, 
welche  die  Species-Frage  behandeln,  und  insbesondere  in  denjenigen, 
welche  die  Descendenz-Theorie  zu  bekämpfen  suchen.  Dass  gerade  in 
dieser  hochwichtigen  allgemeinen  Frage  die  gänzlich  dogmatische 
und  kritiklose  Richtung  der  organischen  Morphologie  in  ihrer  ganzen 
Blosse  und  Schwäche  auftritt,  kann  freilich  Niemanden  überraschen, 
der  durch  eigene  systematische  Studien  sich  einen  Begriff  von  dem 
ausserordentlichen  Gewicht  dieser  allgemeinen  Frage  gebildet  und  da- 
bei die  Ueberzeugung  gewonnen  hat,  dass  hier  ein  einziges  colossales 
Dogma  die  gesammte  Wissenschaft  nach  Art  des  drückendsten  Ab- 
solutismus beherrscht.  Denn  nur  als  ein  colossales  Dogma, 
welches  ebenso  durch  hohes  Alter  geheiligt,  und  durch  blin- 
den Autoritätenglauben  mächtig,  wie  in  seinen  Praemissen 
haltlos  und  in  seinen  Consequenzen  sinnlos  ist,  müssen  wir 
hier  offen  die  gegenwärtig  immer  noch  herrschende  An- 
sicht bezeichnen,  dass  die  Species  oder  Art  constant  und 
eine  für  sich  selbstständig  erschaffene  Form  der  Organi- 
sation ist. 

„Immerfort  wiederholte  Phrasen  verknöchern  sich  zuletzt  zur  Ueber- 
zeugung und  verstumpfen  völlig  die  Organe  des  Anschaueus."  Dieses 
goldene  Wort  Goethe*s  findet  nirgends  in  höherem  Grade  Geltung, 
als  in  dieser  Frage.  In  der  T  hat,  wenn  man  mit  kritischer  Vorurtheils- 
losigkeit  unbefangen  alle  Voraussetzungen  erwägt,  auf  welche  die  An- 
hänger des  Species-Dogma  sich  stützen,  und  die  Folgerungen  zieht, 
welche  nothwendig  aus  demselben  gezogen  werden  müssen,  so  begreift 
man  nur  durch  Annahme  „einer  völligen  Verstumpfung  der  Organe 
des  Anschauens/'  wie  dieses  in  sich  hohle  und  widerspruchsvolle  Dogma 
130  Jahre  hindurch  fast  unangefochten  bestehen,  und  wie  dasselbe  nicht 


IV.    Dogmatik  und  Kritik.  91 

allein  die  Masse  der  gedankenlosen  Naturbeobachter,  sondern  auch  die 
besten  und  denkendsten  Köpfe  der  Wissenschaft  beherrschen  konnte. 
Seltsames  Schauspiel !  Einem  Götzen  gleich  steht  allmächtig  und  all- 
beherrschend dieses  paradoxe  Dogma  da,  welches  Nichts  erklärt  und 
Nichts  nützt,  und  welches  zu  der  Gesainmtheit  aller  allgemeinen  bio- 
logischen Erscheinungsreihen  sich  im  entschiedensten  Widerspruche 
befindet.  Während  alle  einzelnen  grösseren  und  kleineren  Thatsachen- 
Reihen,  welche  auf  dem  Gebiete  der  Biologie,  und  namentlich  der  Mor- 
phologie, seit  mehr  als  hundert  Jahren  sich  so  massenhaft  angehäuft 
haben,  übereinstimmend  und  gleichsam  spontan  zu  dem  grossen  Re- 
sultate hinleiten,  dass  die  unendliche  Mannichfaltigkeit  der  Thier-  und 
Pflanzen-Formen  die  reich  differenzirte  Nachkommenschaft  einiger  we- 
niger einfacher  gemeinsamer  Stammformen  sei,  während  alle  anatomi- 
schen und  embryologischen,  alle  paläontologischen  und  geologischen 
Data  ebenso  einfach  als  nothwendig  auf  dieses  gewaltige  Resultat  hin- 
arbeiten, bleibt  die  entgegengesetzte,  rein  dogmatische  und  durch  keine 
Thatsachen  gestützte  Ansicht  über  ein  Jahrhundert  lang  allgemein  herr- 
schend!    Credunt,  quia  absurdum  est! 

In  Wahrheit  ist  diese  Betrachtung  für  die  Geschichte  der  Wissen- 
schaft von  hohem  Interesse,  und  keine  andere  kann  uns  in  so  hohem 
Grade  vor  den  Gefahren  und  Nachtheilen  einer  dogmatischen  und  le- 
diglich durch  die  Autorität  gestutzten  Anschauungsweise  warnen,  und 
so  nachdrücklich  auf  die  Notwendigkeit  einer  strengen  kritischen 
Untersuchungsmethode  hinweisen.  Wären  die  Morphologen  nur  mit 
etwas  mehr  Kritik  verfahren  und  hätten  sie  die  Autorität  des  Species- 
Dogma  nur  etwas  weniger  gefürchtet,  so  hätte  dasselbe  schon  längst 
in  sich  zusammenstürzen  müssen.  Und  wieviel  weiter  wären  wir  da- 
durch gekommen!  So  aber  bewährt  sich  auch  hier  wieder  der  alte 
Spruch  von  Goethe:  „Die  Autorität  verewigt  im  Einzelnen,  was  ein- 
zeln vorüber  gehen  sollte,  lehnt  ab  und  lässt  vorüber  gehen,  was  fest- 
gehalten werden  sollte,  und  ist  hauptsächlich  Ursache,  dass  die  Mensch- 
heit nicht  vom  Flecke  kommt." 

Wenn  wir  näher  nach  den  Ursachen  fragen,  welche  dem  Dogmatismus 
auf  dem  biologischen  Gebiete  eine  so  ausgedehnte  Herrschaft  und  eine  so 
feste  Geltung  verschafft  haben,  so  finden  wir  sie  auch  hier  wieder  vorzugs- 
weise in  dem  Mangel  an  allgemeiner  philosophischer  Vorbildung 
bei  den  meisten  biologischen  Naturforschern,  und  in  der  merkwürdigen  Un. 
klarheit,  in  welcher  sich  dieselben  nicht  allein  über  die  eigentlichen  Ziele 
ihrer  Wissenschaft,  sondern  auch  über  die  allein  richtigen  Wege,  auf  denen 
sie  diese  Ziele  erreichen  können,  befinden.  Der  hochmüthige  und  thörichte 
Dünkel,  mit  welchem  die  meisten  Biologen  auf  jede  „ Philosophie "  herab- 
sehen, bestraft  sich  selbst  zunächst  durch  den  grossen  Schaden,  den  ihnen 
diese  Verschmähung  ihres  besten  und  wichtigsten  Untersuchungs-  Instru- 
ments unmittelbar  bringt.     Lieber  wollen  sie  ihren  schwierigen  und  an  ver- 


92  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

führeaden  Irr- Pfaden  so  reichen  Weg  allein  und  im  Dunkeln  gehen,  als  ge- 
führt und  erleuchtet  von  dem  sicheren  Lichte  einer  wahrhaft  philosophi- 
schen Untersuchungsmethode.  Lieber  werfen  sie  sich,  an  einem  hohen  Berge 
von  unerklärten  Thatsaehen  angelangt,  zur  Umgehung  desselben  dem  ersten 
besten  Dogma  in  die  Arme,  als  dass  sie  sich  von  einer  streng  kritischen 
und  philosophischen  Methode  zur  Entdeckung  der  in  demselben  verborge- 
nen werthvollen  Schätze,  der  Gesetze  leiten  Hessen.  Freilich  spielt  auch 
hier  wieder  nicht  allein  der  Mangel  an  philosophischer  Einsicht,  son- 
dern auch  die  schon  früher  gerügte  Denkträgheit  eine  sehr  schädliche 
Rolle.  Die  Anstrengung  des  erkennenden  Geistes,  welche  eine  streng 
denkende  und  kritische  Naturbetrachtung  nothwendig  verlangt,  ist  der  Mehr- 
zahl der  Biologen,  und  namentlich  der  Morphologen,  viel  zu  unbequem; 
weit  bequemer  ist  es,  Thatsaehen  unmittelbar  „exaet"  zu  beobachten  und  zu 
beschreiben,  und  statt  nach  einer  induetiven  Erklärung  zu  suchen,  sich  dog- 
matisch dem  ersten  besten  Einfalle  zu  überliefern.  Dazu  kommt,  dass  die 
Meisten  keine  Ahnung  davon  haben,  wie  ausserordentlich  schädlich  diese 
dogmatische  Richtung  der  organischen  Morphologie  wirkt.  Und  doch  geht 
dies  so  deutlich  aus  dem  traurigen  Zustande  hervor,  in  dem  sich  der  allge- 
meine Theil  unserer  Wissenschaft,  trotz  der  zahllosen  einzelnen  und  be- 
sonderen Arbeiten,  immer  noch  befindet.  Dem  weitverbreiteten  Mangel  an 
Kritik  müssen  wir  es  wesentlich  mit  zuschreiben,  dass  es  hier  an  allgemei- 
nen Bildungsgesetzen  fast  noch  gänzlich  fehlt,  und  dass  wir  nur  so  selten 
dazu  gelangen  können,  aus  einer  grösseren  Reihe  von  höchst  specielleu  Ar- 
beiten über  einen  und  denselben  Gegenstand  uns  eine  sichere  allgemeine 
Vorstellung  über  denselben  zu  bilden. 

Eine  mit  dieser  Denkträgheit  eng  verbundene  weitere  Ursache  jener 
herrschenden  dogmatischen  Richtung  und  zugleich  eine  Ursache,  welche 
derselben  zur  theilweisen  Entschuldigung  dienen  kann,  liegt  in  dem  starken 
conservativen  Hange  und  in  dem  Autoritätenglauben,  welche  der  mensch- 
lichen Natur  so  fest  anhaften,  und  welche  zwei  ihrer  nachtheiligsten  und 
dunkelsten  Schattenseiten  bilden.  Wohl  auf  keinem  Gebiete  der  Naturfor- 
schung sind  dieselben  stets  so  einflussreich  gewesen  und  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  so  mächtig  geblieben,  als  auf  dem  der  Biologie ,  und  vor  Allem 
der  Morphologie  der  Organismen.  Hier  mehr  als  irgendwo  gilt  ein  Dogma 
schon  desshalb  für  heilig  und  unantastbar,  weil  es  sich  eine  gewisse  Reihe 
von  Jahren  hindurch  einer  allgemeinen  Geltung  erfreut  hat,  und  eine  dog- 
matische Hypothese  schon  desshalb  für  unangreifbar,  weil  eine  bedeutende 
Autorität,  ein  Coryphaee  der  Wissenschaft  sie  aufgestellt  hat.  In  dieser 
Beziehung  sind  die  abiologischen  Wissenschaften  den  biologischen  weit 
voraus,  und  während  in  der  Krystallographie,  in  der  abiologischen  Chemie 
und  in  der  Physik  von  einer  dogmatischen  Richtung  kaum  noch  die  Rede 
ist,  erscheint  uns  die  organische  Morphologie,  die  biologische  Chemie  und 
die  Physiologie  noch  als  ein  weiter  Tummelplatz  der  haltlosesten  und  ver- 
schiedenartigsten sich  bekämpfenden  Dogmen.  Wie  ausserordentlich  schwierig- 
es hier  auch  der  bestgewaffneten  Kritik  wird,  vorzudringen,  weiss  nur  der- 
jenige, der  selbst  einmal  den  Kampf  mit  einem  eingewurzelten  Dogma  auf- 
genommen hat.     In  dieser  Beziehung  gleicht  die  ganze  organische  Morpho- 


IV.     Dogmatik  und  Kritik.  93 

logie  einem  dichten  und  undurchdringlichen  Urwald,  in  welchem  parasitische 
Lianeustämme  die  mächtigsten  und  gesundesten  Bäume  umschlingen  und 
erdrücken,  und  in  welchem  das  dichte  Gewirr  der  Schlingpflanzen,  das  alle 
Zwischenräume  ausfüllt,  keinen  Lichtstrahl  in  das  unheimliche  Dunkel  fallen 
lässt.  Was  vermag  solchem  undurchdringlichen  Gestrüpp  gegenüber  die 
kritische  Axt  eines  Einzelnen,  wenn  sie  auch  noch  so  scharf  geschliffen  wäre  ? 
Allein  den  kommenden  Generationen  der  jungen  Ansiedler,  die  hier  Schritt 
für  Schritt  mit  klarem  kritischen  Scharfblick  und  das  bewusste  Ziel  fest  im 
Auge  vordringen,  wird  es  gelingen,  diesen  Urwald  der  dogmatischen  Vor- 
urtheile  zu  lichten,  und  die  kritische  Axt  an  die  faulen  Stämme  der  alten 
Autoritäten  zu  legen. 

Verfolgt  man  eines  der  zahlreichen  Dogmen,  von  denen  es  in  der 
Morphologie  wimmelt,  näher  bezüglich  seiner  Entstehung,  so  gewahrt  man 
alsbald,  dass  dabei  theils  absolute  Willkühr,  theils  aber  auch  unrichtige 
und  unvollkommene  Methode  der  Schlussfolgerung  im  Spiele  ist.  So  ist  es 
vor  Allem  mit  dem  allmächtigen  und  weitest  verbreiteten  Dogma  von  der 
Constanz  und  Selbstständigkeit  der  Species.  Bei  diesem,  wie  bei  den  mei- 
sten anderen  derartigen  Dogmen  ist  es  weniger  die  reine  Willkühr  eines 
Phantasiegebildes,  welche  demselben  Dauer  und  Geltung  verleiht,  als  viel- 
mehr die  scheinbare  Begründung  des  Dogma  durch  eine,  allerdings  mei- 
stens höchst  unvollständige  und  unreine  Induction.  Wie  Schi  ei  den  sehr 
richtig  bemerkt,  ist  die  dogmatische  Methode  in  ihrer  strengsten  Consequenz 
eine  an  sich  unmögliche,  und  man  muss  immer  mehr  oder  weniger  eine  Zeit 
lang  der  kritischen  Methode  gefolgt  sein,  um  nur  zur  dogmatischen  Be- 
handlungsweise  kommen  zu  können.  Schlagend  zeigt  sich  hier  wieder  der 
grosse  Schaden,  den  die  Vernachlässigung  einer  streng  denkenden  Unter- 
suchungsmethode und  die  Verachtung  der  nothweudigen  philosophischen 
Vorbildung  den  Morphologen  selbst  zufügt.  Freilich  sind  sie  beständig  ge- 
zwungen, mit  dem  unentbehrlichen  philosophischen  Rüstzeug  zu  operiren: 
sie  bilden  aus  den  unmittelbaren  sinnlichen  Wahrnehmungen  durch  Ab- 
straction  die  Begriffe,  sie  verbinden  die  Begriffe  zu  Urtheilen,  und  ziehen 
aus  der  Combination  der  Urtheile  ihre  inductiven  Schlüsse.  Statt  aber 
diese  wichtigsten  Geistes-Operationen  mit  klarem  Bewusstsein  vorzunehmen, 
sich  ihrer  hohen  Bedeutung  bewusst  zu  werden,  ziehen  es  die  Meisten  vor,  sie 
ganz  unverstanden  zu  gebrauchen;  und  daist  es  denn  nicht  zu  verwundern, 
dass  die  kritische  Erkenntniss  des  rechten  Weges  und  Zieles  verloren  geht, 
und  dass  sich  der  Verstand  auf  dogmatische  Abwege  verliert.  Wie  viele 
Thorheiten  und  Irrthümer  wären  der  biologischen  Naturwissenschaft  erspart 
worden,  wenn  die  richtige  Erkenntniss  dieses  Verhältnisses  eine  allge- 
meinere gewesen  wäre,  wenn  man  sich  den  kritischen  Weg,  der  allein  zum 
Ziele  führt,  klar  gemacht  und  dadurch  die  nöthige  Vorsicht  gegen  die 
vielen  verführerischen  Seitenpfade  der  dogmatischen  Richtung  gewonnen 
hätte,  die  nirgends  so  häufig  und  so  gefährlich  sind,  als  auf  dem  weiten 
und  vielgestaltigen  Boden  der  organischen  Morphologie.  Erfreuliche  Re- 
sultate für  diese  können  wir  erst  dann  erwarten,  wenn  allgemein  kritische 
Induction  und  Deduction  als  ausschliessliche  Methode  angewandt,  und  die 
dogmatische  Methode  in  den  Bann  gethan  wird. 


94  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

V.    Teleologie  und  Causalität. 

(Vitalismus  und  Mechanismus.) 

..Ein  mechanisches  Kunstwerk  ist  hervorgebracht  nach  einer  dem 
Künstler  vorsehwebenden  Idee,  dem  Zwecke  seiner  Wirkung.  Eine 
Idee  liegt  auch  jedem  Organismus  zu  Grunde,  und  nach  dieser  Idee 
werden  alle  Organe  zweckmässig  organisirt;  aber  diese  Idee  ist  ausser 
der  Maschine,  dagegen  in  dem  Organismus,  und  hier  schafft  sie  mit 
Notwendigkeit  und  ohne  Absicht.  Denn  die  zweckmässig  wir- 
kende wirksame  Ursache  der  organischen  Körper  hat  keinerlei  Wahl, 
und  die  Verwirklichung  eines  einzigen  Plans  ist  ihre  Notwendigkeit; 
vielmehr  ist  zweckmässig  wirken  und  nothwendig  wirken  iu 
dieser  wirksamen  Ursache  ein  und  dasselbe.  Man  darf  daher 
die  organisirende  Kraft  nicht  mit  etwas  dem  Geistesbewusstsein  Ana- 
logen, man  darf  ihre  blinde  nothweudige  Thätigkeit  mit  keinem  Begriff- 
bilden vergleichen.  Organismus  ist  die  factische  Einheit  von  organi- 
scher Schöpfungskraft  und  organischer  Materie."  Johannes  Müller 
(Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen,  I,  p.  23;  II,  p.  505). 

Indem  wir  in  die  Untersuchung  des  äusserst  wichtigen  Gegen- 
satzes zwischen  der  teleologischen  oder  vitalistischen  und  der  mecha- 
nischen oder  causalistischeu  Naturbetrachtung  eintreten,  schicken  wir 
einen  Ausspruch  Johannes  Müller's  voraus,  der  für  das  Wesen  die- 
ses Gegensatzes  sehr  characteristisch  ist.  Johannes  Müller,  den 
wir  als  den  grössten  Physiologen  und  Morphologen  der  ersten  Hälfte 
unseres  Jahrhunderts  verehren,  war  bekanntlich  seiner  innersten  Ueber- 
zeugung  nach  Vitalist,  trotzdem  er  mehr  als  irgend  ein  anderer  Phy- 
siolog  vor  ihm,  für  den  Durchbruch  der  mechanischen  Richtung  in  der 
Physiologie  gethan  und  in  einer  Reihe  der  glänzendsten  und  vorzüg- 
lichsten Arbeiten  auf  allen  einzelnen  physiologischen  Gebietstheilen  die 
alleinige  Anwendbarkeit  der  mechanischen  Methode  bewiesen  hatte. 
Es  begegnete  ihm  nur  bisweilen,  wie  auch  anderen  in  diesem  dualisti- 
schen Zwiespalt  befangenen  Naturforschern,  dass  er  auch  in  seinen 
allgemeinen  Aussprüchen,  die  doch  eigentlich  von  vitalistischen  Grund- 
lagen ausgingen,  sich  von  der  allein  richtigen  mechanischen  Beurthei- 
lungsweise  auch  der  organischen  Naturkörper  fortreissen  liess.  Und 
als  ein  solcher  Ausspruch  ist  die  obige  Stelle,  durch  welche  er  seine  Be- 
trachtungen über  das  Seelenleben  einleitet,  von  besonderem  Interesse. '). 


')  Aehnliche  innere  Widersprüche  lassen  sich  häutig  und  leicht  bei  vielen 
geistvollen  Naturforschern  nachweisen,  welche,  theils  in  Folge  vieler  von  früher 
Jugend  an  tief  eingesogener  Vorurtheile,  theils  in  Folge  eines  Ueberwiegeus  der 
Gemüths-Bedürfnisse  über  die  Verstaudes-Erkenutuisse,  im  Allgemeinen  zwar 
einer  teleologischen  oder  vitalistischen  Richtung  zugethau  sind,  im  Einzelnen 
aber  dennoch   stets   gezwungen   sind,  die  mechanische    oder  causalistische  Rieh- 


V.    Teleologie  und  Oausalität.  95 

Denn  was  ist  eine  in  jedem  Organismus  liegende  „Idee,  welche 
mit  Notwendigkeit  und  ohne  Absicht  wirkt,"  anders,  als  die 
mit  dem  materiellen  Substrate  des  Organismus  unzertrennlich  verbun- 
dene Kraft,  welche  „mit  Notwendigkeit  und  ohne  Absicht"  sämmtliche 
biologische  Erscheinungen  bedingt?  Wenn,  wie  Müller  sagt,  zweck- 
mässig wirken  und  nothwendig  wirken  in  dieser  wirksamen  Ursache 
im  Organismus  eines  und  dasselbe  ist,  so  fällt  die  zweckthätige  Causa 
finalis  mit  der  mechanischen  Causa  efficiens  zusammen,  so  giebt 
die  erstere  sich  selbst  auf,  um  sich  der  letzteren  unterzuordnen ,  so  ist 
die  mechanische  Auffassung  der  Organismen  als  die  allein  richtige 
anerkannt. 

Wir  haben  absichtlich  das  Beispiel  Johannes  Müllers  ge- 
wählt, um  diesen  inneren  Widerspruch  der  teleologischen  Naturbe- 
trachtung  zu  zeigen,  einerseits  weil  dieser  unser  grosser  Meister, 
der  so  erhaben  über  der  grossen  Mehrzahl  der  heutigen  Physiologen 
und  Morphologen  dasteht,  von  vielen  schwächereu  Geistern  als  Autorität 
zu  Gunsten  der  Teleologie  angerufen  wird,  andererseits  weil  an  ihm 
sich  dieser  innere  Widerspruch  recht  auffallend  offenbart.  Wer  sein 
klassisches  „Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen "  studirt  hat, 
wer  seine  bahnbrechenden,  mechanischen  Untersuchungen  über  die 
Physiologie  der  Stimme  und  Sprache,  des  Gesichtssinns  und  des  Ner- 
vensystems etc.  kennen  gelernt  hat,  der  wird  von  der  allein  möglichen 
Anwendung  der  causal- mechanischen  Untersuchungs-Methode  des  Or- 
ganismus aufs  tiefste  durchdrungen  sein;  und  er  wird  sich  in  dieser 
Ueberzeugung   durch  die  vitalistisch -teleologischen  Irrthümer,    welche 


tung  anzuerkennen  und  selbst  zu  befolgen.  Und  hie  und  da  gewinnt  dann  bei 
ihnen  die  letztere  Ueberzeugung  auch  in  weiterer  Ausdehnung  das  Uebergewicht 
über  die  erstere.  So  sagen  z.B.  Bergmann  und  Leuckart  in  ihrer  vortreff- 
lichen „anatomisch-physiologischen  Uebersicht  des  Thierreichs,"  deren  schwächste 
Seite  in  der  vorwiegend  teleologischen  Beurtheilung  der  Organisations-Verhält- 
nisse liegt  (p.  22) :  „Dieselben  Ursachen,  weiche  es  haben  bewirken  können,  dass 
einst  in  so  grosser  Ausdehnung  über  der  Erkenntniss  des  Zweckes  die  Frage 
nach  der  Causalität  vergessen  wurde,  bewirken  es  nun  auch  heutigen  Tages  noch, 
dass  diess  gar  häufig  auf  dem  Gebiete  des  organischen  Lebens  geschieht.  Der 
Complex  bewirkender  Ursachen,  durch  welchen  das  organische  Wesen  entsteht, 
ist  so  höchst  verwickelt,  dass  uns  hier  noch  immer  die  Analyse  an  vielen  Punk- 
ten vollständig  im  Stiche  lässt.  Da  ist  es  nun  natürlich,  dass  die  ferne  liegende 
Hoffnung  einer  solchen  Aufklärung  gar  leicht  ganz  in  den  Hintergrund  tritt,  um 
so  mehr  als  die  Frage  nach  dem  Zwecke  nicht  nur  manuichfach  leicht  zu  beantwor- 
ten ist,  sondern  in  ihrem  Interesse  auch  noch  durch  den  Egoismus  erhöht 
wird."  Selbst  Kant,  der  die  Teleologio  für  die  einzig  mögliche  Beurtheilungs- 
weise  der  Organismen  erklärt,  bemerkt  einmal:  „Die  Zweckmässigkeit  ist  erst 
vom  refiectirend'en  Verstände  in  die  Welt  gebracht,  der  demnach  ein  Wunder 
anstaunt,  das  er  selbst  erst  geschaffen  hat." 


96  Methodik  der  Morphologie   der  Organismen. 

mit  Müller's  allgemeinen  biologischen  Bemerkungen  verwebt  sind, 
und  welche  bei  schärferer  Betrachtung  zu  unlösbaren  Widersprüchen 
führen,  nicht  irre  machen  lassen.  Wie  du  Bois-Reymond  treffend 
bemerkt,  ..tritt  bei  Johannes  Müller  dieser  Irrthum  aus  dem  Nebel 
vitalistischer  Träumereien  klar  und  scharf  hervor,  mit  Hand  und  Fuss, 
Fleisch  und  Bein  zum  Angriff  bietend.  Muss,  wie  aus  Müllers  Be- 
trachtungen folgt,  die  Lebenskraft  gedacht  werden  als  ohne  bestimm- 
ten Sitz,  als  theilbar  in  unendlich  viele  dem  Ganzen  gleichwerthige 
Bruchtheile,  als  im  Tode  oder  Scheintode  ohne  Wirkung  verschwin- 
dend ,  als  mit  Bewusstsein  und  im  Besitze  physikalischer  und  chemi- 
scher Kenntnisse  nach  einem  Plane  handelnd,  so  ist  es  so  gut  als  ob 
man  sagte:  es  giebt  keine  Lebenskraft;  der  apogogische  Beweis 
für  die  andere  Behauptung  ist  geführt.'* ') 

Es  könnte  wohl  Manchem  überflüssig  erscheinen,  hier  die  absolute 
Verwerflichkeit  der  vitalistisch-teleologischen  Naturbetrachtung,  und  die 
alleinige  Anwendbarkeit  der  mechanisch-causalistischen  überhaupt  noch 
hervorzuheben.  Denn  in  den  allermeisten  naturwissenschaftlichen  Dis- 
ciplinen,  vor  Allem  in  der  gesammten  Physik  und  Chemie,  ferner  auch 
in  der  Morphologie  der  Auorgane  (Krystallographie  etc.) ,  wie  über- 
haupt in  der  gesammten  Abiologie  ist  in  Folge  der  enormen  Erkennt- 
niss-Fortschritte unseres  Jahrhunderts  jede  teleologische  und  vitalistische 
Betrachtungsweise  so  vollständig  verdrängt  worden,  dass  sie  sich  mit 
Ehren  nicht  mehr  sehen  lassen  kann.  Dasselbe  gilt  von  der  Physio- 
logie, in  welcher  jetzt  die  mechanisch-causale  Methode  die  Alleinherr- 
schaft gewonnen  hat;  nur  derjenige,  gänzlich  uncultivirte  Theil  der 
Physiologie  des  Centramervensysteins,  welcher  das  Seelenleben  behan- 
delt, und  künftig  einmal  als  empirische  Psychologie  die  Grundlage  der 
gesammten  ..reinen  Philosophie"  werden  wird,  liegt  noch  gänzlich  aus- 
serhalb dieses  Fortschrittes  und  ist  noch  gegenwärtig  ein  Tummelplatz 
der  willkührlichsten  vitalistischen  und  teleologischen  Träumereien. 
Leider  müssen  wir  nun  dasselbe,  was  von  der  Physiologie  der  Psyche 
gilt,  auch  von  der  gesammten  Morphologie  der  Organismen  und  vor 
Allen  der  Thiere  sagen.  Immer  spukt  hier  noch  am  hellen  Tage  das 
Gespenst  der  „Lebenskraft"  oder  der  „zweckmässig  wirkenden  Idee  im 
Organismus",  und  wenn  auch  die  wenigsten  Morphologen  mit  klarem 
Bewusstsein  demselben  folgen  und  daran  glauben,  so  beherrscht  das- 
selbe desto  mehr  unbewusst  die  meisten  Versuche,  welche  zu  einer 
Erklärung  der  organischen  Gestaltungsprocesse  gemacht  werden.  Die 
noch  allgemein  in  der  vergleichenden  Anatomie  üblichen  Ausdrücke 
des  „Plans,  Bauplans,  der  allgemeinen  Idee",   welche  diese  oder  jene 


')  Emil    du   Bois-Reymond,    Gedächtnissrede    auf  Johannes  Müller. 
Berlin  1860,  p.  89. 


V.     Teleologie  und  Causalität.  97 

Formverhältnisse  bedingen,  die  vielgebrauchte  Wendung  der  „  Absicht, " 
des  „Zwecks,"  welchen  die  „schöpferische"  Natur  durch  diese  oder 
jene  „Einrichtung"  erreichen  will,  endlich  die  neuerdings  vielfach  be- 
liebte Phrase  von  dem  „Gedanken",  welchen  der  „Schöpfer"  in  diesem 
oder  jenem  Organismus  „verkörpert"  hat,  bezeugen  hinlänglich,  wie 
tief  hier  die  alte  Irrlehre  Wurzel  geschlagen  hat,  und  zwingen  uns  zu 
einer  kurzen  Widerlegung  derselben. 

Zunächst  ist  hier  hervorzuheben,  dass  man  die  „vitalistische"  und 
„teleologische"  Beurtheilungsweise  der  Organismen,  wie  wir  bereits 
gethan  haben,  als  identisch  annehmen,  und  der  „mechanischen"  Me- 
thode, welche  ihrerseits  mit  der  „causalistischen"  zusammenfällt,  ge- 
genübersetzen kann.  Denn  es  ist  in  der  That  vollkommen  für  die 
Sache  gleichgültig,  unter  welchem  Namen  sich  die  erstere  verbirgt, 
und  ob  sich  das  von  der  Materie  verschiedene  organisirende  Princip, 
welches  das  „  Leben "  und  den  „  Organismus "  erzeugt  und  erhält, 
„Lebenskraft"  nennt,  oder  „Vitalprincip ",  „organische  Kraft"  oder 
„Schöpferkraft",  „systematischer  Grundcharakter"  (Reichert)  „zweck- 
mässiger Bauplan  des  Organismus",  „Schöpfungsgedanke"  (Agassiz), 
oder  „ideale  Ursache",  „Endzweck"  oder  „zweckthätige  Ursache  (End- 
ursache, Causa  finalis)".  Alle  diese  scheinbar  so  verschiedenen  Aus- 
drücke sind  im  Grunde  doch  nur  äusserlich  verschiedene  Bezeich- 
nungen für  eine  und  dieselbe  irrige  Vorstellung.  Das  Wesentliche  in 
dieser  Vorstellung  bleibt  immer,  dass  diese  „Kraft"  eine  ganz  be- 
sondere, von  den  chemischen  und  physikalischen  Kräften  verschiedene 
und  nicht  an  die  Materie  gebunden  ist,  welche  sie  organisirt.  Da- 
durch steht  dieses  Dogma  von  der  Lebenskraft  oder  den  Endursachen 
in  einem  scharfen  und  unversöhnlichen  Gegensatze  zu  der  „mechani- 
schen" oder  „causaleir"  Auffassung,  nach  welcher  das  Leben  eine  Be- 
wegungserscheinung ist,  die  sich  nur  durch  ihre  complicirtere  Zusam- 
mensetzung von  den  einfacheren  physikalisch- chemischen  „Kräften"  der 
Anorgane  (Mineralien,  Wasser,  Atmosphäre)  unterscheidet,  und  welche 
ebenso  unzertrennlich  mit  den  zusammengesetzteren  Materien  des  Or- 
ganismus verbunden  ist,  wie  die  physikalischen  und  chemischen  Eigen- 
schaften der  Anorgane  mit  ihrem  materiellen  Substrate.  Diese  Ver- 
bindung ist  eine  absolut  nothwendige.  Die  gesammten  complicirten 
„Lebenserscheinungen  der  Organismen"  sind  ebenso  durch  eine  abso- 
lute Notwendigkeit  bedingt,  wie  die  einfacheren  „Functionen"  oder 
„  Kräfte "  der  anorganischen  Naturkörper.  Hier  wie  dort  sind  es  allein 
mechanische  Ursachen  (Causae  efficientes),  welche  der  Materie 
inhäriren,  und  welche  unter  gleichen  Bedingungen  stets  mit  Notwen- 
digkeit die  gleiche  Wirkung  äussern. 

Hier  tritt  uns  nun  das  einfache  Causal-Gesetz,  das  Gesetz 
des  notwendigen  Zusammenhanges    von  Ursache  und  Wirkung,   als 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  7 


98  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

das  erste  und  oberste  aller  Naturgesetze  entgegen,  welches  die  ge- 
sammte Natur,  lebendige  wie  leblose,  mit  absoluter  Notwendigkeit  be- 
herrscht. Dieses  wichtigste  Naturgesetz,  in  welchem  unsere  gesammte 
Naturerkenntniss  gipfelt,  sagt  zunächst  aus,  dass  jede  Wirkung  ihre 
bestimmte  wirkende  Ursache  (causa  efficiens),  sowie  jede  Ur- 
sache ihre  nothwendige  Wirkung  (effectus)  hat.  Aus  diesem 
notwendigen  und  unlösbaren  Zusammenhange  von  Ursache  und  Wir- 
kung, welcher  die  Grundlage  unserer  ganzen  Erkenntniss,  unserer  ge- 
sammten  Verstandesthätigkeit  ist,  folgt  dann  weiter,  dass  verschiedene 
Wirkungen  auf  verschiedene  Ursachen  zurückgeführt  werden  müssen, 
sowie  umgekehrt  aus  verschiedenen  Ursachen  stets  verschiedene  Wir- 
kungen abzuleiten  sind;  und  ebenso  folgt  daraus,  dass  gleiche  Wir- 
kungen den  gleichen  Ursachen  zuzuschreiben  sind,  sowie  auch  umge- 
kehrt gleiche  Ursachen  stets  nothwendig  gleiche  Wirkungen  haben 
müssen. 

Nach  diesem  ersten  und  höchsten  aller  Naturgesetze  ist  Alles,  was 
in  der  Natur  existirt,  entsteht  und  vergeht,  das  nothwendige  Resultat 
aus  einer  Anzahl  vorhergehender  Factoren,  und  dieses  Resultat  ist 
selbst  wieder  ein  Factor,  der  zur  Hervorbringung  anderer  Resultate 
mit  absoluter  Notwendigkeit  mitwirkt.  Diese  absolute  Notwendig- 
keit des  unmittelbaren  Zusammenhanges  von  Ursache  und  Wirkung 
beherrscht  die  gesammte  Natur  ohne  Ausnahme,  da  ja  die  gesammte 
Natur,  lebendige  und  leblose,  nichts  Anderes  ist,  als  ein  Wechselspiel 
von  Kräften,  welche  der  gegebenen  Summe  von  Materie  inhäriren. 
Wenn  man  dem  entgegen  in  der  organischen  Natur,  in  den  belebten 
Naturkörpern,  eine  Wirkimg  ohne  Ursache,  eine  Kraft  ohne  Stoff  an- 
genommen hat,  welche  mithin  dem  Causalgesetz  nicht  unterworfen 
wäre,  so  ist  dieser  Irrthum  lediglich  durch  die  weit  grössere  Compli- 
cation  der  hier  auftretenden  Bewegungs-Erscheinungen  hervorgerufen 
worden,  durch  die  weit  grössere  Anzahl  der  verschiedenen  Factoren, 
welche  auf  dem  Lebensgebiete  zur  Hervorbringung  jedes  Resultats  zu- 
sammenwirken, und  durch  die  weit  zusammengesetztere  Natur  dieser 
Factoren  selbst.  Da  wir  im  zweiten  und  sechsten  Buche  auf  dieses 
Verhältniss  noch  näher  zurückkommen  müssen,  so  möge  diese  Bemer- 
kung genügen,  und  die  ausdrückliche  Hinweisung  auf  die  Thatsache, 
dass  in  der  ganzen  Natur  dieselben  Kräfte  wirksam  sind,  dass  die  or- 
ganische Natur  sich  aus  der  anorganischen  erst  historisch  entwickelt 
hat,  und  dass  nur  eine  gänzliche  Verkeunung  dieses  Umstandes  und 
die  Uebertreibung  des  Unterschiedes  der  leblosen  und  belebten  Natur- 
körper zu  den  gänzlich  unbegründeten  teleologischen  und  vitalistischen 
Dogmen  hat  verführen  können.  Alles  was  uns  in  der  lebendigen  Na- 
tur als  das  vorbedachte  Resultat  einer  freien  zweckthätigen  Ursache, 
einer   causa  final  is  erscheint,   welche  die  physikalisch -chemischen 


V.    Teleologie  und  Causalität.  99 

Ursachen  beherrscht  und  von  ihnen  unabhängig  ist,  Alles  das  ist  in 
der  That  weiter  nichts,  als  die  nothwendige  Folge  der  Wechselwir- 
kung zwischen  den  existirenden  mechanischen  Ursachen  (den  „existing 
causes"  oder  den  physikalisch-chemischen  Ursachen),  ist  nichts,  als 
die  nothwendige  Wirkung  mehrerer  Causae  efficientes. ') 

Dass  in  der  That  freie  zweckthätige  Ursachen  oder  Causae  finales 
in  der  gesammten  Natur  nicht  existiren,  dass  vielmehr  tiberall  nur 
nothwendige  mechanische  Ursachen  thätig  sind,  wird  durch  die  Ge- 
sammtheit  aller  Erscheinungen  in  der  organischen  und  anorganischen 
Natur  auf  das  Unwiderleglichste  bewiesen.  Unter  allen  biologischen 
Erscheinungsreihen  ist  aber  in  dieser  Beziehung  keine  von  so  ausser- 
ordentlicher Wichtigkeit,  und  dabei  bisher  so  gänzlich  fast  von  allen 
Philosophen  und  Naturforschern  vernachlässigt,  als  die  Wissen- 
schaft von  den  rudimentären  Organen,  welche  wir  geradezu  die 


')  Die  hochwichtige  Erkenntniss  von  der  allgemeinen  Gültigkeit  des  einfachen 
Causalgesetzes  in  der  gesammten  Natur,  von  der  nothwendigen  Consequenz  der 
causae  efficientes  in  den  Organismen,  wie  in  den  Anorganen,  ist  durch  Nichts 
so  sehr  hintertrieben  und  umgangen  worden,  als  durch  die  aprioristischen  Spe- 
culationen  der  nicht  empirisch  gebildeten  Philosophen,  welche  von  vollkommen 
willkührlich  aufgestellten  Praemissen  und  von  ganz  unzureichenden  Erfahrungen 
ausgehend,  in  der  gesammten  organischen  Natur  überall  „Zwecke"  entdecken 
wollten,  und  dabei  in  der  Regel  von  der  Yergleichung  des  Organismus  mit  einer 
vom  Menschen  künstlich  construirten  Maschine  ausgingen.  Die  Harmonie  der 
Theile,  das  Wechselverhältniss  derselben  zum  Ganzen,  welches  bei  der  künstlich 
construirten  Maschine  durch  die  bewusste  Zweckthätigkeit  menschlichen  Verstan- 
des und  Willens  erzielt  wird,  das  sollte  in  den  durch  „natürliche  Zweckmässig- 
keit" entstehenden  Organismen  von  einem  der  letzteren  anolog  wirkenden  zweck- 
thätigen  Principe  bewirkt  werden.  Sobald  man  dieses  Princip,  die  Lebenskraft  etc., 
in  seiner  Wirksamkeit  näher  zu  bestimmen  suchte ,  musste  man  natürlich  immer 
tiefer  in  den  groben  Anthropomorphismus  hineinsinken,  auf  dem  dieser 
ganze  Vergleich  beruht.  Ausserdem  wurde  aber  eine  grundfalsche  Folgerung  in 
denselben  noch  dadurch  hineingebracht,  dass  man  von  der  gänzlich  unberechtig- 
ten und  durch  keine  Erfahrung  bewiesenen  Annahme  eines  freien  Willens  beim  Men- 
schen ausging.  Und  doch  musste  jede  einigermaassen  aufrichtige  und  tiefer 
gehende  Selbstprüfung  zeigen,  dass  ein  freier  Wille  nicht  existirt,  und 
dass  jede  scheinbar  freie  Willenshandlung,  auch  die  einfachste,  das  absolut  noth- 
wendige Resultat  aus  der  höchst  complicirten  Zusammenwirkung  zahlreicher 
verschiedener  Factoren  ist.  Jeder  dieser  Factoren  ist  abermals  ein  absolut 
nothwendiges  Resultat  aus  dem  complicirten  Zusammenwirken  vieler  anderer  Fac- 
toren (wirkender  Ursachen)  u.  s.  w.  Wenn  wir  die  unabsehbare  Kette  dieser 
mechanischen,  mit  Notwendigkeit  wirkenden  Ursachen  bis  auf  ihren  ersten  Ur- 
sprung zu  verfolgen  suchen,  so  gelangen  wir  endlich  zu  zweierlei  verschiedenen 
Grundursachen,  nämlich  einmal  den  erblichen,  d.h.  den  eigenen,  der  Materie 
des  Organismus  ursprünglich  inhärenten,  und  sodann  zu  den  fremden,  welche  der 
Organismus  durch  Anpassung,  durch  Wechselwirkung  mit  seiner  Umgebung,  er- 
worben hat.     Vergl.  V.  Buch.) 

7* 


100  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

Unzweckmässigkeitslehre,  Dysteleologie  nennen  könnten.  Jeder  höhere 
und  entwickeltere  Organismus,  und  wahrscheinlich  die  grosse  Mehrzahl  der 
Organismen  Überhaupt,  ist  im  Besitz  von  Organen,  welche  keine  Functionen 
haben,  welche  zu  keiner  Zeit  des  Lebens  jemals  thärig  sind,  und  welche 
im  besten  Falle  dem  Organismus  gleichgültig,  häufig  ihm  aber  geradezu 
nachtheilig  sind.  Diese  rudimentären  Organe,  welche  zu  aller  Zeit  das 
grösste  Kreuz  der  Teleologie  waren,  sind  in  der  That  für  dieselbe  das 
untibersteiglichste  Hinderniss,  und  diese  sowohl,  als  die  zahlreichen  an- 
deren un zweckmässigen  und  unvollkommenen,  oft  sogar  für 
den  Organismus  selbst  höchst  nachtheiligen  und  schäd- 
lichen Einrichtungen,  welche  bei  zahlreichen  Organismen  vorkom- 
men, lassen  sich  lediglich  aus  den  mechanischen  wirkenden  Ursachen, 
und  durchaus  nicht  aus  zweckthätigen  Endursachen  erklären. ')  Diese 
Erklärung  ist  nun  zuerst  von  Darwin  gegeben  worden.  Seine  grosse 
Entdeckung  der  natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das  Dasein  er- 
klärt alle  diese  Verhältnisse  ganz  vollkommen,  wie  im  fünften  und 
sechsten  Buche  gezeigt  werden  wird. 

Da  wir  dort  diese  Verhältnisse  noch  ausführlich  zu  erörtern  haben, 
so  genügt  hier  der  Hinweis  auf  das  ganz  besondere  Verdienst,  welches 
Darwin  um  die  definitive  Lösung  dieser  äusserst  wichtigen  Funda- 
mental-Fragen  hat.  Wir  erblicken  in  Darwins  Entdeckung  der 
natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das  Dasein  den  schla- 
gendsten Beweis  für  die  ausschliessliche  Gültigkeit  der 
mechanisch  wirkenden  Ursachen  auf  dem  gesammten  Ge- 
biete der  Biologie,  wir  erblicken  darin  den  definitiven  Tod 
aller  teleologischen  und  vitalistischen  Beurtheilung  der 
Organismen.2) 

')  Dass  wirklich  im  Thier-  und  Pflanzenreich  äusserst  zahlreiche  höchst  un- 
vollkommene und  unpraktische,  unnütze  und  schädliche  Organisation- Verhält- 
nisse existiren,  welche  die  Existenz  der  betreffenden  Organismen  selbst  in  mehr 
oder  minder  hohem  Grade  gefährden,  und  sehr  häufig  ihren  Untergang  herbei- 
führen, ist  eine  bisher  zwar  wenig  hervorgehobene,  aber  äusserst  wichtige  That- 
sache,  welche  jedem  Botaniker  und  Zoologen,  der  einen  weiteren  Ueberblick 
über  sein  Gebiet  besitzt,  bekannt  ist.  Den  schlagendsten  Beweis  dafür  liefern 
die  complicirten  Verhältnisse  des  Kampfes  um  das  Dasein,  in  welchem  in  jedem 
Augenblick  Tausende  von  Organismen  zu  Grunde  gehen,  um  den  vollkommeneren 
und  weniger  unzweckmässig  organisirten  Formen  von  derselben  „Art"  Platz  zu 
macheu.  Die  gesammte  Palaeontologie  bildet  hierfür  eine  fortlaufende  Beweis- 
kette, und  schon  in  dieser  Beziehung  allein  den  glänzendsten  Beweis  für  die 
Wahrheit  der  genialen  Lehre  Darwin's. 

2)  Von  der  gänzlichen  Verkenunng  und  dem  vollständigen  Missverständniss, 
welche  Darwin's  Begründung  der  Descendenz-Theorie  nicht  allein  bei  vielen 
Laien,  sondern  auch  bei  zahlreichen,  und  selbst  bei  sehr  berühmten  Naturfor- 
schern gefunden  hat,  legt  vielleicht  kein  Umstand  schlagenderes  Zeuguiss  ab, 
als  die  wahrhaft  komische  Thatsache,  dass  man  Darwin's  Lehre  alles  Ernstes 


V.    Teleologie  und  Causalität.  101 

Die  unschätzbaren  Entdeckungen  Darwins  haben  das  Gesammtgebiet 
der  organischen  Natur  plötzlich  durch  einen  so  hellen  Lichtstrahl  erleuchtet, 
dass  wir  iürderhin  keine  Thatsache  auf  demselben  mehr  als  unerklärbar 
werden  anzusehen  haben.  Wir  sagen:  „unerklärbar",  nicht:  „unerklärt". 
Denn  erklärt  ist  auf  diesem  ganzen  vasten  Gebiet  immer  noch  im  Ganzen 
ausserordentlich  wenig.  Freilich  hatte  die  strenge  physikalisch -chemische 
Richtung  in  der  Physiologie  die  Lebensfunctionen  der  bestehenden  Organis- 
men schon  seit  mehreren  Decennien  in  so  hohem  Maasse  aufgeklärt,  und  so 
viele,  wenn  auch  zunächst  nur  beschränkte  Gesetze  gefunden,  dass  an  einer 
vollständigen  Erklärung  aller  Erscheinungen  auf  diesen  Gebieten  mittelst 
rein  mechanisch  wirkender  Ursachen  schon  vor  dem  Erscheinen  von  Dar- 
wins epochemachendem  Werk  (1859)  nicht  gezweifelt  werden  konnte.  Ganz 
anders  aber  sah  es  bis  dahin  auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  und  der 
Entwickelungsgeschichte  aus.  Die  Entstehung  der  organischen  Formen,  die 
Entwickelungsgeschichte  der  Organismen  galten  fast  allgemein  für  Erschei- 
nungsreihen, welche  jeder  mechanischen  Causal-Erklärung  vollständig  unzu- 
gänglich seien,  und  auf  welche  nur  durch  teleologisch -vitalistische  Be- 
trachtungen ein    erklärendes  Licht  geworfen  werden  könne ').     Diesen  Irr- 


den  Vorwurf  einer  teleologischen  Naturbetrachtung  gemacht  hat!  So  sagt 
Kölliker,  einer  der  an  Kenntnissen  (aber  nicht  an  Erkenntnissen!)  reichsten 
Mikroskopiker:  „Mit  Bezug  auf  Darwin' s  Grundanschauungen  ist  erstens  her- 
vorzuheben, dass  Darwin  im  vollsten  Sinne  des  Worts  Teleolog  ist"  (!!)  (Zeitschr. 
f.  wiss.  Zool.  XIV).  Kölliker  stellt  daun  statt  des  Priucips  der  natürlichen 
Züchtung,  welches  er  durchaus  als  teleologisch  verwirft,  den  „Grundgedanken" 
auf,  „dass  der  Entstehung  der  gesammten  organisirten  Welt  ein  grosser  Ent- 
wickelungsplan  zu  Grunde  liegt"  (!).  Mit  anderen  Worten,  Kölliker  setzt 
an  die  Stelle  des  von  D  arwin  entdeckten,  höchst  wichtigen  thatsächlichen 
Verhältnisses,  welches  jede  Teleologie  ausschliesst,  ein  leeres  und  nichts- 
sagendes Wort.  Denn  dieser  „grosse  Entwicklungsplan"  ist  entweder  gar 
Nichts  oder  eine  durchaus  teleologische  Vorstellung,  welche  Nichts  erklärt. 
Richtiger  hat  Oskar  Schmidt  die  Vernichtung,  welche  Darwin  über  die  ge- 
sammte  Teleologie  verhängt,  beurtheilt,  indem  er  ihr  als  „wesentlichstes  apho- 
ristisches Bedenken  entgegen  hält,  dass  sie  den  Zufall  zum  Weltprincip  macht." 
Auch  schon  von  anderen  Teleologen  ist  dieser  Einwand  als  der  wesentlichste 
hervorgehoben  worden.  Nach  unserer  Auffassung  zerfällt  derselbe  mit  der  gan- 
zen Teleologie  in  Nichts.  Denn  es  giebt  einen  „Zufall"  so  wenig,  als  einen 
„Zweck"  in  der  Natur,  so  wenig  als  einen  sogenannten  „freien  Willen."  Viel- 
mehr ist  jede  Wirkung  nothwendig  durch  vorausgehende  Ursachen  bedingt,  und 
jede  Ursache  hat  nothwendig  Wirkungen  in  ihrem  Gefolge.  In  unserer  An- 
schauung tritt  an  die  Stelle  des  „Zufalls"  in  der  Natur,  ebenso  wie  an  die  Stelle 
des  Zweckes  und  des  freien  Willens,  die  absolute  Nothwendigkeit,  die 
nväyxr}. 

l)  Dass  in  der  That  der  beschränkte  teleologisch-vitalistische  Standpunkt, 
nur  in  den  verschiedensten  Nuancen  der  Oonsequenz  abgestuft, 
und  mit  den  verschiedensten  Graden  des  Bewusstseins  verfolgt, 
in  der  gesammten  Morphologie  der  Organismen  vor  Darwin  der  allgemein  herr- 
schende gewesen  sei  (einzelne  ehrenvolle  Ausnahmen  natürlich  abgerechnet), 
könnte  vielleicht  Diesem  oder  Jenem,  und  besonders  dem  längst  der  Teleologie 


1Q2  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

thurn  hat  Darwin  vollständig  und  mit  einem  Schlage  vernichtet.  Darwin 
hat  evident  bewiesen,  wie  es  die  einfachsten  mechanischen  Causal- Verhält- 
nisse sind,  welche  diese  anscheinend  so  complicirten  und  für  so  gauz  uner- 
klärlich gehaltenen  Lebens -Erscheinungen,  die  Formbildung  und  die  Ent- 
wickelung  regeln  und  beherrschen.  Da  wir  dies  im  fünften  und  sechsten 
Buche  auseinander  zu  setzen  haben,  so  können  wir  hier  darauf  verweisen. 

Nur  ein  Umstand  möge  hier  noch  besonders  hervorgehoben  werden, 
nämlich,  dass  durch  die  von  Darwin  thatsächlich  erklärte  Entstehung  der 
complicirtesten  organischen  Formen  bereits  factisch  die  Hauptstütze  der 
Teleologie  vernichtet  und  zertrümmert  ist.  Alle  einer  teleologischen  Be- 
trachtung der  organischen  Naturerscheinungen  geneigten  Philosophen,  und  vor 
Allen  Kant,  dessen  Einfluss  auf  die  Entwicklung  der  Naturwissenschaft  in 
unserem  Jahrhundert  (wegen  seiner  breiteren  empirischen  Grundlage)  grösser 
geworden  ist,  als  derjenige  irgend  eines  anderen  speculativen  Philosophen, 
hatte  ausdrücklich  für  die  Notwendigkeit  einer  teleologischen  Beurtheilung 
der  organischen  Natur  hervorgehoben,  dass  deren  Processe  vollkommen  un- 
erklärlich, dem  Erkenntniss-Vermögen  des  Menschen  nicht  zugänglich,  und 
dass  insbesondere  die  Entstehung  der  complich'teren  Organismen  durch  bloss 
mechanische  Ursachen  vollkommen  unbegreiflich  sei.  Die  Befugniss  der 
mechanischen  Ursachen  zur  Erklärung  dieser  Erscheinungen  wurde  von  Kant 
ausdrücklich  zugestanden,  aber  das  V ermögen  der  Erklärung  ihnen  ab- 
gesprochen. Daher  wollte  er  auch  die  „natürliche  Zweckmässigkeit"  der 
Teleologie  nur  als  Maxime  der  Beurtheilung,  nicht  als  Erkenntnissprincip 
zulassen.  Ausdrücklich  sagte  er  desshalb,  dass  die  lebendige  Natur  nicht 
Gegenstand  der  Erkenntniss,  sondern  bloss  der  Betrachtung  sein 
könne,  weil  eben  die  bewegenden  Kräfte  der  Materie  nicht  zur  Erklärung 
der  Organisation  ausreichten.  So  gerieth  denn  auch  Kant  in  die  unauf- 
lösliche Antinomie  zwischen  Mechanismus  und  Teleologie.  Während  er 
in  seinen  „metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft"  bewiesen 
hatte,  dass  Alles  in  der  materiellen  Natur  mechanisch  entstehe  und  aus  be- 
wegenden Kräften  als  mechanischen  Ursachen  erklärt  werden  müsse,  war  er 
nun  in  der  „Analytik  der  teleologischen  Urtheils  kraft"  gezwungen  zu  erklä- 
ren, dass  Einiges  in  der  materiellen  Natur,  nämlich  das  Organische,  das 


entwöhnten  Physiologen  und  Abiologen,  eine  übertriebene  Behauptung  erscheinen. 
Indess  liefert  fast  die  gesaumite  morphologische  Literatur  hierfür  die  schlagend- 
sten Beweise.  Selten  freilich  ist  dieser  kurzsichtige  Standpunkt  mit  solchem 
Bewusstsein  und  solcher  Consequenz  festgehalten  worden,  wie  dies  z.B.  von 
Reichert  geschehen  ist.  Wer  die  ganze  Beschränktheit,  die  wahrhaft  komi- 
schen Widersprüche,  und  den  gänzlichen  Mangel  an  Ueberblick  der  Gesainmtnatur 
und  an  Einblick  in  ihr  causales  Wesen  keunen  lernen  will,  die  gewöhnlich  mit 
der  extremen  Consequenz  des  Vitalismus  verbunden  sind,  dem  empfehlen  wir  zur 
ebenso  belehrenden  als  erheiternden  Leetüre  die  höchst  seltsamen  und  an  philo- 
sophischer-Verworrenheit  das  Maximum  leistenden  Aufsätze  von  Reichert  in 
Müller' s  Archiv  f.  An.  u.  Ph.  etc.  1855  p.  1  (über  atomistische  und  systematische 
Naturauflässung)  und  1856  p.  1  (die  Morphologie  auf  dem  Standpunkt  der  syste- 
matischen Naturauflässung). 


V.    Teleologie  und  Causalität.  103 

Leben,  nicht  mechanisch  entstehen  und  nicht  aus  bewegenden  Kräften  als 
rein  mechanischen  Ursachen  erklärt  werden  könne.  Hier  ist  die  Achilles-Ferse 
der  Kantischen  Philosophie.  Während  Kant  in  allen  seinen  Erklärungen 
der  anorganischen  Natur,  vor  Allem  in  seiner  Naturgeschichte  des  Himmels, 
ein  bewunderungswürdiges  Muster  der  exactesten  denkenden  naturwissen- 
schaftlichen Forschung,  der  besten  Naturphilosophie  geliefert  hatte,  verliess 
er  auf  dem  Gebiete  der  Biologie  die  allein  mögliche  Bahn  der  empirischen 
Philosophie  gänzlich  und  warf  sich  der  verführerischen  Teleologie  in  die 
Arme,  die  ihn  nun  von  Irrthum  zu  Irrthum  weiter  führte. 

Wenn  dieser  grosse  Irrthum  einen  so  hervorragenden  und  kritischen 
Denker,  wie  Kant  war,  vollkommen  gefangen  halten  und  zu  so  starken 
dogmatischen  Fehlern  weiter  verleiten  konnte,  so  dürfen  wir  uns  nicht  wun- 
dern, dass  zahlreiche  unbedeutendere  Philosophen  demselben  blindlings  folg- 
ten, und  dass  das  ganze  Heer  der  Biologen,  welche  froh  waren,  nun  nicht 
weiter  denken  zu  brauchen,  dem  aufgepflanzten  Banner  mit  grosser  Genug- 
thuung  folgte.  In  der  That  war  es  so  ausserordentlich  bequem  und  leicht, 
mit  irgend  einer  teleologischen  Betrachtung  jeden  Versuch  einer  mechani- 
schen Erklärung  der  organischen  Natur  abzuschneiden,  dass  die  Teleologie 
bald  zum  allgemeinen  Feldgeschrei  der  Biologie  wurde.  Niemand  war  fro- 
her darüber,  als  die  grosse  Mehrzahl  der  Morphologen,  welche  nun  unge- 
stört der  Beobachtung,  Beschreibung  und  Abbildung  aller  möglichen  or- 
ganischen Formen  sich  hingeben  konnten,  ohne  durch  irgend  einen  un- 
bequemen kritischen  Gedanken  über  die  mögliche  Bedeutung  dieser  Formen, 
über  ihre  mechanischen  Ursachen  und  über  den  causalen  Zusammenhang  der 
Furmbildungsreihen  beunruhigt  zu  werden.  Da  die  meisten  Morphologen, 
sowohl  die  „ Systematiker "  als  die  „Anatomen"  in  diesem  behaglichen  und 
idyllischen  Formgenusse  vollkommene  Befriedigung  fanden,  und  da  sie  in 
diesem  wissenschaftlichen  Halbschlafe  oder  doch  wenigstens  in  diesem  ge- 
dankenarmen Traumleben  von  der  eigentlichen  Aufgabe  ihrer  Wissenschaft, 
von  der  Erklärung  der  organischen  Formverhältnisse,  keine  Ahnung  hatten, 
so  erscheint  uns  schon  hieraus  die  tiefe  Entrüstung  vollkommen  erklärlich, 
als  plötzlich  Darwin' s  lauter  Weckruf  ertönte,  und  diesem  behaglichen 
teleologischen  Stillleben  mit  einem  Male  ein  jähes  und  grausames  Ende  be- 
reitete. Aus  behaglichem  Mittagsschlummer  durch  einen  kritischen  Stoss 
aufgeschreckt  zu  werden  ist  immer  höchst  unangenehm,  und  besonders  wenn 
dieser  sanfte  Schlummerzustand,  habituell,  fast  zur  anderen  Natur  geworden 
ist,  wie  bei  unserer  heutigen   Morphologie. 

Was  Kant  betrifft,  so  zweifeln  wir  nicht,  dass  wenn  er  heut'  erstände, 
sein  ganzes  kritisches  Lehrgebäude  eine  vollkommen  andere  Form  erhalten 
würde,  und  dass  er  die  von  Darwin  entdeckte  mechanische  Erklärung  der 
Entstehung  der  Organismen  und  die  von  der  neueren  Physiologie  festge- 
stellte mechanische  Erklärung  ihrer  Lebens-Erscheinungen,  nach  denen  er  so 
lange  und  so  vergeblich  gestrebt,  acceptiren  würde.  Der  biologische  Theil 
der  Kantischen  Philosophie  würde  dann,  mit  Ausschluss  aller  Teleologie, 
die  Erklärang  der  organischen  Natur  eben  so  vollkommen  auf  rein  mecha- 
nische „wirkende  Ursachen"  begründen,  wie  es  der  abiologische  Theil  schon 
damals  in  so  vollendetem  Maasse  gethan  hat. 


104  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

Dadurch,  dass  wir  die  Teleologie  Kant's  für  einen  überwundenen 
Standpunkt  erklären,  wollen  wir  demselben  natürlich  in  keiner  Weise  einen 
Vorwurf  machen  und  es  vermindert  unsere  Verehrung  dieses  grossen  Phi- 
losophen und  unsere  Hochachtung  vor  seinen  ausserordentlichen  Verdiensten 
auf  dem  Gebiete  der  Abiologie  nicht  im  Geringsten,  wenn  wir  demselben 
die  gleichen  Verdienste  auf  dem  biologischen  Gebiete  absprechen,  und  seine 
Kritik  der  teleologischen  Urtheilskraft  für  ein  von  der  Basis  an  irrthüm- 
liches  Lehrgebäude  halten.  Wenn  man  bedenkt,  auf  welcher  ausserordent- 
lich niedrigen  Stufe  zu  Kant's  Zeit  die  gesammte  empirische  Biologie  stand, 
wie  die  Physiologie,  die  Entwicklungsgeschichte,  die  Morphologie  der  Or- 
ganismen, als  selbstständige  Wissenschaften  damals  noch  gar  nicht  anerkannt 
waren,  so  finden  wir  hierin,  und  in  den  vitalistischen  Vorurtheilen  ,  die  das 
ganze  Zeitalter  gefangen  hielten,  Grund  genug  dafür,  dass  Kant  an  der 
Möglichkeit  einer  wissenschaftlichen  Biologie  geradezu  verzweifeln  und  die 
Erklärung  der  lebendigen  Natur  für  etwas  Unmögliches  halten  konnte.  Mit 
anderen  Worten  heisst  das  nichts  Anderes,  als  dass  die  gesammten  Biolo- 
gen gleiche  Thoren  sind,  wie  die  vielen  Träumer,  welche  den  Stein  der 
Weisen  suchten.  Wenn  die  gesammte  organische  Natur,  wie  Kant  behaup- 
tet, in  ihrem  innersten  Wesen  unbegreiflich  und  unerkennbar  ist,  wenn 
deren  Erscheinungen  nicht  aus  mechanisch  wirkenden  Ursachen  erklärt  wer- 
den können,  so  sind  alle  Naturforscher,  welche  nach  einer  solchen  Erklä- 
rung streben  und  suchen,  kindische  Thoren.  In  dieser  notwendigen  Con- 
sequenz  zeigt  sich  die  ganze  Unhaltbarkeit  der  Teleologie  und  des  davon 
nicht  trennbaren  Vitalismus.  Die  Teleologie  als  wissenschaftliche  Methode 
ist  in  der  That  unmöglich;  sie  verneint  sich  selbst. 

Wenn  wir  bedenken,  dass  eine  Anzahl  von  Erscheinungen  der  organi- 
schen Natur  schon  wirklich  erklärt,  dass  die  Gesetze  für  eine  wenn  auch 
relativ  noch  kleine  Zahl  von  biologischen  Thatsachen  bereits  wirklich  ge- 
funden sind,  und  dass  diesen  Gesetzen  dieselbe  absolute  Geltung  zuge- 
standen werden  muss,  wie  jedem  physikalisch -chemischen  Gesetze,  wenn 
wir  bedenken,  dass  eine  wissenschaftliche  Physiologie  überhaupt  nur  durch 
die  strengste  Ausschliessung  jeder  Teleologie  möglich  ist,  so  werden  wir 
die  letztere  auch  aus  dem  Gebiete  der  organischen  Morphologie  vollständig 
verbannen  dürfen.  Und  am  wenigsten  werden  wir,  wenn  wir  diese  Lehre 
als  wirkliche  Wissenschaft  ansehen,  mit  der  heuchlerischen  Miene,  die  viele 
Morphologen  lieben,  erklären  dürfen,  dass  wir  uns  demüthig  mit  der  blossen 
erbaulichen  Betrachtung  der  Organismen  begnügen  und  ja  keinen  iudiscre- 
ten  Blick  in  das  uns  verschlossene  Geheimniss  ihrer  „inneren  Natur",  ihres 
causalen  Wesens  thun  wollen. 

Einen  Punkt  müssen  wir  hierbei  schliesslich  noch  offen  berühren.  Die 
meisten  Morphologen  der  Neuzeit  lieben  es,  die  unversöhnliche  Gegnerschaft 
zwischen  teleologischer  und  mechanischer  Biologie  dureh  ein  versöhnliches 
Mäntelchen  zu  verdecken  und  einen  Compromiss  zwischen  den  beiden  ent- 
gegen gesetzten  Extremen  zu  erstreben.  Bis  zu  einer  gewissen  Grenze  soll 
die  organische  Natur  erkennbar  sein,  und  von  da  an  soll  die  Erkennbarkeit 
aufhören.  Eine  Reihe  von  biologischen  Erscheinungen  soll  sich  auf  dem  me- 
chanischen Wege  aus  wirkenden  Ursachen   erklären  lassen,  der  übrige  Rest 


VI.    Dualismus  und  Monismus.  105 

aber  nicht.  Dies  ist  allerdings  insofern  richtig,  als  unser  menschliches 
Erkenntniss vermögen  beschränkt  ist,  und  als  wir  die  letzten 
Gründe  nicht  von  einer  einzigen  Erscheinung  wahrhaft  erkennen  können. 
Dies  gilt  aber  in  ganz  gleichem  Maasse  von  der  organischen 
und  anorganischen  Natur.  Die  Entstehung  jedes  Krystalls  bleibt  für 
uns  in  ihren  letzten  Gründen  eben  so  räthselhaft,  wie  die  Entstehung  jedes 
Organismus.  Die  letzten  Gründe  sind  uns  hier  nirgends  zugänglich. 
Jenseits  der  Grenze  des  Erkenntnissvermögens  können  wir  uns  beliebige, 
ohne  inductive  Grundlage  gebildete  Vorstellungen,  zu  unserer  persönlichen 
Geniüths- Befriedigung  schaffen,  niemals  aber  dürfen  wir  versuchen,  diese 
rein  dogmatischen  Vorstellungen  des  Glaubens  in  die  Wissenschaft  einzu- 
führen. Und  ein  solches  Glaubens-Dogma  ist  jeder  teleologische  und  vita- 
listische  Erklärungs-Versuch. 

Von  allen  denkenden  Menschen  fordern  wir  in  erster  Linie,  dass  sie 
consequent  sind,  und  von  allen  Naturforschern,  welche  die  Teleologie  und 
den  Vitalismus  in  der  Biologie  für  unentbehrlich  halten,  fordern  wir,  dass 
sie  diese  Methode  in  strengster  Consequenz  für  die  Betrachtung  aller  Er- 
scheinungen der  organischen  Natur  ohne  Ausnahme,  für  die  gesammte  Physiolo- 
gie, Entwickelungsgeschichte  und  Morphologie,  durchführen.  Unseres  Wissens 
liegt  nur  ein  einziger  derartiger  Versuch  im  grössten  Style  aus  der  neueren 
Zeit  vor.  Das  ist  der  äusserst  merkwürdige  „Essay  on  Classification1'  von 
Louis  Agassiz,  der  fast  gleichzeitig  mit  seinem  vernichtenden  Todfeinde, 
mit  Darwin' s  Theorie,  das  Licht  der  Welt  erblickte.  Jedem  Biologen, 
welcher  sich  nicht  entschliessen  kann  zur  absoluten  Verwerfung  der  teleo- 
logischen und  zur  unbedingten  Annahme  der  mechanischen  Methode,  em- 
pfehlen wir  dieses  höchst  interessante  Buch,  welches  trotz  des  grössten  Auf- 
wandes von  Geist  in  jedem  Capitel  sich  selbst  vernichtet  und  negirt,  zur 
aufmerksamen  Leetüre.  Und  wenn  er  dann  noch  an  dem  Vitalismus  oder 
der  Teleologie  festhalten  kann,  empfehlen  wir  ihm  dieselbe  dualistische  Con- 
sequenz, wie  Louis   Agassiz. 

VI.    Dualismus  und  Monismus. 

„Die  Kichtung  des  Denkens  der  Neuzeit  läuft  unverkennbar  auf 
Monismus  hinaus.  Der  Dualismus,  fasse  man  ihn  nun  als  Gegensatz 
von  Geist  und  Natur,  Inhalt  und  Form,  Wesen  und  Erscheinung,  oder 
wie  man  ihn  sonst  bezeichnen  mag,  ist  für  die  naturwissenschaftliche 
Anschauung  unserer  Tage  ein  vollkommen  überwundener  Standpunkt. 
Für  diese  giebt  es  keine  Materie  ohne  Geist  (ohne  die  sie  bestimmende 
Notwendigkeit),  aber  ebenso  wenig  auch  Geist  ohne  Materie.  Oder 
vielmehr  es  giebt  weder  Geist  noch  Materie  im  gewöhnlichen  Sinne, 
sondern  nur  Eins,  das  Beides  zugleich  ist.  Diese  auf  Beobachtung  be- 
ruhende Ansicht  des  Materialismus  zu  beschuldigen,  ist  eben  so  verkehrt, 
als  wollte  man  sie  des  Spiritualismus  zeihen. "  August  Schleicher. ') 

')  August  Schleicher,  die  Darwinsche  Theorie  und  die  Sprachwissen- 
schaft.    Weimar,  1863,   p.  8.     ludern   ich   meinem   lieben   Freunde   und   Collegen 


106  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

Diese  Worte  des  berühmten  comparativen  Linguisten,  der  die  na- 
turwissenschaftliche Untersuchungsmethode  in  der  vergleichenden 
Sprachforschung  durchgeführt,  und  als  der  Erste  von  allen  Sprach- 
forschern die  Theorie  Darwins  mit  eben  so  viel  Geist  als  Erfolg 
auf  diesen  Theil  der  vergleichenden  Physiologie  angewandt  hat,  be- 
zeichnen mit  treffender  Wahrheit  den  unversöhnlichen  Gegensatz  zwi- 
schen Dualismus  und  Monismus,  der  unsere  gesammte  Naturwissen- 
schaft, wie  die  ganze  Denkthätigkeit  unserer  Zeit  in  zwei  feindliche 
Heerlager  trennt.  Wir  können  nicht  umhin,  hier  am  Schlüsse  unserer 
kritisch -methodologischen  Einleitung  noch  kurz  bei  einer  Betrachtung 
dieses  Gegensatzes  zu  verweilen,  obschon  die  vorhergehenden  Ab- 
schnitte zur  Genüge  gezeigt  haben  werden,  dass  wir  den  Monismus 
in  aller  Schärfe  und  in  seinem  vollen  Umfange  für  die  einzig  richtige 
Weltanschauung  und  folglich  auch  für  die  einzig  richtige  Methode  in 
der  gesammten  Naturwissenschaft  halten,  und  dass  wir  jede  dualistische 
Erkenntniss-Methode  unbedingt  verwerfen. 

Die  thatsächliche  Vereinigung  und  vollkommene  Versöhnung, 
welche  in  dem  Monismus  solche  scheinbare  Gegensätze  finden,  wie  es 
Kraft  und  Stoff,  Geist  und  Körper,  Freiheit  und  Natur,  Wesen  und 
Erscheinung  sind,  ist  auf  keinem  Gebiete  des  Erkennens  mehr  hervor- 
zuheben, als  auf  demjenigen  der  Biologie,  und  vor  Allem  auf  dem  der 
organischen  Morphologie.  Denn,  wie  schon  im  Vorhergehenden  viel- 
fach gezeigt  worden  ist,  hat  Nichts  so  sehr  einer  gesunden  und  na- 
türlichen Entwicklung  unserer  Wissenschaft  geschadet,  als  der  künst- 
lich erzeugte  Dualismus,  durch  welchen  mau  bei  jeder  Beurtheilung 
eines  Organismus  seiner  materiellen  körperlichen  Erscheinung  eine  davon 
unabhängige  Idee  oder  einen  „Lebenszweck"  entgegensetzte,  ein 
Dualismus,  welcher  sich  in  der  naturwissenschaftlichen  Untersuchungs- 
Methode  als  Gegensatz    von  Philosophie    und  Naturwissenschaft,    von 


Schleicher,  der  diese  kleine  Schrift  in  Form  eines  Öffentlichen  Sendschrei- 
bens an  mich  pnblicirte,  hierfür  bei  dieser  Gelegenheit  öffentlich  meinen  herz- 
lichsten Dank  abstatte,  erlaube  ich  mir  zugleich  die  Naturforscher,  welche  sich 
für  die  weitere  Begründung  der  Descendenz-Theorie  interessiren  (und  alle  Biolo- 
gen sollten  dies  thuii!)  auf  die  schlagende  und  überraschende  Beweisführung 
hinzuweisen,  welche  Schleicher  dort  zu  Gunsten  derselben  mit  seinem  lingui- 
stischen Materiale  liefert.  In  der  That  treten  viele  Verhältnisse  der  natürlichen 
Zuchtwald  im  Kampfe  um  das  Dasein  bei  den  Sprachen  in  viel  klarerer  und 
einfacherer  Weise  hervor,  als  es  bei  anderen  Functionen  des  Thierleibes  der 
Fall  ist.  Wenn  die  vergleichende  Sprachforschung  erst  ihren  natürlichen  Platz 
als  empirisch-philosophische  Naturwissenschaft  in  der  Physiologie  des  Menschen 
gefunden  haben  wird,  so  wird  zweifelsohne  dieses  wichtige  und  interessante  Ver- 
hältniss  eine  gerechtere  und  allgemeinere  Würdigung  finden,  als  es  bisher  der 
Fall  gewesen  ist. 


VI.    Dualismus  und  Monismus.  107 

Denken  und  Erfahren  überall  zum  grössten  Schaden  einer  natürlichen 
Erkenntniss  entwickelt  hat.  Wie  unendlich  viel  weiter  würde  unsere 
Wissenschaft  jetzt  sein,  wenn  man  sich  dieses  künstlich  erzeugten 
Zwiespalts  bewusst  geworden  wäre,  und  wenn  man  mit  klarem  Be- 
wusstsein  die  monistische  Beurtheilungsvveise  als  die  einzig  mögliche 
Methode  einer  wirklichen  Natur-Erkenntniss  befolgt  hätte. 

Indem  der  Monismus  als  philosophisches  System  nichts  Anderes,  als 
das  reinste  und  allgemeinste  Resultat  unserer  allgemeinen  wissenschaft- 
lichen Weltanschauung,  unserer  gesammten  Natur-Erkenntniss  ist,  bildet 
seine  unterste  und  festeste  Grundlage  das  allgemeine  Causal-Ge- 
setz:  „Jede  Ursache,  jede  Kraft,  hat  ihre  nothwendige  Wirkung,  und 
jede  Wirkung,  jede  Erscheinung,  hat  ihre  nothwendige  Ursache."  Schon 
hieraus  ergiebt  sich,  dass  derselbe  jede  Teleologie  und  jeden  Vital  is- 
mus,  welche  Form  dieser  auch  annehmen  mag,  absolut  verneint,  und 
insofern  ist  die  monistische  Methode  in  der  Biologie  zugleich  die 
mechanische,  die  causale,  deren  alleinige  Berechtigung  der  vorige 
Abschnitt  dargethan  hat.  Da  nun  die  vielbestrittene  Geltung  des 
mechanischen  Causal-Gesetzes  in  der  organischen  Natur  durch  Nichts 
so  sehr  gefördert  und  so  bestimmt  begründet  worden  ist,  als  durch 
Darwins  Theorie,  so  können  wir  auch  diese  Lehre  als  eine  rein 
monistische  bezeichnen.  Und  in  der  That  beruht  dieses  ganze  wun- 
dervolle Lehrgebäude,  wie  alle  einzelnen  Theile  desselben,  vollkommen 
auf  reinen  monistischen  Anschauungen.  Wenn  wir  dereinst  mit  Hülfe 
der  Descendenz -Theorie  die  gesammte  Morphologie  der  Organismen 
auf  die  allein  sichere  Grundlage  der  mechanischen  Naturgesetze  be- 
gründet, die  Erscheinungen  der  organischen  Morphologie  mechanisch- 
causal,  aus  ihren  wirkenden  Ursachen  werden  .erklärt  haben,  so  wird 
das  darauf  gegründete  System  der  Morphologie  der  Organismen 
ein  absolut  monistisches  Lehrgebäude  sein,  wie  es  freilich  jede 
wahre  Wissenschaft,  insofern  sie  Naturwissenschaft  sein  will  und  muss, 
mit  Notwendigkeit  erstreben  muss. 

Da  der  Ausdruck  Monismus  in  unzweideutiger  Weise  diejenige 
kritische  Auffassung  der  gesammten  (organischen  und  anorganischen) 
Natur,  und  diejenige  kritische  Methode  ihrer  Erkenntniss,  welche  wir 
auf  den  vorhergehenden  Seiten  als  die  allein  mögliche  und  durchführ- 
bare dargethan  haben,  bezeichnet,  so  werden  wir  uns  dieses  kurzen 
und  bequemen  Ausdrucks  stets  bedienen,  wo  es  darauf  ankommt,  an 
die  von  uns  ausschliesslich  befolgte  Methode  zu  erinnern;  andererseits 
werden  wir  als  Dualismus  stets  kurz  diejenigen  verschiedenen,  der 
unseligen  entgegengesetzten  Auffässungsweisen  der  Natur  und  Metho- 
den ihrer  Erkenntniss  bezeichnen,  welche  als  „teleologische1'  und  „vi- 
talistische, "  als  „  systematische "  und  „  speculative "  Dogmen  für  die  Be- 
urtheilung    und  Erkenntniss    der   organischen   Natur  andere  Methoden 


108  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen. 

fordern,  als  für  die  Beurtheilung  und  Erkenntniss  der  anorganischen 
Natur  allgemein  anerkannt  sind. 

Von  allen  Gegensätzen,  welche  der  Dualismus  künstlich  erzeugt  und  auf- 
stellt, und  welche  der  Monismus  versöhnt  und  aufhebt,  ist  keiner  für  die 
gesammte  Wissenschaft  wichtiger,  als  der  auch  jetzt  noch  meist  so  all- 
gemein festgehaltene  Gegensatz  von  Kraft  und  Stoff,  von  Geist  und  Mate- 
rie, und  der  auf  diese  künstliche  Antinomie  gegründete  Gegensatz  von  Er- 
fahrung und  Denken,  von  empirischer  Naturwissenschaft  und  speculativer 
Philosophie.  Wir  haben  oben  im  Eiugange  unserer  methodologischen  Er- 
örterungen die  absolute  Notwendigkeit  eiuer  Vereinigung  dieser  Richtungen 
nachzuweisen  versucht,  und  wir  müssen  hier  am  Ende  nochmals  kurz  darauf 
zurückkommen,  da  nach  unserer  festesten  Ueberzeugung  die  versöhnende  Auf- 
hebung dieses  Gegensatzes  den  Anfang  und  das  Ende,  das  A  und  das  0  aller 
wirklichen  „Wissenschaft"  bildet.  Leider  wird  ja  immer  noch  von  so  vielen  Sei- 
ten der  durchaus  künstliche  Gegensatz,  durch  welchen  man  Empirie  und  Philo- 
sophie zu  trennen  sucht,  und  welcher  vorzüglich  einer  höchst  einseitigen  Ver- 
folgung jeder  der  beiden  Richtungen  entsprungen  ist,  so  starr  festgehalten, 
dass  nicht  genug  auf  die  Notwendigkeit  ihrer  Versöhnung  durch  den  Mo- 
nismus hingewiesen  werden  kann. 

Die  vollendete  Philosophie  der  Zukunft,  welche  wir  oben  als  das  reife 
Resultat  der  nothwendigen  und  vollkommenen  gegenseitigen  Durchdringung 
von  Empirie  und  Philosophie  bezeichnet  haben,  wird  in  der  That  nichts 
weiter  sein,  als  ein  vollendetes  System  des  Monismus.  Freilich  wird  zur 
Erreichung  dieses  hohen  Zieles  vor  Allem  die  erste  Vorbedingung  zu  er- 
füllen sein,  dass  die  Naturforscher  Philosophen  werden  und  dass  sich  die 
Philosophen  in  Naturforscher  umwandeln,  oder  dass  sich,  mit  anderen  Wor- 
ten, dieser  durchaus  künstliche  und  höchst  schädliche  Zwiespalt  aufhebt. 
In  der  That  ist,  wenn  wir  an  Beide  die  Anforderung  einer  vollständig 
reifen  Ausbildung  auf  ihrem  Gebiete  stellen,  nicht  ein  Unterschied  — 
wir  sagen,  nicht  ein  Unterschied  —  zwischen  Naturforschern  und  Philo- 
sophen, zwischeu  Natur- Wissenschaft  und  Natur -Philosophie  ausfindig  zu 
machen.  Beide  sind  vielmehr  stets  und  überall  ein  und  dasselbe.  Die 
höher  entwickelte  Zukunft  wird  diesen  künstlich  erzeugten  Dualismus  nicht 
mehr  kennen.  Ihre  monistische  Weltanschauung  wird  Naturwissenschaft 
und  Philosophie  zu  dem  grossen  Ganzen  einer  einzigen  allumfassenden 
Wissenschaft   verschmelzen. 

Von  dieser  absoluten  Wahrheit  des  Monismus  unerschütterlich  durch- 
drungen, schliessen  wir  diese  kritische  und  methodologische  Einleitung,  wie 
wir  sie  begonnen,  mit  einem  Ausspräche  unseres  unvergleichlichen  Goethe: 

„Weil  die  Materie  nie  ohne  Geist,  der  Geist  nie  ohne  Materie  existirt 
und  wirksam  sein  kann,  so  vermag  auch  die  Materie  sich  zu  steigern,  so- 
wie sich's  der  Geist  nicht  nehmen  lässt,  anzuziehen  und  abzustossen;  wie 
derjenige  nur  allein  zu  denken  vermag,  der  genugsam  getrennt  hat,  um  zu 
verbinden,  genugsam  verbunden  hat  um  wieder  trennen  zu  mögen." 


Zweites  Buch. 


Allgemeine  Untersuchungen  über  die  Natur  und  erste 

Entstehung   der  Organismen,  ihr  Verhältniss  zu  den 

Anorganen,  und  ihre  Eintheilung  in  Thiere 

und  Pflanzen. 


„In's  Innre  der  Natur    -a 

O  Du  Philister!  — 

„Dringt  kein  er  schaf'fn  er  Geist." 

Mich  und  Geschwister 

Mögt  ihr  an  solches  Wort 

Nur  nicht  erinnern ; 

Wir  denken:  Ort  für  Ort 

Sind  wir  im  Innern. 

„Glückselig!   wem  sie  nur 

„Die  äussre  Schale  weist!" 

Das  hör'  ich   sechzig  Jahre  wiederholen, 

Ich  fluche  drauf,  aber  verstohlen; 

Sage  mir  tausend  tausendmale: 

Alles  giebt  sie  reichlich   und  gern; 

Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale, 

Alles  ist  sie  mit  einem  Male; 

Dich   prüfe  Du   nur  allermeist, 

Ob  Du  Kern   oder  Schale  seist. 


Goethe. 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe. 


111 


Fünftes  Capitel. 


Organismen    und  Anorgane. 


„Der  Geist  übt  sich  an  dem  würdigsten  Gegen- 
stande, indem  er  das  Lebendige  nach  seinem  inner- 
sten  Werth    zu   kennen  und  zu   zergliedern  sucht." 

Goethe. 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe. 

I)  1.  D  iffer entielle  Bedeutung   der  organischen  und  anorganischen 

Materien. 

Bevor  wir  an  unsere  eigentliche  Aufgabe  gehen,  und  nach  den 
im  ersten  Buche  festgestellten  Methoden  und  Principien  die  Grundzüge 
der  generellen  Morphologie  der  Organismen  zu  entwerfen  versuchen, 
scheint  es  uns  unerlässlich,  den  Begriff  des  Organismus  selbst,  sowie 
sein  Verhältniss  zur  anorganischen  Natur,  und  die  übliche  Eintheilung 
der  Organismen  in  Thiere  und  Pflanzen,  einer  allgemeinen  kritischen 
Untersuchung  zu  unterwerfen.  Indem  wir  diese  wichtigen  Grundbe- 
griffe feststellen,  gewinnen  wir  den  festen  Boden,  auf  welchem  wir 
nachher  sicher  weiter  bauen  können,  während  die  gewöhnliche  Ver- 
nachlässigung der  unentbehrlichen  Fundamente  zu  der  chaotischen 
Begriffs- Verwirrung  führt,  von  welcher  gegenwärtig  unsere  Wissen- 
schaft ein  so  trauriges  Bild  liefert. 

Um  zu  einer  klaren  Einsicht  in  „  den  innersten  Werth  des  Leben- 
digen," in  den  wesentlichen  Character  der  Organismen,  der  Thiere 
und  Pflanzen,  zu  gelangen,  erscheint  es  uns  am  zwTeckmässigsten,  den- 
selben die  leblosen  Naturkörper,  die  Anorgane,  gegenüber  zu  stellen, 
und  beide  Hauptgruppen  von  Naturkörpern,  lebendige  und  leblose,  hin- 
sichtlich aller  allgemeinen  Eigenschaften  (in  chemischer,  morphologi- 
scher und  physikalischer  Beziehung)  zu  vergleichen.  Indem  wir  hier- 
bei sowohl  synthetisch  die  Uebereinstimmungen,  als  analytisch  die  Un- 
terschiede beider  Körpergruppen  hervorheben,  werden  wir  zu  einer 
tieferen    Einsicht    in    die    innerste   Natur   und    die    gegenseitigen    Be- 


112  Organismen  und  Anorgane. 

Ziehungen  derselben  gelangen,  als  es  durch  eine  blosse  Definition  der 
Begriffe  möglich  ist. 

Der  Begriff  des  Organismus  ruht  ursprünglich  auf  morpho- 
logischer Basis  und  bezeichnet  einen  Naturkörper,  welcher  aus  „Or- 
ganen" zusammengesetzt  ist,  d.  h.  aus  Werkzeugen  oder  ungleicharti- 
gen Theilen,  welche  zum  Zwecke  des  Ganzen  vereinigt  zusammenwir- 
ken. Gegenwärtig  haben  wir  nun  zahlreiche  ,, Organismen  ohne  Or- 
gane" kennen  gelernt,  vor  Allen  die  vollkommen  homogenen  und 
structurlosen  Plasmakörper  oder  Moneren  (Prologenes,  Protamoeba 
etc.),  ferner  viele  nach stver wandte  einfache  Plasmaklumpen,  deren 
einziges  discretes  Organ  eine  einfache  Schale  oder  eine  contractile 
Blase  ist  (z.  B.  viele  Rhizopoden  und  Protoplasten),  sodann  viele 
einzellige  Organismen,  deren  einziges  discretes  Organ  der  im  Plasma 
eingeschlossene  Zellenkern,  und  bisweilen  noch  eine  äussere  Um- 
hlillungshaut  ist  (viele  Protisten  und  einzellige  Pflanzen  etc.)  Da  Vie- 
len dieser  einfachsten  Organismen  bestimmte  morphologische  Charactere 
ganz  fehlen,  und  dieselben  zum  Theil  gar  keine,  zum  Theil  nur  solche 
differente  geformte  Theile  besitzen,  die  kaum  den  Namen  von  „  Organen " 
verdienen,  so  können  wir  den  Begriff  des  Organismus  nur  auf  physio- 
logischer Basis  begründen,  und  nennen  demgemäss Organismen  alle 
jene  Naturkörper,  welche  die  eigenthümlichen  Bewegungs- 
erscheinungen des  „Lebens",  und  namentlich  ganz  allge- 
mein diejenigen  der  Ernährung  zeigen1).  Anorgane  dagegen 
nennen  wir  alle  diejenigen  Naturkörper,  welche  niemals  die  Function 
der  Ernährung,  und  auch  keine  der  anderen  specifischen  „Lebens- 
thätigkeiten "  (Fortpflanzung,  willkührliche  Bewegung,  Empfindung) 
ausüben. 

Da  nun  die  Ernährungsthätigkeit  der  Organismen,  gleich  allen  an- 
deren Lebensfunctionen,  ebenso  eine  unmittelbare  Wirkung  ihrer  ma- 
teriellen Zusammensetzung  ist,  wie  jede  physikalische  Eigenschaft 
eines  Anorganes  unmittelbar  in  dessen  Materie  begründet  ist,  da  über- 
haupt jede  Eigenschaft,  Kraft  oder  Function  eines  Körpers  die  un- 
mittelbare Folge  seiner  materiellen  Zusammensetzung  und  seiner  Wech- 
selwirkung mit  der  umgebenden  Materie  ist,  so  werden  wir  die  nach- 
folgende Vergleichung  der  Organismen  und  Anorgane  zunächst  mit 
der  vergleichenden  Betrachtung  ihres  materiellen  Substrates  beginnen 


')  Gewöhnlich  werden  als  die  allgemeinen  Lebensthätigkeiten,  welche  allen 
Organismen  zukommen,  die  drei  Functionen  der  Ernährung,  des  Wachsthums 
und  der  Fortpflauzung  bezeichnet.  Das  Wachsthum  haben  wir  hier  nicht  aufge- 
führt, weil  dasselbe  auch  gleicherweise  den  anorganischen  Individuen  zukommt, 
und  die  Fortpflanzung  nicht,  weil  dieselbe  vielen  (geschlechtslosen)  organischen 
Individuen  abgeht. 


I.     Organische  und  anorganische  Stoffe.  113 

müssen.  Denn  lediglich  aus  den  Verschiedenheiten,  welche  sich  in  der 
feineren  und  gröberen  Zusammensetzung  der  Materie  zwischen  Or- 
ganismen und  Anorganen  zeigen,  können  wir  uns  die  davon  unmittelbar 
abhängigen  Verschiedenheiten  in  den  Formen  und  Kräften  (Functionen) 
beider  Gruppen  von  Naturkörperu  erklären. 

Da  die  Aufgabe   des  vorliegenden  Werkes   nur  die   generelle  Morpho- 
logie  der  Organismen   ist,    so  könnte  es  unnöthig  erscheinen,  auch  die  An- 
organe  hier  noch  besonders   in    Betracht  zu  ziehen  und   eine  Vergleichung 
zwischen  Beiden  anzustellen.     Indessen  hoffen  wir,  durch  diese  Vergleichung 
selbst  von  dem  Gegentheil   zu  überzeugen.     Denn  nach   unserem  Dafürhal- 
ten ist  gerade  die  Verkennung  der  innigen  Beziehungen,   welehe   zwischen 
den    leblosen   und    belebten  Naturkörpern    überall    existiren,    vorzugsweise 
Schuld  an  der  grundfalschen  Beurtheilung,  welche  das  Wesen  der  letzteren 
gewöhnlich  erfahren  hat,  und  an  dem  teleologisch-vitalistischen  Standpunkt, 
welchen    die  Mehrzahl   der  Naturforscher    den  Organismen   gegenüber   ein- 
genommen hat.     Wie  bei  den  meisten  biologischen  Untersuchungen,  so  hat 
man  auch  bei  Vergleichung  der  Organismen  und  Anorgane   fast  immer  von 
einseitig    analytischem  Standpunkte    aus    nur    die   trennenden  Unterschiede 
beider  Gruppen  von  materiellen  Körpern  hervorgehoben,    und   dagegen  die 
verknüpfende  Synthese,   welche   beide   Gruppen  durch   Hervorhebung  ihrer 
übereinstimmenden  Charaktere  als  ein  einheitliches  grosses  materielles  Natur- 
ganzes darstellt,  fast  gänzlich  vernachlässigt.     Wir  sind  aber  zur  allseitigen 
Vergleichung  der  Organismen  und  Anorgane  hier  um  so  mehr   aufgefordert, 
als  die  im  folgenden  Capitel  zu  besprechende  Autogonie   nur  durch  vorur- 
teilsfreie Würdigung  aller  Seiten  dieses  Verhältnisses  erklärt  werden  kann. 
Von   allen  Grenzlinien,    durch  welche   wir  bei  unseren   systematischen 
Eintheiluugs-Versuchen  die  Naturkörper  in   natürliche  Gruppen   zu  trennen 
streben,    erscheint  keine  einzige   so   scharf,  so  deutlich,  so   unübersteiglich, 
als  diejenige ,   welche  wir  zwischen  den  belebten   und   den  leblosen  Natur- 
körpern zu  ziehen  gewohnt  sind.     Während  die  beiden  „Reiche"  der  Thiere 
und  Pflanzen  ganz  allmählig  in  einander  überzugehen  und  durch  zahlreiche 
Zwischenformen  unmittelbar  verbunden  zu  sein  scheinen,  während  jede  ein- 
zelne grössere   und   kleinere  Abtheilung  des    Thier-   und   Pflanzen -Reiches 
mit  einer  oder  mehreren   anderen   Abtheilungen   ebenfalls   durch   Zwischen- 
formen so  verknüpft  ist,  dass  jede  scharfe  Grenzlinie  hier  mehr  oder  weniger 
gezwungen  und  künstlich  erscheint,   so  sind  dagegen  Organismen  und  An- 
organe im  allgemeinen  Bewusstsein  der  Menschen  so  vollkommen  von  ein- 
ander geschieden,   durch   eine  so   unübersteigliche  Kluft   von  einander  ge- 
trennt, dass  Niemand  jemals  im  concreten  Falle  darüber  in  Zweifel  sein  zu 
können  glaubt,   ob   der  vorliegende  Naturkörper  als  belebter  oder  als  leb- 
loser zu  betrachten  sei. 

Dieser  herrschenden  Vorstellung  gegenüber,  welcher  es  schon  über- 
flüssig erscheinen  dürfte,  den  „absoluten"  Unterschied  zwischen  Organismen 
und  Anorganen  überhaupt  nur  in  Frage  zu  ziehen,  erscheint  es  doppelt  not- 
wendig, hier  ausdrücklich  darauf  hinzuweisen,  dass  auch  diese  Unterschei- 
dung nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  gültig  ist.     Denn  die  beiden  Gruppen 

llaeckel,   Generelle  Morphologie.  8 


1 14  Organismen  und  Anorgane. 

der  leblosen  und  belebten  Natnrkörper  sind  durch  keine  absolut  unausfüll- 
bare  Kluft  von  einander  getrennt,  und  gehören  nicht  zwei  verschiedenen 
Welten  an;  die  ersten  Organismen  sind  unmittelbar  aus  Anorganen  entstan- 
den. Diese  Behauptung  lässt  sich  schon  als  eine  absolut  nothwendige 
Folgerung  aus  der  allgemein  angenommenen  Kant-Laplace' sehen  Theorie 
über  die  Entstehung  der  Himmelskörper  und  der  Erde  insbesondere  ablei- 
ten. Denn  was  sagt  diese  Theorie  Anderes,  als  dass  das  Leben  auf  unserer 
Erde  zn  einer  bestimmten  Zeit  zum  ersten  Male  auftrat?  Und  wenn  wir 
diese  ersteEntstehung  des  Lebens  aufderErde  nicht  der  herrschen- 
den Vorstellung  gemäss  als  einen  „Schöpfungsakt"  ansehen  wollen,  d.  h. 
als  ein  „Wunder",  welches  sich  als  solches  jeder  naturwissenschaftlichen 
Betrachtung  entzieht,  so  müssen  wir  nothwendig  annehmen,  dass  in  jenem 
Zeitpunkte  anorganische  Naturkörper  zu  organischen  Verbindungen  zusam- 
mentraten, dass  die  „leblose  Materie"  sich  belebte,  dass  Organismen  aus 
Anorganen   sich  hervorbildeten.     Ein  Drittes  giebt  es  nicht. 

Wenn  nun  schon  lediglich  diese  Erwägung  uns  zu  der  Behauptung  be- 
rechtigt, dass  der  Uebergang  aus  anorganischen  in  organische  und  in  wirk- 
lich „lebende"  Körper  thatsächlich  zu  irgend  einer  Zeit  erfolgt  sein  muss, 
so  knüpft  sich  daran  weiter  die  Frage,  wie  derselbe  zu  Stande  kam,  und 
zugleich  die  Aufgabe,  die  Unterschiede  zwischen  diesen  beiden  Gruppen 
von  Naturkörpern  schai'f  zn  untersuchen.  Diese  Forderung  erscheint  um  so 
mehr  berechtigt,  als  offenbar  jene  trennenden  Unterschiede  bisher  meist  all- 
zusehr betont,  und  dagegen  die  verknüpfenden  gleichen  Grundeigenschaften, 
welche  Organismen  und  Anorgane  innig  verbinden,  gewöhnlich  nicht  be- 
rücksichtigt wurden.  Indem  wir  nun  hier  nicht  bloss  analytisch  das  Unter- 
scheidende, sondern  auch  synthetisch  das  Gemeinsame  der  lebenden  und  der 
leblosen  Naturkörper  hervorheben,  so  werden  wir  dadurch  alsbald  nicht 
allein  den  Vortheil  haben,  den  jede  allseitige  Vergleichung  zweier  Objecte 
bietet,  dass  wir  nämlich  den  Character  jedes  einzelnen  richtiger  und  voll- 
ständiger beurtheilen;  sondern  wir  werden  auch  zu  der  äusserst  wichtigen 
Anschauung  gelangen,  dass  lebendige  und  leblose  Natur  in  ebenso  innigem 
und  notwendigem  Zusammenhange  stehen,  als  alle  Theile  der  Natur  über- 
haupt, und  dass  die  gesammte  Natur,  organische  und  anorganische,  zu- 
sammen ein  einziges  grosses  zusammenhängendes  Ganzes  bildet,  welches 
allenthalben  und  zu  jeder  Zeit  von  denselben  einfachen,  grossen  und  ewigen 
Gesetzen  regiert  wird. 

Da  diese  nothwendige  Vergleichung  der  Organismen  und  der  Anorgane 
nur  dann  von  Nutzen  sein  kann,  wenn  wir  sammtliche  Seiten  ihrer  körper- 
lichen Erscheinung  vergleichend  ins  Auge  fassen,  so  werden  wir  uns  hier 
nicht  bloss  auf  die  Betrachtung  der  Form  beschränken  können,  welche 
schon  oben  (p.  24)  mit  Vortheil  verglichen  wurde,  sondern  wir  werden  eben 
so  auch  den  Stoff,  welcher  der  Form  zu  Grunde  liegt,  und  die  Function, 
welche  derselbe  leistet,  mit  in  Betracht  ziehen  müssen;  wir  werden  uns 
also  aus  dem  engeren  Gebiete  der  Morphologie  einen  Ausflug  auf  das  wei- 
tere Feld  der  allgemeinen  Biologie  und  Abiologie  (Chemie  und  Physik  mit 
eingeschlossen),  erlauben  müssen  (vergl.  oben  p.  21).  In  erster  Linie  wer- 
den wir  dabei    die  organische   und    anorganische  Materie    zu   vergleichen 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  U5 

haben,  da  wir  ja  die  Formen  sowohl  als  die  Functionen  der  Naturkörper 
lediglich  als  die  unmittelbaren  Folgen  ihrer  eigenen  materiellen  Zusammen- 
setzung und  ihrer  Wechselwirkung  mit  der  umgebenden  Materie  betrachten 
müssen.  Sowohl  die  elementare  Constitution  der  Materie,  als  ihre  weitere 
Zusammensetzung  durch  Verbindung  der  Elemente,  als  endlich  auch  ihr 
Aggregatzustand  sind  dabei  zu  berücksichtigen.  Erst  wenn  wir  in  allen 
diesen  Beziehungen  die  Unterschiede  sowohl  als  die  Uebereinstimmungen 
der  Materie  zwischen  den  Organismen  und  Anorganen  vorurtheilsfrei  ge- 
prüft haben,  werden  wir  im  Stande  sein,  die  Unterschiede  und  die  Ueber- 
einstimmungen der  Formen  und  Functionen  zwischen  den  Organismen  und 
Anorganen  als  die  nothwendige  Wirkung  jener  materiellen  Ursachen  zu  er- 
kennen, und  die  differentielle  Bedeutung  der  organischen  und  anorganischen 
Materien  richtig  zu  würdigen. 

I)     2.    Atomistische  Zusammensetzung    der   organischen  und 

anorganischen  Materien. 

Alle  Organismen  und  alle  Anorgane  welche  unserer  wissenschaft- 
lichen Erkenntniss  zugänglich  sind,  zeigen  ganz  übereinstimmend  eine 
gewisse  Summe  von  ursprünglichen  allgemeinen  Eigenschaften,  welche 
aller  Materie  nothwendig  inhäriren.  Diese  generellen  Qualitäten  der 
Naturkörper,  welche  in  ganz  gleicher  Weise  sämmtlichen  belebten,  wie 
sämmtlichen  leblosen  Körpern  zukommen,  sind:  Ausdehnung,  Un- 
durchdringlichkeit, Theilbarkeit,  Ausdehnbarkeit,  Zusammendrückbar- 
keit,  Elasticität,  Porosität,  Trägheit,  Schwere  etc.  Da  wir  diese  allge- 
meinen Grund-Eigenschaften  sämmtlicher  Naturkörper  als  aus  der  Physik 
bekannte  und  allgemein  anerkannte  Thatsachen  voraussetzen  müssen, 
so  haben  wir  nicht  nöthig,  hier  näher  darauf  einzugehen,  und  wollen 
nur,  was  so  oft  vergessen  wird,  ausdrücklich  constatiren,  dass  in  allen 
diesen  Beziehungen,  in  allen  allgemeinen  Grund-Eigenschaften 
'der  Materie  nicht  der  geringste  Unterschied  zwischen  den 
Organismen  und  den  Anorganen  existirt. 

Aus  diesen  allgemeinsten  Resultaten  der  Physik,  haben  sich  die 
Naturforscher  übereinstimmend  eine  allgemeine  Grundanschauung  über 
die  primitive  Constitution  der  Materie  (organischer  und  anorganischer) 
gebildet,  welche  unter  dem  Namen  der  atomistischen  Theorie  von 
allen  Physikern  und  Chemikern  angenommen  ist.  Danach  besteht  die 
gesammte  Materie  aus  Atomen,  d.  h.  aus  kleinsten,  discreten,  nicht 
weiter  theilbaren  Massentheilchen,  welche  der  allgemeinen  Massen- 
anziehung, der  Schwere  unterworfen,  sich  gegenseitig  durch  diese 
Attractions-Kraft  oder  Cohäsion  anziehen.  Die  allgemeinen  Er- 
scheinungen der  Wärme,  des  Aggregatzustandes  etc.  zwingen  ferner  zu 
der  Annahme,  dass  diese  letzten  unzerlegbaren  Massentheilchen  durch 
eine  allgemein  verbreitete  indifferente  Materie  von  nicht  wahrnehm- 
barem Gewichte,  den  Aether,  getrennt  sind.  Auf  den  Schwingungen 
dieses  Aethers  beruhen  die  Erscheinungen  der  Wärme  und  des  Lichtes. 

8* 


|  IQ  Organismen  und  Anorgane. 

Dieser  die  Atome  rings  umgebende  und  von  einander  trennende  Aether 
besteht  selbst  wieder,  gleich  der  Materie,  aus  discreten  Theilchen, 
welche  von  den  Atomen  angezogen  werden,  sich  selbst  aber  unter  ein- 
ander durch  ihre  eigene  Abstossungskraft  oder  Repulsivkraft  (Expan- 
sion) abstossen.  Diese  atomistische  Theorie  erklärt  in  ganz 
gleicher  Weise  die  allgemeinen  Grundeigenschaften  der  Or- 
ganismen und  der  Anorgane.  Die  fundamentale  Constitution  der 
Materie,  ihre  Zusammensetzung  aus  Atomen,  ist  also  in  sämmtlichen 
Naturkörpern,  leblosen  und  belebten,  dieselbe1). 

Die  mannichfaltigen  Unterschiede  in  der  Erscheinung  und  im  We- 
sen der  verschiedenen  Naturkörper  beruhen  theils  auf  der  ununter- 
brochenen Thätigkeit  der  allgemeinen  Molekularkräfte  (der  Cohäsion 
der  discreten  Atome  und  der  Expansion  der  discreten,  die  Atome  um- 
hüllenden und  trennenden  Aethertheilchen) ,  theils  auf  der  qualitativen 
Verschiedenheit  der  Atome.  Diese  letztere  anzunehmen  werden  wir 
durch  die  allgemeinsten  Resultate  der  Chemie  gezwungen.  Indem 
nämlich  die  Chemie  in  ihrem  Bestreben,  die  Materie  in  ihre  einfachsten 
Bestandteile  zu  zerlegen,  schliesslich  überall  eine  geringe  Zahl  von 
unzerlegbaren,  qualitativ  verschiedenen  Ur  st  offen  oder  chemischen  Ele- 
menten als  allgemeine  Grundlage  der  gesammten  Materie  nachweist, 
führt  sie  in  Verbindung  mit  jenen  allgemeinsten  Resultaten  der  Physik 
zu  der  Annahme,  dass  die  qualitativen  Verschiedenheiten  der  chemisch 
nicht  weiter  zerlegbaren  Materien  bedingt  sind  durch  eine  qualitative 
Verschiedenheit  der  Atome,  welche  diese  Materien  constitmren.  Es 
würden  also  eben  so  viele  verschiedene  Atom- Arten,  als  chemische 
Elemente  existiren2).     Da  sich   die   chemischen  Elemente  in  be'stimm- 

*)  Dieser  jetzt  allgemein  von  den  Naturforschern  angenommenen  atomistischen 
Theorie,  welche  bis  jetzt  allein  die  sämmtlichen  allgemeinen  Erscheinungen  der 
Körperwelt  zu  erklären  im  Stande  ist,  haben  zwar  viele  speculative  Philosophen 
unter  dem  Namen  der  dynamischen  Theorie  eine  (übrigens  mehrfach  modificirte) 
andere  Ansicht  von  der  fundamentalen  Constitution  der  Materie  entgegengesetzt, 
wonach  dieselbe  nur  aus  widerstrebenden  Kräften  zusammengesetzt  ist.  Doch 
hat  diese  nicht  zu  einer  allgemeinen  Anerkennung  gelangen  können,  weil  sie  eine 
grössere  Anzahl  von  Thatsachen  nicht  erklärt,  und  anderen  unmittelbar  wider- 
spricht. 

2)  Die  Hypothese,  dass  die  qualitative  Verschiedenheit  der  chemischen  Ele- 
mente, der  durch  die  chemische  Analyse  nicht  weiter  zerlegbaren  Grundstoffe, 
bedingt  sei  durch  eine  qualitative  Verschiedenheit  der  Massen-Atome,  welche 
die  Elemente  constituiren,  ist  von  den  Chemikern  jetzt  fast  allgemein  angenom- 
men. Dieser  Hypothese  steht  eine  zweite,  bisher  noch  wenig  beachtete,  un- 
seres Erachtens  aber  richtigere  Hypothese  gegenüber,  welche  behauptet,  dass  es 
nur  zweierlei  Arten  von  Atomen  giebt,  Massen-Atome  und  Aether-Atome,  und 
dass  die  Verschiedenheit  der  chemischen  Elemente  bedingt  ist  durch  die  ver- 
schiedenartige Zahl  der  gleichartigen  Massen-Atome,  welche  zu  verschiedenen 
Gruppen  zusammentreten.     Danach  wäre  also  jedes  sogenannte  Atom  eines 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  117 

ten  Gewichts  Verhältnissen  mit  einander  verbinden,  so  mnss  das  Gewicht 
der  verschiedenen  Atom-Arten  ein  verschiedenes  sein.  Da  nun  diese 
qualitative  Differenz  der  Atom-Arten  und  der  aus  ihnen  zusammenge- 
setzten chemischen  Elemente  die  ganze  Mannichfaltigkeit  in  den  Natur- 
körpern bedingt,  so  drängt  sich  hier  zunächst  die  Frage  auf,  ob  in  den 
Organismen  andere  Atom-Arten,  d.  h.  andere  chemische  Elemente  vor- 
kommen, als  in  den  Anorganen.  Als  negative  Antwort  hierauf  haben 
wir  hier  zunächst  das  hochwichtige  Gesetz  hervorzuheben,  dass  alle 
chemischen  Elemente,  welche  den  Körper  der  Organismen  zu- 
sammensetzen, auch  in  der  anorganischen  Natur  vorkom- 
men. Es  giebt  keinen  unzerlegbaren  Grundstoff  in  irgend  einem  Or- 
ganismus, welcher  nicht  auch  ausserhalb  desselben  als  lebloser  Natur- 
körper, als  Anorgau,  oder  als  Bestandtheil  eines  solchen  auftritt. 

Diese  Thatsache  ist  zwar  allbekannt,   wird  aber  in  ihrer  ganzen 
Tragweite  insofern  meist  nicht  gehörig  gewürdigt,  als  man  daraus  ge- 


Elementes  nichts  Anderes,    als    eine  Summe   von  Massen- Atomen, 
welche,  jedes  von  einer  Aether-Hülle  (wie  von  einer  Atmosphäre)  umgeben,  in 
bestimmter  Zahl  und    zu   einer   bestimmten  Gruppe  verbunden  sind. 
Für  jedes  Element   wäre  die  Zahl,   in  welcher   sich  die  Atome  zu  einer  Gruppe 
verbinden,  characteristisch  und  unveränderlich.     Wenn  gleiche  Atom-Gruppen  mit 
gleichen  Aetherhüllen  zusammentreten,  so  bilden  sie  einen  Gruppenbau,  den  wir 
einen   einfachen   chemischen  Körper   (Element)   nennen.     „So   viele  verschiedene 
Gruppen    es  also  giebt,    so   viele   verschiedene  Elemente,    und  der  ursprünglich 
einzige  Unterschied  der  Elemente  besteht  in  der  verschiedenen  Anzahl  der  Mas- 
senatome in  ihren  Gruppen.   Es  giebt  demnach  in  der  Natur  (als  Körper- 
welt) zwei  Materien,   welche   aus  Atomen  bestehen;   diese  Materien 
heissenMasse  undAether.     JedesAtom  der  Masse  zieht  alle  übrigen 
Atome  an;   jedes  Atom    des  Aethers    stösst  alle   übrigen  Atome  ab. 
Anziehung  und  Abstossung    erfolgen    nach   dem  Newton'schen  Ge- 
setze".    Es  wächst  also  sowohl  die  Anziehung  der  Massen-Atome,  als  die  Ab- 
stossung der  Aether- Atome,  in  demselben  Verhältnisse,    in  welchem  die  Anzahl 
der  Atome  zunimmt,  und  in  welchem  das  Quadrat  der  Entfernung  abnimmt.     Die 
Aether-Atome  und  die  Massen-Atome  sind  wahrscheinlich  gleich  grosse  Kugeln, 
von  sehr  geringer  Grösse.     Die  Zahl   der  Atome  beider  Materien   ist  unendlich 
gross,  wie  der  Weltraum,    welchen  sie  erfüllen.     Die   nähere  Begründung  dieser 
wichtigen    Hypothese    ist    nachzusehen    in    der    geistvollen    kleinen    Schrift   von 
H.  Wiechmann:   Ueber  den  Bau   der   einfachen  Körper.     Eine  Hypothese   zur 
Erklärung  der  wichtigsten  Naturerscheinungen.     Oldenburg  1864;  und  in  der  dort 
citirten  Schrift  von  C.  Hnllmann:  das  Grundgesetz  der  Materie.    Oldenburg  1863. 
Es  ist  klar,   dass   diese  Hypothese    dem   einfachen    monistischen  Grundcharacter 
der  ganzen  Natur  weit  besser  entspricht,  als  die  gegenwärtig  herrschende  Hypo- 
these  von    der  ursprünglich  verschiedenen   Qualität   der  Massen -Atome   in    den 
verschiedenen  Elementen.     Wir  glauben,  dass  in  derselben  die  erste  Grundlage 
des  monistischen  kosmologischen  Systems    zu  finden   ist.     Uebrigens    ist  sie  zu- 
nächst für  die  uns  hier  vorliegende  Frage  gleichgültig,  weil  ja  die  Identität  der 
Elemente  in  den  Organismen  und  Anorganen  (mögen  nun  die  Elemente  aus  ein- 
fachen oder  zusammengesetzten  Atomen  bestehen)  empirisch  bewiesen  ist, 


118  Organismen  und  Anorgane. 

wohnlich  nicht  den  sich  unmittelbar  ergebenden  Schluss  zieht,  dass 
bei  der  qualitativen  Identität  der  Elementarstoffe,  welche  die  Anorgane 
und  die  Organismen  zusammensetzen,  auch  die  fundamentalen  Kräfte 
oder  Functionen  in  beiden  Klassen  von  Naturkörpern  nicht  qualitativ 
verschieden  sein  werden.  Aus  der  Nichtexistenz  eines  beson- 
deren Lebensstoffes  wird  daher  der  Monismus  schon  die  Nicht- 
existenz einer  besonderen  Lebenskraft  folgern  müssen.  Wie 
man  nun  in  Folge  unserer  vorgeschrittenen  chemischen  Kenntnisse  die 
frühere  Annahme,  dass  besondere  den  Organismen  eigenthümliche  und 
ausserhalb  derselben  nicht  vorkommende  chemische  Elemente,  beson- 
dere „Lebensstoffe",  die  organischen  Körper  zusammensetzen  und  deren 
Lebenserscheinungen  zu  Grunde  liegen,  jetzt  allgemein  verlassen  hat, 
so  wird  man  ebenso  nothwendig  die  auf  gleich  unvollständige  Erkennt- 
niss  gegründete  Hypothese  fallen  lassen  müssen,  dass  es  besondere 
„Lebenskräfte"  sind,  welche  die  Formen,  wie  die  Functionen  der  Or- 
ganismen bedingen. 

Von  den  unzerlegbaren  chemischen  Elementen,  welche  bis  jetzt 
auf  unserer  Erde  gefunden  worden  sind,  und  deren  Zahl  sich  bereits 
auf  mehr  als  sechzig  beläuft,  ist  nur  ungefähr  der  dritte  Theil  im 
Körper  der  Organismen  aufgefunden.  Und  von  diesen  ungefähr  zwan- 
zig chemischen  Elementarstoffen  ist  es  wiederum  nur  etwa  die  Hälfte, 
welche  allgemein  verbreitet  und  in  grösserer  Menge  in  den  organischen 
Körpern  vorkommt.  Bekanntlich  sind  es  vor  Allen  die  vier  Elemente : 
Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Wasserstoff  und  Stickstoff,  die  vorzugsweise  die 
sogenannten  organischen  Verbindungen  im  engeren  Sinne  zusammen- 
setzen, und  die  man  desshalb  auch  als  „Organogene"  besonders  her- 
vorgehoben hat.  An  der  Spitze  derselben  steht  der  Kohlenstoff, 
dessen  merkwürdige  physikalische  und  chemische  Eigenthümlichkeiten 
wir  als  die  letzte  Ursache  aller  der  eigenthümlichen  Functionen  und 
Formen  zu  betrachten  haben,  welche  die  Organismen  vor  den  An- 
organen  auszeichnen.  An  diese  vier  organogenen  Elemente  schliesst 
sich  dann  zunächst  Schwefel  und  Phosphor  an.  Von  den  übrigen 
Elementen  sind  Chlor,  Kalium,  Natrium,  Calcium  und  demnächst  Eisen 
und  Kiesel  am  weitesten  verbreitet.  Viel  seltener  und  meist  nur  in 
sehr  kleinen  Quantitäten  kommen  Jod,  Brom,  Fluor,  Magnium,  Alu- 
minium, Manganium,  Strontium,  Lithium  und  einige  andere  seltene  Ur- 
stoffe  in  den  Organismen  vor. 

I)     3.    Verbindungen   der  Elemente  zu  organischen  und 
anorganischen  Materien. 

Nachdem  die  Chemie  nachgewiesen  hatte,  dass  alle  chemischen 
Grundstoffe  oder  Elemente,  welche  den  Körper  der  Organismen  zu- 
sammensetzen, sich  auch  ausserhalb  desselben,  in  der  anorganischen 
Natur  vorfinden,  dass  mithin  kein  besonderes   „organisches  Element" 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  119 

existirt,  glaubte  man  in  der  Art  und  Weise  des  Zusammentritts  der 
Elemente  zu  zusammengesetzten  Verbindungen  einen  absoluten  Unter- 
schied zwischen  Organismen  und  Anorganen  aufstellen  zu  können.  Be- 
sondere Gesetze  des  „Lebens"  sollten  die  Vereinigung  der  Elemente 
innerhalb  des  Organismus  regeln,  und  die  mystische  „Lebenskraft" 
sollte  die  Elemente  zum  Eingehen  von  Verbindungen  zwingen,  welche 
ausserhalb  des  lebendigen  Körpers  nie  sollten  zu  Stande  kommen 
können.  Diese  irrthümliche  Vorstellung,  welche  vorzüglich  durch  die 
Autoritäten  von  Berzelius  und  Johannes  Müller  in  der  Biologie 
zu  sehr  allgemeinem  Ansehen  gelangte,  hat  solchen  Einfluss  auf  die 
allgemeine  Beurtheilung  der  Organismen  gewonnen,  und  behauptet 
denselben  theilweis  noch  heute,  dass  wir  dieselbe  hier  ausdrücklich 
als  einen  Irrtimm  bezeichnen  müssen,  der  durch  die  neuere  Chemie 
definitiv  widerlegt  ist. 

Vollkommen  richtig  ist  es,  dass  diejenigen  eigenthümlichen  For- 
men und  Functionen,  welche  die  Organismen  von  den  Anorganen  un- 
terscheiden, einzig  und  allein  die  nothwendige  Wirkung  sind  von  den 
eigenthümlichen  Verbindungen,  welche  die  Elemente  im  Körper  der 
Organismen  eingehen,  und  welche  man  allgemein  als  „organische" 
Materien  zusammenfasse  Vollkommen  falsch  aber  ist  es,  wenn  man 
diese  eigenthümlichen  „organischen  Verbindungen"  von  etwas  Anderem 
ableitet,  als  von  der  chemischen  Wahlverwandtschaft  der  Elemente, 
welche  in  allen  Fällen,  selbstständig,  vermöge  der  ihren  Atomen  un- 
zertrennlich innewohnenden  Kräfte,  diese  Verbindungen  activ  schaffen. 
Es  existirt  also  auch  in  dieser  Beziehung  durchaus  kein  Unterschied 
zwischen  den  leblosen  und  den  belebten  Naturkörpern.  Wie  wir  in 
der  leblosen  Natur  die  gewöhnlich  einfacheren,  sogenannten  „anorgani- 
schen Verbindungen"  lediglich  durch  die  ureigenen  Kräfte  der  Ele- 
mente, nach  den  unabänderlichen  und  ewigen  Gesetzen  der  chemischen 
Wahlverwandtschaft,  entstehen  sehen,  so  erkennen  wir  eben  so  be- 
stimmt, dass  innerhalb  der  lebendigen  Körper  die  gewöhnlich  ver- 
wickeiteren, sogenannten  „organischen  Verbindungen"  lediglich  nach 
denselben  Gesetzen  der  chemischen  Affinität,  mit  absoluter  Notwen- 
digkeit, entstehen  und  vergehen. 

Der  einzige  Unterschied,  welcher  in  der  chemischen  Zusammen- 
setzung der  Organismen  und  Anorgane  gefunden  werden  kann,  be- 
steht darin,  dass  in  allen  Organismen  neben  den  einfacheren  Ver- 
bindungen der  Elemente,  die  allenthalben  auch  in  der  leblosen  Natur 
vorkommen  (Wasser,  Kohlensäure  etc.),  eine  Anzahl  von  verwickeiteren 
Verbindungen  des  Kohlenstoffs  (und  namentlich  allgemein  gewisse  Ei- 
weisskörper)  sich  finden,  welche  gewöhnlich  in  der  anorganischen 
Natur  sich  nicht  zu  bilden  scheinen.  Diese  Verbindungen  verdanken 
aber  ihre  Existenz   nicht   einer  besonderen  Lebenskraft,  sondern  den 


120  Organismen  und  Anorgane. 

eigenthümlichen  und  äusserst  verwickelten  Verwandtschaftsbeziehungen 
des  Kohlenstoffs  zu  deu  meisten  übrigen  Elementen.  Vielleicht  mit  allen 
anderen  Elementen,  vorzüglich  aber  mit  den  drei  Elementen:  Wasser- 
stoff, Sauerstoff  und  Stickstoff*,  vermag  der  Kohlenstoff  eine  endlose 
Keihe  von  äusserst  verwickelten  Verbindungen  einzugehen,  welche  zum 
grössten  Theil  durchaus  ohne  Analogon  unter  den  kohlenstofflosen 
Verbindungen  dastehen.  Wir  müssen  also  die  chemische  und  physi- 
kalische Natur  des  Kohlenstoffs  und  vor  Allem  seine  in  ihrer  Art 
einzige  Fähigkeit,  mit  anderen  Elementen  höchst  complicirte  Ver- 
bindungen einzugehen,  als  die  erste  und  letzte,  als  die  einzige 
Ursache  aller  derjenigen  Eigenthümlichkeiten  ansehen,  welche  die 
sogenannten  organischen  Verbindungen  von  den  anorganischen  unter- 
scheiden. 

Es  würde  desshalb  richtiger  sein  die  „organischen  Verbindungen" 
concreter  als  „Kohlenstoff- Verbindungen"  zu  bezeichnen,  wie  man  die 
„organische  Chemie"  neuerdings  richtiger  die  „Chemie  der  Kohlen- 
stoff-Verbindungen "  genannt  hat.  Nur  darf  dabei  nicht  vergessen^wer- 
den,  dass,  wie  der  reine  Kohlenstoff  selbst  (als  Diamant,  Graphit),  so 
auch  einfachere  Kohlenstoff- Verbindungen  in  der  anorganischen  Natur, 
ausserhalb  der  Organismen,  weit  verbreitet  vorkommen,  wie  vor  Allem 
die  Kohlensäure,  das  Kohlenoxyd,  einzelne  Kohlenwasserstoffe  ja.  s.  w. 
Andererseits  darf  ebenso  wenig  vergessen  werden,  dass  in  allen  Or- 
ganismen ohne  Ausnahme  neben  jenen  „organischen",  d.  h.  ver- 
wickeiteren Kohlenstoff- Verbindungen,  auch  noch  einfachere  Kohlen- 
stoff-Verbindungen und  nicht  kohlenstoffhaltige  Verbindungen  der  Ele- 
mente, also  sogenannte  „  anorganische "  Verbindungen  vorkommen  (Was- 
ser, Kohlensäure,  Kochsalz  etc.) 

Die  wesentlichsten  Unterschiede  in  der  Zusammensetzung  der  organischen 
und  anorganischen  Verbindungen  glaubte  man  früher  darin  zu  finden,  dass 
in  der  anorganischen  Natur  sich  nur  „binäre"  Verbindungen  bilden,  indem 
zunächst  immer  nur  zwei  Elemente  zusammentreten,  z.  B.  Kohlenstoff'  und 
Sauerstoff  zur  Kohlensäure,  oder  Wasserstoff'  und  Stickstoff'  zum  Ammoniak; 
eine  solche  einfache  binäre  Verbindung  kann  sich  dann  weiter  mit  einer 
anderen  einfachen  binären  Verbindung  zu  einer  zusammengesetzten  binären 
Verbindung  vereinigen,  z.  B.  Kohlensäure  und  Ammoniak  zum  kohlensauren 
Ammoniak  u.  s.  w.  Dagegen  sollten  sogenannte  „ternäre  und  quaternäre" 
Verbindungen,  in  welchen  drei  oder  vier  Elemente  unmittelbar  zu  einer 
complexeren  Verbindung  zusammentreten,  (z.  B.  Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Was- 
serstoff und  Stickstoff  zu  dem  quaternären  Harnstofi')  ausschliesslich  nur 
unter  dem  Einflüsse  des  Lebens  zu  Stande  kommen  und  niemals  in  der 
anorganischen  Natur  sich  bilden.  Als  weiterer  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  diesen  beiden  Verbindungsgruppen  wurde  dann  ferner  gewöhnlich 
noch  angeführt,  dass  die  Mischlingsgewichte  in  den  ternären  und  quaternären 
„organischen"  Verbindungen  im  Allgemeinen  weit  höhere  und  ihre  Zahlen- 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  121 

Verhältnisse  meist  complicirtere  sind,  als  dies  in  den  binären  „anorganischen" 
Verbindungen  gewöhnlich  der  Fall  ist. 

So  wesentlich  nun  gewiss  diese  gradweise,  relative  Differenz  in  der 
atornistischen  Constitution  vieler  organischen  und  anorganischen  Verbindungen 
für  die  Erklärung  ihrer  functionellen  Differenzen  ist,  so  hat  man  doch  auch 
diesen  Unterschied  einseitig  übertrieben.  Zunächst  ist  hier  erstens  als  sehr 
wesentlich  hervorzuheben,  dass  kein  Organismus  lediglich  aus  den  coinpli- 
cirteren  „ternären  und  quaternären"  Kohlenstoff-Verbindungen  (Eiweiss, 
Fett  etc.)  besteht,  dass  vielmehr  stets  auch  neben  diesen  noch  einfache 
„binäre"  Verbindungen  vorhanden  sind,  Wasser,  Kohlensäure,  gewisse 
Salze  etc.  Jeder  Organismus  ohne  Ausnahme  erscheint  in  dieser  Beziehung 
als  ein  Complex  von  einfachen  (binären)  „anorganischen"  und  cornplicirten 
(ternären  oder  quaternären)  „organischen"  Verbindungen.  Die  wesentlichsten 
Eigenthümlichkeiten  der  letzteren  sind  aber  im  Grunde  nur  abhängig  von 
der  ausgezeichneten  Fähigkeit  des  Kohlenstoffes  (des  „organischen" 
Elements  y.ui'  6go%qi>)}  sich  in  den  verschiedensten  Verhältnissen  mit  anderen 
Elementen  zu  verbinden.  Diese  in  ihrer  Art  einzige  Eigenschaft  des  Kohlen- 
stoffes müssen  wir  als  die  Grundlage  aller  Eigenthümlichkeiten  der  soge- 
nannten organischen  Verbindungen  bezeichnen. 

Grosses  Gewicht  legte  man  früher  darauf,  dass  diese  characteristischen 
Kohlenstoff-Verbindungen  sich  ausschliesslich  nur  in  den  Organismen  „unter 
dem  Einfluss  des  Lebens"  bilden  könnten  und  dass  niemals  dergleichen 
durch  Combination  binärer  Verbindungen  künstlich  in  unseren  Laboratorien 
herzustellen  seien.  Zuerst  wurde  dieses  Dogma  1828  von  Wo  hl  er  widerlegt, 
welcher  auf  rein  künstlichem  Wege  Harnstoff  (statt  cyansauren  Ammoniaks) 
aus  den  „anorganischen"  Elementen  (aus  Cyan-  und  Ammoniak-Verbindungen) 
herstellte.  In  neuester  Zeit  hat  man  jedoch  in  dieser  Beziehung  so  weite 
Fortschritte  gemacht,  und  so  viele  „rein  organische"  complicirte  Kohlenstoff- 
Verbindungen,  Alkohol,  Essigsäure,-  Ameisensäure  etc.  auf  „rein  anorgani- 
schem" Wege  künstlich  hergestellt,  dass  bald  nur  noch  die  höchststehende 
und  complicirteste  Gruppe  der  Eiweisskörper  dieser  künstlichen  Synthese 
Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen  wird,  Schwierigkeiten,  welche  die  weiteren 
Fortschritte  der  Chemie  zweifelsohne  überwinden  werden.  Schon  heute 
dürfen  wir  also  sagen,  dass  ein  sehr  grosser  Theil  der  complicirteren 
Kohlenstoff- Verbindungen,  der  „ternären  und  quaternären"  Atomcomplexe, 
nicht  ausschliesslich  nur  im  Organismus  entsteht,  sondern  ebenso  auch 
künstlich,  mit  Ausschluss  jeder  Lebensthätigkeit,  in  unseren  Laboratorien 
dargestellt  werden  kann,  gleich  den  einfachsten  („binären")  anorganischen 
Verbindungen.  Dieses  Resultat  ist  aber  desshalb  für  uns  von  äusserster 
Wichtigkeit,  weil  daraus  hervorgeht,  dass  auch  in  der  Natur,  unter  ähnlichen 
Bedingungen,  wie  wir  sie  in  unseren  Laboratorien  künstlich  herstellen, 
unbelebte  anorganische  Materien  zur  Bildung  lebensfähiger  organischer 
Stoffe,  „binäre"  Verbindungen  und  einfache  Elemente  zur  Bildung  „ternärer 
und  quaternärer"  Verbindungen  zusammentreten  können,  eine  Möglichkeit, 
welche  für  die  Theorie  von  der  Autogonie,  einer  Form  der  Generatio  spon- 
tanea,  die   unentbehrliche  Grundlage  ist. 

Als  sehr  wesentlicher  Unterschied  zwischen  den  anorganischen  und  den 


122  Organismen  und  Anorgane. 

organischen  Materien  wurde  früherhin  oftmals  hervorgehoben,  dass  die 
letzteren,  dem  Einflüsse  des  Lebens  entzogen,  alsbald  „faulen",  sich  „spon- 
tan zersetzen",  während  die  ersteren  dieses  nicht  thun.  Allerdings  ist  es 
richtig,  dass  die  meisten  verwickeiteren  Kohlenstoff-Verbindungen  längere 
oder  kürzere  Zeit  nach  dem  Tode  des  Organismus  „verfaulen",  sich  unter 
Fäulniss  zersetzen  und  in  die  einfacheren  binären  Verbindungen  auflösen 
Indess  gilt  dies  erstens  nicht  von  allen,  und  zweitens  sagt  diese  Thatsache 
weiter  nichts  aus,  als  dass  diese  faulenden  organischen  Substanzen,  ihrer 
natürlichen  Wahlverwandtschaft  gemäss,  Zersetzungsprocesse  und  Verbin- 
dungen mit  den  umgebenden  Medien  (Sauerstoff  der  atmosphärischen  Luft, 
des  Wassers  etc.)  eingehen,  an  deren  Eintritt  sie  während  des  Lebens 
durch  die  stärkeren  anderweitigen  Wahlverwandtschaften  gehindert  wurden, 
welche  die  eingeführten  Nahrungsmittel  ausübten.  Ganz  ebenso  wie  die 
meisten  organischen  Verbindungen  zersetzen  sich  an  der  Luft  oder  im 
Wasser  auch  viele  anorganische  Verbindungen,  welche  „verwittern",  wie 
z.  B.  viele  Salze. 

Fassen  wir  die  allgemeinsten  und  wichtigsten  Resultate,  welche  uns 
diese  Vergleichung  der  organischen  und  anorganischen  Verbindungen  liefert, 
kurz  zusammen,  so  kommen  wir  zu  folgenden,  wichtigen  Resultaten:  Sämmt- 
liche  in  den  Organismen  vorkommende  chemische  Elemente  kommen  auch 
ausserhalb  in  der  anorganischen  Natur  vor.  In  sämmtlichen  Organismen 
kommen  sowohl  einfache  (binäre)  Verbindungen  dieser  Elemente  vor,  wie 
in  den  Anorganen,  als  auch  daneben  zusammengesetztere  Kohlenstoff -Ver- 
bindungen (ternäre  und  quaternäre  Verbindungen),  welche  der  Kohlenstoff 
gewöhnlich  in  der  anorganischen  Natur  nicht  zu  bilden  scheint.  Dass  die- 
selben jedoch  sich  hier  ebenfalls,  ohne  jeden  Einfluss  des  „Lebens",  bilden 
können,  geht  daraus  hervor,  dass  wir  dieselben  rein  künstlich  aus  einfacheren 
Verbindungen  und  Elementen  zusammensetzen  können.  Die  Fäulniss  der 
Organismen  ist  ein  einfacher  Zersetzungsprocess  und  erfolgt  nach  den  Ge- 
setzen der  chemischen  Wahlverwandtschaft,  welche  die  gesammte  organische 
und  anorganische  Materie  gleicherweise  unbedingt  beherrschen. 

I)     4.   Aggregatzustände  der  organischen  und  anorganischen 

Materien. 

Unter  Aggregatzustand  der  Naturkörper  verstehen  wir  den 
Grad  der  Entfernung  und  der  dadurch  bedingten  relativen 
Beweglichkeit  ihrer  Massen-Atome.  Die  Differenzen  der  Aggre- 
gatzustände beruhen  lediglich  auf  der  Verschiedenheit  der  Entfer- 
nungen der  Atome  von  einander,  welche  durch  die  Wechselwirkung 
zwischen  der  Cohäsions-Kraft  der  Atome  und  der  Expansions- Kraft 
der  Aethertheilchen  modificirt  werden.  Bei  den  anorganischen  Natur- 
körpern ist  bekanntlich  eine  dreifache  Differenz  in  dieser  Beziehung 
möglich,  und  man  unterscheidet  demgemäss  bei  diesen  drei  Aggregat- 
zustände, den  festen,  tropfbaren  und  gasförmigen. 

Der  feste  Aggregatzustand  kommt  allen  geformten  Anorganen 
ohne  Ausnahme   zu.    Hier  liegen  die  Atome  in  solcher  Nähe  bei  einander, 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  123 

dass  die  Cohäsion  der  Massen-Atome  über  die  Expansion  der  Aether- 
theilchen  überwiegt.  Folge  davon  ist,  dass  die  gegenseitige  Lagerung  der 
Atome  stets  dieselbe  bleibt  und  dass  sie  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze 
sich  von  einander  entfernen  können  (z.  B.  bei  Ausdehnung  durch  Erwär- 
mung) ohne  den  festen  Aggregatzustand  zu  verlassen.  Die  Atome  haben 
hier  ein  stabiles  Gleichgewicht.  Der  Character  der  festen  Körper  liegt  also 
darin,  dass  ihr  Volum  nur  innerhalb  enger  Grenzen  veränderlich  ist  und 
dass  sie  eine  selbstständige  bleibende  Gestalt  haben. 

Beim  tropfbaren  oder  flüssigen  (tropfbar -flüssigen)  Aggregat- 
zustand liegen  die  Atome  in  solcher  Entfernung  von  einander,  dass  die 
Cohäsion  und  Expansion  sich  das  Gleichgewicht  halten.  Die  Atome  haben 
daher  hier  ein  labiles  Gleichgewicht,  und  können  bei  jeder  Störung  des- 
selben ihre  gegenseitige  Lagerung  nach  allen  Richtungen  hin  frei  verändern. 
Der  Character  der  tropfbar- flüssigen  Körper  liegt  also  darin,  dass  ihr 
Volum  ebenfalls  nur  innerhalb  enger  Grenzen  veränderlich  ist,  dass  sie  aber 
keine  selbstständige  Gestalt  haben.  In  ein  Gefäss  eingeschlossen,  nehmen 
die  Flüssigkeiten  die  Form  dieses  Gefässes  an,  und  wenn  sie  dieses  nicht 
ganz  erfüllen,  bildet  ihre  Oberfläche  eine  horizontale  Ebene.  Dagegen 
nimmt  jede  Flüssigkeit,  eingeschlossen  in  eine  andere,  damit  nicht  misch- 
bare Flüssigkeit  vom  gleichen  speeifischen  Gewicht,  z.  B.  Oel  in  einem 
gleich  schweren  Gemenge  von  Weingeist  und  Wasser,  selbstständig  und 
bleibend  die  Kugelform  an. 

Der  gasförmige  oder  luftförmige  (elastisch-flüssige)  Aggregat- 
zustand endlich  ist  dadurch  ausgezeichnet,  dass  in  Folge  grösserer  Ent- 
fernung der  Atome  von  einander  die  Expansion  über  die  Cohäsion  über- 
wiegt. Die  Aethertheilchen  sind  stärker  als  die  Atome,  und  da  sie  sich 
gegenseitig  abstossen,  strebt  die  Materie,  sich  ins  Unendliche  auszudehnen. 
Durch  diese  Expansionskraft  der  Gase  ist  deren  Character  bedingt,  sich 
soweit  auszudehnen,  als  es  die  Begrenzung  durch  benachbarte  feste  oder 
flüssige  Körper  erlaubt.  Die  Atome  können  sich  hier  ohne  Grenze  von 
einander  entfernen.  Das  Volum  der  Gase  ist  daher  in  den  weitesten 
Grenzen  veränderlich  und  eine  selbstständige  Form  niemals  vorhanden. 

Da  die  Wärme  eine  Bewegung  des  Aethers  ist,  so  erklärt  es  sich,  wie 
die  Anorgane  unter  verschiedenen  Wärme  -  Graden  alle  drei  Aggregat- 
zustände annehmen  können.  Ist  die  Wärme-Bewegung  des  Aethers  so 
gering,  dass  sie  die  Atome  nicht  von  einander  zu  entfernen  vermag,  so  ist 
der  Körper  fest.  Wenn  jene  Bewegung  stärker  wird,  so  dass  sie  die 
"Atome  bis  zu  einer  bestimmten  Grenze,  welche  den  Wirkungskreis  der 
gegenseitigen  Anziehung  der  Atome  nicht  überschreitet,  auseinander  zu 
treiben  vermag,  so  wird  der  Körper  flüssig.  Wird  endlich  die  Bewegung 
der  Aethertheilchen,  die  wir  Wärme  nennen,  so  stark,  dass  die  Atome  über 
jene  Grenze  hinaus  von  einander  entfernt  und  nun  ins  Unendliche  aus- 
einander gestossen  werden,  so  wird  der  Körper  gasförmig. 

Vergleichen  wir  mit  diesen  drei  bestimmten  und  stets  leicht  er- 
kennbaren Aggregatzuständen  der  Anorgane  diejenigen  der  Organis- 
men, so  haben  wir  zunächst  zu  constatiren ,  dass  alle  drei  Aggregat- 


124  Organismen  und  Anorgane. 

zustände  in  Thcilen  des  Körpers  vieler  Organismen  eben  so  rein,  wie 
in  den  Anorganen  vorkommen,  und  dass  einer  davon,  nämlich  der 
flüssige,  in  allen  lebenden  Organismen  ohne  Ausnahme  allgemein  ver- 
breitet ist.  Die  eigenthümlichen  Bewegungs-Erscheinungen,  welche  wir 
unter  dem  Collectivnamen  des  Lebens  zusammenfassen,  können  nur 
durch  Mitwirkung  dieses  Aggregatzustandes  zu  Stande  kommen  und 
wir  können  daher  den  tropfbar  flüssigen  Zustand  mindestens  eines 
Theils  der  Materie  als  ein  für  alle  Organismen  notwendiges  Er- 
forderniss  bezeichnen.  Die  Hohlräume,  welche  diese  für  den  Trans- 
port der  Theilchen  beim  Stoffwechsel  unentbehrlichen  Flüssigkeiten 
einschliessen,  sind  theils  (bei  den  höheren  Thieren)  besondere  Gefässe 
(Blutgefässe,  Wassergefässe,  Leibeshöhle  etc.,  theils  wandungslose 
Hohlräume  zwischen  den  Elementartheilen  und  im  Inneren  derselben 
(Vacuolen  in  den  Piastiden  etc.).  Ausser  dem  rein  tropfbaren  kommt 
nun  ferner  auch  der  feste  und  der  gasförmige  Aggregatzustand  voll- 
kommen rein  im  Körper  vieler  (nicht  aller!)  Organismen  vor.  Zu  den 
absolut  festen  Theilen  der  Organismen  können  wir  z.  B.  die  Otolithen 
im  Gehörorgan,  ferner  die  reinen  Kieselskelete  und  die  Skelete  aus 
kohlensaurem  Kalke  rechnen,  welche  bei  vielen  wirbellosen  Thieren, 
sowie  die  Krystalle,  welche  sich  in  vielen  Pflanzen  vorfinden.  Ebenso 
kommen  Gase  in  elastisch-flüssiger  Form  (nicht  aufgelöst)  im  Körper 
vieler  Organismen  vor,  entweder  mit  der  Aussenwelt  unmittelbar  com- 
municirend  (z.  B.  in  den  Lungen,  Luftröhren,  in  den  pneumatischen 
Knochenhöhlen  der  Vögel  etc.)  oder  in  besonderen  Räumen  abge- 
schlossen (z.  B.  in  der  Luftblase  der  Siphonophoren,  der  Schwimm- 
blase vieler  Fische,  den  Gelassen  derPflanzen  etc.) 

Ausser  diesen  drei  Aggregatzuständen,  welche  also  in  belebten, 
wie  in  leblosen  Naturkörpern  gleicherweise  vorkommen,  zeichnen  sich 
nun  aber  die  Organismen  noch  durch  einen  vierten  Aggregatzustand 
aus,  welcher  einem  Theile  der  Kohlenstoff- Verbindungen  ausschliess- 
lich eigenthümlich  ist  und  in  den  Anorganen  nicht  vorkommt,  und 
welchen  wir  als  festflüssigen  oder  gequollenen  Aggregatzu- 
stand bezeichnen  können.  Es  bildet  dieser  Zustand,  wie  schon  der 
Name  sagt,  eine  eigenthümliche  Mittelbildung  zwischen  dem  festen 
und  flüssigen  Zustand  und  ist  in  der  That  aus  einer  Verbindung  beider 
hervorgegangen.  Er  kömmt  dadurch  zu  Stande,  dass  Flüssigkeit  in 
bestimmter  (innerhalb  gewisser  Grenzen  eingeschlossener)  Quantität 
zwischen  die  Moleküle  eines  festen  Körpers  (einer  Kohlenstoff- Verbin- 
dung) eindringt  und  dessen  Intermolekularräume  erfüllt.  Diese  Zwi- 
schenräume sind  in  denjenigen  organischen  Materien,  welche  einer  sol- 
chen Flüssigkeitsaufnahine  (Quellnng  oder  Imbibition)  fähig  sind,  offen- 
bar von  anderer  Beschaffenheit,  als  bei  denjenigen  einfacheren  organi- 
schen Verbindungen,  welche,  gleich  allen  anorganischen  Verbindungen, 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  125 

nicht  Flüssigkeit  zwischen  ihre  Moleküle  aufnehmen  können,  ohne  selbst 
flüssig-  zu  werden.  Wahrscheinlich  steht  diese  Fähigkeit  im  engsten 
Causal-Zusammenhang  mit  der  complicirten  Gruppirung  der  Atome  in 
den  betreffenden  Kohlenstoff -Verbindungen.  Denn  gerade  diejenigen 
organischen  Materien,  welche  in  diesen  Beziehungen  sich  am  weite- 
sten von  den  Anorganen  entfernen,  sind  es,  welche  den  festflüssigen 
Aggregatzustand  in  der  grössten  Ausdehnung  annehmen  können.  Ge- 
rade diese  höchst  complicirt  und  locker  zusammengesetzten,  leicht  zer- 
setzbaren Kohlenstoff- Verbindungen,  vor  Allen  die  Eiweissstoffe  und 
deren  Derivate,  sind  es  aber  auch,  welche  die  complicirtesten  Lebens- 
erscheinungen vermitteln,  und  da  diese  Kohlenstoff-Verbindungen,  als 
die  eigentlichen  activen,  organogenen  Stoffe  in  keinem  Organismus 
fehlen,  so  finden  wir  auch  den  für  sie  charakteristischen  gequollenen 
Aggregatzustand  in  allen  Organismen  ohne  Ausnahme  vor. 

Die  allgemeinen  physikalischen  Eigenschaften,  welche 
die  organische  Materie  durch  die  Quellung  oder  Imbibition 
erhält,  sind  für  die  Erklärung  der  Lebens- Erscheinungen 
von  äusserster  Wichtigkeit.  Indem  nämlich  die  festflüssigen  oder 
gequollenen  Materien  gewisse  Eigenthümlichkeiten  des  festen  und  des 
flüssigen  Aggregatzustandes  in  sich  vereinigen,  indem  sie  Festigkeit 
mit  einem  bedeutenderen  Grade  von  Formveränderlichkeit,  Härte  mit 
einem  eigenthümlichen  Grade  von  Weichheit  verbinden,  wird  schon 
hieraus  klar,  warum  die  Functionen  der  organischen  Materien  weit 
differenzirter  und  complicirter  sein  können,  als  dies  bei  dem  einfachen 
Aggregatzustand  der  Auorgane  jemals  der  Fall  sein  kann. 

Die  wichtigsten  aller  sogenannten  Lebenserscheinungen,  und  ge- 
rade diejenigen  Functionen  der  organischen  Körper,  welche  man  ge- 
wöhnlich als  die  characteristischen  Leistungen  des  Lebens  zu  bezeich- 
nen pflegt,  sind  nur  möglich  dadurch,  dass  die  Materie,  von  welcher 
sie  ausgehen,  sich  wenigstens  theilweis  im  vierten,  im  festflüssigen 
Aggregatzustande  befindet.  Die  sogenannten  „aufmalen"  Kräfte  der 
Empfindung  und  Bewegung,  welche  von  der  Nerven-  und  Muskel-Sub- 
stanz ausgehen,  wie  die  sogenannten  „vegetativen"  Kräfte  der  Er- 
nährung und  Fortpflanzung,  welche  den  verschiedensten  Substanzen  der 
Organismen  inhäriren,  sind  ohne  den  festflüssigen  Aggregatzustand 
ihres  materiellen  Substrates  gar  nicht  denkbar.  Gerade  die  eigen- 
thümliche  Verbindung  von  Festigkeit  und  Flüssigkeit,  von  Härte  und 
Weiche,  von  Starrheit  und  Beweglichkeit,  welche  durch  die  Imbibition 
gegeben  wird,  bedingt  und  ermöglicht  die  complicirteren  Molecularbe- 
wegungen,  welche  den  angeführten  organischen  Processen  zu  Grunde 
liegen.  Aus  diesen  Gründen  können  wir  den  Quellungszustand  der 
lebenden  Materien  gar  nicht  hoch  genug  anschlagen,  und  werden  be- 
fugt sein,  in  diesem  festflüssigen  Aggregatzustande  der  meisten  Kohlen- 


126  Organismen  und  Anorgane. 

stoff-Verbindungen,  gleichwie  in  ihrer  complicirteren  Zusammensetzung 
aus  verwickelten  Atomgruppen  (welche  wahrscheinlich  eng  mit  der 
Quellungsfähigkeit  zusammenhängt)  eine  der  wichtigsten  Grundursachen 
des  Lebens  zu  finden.  Es  wird  daher  zur  Begründung  unserer  monisti- 
schen Lebens- Beurthoilung  hier  gestattet  sein,  bei  dem  Fundamental- 
Phaenomen  der  Imbibition  noch  etwas  zu  verweilen,  zumal  auch  für  die 
Form  der  Organismen  dieser  vierte  Aggregatzustand  von  der  grössten 
Bedeutung  ist. 

Da  eine  eigentliche  Quellung  oder  Imbibition  bei  den  Anorganen  nie- 
mals vorkommt,  so  entsteht  die  Frage,  ob  hier  ähnliche  Modificationen  der 
ersten  drei  Aggregatzustände  voi'kommen,  welche  der  Imbibition  in  einigen 
Beziehungen    gleichen.     Hier  tritt   uns   nun    einerseits   das  Phaenomen   der 
Tränkung  oder  Durchfeuchtung    (Humidation) ,    andererseits   die  Er- 
scheinung   der  Lösung   oder  Auflösung   (Solution)  entgegen.     Bei  der 
Durchfeuchtung  oder  Humidation  sehen  wir  Flüssigkeit  in  die  Poren  fester 
Körper  eindringen,  ohne  dass  eine  wirkliche  Imbibition  und  Quellung  der- 
selben stattfindet.     Das  ist  z.  B.  der  Fall  bei  Steinen  (und  zwar  nicht  nur 
bei   auffallend    „porösen",    sondern   auch   bei  den  scheinbar  dichtesten  und 
festesten  Gesteinarten),   welche  längere   Zeit  auf  dem  Grunde  des   Meeres 
gelegen    haben.     So   wenig    diese  Durchfeuchtung    den  festen  Aggregatzu- 
stand der  Anorgane    und   damit  ihr  Volum   zu   ändern   vermag,   so   wenig 
werden  diese  geändert,  wenn  die  beträchtliche  Menge   der  eingedrungenen 
Flüssigkeit  durch  Austrocknen  wieder  entfernt   wird.     Niemals   kann   daher 
auch    die    vollständigste    Durchfeuchtung    eine    solche    Beweglichkeit    der 
Moleküle    und    damit   eine    solche  Formveränderlichkeit  der   festen   Körper 
herbeiführen,  wie  sie  durch  die  Quellung  gegeben  wird.     Andererseits  aber 
ist  hervorzuheben,   dass   bei   den   organischen  Körpertheilen   zwischen   den 
höchsten  Graden  der  Durchfeuchtuug  und  den  niedersten  Graden  der  Quel- 
lung ein  ganz  allmähliger  und  unmerklicher  Uebergang  stattfindet,  und  wir 
können    diesen  Uebergang    oft    an    einem   und  demselben  Theile   eines  Or- 
ganismus in  contiuuo  verfolgen.     Insbesondere  ist  in  dieser  Beziehung  eine 
Vergleichung   continuirlich  zusammenhängender  Skelettheile    von   Interesse, 
und  zwar  gilt  dies  sowohl  von  den  inneren,  der  Bindegewebsgruppe  ange- 
hörigen  Skelettheilen  der  Wirbelthiere,  als  von  den  äusseren,  zu  den  Chitin- 
ausscheidungen zu  rechnenden  Skelettheilen  der  Gliederthiere.     Der  Aggre- 
gatzustand eines  Knochens,  (und  zwar  speciell  der  Intercellular-  oder  Grund- 
substanz des  Knochens,  die  hier  zunächst  in  Frage  kommt)  ist  an  sich,  als 
solcher,  (abgesehen  natürlich  von  den  feineren  Structurdifferenzen),  nicht  zu 
unterscheiden  von  dem  festen  Aggregatzustande  vollkommen  durchfeuchteter 
Mineralien,  (z.  ß.  Sandstein,   Kalkstein),  die  lange  in  Wasser  gelegen  ha- 
ben.    Und  dennoch  geht  dieser  unzweifelhaft  „feste"  Aggregatzustaud  eines 
Knochens  durch  eine  Reihenfolge   der  feinsten  Uebergangsstufen  ganz  all- 
mählig  in  den  unzweifelhaft  „festflüssigen",   d.  h.   gequollenen  Zustand  des 
Knorpels,  der  Sehne  u.  s.  w.  über.     In  gleicher  Weise   sind  die  unzweifel- 
haft „festen"  und  bloss  durchfeuchteten  Chitindecken  z.  B.  der  Abdominal- 
segmcnte  von  Insecten  durch  eine  ganz  allmählige  Stufenfolge  der  unmerk- 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  J27 

lichsten  Uebergänge  des  Aggregatzustandes  mit  den  unzweifelhaft  „fest- 
flüssigen"  oder  inibibirten  weicheren  intersegmentalen  Chitindecken  verbun- 
den, welche  jene  Segmente  unter  einander  verbinden.  Hieraus  ergiebt  sich 
also  das  wichtige  Gesetz,  dass  der  festflüssige  Aggregatzustand  or- 
ganischer Körpertheile  ganz  untrennbar  in  den  festen  über- 
geht. 

Wie  nun  auf  der  einen  Seite  organische  Körpertheile  mit  dem  gering- 
sten Grade  der  Quelluugsfähigkeit  nicht  von  den  vollkommen  durchfeuch- 
teten festen  Anorganen  zu  trennen  sind,  so  finden  wir  es  auf  der  anderen 
Seite  nicht  möglich,  eine  scharfe  Grenze  zu  ziehen  zwischen  den  flüssigen 
Lösungen  der  festen  Anorgane  und  den  organischen  Körpertheilen  mit  dem 
höchsten  Grade  der  Imbibitionsfähigkeit.  Bei  der  Lösung  oder  Solution  der 
festen  Anorgane  sehen  wir,  wie  bei  der  Humidation,  Flüssigkeit  in  die  Poren 
des  festen  Körpers  eindringen;  nur  ist  die  relative  Quantität  der  Flüssig- 
keit eine  sehr  viel  grössere  und  sogar  eine  unbegrenzte.  Es  wird  nämlich 
bei  der  Solution  so  viel  Fluidum  in  die  Poren  aufgenommen,  und  es  werden 
dadurch  die  Moleküle  soweit  von  einander  entfernt,  dass  das  Uebergewicht 
der  Cohäsion  über  die  Expansion  überwunden  wird,  und  dass  der  feste 
Aggregatzustand  vernichtet  und  in  den  flüssigen  selbst  übergeführt  wird. 
Der  wesentliche  Unterschied  zwischen  der  Lösung  und  den  höchsten  Graden 
der  Imbibition  lässt  sich  dahin  bestimmen,  dass  jeder  quellungsfähige  Kör- 
per ein  Quellungsmaximum  hat,  eine  Grenze,  über  welche  hinaus  kein  Wasser 
mehr  in  die  Poren  aufgenommen  wird.  Die  Verdümiungsfähigkeit  der 
Lösungen  dagegen  ist  unbegrenzt.  Da  nun  die  festen  und  löslichen  An- 
organe kein  Imbibitions- Maximum  besitzen,  so  nehmen  sie  immer  so  lange 
Wasser  auf,  bis  sie  in  den  flüssigen  Zustand  übergegangen  sind.  Anderer- 
seits aber  ist  hervorzuheben,  dass  bei  den  organischen  Körpertheilen 
wiederum  ein  ganz  allmähliger  und  unmerklicher  Uebergang  sich  findet 
zwischen  den  höchsten  Graden  der  Quellung  und  den  niedersten  Graden 
der  Tropfbarkeit  einer  concentrirten  und  zähflüssigen  Solution.  Schon  die 
äusserst  verschiedeneu  Consistenz-  Grade  des  eiweissartigen  Plasma  in  den 
verschiedenen  Zellen  liefern  hierfür  den  Beweis.  In  grossem  Maassstabe 
ist  dasselbe  am  auffallendsten  zu  beobachten  an  dem  sogenannten  „Gallert- 
Gewebe"  der  Coelenteraten,  sowohl  bei  vielen  Hydromedusen,  als  insbeson- 
dere bei  den  Ctenophoren.  Bei  einigen  der  letzteren  geht  die  Imbibitions- 
fähigkeit des  äusserst  weichen  und  wasserreichen  Gewebes  (und  zwar  spe- 
ciell  der  Zwischensubstanz  des  gallertigen  Bindegewebes)  so  weit,  dass 
dasselbe  in  der  That  tropfbar  flüssig  wird,  während  dasselbe  Gallertgewebe 
andererseits  durch  zahlreiche  Zwischenstufen  mit  der  viel  weniger  stark 
imbibirten  Zwischensubstanz  des  festeren  (oft  knorpelharten)  Bindegewebes 
continuirlich  zusammenhängt.  Sehr  instruetiv  sind  für  diese  Vergleichung 
ferner  die  eigenthümlichen,  pathologisch  beim  Menschen  (z.  B.  bei  Cysten- 
bildung  im  Eierstock)  so  oft  vorkommenden  Colloidsubstanzen  oder  Gallert- 
massen, deren  albuminöse  Substanz  die  verschiedensten  Grade  der  Flüssig- 
keitsaufnahme zeigt.  Während  im  einen  Falle  die  Colloidsubstanz  dieser 
pathologischen  Producte  eine  ziemlich  consistente  Gallertmasse  darstellt, 
welche  auch  isolirt  ihre   selbstständige  Form   behält  und   unzweifelhaft  als 


128  Organismen  und  Anorgane. 

ein  mehr  oder  minder  stark  gequollener  fester  Körper  angesehen  werden 
muss,  stellt  dieselbe  im  anderen  Falle  eine  vollkommen  dünne  tropfbare 
Flüssigkeit  dar,  welche  alle  Charactere  einer  vollständigen  Lösung  trägt. 
Zwischen  diesen  beiden  Extremen  finden  sich  alle  möglichen,  fein  abgestuften 
Uebergänge,  und  bisweilen  findet  man  in  den  zahlreichen  Fächern  einer 
solchen  vielfächerigen  Gallertgeschwulst  alle  diese  verschiedenen  Consistenz- 
grade  des  festflüssigen  Körpers  neben  einander  vor.  Es  ist  hier  ganz 
unmöglich,  bei  den  consistenten,  zähen,  fadenzieheuden  Flüssigkeiten  zu 
sagen,  wo  der  eigentliche  Imbibitionszustand  der  festen  organischen  Materie 
aufhört  und  wo  die  eigentliche  Lösung  derselben  beginnt.  Aehnlich  ver- 
halten sich  auch  viele  andere  organische  Substanzen,  insbesondere  der 
Traganth,  viele  Schleim-Formen,  Gummi  etc.,  die  sich  nicht  unmittelbar  iu  der 
Flüssigkeit  auflösen,  sondern  langsam  und  allmählig  eine  unbestimmte 
Quantität  derselben  imbibiren,  dann  aber  in  der  Quellung  keine  Grenze  zu 
finden  scheinen  und  unendlich  verdünnt  werden  können.  Auch  hier  ist  es 
gauz  unmöglich,  schliesslich  zu  unterscheiden,  ob  nur  ein  sehr  hoher  Grad 
von  Quellung  oder  ob  eine  wirkliche  Lösung  der  organischen  Materie  statt- 
gefunden hat.  Diese  Erscheinungen  zeigen  deutlich,  dass  auch  zwischen 
Lösung  und  Imbibition  keine  bestimmte  Grenze  existirt,  und  dass  der 
festflüssige  Aggregatzustand  organischer  Körpertheile  ganz 
untrennbar  iu  den  flüssigen  übergeht. 

Zusammengehalten  mit  den  vorhergehenden  Resultaten  erhalten  wir 
also  das  Gesetz,  dass  der  festflüssige  oder  gequollene  Aggregatzustand,  in 
welchen  viele  organische  Körpertheile  eintreten  können,  und  welcher  für 
das  Zustandekommen  der  Lebenserscheinungen  aller  Organismen  unent- 
behrlich ist,  keineswegs  absolut  vom  festen  und  vom  flüssigen  Aggregat- 
zustande  verschieden  ist,  sondern  vielmehr  durch  eine  continuirliche  Reihe 
der  feinsten  Uebergangszustände  mit  Beiden  unmittelbar  verbunden  ist. 

So  äusserst  wichtig  also  auch  dieser  Imbibitionszustand  für  die  Orga- 
nismen ist,  so  werden  wir  doch  in  ihm  keine  Function  derselben  zu  sehen 
haben,  die  ganz  ausserhalb  der  Reihe  der  anorganischen  Functionen  liegt. 
Vielmehr  stimmt  er  sowohl  mit  dem  festen,  aber  durchfeuchteten,  als  mit 
dem  flüssigen  Aggregatzustand  der  Anorgane  darin  überein,  dass  Flüssigkeit 
zwischen  die  Moleküle  der  Materie  eindringt  und  die  Intermolekülarräume 
erfüllt.  Bei  der  Imbibition  eines  organischen  Körpers  ist  das  Maass  dieser 
eindringenden  Flüssigkeit  für  jede  Materie  bestimmt,  wie  bei  der  Humi- 
dation,  während  bei  der  Solution  dieses  Maass  unbeschränkt  ist.  Anderer- 
seits wird  durch  die  Imbibition  Volum  und  Form  des  Flüssigkeit  aufnehmen- 
den festen  Körpers  verändert,  wie  bei  der  Solution,  während  dieselben  von 
der  Humidation  nicht  verändert  werden.  Bei  der  Quellung  werden  die  In- 
termolecular- Räume  des  festen  Körpers  uur  bis  zu  einer  gewissen,  durch 
die  Cohäsion  der  Moleküle  bestimmten  Grenze  erweitert,  während  bei  der 
Lösung  diese  Erweiterung  in  das  Unbegrenzte  fortgehen  kann;  bei  der 
Durchfeuchtung  dagegen  findet  gar  keine  solche  Erweiterung  der  feinen 
Intermolecular- Räume  statt;  die  Flüssigkeit  dringt  hierbei  wahrscheinlich 
gar  nicht  in  diese,  sondern  in  gröbere  Substanzlückeu  (Poren)  zwischen 
grösseren  Gruppen  von  Molekülen  ein  und  tritt  hier  au  die  Stelle  der  darin 


I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  129 

vertheilten  Luft.  Indem  wir  so  die  Quellung  als  eine  physikalische  Lei- 
stung der  organischen  Materie  uachweisen,  welche  zwischen  der  Durch- 
feuchtung und  der  Lösung  in  der  Mitte  steht,  entkleiden  wir  dieselbe  des 
specifischeu,  vitalistischen  Characters,  welchen  ihr  viele  Biologen  beigelegt 
haben  und  constatiren,  dass  diese,  für  die  Lebensbewegungen  äusserst  wich- 
tige Function  der  organischen  Materie  nur  relativ,  nicht  absolut  von  den 
verwandten  Leistungen  der  anorganischen  Materie  (Lösung  und  Durch- 
feuchtung) verschieden  ist. 

Während  wir  nun  einerseits  den  festflüssigen  Aggregatzustand  der 
Kohlenstoff-Verbindungen  als  eine  der  wichtigsten  Grundursachen  der 
Lebenserscheinungen  betrachten,  ist  es  doch  andererseits  von  grosser 
Wichtigkeit  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Quellungsfähigkeit,  welche 
allen  Anorganen  abgeht,  ebenso  auch  nur  einer  beschränkten  Anzahl 
von  organischen  Verbindungen  zukommt,  anderen  dagegen  gänzlich 
fehlt.  So  kommen  viele  Fette,  organische  Säuren,  Alkaloide,  Zucker  etc. 
entweder  nur  in  festem  (krystallinischen)  oder  in  flüssigem  (geschmolze- 
nen oder  gelösten)  Zustande  im  Körper  der  Organismen  vor  und  sind 
durchaus  keiner  Imbibition  fähig. 

Endlich  ist  im  Anschluss  hieran  das  wichtige  exclusive  Verhält- 
niss  hervorzuheben,  welches  zwischen  der  Imbibitionsfähigkeit  und  der 
Krystallisationsfähigkeit  existirt  und  welches  schon  von  Schwann 
in  seiner  grossen  Bedeutung  für  die  organische  Morphologie  gewürdigt 
worden  ist.  Diese  beiden  Functionen  der  Materie  schliessen  sich  ge- 
genseitig aus. ')  Krystallisirbare  Materien  können  nicht  auf- 
quellen und  quellungsfähige  Stoffe  können  nicht  krystalli- 
siren,  so  lange  ihre  Molekularstructur  sich  nicht  ändert. 
Dieses  Gesetz  ist  äusserst  wichtig  für  die   allgemeine  Verschiedenheit 


l)  Eine  Ausnahme  von  diesem  Gesetze  glaubte  Reichert  (Müllers  Archiv, 
1849,  p.  197)  in  Eiweisskrystallen  gefunden  zu  haben,  welche  sich  in  dem  Uterus 
eines  trächtigen  Meerschweinchens  vorfanden,  und  welche  mit  der  Krystallsub- 
stanz  des  Blutes  identisch  sind,  jeuer  in  den  rothen  Blutkörperchen  der  Wirbel- 
thiere  vorkommenden  krystallisirbaren  Eiweiss  -  Verbindung.  Die  Quellungs- 
phänomene, welche  Reichert  von  jenen  Eiweisskrystallen  schildert,  zeigen  sich 
nur  an  solchen  Krystallen,  welche  durch  die  Einwirkung  von  Alkohol  oder  an- 
deren Reagentien  geronnen  und  in  den  unlöslichen,  imbibitionsfähigen  Zustand 
übergeführt  sind.  Sie  behalten  dann  als  Afterkrystalle  die  frühere  Krystallform 
bei.  So  lange  diese  Eiweiss-Modificatiou  löslich  und  krystallisirbar  ist,  kann  sie 
keine  Flüssigkeit  durch.  Imbibition  aufnehmen.  Eine  audere  Ausnahme  scheinen 
die  besonders  von  Nägeli  untersuchten  „Krystalloide"  zu  bilden,  welche  in 
den  Reservestoffbehältern  (Samen  etc.)  vieler  Pflanzen  vorkommen.  Diese  kry- 
stalliilmlichen  Gebilde,  welche  constant  Eiweissverbindungen  nebst  verschiedenen 
Beimengungen  enthalten,  können  durch  Einwirkung  von  Essigsäure,  Ammoniak 
u.  s.  w.  bis  um  das  Doppelte  aufquellen.  Indess  ist  es  wohl  auch  hier  wahr- 
scheinlich, dass  durch  die  Einwirkung  dieser  Reagentien  zugleich  die  krystalliuische 
Molekularstructur  vernichtet  wird. 

llaeckel,    Generelle  Morphologie.  9 


130  Organismen  und  Auorgane. 

der  inneren  und  äusseren  Formenverhältnisse,  welche  zwischen  den 
Organismen  und  Anorganen  existirt.  Da  nun  gerade  die  imbibitions- 
fähigen,  nicht  krystallisirbaren  organischen  Materien  beim  Zustande- 
kommen der  Lebensbewegungen  die  grösste  Rolle  spielen,  so  erklärt 
sich  hieraus,  warum  krystallinische  Formen,  die  in  der  anorganischen 
Natur  als  die  höchst  entwickelten  Formzustände  der  Materie  auftreten, 
in  den  Organismen  nur  eine  verhältnissmässig  geringe  Bedeutung  be- 
sitzen. Zwar  kommen  Krystalle  in  zahlreichen  Organismen  vor, 
meist  aber  nur  als  Ablagerungen  nicht  mehr  gebrauchter  Substanz, 
seltener  als  functionirende  Bestandtheile  von  Organismen,  wie  z.  B.  die 
krystalliniscken  Otolitheu  vieler  Thiere,  die  Krystalle  in  der  silber- 
glänzenden Haut  vieler  Fische  etc.  Krystallisirbare  Materien  in  Lö- 
sung dagegen  sind  in  den  Organismen  sehr  weit  und  allgemein  ver- 
breitet. 

Nachdem  wir  nun  gezeigt  haben,  dass  in  allen  elementaren  Leistungen, 
in  allen  fundamentalen  Functionen,  in  allen  Gfrundkräffcen  der  Materie 
zwischen  Organismen  und  Anorganeu  keine  absoluten,  sondern  nur  relative 
Unterschiede  sich  vorfinden,  dass  nur  die  complicirtere  Verbindungsweise 
der  Atome  zu  verwickelter  zusammengesetzten  Molekülen,  und  die  daraus 
resultirenden  höheren,  mehr  difl'erenzirten  Molekularfunctionen,  und  ins- 
besondere die  wahrscheinlich  damit  zusammenhängende  Imbibitionsfähigkeit, 
der  festflüssige  Aggregatzustand,  die  Organismen  vor  den  Anorganen  aus- 
zeichnet, hätten  wir  die  Frage  zu  beantworten,  ob  denn  auch  diejenigen 
Bewegungen  der  Materie,  welche  man  als  Lebenserscheinungen  der  Orga- 
nismen im  engeren  Sinne  bezeichnet,  Empfindung  und  Willensbewegung, 
Ernährung  und  Stoffwechsel,  Wachsthum  und  Fortpflanzung,  lediglich  als 
die  nothwendigen  Wirkungen  jener  complicirteren  Ursachen  aufgefasst  wer- 
den können,  und  ob  dieselben  der  complicirter  gebauten  und  zusammen- 
gesetzten organischen  Materie  ebenso  mit  Notwendigkeit  inhäriren,  wie 
die  einfacheren  physikalischen  „Kräfte"  den  Anorganen.  Bevor  wir  diese 
Frage  beantworten,  müssen  wir  die  Form  der  Organismen  und  Anorgane 
kurz  einer  vergleichenden  Betrachtung  unterziehen,  da  dieselbe  für  das  Zu- 
standekommen jener  complicirteren  Bewegungserscheinungen  nicht  weniger 
wesentlich  und  nothwendig  ist,  als  die  verwickeitere  Zusammensetzungsweise 
der  organischen  Materie  selbst. 

II.    Organische  und  anorganische  Formen. 

II)     1.    Individualität  der  organischen  und  anorganischen   Gestalten. 

So  wenig  zwischen  den  Organismen  und  Anorganen  ein  absoluter, 
allgemein  durchgreifender  Unterschied  in  der  fundamentalen  atomisti- 
schen  Zusammensetzung  der  Materie,  sowie  in  den  fundamentalen 
Kräften,  welche  derselben  inhäriren,  zu  finden  ist,  so  wenig  existirt 
ein  solcher  absoluter  Unterschied  zwischen  beiden  Gruppen  von  Na- 
turkörperu auch   in  der  Form,  in   der  inneren  Zusammensetzung  und 


IL    Organische  und  anorganische  Formen.  131 

in  der  äusseren  Gestalt.  Die  sehr  auffallenden  Differenzen,  welche  in 
allen  diesen  Beziehungen  zwischen  leblosen  und  belebten  Körpern 
existiren,  sind  immer  nur  relativer  Natur,  indem  sie  sieh  allmählig  ab- 
stufen, und  indem  die  complicirtere  Zusammensetzungsweise  und  die  Im- 
bibitionsfähigkeit  der  organischen  Kohlenstoffverbindungen  nothwendig 
eine  complicirtere  Function  und  eine  complicirtere  Form  mit  sich  bringt. 
Allein  auf  der  untersten  Stufe  der  so  reich  differenzirten  Organismen- 
Welt  finden  wir  einfachste  Formen,  welche  in  Bezug  auf  Einfachheit 
der  Zusammensetzung  und  Form  nicht  hinter  den  Auorganen  zurück- 
bleiben. 

Wir  haben  bereits  oben  (p.  24  ff.)  eine  allgemeine  Vergleichung 
der  Organismen  und  Anorgane  bezüglich  der  Zusammensetzung  und 
Entstehung  ihrer  Formen  angestellt,  um  die  verschiedenen  Seiten  der 
Formbetrachtung,  mit  welchen  wir  uns  beschäftigen  werden,  klar  und 
scharf  hervortreten  zu  lassen.  Wir  haben  dort  absichtlich,  wie  be- 
merkt (p.  24),  „die  wesentlichen  Formunterschiede  zwischen  Organis- 
men und  Anorganen  so  scharf  und  durchgreifend  gegenübergestellt,  wie 
dies  fast  von  allen  Naturforschern  geschieht."  Nun  haben  wir  aber 
gerechterweise  auch  die  gewöhnlich  ganz  vernachlässigte  Kehrseite 
jener  Betrachtung  hervorzuheben,  und  zu  untersuchen,  ob  die  dort 
hervorgehobenen  Differenzen  wirklich  absolut  durchgreifende  sind. 

Au  der  Spitze  unserer  vergleichenden  Betrachtung  der  organi- 
schen und  anorganischen  Form  haben  wir  oben  hervorgehoben ;  dass 
beiderlei  Formen  uns  gewöhnlich  als  bestimmt  abgeschlossene  räum- 
liche Einheiten,  als  Individuen  entgegentreten.  Hier  ist  nun  zu- 
nächst hervorzuheben,  dass  dies  bei  den  Auorganen  keineswegs  con- 
stant  der  Fall  ist.  Vielmehr  tritt  uns  die  leblose  Materie  sehr  häufig 
nicht  in  individueller  Form  entgegen.  Dies  gilt  zunächst  von  allen 
Gasen  oder  elastischen  Flüssigkeiten.  Dasselbe  könnte  ferner  auch  von 
allen  tropfbaren  Flüssigkeiten  behauptet  werden,  falls  man  hier  nicht 
die  einzelnen  Tropfen,  welche,  innerhalb  einer  nicht  mit  ihrem  Stoff 
mischbaren  Flüssigkeit,  vermöge  der  Cohäsion  ihrer  Moleküle  eine  be- 
stimmte Form  (in  einer  Flüssigkeit  vom  gleichen  speeifischen  Gewichte 
eine  Kugelform)  annehmen,  als  Individuen  gelten  lassen  will.  Auch 
die  festen  Anorgane  treten  sehr  oft  in  einer  nicht  individualisirten 
Form  auf,  als  „amorphe"  unregelmässige  Stücke  u.  s.  w. 

Als  eigentliche  ausgebildete  anorganische  Individuen  können  wir 
nur  die  Krystalle  gelten  lassen,  welche  auch  schon  von  anderen  Na- 
turforschern (vorzüglich  von  Schwann)  in  dieser  Beziehung  unter- 
sucht und  mit  den  organischen  Individuen  verglichen  worden  sind. 
Doch  müssen  wir  auch  hier  die  Uebergangsbildungen  hervorheben, 
welche  zwischen  vollkommen  amorphen  und  rein  kry  st  all  in  i  sehen 
Körpern  vorkommen,  und  welche  man  allgemein  mit  dem  Namen  der 

9* 


132  Organismen  und  Anorgane. 

krystalloidiscben  Bildungen  belegen  kann.1)  Während  bei  den 
vollkommen  amorphen  Anorganen  die  Atome  oder  Moleküle  einfach 
aggregirt,  ohne  jedes  bestimmte  Gesetz  an  einander  gelagert  sind,  fin- 
den wir  bei  den  Krystalloiden  eine  bestimmte  gesetzmässige  Anlage- 
rung und  Verbindungsweise  der  Moleküle  (z.  B.  in  einer  gewissen 
..strahligen"  oder  „  blätterigen d  inneren  Structur)  ausgesprochen,  ohne 
dass  dieselbe  aber,  wie  es  bei  den  echten  Krystallen  der  Fall  sein 
muss,  zur  Bildung  einer  symmetrischen  oder  regulären  prismoiden 
Form  führt,  zu  einer  Form,  welche  von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien 
und  bestimmten  unveränderlichen  Winkeln  und  Ecken  begrenzt  ist. 

Indem  wir  nun  die  Krystalle  als  die  höchst  entwickelten  anorgani- 
schen Individuen  den  organischen  Individuen  oben  vergleichend  gegen- 
über gestellt  haben,  bemerkten  wir  zunächst,  dass  die  ersteren  durch 
und  durch  homogen,  in  sich  gleichartig,  aus  Molekülen  einer  und  der 
selben  Art  zusammengesetzt  seien,  während  die  letzteren  im  Inneren 
heterogen,  in  sich  ungleichartig,  und  aus  Molekülen  nicht  nur,  sondern 
auch  aus  gröberen  Theilen  von  ganz  verschiedener  Art  zusammenge- 
setzt seien.  Auf  diese  Zusammensetzung  des  Organismus  aus  differen- 
ten  Theilen,  aus  Organen,  oder  aus  Individuen  verschiedener  Ordnung 
begründen  wir  im  dritten  Buche  die  Structurlehre  oder  Tectologie. 

So  wesentlich  nun  dieser  Unterschied  im  Grossen  und  Ganzen  ist, 
so  haben  wir  hier  doch  zweierlei  gegen  seine  allgemeine  Gültigkeit 
einzuwenden.  Erstens  nämlich  sind  die  Krystalle  in  ihrem  Inneren 
durchaus  nicht,  wie  man  oft  hervorhebt,  vollkommen  homogen.  Wenn 
auch  die  chemische  Natur  ihrer  Moleküle,  die  Zusammensetzung  der- 
selben aus  Atomen,  gleichartig  ist,  so  gilt  dies  keineswegs  von  deren 
Lagerung  und  Verbindungsweise.  Diese  ist  vielmehr,  entsprechend 
den  verschiedenen  Axen  des  Krystalls,  nach  verschiedenen  Richtungen 
hin  verschieden,  und  gerade  diese  innere  Ungleichartigkeit,  die  un- 
gleiche Cohäsion  der  Moleküle  in  verschiedenen  Richtungen,  ist  für 
die  äussere  Form  des  Krystalls  sogar  bedingend.  *)  Zugleich  bedingt 
dieselbe  die  blätterige  Structur  im  Innern  des  Krystalls,  seine  Zusam- 


')  Vergl.  Sc liu mache r,  die  Krystallisation  des  Eises.  Leipzig  1844, 
p.  27.  ff.  Vielleicht  sind  diesen  anorganischen  Krystalloideu  auch  die  oben  er- 
wähnten Krystalloide  von  pflanzlichen  Eiweiss-Yerbiudungen  anzuschliessen. 

2)  Die  teleologische  oder  dualistische  Auffassung  der  Organismen,  welche 
die  Complication  der  organischen  Form  nicht  aus  der  nothwendigen  Wechsel- 
wirkung ihrer  constituirenden  Theile,  sondern  aus  einer  vorbedachten  zweckmäs- 
sigen „inneren  Idee,"  einem  „Bauplan"  ableitet,  müsste  consequenter  Weise  ganz 
ebenso  auch  für  jede  einzelne  Krystalfform  eine  solche  „innere  Idee"  postuliren, 
und  in.  der  gesetzmässigen  inneren  und  äusseren  Gestaltung  des  Krystalls  eine 
,, zweckmässige  Einrichtung"  für  sein  Bestehen,  sowie  für  das  Zustandekommen 
seiner  physikalischen  Eigenschaften  erblicken. 


II.    Organische  und  anorganische  Formen.  133 

mensetzung  aus  über  einander  liegenden  Schichten  von  verschiedenen 
Cohäsions-Graden,  die  Blätterdurchgänge,  welche  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  sich  kreuzen  und  durchschneiden.  Hierdurch  ist  dann 
wieder  der  verschiedene  Widerstand  bedingt,  den  der  Krystall  nach 
verschiedenen  Richtungen  hin  dem  Durchgänge  des  Lichts,  der  Wärme, 
der  Electricität  etc.  entgegensetzt.  Kurz,  wir  sehen,  dass  der  Kry- 
stall durchaus  kein  homogener,  in  sich  gleichartiger  Körper  ist,  wie  ein 
amorphes  Anorgan,  sondern  vielmehr  eine  innere  Structur  besitzt, 
wie  der  Organismus;  und  den  Theil  der  Krystallographie,  welcher  von 
dieser  inneren  Structur  handelt,  könnte  man  die  Anatomie  der  Kry- 
stalle,  oder  besser  noch  die  Tectologie  der  Kry stalle  nennen. 

Wie  wir  nun  so  einerseits  sehen,  dass  die  „innere  Structur',  die 
Zusammensetzung  aus  bestimmt  angeordneten  Theilen,  durchaus  keine 
ausschliessliche  Eigenschaft  des  Organismus  ist,  so  müssen  wir  zwei- 
tens andererseits  hervorheben,  dass  es  auch  vollkommen  homogene 
Organismen  giebt,  solche  nämlich,  welche,  für  unsere  Hilfsmittel 
wenigstens,  als  durchaus  homogene  und  strukturlose  Körper  erschei- 
nen. Dahin  gehören  mehrere,  schon  seit  längerer  Zeit  bekannte,  so- 
genannte „Amoeben",  nämlich  diejenigen  einfachsten  Amoeben-Formen, 
welche,  ohne  Kern  und  ohne  contractile  Blase,  bloss  einen  structur- 
losen  contractilen  Eiweissklunipen  darstellen.  Insofern  diese  durchaus 
homogenen  Amoeben,  die  sich  durch  Diosmose  ernähren  und  durch 
Theilung  fortpflanzen,  selbstständige  „Species"  darstellen,  wollen  wir 
dieselben  als  ,,  Protamoeba  ",  von  den  eigentlichen,  mit  Kern  und 
contractiler  Blase    versehenen  Amoeben  unterscheiden. ')      Ferner  ge- 


')  Nachdem  ich  bei  dem  Proto genes  pritnordialis,  einem  vollkommen 
homogenen  Plasmaklumpen,  den  ich  im  Frühjahr  1864  im  Mittelmeere  bei  Villa- 
franca  unweit  Nizza  beobachtet,  die  einfache  Fortpflanzung  durch  Theilung  nach- 
gewiesen hatte,  gelang  es  mir  auch  bei  einem  kleinen  amoebenförmigen  Wesen 
ohne  Kern  und  ohne  contractile  Blase,  welches  ich  schon  früher  in  einem  kleinen 
Tümpel  bei  Jena  beobachtet  hatte,  denselben  Vorgang  festzustellen.  Dieser 
lebende,  vollkommen  structurlose  Plasmaklumpen,  welcher  Prot amoe bn  priwi- 
l  i  v  a  heissen  mag,  von  ungefähr  0,03 — 0,05  Mm.  Durchmesser,  gleicht  im  Habitus 
und  äusserer  Form  ziemlich  der  vou  Auerbach  (Zeitschr.  für  wissensch.  Zool. 
1856.  Vol.  VII.  Tab.  XXII.,  Fig.  11—16)  beschriebenen  und  abgebildeten 
Amoe  ha  limuoc.  Kern  und  contractile  Blase,  welche  letztere  besitzt,  fehlen 
aber  vollständig.  Auch  bei  der  stärksten  Vergrösserung  war  ich  bei  allen  be- 
obachteten Individuen  nicht  im  Stande ,  in  dem  vollkommen  homogenen  Flasma 
etwas  Anderes  zu  entdecken  als  bei  vielen  Individuen  (aber  nicht  bei  allen !)  eine 
grössere  oder  kleinere  Anzahl  fettglänzender,  in  Essigsäure  nicht  löslicher 
Körnchen ,  welche  entweder  zufällig  oder  als  Nahrung  aus  dem  umgebenden  fei- 
nen Schlamme,  der  viele  zersetzte  organische  Stoffe  enthielt,  aufgenommen 
waren.  Die  structurlose  Substanz  der  contractilen  formlosen  Körpej?€fieir '  was 
sehr  blas3,  zart  contourirt,  schwach  lichtbrechend.     Die  Bewegungen  v&a^n  sen?  / 

,&±  ***  *\<& 


134  Organismen  und  Anorgane. 

hören  dahin  die  merkwürdigen  ..Pr  otogen  es  ',  welche  ebenfalls  voll- 
kommen homogene  lebende  Eiweissklumpen  (Cytoden)  darstellen,  sieh 
aber  durch  sehr  bedeutende  Grösse  auszeichnen  und  durch  Anastomose 
der  dünnflüssigeren  (weicheren,  weniger  consistenteu*  formwechselnden 
Körperfortsätze  von  den  dickliüssigeren  (festerem  Protamoeben  (ohne 
Anastomose  der  Pseudopodien)  unterscheiden.1)  In  allen  diesen  äusserst 
merkwürdigen  und  wichtigen  Organismen  der  niedrigsten  Stufe,  welche 
sich  übrigens  unmittelbar  einerseits  an  die  mit  einer  Schale  versehenen 
Khizopodeu,  andererseits  an  die  Jugendzustände  der  Myxomyceten  an- 
schliessen,  besteht  der  gesammte  Organismus  aus  einem  vollkommen 
homogenen  lebenden  Eiweissklumpen  (Plasmaklumpen,  Cytoden)  wel- 
cher, offenbar  lediglich  vermöge  seiner  atomistischen  Constitution  als 
ein  leicht  zersetzbarer  und  imbibitionsfähiger  Eiweissstoff,  sämmtliche 
„Lebens "-Functionen  zu  vollziehen  im  Stande  ist.  Die  Bewegung 
äussern  diese  primitiven  Urwesen  mittelst  der  formlosen  und  beständig- 
wechselnden  Fortsätze,  welche  sie  von  der  Oberfläche  ausstrecken  und 
welche  das  Resultat  der  gegenseitigen  Lageveränderung  der  Moleküle 
in  der  festflüssigen  Eiweisssubstanz  sind.  Die  Reizbarkeit  oder  Erreg- 
barkeit äussern  sie  als  Reflexbewegung  durch  bestimmte  Reactionen, 
durch  Modifikation  der  Bewegungen,  z.  B.  Zurückziehen  der  Pseudo- 
podien, bei  Berührung  mit  einem  reizausübenden  fremden  Körper, 
einer  in  Essigsäure  getauchten  Nadel  etc.  Die  Ernährung  voll- 
ziehen sie  entweder  dadurch,  dass  sie  die  in  dem  umgebenden  Was- 
ser gelösten  einfacheren  Verbindungen:   Kohlensäure,   Ammoniak   etc. 


schwach  und  langsam.  Die  rundlichen  Protamoeben  dehnten  sich  zu  eiförmigen 
oder  länglich  runden  Platten  aus,  welche  bald  nur  einen,  bald  3 — 4  kurze,  stumpf 
abgerundete  Fortsätze  ausschickten,  die  allmählig  wieder  zurückgezogen  wurden. 
Unmittelbar  die  Nahrungsaufnahme  durch  ,diese  Pseudopodien  zu  beobachten  ge- 
lang nicht.  Dagegen  hatten  viele  der  kleinen  Körperchen,  einige  Stunden  nach- 
dem ich  ein  wenig  sehr  fein  zertheilten  Indigo  der  umgebenden  Flüssigkeit  zu- 
gesetzt, einzelne  Körnchen  davon  in  ihr  Inneres  aufgenommen.  Mehrere  Prota- 
moeben zeigten  in  der  Mitte  eine  flachere  oder  tiefere  Einschnürung,  wie  in 
Selbsttheilung  begriffen,  und  bei  zwei  von  diesen  gelang  es  mir,  durch  lange  an- 
haltende Beobachtung,  die  völlige  Trennung  der  beiden  Hälften  wirklich  zu  con- 
statiren.  Jede  Hälfte  rundete  sich  alsbald  zu  einem  Kügelchen  ab,  welches  die 
langsamen  Formverändeiungen  des  elterlichen  Individuums  bald  wieder  fortsetzte, 
Der  gesammte  Körper  dieser  einfachsten  aller  Organismen,  welcher  die  gewöhn- 
lichen Eiweiss-Reactionen  des  Protoplasma  zeigte,  Hess  bei  keiner  mikrochemi- 
schen Behandlung  eine  Zusammensetzung  aus  heterogenen  Theilen  erkennen. 

')  Ueber  Protoyenes  primordial is  vergl.  Zeitschr.  für  wissenschaftl. 
Zool.  XV,  1865,  p.  342,  360,  Taf.  XXVI,  Fig.  1,  2.  Im  ruhigen  Zustande  bildet 
dieses  grosse  Moner  (welches  sich  von  Max  Schultz  es  Amoeba  porreetn 
wesentlich  nur  durch  viel  bedeutendere  Körpergrösse  und  Zahl  der  Pseudopodien 
unterscheidet,  eine  vollkommen  kugelige  homogene  Eiweissmasse,  von  welcher 
nach  allen  Seiten  sehr  zahlreiche  und  feine  Fäden  ausstrahlen. 


IL    Organische  und  anorganische  Formen.  135 

unmittelbar  zu  verwickelten  Kohlenstoff- Verbindungen,  zur  Eiweiss- 
substanz  des  Protoplasma,  combinireu;  oder  sie  ernähren  sich  durch 
mechanische  Aufnahme  fester  Stoffe  mittelst  der  Pseudopodien,  aus 
denen  sie  dann  die  brauchbaren  Substanzen  durch  Zersetzung  aus- 
ziehen und  assimiliren.  Die  Fortpflanzung  endlich  geschieht  durch 
einfache  Selbsttheilung.  Und  doch  haben  diese  Organismen  keine 
„Organe"!  Sie  sind  so  vollkommen  homogen  als  die  Krystalle,  mor- 
phologisch aber  insofern  noch  unvollkommener,  als  ihre  constituirenden 
Moleküle  nach  allen  Richtungen  frei  verschiebbar  sind,  und  das  ganze 
Individuum  keine  feste  bleibende  Form  besitzt. 

Um  diese  einfachsten  und  unvollkommensten  aller  Organismen, 
bei  denen  wir  weder  mit  dem  Mikroskop  noch  mit  den  chemischen 
Reagentien  irgend  eine  Differenzirung  des  homogenen  Plasmakörpers 
nachzuweisen  vermögen,  von  allen  übrigen,  aus  ungleichartigen  Theilen 
zusammengesetzten  Organismen  bestimmt  zu  unterscheiden,  wollen  wir 
sie  ein  für  allemal  mit  dem  Namen  der  Einfachen  oder  Moneren1) 
belegen.  Gewiss  dürfen  wir  auf  diese  höchst  interessanten,  bisher  aber 
fast  ganz  vernachlässigten  Organismen  besonders  die  Aufmerksamkeit 
hinlenken,  und  auf  ihre  äusserst  einfache  Formbeschaffenheit  bei  völli- 
ger Ausübung  aller  wesentlichen  Lebensfunctionen  das  grösste  Gewicht 
legen,  wenn  es  gilt,  das  Leben  zu  erklären,  es  aus  der  fälschlich 
sogenannten  „todten"  Materie  abzuleiten,  und  die  übertriebene  Kluft 
zwischen  Organismen  und  Anorganen  auszugleichen.  Indem  bei  die- 
sen homogenen  belebten  Naturkörpern  von  differenten  Formbestand- 
theilen,  von  „Organen"  noch  keine  Spur  zu  entdecken  ist,  vielmehr 
alle  Moleküle  der  strukturlosen  KohlenstoffVerbindung ,  des  lebendigen 
Eiweisses,  in  gleichem  Maasse  fähig  erscheinen,  sänimtliche  Lebens- 
functionen zu  vollziehen,  liefern  sie  klar  den  Beweis,  dass  der  Begriff 
des  Organismus  nur  dynamisch  oder  physiologisch  aus  den  Lebens- 
bewegungen, nicht  aber  statisch  oder  morphologisch  aus  der  Zusam- 
mensetzung des  Körpers  aus  „Organen"  abgeleitet  werden  kann. 

So  paradox  und  wunderbar  übrigens  auch  zuerst  die  Ausübung 
der  verschiedensten  Lebensfunctionen  durch  diese  Moneren,  durch  voll- 
kommen organlose  und  formlose,  in  sich  ganz  gleichartige  Eiweiss- 
klumpen  erscheinen  mag,  so  verliert  doch  diese  Thatsache  alles 
Wunderbare  (d.  h.  Seltene  und  Ausserordentliche),  wenn  wir  daran 
denken,  dass  gleiche  individualisirte  homogene  Plasmaklumpen  als 
Cj'toden,  und  andere,  nur  durch  einen  differenten  Kern  ausgezeich- 
nete Plasmaklumpen  als  Zellen  in  allen  übrigen  Organismen  eben- 
falls als  mehr  oder  minder  selbstständige  Lebenseinheiten  auftreten. 
Die  Moneren  sind,  von  diesem  Standpunkte  aus  betrachtet,  nichts  als 


')  f^ovrj(irjg,  einfach. 


136  Organismen  und  Anorgane. 

einzelne,  isolirt  lebende  Cytoden.  Die  Moneren  behalten  diesen  Charakter 
zeitlebens,  während  derselbe  in  den  Jugendzuständen  der  Myxomyceten, 
Rhizopoden  und  anderer  Protisten  nur  vorübergehend  auftritt.  Wenn 
wir  die  Zusammensetzung  des  Körpers  aus  verschiedenartigen  Theilen 
als  Haupt-Character  der  Organismen  hervorheben  wollten,  so  würde 
die  Kluft  zwischen  jenen  einfachen,  lebenden  Plasmaklumpen  und  deu 
höheren,  aus  Individuen  verschiedener  Ordnung  zusammengesetzten  Or- 
ganismen, viel  grösser  erscheinen,  als  die  Kluft  zwischen  den  erstereu 
einerseits  und  den  Krystallen  andererseits.  Die  Moneren  stehen  in 
dieser  Beziehung  wirklich  auf  der  Grenze  zwischen  leblosen  und  leben- 
den Naturkörpern.  Sie  leben,  aber  ohne  Organe  des  Lebens;  alle 
Lebenserscheinungen,  Ernährung  und  Fortpflanzung,  Bewegung  und 
Reizbarkeit,  erscheinen  hier  lediglich  als  unmittelbare  Ausflüsse  der 
formlosen  organischen  Materie,  einer  Eiweiss- Verbindung. 

Wir  können  demnach  weder  die  Zusammensetzung  des  Körpers 
aus  ungleichartigen  Theilen  (Organen  etc.),  noch  auch  nur  die  Zu- 
sammensetzung des  Individuums  aus  mehreren  gleichartigen  Individuen 
niederer  Ordnung,  wie  bisher  geschehen,  als  allgemeinen  Character 
der  Organismen  festhalten.  Wir  werden  dies  in  Zukunft  um  so  weni- 
ger können,  als  höchst  wahrscheinlich  eine  vielseitigere  Untersuchung 
der  Anorgane  nachweisen  wird,  dass  auch  hier  bisweilen  eine  Zusam- 
mensetzung des  Individuums  aus  mehreren  Individuen  niederer  Ordnung 
vorkommt.  Wir  meinen  hier  die  zusammengesetzten,  theils  rein  kri- 
stallinischen, theils  krystalloiden  Bildungen,  welche  insbesondere  das 
krystallisirende  Wasser  so  leicht  hervorbringt.  Offenbar  sind  diese 
sehr  mannichfaltigen ,  und  oft  äusserst  zusammengesetzten  Gestalten, 
welche  wir  als  Eisblumen,  Eisbäume  etc.  im  Winter  an  unseren  Fen- 
sterscheiben bewundern,  und  durch  deren  Namen  schon  das  Volk 
gleichsam  instinctiv  ihre  morphologische  Aelmlichkeit  mit  Organismen 
andeutet,  derartige  „höhere,  vollkommenere"  Anorgane,  bei  welchen 
die  complicirte  Gestalt  des  Ganzen  aus  einer  gesetzmässigen  Ver- 
einigung untergeordneter  Theile  resultirt,  Offenbar  sind  diese  Eis- 
blumen, Eisblätter  etc.  nach  bestimmten  Gesetzen  gebildet;  es  sind 
Aggregate  von  zahlreichen  einzelnen  Krystallen,  von  vielen  Individuen 
niederer  Ordnung,  welche  zur  Bildung  des  höheren  Ganzen  sich  ver- 
einigt haben.  Eine  bestimmte  Summe  von  centralen  Krystall-Indivi- 
duen  bildet  die  Axe,  um  welche  sich  die  peripherischen  Individuen, 
bestimmten  Anziehungs-  und  Abstossungs- Verhältnissen  jener  Axe  ge- 
horchend, ansetzen.  Bei  den  complicirteren  Eisbäumen,  welche  den 
zusammengesetzteren  Fiederblättern  z.  B.  von  Farmen  gleichen,  scheint 
jede  Fieder,  jeder  Seitenzweig  der  Hauptaxe  selbst  wieder  die  An- 
satzlinie für  eine  neue  Reihe  noch  mehr  untergeordneter  Individuen 
werden  zu   können  eto.      Auch  vielfach  sonst  linden    wir  solche   ein- 


II.    Organische  und  anorganische  Formen.  137 

fächere  und  zusammengesetztere  Krystall- Aggregate  (z.  B.  in  vielen 
sogenannten  Krystalldrusen)  vor,  welche  ganz  offenbar  nicht  gesetzlos 
zusammengeworfene  Krystall- Haufen  sind,  sondern  durch  bestimmte 
Anziehungs-  und  Abstossungs-Verhältuisse  geregelte,  gesetzmässige  Bil- 
dungen, in  denen  nothwendig  die  complicirte  Form  des  Ganzen  aus 
der  complicirten  Zusammenordnung  der  einzelnen  Theile  resultirt. 
Wenn  diese  merkwürdigen  Bildungen  erst  näher  untersucht  sein  wer- 
den, ist  zu  hoffen,  dass  auch  bei  diesen  ,,  Krystall-Stöcken " ,  wie  man 
sie  nennen  könnte,  bestimmte  Gesetze  gefunden  werden,  welche  den 
Zusammentritt  der  Individuen  verschiedener  Ordnung  zum  höheren 
Ganzen  bestimmen.  Die  Feststellung  dieser  Gesetze  würde  für  die 
Anorgane  dieselbe  Aufgabe  sein,  wie  sie  die  Tectologie  für  die  Or- 
ganismen verfolgt. 

II)    2.    Grundformen  der  organischen   und  anorganischen  Gestalten. 

Als  einen  weiteren  wesentlichen  Unterschied  der  organischen  und 
anorganischen  Individuen  haben  wir  oben  (p.  2ö  ff.)  die  Verschieden- 
heit der  äusseren  Gestalt  selbst  bezeichnet.  Bei  den  ausgebildeten 
anorganischen  Individuen,  den  Krystallen,  „ist  die  Form  einer  voll- 
kommen exacten  mathematischen  Betrachtung  ohne  Weiteres  zugänglich, 
und  mit  der  stereometrischen  Ausmessung  derselben  ist  die  Aufgabe 
ihrer  morphologischen  Erkenntniss  wesentlich  gelöst.  Die  anorganischen 
Individuen  sind  fast  immer  von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und 
bestimmten  messbaren  Winkeln  begrenzt.  Die  organischen  Individuen 
hingegen,  deren  Form  einer  stereometrischen  Behandlung  zugänglich 
ist,  sind  seltene  Ausnahmen.  Fast  immer  ist  ihr  Körper  von  gekrümm- 
ten Flächen,  gebogenen  Linien  und  unmessbaren  sphärischen  Winkeln 
begrenzt." 

Auch  dieser  Unterschied,  den  wir  absichtlich  oben  so  schroff  hin- 
gestellt haben,  wie  dies  gewöhnlich  geschieht,  ist  keineswegs  so  ab- 
solut und  durchgreifend,  wie  man  glaubt.  Vielmehr  kommen  auch  in 
dieser  Beziehung,  wie  überall,  Zwischenformen  und  Uebergangs- 
bildungen  vor.  Zunächst  ist  hier  hervorzuheben,  dass  auch  vollkommen 
reine  anorganische  Krystalle  sich  finden,  welche  nicht,  gleich  den 
meisten  anderen,  von  ebenen  Flächen  begrenzt  sind,  die  in  gradlinigen 
Kanten  zusammenstossen.  Am  wichtigsten  sind  in  dieser  Beziehung 
die  von  gekrümmten  Flächen  eingeschlossenen  Diamautkrystalle,  welche 
um  so  bemerkenswerther  sind,  als  der  Kohlenstoff,  der  hier  in  reinster 
Form  sphärische  Krystallnächen  hervorbringt,  zugleich  dasjenige  che- 
mische Element  ist,  Avelches  an  der  Spitze  der  Organogene  steht,  und 
die  wichtigste  Kolle  in  der  Bildung  der  organischen  Verbindungen 
spielt.  Dasselbe  gilt  auch  vom  Wasser,  welches  nicht  minder  unent- 
behrlich für  das  Zustandekommen   und  den   Bestand   der  organischen 


138  Organismen  und  Anorgane. 

Formen  ist.  Die  unendlich  mannichfaltigen  Krystallformen  des  Schnees 
und  Eises,  und  vor  Allem  die  sehr  complicirten,  eben  hervorgehobenen 
,.höheren  und  vollkommeneren"  Krystallformen  (Eisblumen,  Eis- 
blätter etc.),  welche  aus  Krystall-  Individuen  niederer  Ordnung-  sich 
zusammensetzen,  zeigen  äusserst  häufig  höchst  eomplicirte,  einer 
stereometrischen  Betrachtung  gar  nicht  mehr  zugängliche,  gekrümmte 
Linien  und  Flächen. 

Während  so  einerseits  der  Fall  nicht  selten  ist,  dass  auch  reine 
und  vollkommen  geformte  anorganische  Individuen,  gleich  den  orga- 
nischen, nur  gekrümmte  Begrenzungsflächen  und  krumme  Kantenlinien 
zeigen,  die  in  unmessbaren  Ecken  zusammenstossen,  so  kommt  ande- 
rerseits noch  häufiger  der  Fall  vor,  dass  auch  organische  Individuen, 
gleich  den  meisten  anorganischen  Krystallen,  vollkommen  ebene  Be- 
grenzungsflächen  darbieten,  welche  sich  in  geraden  Linien  schneiden 
und  in  messbaren  Raumecken  zusammenstossen.  Wir  meinen  hier 
nicht  die  Krystalle  organischer  Kohlenstoff- Verbindungen  (z.  B.  Zucker, 
organische  Säuren,  Fette  etc.),  da  wir  diese  nicht  als  wirkliche  orga- 
nische, d.  h.  physiologische  Individuen,  als  Lebenseinheiten,  ansehen 
können;  wir  meinen  vielmehr  die  bisher  auffallend  vernachlässigten, 
äusserst  interessanten  Organismen  aus  dem  Rhizopoden-Stainme,  welche 
besonders  in  der  Radiolarien-Klasse  einen  so  ausserordentlichen  Formen- 
reichthum  entwickeln  und  hier  zum  Theil  vollständig,  in  ihrer  ge- 
satnmten  Körperform,  und  vor  Allem  in  ihrer  Skeletbildung,  die  rein- 
sten und  regelnlässigsten  Krystallformen  (Tetraeder,  reguläre  Octaeder, 
Quadrat- Octaeder,  Rhomben- Octaeder,  dreiseitige  Prismen  etc.)  dar- 
stellen. Da  wir  diese  höchst  wichtige  und  bisher  fast  ganz  vernach- 
lässigte Erscheinung  im  vierten  Buche  ausführlich  zu  behandeln  haben, 
so  wollen  wir  hier  nur  darauf  hinweisen,  dass  sämmtliche  stereo- 
metrische  Formen,  welche  als  Grundformen  der  verschiedenen 
Krystallsysteme  auftreten,  auch  in  Form  selbstständiger  Organismen 
vorkommen.  Die  Radiolarien  liefern  hierfür  die  zahlreichsten  und 
schlagendsten  Beispiele. 

Im  Ganzen  genommen  ist  freilich  die  Zahl  dieser  Organismen  in 
Kry stallform  gering,  und  es  muss  ausdrücklich  hinzugefügt  werden, 
dass  es  immer  nur  ein  Theil  des  Körpers  ist  (wenn  auch  oft  der 
grösste,  und  häufig  der  einzige  feste  und  geformte  Theil),  wel- 
cher die  einfache  Krystallform  annimmt.  Denn  zu  diesem  (meist  aus 
Kieselsäure  gebildeten)  Krystall -Skelet  kommt  stets  noch  zum  Min- 
desten die  amorphe  Sarcode,  das  lebende  Protoplasma,  hinzu.  Diese 
letztere  kann  allein  die  Lebensbewegungen  vermitteln,  denen  auch 
jener  Skelet-Krystall  seine  Entstehung  verdankt. 

Bei  der  Mehrzahl  der  Organismen  ist  die  Krystallform  gewöhnlich 
schon  deshalb  ganz  oder  grösstenteils  ausgeschlossen,  weil  der  ganze 


II.    Organische  und  anorganische  Formen.  139 

Körper,  oder  doch  der  grösste  Tlieil  desselben,  aus  imbibitionsfähiger 
Materie  besteht.  Kristallisation  und  Imbibition  schliessen  sich  aber, 
wie  oben  bemerkt,  aus.  Wir  haben  daher  gewiss  in  der  für  das 
Leben  unentbehrlichen  Quelllingsfähigkeit  der  organischen 
Materien  die  nächste  Ursache  für  die  nicht  krystallinische 
Form  der  meisten  Organismen  zu  suchen. 

Nächst  der  Imbibitionsfäkigkeit,  und  in  der  nächsten  Beziehung 
und  Verbindung  mit  ihr,  ist  es  dann  ferner  die  unbegrenzte  Varia- 
bilität der  Organismen,  welche,  wie  oben  bemerkt  (p.  26),  eine 
stereometrische  Betrachtung,  Ausmessung  und  Berechnung  der  meisten 
organischen  Formen  in  gleicher  Weise,  wie  sie  die  Krystallographie 
für  die  Anorgane  giebt,  illusorisch  macht.  Die  Individuen  der  orga- 
nischen „Arten"  (Species)  sind  nicht,  wie  die  Individuen  der  anorga- 
nischen Arten,  einander  ^innerhalb  des  Species-Begriffes)  gleich,  oder 
auch  nur  in  allen  wesentlichen  Stücken  ähnlich.  Vielmehr  haben  wir 
die  allgemeine  Veränderlichkeit  und  Anpassungsfähigkeit  aller  Orga- 
nismen als  eine  äusserst  wesentliche  Grundeigenschaft  derselben  zu 
constatiren.  Indem  alle  Individuen  unter  einander  ungleich  sind,  imd 
daher  auch  eine  gemeinsame  stereometrische  Grundform  nur  für  eine 
bestimmte  Summe  von  Individuen,  welche  innerhalb  eines  beschränkten 
Zeitraums  (z.  B.  einige  geologische  Perioden  hindurch)  existiren,  auf- 
gestellt werden  kann,  so  würde  die  genaueste  stereometrische  Aus- 
messung und  Berechnung  der  Organismen-Formen,  ihrer  complicirten 
gekrümmten  Begrenzungsflächen,  Linien  etc.,  auch  wenn  sie  möglich 
wäre,  nur  ein  ganz  untergeordnetes  Interesse  haben.  Dagegen  ist  eine 
allgemeine  Betrachtung  der  stereometrischen  Grundformen,  welche  den 
Organismen -Formen  zu  Grunde  liegen,  allerdings  möglich,  und  wie 
das  vierte  Buch  zeigen  wird,  innerhalb  gewisser  Schranken  ausführbar. 
In  gewissem  Sinne  entspricht  diese  Promorphologie  der  Krystallographie, 
ist  das  Aequivalent  einer  „  Krystallographie  der  Organismen",  und  man 
kann  diesen  Vergleich  noch  durch  die  Erwägung  näher  begründen, 
dass  auch  bei  den  reinen  anorganischen  Krystallen  die  vollkommene 
stereometrische  Grundform  äusserst  selten  (oder  nie)  in  der  Natur 
realisirt  vorkommt,  und  daher  stets  mehr  oder  minder  eine  (durch  Er- 
gänzung vieler  einzelner  verglichener  concreter  Krystall  -  Individuen 
erhaltene)  ideale  Abstraction  darstellt.  Die  Unvollkommenheiten  der 
allermeisten  realen  Krystall-Individuen  sind  durch  Anpassung  ihrer 
Form  an  die  Umgebung  bestimmt,  welche  während  ihrer  Entstehung 
wirksam  war.1)     In  gleicher  Weise,  nur  in  viel  höherem  Grade,  wirkt 

')  Ganz  besonders  merkwürdig  erscheinen  durch  die  unendliche  Mannich- 
faltigkeit  der  individuellen  Formen  die  complicirten  Krystalle  des  Schnee's,  welche 
zugleich  desshalb  von  besonderem  Interesse  sind,  weil  hier  die  Anpassungs-Be- 
dingungen verhältnissmässig  einfache  sind. 


140  Organismen  und  Anorgane. 

die  Anpassung  an  die  umgebenden  Existenz-Bedingungen  auf  die  wer- 
denden Organismen  ein,  wessbalb  liier  die  individuelle  Verschiedenheit 
so  sehr  viel  beträchtlicher  ist,  und,  indem  sie  viele  Generationen  hin- 
durch vererbt,  und  durch  Vererbung  in  Verbindung  mit  fortdauernder 
Abänderung  gehäuft  wird,  schliesslich  zur  Entstehung  ganz  neuer  For- 
men führt. 

111.    Organische  und  anorganische  Kräfte. 

III)     1.    Lebenserscheinungen     der    Organismen    und    physikalische 

Kräfte  der  Anorgane. 

Durch  die  vorhergehenden  Untersuchungen  glauben  wir  gezeigt 
zu  haben,  dass  sowohl  in  der  elementaren  Constitution  und  in  der 
chemischen  Zusammensetzung  der  Materie,  als  auch  in  der  Form,  in 
welcher  sich  dieselbe  individualisirt,  durchaus  keine  so  wesentlichen 
und  absoluten  Unterschiede  zwischen  Organismen  und  Anorganen 
existiren,  wie  dies  gewöhnlich  angenommen  wird.  Die  wirklich  vor- 
handenen Unterschiede  erklären  sich  aus  der  complicirteren  Art  und 
Weise,  in  welcher  die  Atome  der  Elemente  in  den  organischen  Kör- 
pern zu  verwickeiteren  Atomgruppen  (Molekülen)  zusammentreten,  und 
ganz  besonders  aus  der  ausserordentlichen  Fähigkeit  des  Kohlenstoffs, 
mit  mehreren  verschiedenen  Atomarten  sich  in  sehr  verwickelter  Weise 
zu  verbinden.  Es  ist  lediglich  diese  verwickeitere  atomistische  Con- 
stitution der  Kohlenstoff-Verbindungen  und  die  damit  zusammenhängende 
leichte  Zersetzbarkeit  derselben,  die  ungewöhnliche  Neigung  und 
Fähigkeit  der  Atome,  ihre  gegenseitige  Lagerung  und  Gruppirung  zu 
ändern,  welche  den  organischen  Materien  zum  Theil  besondere  physi- 
kalische Eigenschaften  verleiht.  Von  diesen  ist  die  wichtigste  der 
festtiüssige  Aggregatzustand,  die  Quellungsfähigkeit.  Nun  entsteht  aber 
die  Frage,  ob  denn  auch  alle  die  verwickeiteren  Bewegungs- Erschei- 
nungen der  Materie,  welche  man  unter  dem  Collectiv-Begriff  des 
„Lebens"  zusammenfasst,  sich  lediglich  aus  dieser  complicirteren  Con- 
stitution der  organischen  Materie  und  der  dadurch  bedingten  imbibi- 
tionsiähigen  Form  erklären  lassen.  Wir  haben  den  Beweis  zu  führen, 
dass  dies  in  der  That  der  Fall  ist,  und  dass  sämmtliche  Lebens- 
erscheinungen der  Organismen  ohne  Ausnahme  ebenso  unmittelbare 
und  nothwendige  Wirkungen  der  geformten  organischen  Materie  sind, 
als  die  physikalischen  Eigenschaften  jedes  Krystalles  unmittelbare  und 
nothwendige  Folgen  seiner  Form  und  stofflichen  Qualität  sind. 

Bereits  oben  (p.  100)  ist  mit  aller  Schärte  hervorgehoben  worden,  dass 
wir  die  teleologische  und  vitalistische  Betrachtungsweise  der  Organismen 
durchaus  verwerfen,  und  dass  wir  als  die  einzig  mögliche  wissen- 
schaftliche Erkenntnissiaethode  derselben  die  mechanische  und 
causale    anerkennen   müssen.     Da   wir  uns  hier  im  vollsten  Einklänge  mit 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  141 

den  wesentlichsten  Grandanschauungen  der  gesarnmten  neueren  Physiologie 
befinden,  dürfte  es  überflüssig  erscheinen,  hier  über  diesen  ersten  und  wich- 
tigsten   aller  biologischen   Grundsätze   noch    ein    Wort    zu    verlieren.     Wir 
sind   aber   zu  dieser  Erörterung  gezwungen   durch   die   allgemeine  Verbrei- 
tung  der  verkehrtesten  Vorstellungen,    welche    in    dieser    Beziehung    noch 
heutzutage   sowohl   die   organische   Morphologie,    als  die  speculative  Philo- 
sophie zum  grössten  Theil  beherrschen.    Selten  freilich  begegnen  wir  diesen 
vitalistischen  Irrthümern  in  einem  so  offenen  und  auffallenden  Gegensatz  zu 
der  gesarnmten  übrigen  Naturwissenschaft,  wie  es  in  den  consequent  durch- 
geführten   Ansichten    von    L.  Agassi  z   der  Fall   ist,    welcher   sämmtliche 
Lebenserscheimmgen  als  unmittelbare  Gedanken- Ausflüsse  des  persönlichen 
Schöpfers    ansieht,    selten    setzen    sie    sich   zu  jeder  vernunftgemässen  und 
harmonisch-denkenden  Naturbetrachtung  in  einen  so  erklärten  Widerspruch, 
wie  in  den   gänzlich   unklaren  und  verworrenen  Theorieen   von   Reichert, 
der  alle  Lebenserscheinungen  aus  dem  „systematischen  Grün dchar acter "  der 
organischen  Schöpfung  ableitet.   Vielmehr  verstecken  sich,  da  die  Ausdrücke 
der  „Lebenskraft",   des   Lebensprincips   u.  s.  w.  doch  allmählig  in  ziemlich 
allgemeinen  Misscredit  gekommen  sind,  die  meisten  dualistischen  Irrthümer 
der  jetzigen    organischen   Morphologie   unter   unschuldigeren  teleologischen 
Ausdrücken,    als   da   sind:  Bauplan   der  Organismen,   innere  Idee,   zweck- 
mässige Organisation,  Endzweck  der  Organismen  u.  s.  w.    Alle  diese  Aus- 
drücke, welche  mehr  oder  minder  sich  bemühen,   den  inneren  Widerspruch 
der  dualistischen  Weltansicht  unter  dem  Bilde  eines    teleologischen  Gleich- 
nisses   zu    verbergen,    sind    eben    so   absolut  zu   verwerfen,    als    die  früher 
herrschenden  Vorstellungen,  dass  jedes  organische  Individuum  zur  Erfüllung 
seines   individuellen   Lebenszweckes   vom    Schöpfer  zweckmässig  mit    einer 
besonderen   „Lebenskraft"    ausgerüstet   sei.     Wir   müssen   als  erste  und  un- 
umgängliche  Vorbedingung   einer  jeden   wissenschaftlichen  Erkenntniss  der 
belebten   Natur  den   monistischen   Fundamentalsatz   von  dem  nothwendigen 
Zusammenhange  zwischen  Ursache  und  Wirkung  aufstellen,  und  aus  diesem 
Causal- Gesetze  wird  sich  dann  für  die  gegenwärtige  Betrachtung  das  Re- 
sultat ergeben,   dass    alle   Lebenserscheinungen   ohne   Ausnahme,   von    den 
einfachsten  Ernährungserscheinungen  der  Amoebe,   bis  zu  den  höchst  com- 
plicirten  psychischen  Functionen  des  Menschen  hinauf,  eben  so  unmittelbare 
und   nothwendige   Folgen   der   complicirteren   Zusammensetzung   und  Form 
der   organischen  Materie   sind,   als   die   physikalischen  Eigenschaften  jedes 
Krystalls  aus  der  chemischen  Natur  seines  Stoffes  und  der  davon  abhängigen 
prismoiden    Form    unmittelbar   resultiren.      In    dieser    Beziehung    ist    eine 
allgemeine  Vergleichung  der  sogenannten  „Lebenserscheinungen  oder  vitalen 
Functionen"    der  Organismen  mit  den  vollkommen  gleichwertigen  physika- 
lischen   und    chemischen    „Kräften"    der    Anorgane,    und  insbesondere   der 
höchst  individualisirten    Anorgane,   der  Krystalle,    besonders  lehrreich  und 
interessant. 

III)     2.    Wachsthum  der  organischen  und  anorganischen  Individuen. 

Der  Ausdruck  „Leben"  ist,  wie  bemerkt,  nichts  Anderes,  als  eine 

Colleetivbezeicknmig  für  eine  Summe  von   complicirteren  Bewegungs- 


142  Organismen  und  Anorgane. 

Erscheinungen  der  Materie,  welche  nur  den  Organismen  eigen  sind, 
und  den  Anorgahen  allgemein  fehlen.  Es  entsteht  aber  hier  zunächst 
die  Frage,  ob  denn  wirklich  alle  sogenannten  Lebens-Erscheinungen 
durchaus  ohne  Aualogon  in  der  leblosen  Natur  sind.  Wenn  wir  nun 
in  dieser  Beziehung  die  molekularen  Lebensbewegungen  der  organischen 
Individuen  mit  den  molekularen  Bewegungen,  welche  wir  bei  anorga- 
nischen Individuen,  insbesondere  bei  Krystallen,  wahrnehmen,  ver- 
gleichen, so  tritt  uns  als  verwandte  Erscheinung  zunächst  diejenige 
des  Wachsthums  entgegen. 

Die  Erscheinungen  des  Wachsthums  in  den  anorganischen  und 
organischen  Individuen  sind  schon  vielfach  und  mit  Recht  verglichen 
worden;')  und  zweifelsohne  ist  hier  der  Punkt,  von  welchem  unsere 
Vergleichung  am  besten  ausgehen  kann.  Bei  allen  Naturkörpern  be- 
steht die  Erscheinung  des  Wachsthums  darin,  dass  die  räumliche  Aus- 
dehnung und  die  Masse  des  Individuums  allmählig  zunimmt,  indem 
dasselbe  durch  eigene  Thätigkeit  fremde,  ausserhalb  befindliche 
Massentheilchen  anzieht.  Bei  den  Krystall-Individuen  wird  so- 
wohl ihr  Wachsthum,  als  auch  ihre  erste  Entstehung  allgemein  und 
ohne  Widerspruch  zurückgeführt  auf  elementare  Gesetze  der  Anziehung 
und  Abstossung  der  Moleküle  einer  homogenen  Materie.  Für  die 
Wirksamkeit  dieser  Gesetze  ist  der  flüssige  Aggregatzustand  (entweder 
als  Lösung  oder  als  Schmelzung)  unbedingt  erforderlich. 

Zunächst  ist  hier  die  erste  Entstehung  des  Krystalls  aus  der  Flüssig- 
keit (Mutterlauge)  zu  verfolgen.  Eine  bestimmte  Verbindung  (z.  B.  Koch- 
salz), oder  ein  chemisches  Element  (z.  B.  Schwefel)  befindet  sich  durch 
Lösung  oder  durch  Schmelzung  im  flüssigen  Aggregatzustande,  in  welchem 
die  Cohäsion  der  Moleküle  der  Expansion  der  intermolekularen  Aether- 
Atome  das  Gleichgewicht  hält.  Damit  derselbe  nun  in  den  festen  Aggregat- 
zustaud  übergehe,  oder  damit  der  Körper  krystallisire,  ist  entweder  eine 
Uebersättigung  der  Lösung  (Mutterlauge)  oder  eine  Abkühlung  der  ge- 
schmolzenen Masse  erforderlich.  Dadurch  entstehen  einer  oder  mehrere 
Punkte  in  der  Flüssigkeit,  an  denen  die  Cohäsion  der  benachbarten  Mole- 
küle über  die  Expansion  der  sie  trennenden  Aether-Atome  das  Ueber- 
gewicht  gewinnt,  und  folglich  ein  fester  Körper  entsteht.  Die  Form  dieses 
ersten,  äusserst  kleinen,  festen  Körpers,  der  als  Krystallkern  nun  weiter 
auf  die  umgebende  Flüssigkeit  wirkt,  ist  bereits  eine  gesetzmässig  be- 
stimmte, ist  bereits  die  Grundform  des  Krystallsystems,  in  welchem  die 
betreffende  Materie  unter  den  gegebenen  Umständen  (Temperatur,  Elcctri- 
cität  etc.)  krystallisirt.  Es  treten  also  bereits  bei  der  ersten  Entstehung 
des  Krystalls,  im  ersten  Momente  des  Festwerdens,  die  benachbarten  Mole- 


')  Schon  Limit''  stellte  die  YVaclisIliuins-ErscIieinungen  der  Organismen  und 
Anorgane  in  Parallele,  in  der  bekannten  Diagnose  der  drei  Reiche:  Lapides  cres- 
eunt,  Plantae  creseunt  et  vivunt,  Animalia  creseunt  et  vivunt  et  sentiunt. 


III.    Organische  uud  anors-auische  Kräfte.  J43 

küle  nach  einem  bestimmten  Gesetze  zusammen,  welches  lediglich  in  den 
einfachen  Anziehnngs-  und  Abstossungs -Verhältnissen  der  Moleküle  dieser 
bestimmten  Materie  begründet  ist.  Diese  Gesetze  sind  uns  vollkommen  eben 
so  unbekannt  und  ihrem  innersten  Wesen  nach  eben  so  räthselhaft,  wie  die 
Gesetze  der  ersten  Entstehung  lebender  Materie  aus  lebloser. 

Die  „spontane"  Entstehung  eines  einfachsten  Organismus,  wie  es  die 
structurlosen  Plasmaklumpen,  die  Moneren  sind,  in  einer  leblosen  oder 
anorganischen  Flüssigkeit,  welche  die  Elemente  seiner  Materie  gelöst  ent- 
hält, ist  eine  bestimmte  Form  der  Generatio  aequivoca,  welche  wir  als 
Autogonie  im  nächsten  Capitel  noch  besonders  betrachten  werden.  Hier 
wollen  wir  vorläufig  hervorheben,  dass  dieser  Process  uns  seinem  innersten 
Wesen  nach  in  der  That  nicht  minder,  aber  auch  nicht  mehr,  unerklär- 
lich und  räthselhaft  ist,  als  die  „spontane"  (d.  h.  scheinbar  freiwillige,  in  der 
That  aber  nothwendige,  gesetzlich  bedingte!)  Entstehung  eines  anorga- 
nischen Krystalls  in  einer  anorganischen  Flüssigkeit.  Wir  wissen  nicht 
warum  dieselbe  anorganische  Flüssigkeit  unter  scheinbar  gleichen  (in 
der  That  aber  stets  ungleichen.)  Umständen  Krystalle  liefert,  welche  an 
Zahl,  Grösse,  secundärer  Form  etc.  oft  sehr  bedeutend  von  einander  ab- 
weichen. Aber  wir  zweifeln  niemals,  dass  es  bestimmte  ursächliche  Ver- 
hältnisse der  eigenen  und  der  umgebenden  Materie,  bestimmte,  uns  unbe- 
kannte Bedingungen  in  den  Anziehungs-  und  Abstossungs-Verhältnissen 
dieser  Materie  sind,  welche  in  jedem  Falle  die  bestimmte  individuelle  Form 
des  entstehenden  Krystalles  regeln  und  bedingen.  Ganz  genau  ebenso 
verhält  sich  in  dieser  Beziehung  die  erste  Entstehung  der  einfachsten, 
homogenen  Orgatiismen,  die  Autogonie  eines  Moneres  in  einer  Flüssigkeit, 
welche  die  Elemente  seiner  Materie  in  anderen  Verbindungen,  z.  B.  als 
Kohlensäure  und  Ammoniak,  gelöst  enthält,  und  welche  die  für  die  Auto- 
gonie notwendigen  Bedingungen  bietet.  Wir  wissen  nicht,  warum  hier  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Atomen  des  Kohlenstoffs,  des  Sauerstoffs,  des  Was- 
serstoffs und  des  Stickstoffs  in  bestimmter  Quantität  zusammentritt,  um  eine 
plastische  Materie,  einen  Eiweisskörper  zu  bilden,  dessen  Moleküle  dann 
unter  scheinbar  gleichen  (in  der  That  aber  stets  ungleichen)  Umständen 
sich  zur  Bildung  von  Moneren  vereinigen,  primitiven  homogenen  Organismen, 
welche  an  Entwicklungsfähigkeit  so  sehr  voii  einander  abweichen,  und  von 
denen  das  eine  einer  pflanzlichen,  das  andere  einer  thierischen  Entwicke- 
lungsreihe  den  Ursprung  giebt.  Aber  wir  können  und  dürfen  nicht  zwei- 
feln, dass  es  bestimmte  ursächliche  Verhältnisse  der  eigenen  und  der  um- 
gebenden Materie  sind,  bestimmte  uns  unbekaunte  Bedingungen,  Modifika- 
tionen in  den  Anziehungs-  und  Abstossungs-Verhältnissen  dieser  Materie, 
welche  in  jedem  Falle  die  bestimmte  (in  bestimmter  Richtung  entwickelungs- 
fähige)  Qualität  des  entstehenden  Urorganismus  oder  Moneres  regeln  und 
bedingen. 

Offenbar  sind  es  dieselben  grossen  und  einfachen  Gesetze  der 
Massenanziehung  und  der  chemischen  Wahlverwandtschaft,  welche  die 
Autogonie  verschiedener  Moneren,  d.  k.  die  spontane  Entstehung  von 
homogenen  structurlosen  Urorganismen  in  einer  anorganischen  Flüssig- 


*  ij  Organismen  und  Anorgane. 

keit  und  welche  die  gesonderte  Entstehung  der  verschiedenen  Krystalle 
in  einer  gemischten  Mutterlauge  bedingen.  Hier  wie  dort  erfolgt  die 
Bildung  der  festen  Körper  aus  der  Flüssigkeit  mit  Notwendigkeit, 
durch  die  ureigene  Kraft  der  Materie,  ohne  Zuthun  einer  davon  ver- 
schiedenen, zweckmässig  wirkenden  Kraft.  Dieselbe  fundamentale 
Uebereinstiminung  zeigt  sich  nun  auch  weiterhin  in  dem  Wachsthum 
der  spontan"  entstandenen  Formen.  Das  Wachsthum  beruht  in  allen 
Fällen  darauf,  dass  der  vorhandene  feste  Körper  als  Attractionscentrum, 
als  Anziehungsmittelpunkt  wirksam  ist,  und  dass  die  Anziehungskraft, 
welche  die  in  demselben  inniger  verbundenen,  sich  näher  liegenden 
Moleküle  auf  ihre  Umgebung  ausüben,  die  schwächere  Cohäsion  der 
in  der  umgebenden  Flüssigkeit  gelösten  Moleküle  überwiegt.  Indem 
die  letzteren  weiter  von  einander  abstehen,  sich  weniger  stark  in  ihrer 
o-egenseitio-en  Lage  zu  erhalten  vermögen,  folgen  sie  der  stärkeren 
Anziehung,  welche  von  dem  bereits  gebildeten  festen  Körper  ausgeht, 
und    o-ehen    nun    ihrerseits    ebenfalls    in    den    festen    Aggregatzustand 

über. 

Nun  ist  aber  hier  sogleich  hervorzuheben,  dass  zwar  die  Grund- 
erscheinung des  Wachsthums  bei  den  Krystallen  und  den  Urorganismen 
dieselbe  ist,  und  dass  sowohl  hier  als  dort  lediglich  die  einfachsten 
Attractions  -Verhältnisse  der  materiellen  Moleküle  es  sind,  welche  dem 
zuerst  entstandenen  festen  Centralkörper  immer  neue  festwerdende 
Materie  von  aussen,  aus  der  umgebenden  Flüssigkeit  her  zufuhren; 
dass  aber  andererseits  die  Verschiedenheit  des  Aggregatzustandes  in 
den  anorganischen  und  den  organischen  Individuen  von  vornherein 
Verschiedenheiten  in  der  Wachstlmmsweise  bedingt,  welche  uns  voll- 
kommen die  weiter  auftretenden  Differenzen  der  beiden  Fälle  erklären. 

Dieser  wichtigste  Unterschied  zwischen  den  in  der  Mutterflüssigkeit 
spontan  entstehenden  Krystallen  und  Moneren  zeigt  sich  von  vornherein 
darin,  dass  bei  der  ersten  Anlage  des  Krystalls  (des  Kernkrystalls) 
die  organische  Materie  sogleich  unmittelbar  aus  dem  vollkommen 
flüssigen  in  den  vollkommen  festen  Aggregatzustand  übergeführt  wird, 
während  bei  der  ersten  Anlage  des  Moneres  die  organische  Materie 
nicht  unmittelbar  aus  dem  vollkommen  flüssigen  in  den  vollkommen 
festen,  sondern  in  den  festflüssigen  Aggregatzustand  übergeht.  Wenn 
bei  der  Krystallisation ,  wie  es  sehr  häufig  geschieht,  aus  der  umge- 
benden Mutterlauge  Wasser  (Krystallwasser)  in  den  entstehenden  festen 
Körper  mit  übergeführt  wird,  so  erscheint  dieses  an  denselben  chemisch 
gebunden  und  thut  dem  vollkommen  festen  Aggregatzustand  nicht  den 
mindesten  Eintrag.  Wenn  dagegen  bei  der  Autogonie  ein  Moner  aus 
der  Mutterflüssigkeit  entsteht,  wobei  stets  Wasser  in  den  entstehenden 
festflüssigen  Körper  mit  aufgenommen  wird,  so  wird  dieses  Wasser 
nicht  fest,  wie   es  bei  dem   chemisch  gebundenen  Krystallwasser  ge- 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  J45 

schieht,  sondern  es  bleibt  flüssig,  und  bedingt  durch  seine  eigenthüra- 
liche  Verbindung  mit  der  fest  gewordenen  organischen  Materie  den 
Imbibitionszustand  des  structurlosen  Urwesens,  und  dadurch  die  blei- 
bende Beweglichkeit  seiner  inneren  Bestandteile,  welche  für  alle 
weiteren  Entwickelungs-Bewegungen  desselben  die  erste  Bedingung  ist. 

Sehen  wir  nun  aber  von  diesen  wichtigen  Grundunterschieden  im 
Aggregatzustande  der  Organismen  und  der  Anorgaue  zunächst  ab,  so 
linden  wir  andererseits  in  dem  Wesen  der  Wachsthums-Bewegungen, 
welche  bei  der  Bildung  der  Krystalle  und  der  einfachsten  organischen 
Individuen,  der  Moneren,  sich  zeigen,  die  wichtigste  Uebereinstimmung. 
Besonders  ist  hier  als  ein  sehr  wichtiger  allgemeiner  Character  des 
Wachsthmns  hervorzuheben,  dass  in  allen  Fällen  die  Aneignung  der 
zum  Wachsthum  dienenden  Stoffe  aus  der  umgebenden  Mutterflüssigkeit 
mit  einer  gewissen  Auswahl  erfolgt.  Sowohl  der  wachsende  Krystall, 
als  das  wachsende  Moner  zieht,  wie  jede  andere  Cytode  und  wie 
jede  Zelle,  aus  der  umgebenden  Ernährungsflüssigkeit  nur  diejenigen 
Substanzen  an,  welche  es  zu  seinem  individuellen  Wachsthum  braucht, 
und  trifft  daher,  wenn  viele  verschiedene  ernährende  Substanzen  unter 
einander  in  der  Flüssigkeit  gelöst  sind,  zwischen  diesen  eine  bestimmte 
Auswahl.  Bei  der  Kristallisation  der  Anorgane  zeigt  sich  dieses  Phä- 
nomen ganz  einfach  darin,  dass,  wenn  in  einer  Mutterlauge  viele  ver- 
schiedene Salzlösungen  unter  einander  gemischt  sich  befinden,  beim 
Abdampfen  derselben  alle  einzelnen  Salze  gesondert  heraus  krystalli- 
siren,  indem  das  Gleiche  stets  das  Gleiche  anzieht.  Beim  Wachsthum 
aller  Organismen  zeigt  sich  dasselbe  Grundgesetz  in  dem  Phänomen 
der  Assimilation,  indem  z.  B.  in  einem  Teiche,  in  welchem  viele  ein- 
zellige Algen  und  Protisten  unter  einander  leben,  jede  nur  diejenigen 
bestimmten  Salze,  diejenigen  Quantitäten  der  organischen  Verbindungs- 
Elemente  in  sich  aufnimmt,  welche  zur  Bildung  von  organischer  Sub- 
stanz Ihresgleichen  dienen.  Offenbar  beruht  diese  wichtige  Erscheinung, 
welche  die  Gleichartigkeit  der  chemischen  Substanz  ganz  ebenso  in 
dem  structurlosen  Monere,  wie  in  dem  Krystalle  bedingt,  auf  denselben 
Gesetzen  der  molekularen  Anziehung  und  Abstossung.  Dieselben  Ge- 
setze der  chemischen  Wahlverwandtschaft  und  der  physikalischen 
Massenanziehung  bewirken  zusammen  in  gleicher  Weise  das  Wachs- 
thum der  Organismen  und  der  Anorgane. 

Wenn  wir  uns  nun  von  den  structurlosen  Moneren  zu  den  höheren 
Organismen  wenden,  deren  Leib  aus  einem  Complex  von  differenzirten 
Zellen  besteht,  so  finden  wir  auch  hier  dieselben  einfachen  und  grossen 
Gesetze  wirksam,  und  nur  dadurch  häufig  sehr  versteckt,  dass  die 
unendlich  verwickeitere  Zusammensetzung  der  höheren  organischen 
Individuen  aus  sehr  verschiedenartigen  Theilen  auch  immer  unendlich 
verwickeitere  Bedingung   des  Wachsthums  und  der  Stoffauswahl  setzt. 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  \Q 


146  Organismen  und  Anorgane. 

So  z.  B.  zieht  bei  den  höheren  Thieren  aus   der  gemeinsamen  Ernäh- 

rungsflüssigkeit,  dem  höchst  zusammengesetzten  Blute,  jede  einzelne 
Zelle,  jedes  einzelne  Organ,  nur  diejenigen  bestimmten  Bestandteile 
an  sich,  welche  seines  Gleichen  sind,  welche  es  zu  seiner  individuellen 
Vergrösserung  braucht,  und  verschmäht  die  übrigen.  Aber  selbst  für 
diesen  complicirteren  organischen  Wachsthumsprocess  giebt  es  Analoga 
in  der  anorganischen  Natur.  Dahin  gehört  das  bekannte  Experiment, 
welches  schon  von  Reil  175>6  in  seiner  klassischen  Abhandlung  ..von 
der  Lebenskraft"  benutzt  wurde,  um  zu  zeigen,  dass  die  „Assimilation", 
die  Ernährung  und  das  Wachsthum  der  Thiere  nichts  weiter  seien, 
als  eine  „thierische  Kristallisation",  d.  h.  „eine  Anziehung  thierischer 
Materie  nach  Gesetzen  einer  chemischen  Wahlverwandtschaft".  Wenn 
man  nämlich  in  eine  Auflösung  von  Salpeter  und  Glaubersalz  einen 
Salpeterkrystall  hineinlegt,  so  krystallisirt  nur  der  Salpeter  heraus  und 
das  Glaubersalz  bleibt  gelöst;  wenn  man  dagegen  umgekehrt  in  die- 
selbe gemischte  Auflösung  einen  Glaubersalzkrystall  hineinlegt,  so 
krystally sirt  nur  das  Glaubersalz  heraus,  und  der  Salpeter  bleibt  gelöst. l) 
Diese  wichtige  Erscheinung,  welche  uns  die  Gleichheit  der  ein- 
fachen Grundursachen  im  Wachsthum  der  Organismen  und  Anorgane 
beweist,  führt  uns  unmittelbar  zu  einem  weiteren  wichtigen  Grundgesetz 
des  Wachsthums,  das  sich  ebenfalls  auf  bestimmte  Verhältnisse  der 
Massenanziehung  gründet.  Es  folgt  nämlich  aus  jenem  instruetiven 
Versuche  unmittelbar,  dass  ein  bereits  gebildeter  fester  Körper  in  seiner 
Mutterlauge  (d.  h.  in  einer  Flüssigkeit,  welche  die  ihn  zusammen- 
setzenden eigenen  Stoffe  gelöst  enthält)  eine  stärkere  Anziehung  auf 
die  umgebenden  in  der  Flüssigkeit  gelösten  Moleküle  ausübt,  als  diese 
unter  sich  auszuüben  vermögen.  Ist  daher  einmal  in  einer  solchen 
Bildungsflüssigkeit  ein  fester  Körper  vorhanden ,  so  wirkt  dieser  als 
Anziehungsmittelpunkt,  und  vermag  nun  gleichartige  Materie,  welche 
in  der  Flüssigkeit  gelöst  ist,  aus  dem  flüssigen  in  den  festen  Aggregat- 
zustand überzuführen,  und  zwar  unter  Umständen,  unter  denen  dieser 
Uebergang,  das  Festwerden,  ohne  Anwesenheit  des  festen  Körpers  nicht 
erfolgt  wäre.'2)     Auch    dieses    wichtige    Gesetz    wird    sicher    in    ganz 

')  Die  quantitativen  Mischlings- Verhältnisse  der  Lösung,  welche  zur  An- 
stellung dieses  Experiments  erforderlich  sind,  rindet  man  von  Reil  näher  ange- 
geben in  seinem  Archiv  für  Physiologie,  I.  Vol.  1796,  p.  77  Anm,  1. 

!)  Gewiss  werden  wir  berechtigt  sein,  diese  allgemeine  wichtige  Erscheinung 
bei  Beurtheilung  der  ersten  Entstehung  und  des  weiteren  Waclisthums  jedes  in- 
dividuellen Naturkörpers  zu  berücksichtigen,  ganz  besonderen  Werth  aber  darauf 
zu  legen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Analogie  zwischen  anorganischer  Kry- 
stallisatiou  und  organischer  Autogonie  nachzuweisen.  [Hierauf hat  schon  Schwann 
in  seinem  berühmten  Werk  aufmerksam  gemacht,  indem  er  sagt  (p.  252) :  „Bei 
Eutwickeluug  der  plastischen  Erscheinungen  an  den  Zellen  stellt  sich  das  Ge- 
setz heraus,  dass  zur  ersten  Bildung  einer  Zelle    eine  concentrirtere  Lösung  er- 


III.     Organische  und  anorganische  Kräfte.  147 

gleicher  Weise  für  die  Organismen  wie  für  die  Anorgane  gelten  und 
wird  namentlich  dann  zu  berücksichtigen  sein,  wenn  es  sich  um  die 
Autogonie  der  Moneren  handelt,  welche  offenbar  ein  der  primitiven 
Krystallbildung  in  der  Mutterlauge  ganz  analoger  Process  ist. 

Wenn  wir  nach  diesen  Ausführungen  nochmals  die  wesentlichen  Vor- 
gänge, welche  das  Wachsthum  der  Naturkörper  bedingen,  vergleichend 
überblicken,  so  gelangen  wir  zu  dem  Resultate,  dass  dieselben  überall,  in 
der  anorganischen  wie  in  der  organischen  Natur,  auf  denselben  einfachen 
und  grossen  Gesetzen  beruhen,  vor  Allem  auf  den  Gesetzen  der  gleichartigen 
Massen-Anziehung  und  der  chemischen  Wahlverwandtschaft.  Jede  Wachs- 
thumserscheinung  des  lebenden  Individuums,  wie  des  leblosen  Krystalls 
beruht  darauf,  dass  ein  bereits  vorhandener  fester  Körper  gleichartige 
Materie  anzieht,  und  sie  nöthigt,  aus  dem  flüssigen  in  den  festflüssigen  oder 
in  den  festen  Aggregatzustand  überzugehen,  und  dabei  zugleich  sich  mit 
ihm  zu  verbinden.  Die  auffallenden  Unterschiede,  welche  sich  weiterhin 
im  Wachsthum  der  Oz'ganismen  und  der  Anorgane  zeigen,  lassen  sich  alle 
auf  die  Verschiedenheit  des  materiellen  Substrats  reduciren,  nämlich  auf  den 
festflüssigen  Aggregatzustand,  welcher  den  Organismen  allein  eigenthüm- 
lich  ist,  und  welcher  seinerseits  wieder  bedingt  ist  durch  die  verwickelten 
Verbindungen,  welche  der  Kohlenstoff,  als  das  vorzugsweise  organogene 
Element,  mit  den  verschiedenen  anderen  Atom- Arten  eingehen  kann.  Wir 
müssen  annehmen,  dass  allein  aus  diesen  wichtigen  Differenzen  in  der 
chemischen  Zusammensetzung  und  dem  Aggregatzustande  die  Hauptver- 
schiedenheiten im  Wachsthum  der  Organismen  und  Anorgane  abzuleiten  sind. 
Der  feste  Aggregatzustand  der  anorganischen  Individuen,  und  zunächst  der 
Krystalle,  erlaubt  nur  ein  Wachsthum  durch  Apposition  von  aussen,  wäh- 
rend der  festflüssige  Aggregatzustand  der  organischen  Individuen  (und  zu- 
nächst der  einfachsten  Urorganismen,  der  Moneren,  weiterhin  der  Zellen  etc.) 
ein  inneres  Wachsthum  durch  Intussusception  gestattet.  Offenbar  ist  in 
dieser  Beziehung  die  innigere  und  festere  Verbindung  der  Krystall- Mole- 
küle, gegenüber  der  mehr  lockeren  und  flüssigen  Verbindung  der  Moneren- 
Moleküle  von  der  grössten  Bedeutung.  In  den  Kry stallen  liegen  die  Mole- 
küle der  festen  Materie  und  des  daran  chemisch  gebundenen  festen  Was- 
sers (des  Krystallwassers)  so  nahe  bei  einander,  dass  sie  nicht  ihre  gegen- 
seitige Lage  und  Entfernung  verändern  können,  ohne  die  Existenz  des  an- 


forderlich ist,  als  zum  Wachsthum  einer  schon  gebildeten  Zelle.  Bei  der  ge- 
wöhnlichen Krystallisation  muss  die  Auflösung  m$hr  als  gesättigt  sein,  wenn  die 
Krystallisation  beginnen  soll.  Ist  aber  die  Krystallisation  vor  sich  gegangen, 
so  bleibt  eine  Mutterlange  übrig,  die  nicht  mehr  bei  dieser  Temperatur  gesättigt 
ist.  Dies  ist  ganz  dasselbe  Phaenomen,  wie  bei  den  Zellen;  es  zeigt,  dass  zum 
Anfang  der  Krystallisation  eine  concentrirtere  Auflösung  erforderlich  ist,  als  zum 
Wachsthum  der  schon  gebildeten  Krystalle."  Offenbar  stehen  wir  hier  vor  einem, 
übrigens  noch  wenig  beachteten  und  nicht  gehörig  formulirten  Grundgesetz  der 
Materie,  welches  bei  jeder  Formbildung,  bei  jedem  Uebergang  flüssiger,  form- 
loser Materie  in  feste  oder  festflüssige  geformte  Materie,  von  der  grössten  Be- 
deutung ist. 

10* 


148  Organismen'und  Anorgane. 

organischen  Individuums  zu  zerstören.  Es  können  daher  die  neuen,  fest 
werdenden  Moleküle,  welche  aus  der  Mutterlauge  von  dem  Krystall  ange- 
zogen und  in  den  festen  Zustand  übergeführt  werden,  sich  nur  aussen  auf 
der  äusseren  Oberfläche  des  Krystalls  ablagern.  In  den  einfachsten  Or- 
ganismen dagegen  (Moneren  und  anderen  Cytoden)  ist  der  Abstand  der  Mole- 
küle von  einander  ein  weiterer  und  sie  müssen  sogar  uothwendig  ihre  gegen- 
seitige Lage  und  Entfernung  verändern,  um  die  Existenz  des  organischen 
Individuums  zu  erhalten.  Dies  ist  aber  nur  möglich  mittelst  des  festflüssigen 
Aggregat- Zustandes,  in  welchem  die  Moleküle  der  Flüssigkeit  mit  den 
Molekülen  der  festen  organischen  Substanz  in  der  eigentümlichen  Weise 
verbunden  sind,  und  in  der  eigenthümlicheu  Art  ihre  Intermolekularräume 
ausfüllen,  welche  eben  das  Wesen  der  Imbibition  ausmacht.  Daher  wird 
die  Anziehungskraft,  welche  der  festflüssige  Ur- Organismus  auf  die  um- 
gebende Mutterlauge  (Blastema)  ausübt,  nicht  dabei  stehen  bleiben,  die  be- 
nachbarten, in  der  Flüssigkeit  gelösten  Theile  der  organischen  Substanz 
aus  dem  flüssigen  in  den  festflüssigen  Aggregatzustand  überzuführen,  und 
sie  auf  der  äusseren  Oberfläche  (durch  Apposition)  abzulagern,  oder  anzu- 
setzen, sondern  sie  wird,  weiter  wirkend,  dieselben  dem  Centrum  immer 
mehr  zu  nähern,  in  das  Innere  des  organischen  Individuums  hineinzuzieheu 
streben,  und  indem  der  festflüssige  Zustand  desselben  jenem  starken  an- 
ziehenden Einflüsse  des  Centrums  und  der  entsprechenden  Wechselwirkung 
(der  Centripetalkraft)  der  von  aussen  eindringenden  Moleküle  keinen  hin- 
reichenden Widerstand  entgegensetzt,  wird  der  Eintritt  der  neuen  Mole- 
küle in  das  Innere  des  Moneres  thatsächlich  erfolgen,  d.  h.  der  Organis- 
mus wächst  durch  Intussusception. 

Die  primitive  und  die  wichtigste  Differenz  in  der  spontanen  Entstehung 
und  im  weiteren  Wachsthum  der  Organismen  und  der  Anorgane  liegt  also 
in  der  Thatsache,  dass  die  anorganischen  Individuen,  die  Krystalle,  ver- 
möge ihres  festen  Aggregatzustandes,  uur  durch  Apposition  von  aussen 
entstehen  und  wachsen  können,  während  die  organischen  Individuen,  ver- 
möge ihres  festflüssigen  Aggregatzustandes,  nur  durch  Intussusception  nach 
innen  entstehen  und  wachsen  können  und  müssen.  Wenn  wir  von  dieser 
fundamentalen  und  äusserst  wichtigen  Thatsache  ausgehen,  und  wenn  wir 
dabei  zugleich  die  notwendigen  Wechselbeziehungen  ins  Auge  fassen,  in 
denen  sich  jeder  Naturkörper  zu  sämintlichen  ihn  unmittelbar  umgebenden 
Naturkörpern  befindet,  so  wird  sich  aus  der  Differenz,  welche  diese  Wech- 
selbeziehungen bei  den  festen  Krystallen  und  den  festflüssigen  Organismen 
zeigen,  ohne  Weiteres  die  Aussicht  auf  eine  monistische,  rein  mechanische  Er- 
klärung der  sämmtlichen  Lebenserscheinuugen  eröffnen.  Denn  aus  jener 
fundamentalen  Differenz  im  Aggregatzustande  ergiebt  sich  unmittelbar,  dass 
jene  molekularen  Bewegungen,  welche  im  Inneren  des  festflüssigen  Organis- 
mus stattfinden,  und  welche  das  Wesen  des  „Lebens"  ausmachen,  im  In- 
neren des  festen  „leblosen"  Krystalls  nicht  stattfinden  können.  Wenn  wir 
die  einzelnen  Lebenserscheinungeu  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrach- 
ten, so  werden  wir  ohne  Weiteres  einsehen,  dass  dieselben  in  dem  fest- 
flüssigen Organismus  allein  möglich  sind,  nicht  aber  in  dem  festen  Anorgan. 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  149 

III)    3.    Selbsterhaltung  der  organischen  und  anorganischen 

Individuen. 

Gleich  der  Kraft  des  Wachsthums  ist  auch  die  Kraft  der  Selbst- 
erhaltung eine  allgemeine  Function  der  Naturkörper.  Jedes  organische 
und  jedes  anorganische  Individuum  erhält  sich  einen  beschränkten 
Zeitraum  hindurch  selbst,  so  lange  nämlich,  als  es  die  Wechselwirkung 
seiner  eigenen  Materie  mit  derjenigen  seiner  Umgebung  gestattet. 

Die  Thätigkeit  der  Selbsterhaltung  ist  nun  zwar  allen  Naturkörpern 
gemeinsam,  äussert  sich  aber  doch  bei  den  organischen  und  anorgani- 
schen Individuen  in  sehr  verschiedenen  Erscheinungen.  Bei  den  Orga- 
nismen ruft  dieselbe  die  verwickelten  Bewegungserscheinungen  der 
Ernährung  oder  des  Stoffwechsels  hervor.  Diese  Functionen  sind 
für  den  Bestand  des  organischen  Individuums  ebenso  wie  für  seine 
sämmtlichen  übrigen  Lebenserscheinungen  die  nothwendige  Unterlage. 
Denn  alle  anderen  Functionen,  Willensbewegung  und  Empfindung, 
Sinnesthätigkeit  und  Fortpflanzung,  beruhen  auf  molekularen  Bewegungs- 
Erscheinungen,  welche  erst  durch  den  Stoffwechsel  und  die  Ernährung 
möglich  werden.  Alle  diese  Bewegungen  beruhen  im  Grunde  darauf, 
dass  durch  Bildung  chemischer  Verbindungen  gewisse  bewegende 
Kräfte  frei  werden,  welche  in  den  unverbundenen  Materien  gebunden 
waren,  darauf  also,  dass  gebundene  oder  Spann-Kräfte  in  leben- 
dige Kräfte  übergehen.1)  Der  Vorrath  an  Spannkraft,  welcher  bei 
dem  Uebergang  in  lebendige  Kraft  verbraucht  wurde,  muss  ersetzt 
werden,  wenn  das  organische  Individuum  weiter  existiren  soll,  und 
dieser  nothwendige  Ersatz  wird  durch  die  Ernährung  geliefert.  Die 
Ernährung -beruht  nun  wieder,  wie  das  Wachsthum  der  Organismen, 
darauf,  dass  die  neu  erworbenen,  assimilirten  Moleküle  in  das  Innere 
des  Körpers  hineingeführt  werden  und  hier  die  Stelle  derjenigen  Mole- 
küle einnehmen,  welche  bei  der  Arbeitsleistung  des  Organismus  ver- 
braucht wurden.  Diese  Einführung  neuer  Substanz  und  ihre  Assimi- 
lation, welche  das  Wesen  der  Ernährung  ausmacht,  ist  wieder  nur 
möglich  mittelst  des  festflüssigen  Aggregatzustandes,  und  es  erklärt 
sich  hieraus,  warum  die  anorganischen  Individuen  der  Ernährung  nicht 
fähig  sind.  Sie  sind  ihrer  aber  auch  nicht  bedürftig.  Sämmtliche  be- 
lebte Naturkörper  existiren  nur,  sie  können  ihre  Existenz  nur  behaupten, 
indem  sie  sich  beständig,  wenn  auch  langsam  zersetzen;  alle  sind  sie 
eingeschlossen  in  ein  Medium  (Luft,  Wasser,  Inneres  eines  anderen  Or- 
ganismus), in  welchem  sie  sich  nothwendig  zersetzen  müssen.  Denn  die 
Bildung  der  Verbindungen,   durch   welche  die  lebendigen  Kräfte  frei 


l)  Ueber  das  äusserst  wichtige  Verhältniss  der  gebundenen  oder  potentiellen 
(Öpann-)Kräfte  zu  den  lebendigen  oder  actuellen  (Bewegungs-)Kräften,  auf  welchem 
der  Kraftwechsel  in  der  gesammten  Natur  beruht,  vergl.  H.  Helmholtz:  Ueber 
die  Wechselwirkung  der  Naturkräfte.    Königsberg.  1854. 


150  Organismen  und  Anorgane. 

werden,  ist  verbunden  mit  einer  Zersetzung-  der  vorhandenen  Materie. 
Die  gebundenen  Spannkräfte,   welche  eben  bei  dieser  Zersetzung  frei 
und    zu     lebendigen    Kräften    werden,     veranlassen    durch   ihre   Be- 
wegungen  die  noth wendigen  Lebens -Erscheinungen.      Der   dabei  be- 
ständig wirksamen  Gefahr  des  Unterganges,  des  Todes,  entziehen  sich 
die   organischen  Individuen  durch   die  Ernährung,   welche  jener  Zer- 
setzung entgegenwirkt.     Sie  müssen  daher,  um  ihre  Existenz  zu  fristen, 
um   zu   „leben",  sich  in  beständigem  Stoffwechsel  befinden,  sich   be- 
ständig zersetzen  und  ernähren,  und  dies  ist  nur  mittelst  der  Imbibition 
möglich.     Wenn  diese  Wechselwirkung    zwischen   der  Zersetzung  und 
der   Ernährung    der    festflüssigen  Materie    aufhört,    tritt  der  Tod   eiu. 
Sämmtliche    anorganische    Individuen    dagegen    können    sich    niemals 
zersetzen,    ohne    dadurch   ihre  Existenz  als   solche  aufzugeben.     Weil 
sie  nicht  imbibitionsfähig  sind,   können   sie   sich  nicht    ernähren,    und 
wenn  sie  sich  zersetzen,  so  ist  dies  ihr  Tod.     So  wenig  aber  die  Kry- 
stalle  sich  zersetzen  können,    ohne  ihre  individuelle  Form   und  damit 
ihren  individuellen  Charakter  aufzugeben,   so   wenig  bedürfen  sie  der 
Zersetzung,  um  sich  zu  erhalten.     Und  hierin  liegt  gleichfalls  ein  we- 
sentlicher  Unterschied    zwischen   den   organischen    und  anorganischen 
Individuen,  der  sich  ebenfalls  auf  ihren  verschiedenen  Aggregatzustand 
zurückführen   lässt.     Denn    der   feste  Aggregatzustand    der  Krystalle, 
welcher  die  inneren  Bewegungs-Erscheinungen  ausschliesst,  die  für  das 
Leben   des  festflüssigen  Organismus  unentbehrlich   sind,   verleiht  den- 
selben   zugleich   die  Fähigkeit  der  Selbsterhaltung,    ohne  dass  Stoff- 
wechsel für  die  Conservation  erforderlich  ist. 

Gleichwie   nun   die  Ernährung    und    der    Stoffwechsel    den  Organismen 
vermöge    ihres    festflüssigen    Aggregatzustandes    allein    eigenthümlich    und 
nothwendig    sind,    und    den    Anorganen   völlig  fehlen,    so  können  natürlich 
auch   bei   den   letzteren   alle   die   complicirteren  Molekular-Bewegungen  der 
organischen  Materie  nicht  zu  Stande  kommen,  welche  wir  als  Empfindung, 
willkührliche  Bewegung,  als  Sinnesthätigkeit,  Fortpflanzung  u.  s.  w.  bezeich- 
nen.   Da  dieselben  die  Ernährung  als  nothwendige  Grundlage  voraussetzen, 
so  brauchen  wir  hier  den  nothwendigen  Mangel  derselben  in  den  anorgani- 
schen Individuen  nicht  weiter  zu  beweisen,  um  so  weniger,   als  viele  dieser 
Functionen,  und  vorzüglich  die  höchsten  und  complicirtesten  (wie  die  soge- 
nannten  Seelenthätigkeiten),    nur    einer  gewissen   Anzahl  von  Organismen, 
nämlich  den  höheren  Thieren,  eigenthümlich  sind.    Nur  eine  einzige  Func- 
tion müssen  wir  hier  noch  hervorheben,  welche  allen  Anorganen  ohne  Aus- 
nahme abgeht,    und  das  ist  die  mit  der  Ernährung  innig  verbundene  Func- 
tion der  Fortpflanzung. 

Die  Fortpflanzung  der  organischen  Individuen  ist  eine  ebenso 
allgemeine  und  fundamentale  Function  der  Organismen,  als  die  Ernährung 
und  das  Wachsthum,  mit  denen  sie  unmittelbar  zusammenhängt.  Ohne  auf 
die  complicirteren  Formen   der  Fortpflanzung  hier  einzugehen,    werfen  wir 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  151 

blos  einen  Blick  auf  ihre  einfachsten  Formen,  wie  sie  bei  den  unvollkommen- 
sten und  niedrigst  stehenden  Organismen,  die  noch  keine  Sexual  -  Organe 
besitzen,  als  Selbsttheilung  und  als  Knospenbildung  auftreten.  Die  einfachsten 
aller  Organismen,  die  homogenen  Moneren  (Protogenes,Protamoebaetc), 
deren  ganzer  Körper  einen  formlosen  contractilen  Plasmaklumpen  darstellt, 
pflanzen  sich  fort  durch  Selbsttheilung,  indem  ihr  Körper  sich  in  der  Mitte 
einschnürt  und  in  zwei  Stücke  zerfällt.  Die  gleiche  einfache  Vermehrungs- 
weise treffen  wir  bei  sehr  vielen  niederen  Thieren  und  Pflanzen,  zum  Theil 
selbst  bei  solchen  mit  complicirter  Organ  -  Differenzirung  an.  Bei  anderen 
tritt  statt  der  Theilung  oder  neben  derselben  Knospenbildung  auf,  indem 
aus  der  Oberfläche  des  organischen  Individuums  ein  zweites  hervorwächst, 
welches  sich  abschnürt  und  selbstständig  weiter  lebt.  Endlich  sehen  wir 
bei  vielen  niederen  Organismen,  dass  das  Individuum,  sobald  es  durch 
Wachsthum  eine  bestimmte  Grösse  erreicht  hat,  in  eine  Anzahl  innerer 
Keime  zerfällt,  deren  jeder  sich  alsbald  wieder  zu  einem  jungen  Individuum 
entwickelt.  Aus  dieser  inneren  Keimbildung  hat  sich  zweifelsohne  im  Laufe 
der  Zeit  die  geschlechtliche  Zeugung,  und  zwar  zunächst  die  Zwitterbildung, 
viel  später  erst  die  Trennung  der  Geschlechter,  entwickelt. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  Wesen  dieser  einfachsten  Fortpflanzungs- 
processe,  der  Selbsttheilung,  der  äusseren  Knospenbildung,  der  inneren  Keim- 
bildung, so  werden  wir  uns  in  allen  Fällen  als  die  nächste  Ursache  dersel- 
ben eine  Ernährung  des  Organismus  über  das  individuelle 
Maass  hinaus  vorstellen  können.  Sobald  der  primitive  einfache  Ur- 
Organismus durch  Imbibition  mehr  Nahrung  aufnimmt,  als  er  in  individueller 
Form  aufspeichern  kann,  so  wird  das  eine  Individuum  in  zwei  oder  mehrere 
zerfallen,  entweder  durch  Selbsttheilung,  oder  durch  äussere  Knospen- 
bilduug,  oder  durch  innere  Keimbildung.  Auch  diesen  Yorgang  können  wir 
uns  vollkommen  mechanisch  erklären.  So  lange  das  Individuum  eines  Mo- 
neres  wächst,  ohne  sich  zu  vermehren,  so  lange  bleibt  das  Centrum  des 
individuellen  Körpers  der  einzige  Anziehungsmittelpunkt,  welcher  die  assi- 
milirbare  und  die  assimilirte  Materie  rings  um  sich  anhäuft.  Sobald  aber 
diese  Anhäufung  ein  bestimmtes  Maass  überschreitet,  welches  durch  die 
Cohäsion  der  Moleküle  des  betreifenden  Eiweiss-Körpers  (Plasma)  bedingt 
wird,  so  verliert  das  einzige  Attractions- Centrum  die  absolute  Herrschaft 
über  das  Ganze,  und  zerfällt  entweder  in  zwei  getrennte  Anziehungs- 
Mittelpunkte,  die  sich  nun  gegenseitig  abstossen  und  von  einander  isolirt 
die  übrigen  Moleküle  anzuziehen  suchen,  oder  es  entstehen  neben  dem  alten 
einfachen  Cohäsions-Heerde  mehrere  neue,  so  dass  das  Ganze  in  mehrere 
individuelle  Theile  zerfällt.  Diese  werden  nun  ihrerseits  wieder  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  hinauf  assimilirbare  Stoße  aufnehmen  und  wachsen,  bis 
durch  abermalige  Ueberschreitung  dieser  Grenze  jedes  Individuum  wiederum 
in  eine  Anzahl  von  neuen  Einzelwesen  zerfällt  u.  s.  w.  Da  die  neuen  In- 
dividuen Theilstücke  der  alten  sind,  die  sich  selbstständig  ergänzen  müssen, 
so  wird  uns  hierdurch  zugleich  ein  erklärender  Blick  auf  die  beiden  wich- 
tigsten Grunderscheinungen  der  Formbildung,  auf  die  Erblichkeit  und  die 
Anpassung  eröffnet.  Von  diesen  äusserst  wichtigen  Phänomenen,  welche  wir 
unten  noch  genauer  zu  betrachten  haben,  beruht  die  Vererbung  auf  dem  unmittel- 


152  Organismen  und  Anorgane. 

baren  materiellen  Zusammenhange  zwischen  dem  elterlichen  und  dem  neu 
entstandenen  Organismus.  Indem  der  letztere  stets  einen  Theil  des  ersteren 
beibehält,  musser  nothwendig  durch  die  gleiche  Materie,  die  ihm  bleibt,  auch 
die  gleichen  Functionen  äussern.  Hierauf  beruht  die  Erblichkeit,  ver- 
möge welcher  jeder  Organismus  seinem  elterlichen  ähnlich  ist.  Der  abso- 
luten Gleichheit  zwischen  Beiden  wirkt  nun  aber  der  andere  Umstand  ent- 
gegen, dass  der  jugendliche  Organismus,  der  nur  einen  Theil  des  elterlichen 
bildet,  gezwungen  ist,  sich  durch  Wachsthum  selbstständig  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  hinauf  zu  ergänzen.  Indem  nun  diese  selbstständige  Er- 
nährung des  organischen  Individuums,  welche  auf  den  einfachsten  Massen- 
Anziehungen  der  umgebenden  ernährenden  Substanz  beruht,  durch  die  um- 
gebenden Existenz-Bedingungen  (Temperatur,  Ausdehnung  und  Oberfläche 
der  festen  Körper  in  der  Umgebung  etc.)  beeinflusst  wird,  indem  z.  B.  das 
Quantum  des  Wassers  in  dem  imbibitionsfähigen  Organismus  und  das 
Quantum  der  neu  aufnehmbaren  festen  Substanz  durch  bestimmte  einfache 
Massen- Anziehungen  der  umgebenden  festen  Körper  geregelt  wird,  entsteht 
ein  gewisser  Grad  von  Variabilität,  von  Veränderlichkeit  in  dem  Quantum  der 
assimilirbaren  Stoffe,  die  in  das  imbibitionsfähige  Plasma  eindringen  und 
das  Wachsthum  des  Individuums  vollenden.  Auf  dieser  individuellen  Va- 
riabilität beruht  die  Fähigkeit  der  Anpassung  an  die  umgebenden  Existenz- 
Bedingungen,  welche  der  absoluten  und  allgemeinen  Erblichkeit  entgegen 
wirkt,  und  in  Wechselwirkung  mit  dieser  die  ganze  Mannichfaltigkeit  der 
Organismen- Welt  nach  den  von  Darwin  entwickelten  Gesetzen  erzeugt. 

Indem  wir  die  weitere  Betrachtung  dieses  wichtigen  Wechselspiels 
zwischen  den  beiden  wichtigsten  formbildenden  Factoren  der  organischen 
Welt,  Erblichkeit  und  Anpassung  der  organischen  Individuen,  dem  fünften 
und  sechsten  Buche  aufsparen,  wollen  wir  uns  hier  auf  eine  Betrachtung 
der  analogen  Wechselwirkung  zweier  entgegengesetzter  formbildender  Po- 
tenzen beschränken,  welche  gleicherweise  bei  den  anorganischen  Individuen, 
den  Krystallen,  die  individuellen  Form-Eigenthlimlichkeiten  zu  bestimmen 
im  Stande  ist.  Allerdings  kann  von  Fortpflanzung  und  also  auch  von 
Erblichkeit  bei  den  anorganischen  Individuen  nicht  die  Rede  sein.  Der 
Mangel  an  Imbibitionsfähigkeit  verhindert  die  molekularen  Bewegungen  im 
Innern  des  Körpers,  welche  zur  Fortpflanzung  gleicherweise  wie  zur  Ernäh- 
rung nothwendig  sind.  Dagegen  findet  beim  Wachsthum  und  bei  der  Ent- 
stehung der  anorganischen  Individuen,  bei  der  Krystallisation,  eine  Function 
der  Materie  statt,  welche  wir  wohl  als  Anpassung  bezeichnen  können,  und 
welche  auf  die  Anpassung  der  werdenden  Organismen  ein  bedeutendes 
Licht  wirft. 

III.    4.   Anpassung   der  organischen  und   anorganischen  Individuen. 

Die  Anpassung  oder  Adaptation  ist  diejenige  formbildende  Function 
der  Naturkörper,  welche  die  unendlich  mannichfaltigen  individuellen 
Charactere  bedingt,  durch  welche  sich  alle  Individuen  einer  und  der- 
selben Art  von  einander  unterscheiden. 

Wir  haben  oben  (p.  28),  wo  wir  absichtlich  die  Differenzen  in  der 


III.    Orgranische  und  anorganische  Kräfte.  153 

Form  und  Entstehung-  der  organischen  und  anorganischen  Individuen 
möglichst  schroff  gegenüber  stellten,  einen  der  wichtigsten  Unter- 
schiede darin  gefunden,  dass  alle  anorganischen  Individuen,  die  einer 
und  derselben  Art  angehören  und  dieselbe  chemische  Zusammen- 
setzung haben,  auch  vollkommen  dieselbe  wesentliche  Form  zeigen 
und  sich  nur  durch  ihre  absolute  Grösse  unterscheiden.  Die  Krystalle 
einer  anorganischen  Species  zeigen  nicht  die  durch  die  Variabilität  be- 
dingten individuellen  Verschiedenheiten,  welche  alle  verschiedenen  In- 
dividuen einer  und  derselben  organischen  Species  auszeichnen,  und  es 
bleibt  daher  auch  die  anorganische  Art  im  Laufe  der  Zeit  vollkommen 
unveränderlich,  constant,  während  die  organischen  Species  durch  fort- 
schreitende Divergenz  ihrer  variablen  Individuen  eine  endlose  Reihe 
ganz  verschiedener  Formen  erzeugen.  Da  den  Anorganen  die  Fort- 
pflanzung fehlt,  so  fehlt  ihnen  auch  die  Fähigkeit  der  erblichen  Ueber- 
tragung  von  solchen  Characteren,  die  durch  Anpassung  erworben  sind. 
Dennoch  bedarf  unsere  obige  Bemerkung  einer  bedeutenden  Ein- 
schränkung. IndividuelleVerschiedenheiten  finden  sich  auch  unter 
den  anorganischen  Individuen  ganz  allgemein  vor,  und  zwar  sind 
sie  die  Folge  der  Anpassung  an  die  Verhältnisse,  unter  denen  das  Kry- 
stall-Individuum  sich  bildete.  Bei  Untersuchung  dieses  wichtigen  Ver- 
hältnisses muss  man  vor  Allem  immer  im  Auge  behalten,  dass  bei  der 
Entstehung  aller  individualisirten  Naturkörper,  bei  der  Bildung  jedes 
Krystalls,  wie  bei  der  Bildung  jedes  Organismus,  stets  zwei  verschie-' 
dene  Principien  oder  gestaltende  Mächte  einander  entgegenwirken. 
Das  eine  Princip  ist  beim  Krystall  wie  beim  Organismus  die  Summe 
der  specifischen  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften,  welche 
seiner  Materie  inhäriren.  Beim  Organismus,  der  sich  nicht  selbst  er- 
zeugt, sondern  von  anderen  Individuen  seines  Gleichen  durch  Fort- 
pflanzung erzeugt  wird,  sehen  wir  diese  Erscheinung  als  die  notwen- 
dige Wirkung  der  Erblichkeit  an,  welche  alle  wesentlichen  Eigen- 
schaften des  Organismus  auf  seine  Nachkommen  überträgt.  Beim 
Krystall  dagegen  betrachten  wir  diese  Erscheinung  als  den  unmittel- 
baren Ausfluss  seiner  materiellen  Constitution,  d.  h.  der  specifisch 
bestimmten  Art  und  Weise,  in  welcher  sich  gesetzmässig  eine  be- 
stimmte Anzahl  von  Atomen  zu  bestimmten  Molekülen  zusammensetzt. 
Durch  einfache  Attraction  dieser  Moleküle  entsteht  die  characteristische 
Form  des  Krystalls.  Eine  schärfere  Vergleichung  ergiebt  nun  alsbald, 
dass  auch  in  dieser  Beziehung  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
den  Organismen  und  Anorganen  existirt.  Denn  auch  die  Erblichkeit 
beruht  auf  der  materiellen  Continuität  des  elterlichen  und  des  von  ihm 
erzeugten  Organismus,  und  wir  können  die  fundamentale  Erscheinung 
der  Erblichkeit,  der  erblichen  Uebertragung  biologischer  Functionen, 
durch  nichts  Anderes  erklären,  als  durch  die  Uebertragung  der  speci- 


154  Organismen  und  Anorgane. 

fisch  constituirten  Materie  selbst.  Die  Erblichkeit  der  Organismen 
wirkt  vollkommen  aeqüivalent  der  atomistischen  Constitution  der  An- 
organe; hier  wie  dort  ist  es  die  Materie,  welche  sämmtliche  allgemei- 
nen Functionen  (die  Lebenserscheinungen  der  Organismen,  die  physi- 
kalischen und  chemischen  Kräfte  der  Anorgane)  unmittelbar  als  Causa 
efficiens  mit  absoluter  Notwendigkeit  bedingt. 

Diesem  mächtigen  gestaltenden  Princip,  welches  der  Materie  des 
sich  bildenden  Individuums  (gleicherweise  des  Krystalls  wie  des  Or- 
ganismus) unmittelbar  inhärirt,  und  welches  wir  demgemäss  allgemein 
als  die  innere  Gestaltungskraft  oder  den  inneren  Bildungstrieb 
bezeichnen  werden,  wirkt  nun  beständig  und  überall  entgegen  die 
zweite  formbildende  Macht,  welche  die  zahllosen  Eigenthttmlichkeiten 
der  individuellen  Bildungen  bedingt,  durch  die  sich  alle  Einzelwesen 
jeder  Art  von  einander  unterscheiden.  Diese  nicht  minder  wichtige 
Function  des  werdenden,  des  sich  gestaltenden  Individuums  können  wir 
allgemein  als  Anpassung  (^Adaptatio,  Accommodatio)  bezeichnen, 
oder,  im  Gegensatz  zu  ihrem  Antagonisten,  als  äussere  Gestaltungs- 
kraft oder  äusseren  Bildungstrieb.  Die  allgemeine  Existenz  und 
Wirksamkeit  dieser  formbildenden  Potenz  wird  einfach  durch  die  That- 
sache  bedingt,  dass  kein  einziger  Naturkörper  isolirt  im  Räume  sich 
bildet  und  existirt,  dass  vielmehr  sämmtliche  Naturkörper  sich  bilden 
und  existiren  in  Wechselwirkung  mit  den  anderen  Naturkörpern,  welche 
sie  unmittelbar  von  allen  Seiten  umgeben.  Die  allgemeine  Wech- 
selwirkung der  gesammten  Materie  tritt  uns  hier  als  eines  der 
obersten  und  wichtigsten  Naturgesetze  gegenüber,  welches  unmittelbar 
mit  dem  allgemeinen  Causalgesetze  zusammenhängt.  Die  innere  Ge- 
staltungskraft jedes  Theils  der  Materie,  der  innere  Bildungstrieb  jedes 
einzelnen  Naturkörpers,  als  die  aus  ihrer  atomistischen  Constitution 
unmittelbar  entspringende  Kraftsumme  kann  niemals  rein  und  unge- 
stört die  individuelle  Bildung  vollenden.  Denn  beständig  wird  sie  ge- 
stört von  der  entgegenwirkenden  äusseren  Gestaltungskraft  der  um- 
schliessenden  Materie,  von  dem  äusseren  Bildungstriebe  aller  einzelnen 
Naturkörper,  welche  sie  unmittelbar  oder  mittelbar  umgeben.  Da  nun 
die  Summe  dieser  von  aussen  einwirkenden  Kräfte  überall  eine  ver- 
schiedenartige, überall  aus  verschiedenen  Componenten  zusammenge- 
setzt ist,  so  nmss  auch  ihre  Wirkung  auf  ein  und  dieselbe  Materie  in 
jedem  individuellen  Falle  verschieden  sein,  und  lediglich  diese  Wechsel- 
wirkung jedes  Individuums  mit  seiner  gesammten  Umgebung  ist  es,  welche 
als  Anpassung  seine  besonderen  individuellen  Charactere  bedingt. 

.Versuchen  wir  diese  äusserst  wichtigen  Fundamental-Verhältnisse 
der  gesammten  Körperwelt,  welche  für  die  anorganische  und  die  or- 
ganische Natur  ganz  gleiche  Geltung  haben,  als  allgemeines  Gesetz 
zu  formuliren,  so    Hesse  sich   dieses  etwa  in  folgenden  Worten  aus- 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  155 

sprechen:  Jeder  Theil  der  aus  Atomen  zusammengesetzten  Materie 
wirkt  auf  jeden  anderen  Theil  der  Materie,  entweder  anziehend 
(durch  Attraction)  oder  abstossend  (durch  Repulsion).  Diese  Wirkung 
erzeugt  in  erster  Linie  Bewegungen  der  auf  einander  wirkenden  Atome, 
welche  sich  zu  bestimmten  Atomgruppen  oder  Molekülen  gesetzmässig, 
in  bestimmten  Zahlenverhältnissen  verbinden.  Diese  Moleküle  wirken 
nun  ebenso  wieder  auf  einander,  entweder  anziehend  oder  abstossend, 
und  diese  Wirkung  erzeugt  in  zweiter  Linie  Bewegungen  der  aufeinan- 
der wirkenden  Moleküle;  welche  aus  dem  flüssigen  in  den  festflüssigen 
oder  festen  Aggregatzustaud  übertretend,  sich  zu  bestimmten  indivi- 
duellen Formen  gesetzmässig,  in  bestimmten  Richtungen,  verbinden 
(amorphe  Körner,  krystalloide  Körner,  Kry stalle,  Moneren,  Zellen, 
mehrzellige  Organismen).  Bei  der  Bildung  jedes  individuellen  Natur- 
körpers treten  zwei  formbildende  Kräfte  in  Wechselwirkung,  der 
innere  Bildungs trieb,  die  unmittelbare  Wirkung  der  existirenden 
Materie  des  Individuums  selbst  (die  Summe  der  bewegenden  Kräfte 
aller  Moleküle,  welche  das  Individuum  zusammensetzen),  und  ihm  ge- 
genüber der  äussere  Bil du ngs trieb,  die  unmittelbare  Wirkung  der 
Materie,  welche  ausserhalb  des  Individuums  existirt  und  dasselbe  um- 
giebt,  die  Summe  der  bewegenden  Kräfte  aller  Moleküle,  welche  ausser- 
halb des  Individuums  existiren  und  auf  dasselbe  von  aussen  bewegend 
(anziehend  oder  abstossend)  einwirken.  Der  innere  Bildungstrieb  oder 
die  innere  Gestaltungskraft  äussert  sich  bei  Bildung  der  anor- 
ganischen Individuen  entweder  als  Aggregation  (amorpher  Körner) 
oder  als  Krystallisation  (unvollkommener  Krystalloide  oder  vollkomme- 
ner Krystalle),  bei  Bildung  der  organischen  Individuen  entweder  als 
Aggregation  (bei  der  Autogonie  der  spontan  entstehenden  Moneren- 
Organismen)  oder  als  Erblichkeit  (bei  der  Fortpflanzung  elterlich  er- 
zeugter Organismen).  Der  äussere  Bildungstrieb  oder  die  äussere 
Gestaltungskraft  äussert  sich  allgemein  als  Anpassung,  bei  Bildung 
der  anorganischen  Individuen,  indem  sie  die  verschiedene  Grösse  und 
die  untergeordneten  Eigenthümlichkeiten  der  äusseren  Form  bedingt, 
durch  welche  sich  die  einzelnen  Krystall-Individuen  derselben  Art  un- 
terscheiden, bei  Bildung  der  organischen  Individuen  dagegen,  indem  sie 
die  individuellen  Charactere,  die  verschiedene  Grösse  und  die  unendlich 
mannichfaltigen  untergeordneten  Eigenthümlichkeitender  inneren  und  äus- 
seren Form  bedingt,  durch  welche  sich  die  einzelnen  Organismen  derselben 
Art  unterscheiden  und  welche  nach  Darwin's  Divergenz-Lehre  zur 
Bildung  der  verschiedenen  Arten,  Gattungen,  Familien,  Klassen  u.  s.  w. 
führen.  Die  Anpassung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen 
unterscheidet  sich  nur  insofern,  als  ihr  verschiedener  Aggregatzustand 
und  ihre  verschiedene  atomistische  Constitution  hier  bedingend  wirken. 
Der  festflüssige  Aggregatzustand  der  Kohlenstoff- Verbindungen  in  den 


156  Organismen  und  Anorgaue. 

Organismen,  welche  im  Inneren  des  schon  gebildeten  Individuums  eine 
fortwährende  Bewegung  der  Moleküle,  und  eine  Ersetzung  der  ver- 
brauchten JStofftheile  durch  neue  nicht  allein  erlaubt  sondern  auch  be- 
dingt, gestattet  und  verursacht  durch  diese  beständigen  inneren  Ver- 
änderungen auch  innere1  Anpassungen.  Der  feste  Aggregatzustand 
der  anorganischen  Individuen  dagegen,  welcher  keine  Bewegung  im 
Inneren  des  einmal  gebildeten  Individuums  gestattet,  ohne  dessen  in- 
dividuelles Wesen  zu  vernichten,  erlaubt  dadurch  zugleich  auch  keine 
innere  Anpassung,  sondern  nur  gewisse  Anpassungen  der  von  aussen 
neu  sich  ansetzenden  Schichten,  die  wir  im  Gegensatz  zu  jenen  äus- 
sere Anpassungen  nennen  können. 

Die  Anpassung  der  anorganischen  Individuen,  der  Krystalle,  ist  für  die 
Vergleichung  derselben  mit  den  Organismen  äusserst  wichtig,  und  da  diese 
Verhältnisse  bisher  von  den  Biologen  in  dieser  Beziehung  sehr  wenig  ge- 
würdigt sind,  erlauben  wir  uns  hier,  ihre  hohe  Bedeutung  besonders  her- 
vorzuheben. 

Die  äusseren  Bedingungen,  denen  sich  die  Krystalle  bei  ihrer  Ent- 
stehung anpassen  (die  äusseren  Gestaltungskräfte)  liegen  theils  in  dem  ab- 
soluten Grade  der  Temperatur,  theils  in  dem  relativen  Zeitmaasse  der 
Temperatur -Veränderung,  bei  welcher  die  Krystallisation  stattfindet,  theils 
in  der  Beimischung  anderer  Lösungen  zu  der  Mutterlauge,  aus  welcher  der 
Krystall  entsteht,  theils  in  der  Mischung  und  Form  der  umgebenden  festen 
Körper  etc.  Doch  ist  uns  das  Nähere  über  die  gesetzliche  Wirksamkeit 
dieser  Anpassungs -Bedingungen  zur  Zeit  noch  grösstenteils  unbekannt. 
Schon  sehr  feine  Unterschiede  in  der  Temperatur,  in  der  Ruhe,  in  der  Bei- 
mischung fremder  Lösungen  zu  der  Flüssigkeit,  in  der  Form  und  Mischung 
des  die  Flüssigkeit  umschliessenden  Gefässes  etc.  vermögen  in  Grösse  und 
Form  der  einzelnen  Krystall-Individuen  sehr  beträchtliche  Verschiedenheiten 
zu  bedingen.  Aber  selten  können  wir  ein  bestimmtes  gesetzliches  Verhält- 
niss  zwischen  der  unmerklichen  Ursache  und  der  auffällenden  Wirkung 
nachweisen.  Im  Ganzen  genommen  sind  uns  diese  Gesetze  und  die  bei  der 
Bildung  der  Krystalle  auftretenden  Causalbeziehungen  nicht  besser  bekannt, 
ihrem  innersten  Wesen  nach  aber  sind  sie  uns  vollkommen  eben  so  räthsel- 
haft,  als  die  Causal- Gesetze,  welche  bei  Entstehung  der  Organismen  die 
verschiedenen  individuellen  Formen  aus  einfacher  gemeinsamer  Grundlage 
hervorgehen  lassen.1) 


l)  Von  den  verhältnissmässig  wenigen  Fällen,  in  denen  wir  die  wirkenden 
Ursachen  kenneu,  welche  die  abgeleiteten  Krystallformen  bedingen,  hat  Bronn 
iu  seinen  morphologischen  Studien  (p.  36,  37)  eine  Reihe  (grössteutheils  von 
Franken  heim,  Mitscherlich,  Lavalle  und  Beudant  beobachtete  Er- 
scheiuungen)  zusammengestellt.  Als  lliuiptursachen  für  die  Entstehung  bestimm- 
ter abgeleiteter  Krystall-Formen  (eines  uud  desselben  Systems)  werden  dort  an- 
geführt. I.  Die  Anwesenheit  stellvertretender  und  ausserwesentlicher  Gemisch- 
theile in  dem  Minerale  oder  in  der  Flüssigkeit,  woraus  sich  dasselbe  bildet,  und 
II.  Die  Beschaffenheit   der  krystalliuischen  Unterlage,     a)   Beiner  Kalkspath  be- 


III.     Organische  und  anorganische  Kräfte.  I57 

Viel  wichtiger  aber,  als  die  Thatsache,  dass  selbst  sehr  geringfügige 
äussere  Einflüsse  („Anpassungs- Bedingungen")  genügen,  um  sehr  beträcht- 
liche Differenzen  in  Grösse  und  Form-Complication  der  anschiessenden 
Krystalle  hervorzurufen,  welche  in  einer  und  derselben  Flüssigkeit  nach 
einem  und  demselben  Krystall  -  Systeme  sich  bilden,  ist  der  Umstand,  dass 
solche  äussere  Ursachen  selbst  auf  die  Wahl  des  Krystall -Systems  von 
Einfluss  sind,  welches  der  anschiessende  Krystall  annimmt,  und  dass  geringe 
Veränderungen  der  äusseren  Einflüsse  genügen,  um  den  Krystall  im  einen 
Falle  nach  diesem,  im  anderen  nach  jenem  System  sich  bilden  zu  lassen. 
Hierher  gehören  die  zahlreichen  Fälle  vom  Polymorphismus  (meistens 
Dimorphismus,  selten  Trimorphismus  etc.)  der  Krystalle,  bei  denen  mau 
allerdings  nur  selten  die  Ursache  kennt,  warum  derselbe  chemische  Körper 
das  eine  Mal  dieses,  das  andere  Mal  jenes  Krystall -System  sich  auswählt. 

Den  grössten  Einfluss  scheint  in  dieser  Beziehung  wieder  der  Tempe- 
raturgrad zu  haben,  bei  welchem  die  Krystalle  sich  bilden,  sowie  der  Un- 
terschied, ob  der  krystallisirende  Körper  aus  einer  concentrirten  Lösung 
sich  absetzt,  oder  ob  er  aus  dem  geschmolzenen  Aggregatzustand  durch 
Abkühlung  in  den  festen  übergeht.  So  z.  B.  können  lediglich  Temperatur- 
Unterschiede  den  kohlensauren  Kalk  bestimmen,  bald  als  Kalkspath  im 
hexagonalen,  bald  als  Arragonit  im  rhombischen  Systeme  zu  krystallisiren. 
Geschmolzener  Schwefel  schiesst  beim  langsamen  Erkalten  in  kliuorhom- 
bischen  Säulen  an,  während  derselbe  Schwefel  aus  einem  tropfbar-flüssigen 
Medium,  in  welchem  er  gelöst  ist,  bei  dessen  Verdunstung  oder  langsamer 
Abkühlung  in  Rhomben-Oktaedern  krystallisirt. 

Noch  viel  merkwürdiger  aber  ist  es,  dass  schon  der  Contact  mit  einem 
fremden  heterogenen  Krystalle  genügt,  den  gelösten  Körper  zum  Aufgeben 
seiner  eigenen  und  zur  Annahme  dieser  fremden  Krystallform  zu  bewegen 
So  erscheint  der  Kali-Salpeter,  welcher  dem  rhombischen  Krystall-Systeme 
angehört,  in  rhomoboedrischen,  dem  Kalkspath  isomorphen  Krystallen  des 
hexagonalen  Systems,  wenn  er  sich  auf  einem  Minerale  dieses  Kristall- 
systems als  Unterlage  bildet. 


sitzt  eine  viel  grössere  Anzahl  abgeleiteter  Flächen,  als  der  mit  isomorphen 
Salzen  gemischte,  b)  Im  Inneren  einer  reinen  Auflösung  krystallisirt  das  Mineral 
gewöhnlich  in  seiner  reinen  Kernform,  während  die  Beschaffenheit  der  umschlies- 
senden  Gefässwände  oder  fremde  Beimischungen  in  der  Flüssigkeit  Modiflcationen 
der  Kernform  veranlassen.  So  z.  B.  krystallisirt  Kochsalz  in  Würfeln ,  bei  an- 
wesender Borsäure  in  Kubo-Octaedern,  bei  anwesendem  Harnstoff  in  Octaedern 
etc.  c)  Blei-Azotat  krystallisirt  aus  saurer  Flüssigkeit  als  entecktes  Octaeder, 
aus  neutraler  als  vollkommenes  Octaeder.  d)  Jodkalium ,  welches  sonst  als 
Würfel  krystallisirt,  erscheint  auf  Glimmer  in  Octaeder-Form.  e)  Selbst  die 
Lage  des  Krystalls  ist  bei  langsamer  Bildung  von  Einfluss;  wenn  derselbe  locker 
auf  dem  Boden  des  Gefässes  liegt,  wird  die  aufliegende  Fläche  grösser,  und  ent- 
sprechend auch  die  gegenüberliegende,  f)  Die  Winkel  isomorpher  Krystalle, 
welche  bei  0°  nur  unbedeutend  von  einander  verschieden  sind,  nehmen  mit  zu- 
nehmender Temperatur  theils  zu,  theils  ab,  aber  in  verschiedeneu  Graden. 


158  Organismen  und  Anorgane. 


III)  5.  Correlation  derTheilein  den  organischen  und  anorganischen 

Individuen. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  Analogie  zwischen  den  orga- 
nischen und  anorganischen  Individuen  scheint  uns  endlich  die  Corre- 
lation oder  Wechselbeziehung  der  Theile  zu  sein,  welche  gewöhn- 
lich als  eine  besondere  und  charakteristische  Eigenthünilichkeit  der 
Organismen  hingestellt  wird,  während  sie  doch  in  ganz  ähnlicher  Weise 
auch  den  Krystallen  zukommt.  In  ähnlicher  Weise,  wie  im  Organismus 
alle  einzelnen  Theile  unter  einander  und  zum  Ganzen  in  bestimmten, 
durch  die  Form  des  Organismus  ausgedrückten  Beziehungen  stehen, 
so  finden  wir  auch  beim  Kry  stalle,  dass  alle  einzelnen  Theile  unter 
einander  und  zum  Ganzen  in  bestimmten,  durch  die  gesetzmässige  Ver- 
schiedenheit der  Cohäsion  in  bestimmten  Kichtungen  (Axen)  geregelten 
Beziehungen  stehen.  Diese  nothwendige  Wechselwirkung  der  Theile 
unter  einander  und  auf  das  Ganze  ist  ganz  ebenso  im  Organismus, 
wie  im  Krystall,  durch  die  physikalischen  Functionen  und  die  che- 
mische Zusammensetzung  seiner  Materie  mit  Notwendigkeit  bedingt. 

Als  Ausdrnck  dieser  anorganischen  Correlation  der  Theile  betrachten 
wir  zunächst  das  Symmetrie- Gesetz  der  Krystalle,  wonach  alle  ab- 
geleiteten Krystallformen ,  die  als  individuelle  Variationen  der  Krystall- 
Grundformeu  auftreten,  stets  mehr  oder  minder  symmetrisch  modificirt  auf- 
treten. Alle  gleichartigen  Theile  einer  Krystallform  erleiden  bei  Verände- 
rung eines  einzigen  Theiles  von  ihnen  dieser  entsprechende  Veränderungen. 
Wenn  also  eine  Kante  oder  Ecke  eines  Octaeders  durch  eine  bestimmte 
Fläche  ersetzt  wird,  so  müssen  auch  alle  entsprechenden  Kanten  und  Ecken 
desselben  durch  eine  Fläche  von  gleicher  Beschaffenheit  ersetzt  werden. 
Beim  Quadrat- Octaeder,  bei  welchem  die  obere  und  untere  Ecke  von  den 
vier  unter  sich  gleichen  (Quadrat-)  Ecken  des  mittleren  Umfangs  verschie- 
den sind,  können  zweierlei  Ecken -Veränderungen  (z.  B.  Abstumpfungen 
durch  eine  Fläche)  eintreten,  indem  die  eine  Veränderung  die  correspon- 
dirende  obere  und  untere  Ecke,  die  andere  Veränderung  die  vier  anderen 
Ecken  trifft.  Beim  Rhomben-Octaeder,  wo  alle  sechs  Ecken  paarweis  gleich, 
die  drei  Paare  aber  ungleich  sind,  können  die  sechs  Ecken  von  drei  ver- 
schiedenen Modifikationen  getroffen  werden,  indem  jede  Modifikation  nur 
zwei  gegenüberliegende  Ecken  trifft  u.  s.  w.  Die  Kristallographie  weisst 
nach,  welche  grosse  Menge  individuell  verschiedener  Krystallformen  aus 
einer  und  derselben  Grundform  auf  diese  Weise,  durch  gleiche  Modifikation 
entsprechender  Ecken,  Kanten  und  Flächen  hervorgehen  können.  Die 
Betrachtung  dieser  Verschiedenheiten  im  Einzelnen  berührt  uns  hier  nicht, 
um  so  mehr  aber  das  allgemeine  Symmetrie-Gesetz,  welches  daraus  hervor- 
geht, und  welches  zeigt,  dass  correspondfrende  (gleichartige  oder  gegen- 
überliegende) Theile  des  Krystalls  in  einer  ebenso  innigen  Wechselbeziehung 
zu  einander  stehen,  wie  verschiedene  correspoudirende  Theile  eines  Orga- 
nismus.    Vor   allem    sind   es   die   Autimeren  oder    homotypischen    Theile 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  159 

(aber  auch  die  Metanieren  oder  homodynamen  Theile),  welche  im  Organismus 
in  einer  ganz  ähnlichen  Wechselbeziehung  zu  einander  stehen,  wie  die  ent- 
sprechenden symmetrischen  (wir  könnten  fast  sagen  homotypischen)  Theile 
des  Krystalles. 

Der  einzige  wesentliche  Unterschied,  welchen  die  Correlation  der  Theile 
in  den  organischen  und  anorganischen  Individuen  zeigt,  besteht  darin,  dass 
dieselbe  bei  den  Organismen,  deren  Substanz  zeitlebens  in  innerer  Bewegung 
und  Umänderung  bleibt,  auch  ihr  ganzes  Leben  hindurch  wirksam  ist,  wäh- 
rend dieselbe  bei  den  Krystallen  sich  nur  während  der  Zeit  ihrer  Bildung 
äussern  kann,  in  dem  einmal  gebildeten  Krystalle  aber,  bei  welchem  keine 
innere  Bewegung  ohne  Zerstörung  mehr  stattfindet,  nicht  mehr  als  leben- 
dige Kraft  bildend  wirksam  sein  kann.  Aeusserst  lehrreich  ist  in  dieser 
Beziehung  ein  Experiment  von  Lavalle.  Dieser  zeigte,  dass,  wenn  man 
einem  in  der  Bildung  begriffenen  Octaeder  eine  Kante  wegschneidet  und  so 
eine  künstliche  Fläche  bildet,  eine  ähnliche  Fläche  sich  von  selbst  an  der 
correspondirenden  gegenüber  liegenden  Kante  bildet,  während  die  übrigen 
sich  scharf  ausbilden. 

Alle  diese  Erscheinungen  der  symmetrischen  Krystallbildung  beweisen 
uns  evident,  dass  die  innere  Structur  und  die  äussere  Form  der  Krystalle 
ebenso  unmittelbar  zusammenhängen,  und  dass  der  ganze  Krystall  ebenso 
ein  organisches  Ganzes  ist,  wie  der  Organismus.  Alle  einzelnen,  den  Körper 
zusammensetzenden  Theile  haben  in  dem  einzelnen  Krystalle  ebenso  eine 
innere  Beziehung  zu  einander  und  zu  der  Totalität  des  ganzen  Individuums, 
wie  in  dem  einzelnen  Organismus.  Wir  können  in  beiden  Fällen,  sowohl 
bei  dem  sich  entwickelnden  organischen  Individuum,  als  bei  dem  in  Bildung- 
begriffenen  anorganischen  Individuum,  dem  Krystalle,  keinen  Theil  verletzen 
oder  durch  Einwirkung  bestimmter  Bedingungen  (Anpassung)  modificiren, 
ohne  zugleich  dadurch  auf  andere,  nicht  unmittelbar  betroffene  Theile  mit 
einzuwirken,  und  so  das  Ganze  zu  alteriren.  Es  besteht  also  ein  innerer 
nothwendiger  Zusammenhang,  eine  Wechselwirkung  der  Theile  ebenso  im 
Krystalle,  wie  im  Organismus. 

III)    6.    Zellenbildung  und  Krystallbildung. 

Bei  der  Vergleichung,  welche  wir  im  Vorhergehenden  zwischen 
Organismen  und  Anorganen  anstellten,  haben  wir  als  Typus  der  voll- 
kommensten anorganischen  Individuen  die  Krystalle  und  als  Typus 
der  einfachsten  und  unvollkommensten  Organismen  die  Moneren  (Pro- 
togen es,  Protamoeba)  hingestellt.  In  letzteren  konnten  wir  durch- 
aus keine  differenten  Theile  unterscheiden,  fanden  vielmehr  ihren  ge- 
sammten  Körper  aus  einer  vollkommen  homogenen,  formlosen  Eiweiss- 
masse  gebildet.  Dieser  in  sich  völlig  gleichartige  Plasmaklumpen  ist 
ein  selbstständiges  organisches  Individuum,  begabt  mit  den  beiden 
wichtigsten  Lebensfunctionen,  der  Ernährung  und  Fortpflanzung  (durch 
Theilung). 

Aehnliche  structurlose  Primitiv -Organismen,  wie  sie  hier  als  Mo- 
neren isolirt  lebend  auftreten,    kommen    auch    häutig   als    mehr  oder 


IQO  Organismen  und  Anorgane. 

minder  selbstständige  Elementartheile  im  Körperverbande  anderer  nie- 
derer Organismen  (Protisten  und  niederer  Pflanzen)  vor,  und  versehen 
hier  die  Stelle  der  Zellen,  welche  in  den  meisten  höheren  Organismen 
fast  allein  die  constituirenden  Elementartheile  (Individuen  erster  Ord- 
nung) bilden.  Der  Begriff  der  organischen  Zelle  (Cellula,  Cytos)  ist, 
wie  wir  im  dritten  Buche  begründen  werden,  auf  diejenigen  Elementar- 
theile zu  beschränken,  welche  aus  zwei  wesentlichen  (und  nie  fehlen- 
den!) Bestandteilen  bestehen,  nämlich  dem  eiweissartigen  festflüssigen 
Plasma  (Protoplasma.  Sarcode,  Zellstoff)  und  dem  vom  Plasma  ein- 
geschlossenen Nucleus  iCytoblastus,  Kern,  Zellkern).  Häufig,  aber 
nicht  immer,  ist  dieser  kernhaltige  Plasmakörper  von  einer  (sehr  ver- 
schieden gestalteten)  vollständigen  oder  unvollständigen  Membran 
eingeschlossen  (Membrana  cellulae,  Zellhaut)  und  nach  deren  Mangel 
oder  Anwesenheit  können  wir  nackte  Zellen  oder  Urzellen  (Gymno- 
cyta)  und  membranöse  Zellen  oder  Hautzellen  (Lepocyta)  unter- 
scheiden. Diesen  echten,  kernhaltigen  Zellen,  welche  jetzt  gewöhnlich 
allein  als  die  eigentlichen  Elementartheile  der  Organismen  angesehen 
zu  werden  pflegen,  stellen  als  wesentlich  verschiedene,  weil  einfachere 
und  unvollkommenere  Elementartheile  die  von  uns  oben  untersuchten 
homogenen  Plasmaklumpen  ohne  Kern  gegenüber,  welche 
wir  allgemein  mit  dem  Namen  der  Plasmaklumpen  oder  Cytoden 
(zellenähnliche  Elementar-Orgauismen)  bezeichnen  wollen.  Solche  frei 
lebende  einfache  Cytoden  sind  die  Moneren  (Proto genes,  Prola- 
moeba)  und  zahlreiche  Protisten  aus  den  Stämmen  der  Rhizopoden, 
Protoplasten  etc.  Man  ist  gewöhnt,  diese  einfachsten  Organismen  ge- 
wöhnlich als  „einzellige"  Wesen  anzusehen;  indessen  stehen  sie  noch 
tiefer  als  die  wirklich  einzelligen  Organismen,  da  ihr  eiweissartiger 
Körper  völlig  homogen  ist,  und  sich  noch  nicht  in  Plasma  und  Kern 
differenzirt  hat.  Auch  diese  Cytoden  können,  gleich  den  Zellen,  ent- 
weder ganz  nackt  (Gymnocytoda)  oder  von  einer  Haut  umschlossen 
sein  (Lepocytoda).  Die  Cytoden  und  die  Zellen  zusammen,  welche 
wir  im  dritten  Buche  als  morphologische  Individuen  erster  Ordnung- 
näher  untersuchen  werden,  vereinigen  wir  unter  dem  Namen  der 
Piastiden. 

Da  man  die  Cytoden,  welche  als  vollkommen  homogene  Plasma- 
körper die  einfachsten  selbstständigen  Elementar-Organismeu  sind,  bis- 
her gänzlich  vernachlässigt  und  fast  ausschliesslich  die  Zellen,  welche 
durch  die  Differenzirnng  von  Plasma  und  Nucleus  schon  eine  höhere 
Organisationsstufe  darstellen ,  als  die  einfachsten  selbstständigen  Ele- 
mentar-Organisnien  betrachtet  hat,  so  ist  auch  die  unmittelbare  Ueber- 
gaugsbildung,  welche  die  homogenen  Cytoden  (als  einfachste  organische 
Individuen)  von  den  niederen  einzelligen  Organismen  zu  den  höchsten 
individualisirten   Anorganen,    den  Krystallen,    herstellen,    bisher  noch 


Organische  und  anorganische  Kräfte.  \Q\ 

gar  nicht  gewürdigt  worden.  Es  liegt  aber  zu  Tage,  dass  sie  wirklieh 
von  der  grössten  Bedeutung  für  die  monistische  Biologie  sind,  indem 
sie  die  von  den  Meisten  für  unüberwindlich  gehaltene  Kluft  zwischen 
den  Zellen  und  den  Kry stallen,  mindestens  in  vielen  Beziehungen, 
ausfüllen. 

Ein  allgemeiner  Vergleich  der  Zellen  mit  den  Kry  stallen  und 
der  Versuch,  die  Zellbildung  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Krystall- 
bildung  auf  einfache  Molekular- Bewegungen  der  Materie  zurückzufüh- 
ren, stösst  bereits  auf  sehr  viel  grössere  Schwierigkeiten,  weil  wir  in 
der  Zelle  schon  mindestens  zwei  verschiedene  Form-Elemente  zu  einem 
individuellen  Ganzen  verbunden  haben,  was  bei  den  homogenen  Cyto- 
den  noch  nicht  der  Fall  ist  und  bei  den  Kry  stallen  niemals  vorkommt. 
Um  so  wichtiger  und  interessanter  ist  es,  dass  wir  bereits  seit  langer 
Zeit  einen  solchen  Vergleich  besitzen,  der  noch  jetzt  von  hohem  Werthe 
ist.  Theodor  Schwann  nämlich  hat  in  den  epochemachenden 
„mikroskopischen  Untersuchungen",  durch  welche  er  183U  die  Gewe- 
belehre als  besondere  Wissenschaft  neu  begründete,  den  sehr  aner- 
keuuenswerthen  Versuch  gemacht,  in  monistischem  Sinne  die  Zellen 
als  die  eigentlichen  Elementar  -  Organismen  nachzuweisen,  welche  den 
Körper  der  höheren  Organismen  durch  Aggregation  zusammensetzen, 
und  hat  dabei  die  Zellen  als  die  eigentlichen  organischen  Individuen 
mit  den  Krystallen  als  den  anorganischen  Individuen  in  Parallele  ge- 
stellt. In  der  berühmten  „Theorie  der  Zellen",  welche  den  letzten 
Theil  im  dritten  Abschnitte  jenes  Werkes  bildet  (p.  220 — 257)  hat 
Schwann  diesen  Vergleich  der  Zellen  mit  den  Krystallen  durchzufüh- 
ren versucht,  und  hat  unseres  Erachtens  mit  bewundernswürdiger  Schärfe 
den  schlagenden,  wenn  auch  nicht  vollständigen  Beweis  für  die  Theorie 
geführt,  „dass  die  Bildung  der  Elementartheile  der  Organismen  nichts 
als  eine  Krystallisation  imbibitionsfähiger  Substanz,  der  Organismus 
nichts  als  ein  Aggregat  solcher  imbibitionsfähiger  Kry  stalle  ist."1) 


')  Für  den  vollständigen  Beweis  der  Richtigkeit  dieses  Satzes  hält  Schwann 
noch  den  Nachweis  zweier  Punkte  für  nothwendig,  nämlich:  ,,I)  dass  die  meta- 
bolischen Erscheinungen  der  Zellen  ebenfalls  wie  die  plastischen  Erscheinungen 
nothwendige  Folge  der  Imbibitionsfähigkeit,  oder  irgend  einer  anderen  Eigen- 
thümlictikeit  der  Zellensubstanz  sind;  II)  dass,  wenn  sich  eine  Menge  imbibitions- 
fähiger Krystalle  bilden ,  diese  sich  nach  gewissen  Gesetzen  zusammenfügen 
müssen,  so  dass  sie  ein,  einem  Organismus  ähnliches,  systematisches  Ganze  bil- 
den." Was  nun  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  glaubt  Schwann  den  Grund  für 
die  metabolischen  Erscheinungen  der  Zellen  „wahrscheinlicher  in  einer  bestimm- 
ten Lage  der  Moleküle ,  die  wahrscheinlich  bei  allen  Zellen  wesentlich  dieselbe 
ist,  als  in  der  chemischen  Zusammensetzung  der  Moleküle,  die  bei  den  verschie- 
denen Zellen  sehr  verschieden  ist,''  finden  zu  müssen.  Doch  dürften  wohl  diese 
beiden  Momente  hier  wirksam  sein,  und  würde  in  letzterer  Beziehung  wohl  vor 
Allem  die  complicirte  chemische  Zusammensetzung  und  die  äusserst  leichte  Zer- 

Haeckel,  Generelle  Morphologie,  J]_ 


162  Organismen  und  Anorgane. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  auf  die  Parallele  zwischen 
der  Krystallbildung  und  der  Zellenbilduug,  welche  Schwann  so  geistreich 
und  scharfsinnig  durchgeführt  hat,  hier  näher  eingehen.  Wir  können  hier 
darauf  um  so  eher  verzichten,  als  die  Membran  der  Piastiden  (sowohl  der 
kernhaltigen  Zellen,  als  der  kernlosen  Cytoden,  die  Schwann  nicht  von 
den  Zellen  unterschied)  in  unseren  Augen  nicht  mehr  den  hohen  morpholo- 
gischen und  physiologischen  Werth  besitzt,  den  Schwann  ihr  beilegte- 
in  der  That  fehlt  sie  ja  häufig  genug,  und  an  den  jugendlichen  Plastidea 
fast  immer.  Nur  darauf  wollen  wir  noch  besonders  aufmerksam  machen, 
wie  einfach  und  klar  derselbe  den  wesentlichen  Unterschied  im  Wachsthum 
der  Zellen  und  der  Krystalle  aus  der  Imbibitionsfähigkeit  der  erstereu 
erklärt.  Der  Krystall  kann  in  Folge  seines  festen  Aggregatzustandes  Hin- 
durch schichtweise  Apposition  von  aussen  wachsen,  und  die  einmal  gebil- 
deten Theile  des  Krystalls  bleiben  ganz  unverändert,  während  die  Zelle 
vermöge  ihres  festflüssigen  Quellungszustandes  durch  Intussusception  nach 
innen  hinein  neue  Theile  aufnehmen  und  durch  nachträgliche  Einwirkung 
derselben  auch  im  Innern  bereits  gebildete  Theile  verändern  kann.1)     Aber 


setzbarkeit  der  Eiweisskörper,  welche  stets  das  Plasma,  die  eigentliche  active 
(plastische)  „Lebensmaterie"  bilden,  zu  berücksichtigen  sein,  ferner  die  leichte 
und  schnelle  Zersetzuugsfähigkeit  dieser  Eiweissvei-biudungen,  und  ihre  Neigung, 
die  eigenen  Zersetzungsbewegungen  auf  die  umgebenden  Stoße  zu  übertragen, 
wodurch  sie  dieselben  schon  zur  Assimilation  vorbereiten.  Was  dann  den  zwei- 
ten von  Schwann  berührten  Paukt  angeht,  so  finden  wir  dessen  Erklärung  in 
Darwin' s  Theorie  der  natürlichen  Züchtung  im  Kampfe  um  das  Dasein,  welche 
auf  die  einzelnen  Plastiden  (Zellen  und  Cytoden) ,  ebenso  allgemein  angewandt 
werden  kann  und  muss,  wie  auf  die  einzelnen  Organismen.  Es  ist  also  nicht  ein 
vorbedachter  zweckmässiger  Plan,  welcher  die  einzelnen  Cytoden  und  Zellen 
(„die  imbibitionsfähigen  Krystalle")  zu  dem  „systematischen  Ganzen"  des  Or- 
ganismus zusammenfügt,  sondern  diese  scheinbar  zweckmässige  Combiuation  er- 
folgt durch  die  gegenseitige  nothwendige  Wechselwirkung,  welche  die  aggregirten 
Zellen  auf  einander  ausüben,  nach  den  Gesetzen  der  Differenzirung  und  Diver- 
genz des  Characters,  der  Erblichkeit  und  Anpassung. 

')  Eine  allgemeine  und  höchst  wichtige  Structur-Eigenthüinlichkeit  der  Kry- 
stalle ist  ihre  Schichtung,  ihre  innere  Zusammensetzung  aus  Blättern,  welche 
gewissen  Flächen  parallel  laufen.  „Die  Existenz  dieser  Schichtung  setzt  eine 
doppelte  Art  der  Apposition  der  Moleküle  in  den  Krystalleu  voraus:  in  jeder 
Schicht  nämlich  verschmelzen  die  neu  sich  ansetzenden  Moleküle  mit  den  schon 
vorhandenen  dieser  Schichte  zu  einem  Continuum;  diejenigen  Moleküle  aber, 
welche  die  einander  berührenden  Flächen  zweier  Schichten  bilden,  verschmelzen 
nicht  mit  einander.  Die  mit  einander  verschmelzenden  Moleküle  lauern  sieh  mit- 
hin mehr  der  Fläche  nach  neben  einander,  als  der  Dicke  nach  über  einander  ab, 
so  dass  jede  Schicht  auch  nur  eiue  bestimmte  Dicke  erreichen  kann."  Nimmt 
man  nun  mit  Schwann  an,  dass  dieses  Grundgesetz  der  krystallbildung  auch 
für  die  Zellen  gilt,  und  dass  die  Zellen  „imbibitiousfähige  Krystalle"  sind,  so 
muss  bei  ihnen  die  Schichtenbildung  ebenso  wie  bei  den  anorganischen  Kry- 
stallen eintreten.  Auch  hier  wird  nur  in  den  einzelnen  Schichten  (nicht  zwischen 
denselben)  eine  möglichst  innige  Verbindung   der  Moleküle    stattfinden.     Wegen 


III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  163 

nicht  allein  das  Wachsthmn  der  Zellen,  sondern  auch  ihre  erste  spontane 
Entstehung  (bei  der  „freien"  Zellbildung  in  einem  Cytoblasteni),  die  Diffe- 
renzirung  von  Kern  und  Kernkörperchen,  Plasma  und  Membran,  lassen  sich 
nach  Schwann  in  der  einfachsten  Weise  aus  gleichen  molekularen  Bewe- 
gungsvorgäugen  (Anziehung  und  Abstossung  der  Moleküle  in  gewissen 
Richtungen)  ableiten,  wie  dies  bei  Erklärung  der  Krystallbildung  möglich 
ist.  Die  Theorie  der  organischen  Zellenbildung  auf  diesem  rein  mechanischen 
Wege  hat  nach  Schwann's  geistreichem  Versuche  nicht  mehr  Schwierigkeit, 
als  die  Theorie  der  anorganischen  Krystallbildung.  Wir  müssen  diesen 
Versuch  um  so  mehr  bewundern,  als  zu  jener  Zeit  (vor  27  Jahren)  fast 
nur  die  höheren  und  vollkommeneren  Zellformen  bekannt  waren,  als  damals 
noch  drei  oder  vier  Bestandtheile,  (Kernkörperchen,  Kern,  Inhalt  und  Mem- 
bran) für  integrirende  Zellbestandtheile  galten  und  als  man  von  den  unent- 
wickelteren Piastiden,  den  inembranlosen  Zellen  und  den  kernlosen  Cytodeu 
noch  keine  sicheren  Kenntnisse  hatte.  Durch  die  Erkenntniss  der  letzteren, 
welche  (insbesondere  die  homogenen  Gymnocytoden)  gewissermaassen  un- 
mittelbare Uebergangsformen  von  den  aus  heterogenen  Theilen  zusammen- 
gesetzten Zellen  zu  den  homogenen  Krystallen  bilden,  hat  die  Vergleichung 
derselben  mit  „imbibitionsfähigen  Krystallen"  noch  bedeutend  an  Sicherheit 
gewonnen.  Wir  zweifeln  mit  Schwann  nicht  daran,  dass  es  lediglich  der 
Unterschied  der  complicirteren  atoniistischen  Zusammensetzung  der  orga- 
nischen Kohlenstoff-Verbindungen  und  besonders  ihr  festflüssiger  Aggregat- 
zustand, ihre  Imbibitionsfähigkeit  ist,  welche  die  organischen  Individuen 
erster  Ordnung  in  Form  von  Piastiden  (Cytodeu  und  Zellen)  auftreten 
lässt,  während  die  binär  zusammengesetzte  und  nicht  quellungsfähige  anor- 
ganische Materie  ihren  individuellen  Bildungen  die  Krystallform  giebt. 
Damit  ist  aber   auch   der  mechanische  Ursprung  der  Lebenserscheinuugen 


ihrer  Imbibitionsfähigkeit  ist  aber  „eine  viel  innigere  Vereinigung  derselben 
möglich,  indem  hier  die  neuen  Moleküle  sich  durch  Intussusception  zwischen  die 
vorhandenen  ablagern  können."  Die  Zahl  der  Moleküle,  welche  sich  in  jeder 
Schicht  ablagern  können,  ist  nun  hier  bei  den  Zellen  nicht  bestimmt  beschränkt, 
wie  bei  den  Krystallen.  Wenn  nun  die  Ablagerung  der  Moleküle  neben  einan- 
der in  einer  Schichte,  und  damit  das  Wachsthum  der  Schichte  fortdauert,  ohne 
dass  sich  eine  neue  Schichte  bildet,  ,,so  wird  die  wachsende  Schichte  zunächst 
mehr  condensirt;  d.  h.  sie  nimmt  in  denselben  Raum  mehr  feste  Substanz  auf; 
dann  aber  wird  sie  sich  ausdehnen  und  von  dem  fertigen  Theil  des  Krystalls 
trennen ,  so  dass  zwischen  ihr  und  dem  Krystall  ein  hohler  Zwischenraum  ent- 
steht ,  der  sich  durch  Imbibition  mit  Flüssigkeit  füllt.  So  erhalten  wir  also  bei 
imbibitionsfähigen  Körpern,  statt  einer  neuen  Schichte,  die  sich  an  die  früher  ge- 
bildeten Theile  des  Krystalls  ansetzt,  ein  hohles  Bläschen,"  welches  durch  Im- 
bibition sehr  bald  eine  rundliche  Gestalt  annehmen  muss  (falls  es  vorher,  einem 
Krystallmantel  entsprechend,  eckig  war).  „Allein  der  früher  gebildete  Theil 
des  Krystalles  besteht  ebenfalls  aus  imbibitionsfähiger  Substanz,  und  es  ist  dess- 
halb  noch  sehr  zweifelhaft,  ob  er  überhaupt  eine  eckige  Form  haben  muss," 
gleich  den  meisten  anorganischen  nicht  imbibitionsfähigen  Krystallen.  Die  scharf- 
sinnige weitere  Ausführung  dieses  sehr  wichtigen  Vergleiches  ist  bei  Schwan u 
selbst  nachzusehen  (p.  241 — 251). 

11* 


164  Organismen  und  Anorgane. 

dargethan.  Sowie  sännntliche  physikalische  Functionen  des  Krystalls  aus 
seiner  chemischen  Mischung  und  der  dadurch  bedingten  Form,  so  gehen 
auch  sämmtliche  Lebenserscheinungen  der  Flastide  (und  somit  jedes  Orga- 
nismus) aus  ihrer  chemischen  Mischung  und  der  dadurch  bedingten  Form 
als  uothwendige  Wirkungen  hervor. 

IV.    Einheit  der  organischen  nnd  anorganischen  Natur. 

Wir  haben  in  den  drei  vorhergehenden  Abschnitten  die  Ueberein- 
stimmungeu  und  die  Unterschiede  zu  schätzen  und  zu  messen  versucht, 
welche  die  beiden  grossen  Hauptgruppen  der  irdischen  Naturkörper, 
Organismen  und  Anorgane,  hinsichtlich  ihres  Stoffes,  ihrer  Form  und 
ihrer  Function  zeigen.  Als  das  allgemeine  Resultat  dieser  Vergleichung 
können  wir  nun  schliesslich  folgenden  Satz  aufstellen:  „Alle  uns  be- 
kannten Naturkörper  der  Erde,  belebte  und  leblose,  stimmen  tiberein 
in  allen  wesentlichen  Grundeigenschaften  der  Materie,  in  ihrer  Zusam- 
mensetzung aus  Massen-Atomen  und  darin,  dass  ihre  Formen  und  ihre 
Functionen  die  unmittelbaren  und  notwendigen  Wirkungen  dieser  Ma- 
terie sind.  Die  Unterschiede,  welche  zwischen  beiden  Hauptgruppen  von 
Naturkörpern  hinsichtlich  ihrer  Formen  und  Functionen  existiren,  sind 
lediglich  die  unmittelbare  und  uothwendige  Folge  der  materiellen 
Unterschiede,  welche  zwischen  Beiden  durch  die  verschiedenartige 
chemische  Verbindungs- Weise  der  in  sie  eintretenden  Elemente  bedingt 
werden.  Die  eigenthümlichen  Bewegungs-Erscheinungen,  welche  man 
unter  dem  Namen  des  „Lebens"  zusammenfaßt,  und  welche  die  eigen- 
thümlichen Formen  der  Organismen  bedingen,  sind  nicht  der  AusHuss 
einer  besonderen  (innerhalb  oder  ausserhalb  des  Organismus  befind- 
lichen) Kraft  (Lebenskraft,  Bauplan,  wirkende  Idee  etc.),  sondern 
lediglich  die  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Leistungen  der  Eiweiss- 
körper  und  anderer  complicirter  Verbindungen  des  Kohlenstoffs." 

Eine  eingehendere  Untersuchung  und  Vergleichung  der  individuellen 
Organismen  und  Anorgane  hinsichtlich  ihrer  materiellen  Zusammensetzung 
und  der  daraus  unmittelbar  resultirenden  Form  und  Function  wird  leicht 
noch  zahlreichere  und  schlagendere  Beweise  für  die  obigen  Sätze  sammeln 
können,  als  uns  hier  auf  dem  beschränkten  Raum  möglich  war.  Wir  müssen 
uns  daher  begnügen,  einige  der  wichtigsten  Punkte  hier  besonders  hervor- 
gehoben zu  haben,  und  müssen  das  Weitere  einer  künftigen  synthetischen 
Untersuchung  anheimgeben.  Für  uns  kam  es  hier  vor  Allem  darauf  an, 
der  bisher  ganz  einseitig  ausgebildeten  analytischen  Unterscheidung  der 
beiderlei  Körper  nun  auch  einmal  ihre  synthetische  V ergl eichung  gegen- 
überzustellen und  das  weitverbreitete  Dogma  zu  beseitigen,  dass  das 
„Leben1*  etwas  ganz  Bes leres,  absolut  von  der  leblosen  Natur  Verschie- 
denes und  von  ihr  Unabhängiges  sei.  Dass  dies  keineswegs  der  Fall  sei, 
und  dass  nur  relative  Differenzen  die  leblosen  und  belebten  Naturkörper 
trennen,  glauben  wir  hinsichtlich  aller  drei  Erscheinungs-Reihen,  der  stofl- 


IV.    Einheit  der  organischen  und  anorganischen  Natur.  165 

liehen  Zusammensetzung  und  der  daraus  resultirenden  körperlichen  Form 
und  functionellen  Leistung  gezeigt  zu  haben.  Wir  fassen  die  wichtigsten 
Vergleichungspunkte  hier  kurz  zusammen. 

I)  Die  chemischen  Urstoffe  oder  unzerlegbaren  Elemente,  welche  die 
lebendigen  und  die  leblosen  Naturkörper  zusammensetzen,  sind  dieselben 
Es  giebt  kein  Eleme-nt,  welches  nur  in  den  Organismen  vorkäme.  Dagegen 
ist  ein  Element,  der  Kohlenstoß',  welches  auch  in  der  leblosen  Natur  als 
Krystall-Individuurn  auftritt  (als  Diamant,  als  Graphit),  dasjenige,  welches 
in  keinem  Organismus  fehlt,  und  welches  durch  seine  ausserordentliche, 
keinem  anderen  Elemente  eigene,  Neigung  zu  verwickeiteren  Verbindungen 
mit  den  anderen  Elementen,  diejenige  unendliche  Mannichfaltigkeit  der 
„organischen  Stoffe"  erzeugt,  welche  die  unendliche  Mannichfaltigkeit  der 
organischen  Formen  und  Lebenserscheinungen  hervorbringen.  Eine  der 
wichtigsten  Eigenschaften  vieler  dieser  Kohlenstoff  -Verbindungen  ist  ihre 
Fähigkeit,  den  festflüssigen  Aggregatzustand  anzunehmen,  welcher  in  den 
Anorgauen  niemals  vorkommt.  Auf  dieser  Imbibitionsfähigkeit  der  organi- 
schen Materie,  auf  ihrer  verwickelten  atomistischen  Zusammensetzung  und 
auf  ihrer  leichten  Zersetzbarkeit  beruhen  die  sämmtlichen  eigentümlichen 
Bewegungs- Vorgänge,  welche  wir  als  die  charakteristischen  Erscheinungen 
des  Lebens  ansehen. 

II)  Die  Organismen  treten  sämmtlich,  die  Anorgane  theilweise  in  Form 
von  räumlich  abgeschlossenen  Eiuzelkörpern  oder  Individuen  auf.  Die  un- 
vollkommensten organischen  Individuen,  die  Moneren  oder  structurlosen 
Plasma-Individuen,  stimmen  mit  den  vollkommensten  anorganischen  Indivi- 
duen durch  die  homogene  Beschaffenheit  ihres  structurlosen  Körpers  mehr 
überein,  als  mit  den  höheren,  aus  Individuen  verschiedener  Ordnung  zu- 
sammengesetzten Organismen.  Diese  Zusammensetzung  des  Individuums 
aus  ungleichartigen  Theilen  ist  allerdings  den  meisten,  aber  nicht  allen 
Organismen  eigenthümlich,  und  desshalb  kein  absolut  unterscheidender 
Character  von  den  Krystalleu,  welche  ihrerseits  ebenfalls  bisweilen  in 
Mehrzahl  zur  Bildung  von  Individuen  höherer  Ordnung  zusammentreten 
(Krystallstöcken).  In  gleicher  Weise  wie  die  Organismen  besitzen  auch  die 
Krystalle  eine  innere  Structur,  und  zeigen  gesetzmässige  Beziehungen  der 
einzelnen  Theile  unter  einander  und  zum  Ganzen  Die  äussere  gesetzmässige 
Form  ist  hier  wie  dort  der  Ausdruck  und  das  Resultat  der  inneren  Struc- 
tur, und  hier  wie  dort  durch  die  Wechselwirkung  zweier  formbildender 
Triebe  oder  Kräfte  bedingt,  des  inneren  Bildungstriebes  (der  materiellen 
Zusammensetzung)  und  des  äusseren  Bildungstriebes  (der  Anpassung).  So- 
wohl den  organischen  als  den  anorganischen  Individuen  liegt  meistens  eine 
bestimmte  stereometrische  Grundform  zu  Grunde,  welche  bei  den  Krystallen 
meistens  prismoid  ist.  Doch  ist  die  prismoide  Grundform  der  Krystalle 
(von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und  messbaren  Ecken  begrenzt)  nicht 
ausschliesslich  für  die  anorganischen  Individuen  charakteristisch,  da  dieselbe 
sowohl  bei  vielen  niederen  Organismen  (Radiolarien)  vorkommt,  als  auch  bei 
anderen  anorganischen  Individuen  (Diamant-Krystallen  und  anderen  krumm- 
flächigen Krystallen)  fehlt.  Wir  können  also  so  wenig  in  der  individuellen 
Bildung,  als  in  der  formellen  Zusammensetzung  der  Individuen,  ebensowenig 


166  Organismen  und  Anorgane. 

in  der  äusseren  Form,  als  in  der  inneren  Structur,  ebensowenig  in  der 
stereometrischen  Grundform,  als  in  deren  vielfältiger  äusserlicher  Modifika- 
tion, kurz,  wir  können  in  keiner  Beziehung  irgend  einen  absoluten,  in  allen 
Fällen  durchgreifenden  formellen  Unterschied  zwischen  Organismen  und 
Anorgane  n  auffinden. 

III)  Die  Functionen,  Leistungen  oder  Kräfte  der  Naturkörper  sind 
entweder  feinere  oder  gröbere  Bewegungen  ihrer  materiellen  Theilchen,  der 
Atome  und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten  Moleküle.  Sie  sind  also  un- 
mittelbare Ausflüsse  der  materiellen  chemischen  Zusammensetzung  des 
Naturkörpers.  Weil  diese  Leistungen  bei  den  Organismen  sehr  viel  mannich- 
faltiger  und  zusammengesetzter  sind,  als  bei  den  Anorganen,  bezeichnen 
wir  sie  als  „Lebens-Erscheinungen".  Die  einfachen,  elementaren  Functionen 
der  Materie  kommen  sämmtlich,  und  die  verwickeiteren  Functionen  zum 
grossen  Theil  den  Organismen  und  Anorganen  in  gleicher  Weise  zu ;  zum 
Theil  aber  (Lebensthätigkeiten  im  engeren  Sinne)  kommen  die  letzteren  den 
Organismen  ausschliesslich  zu.  Eine  der  wichtigsten  und  allgemeinsten 
körperlichen  Functionen,  welche  allen  leblosen  und  belebten  individuellen 
Naturkörpern  gemeinsam  zukömmt,  ist  das  Wachsthum  der  Individuen. 
Die  Verschiedenheiten,  welche  sich  im  Wachsthum  der  organischen  und 
anorganischen  Individuen  finden,  sind  in  der  verwickeiteren  chemischen 
Zusammensetzung  und  der  Imbibitionsfähigkeit  vieler  Kohlenstoff -A7erbin- 
dungen  begründet.  Aus  diesen  Verschiedenheiten  des  Wachsthums  resul- 
tiren  dann  aber  mit  Notwendigkeit  für  die  Organismen  die  weiteren  spezi- 
fischen Lebens -Erscheinungen  der  Ernährung  und  Fortpflanzung,  denen 
sich  bei  den  höheren  Organismen  noch  die  complicirtesten  Functionen  der 
Ortsbewegung  und  Empfindung  anschliessen.  Wir  sehen  also  im  Ganzen, 
erstens,  dass  die  anorganischen  und  organischen  Individuen  eine  gewisse 
Summe  von  Leistungen  in  gleicher  Weise  ausüben,  und  zweitens,  dass  die- 
jenigen zusammengesetzteren  Leistungen,  welche  als  Lebenserscheinungen 
im  engeren  Sinne  den  Organismen  eigentümlich  sind  (allgemein  Ernäh- 
rung und  Fortpflanzung),  lediglich  in  der  verwickeltereu  chemischen  Zu- 
sammensetzung der  Kohlenstofi'-Verbindungen  und  in  den  daraus  resultirenden 
physikalischen  Eigenthümlichkeiten  (vor  Allem  der  Imbibitionsfähigkeit)  ihren 
unmittelbaren  materiellen  Grund  haben. 

Alle  bekannten  Erfahrungen  zusammengenommen  zwingen  uns  also  zu 
der  Ueberzeugung,  dass  die  Differenzen  zwischen  den  Organismen  und  An- 
organen nur  relativ,  lediglich  in  der  verwickeJteren  chemischen  Zusammen- 
setzung der  Kohlenstofi'-Verbindungen  begründet  sind,  und  dass  die  Ma- 
terie hier  wie  dort  denselben  Gesetzen  der  Naturnotwendigkeit  unterworfen 
ist.  Diese  feste  Ueberzeugung  ist  von  der  gross teu  Wichtigkeit,  sowohl 
allgemein  für  die  allein  richtige  monistische  Beurtheilung  der  Gesammt-Na- 
tur,  als  auch  besonders. für  die  richtige  Beantwortung  einer  der  schwierig- 
sten biologischen  Fragen,  derjenigen  von  der  Entstehung  der  ersten  Or- 
ganismen. Indem  wir  diese  Frage  im  Folgenden  zu  beantworten  versuchen, 
stützen  wir  uns  unmittelbar  auf  jene  feste  Ueberzeugung  von  der  Einheit  der 
organischen  und  anorganischen  Natur. 


I.  Entstellung  der  ersten  Organismen.  ^67 


Sechstes  Capitel. 

Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

„Was  war'  ein  Gott,  der  nur  von  aussen  stiesse, 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  Hesse ! 
Ihm  ziemt's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  Sich,   Sich  in  Natur  zu  hegen, 
So  dass  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist, 
Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermisst." 

Goethe. 


I.   Entstehung  der  ersten  Organismen. 

Alle  grossen  Erscheinungsreihen  der  organischen  Natur,  alle  all- 
gemeinen Resultate  der  zoologischen  und  botanischen,  morphologischen 
und  physiologischen  Forschungen,  führen  uns  übereinstimmend  mit 
zwingender  Gewalt  zu  dem  gesetzlichen  Schlüsse,  dass  sämmtliche 
Organismen,  welche  heutzutage  die  Erde  beleben,  und  welche  sie  zu 
irgend  einer  Zeit  belebt  haben,  durch  allmählige  Umgestaltung  und 
langsame  Vervollkommnung  sich  aus  einer  verhältnissmässig  geringen 
Anzahl  von  höchst  einfachen  Urwesen  (Protorganismen)  entwickelt 
haben.  Diese  Entwicklung  geschah  und  geschieht  auf  dem  Wege  der 
materiellen  Fortpflanzung,  der  elterlichen  Zeugung,  nach  den  Gesetzen 
der  Erblichkeit  und  der  die  Erblichkeit  modificirenden  Variabilität  und 
Anpassung.  Alle,  auch  die  höchsten  und  complicirtesten  Organismen 
können  nur  auf  diesem  Wege,  durch  allmählige  Ditferenzirung  und 
Transmutation  von  einfachsten  und  niedrigsten  Lebewesen  enstan- 
den  sein. 

Dieses  äusserst  wichtige  Entwickelungs-  Gesetz  bildet    den   Kern 
derjenigen    Theorie,    welche    wir  ein  für  alle  Mal  kurz  als  die  Ab- 
stammungslehre   oder  Descendenz-Theorie  bezeichnen  wollen 
und  deren  Begründung  wir  vor  Allen  Lamarck,   Goethe   und  Dar- 
win verdanken.     Sie  zeigt  uns,  in  Uebereinstimmung  mit_allen  fest- 


K33  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

stehenden  Erfahrungen,  wie  aus  den  einfachsten  und  unvollkommensten 
Urwesen  sieh  die  höchsten  und  vollkommensten  Organismen  allmählig 
durch  Divergenz  nach  verschiedenen  Richtungen  haben  hervorbilden 
können.  Diese  Entwicklungstheorie  lässt  aber  eine  grosse  und  zu- 
nächst sich  daran  anknüpfende  Frage  unbeantwortet,  nämlich:  ..Wie 
entstanden  jene  ersten  und  einfachsten  Lebewesen,  aus 
denen  sich  alle  übrigen,  vollkommeneren  Organismen  all- 
mählich entwickelten?" 

Die  Beantwortung  dieser  äusserst  wichtigen  Frage  von  der  ersten 
Entstehung  des  Lebens  auf  der  Erde  wird  von  den  meisten  Menschen, 
und  selbst  von  sehr  vielen  Biologen,  als  eine  ausserhalb  aller  exaeten 
Naturforschung  liegende,  oder  selbst  als  eine  der  Competenz  unserer 
menschlichen  Erkenntniss  entzogene  Frage  bezeichnet.  Wir  können 
keiner  von  diesen  Ansichten  beipflichten,  und  müssen  den,  freilich  sehr 
gewagten  Versuch,  die  Frage  hypothetisch  zu  beantworten,  ebenso  als 
unser  gutes  Recht,  wie  als  unsere  noth wendige  Pflicht  bezeichnen, 
wenn  wir  überhaupt  die  Erscheinungen  der  organischen  Natur  mo- 
nistisch, d.  h.  causal  erklären  wollen. 

Nichts  zeigt  wohl  so  sehr  die  äusserst  niedrige  Stufe  der  Entwicklung, 
auf  der  sich  die  gesammte  Biologie,  sowohl  Morphologie  als  Physiologie, 
noch  gegenwärtig  befindet,  als  der  Unistand,  dass  wir  zunächst  die  Be- 
rechtigung dieser  Frage,  die  doch  jedem  denkenden  Menschen  selbst- 
verständlich erscheinen  sollte,  ausdrücklich  hervorheben  müssen.  Denn  so 
weit  ist  noch  die  herrschende  Betrachtungsweise  der  Organismen  vermöge 
ihres  grundverkehrten  Dualismus  von  der. allein  wissenschaftlichen  Erkennt- 
niss d.  h.  dem  monistischen  Yerständniss  der  organischen  Naturerscheinungen 
entfernt,  dass  nicht  nur  die  meisten  Laien,  sondern  selbst  die  meisten  Natur- 
forscher die  Berechtigung  jener  Frage  bestreiten,  und  sie  als  eine  solche 
bezeichnen,  zu  deren  wissenschaftlichen  Erörterung  wir  weder  befugt,  noch 
befähigt  seien. 

Die  Frage  nach  dem  ersten  Ursprung  des  Lebens  auf  der  Erde ,  nach 
der  Entstehung  jener  ersten,  einfachsten  Organismen,  aus  denen  alle  übrigen 
durch  allmählige  Umbildung  sich  entwickelten,  ist  nach  unserer  Ansicht  voll- 
kommen ebenso  berechtigt,  und  muss  von  der  Naturwissenschaft  ebenso 
nothwendig  gestellt  werden,  wie  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Erde 
selbst,  di<-  Frage  nach  der  Entstehung  der  anorganischen  Naturkörper.  Wie 
wir  bei  den  letzteren  sowohl  die  Thatsachen  ihres  allmähligen  Werdens,  als 
auch  die  Ursachen  desselben  in  den  Kreis  unserer  Forschung*  zu  ziehen 
haben,  so  verhält  es  sich  auch  mit  den  Organismen.  Wir  werden  also  in 
diesem  Capitcl  ebensowohl  uns  eine  Theorie  über  die  erste  Entstehung 
der  Organismen,  wie  über  die  Ursachen  derselben  zu  bilden  haben.  Und 
wir  sind  hier  um  so  mehr  dazu  verpflichtet,  als  Darwin  in  seinem  classi- 
schen  Werke  gerade  hier  eine  sehr  empfindliche  Lücke  gelassen  und  erklärt 
hat,  dass   er  „Nichts   mit  dem  Ursprung  der  geistigen  Grundkräfte,   noch 


I.    Entstehung  der  ersten  Organismen.  169 

mit  dem  des  Lebens  selbst  zu  schaffen  habeV)  Selbst  viele  von  denjenigen 
Naturforschern  und  Philosophen,  welche  geneigt  sind,  die  sämmtlichen  Er- 
scheinungen des  bestehenden  Lebeiis  gleich  allen  anderen  Naturerschei- 
nungen als  nothwendige  Folgen  mechanisch  wirkender  Ursachen,  also  mo- 
nistisch zu  erklären,  nehmen  für  die  erste  Entstehung  der  lebenden 
Wesen  zu  der  dualistischen  Annahme  einer  freien  Schöpfung  ihre  Zuflucht- 
Sie  verzichten  auf  die  rein  causale,  d.  h.  mechanische  Erklärung  der  Ent- 
stehung des  ersten  Lebens,  theils  weil  sie  dadurch  mit  einigen  der  ältesten 
und  stärksten  von  unseren  allgemein  herrschenden  grossen  Vorurtheilen  zu 
collidiren  fürchten,  theils  weil  sie  die  Möglichkeit  einer  solchen  Erklärung 
nicht  einsehen. 

In  letzterer  Beziehung  sei  nun  zunächst  hier  hervorgehoben,  dass  selbst 
Kant,  der  für  die  gesammte  organische  Natur  die  dualistisch-teleologische, 
für  die  gesammte  anorganische  Natur  aber  die  monistisch-mechanische  Be- 
trachtungsmethode und  Erklärungsweise  consequent  durchführte,  der  letzte- 
ren zugestand,  dass  sie  auch  zur  Erklärung  der  organischen  Naturerschei- 
nungen vollkommen  berechtigt,  und  nur  nicht  dazu  befähigt  sei.  Wir 
würden  also,  selbst  nach  Kant,  wenn  wir  die  Möglichkeit  einer  mecha- 
nischen Erklärung  für  die  Entstehung  des  Lebens  nachweisen,  des  Gesuches 
um  Berechtigung  hierzu  gewiss  überhoben  sein.  Doch  ist  das  entgegen- 
stehende Vorurtheil,  welches  sich  durch  die  vererbten  Irrthümer  von  Jahr- 
tausenden ausserordentlich  befestigt  hat,  so  mächtig,  dass  wir  nicht  umhin 
können,  hier  die  Unmöglichkeit  einer  sogenannten  Schöpfung  darzuthun  und 
die  Nothwendigkeit  der  Annahme  einer  Autogonie,  d.  h.  einer  mechanischen 
Entstehungsweise  der   ersten  Lebensformen  auf  der  Erde  zu  beweisen. 


')  Aus  dieser  und  aus  verschiedenen  Stellen  seines  epochemachenden  Wer- 
kes, an  denen  man  ein  Eingehen  auf  die  vorliegende  Frage  erwarten  sollte,  geht 
hervor,  dass  Darwin  dieselbe  absichtlich  nicht  berührt,  und  vollständig  auf 
deren  wissenschaftliche  Beantwortung  verzichtet,  indem  er  annimmt,  dass  jenen 
einfachsten  Urformen  (gleichviel  ob  einer  oder  mehreren)  ,,das  Leben  zuerst 
vom  Schöpfer  eingehaucht  worden  sei."  Ich  habe  bereits  1862  in  meiner  Mono- 
graphie der  Radiolarien  (p.  232),  in  welcher  ich  mich  entschieden  für  Darwins 
Theorie  ausgesprochen  habe,  bemerkt,  dass  der  grösste  Mangel  derselben  darin 
liege,  dass  sie  für  die  Entstehung  der  Urorganismen,  aus  denen  alle  anderen  sich  all- 
mählig  hervorgebildet  haben,  gar  keine  Anhaltspunkte  liefert,  und  dass  mau  für 
diese  ersten  Öpecies  keinen  besonderen  Schöpfungs-Akt  annehmen  dürfe.  In  der 
That  erscheint  mir  (wie  dies  auch  von  Gegnern  Darwins  hervorgehoben  worden 
ist)  die  Annahme  einer  „Schöpfung"  jener  Urformen  im  gewöhnlichen  Sinne 
als  ein  so  widerspruchsvoller  Dualismus  und  so  unvereinbar  mit  dem  sonst  durch- 
aus monistischen  freiste  und  Werke  des  grossen  englischen  Naturforschers,  dass 
wir  annehmen  müssen,  er  sei  absichtlich  dieser  allerdings  gefährlichen  und  zu 
vielen  Couflicten  Anlass  gebenden  Schwierigkeit  aus  dem  Wege  gegangen.  Wir 
können  uns  hier  um  so  weniger  entschliessen,  auf  die  Beantwortung  dieser  Frage 
zu  verzichten,  als  der  ganze  causale  Zusammenhang  der  Descendenz-Theorie  die- 
selbe durchaus  erfordert,  und  erst  dadurch  die  letzte  Lücke  in  dem  vollendeten 
kosmologischen  Systeme  des  Monismus  ausgefüllt  wird. 


170  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

II.    Schöpfung. 

Wenn  wir  alle  die  unendlich  verschiedenen  und  mannichfaltigen 

Ansichten  vergleichend  in  Erwähnung-  ziehen,  welche  von  denkenden 
Menschen  aller  Zeiten  über  die  erste  Entstehung  des  Lebens  auf  der 
Erde  aufgestellt  worden  sind,  so  können  wir  sie  allesammt  in  zwei 
schroff  gegenüberstehende  Gruppen  bringen,  deren  Losungswort 
Schöpfung  und  Urzeugung  ist.  Bei  weitem  die  grössere  Mehrzahl 
aller  jener  Ansichten  ist  dualistisch  und  glaubt  an  eine  Schöpfung? 
d.  h.  an  eine  Entstehung  der  ersten  lebendigen  Wesen  durch  eine 
ausserhalb  der  Materie  befindliche,  zweckmässig  wirkende  Kraft.  Nur 
verhältnissmässig  wenige  Ansichten  sind  monistisch  und  nehmen  eine 
Urzeugung  an,  d.  h.  eine  erste  Entstehung  lebendiger  Körper  durch 
die  ureigenen,  der  Materie  inne  wohnenden,  mit  absoluter  Notwen- 
digkeit gesetzlich  wirkenden  Kräfte. 

Die  vielen  verschiedenartigen  Schöpfungs-Theorieen  weichen 
hauptsächlich  darin  von  einander  ab,  dass  die  einen  einen  individuellen 
Schöpfungsakt  für  jeden  einzelnen  Organismus,  die  anderen  einen  be- 
sonderen Schöpfungsakt  für  jede  „Species"  (aus  der  sich  ihre  Nach- 
kommen durch  natürliche  Fortpflanzung  entwickeln),  die  dritten  endlich 
eine  Schöpfung  nur  für  jene  einfachsten  Urorganismen  fordern,  aus 
denen  sich  alle  übrigen  „Species",  gemäss  der  Descendenz-Theorie, 
allmählig  entwickelt  haben.  Von  diesen  drei  verschiedenen  Ansichten 
brauchen  wir  blos  die  letzte  hier  zu  discutiren.  Denn  die  erste  An- 
nahme, dass  jeder  individuelle  Organismus  (z.  B.  jeder  einzelne 
Tannenbaum,  jede  einzelne  Diatomee,  jede  einzelne  Stubenfliege,  jeder 
einzelne  Mensch)  für  sich  vom  Schöpfer  besonders  erschaffen  sei,  ist 
zwar  unter  den  Menschenkindern  (auch  den  sogenannten  ,. Gebildeten") 
noch  sehr  weit  verbreitet,  widerspricht  aber  so  sehr  den  einfachsten 
und  allgemeinsten  naturwissenschaftlichen  Erfahrungen,  dass  sie  von 
keinem  einzigen  wahren  Naturforscher  mehr  vertheidigt  wird.  Nicht 
so  ist  es  mit  der  zweiten  oben  angeführten,  übrigens  nicht  minder  un- 
wissenschaftlichen Ansicht,  dass  jede  sogenannte  „Species  oder  Art" 
einem  besonderen  Schöpfungsakt  ihre  Entstehung  verdanke,  dass  also 
von  jeder  Species  einmal  eines  oder  mehrere  Individuen  geschaffen 
worden  sind,  von  denen  alle  übrigen  auf  dem  Wege  natürlicher  Fort- 
pflanzung erzeugt  worden  sind.  Diese  auch  unter  den  Naturforschern 
noch  weit  verbreitete  und  gewöhnlich  mit  dem  absurden  Species-Dogma 
verkettete  Ansicht  bedarf  liier  ebenfalls  keiner  Widerlegung,  da  wir 
unten  die  Species  selbst  als  eine  ganz  willkührliche  und  künstliche 
Abstraction,  und  die  Vorstellung  ihrer  absoluten  Coustauz  als  ganz 
unhaltbar  nachweisen  werden.  Wir  haben  also  nur  noch  die  letzte 
(auch   von  Darwin  getheilte)  Schöpfungs- Hypothese   zu    widerlegen, 


IL    Schöpfung.  171 

welche  annimmt,  dass  die  wenigen  einfachsten  Stammformen,  aus  wel- 
chen alle  übrigen  durch  allmählige  Differenzirung  sich  entwickelt  haben, 
unmittelbar  „  erschaffen"  worden  sind.  Da  wir  diese  Annahme  dadurch 
widerlegen  müssen,  dass  wir  die  Schöpfung  überhaupt  als  undenkbar 
nachweisen,  so  werden  dadurch  zugleich  sämmtliche  übrige  Schöpfungs- 
Annahmen  widerlegt. 

Der  Begriff  der  Schöpfung  ist  entweder  überhaupt  undenkbar 
oder  doch  mit  jeder  reinen,  auf  empirische  Basis  gegründeten  Natur- 
anschauung vollkommen  unverträglich.  In  der  Abiologie  ist  auch  nir- 
gends mehr  von  einer  Schöpfung  die  Rede,  und  nur  in  der  Biologie  ist 
man  noch  vielfach  von  diesem  Irrthum  befangen.  Vollkommen  undenk- 
bar ist  der  Begriff  der  Schöpfung,  wenn  man  darunter  „ein  Entstehen 
von  Etwas  aus  Nichts"  versteht.  Diese  Annahme  ist  ganz  unvereinbar 
mit  einem  der  ersten  und  obersten  Naturgesetze,  welches  auch  allge- 
mein anerkannt  ist,  dem  grossen  Gesetze  nämlich,  das  alle  Materie 
ewig  ist,  und  dass  nicht  ein  einziges  Atom  aus  der  Körperwelt  ver- 
schwinden, so  wenig  als  ein  einziges  neues  hinzukommen  kann.  Der 
einzige  denkbare  Sinn,  welcher  daher  für  den  Begriff  der  Schöpfung 
übrig  bleibt,  ist  die  Vorstellung,  dass  durch  eine  ausserhalb  der  Ma- 
terie stehende  Kraft  Beweguugserscheinungen  der  Materie  hervorgerufen 
werden  und  dass  diese  zur  Bildung  bestimmter  Formen  führen;  ge- 
wöhnlich versteht  man  darunter  speciell  die  Bildung  individueller, 
vorzüglich  organischer  Formen,  und  in  unserem  speciellen  Falle  die 
Bildung  jener  einfachsten  organischen  Urformen.  Die  Annahme  einer 
jeden  solchen  Schöpfung  ist  nun  deshalb  durchaus  unstatthaft,  weil 
wir  in  der  ganzen  Körperwelt,  welche  unserer  naturwissenschaftlichen 
Erkenntniss  zugänglich  ist,  nicht  ein  einziges  Beispiel  von  einer  ausser 
der  Materie  stehenden  Kraft  empirisch  kennen.  Alle  Kräfte,  die  wir 
kennen,  von  den  einfachen  „physikalischen"  Kräften  (z.  B.  der  Licht- 
brechung, Wärmeleitung)  anorganischer  Krystalle,  bis  zu  den  höchsten 
Lebenserscheinungen  der  Organismen  (bis  zu  der  Blüthenbildung  der 
Bäume,  bis  zu  dem  Fluge  der  Insekten,  bis  zu  den  philosophischen 
Gehirn- Operationen  des  Menschen)  sind  mit  absoluter  Nothwendigkeit 
an  die  Materie  gebunden,  und  ebenso  ist  jede  Materie  (organische  und 
anorganische)  nothwendig  mit  einer  gewissen  Summe  von  Kräften  be- 
gabt. Einerseits  also  haben  wir  nicht  einen  einzigen,  auch  nur  wahr- 
scheinlichen Erfahrungsbeweis  für  die  Existenz  einer  solchen,  die  Ma- 
terie von  aussen  beherrschenden  und  „schaffenden"  Kraft  (mag  man 
dieselbe  nun  Lebenskraft,  Schöpferkraft,  oder  wie  immer  nennen); 
andererseits  aber  gehört  nur  ein  wenig  tieferes  Nachdenken  dazu,  um 
zu  der  festen  Ueberzeugung  zu  gelangen,  dass  eine  solche  Kraft  ganz 
undenkbar  ist.  Wie  sollen  wir  uns  eine  Kraft  ausserhalb  der  Materie 
nur  irgend   vorstellen,   eine  Kraft,   der  jeder  Angriffspunkt,   welchen 


172  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

die  Materie  bietet,  als  solcher  unangreifbar  ist?  Eine  Kraft,  welche 
materielle  Bewegungserscheinungen  hervorruft,  ohne  selbst  materiell 
zu  sein?  Eine  Kraft,  die  eine  Bewegung  ohne  Anziehung  und  ohne 
Abstossuug,  mithin  eine  Wirkung  ohue  Ursache  hervorrufen  würde? 
Wir  gestehen  offen,  dass  wir  persönlich  vollkommen  unfähig  sind,  uns 
irgend  eine  denkbare  Vorstellung  von  einer  solchen  immateriellen 
Kraft  zu  machen,  und  dass  wir  unter  den  zahllosen  Definitionen  und 
Darstellungen,  welche  von  solchen  immateriellen  Kräften  unter  den 
verschiedensten  Namen  gegeben  werden,  nicht  eine  einzige  gefunden 
haben,  die  nicht  vollständig  mit  den  allgemeinsten  und  unmittelbarsten 
sinnlichen  Erfahrungen,  sowie  mit  den  wichtigsten  und  obersten  Grund- 
gesetzen der  Naturwissenschaft  (und  vor  Allem  mit  dem  Causal-Gesetze) 
unvereinbar  wäre.1) 

')  Den  Physikern  und  Chemikern,  sowie  den  Physiologen  dürfte  es  über- 
flüssig erscheinen,  über  diese  ersten  Grundsätze  der  Naturforschung  noch  ein 
Wort  zu  verlieren:  kein  Physiker,  kein  Chemiker,  kein  Physiolog  —  so  lange 
er  cousequent  und  rücksichtslos  denkt  —  kennt  eine  Kraft  ohne  Stoff  oder 
glaubt  an  eine  ausser  der  Materie  stehende  Kraft.  Nur  unter  den  Morphologen 
sind  diese  falschen  Vorstellungen  noch  so  verbreitet,  dass  wir  sie  hier  nothwen- 
dig  widerlegen  müssen ,  und  in  einem  Punkte ,  nämlich  gerade  in  der  hier  vor- 
liegenden Frage  von  der  ersten  Entstehung  der  Organismen,  sind  die  alten  ein- 
gerosteten dualistischen  Vorurtheile  sehr  allgemeiu  verbreitet,  und  werden  selbst 
von  vielen  trefflichen,  im  TJebrigen  vollkommen  monistischen  Naturforschern  ge- 
theilt.  Sobald  man  übrigens  die  verschiedenen  immateriellen  Kräfte,  welche  als 
„Geist,  Seele,  Lebenskraft,  Schöpferkraft"  etc.  ein  eben  so  verbreitetes  als  un- 
verdientes Ansehen  gemessen,  eingehender  untersucht,  so  ergiebt  sich,  dass 
diese  sogenannten  reinen,  nicht  materiellen  Kräfte  durchaus  materiell  vorgestellt 
werden,  nämlich  entweder  als  gasförmige  Materien  oder  als  feinere  (schwerelose 
oder  unwägbare)  Materien,  gleich  dem  Wärme-Aether  etc.  In  der  bewunderns- 
würdigen Widerlegung  der  Lebenskraft,  welche  schon  vor  70  Jahren  Reil  im 
ersten  Baude  seines  Archivs  für  Physiologie  (1796)  gegeben  hat,  findet  sich  hier- 
über folgende  treffliche  Analyse :  „Anfangs  fielen  wohl  nur  die  groben  und  trägen 
Massen  den  Menschen  auf,  und  in  der  Folge  beobachteten  sie  erst  die  Erschei- 
nungen der  feinen  Stoffe  in  der  Natur.  Sie  empfanden  in  der  Luft  und  im 
Winde  Wirkungen  eines  Wesens,  das  sie  mit  den  Augen  nicht  wahrnahmen, 
und  welches  sich  vorzüglich  durch  seine  Beweglichkeit  vor  den  trägen  und  gro- 
ben Massen  auszeichnete.  Diese  Beobachtung  brachte  sie  nach  und  nach  auf 
die  Meinung,  dass  Bewegung  und  Leben  von  einem  solchen  feinen  und  unsicht- 
baren  Wesen  abhänge.  Durch  die  Eigenschaften  der  feinen  Stoffe  wurden  sie 
auf  die  Idee  von  Geistern  geleitet,  und  sie  characterisirten  dieselben 
durch  die  vorzüglichsten  Merkmale  der  Luft,  durch  Uusichtbarkeit 
und  Beweglichkeit.  Man  legte  sogar  dem  Geiste  überhaupt  in  der  hebräi- 
schen und  fast  in  allen  alten  Sprachen  die  Namen  Luft  oder  Wind  (Spiritus) 
bei."  (1.  c.  p.  11,  12).  „Mit  eben  dem  Rechte,  mit  welchem  wir  den  Thieren 
(und  also  auch  den  Menschen)  eine  Seele  beilegen,  um  ihre  thierischen  Wir- 
kungen daraus  zu  erklären,  können  wir  auch  für  die  Schwere  und  Cohärenz  eigene 
Oeister  annehmen,  die  erst  der  Materie  die  Eigenschaft,  als  schwere  und  zusam- 
menhaftende Materie  zu  wirken,  mittheilen."    (1.  c.  p.  14). 


II.    Schöpfung.  273 

Ist  nun  schon  an  sich  der  Begriff  einer  solchen  immateriellen 
ausserhalb  der  Materie  befindlichen,  von  ihr  unabhängigen,  und  den- 
noch auf  sie  wirkenden  Kraft  vollkommen  unzulässig  und  undenkbar 
so  wird  es  in  unserem  Falle  hier  die  schöpferische  Kraft  in  um  so 
höherem  Maasse,  als  mit  deren  Vorstellung  sich  die  unhaltbarsten 
teleologischen  Vorstellungen  und  die  handgreiflichsten  Anthropomor- 
phismen  verbinden.  Denn  es  ist  klar,  dass  jenes  schöpferische  im- 
materielle Princip,  welches  bald  als  Lebenskraft,  bald  als  Schöpfer- 
kraft, bald  als  persönlicher  Schöpfer  die  Organismen  „schaffen"  soll, 
hierbei  durchaus  in  analoger  Weise  zu  Werke  gehen  soll,  wie  der 
Mensch  oder  andere  Thiere  bei  „Schöpfung"  irgend  eines  Kunstwerks, 
wie  z.  B.  eine  Wespe  beim  Bau  ihres  kunstvollen  Nestes,  oder  wie 
der  Schneidervogel  beim  Zusammennähen  der  Blätter,  oder  wie  der 
Mensch  beim  Bauen  eines  Hauses,  beim  Modelliren  einer  Statue.  Wie 
alle  diese  Thiere  hierbei  nach  einem  vorhergehenden  Entwürfe  ihren 
Bau  construiren,  so  soll  auch  die  Schöpferkraft  oder  der  persönliche 
Schöpfer  nach  einem  bestimmten  Bauplan  die  Organismen  zweckmässig 
construiren,  und  wenn  seine  Schöpfungsthätigkeit  sich  auf  die  Er- 
schaffung jener  wenigen  einfachsten  Urwesen  beschränkt,  aus  denen 
sich  die  anderen  hervorgebildet  haben,  so  hat  er  jedem  dieser  Urwesen 
die  bestimmten  Bewegungserscheinungen  verliehen,  welche  man  als 
sein  „Leben"  bezeichnet.  In  allen  diesen  teleologischen  Vorstellungen, 
und  gleicherweise  in  sämmtlichen  Schöpfungsgeschichten,  welche  die 
dichterische  Phantasie  der  Menschen  producirt  hat,  liegt  der  grobe 
Anthropomorphismus ')  so  auf  der  Hand,  dass  wir  der  Einsicht  jedes 


')  Wie  durchgreifend  diesen  Schöpfuugs- Ansichten  überall  die  Vorstellung 
des  thierischen  und  insbesondere  des  menschlichen  freiwilligen  Handelns  nach 
einem  bestimmten  (natürlich  causal  bedingten)  Willens-Impulse  zu  Grande  liegt, 
beweisen  schon  die  allgemein  gebräuchlichen  Ausdrücke  „des  Bauplans,  der  zweck- 
mässigen Einrichtung,  des  künstlichen  Baues  u.  s.  w."  Offenbar  wird  hier  stets 
das  zu  schaffende  oder  erschaffene  „Geschöpf '  als  das  Product  eines  vorbe- 
dachten Planes  betrachtet,  welchen  der  „Schöpfer"  in  ganz  gleicher  Weise  ent- 
worfen, modificirt  und  ausgeführt  hat,  wie  der  Mensch  bei  Construction  seiner 
zweckmässigen  Maschinen  und  andere  YVirbelthiere  bei  Ausführung  ihrer  oft 
äusserst  künstlichen  und  zweckmässigen  Nester,  Bauten  etc.  thuen.  Der  Anthropo- 
morphismus oder,  allgemeiner  gesagt:  Zoomorphismus,  welcher  hier  zur  Vor- 
stellung des  persönlichen  oder  individuellen  Schöpfers  führt ,  ist  um  so  selt- 
samer und  auffallender,  als  dieser  Schöpfer  dabei  zugleich  als  immaterielles 
Wesen  oder  Geist  gedacht  wird,  also  im  Grunde,  wie  Reil  in  der  so  eben  ci- 
tirten  Stelle  treffend  ausführt,  als  ein  gasförmiger  oder  elastisch-flüssiger  Körper, 
oder  als  ein  Individuum,  welches  aus  der  feineren  Materie  des  schwerelosen  oder 
unwägbaren  Aethers  (dem  Wärmestoff  zwischen  den  Atomeu  und  Molekülen  der 
Materie)  besteht.  Einerseits  also-  wird  der  die  Materie  modelnde  und  formende 
Schöpfer  nach  Art  des  Menschen  oder  eines  anderen  höheren  VVirbelthieres 
denkend    und  planausführend,    mithin   als   ein    willkührlich   bewegliches   und    mit 


174  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

überhaupt  denkenden  und  nicht  allzusehr  in  traditionellen  Vorurtheilen 
befangenen  Lesers  die  Vernichtung  dieser  Schöprangs- Vorstellung  selbst 
überlassen  können.  Denjenigen  Morphologen  aber,  welche  nicht  durch 
eigenes  Nachdenken  zu  dieser  Erkenntniss  gelangen  können,  empfehlen 
wir  zu  aufmerksamer  Lectüre  den  merkwürdigen  „Essay  on  Classifica- 
tion'- des  geistvollen  Agassiz,  in  welchem  dieser  berühmte  Natur- 
forscher die  teleologische  Vorstellung  des  Schöpfers  und  der  Schöpfungs- 
Akte  dadurch  in  glänzendster  Weise  widerlegt,  dass  er  sie  bis  auf 
ihre  extremen  Consequenzen  verfolgt  und  ihre  unlöslichen  Widersprüche 
überall  lichtvoll  an  den  Tag  fördert. 

Eine  Schöpfung  der  Organismen  ist  mithin  theils  ganz  undenkbar, 
theils  aller  empirisch  erworbenen  Naturkenntniss  so  vollständig  zuwider 
laufend,  dass  wir  uns  zu  dieser  Hypothese  auf  keinen  Fall  entschliessen 
dürfen.  Es  bleibt  mithin  nichts  übrig,  als  eine  spontane  Entstehung 
der  einfachsten  Organismen,  aus  denen  sich  alle  vollkommneren  durch 
allmählige  Umbildung  entwickelten,  anzunehmen,  eine  Selbstformung 
oder  Selbstgestaltung  der  Materie  zum  Organismus,  welche  gewöhnlich 
Urzeugung  oder  Generatio  spontanea  (aequivoca)  genannt  wird. 

III.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea. 

Die  ursprüngliche  mechanische  Entstehung  oder  die  elternlose 
Zeugung  der  einfachsten  structurlosen  Organismen,  welche  wir  im 
folgenden  Abschnitt  als  Selbstzeugung  oder  Autogonie  näher  betrachten 
werden,  ist  nicht  oder  nur  theilweis  identisch  mit  den  verschiedenen 
Arten  der  freiwilligen  oder  Urzeugung,  welche  unter  dem  Namen  der 
Generatio  spontanea,  aequivoca,  heterogeuea,  originaria,  automatica, 
primitiva,  primigenia,  primaria  etc.  seit  so  langer  Zeit  und  mit  so  viel 
Interesse  discutirt  worden  sind.  Die  Vorstellungen  der  verschiedenen 
Naturforscher  über  jene  Urzeugung  sind  im  Allgemeinen  sehr  ver- 
schieden, stimmen  aber  doch  alle  darin  überein,  dass  durch  jenen 
Process  lebendige  Wesen  aus  der  nicht  belebten  (sogenannten  „todten") 
Materie,  durch  deren  innewohnende,  ureigene  Kraft,  ohne  Dazwischen- 
treten   einer  ausserhalb   der  Materie   stehenden  Schöpferkraft,  hervor- 


Organen  handelndes  Wirbelthier,  vorgestellt,  andererseits  als  ein  gasförmiger, 
also  organloser  Körper  (daher  auch  die  Ausdrücke;  Spiritus,  Pneuma,  Hauch 
des  Schöpfers,  Blasen  and  Wehen  seines  Odems  etc.).  Wir  gelangen  somit  zu 
der  paradoxen  Vorstellung  eines  gasförmigen  Wirbelthieres,  einer  (Jontradictio  in 
adjecto.  Im  Ganzen  gilt  VOD  diesen  wie  von  den  meisten  ähnlichen  anthropo- 
morphen  Vorstellungen  der  schöpferischen  Persönlichkeit  das  Umgekehrte  von 
dem,  was  die  Priester  sagen:  ,,Gott  schuf  den  Menschen  nach  seinem  Bilde." 
Es  müsste  vielmehr  beissen;  „Der  Mensch  schafft  Gott  nach  seinem  Bilde;"  oder 
wie  es  der  Dichter  in  dem  bekannten  Spruche  ausdrückt:  „In  seinen  Göttern 
malet  sich  der  Mensch!" 


III.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.  175 

gehen  sollen.  In  diesem  Sinne  also  können  wir  alle  diese  verschiede- 
nen Vorstellungen  zusammen  als  Hypothesen  von  der  Urzeugung 
(Generatio  spontanea)  den  so  eben  widerlegten  Hypothesen  von  der 
Schöpfung  (Creatio)  gegenüberstellen. 

Wie  nun  alle  die  mannichfaltigen  Schöpfungs -Hypothesen  sich  in 
drei  verschiedene  Gruppen  bringen  Hessen,  die  sich  mehr  oder  weniger 
von  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  entfernen,  so  können  wir  auch 
die  vielfältigen  Urzeugungs- Hypothesen  in  drei  verschiedene  Gruppen 
bringen,  welche  sich  mehr  oder  weniger  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntniss nähern,  und  von  denen  wir  nur  eine  einzige  als  die  für  uns 
unentbehrliche  Hypothese  auswählen  können. 

Nach  der  einen  Gruppe  der  Hypothesen  sind  von  jeder  Organismen- 
Art  oder  Species  zu  einer  gewissen  Zeit  oder  zu  verschiedenen  Zeiten 
der  Erdgeschichte  eines  oder  mehrere  Individuen  spontan  entstanden, 
als  deren  durch  unmittelbare  Fortpflanzung  entstandene  Nachkommen 
wir  alle  übrigen  Individuen  derselben  „Species"  anzusehen  hätten, 
welche  zu  irgend  einer  Zeit  der  Erdgeschichte  gelebt  haben  oder 
welche  noch  jetzt  leben.  Danach  wären  also  z.  B.  alle  einzelneu  In- 
dividuen des  Weinstocks,  des  Sperlings,  des  Menschen,  welche  jemals 
existirt  haben,  die  unmittelbaren  Nachkommen  eines  einzigen  oder  einer 
gewissen  Zahl  von  Individuen  des  Weinstocks,  des  Sperlings,  des  Men- 
schen ,  welche  entweder  einmal  (zu  einer  bestimmten  Zeit)  oder  zu 
wiederholten  Malen  spontan  entstanden  sind.  Diese  Hypothesen-Gruppe 
(bei  der  es  uns  hier  gleichgültig  ist,  ob  diese  Entstehung  nur  einmal 
stattfand  oder  sich  mehrmals  wiederholte,  ob  dabei  nur  ein  oder  zwei 
oder  mehrere  Individuen  entstanden,  ob  diese  ersten  Individuen  als 
Eier  oder  als  Erwachsene  entstanden  etc.)  schliesst  sich  am  nächsten 
an  die  vorher  erwähnte,  am  weitesten  verbreitete  Schöpfungs-Vorstel- 
lung an,  nach  welcher  von  jeder  Art  ein  Stammvater  oder  mehrere 
Ureltern  geschaffen  wurden;  sie  unterscheidet  sich  von  jener  Hypothese 
nur  dadurch,  dass  an  die  Stelle  des  schöpferischen  Planes  oder  Wil- 
lens die  blinde  Kraft  der  „todten"  Materie  tritt.  Sie  bedarf,  wie  jene, 
schon  desshalb  keiner  Widerlegung,  weil  sie  auf  dem  grundfalschen 
Dogma  von  der  Constanz  der  Species  fusst.  Aber  auch  abgesehen 
hiervon,  widerspricht  die  Vorstellung,  dass  so  hoch  organisirte  und  so  ver- 
wickelt gebaute  Organismen,  wie  es  die  höheren  Thiere  und  Pflanzen 
sind,  blos  durch  die  Kraft  nicht  organisirter  Materie  unmittelbar  ent- 
stehen können,  so  sehr  den  einfachsten  Erkenntnissen  und  den  be- 
kanntesten Thatsacken,  dass  sich  diese  Hypothese  niemals  eine  allge- 
meinere Anerkennung  hat  erringen  können. 

Die  zweite  Gruppe  der  Urzeugungs -Hypothesen  behauptet,  dass 
aus  vorhandener  organischer  Substanz,  lediglich  durch  die  organisirende 
Kraft  derselben,  niedere  Organismen,  Thier-  und  Pflanzen-Formen  von 


^76  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

sehr  einfacher  Organisation,  entstehen  können.  Hierher  gehört  die 
grosse  Mehrzahl  aller  Vorstellungen,  welche  sich  die  Naturforscher  der 
verschiedensten  Zeiten  über  die  Urzeugung  gebildet  haben.  Schon 
Aristoteles  behauptete,  dass  aus  warmem  Schlamme  oder  faulenden 
vegetabilischen  Substanzen  niedere  Thiere  (Würmer,  Insecten  etc.)  ent- 
stünden. Als  man  später  mit  dem  Mikroskop  die  Fülle  von  kleinen, 
dem  blossen  Auge  unsichtbaren  Organismen  entdeckte,  welche  alle  Ge- 
wässer bevölkern,  nahm  man  für  einen  grossen  Theil  dieser  kleinen 
Pflanzen  und  Thiere  eine  selbstständige  Entstehung  aus  der  zersetz- 
ten organischen  Substanz  an,  welche  von  abgestorbenen  Organismen 
geliefert  wird  und  in  allen  Gewässern  verbreitet  ist.  Diese  Vorstellung 
von  der  Generatio  aequivoca  wurde  um  so  mehr  befestigt  und  ver- 
breitet, als  man  bald  entdeckte,  dass  in  allen  Flüssigkeiten,  welche 
durch  Uebergiessung  (Infusion)  organischer  Substanzen  mit  Wasser 
bereitet  werden,  derartige  niedere  Thiere  und  Pflanzen  gleichzeitig  mit 
deren  Zersetzung  massenhaft  entstehen  (Infusorien,  Rotatorieu,  An- 
guillulen,  Pilze,  Algen,  vielerlei  Protisten).  Vorzüglich  wurde  diese 
Generatio  aequivoca  für  die  Eingeweidewürmer  und  andere  Organis- 
men angenommen,  deren  Entstehung  an  ihrem  abgeschlossenen  Wohn- 
orte auf  dem  Wege  der  gewöhnlichen  Zeugung  mau  sich  nicht  erklären 
konnte.  Als  nun  später  die  verwickelten  und  oft  unter  Wanderungen 
u.  dgl.  so  versteckten  Fortpflanzungsverhältnisse  dieser  Organismen 
entdeckt  wurden,  trat  ein  allgemeiner  Rückschlag  ein,  indem  man  nun 
hieraus  die  homogene  Fortpflanzung  für  alle  Organismen  deducirte 
und  die  Urzeugung  für  alle  Organismen  ohne  Ausnahme  bestritt.  Die- 
ser Satz  wurde  so  dogmatisch  verallgemeinert,  dass  der  „Glaube  an 
die  Generatio  aequivoca"  in  den  letzten  Decennien  fast  allgemein  für 
ein  Kriterium  einer  unwissenschaftlichen  biologischen  Richtung  galt. 
Wie  einseitig  dieser  Rückschlag  sich  entwickelte,  zeigen  am  deutlich- 
sten die  lebhaften  Streitigkeiten,  welche  in  den  letzten  Jahren  wiederum 
im  Schoosse  der  französischen  Akademie  geführt  wurden,  und  in  denen 
Pouch  et  für,  Pasteur  gegen  die  Generatio  aequivoca  eintrat. 

Für  die  uns  hier  beschäftigende  Frage  von  der  ersten  Entstehung 
der  organischen  Wesen  bat  diese  Form  der  sogenannten  Generatio 
aequivoca,  bei  welcher  sich  gewisse  niedere  Organismen  aus  vorhan- 
dener organischer  Substanz  entwickeln,  die  von  zersetzten  Organis- 
men herrührt,  gar  kein  Interesse  oder  doch  nur  einen  ganz  unterge- 
ordneten  Werth.1)     Denn   das  Vorhandensein   dieser  organischen  Sub- 


')  Als  unsere  rein  subjeetive  Ueberzeugung  in  dieser  Frage  wollen  wir  nur 
aussprechen,  dass  die  Urzeugung  oder  (Jeueratio  aequivoca  in  diesem  Sinne,  wie 
sie  von  den  aüermeisten  Naturforschern  verstanden  wird,  uus  durch  alle  bis- 
herigen Untersuchungen,  durch  alle  die  zahlreichen  Beobachtungen  und  Experi- 
mente,   keinesfalls    widerlegt,    aber    auch    uueh   nicht   bewiesen    erscheint.      Wir 


III.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.  177 

stanzen,  aus  denen  sich  spontan  Organismen  entwickeln  sollen,  setzt 
bereits  die  Existenz  anderer  (abgestorbener)  Organismen  voraus  und 
erklärt  uns  also  nicht  die  erste  spontane  Entstehung  lebender  Wesen. 
Abgesehen  hiervon  aber  ist  die  Art  und  Weise,  in  welcher  diese  Frage 
von  den  meisten  Autoren,  sowohl  Gegnern  als  Anhängern  der  Ur- 
zeugung discutirt  worden  ist,  eine  so  unwissenschaftliche,  dass  wir  hier 
ganz  darüber  hinweg  gehen  können. 

Wenn  wir  noch  beiläufig  einen  flüchtigen  Blick  auf  die  Art  und  Weise 
werfen,  in  welcher  diese  Generatio  aequivoca  von  zahlreichen  Naturforschern 
untersucht  und  discutirt  worden  ist,  so  tritt  uns  hier,  wie  immer  am  deut- 
lichsten in  solchen  allgemeinen  Fragen,  äusserst  auffallend  der  grosse  Mangel 
einer  streng  philosophischen  Methode  entgegen,  welchen  wir  oben  eingehend 
gerügt  haben.  Der  Mangel  an  allgemeiner  Uebersicht  des  Naturganzen  und 
an  philosophischer  Erfassung  desselben,  die  daraus  hervorgehende  Plan- 
losigkeit und  verkehrte  Fragestellung  an  die  Natur,  die  Inconsequenz  der 
Uutersuchungsmethoden  und  die  Fehlerhaftigkeit  der  Schlüsse  —  alle  diese 
Grundfehler  einer  falschen  oder  doch  einer  unvollkommenen  Methode  der 
Naturerkenntniss  treten  hier,  nur  oberflächlich  verdeckt  durch  eine  schein- 
bar vollkommen  „exacte"  Experimentalmethode,  in  so  auflallendem  Maasse 
hervor,  dass  es  uns  nicht  Wunder  nimmt,  wenn  hier  noch  gar  kein  Resultat, 
keine  positive  und  keine  negative  Entscheidung,  erreicht  ist. 

Was  die  experimentelle  Begründung  oder  Widerlegung  dieser  Generatio 
aequivoca  betrifft,  auf  welche  die  „exacte"-'  Schule  der  Neuzeit  so  grossen 
Werth  legt,  so  müssen  wir  in  erster  Liuie  hervorheben,  dass  eine  positive 
Widerlegung  dieser  Frage  dadurch  bisher  nicht  herbeigeführt,  aber  auch 
gar  nicht  möglich  ist.  Denn  was  beweisen  alle  diese  vielfachen  und 
wegen  ihrer  raffinirten  Complication  zum  Theil  so  bewunderten  Experimente 
(z.  B.  von  Pasteur  und  seinen  Genossen)  Anderes,  als  dass  unter  diesen 
oder  jenen,  äusserst  complicirten,  künstlichen  und  unnatürlichen  Bedingungen 
eine  mit  Flüssigkeit  infundirte  organische  Substanz  keine  Organismen  ge- 
liefert hat?  Kann  dies  irgend  etwas  Anderes  beweisen,  und  was  ist  mit 
diesem  Beweise  erreicht?  Unserer  Ansicht  nach  gar  Nichts!  Und  wenn 
man  diese  künstlichen  Experimente  vertausendfachte,  wenn  man  wirklich 
Bedingungen  herstellte,  die  den  in  der  freien  Natur  vorkommenden  ähnlicher 
wären,  und  wenn  hier  bei  Anwendung  aller  Vorsichtsmassregeln  niemals 
Organismen  in  der  Infusion  entständen ,  so  würde  damit  eben  immer  nur 
der  Beweis  geliefert  sein,  dass  unter  diesen  oder  jenen  ganz  bestimmten 
Bedingungen  keine  Organismen  in   einer  solchen  Infusion  entstehen.    Nie- 


halten dieselbe  als  noch  jetzt  existireud  für  möglich  und  wahrscheinlich,  jedoch 
nur  in  dein  ganz  beschränkten  Sinne,  dass  aus  solcher  nicht  orgauisirten  und 
homogenen  organischen  Substaüz  (die  aus  Zersetzung  anderer  Organismen  her- 
vorgegangen ist)  sich  zunächst  nur  ganz  einfache  homogene  Organismen  oder 
Moneren  (Vibrionen,  Protamoeben  etc.)  bilden  können.  Es  würde  diese  Form 
der  Urzeugung  sich  schon  unmittelbar  an  diejenige  anschliessen,  welche  wir  als 
Autogonie  sogleich  besprechen  werden. 

Haeckel,    Generelle  Morphologie.  12 


178  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

mals  aber  wird  dadurch  der  Beweis  geliefert  werden,  dass  eine  solche  Ge- 
neratio aequivoca  unter  keinen  Bedingungen  in  der  freien  Natur  möglich 
sei.  Niemals  wird  sich  dieselbe  in  dieser  Weise  experimentell  widerlegen 
lassen. 

Auf  der  anderen  Seite  müssen  wir  bemerken,  dass  uns  durch  die  bis- 
herigen Experimente  allerdings  auch  der  positive  Beweis  für  diese  Art  der 
Urzeugung  nicht  geliefert  zu  sein  scheint,  und  dass  dieser  überhaupt  sehr 
schwer  zu  liefern  sein  wird.  Denn  es  wird  sehr  schwer  sein,  diese  Experi- 
mente so  vollkommen  rein  anzustellen,  als  es  die  positive  Beantwortung 
dieser  Frage  erfordern  würde.  Wir  wissen  positiv,  dass  überall  Keime  or- 
ganischer Wesen  zerstreut  sind  (theils  eingetrocknete  Leiber  entwickelter 
Individuen,  z.  B.  von  Infusorien,  Räderthierchen,  vielen  Protisten  und  nie- 
deren Algen  und  Pilzen,  theils  Eier  und  Embryonen  solcher  Organismen), 
die,  in  Berührung  mit  Flüssigkeit  gebracht,  alsbald  wieder  zum  Leben 
erwachen;  wir  wissen,  dass  jeder  Windstoss  Tausende  solcher  leichter 
Keime  aus  den  austrocknenden  Gewässern  aufhebt,  und  überall  mit  sich 
herumführt;  wir  wissen,  dass  der  Schmutz  unserer  Strassen,  der  Staub 
unserer  Zimmer  massenhaft  solche  Keime  einschliesst  und  einschliessen 
niuss,  wir  wissen,  dass  viele  dieser  Keime  sowohl  hohen  Temperaturgraden, 
als  auch  zersetzenden  Flüssigkeiten  sehr  lange  Widerstand  leisten,  ohne 
ihre  Lebensfähigkeit  zu  verlieren,  und  es  wird  äusserst  schwer  sein,  auch 
bei  sorgfältigster  Handhabung  der  Instrumente,  jedwede  Verunreinigung 
mit  diesen  äusserst  leichten,  feinen  und  mikroskopisch  kleinen  Keimen  voll- 
ständig auszuschliessen,  so  vollständig,  dass  bei  einem  positiven  Erfolge 
des  Experiments  jeder  Zweifel  an  der  absoluten  Reinheit  der  Bedingungen 
verstummen  muss. 

Weiterhin  werden  gewöhnlich  als  solche  Organismen,  welche  in  der- 
gleichen Infusionen  entstehen,  ganz  kritiklos  unter  einander  sehr  einfache 
und  sehr  complicirt  gebaute  Organismen  genannt,  z.  B.  Vibrionen,  Monadeu, 
Rhizopoden,  Diatomeeu,  einzellige  Algen,  niedere  Pilze,  höhere  Algen  und 
Pilze,  Würmer,  Räderthierchen  etc.  Nun  ist  es  aber  klar,  dass  nur  die 
Entstehung  höchst  einfacher  und  nicht  hoch  diü'erenzirter  Organismen  auf 
diesem  Wege  denkbar  ist  und  dass  nur  die  geringe,  mikroskopische  Grösse, 
welche  allen  diesen,  sonst  so  verschieden  differenzirten  „Inlüsionstt-Organis- 
nien  gemein  ist,  zu  einer  collectiven  Zusammenfassung  derselben  verleitet 
hat.  Wollte  man  hier  scharf  und  klar  sehen,  so  müsste  man  die  einzelnen 
Organismen  aus  so  verschiedenen  Klassen  und  Organisationshöhen,  welche 
:nil'  diese  Weise  entstehen,  alle  einzeln  hinsichtlich  ihrer  Existenz-  und 
Entstehungs-Bedingungen  untersuchen,  und  würde  dann  linden,  dass  mir 
von  den  allerniedrigsten  und  einfachsten  Organismen,  entweder  von  den 
ganz  homogenen  und  structurlosen  Moneren  (Vibrionen,  Protamoeben  etc.) 
oder  doch  höchstens  von  solchen,  deren  Körper  noch  nicht  die  Höhe  einer 
differenzirten  Zelle  erreicht  hat,  eine  solche  spontane  Entstehung  zu  erwar- 
ten ist. 

Endlich  aber,  und  dies  ist  hier  vor  Allem  hervorzuheben,  ist  mit  Con- 
statirung  der  Thatsache  wenig  gewonnen,  dass  sich  niedere  Organismen 
aus  solchen  organischen  Substauzeu  entwickeln,  welche  vou  anderen,  schon 


III.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.  179 

ciagewesenen  Organismen  herrühren.  Hierdurch  kann  niemals  die  erste 
Entstehung  des  Lebens  auf  der  Erde  erklärt  werden.  Die  erste  spontane 
Entstehung  jener  einfachsten,  homogenen  Urwesen,  aus  denen  sich  alle 
übrigen  durch  Differenzirung  und  natürliche  Züchtung  allmählig  entwickelt 
haben,  lässt  sich  vielmehr  einzig  und  allein  durch  eine  dritte  und  letzte 
Urzeugungshypothese  erklären,  welche  den  unmittelbaren  Uebergang  anorga- 
nischer Substanz  in  individualisirte  organische  Substanz  behauptet,  ein  Pro- 
cess,  der  der  Krystallisation  der  Anorgane  durchaus  analog  ist.  Diese  Ur- 
zeugung, welche  also  von  der  gewöhnlich  angenommenen  Generatio  aequi- 
voca  wesentlich  verschieden  ist,  wollen  wir  als  Selbstzeugung  oder  Autogouie 
hier  besonders  in  Erwägung  ziehen. 

IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie. 

Die  Hypothese  der  Selbstzeugung  oder  Autogonie  fordert,  dass 
die  äusserst  einfachen  und  vollkommen  homogenen,  structurlosen  Or- 
ganismen (Moneren),  welche  wir  als  die  Stammformen  aller  übrigen, 
durch  Differenzirung-  daraus  hervorgegangenen  zu  betrachten  haben, 
unmittelbar  aus  dem  Zusammentritt  von  Stoffen  der  anorganischen  Na- 
tur in  ähnlicher  Weise  sich  in  einer  Flüssigkeit  gebildet  haben,  wie  es 
bei  der  Bildung  von  Krystallen  in  der  Mutterlauge  der  Fall  ist. 

Von  den  so  eben  betrachteten  Formen  der  Urzeugung  oder 
Generatio  aequivoca  (spontanea  etc.)  wie  sie  gewöhnlich  vorgestellt 
und  besprochen  werden,  unterscheidet  sich  unsere  Selbstzeugung  oder 
Autogonie  wesentlich  dadurch,  dass  dort  organische  Materien  (compli- 
cirtere  Kohlenstoff -Verbindungen),  welche  von  zersetzten  Organismen 
herrühren,  hier  dagegen  nur  sogenannte  anorganische  Materien  (d.  h. 
einfachere  Verbindungen)  vorausgesetzt  werden,  aus  denen  sich  zu- 
nächst verwickeitere  Kohlenstoff -Verbindungen,  und  hieraus  unmittel- 
bar organische  Individuen  einfachster  Art  (Moneren)  hervorbildeten. 
Uns  erscheint  diese  Annahme  für  das  Verständniss  der  gesammten 
organischen  Natur  vollkommen  unentbehrlich,  weil  sie  die  einzige 
grosse  Lücke  ausfüllt,  welche  bisher  in  der  gesammten  Entwickelungs- 
geschichte  der  Erde  und  ihrer  Bewohner  bisher  noch  bestanden  hat. 
Wir  müssen  diese  Hypothese  als  die  unmittelbare  Consequenz  und  als 
die  nothwendigste  Ergänzung  der  allgemein  angenommenen  Erdbil- 
dungs-Theorie  von  Kant  und  Laplace  hinstellen,  und  finden  hierzu  in 
der  Gesammtheit  der  Naturerscheinungen  eine  so  zwingende  logische 
Notwendigkeit,  dass  wir  desshalb  diese  Deduction,  die  Vielen  sehr 
gewagt  erscheinen  wird,  als  unabweisbar  bezeichnen  müssen. 

Bekanntlich  behauptet  die  Erdbildungs- Theorie,  welche  zuerst  Kant 
in  seiner  „allgemeinen  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  auf- 
stellte, und  welche  später  (unabhängig  von  Kant)  Laplace  in  seiner 
„Exposition   du  systöme  du  nionde"  ausführlich  begründete,  dass  unser  ge- 

12* 


180  Schöpfung  und  Selbstzeuguug. 

samflater  Erdkörper  iu  früherer  Zeit  vermöge  eines  sehr  hohen  Hitzegrades 
sich  in  gasförmigem  Aggregatzustande  befunden  halte,  und  dass  dann  dieser 
ungeheure  Gasball,  in  Folge  allmähliger  Abkühlung,  in  den  feurig-flüssigen 
Zustand  übergegangen  sei.  Durch  weitere  Abgabe  beträchtlicher  Wärme- 
massen an  den  kalten  Weltraum  erkaltete  der  feurig-flüssige  Ball,  welcher 
durch  beständige  Rotation  um  seine  Axe  die  Sphaeroid  -  Form  annahm, 
immer  mehr  und  es  ging  zuletzt  die  Rinde  desselben  aus  dem  flüssigen  in 
den  festen  Aggregatzustand  über,  während  der  von  dieser  Rinde  umschlos- 
sene Kern  in  geschmolzenem  Zustande  im  Innern  zurückblieb.  Erst  nach- 
dem die  Rinde  der  Erde  sich  bis  zu  einem  solchen  Grade  abgekühlt  hatte, 
dass  der  in  der  Atmosphäre  ringsum  suspendirte  Wasserdampf  sich  in 
tropfbar-flüssiger  Form  niederschlagen  konnte,  wurde  die  Erdrinde  bewohn- 
bar, wurde  es  möglich,  dass  belebte  Naturkörper  auf  derselben  auftraten, 
wurde  es  möglich,  dass  Leben  entstand. 

Diese  Theorie  der  Erdbildung,  welche  von  Kant  und  Laplace  auf 
die  einfachsten  Gesetze  der  Anziehung  und  Abstossung  der  Materie  zurück- 
geführt und  dadurch  ebenso  fest  als  einfach  causal  begründet  wurde,  stimmt 
mit  allen  unseren  empirischen  Kenntnissen,  allen  Erfahrungen  vom  Bau  und 
von  der  Entwickelung  der  Erde  so  vollständig  überein,  dass  sie  von  allen 
Naturforschern  ausnahmslos  angenommen  ist.  Nun  folgt  aber  hieraus  un- 
mittelbar als  die  erste,  notwendigste  und  für  uns  wichtigste  Consequenz, 
dass  das  Leben  auf  der  Erde  zu  irgend  einer  Zeit  einen  Anfang 
hatte,  oder  dass,  mit  anderen  Worten,  in  irgend  einem  Zeitpunkt  zum 
ersten  Male  anorganische  Substanz  in  organische  überging  und  sich  zugleich 
in  Form  von  Organismen  individualisirte.  Diese  Folgerung,  welche  wir  hier 
als  die  unentbehrliche  Hypothese  von  der  Autogonie  oder  Selbst- 
zeugung näher  formuliren  und  begründen  wollen,  erscheint  uns  so  unab- 
weisbar nothwendig,  dass  wir  dieselbe  unbedingt  annehmen  müssen  und 
uns  zunächst  nur  zu  verständigen  haben  werden  über  die  mögliche  Art 
und  Weise  dieses  Processes  und  über  die  Natur  der  daraus  hervorgegange- 
nen Organismen,  über  welche  directe  Erfahrungskenntnisse  uns  nicht  zu 
Gebote  stehen. 

Hier  kommen  wir  nun  zurück  auf  die  wichtigen  allgemeinen  Resultate 
des  vorhergehenden  Kapitels,  in  welchem  wir  zu  zeigen  versucht  haben, 
dass  die  Differenz  zwischen  den  Organismen  und  den  Anorganen  nicht  so 
gross,  und  vor  Allem  nicht  so  absolut  ist,  wie  dies  gewöhnlich  hingestellt 
wird.  Wie  dort  nachgewiesen  wurde,  unterscheiden  sich  die  vollkommensten 
anorganischen  Individuen,  die  Krystalle,  von  den  unvollkommensten  orga- 
nischen Individuen,  den  Moneren,  wesentlich  hinsichtlich  ihrer  stofflichen 
Zusammensetzung  dadurch,  dass  die  Atome  der  Elemente  dort  vorwiegend 
zu  einfacheren  („binären"),  hier  dagegen  durch  Einwirkung  des  Kohlen- 
stoffs zu  sehr  complicirten  und  leicht  zersetzbaren  Verbindungen  vereinigt 
auftreten;  und  dass  der  Aggregatzustand  der  Materie  dort  ein  fester,  hier 
ein  lestflüssiger  ist.  Hieraus  folgt  dann  unmittelbar,  dass  der  Krystall  Hin- 
durch Apposition  von  aussen  wachsen,  und  also  auch  nur  äusserlich  sich 
anpassen  und  verändern  kann,  während  das  Moner  durch  Iutussusception 
nach  innen  hinein  wachsen,  und  also  auch  innerlich  sicli  anpassen  uud  ver- 


IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.  181 

ändern  kann.  Zugleich  folgt  aus  der  complicirteren  atomistisehen  Zusam- 
mensetzung und  der  Imbibitidnsfähigkeit  auch  der  einfachsten  organischen 
Individuen,  dass  ihre  Theilchen  beständig  ihre  gegenseitige  Lage  ändern 
können,  was  bei  dem  festen  Krystall  nicht  möglich  ist,  und  dass,  wenn  das 
organische  Individuum  über  ein  bestimmtes  individuelles  Maass  hinaus  ge- 
wachsen ist,  es  sich  in  zwei  Individuen  theilen,  sich  fortpflanzen  kann,  was 
bei  dem  festen  Krystall  ebenfalls  nicht  möglich  ist. 

Zweifelsohne  haben  wir  uns  also  den  Akt  der  Autogonie,  der  ersten 
spontanen  Entstehung  einfachster  Organismen  ganz  ähnlich  zu  denken,  wie 
den  Akt  der  Kiystallisation.  In  einer  Flüssigkeit,  welche  die  den  Organis- 
mus zusammensetzenden  chemischen  Elemente  gelöst  enthält,  bilden  sich  in 
Folge  bestimmter  Bewegungen  der  verschiedenen  Moleküle  gegen  einander 
bestimmte  Anziehungsmittelpunkte,  in  denen  Atome  der  organogenen  Ele- 
mente (Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Wasserstoff,  Stickstoff)  in  so  innige  Berüh- 
rung mit  einander  treten,  dass  sie  sich  zur  Bildung  coinplexer,  „ternärer 
und  quaterhärer"  Moleküle  vereinigen.  Diese  erste  organische  Atomgruppe, 
vielleicht  ein  Eiweiss-Molekül,  wirkt  nun,  gleich  dem  analogen  Kernkrystall, 
anziehend  auf  die  gleichartigen  Atome,  welche  in  der  umgebenden  Mutter- 
lauge gelöst  sind,  und  welche  nun  gleichfalls  zur  Bildung  gleicher  Moleküle 
zusammentreten.  Hierdurch  wächst  das  Eiweisskörnchen,  und  gestaltet  sich 
zu  einem  homogenen  organischen  Individuum,  einem  structurlosen  Moner 
oder  Plasmaklumpen  (einem  isolirten  Gymnocytoden) ,  gleich  einer  Prota- 
moeba  etc.  Dieses  Moner  neigt,  vermöge  der  leichten  Zersetzbarkeit  sei- 
ner Substanz,  beständig  zur  Auflösung  seiner  eben  erst  consolidirten  Indi- 
vidualität hin,  vermag  aber,  indem  die  beständig  überwiegende  Aufnahme 
neuer  Substanz  vermöge  der  Imbibition  (Ernährung)  das  Uebergewicht  über 
die  Zersetzungsneigung  gewinnt,  durch  Stoffwechsel  sich  am  Leben  zu  er- 
halten. Das  homogene  organische  Individuum  oder  Moner  wächst  nur  so 
lange  durch  Intussusceptiou,  bis  die  Attractionskraft  des  Centrums  nicht 
mehr  ausreicht,  die  ganze  Masse  zusammen  zu  halten.  Es  bilden  sich,  in 
Folge  der  überwiegenden  Divergenzbewegungen  der  Moleküle  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin,  nun  in  dem  homogenen  Plasma  zwei  oder  meh- 
rere neue  Anziehungsmittelpuncte,  die  nun  ihrerseits  anziehend  auf  die  in- 
dividuelle Substanz  des  einfachen  Moneres  wirken,  und  dadurch  seine  Thei- 
lung,  seinen  Zerfall  in  zwei  oder  mehrere  Stücke  herbeiführen  (Fortpflanzung). 
Jedes  Theilstück  rundet  sich  alsbald  wieder  zu  einem  selbstständigen 
Eiweissindividuum  oder  Plasmaklumpen  ab  und  es  beginnt  nun  das  ewige 
Spiel  der  Anziehung  und  Abstossung  der  Moleküle  von  Neuem,  welches 
die  Erscheinungen  des  Stoffwechsels  oder  der  Ernährung  und  der  Fort- 
pflanzung vermittelt. 

Wir  haben  hier  absichtlich  den  denkbar  einfachsten  Fall  der  Autogonie 
eines  Moneres  hingestellt,  welcher  der  Krystallisation  eines  Anorganes  offen- 
bar am  nächsten  steht;  denn  in  beiden  Fällen  führen  zur  Bildung  des  in 
sich  homogenen  individuellen  Naturkörpers  molekulare  Bewegungen  inner- 
halb einer  Flüssigkeit  (organisches  „Cytoblastem",  anorganische  „Mutter- 
lauge"), welche  die  zur  Bildung  des  Individuums  unentbehrlichen  Stoffe  gelöst 
enthält.     In  beiden  Fällen  entsteht,  in  Folge  des  Ueberwiegens  bestimmter 


182  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

Molekularbewegungen  (Anziehungen  und  Abstossungeu)  über  die  anderen, 
in  der  Bildungsflüssigkeit  ein  Anziehungsmittelpimkt  (erstes  Plasmaklünip- 
chen,  erster  Krvstallkeru),  welcher  nun  einfach  anziehend  auf  die  in  der 
umgebenden  Flüssigkeit  gelösten  gleichartigen  Stoffe  wirkt,  und  dieselben 
sowohl  nöthigt,  zu  den  complexen  Molekülen  zusammenzutreten  ,  als  auch 
den  flüssigen  Aggregatzustand  zu  verlassen.  Hier  nun  tritt  erst  die  Diffe- 
renz des  organischen  und  des  anorganischen  Individuums  hervor,  indem  das 
erstere  blos  in  den  festflüssigen  Zustand  übergeht,  und  dadurch  die  Imbi- 
bitionsfähigkeit  und  die  damit  verbundene  Beweglichkeit  der  Moleküle  erhält, 
welche  die  Erscheinungen  der  Ernährung  und  Fortpflanzung  ermöglicht, 
wogegen  das  anorganische  Individuum  in  den  festen  Zustand  übergeht,  und 
nunmehr  blos  noch  äusserlich  sich  verändern,  durch  Apposition  von  aussen 
wachsen  kann. 

Fragen  wir  nun,  wie  wohl  die  ersten  und  denkbar  einfachsten  Orga- 
nismen beschaffen  gewesen  sein  mögen,  welche  zuerst  auf  unserer  erkalteten 
Erdrinde  in  dem  eben  erst  aus  der  heissen  Dampf-  Atmosphäre  durch  die 
fortschreitende  Abkühlung  niedergeschlagenen  Urmeere  sich  gebildet  haben, 
so  können  wir  uns  keine  einfacheren  organischen  Individuen  denken,  als  es 
die  eben  beschriebenen  Moneren  sind,  vollkommen  homogene  Plasmaklum- 
pen, welche  noch  keine  bestimmte  Form  besitzen,  deren  ganzer  Körper 
nach  allen  Richtungen  hin,  vermöge  der  Bewegungen  seiner  leicht  verschieb- 
baren Moleküle,  seine  äusseren  Umrisse  wechseln  und  formlose  Fortsätze 
(Pseudopodien)  ausstrecken  kann,  welche  seine  Ortsbeweguug  und  Theilung 
vermitteln. 

Die  Annahme  der  ersten  spontanen  Entstehung  eines  Organismus  in 
einer  Bildungsflüssigkeit  konnte  früherhin  nur  so  lange  als  undenkbar  oder 
doch  nur  sehr  schwer  denkbar  bezeichnet  werden,  als  man  solche  einfache 
structurlose  Organismen  oder  Moneren,  wie  die  eben  geschilderten  sind, 
nicht  kannte.  Gegenwärtig  kennen  wir  die  Existenz  dieser  vollkommen 
homogenen  und  structurlosen  Organismen,  einfacher  individualisirter  Eiweiss- 
kluinpen,  durch  die  Beobachtung.  Wir  kennen  die  durchaus  homogene 
Protamoeba,  einen  formlosen  gleichartigen  Plasmaklumpen  ohne  alle 
Differenzirung,  welcher  kurze,  stumpfe,  nicht  verschmelzende  Fortsätze 
(Pseudopodien)  aus  seiner  eiweissartigen  Körpermasse  vorstreckt  und  sich 
damit  bewegt,  und  welcher  sich,  wenn  er  eine  bestimmte  Grösse  durch  Wachs- 
thuin  erreicht  hat,  durch  Theilung  vermehrt.  Wir  kennen  den  viel  grösseren 
Protogenes  pritnordialie  und  den  Proktogenes  porrecfus  (Amoeba 
porrecta,  Schnitze),  rhizopodenartige  formlose  Organismen,  deren  ganzer 
Körper  ebenfalls  eine  durchaus  homogene  Eiweissmasse  repräsentirt,  deren 
Peripherie  in  zahlreiche  feine  verschmelzende  Fäden  ausstrahlt,  und  die 
sich  ebenfalls  durch  Theilung  vermehren.  Wir  keimen  lerner  den  äusserst 
wichtigen  Rhizopoden-Stamm,  die  Klassen  der  Acyttarien  und  Radiolarieu, 
bei  denen  ein  gleicher,  einfacher,  vollkommen  structurloser  Körper  im 
Stande  ist,  durch  Ausscheidung  von  kohlensaurem  Kalk  und  von  Kieselerde 
die  inannichfaltigsten,  coinplicirtesteu  uud  zierlichsten  SkcletbUdungen  zu 
Stande  zu  bringen.  Wir  kennen  endlich  die  Amoeben,  einfache  Protoplasten, 
welche  sich  nur  durch  den  Besitz  eines  Kernes  und  einer  contractilen  Blase 


IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.  183 

von  den  ganz  homogenen  Protamoeben  unterscheiden ;  und  in  den  Arcelliden 
haben  wir  Ainoeben,  welche  trotz  dieser  Einfachheit  im  Stande  sind,  sich 
eine  complicirte  Schale  zu  bilden.  Sobald  in  diesen  homogenen  Plasma- 
klumpen, wie  sie  als  Moneren  isolirt  leben,  ein  Kern  auftritt,  so  ist  aus 
der  Cytode  eine  Zelle  geworden,  und  wir  werden  dadurch  in  das  weite 
Gebiet  der  zahlreichen  einzelligen  Organismen  hinübergeführt,  von  denen  aus 
nun  die  Entwickelung  der  complicirteren  mehrzelligen  Organismen  auf  dem 
Wege  der  Differenzirung  und  der  natürlichen  Züchtung  keine  Schwierigkeit 
mehr  hat. 

Nach  unserer  Ansicht  muss  nothwendig  der  erste  Ursprung,  die 
spontan  entstandene  Stammform  aller  Organismen,  welche  jemals  die 
Erde  belebt  haben  und  welche  sie  noch  jetzt  beleben,  in  solchen  ein- 
fachsten Moneren  gesucht  werden,  formlosen  lebenden  Eiweissklumpen 
von  durchaus  gleichartiger,  homogener  Beschaffenheit,  gleich  den  Prot- 
amoeben und  Protogeniden,  aus  denen  sich  erst  später  Zellen 
durch  Differenzirung  von  innerem  Kern  und  äusserem  Plasma  entwickelt 
haben.  Wie  wir  uns  aus  einem  solchen  ganz  einfachen  imbibi- 
tionsfähigen  Eiweissklümpchen  durch  Differenzirung  von  Kern  und 
Plasma  und  späterhin  auch  von  Membran  zunächst  eine  Urzelle,  dann 
eine  Hautzelle  hervorgehend  denken  können,  hat  bereits  Schwann  so 
trefflich  gezeigt,  dass  wir  hier  einfach  auf  seine  allbekannte  Theorie 
von  der  spontanen  Zellenbildung  innerhalb  des  Cytoblastems  verweisen 
können. 

Wir  nehmen  also  an,  dass  die  ältesten,  spontan  entstandenen  Or- 
ganismen, aus  denen  sich  alle  übrigen  im  Laufe  der  Zeit  durch  Diffe- 
renzirung und  natürliche  Züchtung  im  Kampfe  um  das  Dasein  ent- 
wickelt haben  (gleich  viel,  ob  es  eins  oder  mehrere  oder  viele  waren), 
solche  vollkommen  homogene,  structurlose,  formlose  Eiweissklumpen 
oder  Moneren,  gleich  einer  Protamoeba  waren,  welche  aus  dem 
Urmeere  durch  Zusammenwirken  rein  physikalischer  und  chemischer 
Bedingungen,  durch  molekulare  Bewegungen  der  Materie  in  ganz 
gleicher  Weise  entstanden,  wie  der  Kry  stall  in  seiner  Mutterlauge  ent- 
steht. Rein  physikalisch-chemische  Ursachen  mussten  die  Bildung  einer 
quaternären  Kohlenstoffverbindung ,  durch  den  Zusammentritt  von 
Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Wasserstoff  und  Stickstoff  (vielleicht  auch  noch 
Schwefel)  bewirken,  und  diese  Verbindung  (welche  wir  aller  Analogie 
nach  als  einen  Eiweisskörper  betrachten  müssen)  musste  sich  individua- 
lisiren,  indem  die  Cohäsion  ihrer  imbibitionsfähigen  Substanz  nur  bis 
zu  einer  gewissen  Grenze  das  Wachsthum  durch  Assimilation  gleicher 
Substanz  (Ernährung)  gestattete;  sobald  diese  Grenze  überschritten 
wurde,  bildeten'  sich  in  dem  durch  ein  Attractionscentrum  zusammen 
gehaltenen  Individuum  zwei  oder  mehrere  Attractionscentra,  welche 
nun  die  Ursache  zum  Zerfall  des  einen  Individuums  in  mehrere,  zu- 
Fortpflanzung wurden.     Indem   der   Erblichkeit   des   Wesens,    welche 


Ig4  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

durch  diese  immittelbare  Continuität  der  Materie  von  elterlichem  und 
kindlichem  Urorganismus  bedingt  wurde,  andererseits  die  Einwirkung 
der  äusseren  Umgebung  als  Anpassung  entgegen  wirkte,  indem  das 
Mouer  im  Laufe  von  Generationen  sich  demgemäss  wirklich  anpasste 
und  differenzirte  (z.  B.  eine  festere  Hülle  ausschied,  im  Innern  sich 
als  Kern  cousolidirte  etc.),  wurde  es  entwickelungsfähig.  Nachdem 
erst  einmal  durch  Differenzirung  von  Plasma  und  Kern  aus  dem  Moner, 
aus  dem  homogenen  Oytoden,  eine  Zelle  geworden,  war  damit  zugleich 
die  Möglichkeit  der  organischen  Entwickelung  zu  den  unendlich 
mannichfaltigen  Formen  gegeben,  von  denen  uns  die  empirische  Beob- 
achtung noch  jetzt  handgreiflich  zeigt,  wie  sie  aus  dem  einzelligen 
Anfangszustande  der  allermeisten  organischen  Individuen  im  Laufe 
ihrer  embryologischen  Entwickelung  in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit 
hervorgehen. 

Wir  nehmen  mithin  ferner  an,  dass  zellige  Organismen,  sowohl 
einzellige  als  mehrzellige,  nicht  spontan,  durch  Autogonie,  entstanden, 
sondern    vielmehr  erst   später,    durch   Differenzirung  von  Plasma  und 
Kern,  aus  den  wirklich  autogonen  Moneren  sich  hervorbildeten,  aus  den 
individualisirten  formlosen  Klumpen    einer   Eiweissverbindung,    deren 
striicturloser    Körper    noch    keine    Differenz     des    äusseren    wasser- 
reicheren Plasma  und  des  inneren  festeren  Kerns  zeigte.     Viele. Ge- 
nerationen von  Moneren,  gleich  den  Protamoeben,  mögen  Jahrtausende 
lang  das  LTrmeer,  welches  unsern  abgekühlten  Erdball  (wahrscheinlich 
als  eine  vollständige  Wasserhülle)  umschloss,  bevölkert  haben,  ehe  die 
Differenzirung  der  äusseren  Lebensbedingungen,  denen  sich  diese  homo- 
genen   Urwesen    anpassten,    auch    eine   Differenzirung    ihres    eigenen 
gleichartigen  Eiweiss-Leibes  herbeiführte.     Wahrscheinlich  bildeten  sich 
zunächst  aus  den  einzelnen  Moneren,  indem  das  dichtere  Centrum  als 
Kern    sich    von    der   weniger   dichten  Peripherie   des    dünnflüssigeren 
Plasma  trennte,  zunächst  nur  einzellige  Individuen.     Verinuthlich  erst 
viel   später    gingen    aus    diesen   einzelligen  Lebensformen   mehrzellige 
hervor,  indem  die  Theilung,  durch  welche  sich  die  einzelligen  Urwesen 
(Protisten)  fortpflanzten,  bisweilen  unvollständig  erfolgte,   so   dass  die 
beiden  oder    mehreren  Theilproducte  des  Individuums  zusammenblie- 
ben, und  somit  einen  ersten  Individuenstock  (Zellenstock)  oder  ein  ein- 
fachstes Individuum   zweiter  Ordnung  bildeten.     Indem  dann  die  ein- 
zelnen gleichartigen    Zellen  oder    Individuen   erster   Ordnung,   die   in 
einem  solchen  Stock  vereinigt  waren  (in  ähnlicher  Weise,  wie  bei  sehr 
vielen   niederen  Algen)    sich    differenzirten ,    und  im   Kampfe   um   das 
Dasein  durch  natürliche  Züchtung  vervollkommnet  wurden,  entwickel- 
ten sich  daraus  differente  Zellenstöcke  oder  Individuen  höherer  Ordnung, 
welche  nun  ihrerseits  wieder  zur  Bildung  von  Individuen  nach  höherer 
Ordnung  zusammentreten  konnten.    Wie  dieser  Vorgang  sich  alhnählig 


IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.  185 

gestaltet  haben  mag,  werden  wir  weiter  unten   zu  erklären  versuchen. 
Theilweis  zeigt  es  uns  die  Embryologie. 

Wir  nehmen  endlich  an,  dass  alle  jetzt  lebenden  Organismen- 
Formen  und  alle,  welche  jemals  die  Erde  bewohnt  haben,  die  Nach- 
kommen einer  geringen  Anzahl  verschiedener  Moneren  sind,  und  dass 
jede  der  Hauptgruppen  der  Organismen -Welt,  welche  wir  unter  dem 
Namen  Stamm  oder  Phyton  als  eine  zusammengehörige  genealogische 
Einheit  aufstellen,  einer  besonderen  Moneren-Art  ihre  Entstehung  ver- 
dankt. Wir  nehmen  also  z.  B.  eine  bestimmte  Moneren -Art  als  die 
gemeinsame  Stammform  aller  Wirbelthiere  an,  eine  andere  als  die  ge- 
meinsame Stammform  aller  Coel enteraten,  eine  andere  als  die  gemein- 
same Stammform  aller  Diatomeen  etc.  Nach  unserer  Ansicht  ist  es 
das  Wahrscheinlichste,  dass  jeder  dieser  Hauptstämme  oder  Phyton 
des  Thier-  und  Pflanzenreichs  sich  aus  einer  eigenen  Moneren-Stamm- 
form entwickelt  habe,  (wofür  unten  die  Gründe  angeführt  werden 
sollen),  wodurch  wir  jedoch  keineswegs  die  Möglichkeit  ausschliessen 
wollen,  dass  alle  diese  verschiedenen  Moneren  ihre  Verschiedenheit 
erst  durch  Differenzirung  aus  einer  einzigen  gemeinsamen  Ur-Moneren- 
form  erlangt  haben.  Fragen  wir  nach  der  Verschiedenheit  der  ver- 
schiedenen Moneren,  so  kann  diese,  da  wir  uns  alle  Moneren  als 
durchaus  homogene  und  formlose  Eiweiss-Individuen  (Plasma-Klumpen) 
vorstellen,  nur  gefunden  werden  in  leichten  Differenzen  der  chemischen 
Zusammensetzung,  an  denen  ja  gerade  die  Eiweisskörper,  die  allen 
analytischen  Bemühungen  der  Chemiker  so  standhaft  Trotz  bieten,  so 
ausserordentlich  reich  sind.  Vielleicht  waren  es  ganz  geringe  Differenzen 
in  den  Mischungsverhältnissen  der  zusammensetzenden  Grundstoffe,  und 
besonders  des  Kohlenstoffs,  vielleicht  unbedeutende  Beimischungen  von 
Schwefel  oder  von  Phosphor,  oder  von  verschiedenen  Salzen  (wie  wir 
sie  in  so  räthselhafter  und  unbestimmter  Weise  bei  so  vielen  Eiweiss- 
körpern  vorfinden),  welche  die  physiologischen  Differenzen  der  ver- 
schiedenen Moneren,  und  damit  die  Verschiedenheit  der  aus  ihnen  sich 
entwickelnden  Stämme  bedingten,  welche  nachher  als  Stockpflanzen, 
Diatomeen,  Rhizopoden,  Coelenteraten,  Wirbelthiere  etc.  so  weit  aus 
einandergingen. 

Indem  wir  hier  zum  ersten  Male  den  gewagten  Versuch  unternehmen, 
eine  Hypothese  der  Autogonie  in  ihren  allgemeinsten  Grundzügen  aufzu- 
stellen, sind  wir  uns  der  damit  verbundenen  Gefahren  wohl  bewusst,  und 
vermeiden  es  absichtlieh,  auf  diesem  noch  gänzlich  unbetretenen  Gebiete 
der  Naturerkenntnis s  unsere  subjectiven  Vorstellungen  näher  zu  präcisiren. 
Wir  sind  aber  zu  diesem  Versuche  ebenso  berechtigt  als  verpflichtet  durch 
die  mit  unserem  Erkenntnissvermögen  unzertrennlich  verbundene  und  be- 
ständig tief  empfundene  Notwendigkeit,  die  weit  klaffende  Lüekc,  welche 
zwischen  der  allgemein  angenommenen  Erdbüdungs-Theorie  von  Kant  uud 


236  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

Laplace  und  der  ebenso  sicher  begründeten  Entwickelungstheorie  der 
Organismen  von  Lamarck  und  Darwin  besteht,  durch  eine  Hypothese 
auszufüllen,  welche  wenigstens  den  ersten  Versuch  macht,  das  uns  bis  jetzt 
bekannte   werthvolle   empirische  Material  in  dieser  Richtung  zu  verwerthen. 

Vor  Allem  legen  wir  hier  das  grösste  Gewicht  auf  die  richtige  Ver- 
werthung  der  einfachen  niederen  Organismen  des  Protisten-Reiehes,  welche 
noch  nicht  einmal  den  Werth  einer  Zelle  erreicht  haben,  und  welche  uns 
in  der  That  entweder,  wie  Protogenes  und  Protamoeba  das  noch 
jetzt  existirende  Bild  eines  vollkommen  homogenen  und  structurlosen,  nicht 
differeiizirten  Organismus  vor  Augen  führen,  oder,  wie  die  Rhizopoden,  das 
Bild  eines  Organismus,  bei  dem  entweder  der  ganze  Körper  oder  doch  der 
grösste  Theil  desselben  aus  einem  vollkommen  homogenen  Plasma  besteht, 
und  bei  welchem  trotzdem  diese  nicht  differenzirte  Eiweissmasse  die  Fähig- 
keit besitzt,  die  complicirtesten  und  regelmässigst  geformten  Skeletbiklungen 
von  Kalk-  oder  Kiesel-Erde  auszuscheiden.  Offenbar  hat  uns  die  Erkennt- 
niss  dieser  einfachsten  Organismen,  welche  den  letzten  Decennien  angehört, 
einen  ungeheuer  grossen  Schritt  weiter  geführt  in  dem  biologischen  Ver- 
ständniss  des  Natur -Ganzen  und  speciell  in  der  causal- mechanischen  Auf- 
fassung derjenigen  Vorgänge,  welche  sich  bisher  am  meisten  dieser  Auf- 
fassung entzogen,  der  Vorgänge  der  Selbstzeugung  und  Entwickelung. 

Für  unsere  subjective  Auffassung  hat  die  Annahme,  dass  sich  in  einem 
mit  Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Wasserstoff  und  Stickstoff  in  verschiedenen 
Verbindungen  (z.  ß.  als  kohlensaures  Ammoniak)  geschwängerten  und  noch 
dazu  mit  Auflösungen  verschiedener  wichtiger  (namentlich  schwefelsaurer 
und  salpetersaurer)  Salze  versetzten  Wasser,  durch  Zusammentreten  dieser 
Verbindungen  zu  Eiweissmolekülen  spontan  solche  homogene  Organismen, 
wie  die  Moneren,  bilden  können,  keine  Schwierigkeit.  Doch  wird  sich  diese 
Auffassung  erst  allgemeinere  Geltung  erwerben,  wenn  man  anfangen  wird, 
sich  allgemeiner  und  eingehender  mit  diesen  einfachsten  und  unvollkommen- 
sten Lebensformen  zu  beschäftigen,  die  in  so  auffallender  Weise  von  allen 
differenzirten  Organismen  abweichen  und  sich  in  mehrfacher  Beziehung  mehr 
den  anorganischen  Individuen  nähern.  Wir  sind  aber  bisher  immer  so  aus- 
schliesslich gewöhnt  gewesen,  nur  den  höheren  und  stark  differenzirten  Or- 
ganismen unsere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  dass  vor  Allem  eine  allge- 
meinere und  intensivere  Erforschung  dieser  niedersten  Lebenskreise,  der 
verschiedenen  Protisten -Gruppen  etc.  erfolgen  muss,  ehe  sich  die  richtige 
Auffassung  von  der  notwendigen  allmähligen  Entwickelung  der  Organismen 
und  der  Entstehung  ihrer  Anfänge  aus  anorganischer  Materie  Bahn  brechen 
wird. 

Jede  irgendwie  ins  Einzelne  eingehende  Darstellung  der  Autogonie  ist 
vorläufig  schon  deshalb  gänzlich  unstatthaft,  weil  wir  uns  durchaus  keine 
irgendwie  befriedigende  Vorstellung  von  dem  ganz  eigenthümlichen  Zustande 
machen  können ,  den  unsere  Erdoberfläche  zur  Zeit  der  ersten  Entstehung 
der  Organismen  darbot,  vielmehr  alle  sicheren  Anhaltspunkte  hierfür  fehlen. 
Wahrscheinlich  war  die  Erdoberfläche  unseres  Erdballes  zu  der  Zeit,  als 
sie  soweit  erkaltet  war,  dass  sich  Organismen  auf  ihr  bilden  konnten, 
ringsum    von   einem   zusammenhängenden  uferlosen  Meere  umgeben,  Zonen- 


*  IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.  Ig7 

unterschiede  noch  nicht  vorhanden.  Von  der  Beschaffenheit  jenes  Urmeeres 
und  der  heissen,  darüber  ausgebreiteten,  mit  Kohlensäure  und  Wasser- 
dämpfen gesättigten  Atmosphäre  können  wir  uns  aber  gar  keine  bestimmte 
Vorstellung  machen,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  ungeheuren  Mengen  von 
Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Stickstoff,  die  von  der  Steiukohlen- 
zeit  an  bis  zur  Gegenwart  und  wahrscheinlich  schon  lange  vor  der  Stein- 
kohlenzeit an  den  Körper  zahlloser  Organismen  gebunden  waren,  in  jener 
Urzeit  in  ganz  anderen,  einfacheren  Verbindungen  neben  einander  existirten, 
oder  ganz  frei  und  ungebunden  auf  einander  wirkten.  Die  ungeheuren 
Massen  von  Kohlensäure,  von  verschiedenen  Kohlenwasserstoffen  und  von 
zahllosen  anderen  Kohlenstoff-Verbindungen,  die  damals  zur  Zeit  der  ersten 
Entstehung  des  Lebens  theils  gasförmig  in  der  Atmosphäre  verbreitet, 
theils  in  dem  Urmeere  aufgelöst  oder  auf  dessen  Boden  niedergeschlagen 
gewesen  sein  müssen,  gestatten  uns  durchaus  keine  sichere  hypothetische 
Vorstellung  von  den  Existenzbedingungen,  unter  denen  sich  die  ersten  ein- 
fachsten Organismen  in  jenem  Urmeere  bildeten.  Nur  so  viel  können  wir 
mit  Bestimmtheit  sagen,  dass  die  Beschaffenheit  des  Urmeeres  und  der  Ur- 
atmosphäre  zu  jener  Zeit  sehr  bedeutend  verschieden  von  der  jetzigen  ge- 
wesen sein  rnuss. 

Jedenfalls  war  die  ganze ,  überall  von  dem  Urmeere  wie  von  einer  zu- 
sammenhängenden Wasserhülle  umgebene  Erdrinde  damals  in  jeder  Be- 
ziehung (hinsichtlich  der  Erhebungen  des  Meeresbodens,  der  Temperatur  etc.) 
noch  äusserst  einförmig  beschaffen,  und  da  somit  die  Existenzbedingungen 
in  den  verschiedenen  Theilen  des  Meeres  sehr  wenig  von  einander  werden 
verschieden  gewesen  sein,  so  ist  zu  vermuthen,  dass,  als  die  Temperatur 
so  weit  gesunken  war,  dass  zum  ersten  Male  lebensfähige  Kohlenstoff- Ver- 
bindungen sich  bilden  konnten,  diese  sich  auf  der  ganzen  Erde  in  wenig  ab- 
weichender Weise  bildeten.  Zahllose,  nicht  oder  nur  wenig  verschiedene 
Moneren,  gleich  der  Protamoeba,  mögen  damals  gleichzeitig  entstanden 
sein;  und  erst  allmählig,  als  die  Lebensbedingungen  sich  differenzirten,  als 
die  Hebungen  und  Senkungen  des  Bodens  an  verschiedenen  Stellen  des 
Meeres  locale  Differenzen  höheren  Grades  eintreten  Hessen,  werden  sich 
mit  den  Lebensbedingungen  auch  die  einfachsten  spontan  entstandenen  Ur- 
organismen  differenzirt  und  damit  ein  Kampf  um  das  Dasein  zwischen  diesen 
Moneren  entwickelt  haben. 

Da  wir  uns  von  der  eigenthümlichen  Beschaffenheit  der  jedenfalls  von 
allen  jetzt  bestehenden  sehr  verschiedenen  Lebensbedingungen,  unter  denen 
jene  ersten  Moneren  im  Urmeere  spontan  entstanden,  durchaus  keine 
sichere  Vorstellung  machen  können,  so  lässt  sich  auch  die  Frage  vorläufig 
nicht  befriedigend  erörtern,  ob  ähnliche  Bedingungen  auch  später  noch,  bei 
weiterer  Entwickelung  der  Erdrinde,  an  gewissen  Stellen  derselben  fort- 
dauern konnten,  und  ob  sie  noch  heute  fortdauern.  Wir  können  also  auch 
nicht  auf  die  Frage  antworten,  ob  eine  solche  Autogonie,  wie  sie  damals, 
unter  jenen  Bedingungen,  mit  absoluter  Nothw  endigkeit  stattgefunden 
haben  muss,  sich  lange  Zeit  fortsetzte  und  sich  später  wiederholte,  ob  sie 
vielleicht  continuirlich  fortdauerte  und  auch  jetzt  noch  stattfindet.  Expe- 
rimente sind  in  dieser  Beziehung  noch  nicht  angestellt,   und   durch  die  bis- 


183  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

herigen  Beobachtungen  ist  noch  nichts  bisher  darüber  erwiesen.  Aus  der 
Thatsache,  dass  solche  einfachste,  structurlose,  homogene  Organismen  oder 
Moneren,  vom  morphologischen  Werthe  der  einfachsten  Gynmocytoden,  auch 
jetzt  noch  leitend  vorkommen,  dass  Müssen  von  äusserst  einfach  gebildeten 
Protisten,  die  jenen  am  nächsten  stehen  (Protoplasten,  Rhizopoden  etc.) 
unsere  Meere  bevölkern,  könnte  man  vielleicht  schliessen,  dass  dieselben 
auch  jetzt  noch  entstehen,  oder  vielleicht  periodisch,  unter  Eintritt  bestimm- 
ter Bedingungen ,  sich  autogon  erzeugen.  Dagegen  lässt  sich  andererseits 
auch  behaupten,  dass  diese  noch  lebenden  Moneren  und  die  anderen  ein- 
fachsten Protisten  die  noch  lebenden  und  wenig  oder  nicht  veränderten 
Nachkommen  einfacher  Urwesen  sind,  die  vor  sehr  langer  Zeit  sich  durch 
Autogonie  gebildet  haben.  Dass  es  immer  stille  einfache  Stellen  im  Na- 
turhaushalte geben  muss,  in  denen  auch  solche  einfachste  Lebensformen  sich 
sehr  lange  Zeit  unverändert  fortpflanzen  können,  hat  bereits  Darwin  nach- 
gewiesen. Da  wir  nicht  in  der  Lage  sind,  in  dieser  Beziehung  irgend 
welche  sichere  Beweisgründe  für  oder  gegen  die  Frage  beizubringen,  ob 
die  Autogonie  jetzt  noch  fortdauert  und  wie  lange  sie  bestanden  haben 
mag,  so  lassen  wir  diese  Frage,  die  ohnehin  für  uns  nur  ein  untergeordnetes 
Interesse  hat,  hier  fallen,  und  begnügen  uns  mit  Constatirung  der  Not- 
wendigkeit, dass  der  Beginn  des  Lebens  auf  der  Erde,  eine  Autogonie  von 
Moneren,  aus  denen  erst  später  Zellen  sich  entwickelten,  irgend  einmal 
stattgefunden  haben  muss. 

Die  Anhänger  der  Generatio  aequivoca  pflegen  gewöhnlich,  wenn  sie 
die  Natur  der  elternlos  entstehenden  Organismen  erörtern,  zu  behaupten, 
dass  dies  einzellige  Wesen  sein  müssten.  Dagegen  halten  wir  es  für  viel 
wahrscheinlicher,  dass  die  einzelligen  Wesen  sich  erst  durch  Differenzirung 
von  innerem  Kern  und  äusserem  Plasma  aus  den  structurlosen  Moneren 
hervorgebildet  haben,  und  dass  diese  die  wirklichen  Autogonen  sind.  Die 
Gründe  hierfür  liegen  in  der  Vergleichung,  welche  wir  oben  zwischen  diesen 
Moneren  und  den  Krystallen  ausgeführt  haben,  und  in  welcher  wir  zu  zeigen 
versuchten,  wie  die  spontane  Entstehung  solcher  homogenen,  imbibitions- 
fähigen  Eiweisskörper  ganz  analog  der  spontanen  Entstehung  von  Krystallen 
in  der  Mutterlauge  zu  denken  sei.  Nach  unserer  Hypothese  sind  demnach 
zuerst  ausschliesslich  vollkommen  structurlose  und  homogene  Plasmaklumpen, 
gleich  den  Protamoeben ,  im  Urmeere  entstanden;  in  diesen  hat  sich  erst 
später  eine  Differenz  von  festerem  Kern  und  weicherer  Hülle  gebildet,  und 
noch  später  erst  sind  diese  einfachen  kernhaltigen  Zellen  zur  Bildung  mehr- 
zelliger Organismen  zusammengetreten,  aus  denen  sich  dann  alle  höheren 
ailmählig  durch  natürliche  Zuchtwahl  entwickelt  haben. 

Die  grösste  Schwierigkeit  in  unserer  Hypothese  der  Autogonie  liegt 
darin,  dass  wir  uns  von  den  eigenthümlichen  Existenzbedingungen,  unter 
welchen  im  Urmeere  die  ersten  Moneren  entstanden,  keine  befriedigende 
Vorstellung  machen  können,  und  dass  wir  die  damals  stattgehabte  spontane, 
freie  Bildung  von  den  zusammengesetzteren  Kohlenstoff -Verbindungen  und 
insbesondere  von  den  Eiweisskörpern ,  welche  doch  gegenwärtig  als  die 
activen  Träger  der  eigentlichen  „Lebensthätigkeiten"  im  engeren  Sinne  auf- 
treten, noch  nicht  beobachtet  haben.    Alle  Eiweisskörper,  sowie  die  meisten 


IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.   *  189 

anderen  verwickeiteren  Kohlenstoff -Verbindungen  sind  wir  gewohnt,  als 
innerhalb  bestehender  Organismen  entstanden  zu  betrachten.  Doch  ist  zu 
erwarten,  dass  sich  unsere  Anschauungen  in  diesem  Punkte  gewaltig  ändern 
werden.  Noch  nicht  lange  ist  es  her,  dass  man  allgemein  behauptete,  dass 
sämmtliche  sogenannte  „organische"  Verbindungen  ausschliesslich  innerhalb 
der  Organismen  (vermittelst  der  mystischen  „Lebenskraft")  erzeugt  würden, 
und  dass  wir  gänzlich  unvermögend  seien,  dergleichen  Kohlenstoff -Verbin- 
dungen in  unseren  Laboratorien  künstlich  herzustellen.  Als  dann  später 
(1828)  Wöhler  dieses  Dogma  zuerst  widerlegte  und  aus  cyansaurem  Am- 
moniak zum  ersten  Male  Harnstoff  darstellte,  galt  dies  lange  Zeit  für  die 
einzige  Ausnahme.  Jetzt  kennt  man  solche  Ausnahmen  in  Masse,  und  man 
stellt  nicht  allein  einfachere  „organische"  oder  Kohlenstoff -Verbindungen, 
sondern  auch  complicirtere,  Alkohol,  Ameisensäure  etc.,  in  unseren  Labo- 
ratorien nach  Belieben  aus  den  Elementen  auf  rein  „anorganischem" 
Wege  her. ') 


')  Wir  heben  das  Schicksal  dieses  Dogma,  welches  so  lange  und  allgemein 
im  höchsten  Ansehen  stand,  und  die  ganze  Chemie  beherrschte,  und  welches  in 
Folge  der  neueren  Erfahrungen  allgemein  verlassen  ist,  desshalb  hier  besonders 
hervor,  weil  wir  dem  Dogma  von  der  Unmöglichkeit  der  Geiieratio  spontanea 
(von  welcher  unsere  Autogonie  uur  eine  bestimmte  Modifikation  ist)  mit  Sicher- 
heit denselben  letaleu  Ausgang  prognosticireu-  können.  Es  wird  hier  die  schun 
öfter  beobachtete  Erscheinung  eintreten,  dass  mit  dem  deünitiven  Falle  des  einen 
Dogma  zugleich  eine  ganze  Reihe  von  anderen  zusammenstürzen,  die  mehr  oder 
minder  unlösbar  mit  ihm  verkettet  sind.  Eine  solche  Kette  von  solidarisch  ver- 
bundenen Dogmen  bildeten  im  vierten  und  fünften  Decennium  unseres  Jahrhun- 
derts die  Lehren  von  der  ausschliesslichen  Erzeugung  organischer  Substanzen  inner- 
halb des  Organismus,  die  Lehre  von  der  Lebenskraft,  die  Lehre  von  der  Constanz  der 
Species,  die  Lehre  von  der  Unmöglichkeit  der  Partheuogenesis,  die  Lehre  von  der 
Unmöglichkeit  der  Urzeugung  und  viele  Andere  von  mehr  oder  minder  allgemeiner  Be- 
deutimg. Die  meisten  dieser  Dogmen  sind  schon  jetzt  entweder  völlig  umgestossen, 
oder  derart  in  ihren  Fundameuten  erschüttert,  dass  sie  über  Kurz  oder  Lang  noth- 
weudig  zusammenstürzen  müssen.  Ich  persönlich  bin  ein  um  so  entschiedenerer 
Feind  dieser  Dogmen  und  darf  mich  um  so  rücksichtsloser  dagegen  aussprechen, 
als  ich  selbst  früher  in  denselben  blind  befangen  war.  Als  treuer  Schüler  und 
aufrichtiger  Bewunderer  von  Johannes  Müller  war  ich  von  den  Lehren  meines 
grossen  Meisters  so  sehr  eingenommen,  dass  ich  auch  der  Macht  seiner  vitalisti- 
schen  Vorurtheile  mich  nicht  entziehen  konnte,  und  die  damit  verbundenen 
Dogmen  von  der  Constanz  der  Species ,  von  der  Nichtexistenz  der  Generatio 
aequivoca,  von  der  zweckmässigen  Wirksamkeit  der  gestaltenden  Lebenskraft  etc. 
vollständig  theilte,  ohne  an  ihrer  Begründung  zu  zweifeln.  In  meiner  Doctor- 
Dissertation  lautete  die  erste  These,  welche  ich  am  7.  März  1857  gegen  meinen 
Freund  E.  Claparede  öffentlich  vertheidigte:  „Formatio  cellularum  libera,  et 
physiologica  et  pathologica,  haud  minus  quam  generatio  animalium  et  plantarum 
spontanea  rejicienda  est."  Um  so  eher  wird  mau  es  mir  verzeihen,  weuu  ich 
jetzt,  in  besserer  kritischer  Erkenntniss  der  Wahrheit,  die  mit  jenen  vitalistisch- 
teleologischeu  Dogmen  verbundenen  Vorurtheile  als  solche  anerkenne,  rücksichts- 
los   bekämpfe    und    die    monistische  Naturerkenntniss    als   die   einzig  zum  Ziele 


190  Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

Wenn  die  Chemie  der  Kohlenstoff- Verbindungen  oder  die  sogenannte 
organische  Chemie  in  demselben  colossalen  Maassstabe  sieh  weiter  ent- 
wickelt, wie  dies  in  den  letzten  drei  bis  vier  Decennien  geschehen  ist,  so 
dürfen  wir  hoffen,  auch  die  complicirtesten  Kohlenstoff-Verbindungen,  und 
insbesondere  die  so  labilen  Eiweisskörper,  in  unseren  Laboratorien  auf  reiu 
anorganischem  Wege  künstlich  herzustellen;  und  wenn  es  dann  gelingeu 
sollte,  auch  individualisirte  Eiweissklumpen,  gleich  den  Moneren,  herzu- 
stellen, welche  unter  bestimmten  Bedingungen  sich  (z.  B.  durch  Aufnahme 
von  Kohlensäure  und  Ammoniak)  ernähren  und  sich  durch  Theilung  fort- 
pflanzen können,  so  würde  das  Problem  der  Autogouie  experimentell  gelöst 
sein,  und  wir  könnten  dann  weiter  den  Versuch  machen,  aus  diesen  künst- 
lich dargestellten  Moneren  durch  künstliche  Züchtung  unter  passenden  Be- 
dingungen ebenso  einzellige  Organismen,  und  später  vielleicht  selbst  mehr- 
zellige herzustellen,  als  sicher  aus  den  ersten,  im  Urmeere  spontan  entstan- 
denen autogouen  Moneren  allmählig  durch  natürliche  Züchtung  einzellige, 
und  später  aus  diesen  mehrzellige  Organismen  sich  entwickelt  haben 
müssen.1) 


führende  mit  aller  Kraft  vertheidige.  Keine  Irrthümer  kann  der  nach  Wahrheit 
strebende  Mensch  so  stark  und  aufrichtig  hassen,  als  diejenigen,  in  denen  er 
selbst  vorher  befangen  war;  und  mau  wird  sich  hieraus  erklären,  warum  ich  die 
in  der  organischen  Morphologie  noch  herrschende  dualistische  Naturauffassung, 
von  welcher  ich  früher  selbst  geblendet  war,  jetzt  als  überwundenen  Staudpunkt 
auf  das  Entschiedenste  bekämpfe. 

')  Da  die  monistischen  Anschauungen,  welche  ich  in  diesem  Capitel  zu  ent- 
wickeln versucht  habe,  mit  den  hergebrachten  dualistischen  Vorstellungen  über 
„spontane"  organische  Formbilduug  nicht  vereinbar  sind  und  zunächst  wenig 
Aussicht  auf  Beifall  haben,  so  möchte  ich  zur  Unterstützung  derselben  noch  be- 
sonders auf  die  Anatomie  und  die  Entwickelungsgeschichte  derjenigen  höchst 
einfachen  und  unvollkommenen  Organismen  verweisen,  welche  wir  im  nächsten 
Capitel  als  Protisten  zusammenfassen  werden.  Eine  der  wichtigsten,  aber  am 
schwierigsten  zu  begreifenden  Erscheinungen,  auf  welche  wir  immer  wieder  zu- 
rückkommen müssen,  ist  die  Thatsache,  dass  ein  formloser  festflüssiger  Eiweiss- 
klumpen, offenbar  lediglich  vermöge  seiner  specifisclien  atomistischen  Constitution, 
die  complicirtesten  und  regelmässigsten  festen  Formen  hervorzubringen  vermag; 
und  doch  können  wir  uns  von  dieser  Thatsache  an  vielen  Protisten,  besonders 
den  Rhizopoden,  ganz  bestimmt  überzeugen.  Die  verwickelten  und  bestimmt  ge- 
formten Kiesel-  und  Kalk-Skelete  der  Acyttarien  und  Radiolarien  sind  das  un- 
mittelbare Product  einer  vollkommen  formlosen  Plasma-Masse ,  von  deren  fest- 
flüssigem  Zustande  uns  das  bekannte  Phaenomen  der  Sarcode-Strömung  in  jedem 
Augenblick  den  handgreiflichen  Beweis  liefert.  Diese  merkwürdigen  Erschei- 
nungen werfen  auf  die  forinbildeude  Function  des  Plasma  und  der  Plastideu 
überhaupt  das  bedeutendste  Licht.  Vergl.  besonders  den  Abschnitt  über  das 
Wachsthum  in  meiner  Monographie  der  Radiolarien.     Berlin  1862. 


I.    Unterscheidung  von  Thier  und  Pflanze.  191 


Siebentes  Capitel. 

Thiere   und  Pflanzen.. 


„Wenn  man  Pflanzen  und  Thiere  in  ihrem 
unvollkommensten  Zustande  betrachtet,  so  sind 
sie  kaum  zu  unterscheiden.  So  viel  aber  können 
wir  sagen,  dass  die  aus  einer  kaum  zu  sondern- 
den Verwandtschaft  als  Pflanzen  und  Thiere  nach 
und  nach  hervortretenden  Geschöpfe  nach  zwei 
entgegengesetzten  Seiten  sich  vervollkommnen,  so 
dass  die  Pflanze  sich  zuletzt  im  Baume  dauernd 
und  starr,  das  Thier  im  Menseben  zur  höchsten 
Beweglichkeit  und  Freiheit  .sieh  verherrlicht." 

Goethe  (Jena,   1807). 


I.    Unterscheidung  von  Thier  und  Pflanze. 

„Der  wissenschaftliche  Standpunkt  unserer  Anschauungen  von  der 
organischen  Natur  hat  sich  in  keinem  Verhältnisse  jedesmal  so  treu 
abgespiegelt,  als  da,  wo  es  sich  um  Erörterung  der  Unterschiede  han- 
delt, welche  zwischen  Thier  und  Pflanze  bestehen.  Seit  jener  Zeit, 
als  vor  mehr  denn  hundert  Jahren  die  Thiernatur  der  pflanzenartig 
festsitzenden,  baumähnlich  verästelten  und  blüthengleiche  Individuen 
tragenden  Polypenstöcke  kund  ward,  hat  jede  neue  Forschung-  in  diesem 
Gebiete  neue  Theorieen  zu  Tage  gebracht,  von  denen  eine  die  andere 
verdrängte. " 

Diese  Worte,  mit  denen  Gegenbau r  in  seinen  ausgezeichneten 
Grundzügen  der  vergleichenden  Anatomie  1859  seine  kritische  Erörte- 
rung des  Verhältnisses  der  Thiere  zu  den  Pflanzen  einleitete,  bezeich- 
nen treffend  den  hohen  Werth,  den  diese  Erörterung  sowohl  in  theo- 
retischer als  in  praktischer  Beziehung  besitzt.  Wir  werden  uns  der- 
selben an  diesem  Orte  um  so  weniger  entziehen  können,  als  die  un- 
schätzbare Erweiterung  unseres  biologischen  Gesichtskreises,  welche 
Darwin  durch  die  causale  Begründung  der  Descendenz- Theorie  her- 
beigeführt hat,  noch  von  keinem  Biologen  zur  Lösung  jener  ebenso 
schwierigen  als  interessanten  Frage  benutzt  worden  ist.      Wenn   wir 


192  Thiere  und  Pflanzen. 

nun  hier  diese  Anwendung  versuchen,  und  wenn  wir  dadurch  auf  einen 
neuen  und  fruchtbaren  Standpunkt  in  jener  Frage  hingeleitet  werden, 
so  werden  wir  hierin  zugleich  einen  neuen  und  werthvollen  Beweis 
für  die  Wahrheit  und  die  Uuentbehrlichkeit  der  Abstammungslehre 
finden  dürfen.  In  der  That  werden  wir  alsbald  gewahr  werden,  dass 
in  dieser,  wie  in  allen  allgemeinen  biologischen  Fragen,  nur  der  rothe 
Faden  der  genealogischen  Verwandtschafts-Lehre  es  ist,  der  uns  gleich 
dem  leitenden  Ariadnc- Faden  durch  die  labyrinthische  Verwickelung 
der  organischen  Form -Verhältnisse  zu  ihrem  wissenschaftlichen  Ver- 
ständnisse emnorzuführen  vermag. 

• 

Die   uralte   Eintheilung    der   Organismen   in   die   beiden   Hauptgruppeu 
oder    „Reiche"    der    Pflanzen    und   Thiere   ist,    gleich    der    Unterscheidung 
mehrerer  Hauptgruppen  des  Thierreichs   (der  Vögel,  Fische  etc.)  nicht  auf 
dein  strengen  Wege  der    wissenschaftlichen  Untersuchung,    Scheidung  und 
Wägung  ihrer  verschiedenen  Eigenschaften  erzielt  worden,  sondern  hervor- 
gegangen aus  der  ersten  oberflächlichsten  und  allgemeinsten  Unterscheidung 
der  lebendigen  Naturkörper,    welche  schon    der  einfache  Naturmensch  aus- 
übte,   sobald   er  überhaupt   das  Bedürlhiss   fühlte,    die  wesentlichsten   und 
hervorragendsten  Unterschiede  der  ihn  umgebenden  Naturkörper  mit  einem 
Namen  zu  bezeichnen.     Daher  findet  sich    auch   die  Eintheilung  der  Lebe- 
wesen in  Thiere  und  Pflanzen,  und  bestimmte  Worte  zur  Bezeichnung  die- 
ser  beiden   Reiche,    bei  fast    allen  Naturvölkern,    die  überhaupt  über  die 
niedrigste   Stute   thierischer   Rohheit    sich    erhoben   haben.     Erst  sehr  viel 
später  linden  wir  Versuche  einer  wissenschaftlichen  Bestimmung  dieser  bei- 
den Begriffe  vor.     Man   schrieb  nun  den  Thieren,   welche   sich  gleich   dem 
Menschen  bewegen   uud   empfinden,   wie   diesem,    eine   Seele   zu,   während 
man  den  Pflanzen,  die  der  Empfindung  und  Bewegung  zu  entbehren  schei- 
nen,   eine  Seele   absprach.     Doch  ist  es  sehr  bemerkenswerth,    dass    schon 
der  grösste  Naturforscher  des  Alterthums,  Aristoteles,   in   der   scharfen 
Unterscheidung  der  beseelten-  Thiere  und  unbeseelten  Pflanzen  unübersteig- 
liche  Schwierigkeiten  fand1).     Wie  in  vielen  anderen  Erkenntnissen,  so  war 
auch  in   dieser    der    grosse    griechische  Naturphilosoph   der   nachfolgenden 
Welt   um   mehr   als   zwei   Jahrtausende   voraus.     Linne,    den  wir  als   den 
formellen  Begründer  der  organischen  Systematik  feiern,  vermochte  sich  trotz 
seiner    umfassenden    systematischen  Kenntnisse    nicht    auf    die  Höhe   jener 
Aristotelischen   Betrachtung    zu    erheben,    hielt    vielmehr  die   Unterschiede 
zwischen   den   beseelten  Thieren    und   den   seelenlosen  Pflanzen   für  ebenso 


')  „Die  Natur  geht  allmählig  von  den  Unbeseelteu  zu  den  Thieren  über, 
durch  solche,  die  zwar  leben,  aber  nicht  Thiere  sind,  so  dass  es  scheint,  dass 
das  Eine  sich  vom  Anderen  dadurch,  dass  sie  sich  einander  nahe  steheu,  ganz 
wenig  unterscheidet."  Aristoteles,  de  partibus  anim.  IV,  5.  681a.  „So  stei- 
gert sich  jenes  Princip  des  Lebens  in  unmerklichen  Stufen  bis  zur  Thierseele 
hinauf,  so  dass  man  in  dem  Verfolg  jener  Reihen  das  Nächstverwaudte  uud  das 
in  der  Mitte  Liegende  kaum  zu  unterscheiden  vermag."  Aristoteles,  historia 
anim.  VIII,  1.  588b  10.  Vergl.  J,  B.  Meyer:  Aristoteles  Thierkuude  p.  172. 


I.    Unterscheidung  von  Thier  und  Pflanze.  J93 

absolute  und  ohne  allmählige  Uebergänge  bestehende,  als  die  Unterschiede 
zwischen  den  „Species"  und  zwischen  allen  übrigen  künstlichen  Kategorieen 
seines  Systems.  Das  Wesen  der  „Seele/'  welche  die  Thiere  von  den  Pflan- 
zen absolut  unterscheiden  sollte,  setzte  er  in  die  Empfindung  und  die  will- 
ktihrliche  Bewegung.1)  Die  Nachfolger  Linnes,  die  meist  gedankenlosen 
und  dem  Species-Dogma  ergebenen  Schulen  der  botanischen  und  zoologi- 
schen Systematiker  hielten  diese  falschen  Vorstellungen  bis  in  die  neueste 
Zeit  hinein  fest.  Erheblichere  Zweifel  gegen  dieselben  wurden  erst  laut, 
als  man  sich  im  vierten  und  fünften  Decennium  unseres  Jahrhunderts  mit 
den  sehr  verbesserten  Mikroskopen  eifrig  und  vielseitig  dem  Studium  jener 
zahllosen  niederen  Organismen  zuwendete,  welche  als  bewegliche,  dem  blos- 
sen Auge  unsichtbare  Körperchen  alle  süssen  und  salzigen  Gewässer  be- 
völkern. Unter  diesen  fand  sich  nun  bald  eine  grosse  Anzahl,  welche  in 
einigen  Characteren  der  Form  und  der  Lebenserscheinungen  an  die  Thiere, 
in  anderen  an  die  Pflanzen  sich  anschloss ;  viele  derselben  vereinigten  thieri- 
sche  und  pflanzliche  Charactere  in  einer  so  zweideutigen  Weise,  dass  es 
geradezu  unmöglich  wurde,  sie  mit  nur  einiger  Sicherheit  dem  einen  oder 
anderen  organischen  Reiche  zuzutheilen.  Indem  die  einen  Systematiker  die- 
selben Formen  mit  Bestimmtheit  als  Pflanzen  betrachteten,  welche  von  An- 
deren ebenso  bestimmt  für  Thiere  erklärt  wurden,  entspannen  sich  bei  Vielen 
sehr  begründete  Zweifel  über  die  Vollgültigkeit  der  bisher  allgemein  ange- 
nommenen unterscheidenden  Charactere.  Einige  kamen  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  es  nur  darauf  ankomme,  neue  und  fester  begründete  Charactere  aufzu- 
finden, um  die  sicher  vorhandene  reale  Grenze  zwischen  Pflanzen-  und  Thier- 
Reich  scharf  zu  präcisireu,  während  Andere  vielmehr  an  dieser  Grenze 
selbst  irre  wurden  und  behaupteten,  dass  beide  Reiche  unmittelbar  in  ein- 
ander übergingen,  und  zusammen  ein  einziges  grosses  Reich  der  Organis- 
men bildeten. 

Es  wurden  nun  im  Laufe  der  beiden  letzten  Decennien,  sowohl  von 
Botanikern  als  von  Zoologen  zahlreiche  Versuche  gemacht,  theils  absolut 
unterscheidende  Kriterien  zwischen  den  Thieren  und  Pflanzen  aufzufinden, 
theils  die  Contiuuität  beider  Reiche  zu  beweisen.  Wir  haben  hier  weder 
Raum  noch  Veranlassung,  auf  alle  diese  einzelnen  sehr  divergenten  Ansich- 
ten, die  meistens  gelegentlich  bei  Besprechung  einer  zweifelhaften  Gruppe 
geäussert  wurden,  einzugehen,  und  begnügen  uns,  auf  diejenigen  Arbeiten 
zu  verweisen,  welche  in  den  letzten  Jahren  die  Frage  am  ausführlichsten 
behandelt  haben.2)  Die  Monographen  einzelner  zweifelhafter  Gruppen, 
z.  B.  der  Schwämme,  Myxomyceten,  Flagellaten,  Diatomeen  etc.  waren 
übrigens  gewöhnlich  vorzugsweise  bestrebt,  einen  einzelnen  unterschei- 
denden Character  (insbesondere   den  der  Beseelung,    der  Empfindung,   der 


')  „Vegetabilia  vivunt,  non  sentiunt.  Animalia  vivunt  et  sentiuut  sponteque 
se  rnovent."     Linne,  Systema  naturae. 

2)  C.  Gegenbaur,  De  animalium  plantarumque  regni  terminis  et  differen- 
tiis.  Jenae  1860.  E.  Haeckel*  Monographie  der  Radiolarien.  Berlin  1862 
(p.  159 — 165).  C.  Claus,  Ueber  die  Grenze  des  thierischeu  und  pflanzlichen 
Lebens.     Leipzig  1863. 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  23 


194  Thiere  und  Pflanzen. 

Willensbewegung)  als  bestimmend  für  die  Natur  der  Gruppe  nachzuweisen; 
die  Consequenzen  dieser  Anwendung  für  alle  zweifelhaften  Mittelformen 
wurden  aber  von  ihnen  nicht  gezogen.  TheiLs  dieser  mangelnden  Conse- 
quenz,  theils  der  ungenügenden  Yergleichung  und  unkritischen  Wägung  der 
unterscheidenden  Charactere,  theils  aber  auch  den  im  Gegenstande  selbst 
liegenden  Hindernissen  ist  es  zuzuschreiben,  dass  im  gegenwärtigen  Zeit- 
punkt eine  Einigung  über  die  Streitfrage  nicht  im  Mindesten  erzielt  ist, 
dass  vielmehr  die  Meinungen  der  einzelnen  Systematiker  über  die  Stellung 
der  zweifelhaften  Gruppen  nicht  weniger,  als  früher  aus  einander  gehen. 
Nachdem  die  Unmöglichkeit,  die  gewöhnlich  in  erster  Linie  benutzten 
physiologischen  Kriterien  der  Empfindung  und  der  willkührlichen  Be- 
wegung zu  einer  absoluten  Unterscheidung  der  Thiere  und  Pflanzen  zu  ver- 
werthen,  hinreichend  dargethan  war,  versuchte  man  neuerdings  die  schärfer 
zu  bestimmenden  morphologischen  Charactere  als  entscheidende  für  die 
Definition  der  beiden  Reiche  zu  benutzen.  Insbesondere  hob  zuerst  Gegen- 
baur  hervor,  dass  in  der  feineren  Structur  des  thierischen  und  pflanzlichen  Lei- 
bes allgemeine  Unterschiede  zu  finden  seien,  welche  wenigstens  eine  scharfe 
Definition  der  beiden  Reiche  gestatten,  und  wir  selbst  haben  späterhin  diese 
Ansicht  noch  weiter  entwickelt  und  durch  neue  Gründe  zu  stützen  gesucht. 
Indess  hat  sich  unsere  Ansicht  keine  weitere  Geltung  erringen  können,  und 
man  hat  sie  auch  insofern  missverstanden,  als  man  glaubte,  dass  wir  durch 
Aufstellung  dieses  Differentialcharacters  eine  absolute  Differenz  zwischen 
dem  Thier-  und  Pflanzenreiche  überhaupt  zu  begründen  suchten,  während 
wir  doch  nur  eine  gleiche  künstliche  Definition  der  Gruppen  zu  geben 
wünschten,  wie  sie  für  jede  grössere  und  kleinere  Gruppe  des  Thier-  und 
Pflanzenreichs  zur  praktischen  Unterscheidung,  und  zur  Begriffsbe- 
stimmung unentbehrlich  ist.1)  Für  letzteren  Zweck  ist  nun  gewiss  der 
von  uns  besonders  hervorgehobene  Character  sehr  wichtig,  dass  bei  den 
Pflanzen  die  Zelle  allgemein  eine  weit  grössere  Selbstständigkeit  behält,  als 
bei  den  Thieren. 

Wir  wollen  indess  auch  auf  diese  Verhältnisse  hier  nicht  weiter  ein- 
gehen, da  wir  inzwischen  zu  der  Ueberzeugung  gelangt  sind,  dass  sich  die 
Frage  nur  von  dem  Standpunkte  der  Descendenz-Theorie  aus  naturgemäss 
beantworten  lässt,  und  diese  Beantwortung  ist  es,  die  wir  hier  zunächst 
versuchen  wollen.  Wir  werden  dabei  zunächst  die  Bedeutung  zu  erwägen 
haben,  welche  die  Eintheilung  der  Organismen  in  Thiere  und  Pflanzen,  und 
die  weitere  Eintheilung  derselben  in  Kreise,  Klassen,  Ordnungen  und  an- 
dere untergeordnete  Systemgruppen  überhaupt  besitzt. 


')  Sowohl  G  egenbaur,  als  ich  selbst,  haben  ausdrücklich  erklärt,  dass  wir 
keine  absolute  Verschiedenheit  zwischen  Thier-  und  Pflanzen- 
Reich  anerkennen,  und  dass  wir  den  Versuch,  ein  morphologisches  Unterschei- 
dungs-Merkmal aufzustellen,  in  demselben  Sinne  wie  jede  systematische  Einthei- 
lung, d.  h.  als  eine  künstliche,  aber  praktisch  unentbehrliche  Grenzbestimmuug 
ansehen  und  augesehen  wissen  wollen,  so  dass  uns  der  mehrfach  erhobene  Vor- 
wurf nicht  trifft,  dogmatisch  da  eine  absolute  Grenze  gesetzt  zu  haben,  wo  in 
der  Natur  keine  vorhanden  ist. 


II.    Bedeutung  der  Systemgruppen.  195 

IL    Bedeutung  der  Systemgruppen. 

Die  beiden  Hauptgruppen  oder  „Reiche"  der  Organismen,  Thiere 
und  Pflanzen,  pflegt  man  allgemein,  wie  im  gewöhnlichen  Leben  so 
auch  in  der  biologischen  Wissenschaft,  als  die  beiden  einzigen  obersten, 
einander  coordinirten  Hauptgruppen  der  Lebewesen  zu  betrachten,  und 
diese  Anschauung  hat  schon  seit  sehr  langer  Zeit  ihren  Ausdruck  in 
'  dem  allgemeinen  wissenschaftlichen  Bewusstsein  dadurch  gefunden, 
dass  mau  Zoologie  und  Phytologie  (Botanik)  als  die  beiden  coordinir- 
ten Hauptzweige  der  Biologie  betrachtet,  sobald  man  als  Eintheilungs- 
princip  der  letzteren  die  Verschiedenheit  in  der  Organisation  der 
Hauptgruppen  benutzt. 

Es  wird  nun  allgemein  in  den  Systemen  der  classificirenden  Bio- 
logen oder  der  Systematiker  jedes  der  beiden  Reiche  wieder  in 
Unterreiche  oder  Kreise  (Subregna,  Orbes,  Typi)  eingetheilt;  diese 
zerfallen  weiter  in  mehrere  kleinere  Abtheilungen,  die  Klassen;  ebenso 
diese  wieder  in  Ordnungen,  die  Ordnungen  in  Familien,  die  Familien 
in  Gattungen;  endlich  setzen  sich  die  Gattungen  aus  den  einzelnen 
Arten  (Species),  Unterarten  (Subspecies),  Rassen,  Varietäten  oder  Spiel- 
arten zusammen.  Alle  diese  subordinirten  Kategorieen  des  Systems 
sind  künstliche  Abstractionen,  welche  durch  den  Aehnlichkeitsgrad  der 
verglichenen  concreten  organischen  Individuen  bestimmt  werden. 
Mögen  nun  die  künstlichen  oder  natürlichen  Systeme  noch  so  sehr 
von  einander  verschieden  sein,  und  mag  man  in  diesen  Systemen  viele 
oder  wenige  von  solchen  über  einander  geordneten  Gruppen  oder 
Kategorieen  unterscheiden,  immer  stimmen  sie  doch  alle  darin  überein, 
dass  die  allgemeinere  und  höhere  Gruppenstufe  oder  Kategorie  des 
Systems  (z.  B.  die  Klasse,  Ordnung)  einen  entfernteren  und  weiteren 
Grad  der  Aehnlichkeit  oder  der  „natürlichen  Verwandtschaft"  der  dar- 
unter zusammengefassten  Organismen  bezeichnet,  während  die  niedri- 
gere und  beschränktere  Gruppenstufe  (z.  B.  Gattung,  Art)  einen  näheren 
und  engeren  Grad  der  „natürlichen  Verwandtschaft"  ausdrücken  soll. 

Was  ist  nun  diese  „natürliche  Verwandtschaft"  der  Lebe- 
wesen? Sie  ist  nichts  Anderes  und  kann  nichts  Anderes  sein,  als  die 
wirkliche  leibhaftige  „  Blutsverwandtschaft ",  der  genealogische  Zu- 
sammenhang der  Organismen.  Die  Gesammtheit  aller  grossen  Er- 
scheinungsreihen der  organischen  Natur  weisst  mit  überwältigender 
Macht  darauf  hin,  und  die  Descendenz-Theorie,  welche  dieselben  zu- 
sammenfasst  und  aus  dem  genealogischen  Gesichtspunkte  einheitlich 
erklärt,  liefert  dafür  den  schlagenden  Beweis,  wie  wir  im  sechsten 
Buche  zeigen  werden.  Hier  gehen  wir  von  dieser  bewiesenen  Theorie 
aus  und  betrachten  also  allgemeinden  systematischen  Divergenz- 

13* 


196  Thiere  und  Pflanzen. 

grad  zweier  Organismen,  d.  li.  den  Grad  des  Abstands,  den  sie  im 
System  von  einander  haben,  als  den  Maassstab  für  ihren  wirklichen 
genealogischen  Divergenzgrad,  d.  h.  den  Grad  des  Abstandes, 
den  sie  von  einander  hinsichtlich  ihrer  gemeinsamen  Abstammung  von 
den  gleichen  Stammformen  haben.  Das  natürliche  System  der 
Organismen  ist  für  uns  ihr  natürlicher  Stammbaum,  ihre 
genealogische  Verwandtschaftstafel.  Zur  Erkenntniss  derselben 
gelangen  wir,  wie  wir  im  fünften  Buche  zeigen  werden,  durch  die 
Vergleichung  der  überaus  wichtigen  dreifachen  parallelen  Stufenfolge, 
welche  uns  überall  die  palaeontologische,  die  embryologische  und  die 
systematische  Entwicklung  der  Organismen  darbietet. 

Wie  unten  bewiesen  werden  wird,  können  wir  auf  diesem  sicheren 
Wege  die  gemeinsame  Entwicklung  der  divergentesten  Organismen 
aus  einer  und  derselben  Stammform  bis  in  die  frühesten  Zeiten  hinauf 
verfolgen.  Wir  gelangen  so  z.  B.  zu  dem  äusserst  wichtigen  Resul- 
tate, dass  alle  Wirbelthiere ,  den  Menschen  nicht  ausgeschlossen,  von 
einer  und  derselben  gemeinsamen  Stammform  entsprossen  sind;  das- 
selbe gilt  von  allen  Coelenteraten,  dasselbe  von  allen  Echinodermen 
u.  s.  w.  Kurz,  wir  gelangen  auf  dem  bezeichneten  Wege  zu  der 
Ueberzeugung,  dass  alle  die  unendlich  manuichfaltigen  organischen 
Formen,  welche  zu  irgend  einer  Zeit  auf  der  Erde  gelebt  haben,  die 
äusserst  differenzirte  Nachkommenschaft  von  einer  sehr  geringen  An- 
zahl von  einfachen  Stammformen  sind;  und  aus  den  im  vorigen  Capitel 
angeführten  Gründen  können  wir  von  der  Natur  dieser  letzten  ein- 
fachsten Urformen  jedes  Stammes  aussagen,  dass  dieselben  Organismen 
der  aflereinfachsten  Art  gewesen  sein  müssen,  homogene,  structurlose 
Urwesen,  gleich  der  Protamoeba,  und  dem  Protogenes,  Moneren, 
welche  durch  Autogonie  entstanden  waren.  Dieselben  stellten  die 
organischen  Individuen  erster  Ordnung  (Piastiden)  in  der  denkbar  ein- 
fachsten Form  dar,  da  ihr  structurloser  und  formloser,  in  seiner  ge- 
sammten  Eiweissmasse  gleichartiger  Plasmakörper  noch  keinerlei  diffe- 
rente  Theile  besass.  Erst  ganz  allmählig  und  langsam  konnten  sich 
aus  diesen  ersten  Moneren,  die  sich  durch  Theilung  fortpflanzten,  diffe- 
renzirte, heterogene  Formelemente  entwickeln,  welche  sich  bald  durch 
Sonderung  von  festerer  Hülle  und  weicherem  Inhalt  zu  einer  Lepo- 
cytode  (gleich  der  kernlosen  „Fadenzelle"  eines  Pilzes),  bald  durch 
Differenzirung  von  festerem  Kern  und  weicherem  Zellstuff  zu  einer 
Urzelle  (gleich  einer  nackten  Schwärmspore  oder  einer  kernhaltigen 
Amoebe),  bald  durch  Scheidung  von  Hülle,  Kern  und  Plasma  zu  einer 
Hautzelle  (gleich  einer  einzelligen  Alge)  gestalteten.  Aus  diesen  ent- 
wickelte dann  weiterhin  die  natürliche  Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das 
Dasein   die  ganze  reiche  Mannichlaltigkeit  der  zahllosen  Formen,   die 


II.    Bedeutung  der  Systemgruppen.  197 

im  Laufe  von  Milliarden  von  Jahren  so  äusserst  divergenten  Nach- 
kommen den  Ursprung  gegeben  haben. 

Wenn  diese  Theorie  wahr  ist  —  und  wir  können  nicht  daran 
zweifeln  —  so  wird  nun  zunächst  mit  Bezug  auf  die  genetische  Diffe- 
renz der  Thiere  und  Pflanzen  die  wichtige  Frage  entstehen,  ob  alle 
Thiere  und  alle  Pflanzen  der  Erde  sich  aus  einem  einzigen  oder  aus 
mehreren  autogonen  Moneren  entwickelt  haben,  und  wenn  Letzteres 
der  Fall  ist,  aus  wie  Vielen?  Leider  ist  nun  diese  wichtige  Frage 
nur  mit  einem  sehr  geringen  Grade  von  Sicherheit  hypothetisch  zu 
beantworten.  Auch  die  sorgfältigste  Erwägung  und  Vergleichung  aller 
bekannten  Thatsachen  liefert  uns  nur  äusserst  unvollständige  Anhalts- 
punkte, und  es  ist  überdies  nicht  die  mindeste  Hoffnung  dazu  vorhan- 
den, dass  auch  die  wichtigsten  palaeontologischen  Entdeckungen,  die 
uns  noch  vorbehalten  sind,  das  tiefe  Dunkel,  welches  über  jener 
ältesten  Periode  des  Moneren- Lebens  auf  der  Erde  schwebt,  lichten 
und  uns  über  dessen  primitive  Entwickelung  irgend  etwas  Sicheres 
verkünden  werden.  Denn  es  liegt  in  der  äusserst  einfachen  Natur 
jener  ersten  autogonen  Moneren,  die  wahrscheinlich  gleich  den  noch 
jetzt  lebenden  Protamoeben  mikroskopisch  kleine  und  ganz  weiche, 
höchst  zerstörbare  Plasmaklumpen  gewesen  sind,  dass  weder  von 
ihnen  selbst,  noch  von  ihren  nächsten  Nachkommen  irgend  welche 
erkennbaren  Spuren  oder  Reste  in  dem  sich  ablagernden  Schlamme 
des  Urmeeres  erhalten  bleiben  konnten.  Erst  nach  Ablauf  langer 
Zeiträume  können  sich  aus  ihnen  allmählig  vollkommenere  und  grössere 
Organismen  mit  härteren  Theilen  entwickelt  haben,  die  im  Stande 
waren,  kenntliche  Spuren  im  Sedimentgestein  zu  hinterlassen. 

Die  einzigen  positiven  Erfahrungen,  die  uns  in  dieser  Beziehung 
zu  Hülfe  kommen,  sind  die  allgemeinen  Resultate  der  embryologischen 
Entwickelung.  Wir  wissen,  dass  jeder  Organismus  während  seiner 
Ontogenie  eine  Stufenfolge  von  niederen  zu  höheren  Formen  durch- 
läuft, welche  der  Phylogenie  seines  Stammes  im  Ganzen  parallel  läuft, 
und  wir  können  also  von  den  ersten  Stadien  der  embryologischen 
auf  die  ersten  Stadien  der  palaeontologischen  Entwickelung  durch 
Deduction  zurückschliessen.  Nun  zeigt  sich  allerdings  bei  der  Onto- 
genie der  allermeisten  Organismen  als  die  erste  Formstufe  der  indi- 
viduellen Entwickelung  eine  einzige  einfache  Plastide,  gewöhnlich 
kernhaltig  (als  Zelle),  seltener  kernlos   (als    Cytode). l)     Wir    wissen 


l)  Auch  als  die  ersten  Stammformen  derjenigen  (der  meisten)  Organismen, 
deren  erste  Embryonalstufe  eine  kernhaltige  Plastide  (Zelle)  ist,  können  wir 
kernlose  Piastiden  (Cytoden)  ansehen,  da  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  durch 
Autogonie  keine  Zellen,  sondern  bloss  structurlose  Moneren,  also  Cytoden  ent- 
stehen können,  aus  denen  erst  später  Zellen  sich  differenziren.  Die  Erklärung 
dieser  „Abkürzung  der  Entwickelung"  siehe  im  fünften  Buche.  — - — ^ 


198  Thiere  und  Pflanzen. 

auch,  dass  diese  höchst  einfachen  Anfänge  aller  organischen  Individuen 
ungleichartig  sind,  und  dass  äusserst  geringe  Differenzen  in  ihrer 
materiellen  Zusammensetzung,  in  der  Constitution  ihrer  Eiweiss-Ver- 
bindung  genügen,  um  die  folgenden  Differenzen  ihrer  embryonalen 
Entwicklung  zu  bewirken.  Denn  sicher  sind  es  nur  äusserst  geringe 
derartige  Unterschiede,  welche  z.  B.  die  erbliche  Uebertragung  der 
individuellen  väterlichen  Eigenschaften  durch  die  minimale  Eiweiss- 
Quantität  des  Zoosperms  auf  die  Nachkommen  vermitteln.  Aber  auch 
bei  der  sorgfältigsten  Untersuchung  sind  wir  nicht  im  Stande,  mit 
unseren  äusserst  rohen  Hülfsmitteln  die  unendlich  feinen  Differenzen 
wirklich  zu  erkennen,  um  deren  Constatirung  es  sich  hier  handelt. 
Wir  können  also  schon  hieraus  schliessen,  dass  es  uns,  selbst  wenn 
wir  die  Moneren,  aus  denen  die  verschiedenen  Stämme  des  Thier- 
und  Pflanzen-Reiches  entsprungen  sind,  neben  einander  vor  uns  hätten, 
ganz  unmöglich  sein  würde,  ihre  primitiven  Differenzen  wahrzunehmen, 
und  zu  bestimmen,  ob  die  einfachen  Plasmaklumpen,  welche  den  ver- 
schiedenen Stämmen  des  Thier-  und  Pflanzenreichs  ihren  Ursprung 
gegeben  haben,  ursprünglich  gleich  oder  ungleich,  ob  sie  alle  autogou, 
oder  ob  sie  bereits  differenzirte,  divergente  Nachkommen  einer  einzigen 
autogonen  Stammform  gewesen  sind. 

Im  Ganzen  scheint  uns  bei  genauerer  Erwägung  diese  Frage, 
welche  wir  nie  sicher  werden  beantworten  können,  nicht  von  der 
grossen  Wichtigkeit  zu  sein,  welche  sie  im  ersten  Augenblick  bean- 
spruchen möchte.  Denn  es  ist  unseres  Erachtens  für  die  wesentlichen 
Grundanschauungen  der  organischen  Entwickelung  ziemlich  gleichgültig, 
ob  in  dem  Urmeere  zu  der  Zeit,  als  die  erste  Autogonie  stattfand,  an 
differenten  Localitäten  zahlreiche  ursprünglich  verschiedene  Moneren 
oder  aber  viele  gleichartige  Moneren  entstanden,  welche  sich  erst 
nachträglich  (durch  geringe  Veränderungen  in  der  atomistischen  Zu- 
sammensetzung des  Eiweisses)  differenzirten.  Das  Wichtigste  ist  und 
bleibt  für  uns  die  hypothetische  Vorstellung,  dass  alle  Organismen  ihren 
ältesten  Ursprung  auf  derartige  einfachste,  autogon  entstandene  Ur- 
wesen,  auf  homogene,  structurlose  Moneren  zurückzuführen  haben. 

III.    Ursprung  des  Thier-  und  Pflanzen -Reiches. 

Die  vorstehend  berührte  hypothetische  Frage  mich  der  ursprüng- 
lichen Zahl  der  autogonen  Moneren,  welche  niemals  mit  Sicherheit  zu 
entscheiden  sein  wird,  hat  hier  für  uns  nur  insofern  ein  besonderes 
Interesse,  als  mau  daraus  Schlüsse  könnte  ziehen  wollen  auf  die  ur- 
sprüngliche Differenz  des  Thier-  und  Pflanzenreichs.  Es  würde  sich 
hier  vielleicht  zunächst  die  Auffassung  bieten,  dass  ursprünglich  zwei 
verschiedene  Moneren- Arten  durch   Autogonie  entstanden    seien,    von 


III.    Ursprung  des  Thier-  und  Pflanzen-Reiches.  199 

denen  die  eine  als  die  älteste  gemeinsame  Stammform  der  Thiere, 
die  andere  als  der  gemeinsame  Urstamm  der  Pflanzen  zu  betrachten 
sei.  Wäre  dieses  der  Fall,  so  würden  Thier-  und  Pflanzenreich  in  der 
That  zwei  vollkommen  selbstständige,  von  einander  gesonderte  Haupt- 
gruppen darstellen.  Andererseits  könnten  wir  uns  denken,  dass  die 
ursprüngliche  erste  Autogonie  nur  eine  einzige  Moneren-Form  producirt 
habe,  aus  welcher  sich,  wie  aus  einer  gemeinsamen  Wurzel,  Thier- 
und  -Pflanzenreich  als  zwei  verschiedene  Stämme  nach  zwei  divergiren- 
den  Richtungen  hin  entwickelt  haben.  Endlich  wäre  daneben  noch 
die  dritte  Möglichkeit  übrig,  dass  mehr  als  zwei  verschiedene  autogone 
Moneren  die  ursprünglichen  Stammformen  aller  Organismen  seien,  und 
in  diesem  Falle  würde  der  Begriff  des  Thieres,  oder  der  Pflanze,  oder 
alle  beide  Begriffe,  nicht  der  Ausdruck  einer  oder  zweier  continuirlich 
zusammenhängender  Entwickelungsreihen ,  sondern  ein  Collectivbegriff 
für  eine  Summe  von  „  ähnlichen"  Stämmen  sein ;  es  entsteht  dann  auch 
die  Frage,  ob  wirklich  alle  Organismen  sich  unter  einen  dieser  beiden 
Begriffe  subsumiren  lassen,  oder  ob  es  daneben  noch  andere  Lebe- 
wesen giebt,  die  wir  weder  Thiere  noch  Pflanzen  nennen  können. 
Wir  müssen  alle  diese  drei  möglichen  Fälle  in  Erwägung  ziehen. 
Dabei  bringen  wir  nochmals  in  Erinnerung,  dass  wir  unter  Moneren 
ausschliesslich  die  vollkommen  homogenen  und  structurlosen  Organis- 
men einfachster  Art  verstehen,  formlose  lebende  Eiweissklumpen  gleich 
den  Protamoeben,  welche  sich  ohne  besondere  Organe  ernähren  und 
durch  Selbsttheilung  fortpflanzen.  Die  verschiedenen  „Arten"  (Spe- 
cies)  dieser  Moneren  können  sich  demgemäss  selbstverständlich  einzig 
und  allein  durch  sehr  geringe  Differenzen  in  der  chemischen  Consti- 
tution ihres  Eiweisskörpers  unterscheiden.  Soviel  verschiedene  Moneren- 
Arten,  soviel  verschiedene  Ei  weiss-  Verbindungen,  als  individuelle  Ur- 
wesen  lebend. 

Erster  möglicher  Fall:  Es  ist  nur  eine  einzige  Moneren- 
Art  durch  Autogonie  entstanden.  Alle  Organismen  ohne  Aus- 
nahme sind  die  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  entwickelten  Nach- 
kommen dieser  einzigen  Moneren- Art,  sind  Bestandteile  eines  einzigen 
Phylon.  In  diesem  Falle  würde  der  Stammbaum  aller  Lebewesen  sich 
unter  dem  Bilde  eines  einzigen  grossen  Baumes  zusammenfassen  lassen, 
aus  dessen  gemeinsamer  Wurzel  und  Stammbasis  zwei  verschiedene 
Stämme  oder  Hauptzweige  (Thier-  und  Pflanzenreich)  nach  zwei  ver- 
schiedenen Richtungen  ihre  Krone  getrieben  haben,  während  die  zwei- 
felhaften Zwischenformen  den  Wurzelschösslingen  gleichen  würden, 
welche  tief  unten  aus  dem  gemeinsamen  Stamme  ihren  Ursprung  ge- 
nommen haben.  Die  übliche  Eintheilung  der  Lebewesen  in  Thiere 
und  Pflanzen  würde  dann  eben  so  einen  genealogischen  Werth  haben, 
wie  jede  andere  Gruppenbildung  des   natürlichen  Systems;   sie  würde 


9Q0  Thiere  und  Pflanzen. 

den  weitesten  Divergenzgrad  der  Blutsverwandtschaft  bezeichnen. 
Dieser  Fall  ist  nach  unserer  Ansicht  nicht  wahrscheinlich,  da  wir 
stärkere  Veranlassung  haben,  eine  Autogonie  von  mehr  als  einer  ein- 
zigen Moneren -Art  anzunehmen.  Indessen  ist  er  immer  noch  wahr- 
scheinlicher, als  der  folgende. 

Zweiter  möglicher  Fall:  Es  sind  nur  zwei  verschiedene 
Moneren-Arten  durch  Autogonie  entstanden,  eine  vegetabi- 
lische und  eine  animalische.  Alle  Pflanzen  ohne  Ausnahme  sind 
die  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  entwickelten  Nachkommen  der 
einen,  der  vegetabilischen,  ebenso  alle  Thiere  ohne  Ausnahme  die 
Nachkommen  der  anderen,  der  animalischen  Moneren- Art.  Hiernach  wür- 
den alle  Organismen  entweder  Thiere  oder  Pflanzen  sein  müssen,  wie 
es  der  in  der  That  herrschenden  Anschauung  am  meisten  entsprechen 
würde.  Alle  Lebewesen  würden  demnach  Bestandtheile  zweier  voll- 
kommen selbstständiger  Phyla  sein,  und  sich  entweder  dem  einen 
oder  dem  andern  unterordnen  lassen.  In  diesem  Falle  würde  die 
Stammtafel  aller  Organismen  uns  das  Bild  von  zwei  grossen,  voll- 
kommen getrennten,  und  auch  an  der  Wurzel  nicht  zusammenhängen- 
den Bäumen  darbieten,  deren  jeder  sich  aus  seinem  eigenen  Samen- 
korn entwickelt  und  seine  eigene  Krone  getrieben  hat.  Die  niedrigen 
zweifelhaften  Zwischenformen  würden  tief  unten  aus  der  Wurzel  ent- 
weder des  einen  oder  des  anderen  Baumes  oder  aber  beider  Bäume 
hervorgekommen  sein.  Die  gewöhnliche  Unterscheidung  der  Lebewesen 
in  Thiere  und  Pflanzen  würde  in  diesem  Falle  vollkommen  der  Natur 
entsprechen  und  die  absolute  Verschiedenheit  der  beiden  Hauptgruppen 
richtig  bezeichnen.  Beide  würden  von  Grund  aus  und  durchweg  ver- 
schieden sein.  Dieser  Fall  entspricht  zwar  am  meisten  der  gewöhn- 
lichen Naturauffassung,  ist  aber,  wie  wir  glauben,  der  am  meisten  un- 
wahrscheinliche von  allen  drei  Fällen. 

Dritter  möglicher  Fall:  Es  sind  mehr  als  zwei  verschie- 
dene Moneren-Arten  durch  Autogonie  entstanden,  welche 
mehr  als  zwei  selbstständigen  Organismen-Stämmen  den 
Ursprung  gegeben  haben.  Dieser  Fall  ist  nach  unserer  Ansicht 
der  bei  weitem  wahrscheinlichste  von  allen  drei  möglichen  Fällen,  und 
wir  müssen  daher  denselben  einer  besonders  sorgfältigen  Erwägung 
unterziehen.  Wir  glauben,  dass  für  diesen  Fall  sowohl  a  posteriori 
die  thatsächlich  herrschenden  Differenzen  über  die  Abgrenzung  des 
Pflanzen-  und  Thier-Keichs ,  und  über  die  Stellung  der  zahlreichen 
zweifelhaften  Mittelformen  sprechen,  als  auch  die  Vorstellungen,  welche 
wir  uns  auf  Grund  unserer  geologischen  Erkenntnisse  a  priori  über 
die  Vorgänge  der  Autogonie,  über  die  Bedingungen,  unter  denen  die 
ersten  Organismen  entstanden,  machen  können.  Fassen  wir  alle  diese 
Vorstellungen  zusammen  und  vereinigen  sie  mit  den  allgemeinsten 
Resultaten  der  Morpliogonie,   so   begünstigen   sie  weit  mehr  die  An- 


III.    Ursprung  des  Thier-  nnd  Pflanzen-Reiches.  201 

nähme,  dass  eine  grössere  Anzahl  von  ursprünglich  (wenn  auch  nur 
wenig)  verschiedenen  Moneren -Arten  durch  Autogonie  entstanden  sei, 
als  die  entgegengesetzte  Hypothese,  dass  alle  Organismen  nur  einer 
einzigen  oder  nur  zwei  ursprünglich  verschiedenen  autogonen  Moneren- 
Arten  ihren  Ursprung  verdanken. 

Wenn  wir  uns,  was  allerdings  ausserordentlich  schwierig,  unsicher 
und  dunkel  ist;  irgend  eine  Vorstellung  über  den  Zustand  unserer 
Erdrinde  zu  der  Zeit  zu  bilden  versuchen,  als  die  erste  Autogonie  von 
Moneren  stattfand,  so  werden  doch  wohl  alle  hierüber  möglichen  Vor- 
stellungen darin  übereinstimmen,  dass  zu  jener  Zeit  bereits  an  ver- 
schiedenen Orten  verschiedene  physikalisch  -  chemische  Bedingungen 
für  die  Autogonie  obwalteten,  und  dass  mithin  auch  an  ver- 
schiedenen Stellen  in  Folge  dieser  Differenzen  verschiedene  Moneren- 
Arten  entstanden  sein  werden  —  Arten,  welche,  wie  bemerkt,  sich 
wahrscheinlich  blos  durch  leichte  Abweichungen  in  der  chemischen 
Constitution  ihres  Plasmakörpers,  ihrer  individualisirten  Eiweiss-Ver- 
bindung  unterschieden  haben  werden.  Auch  wenn  wir  uns  den  ein- 
fachsten Zustand  der  erstarrten  Erdrinde  zu  jener  Zeit  vorstellen,  den 
Fall  nämlich,  dass  die  ganze  Erdkugel  ringsum  gleichmässig  von  einer 
heissen  Wasserhülle  und  darüber  von  einer  dichten  kohlensäurereichen 
Dampfhülle  umgeben  gewesen  sei,  so  hat  doch  sicher  schon  die  feste, 
allenthalben  von  dem  Urmeere,  wie  von  einer  Wasserschale  umgebene 
Erdrinde  in  ihrer  Oberflächenbildung  keine  absolute  Gleichmässigkeit 
dargeboten.  Die  Risse  und  Sprünge,  welche  bei  der  Abkühlung  der 
feurig-flüssigen  Erdkugel  in  ihrer  erstarrenden  Rinde  entstanden,  haben 
vielmehr  schon  frühzeitig  mannichfaltige  Unebenheiten  und  Untiefen 
auf  dem  Boden  des  verschieden  tiefen  Urmeeres  bedingt,  Unebenheiten, 
welche  durch  das  Hervorquellen  neuer  feurig-flüssiger  Gesteinsmassen 
aus  den  Spalten  der  Rinde  noch  bedeutend  vermehrt  wurden,  und, 
indem  sie  sich  mehr  und  mehr  steigerten,  eine  immer  grössere  Man- 
nichfaltigkeit  in  der  physikalisch-chemischen  Beschaffenheit  verschiede- 
ner Stellen  des  Urmeeres  hervorbrachten.  Sehr  frühzeitig  und  viel- 
leicht schon  lange  vor  Eintritt  der  Autogonie  wird  die  Tiefe  des 
Urmeeres,  seine  Dichtigkeit,  seine  Temperatur,  sein  Salzgehalt,  seine 
Schwängerung  mit  verschiedenen  gelösten  Substanzen  an  vielen  Stellen 
eine  sehr  verschiedene  gewesen  sein,  und  es  werden  also  vielfach  ver- 
schiedene Bedingungen  obgewaltet  und  auf  die  Autogonie  eingewirkt 
haben.  Wahrscheinlich  sind  also  sehr  zahlreiche,  verschiedene  Moneren- 
Arten  autogon  entstanden,  alle  darin  übereinstimmend,  dass  sie  die 
denkbar  einfachste  Organismenform  repräsentirten,  nämlich  vollkommen 
homogene,  formlose  und  structurlose  Eiweissklumpen,  welche  lebten 
(d.  h.  sich  ernährten  und  durch  Theilung  fortpflanzten)  und  welche 
nur  durch  sehr  geringe  Differenzen  in  der  chemischen  Constitution  der 
Eiweiss-Verbindungen  sich  unterschieden. 


202  Thiere  und  Pflanzen. 

Aber  selbst  in  dem  Falle,  dass  nur  eine  und  dieselbe  Moneren- 
Art,  d.  h.  eine  und  dieselbe  Eiweiss- Verbindung  in  individueller  Form, 
an  vielen  Stellen  des  die  Erdrinde  umhüllenden  Urmeeres  gleichzeitig 
entstanden  wäre,  würden  doch  alsbald  bei  der  Anpassungs- Fähigkeit 
der  Moneren  an  die  verschiedenen  Existenz- Bedingungen  zahlreiche 
Differenzen  bei  den  sich  fortpflanzenden  autogonen  Moneren  zu  Stande 
gekommen  sein,  die  zur  Bildung  vieler  sehr  verschiedener  Moneren- 
„ Arten"  geführt  haben  werden.  Zudem  ist  es  höchst  wahrscheinlich, 
dass  die  Bedingungen,  welche  für  den  Eintritt  der  Autogonie  nöthig 
waren,  sehr  lauge  Zeit  hindurch  ununterbrochen  fortdauerten  und  dass 
demnach  dieser  Akt  nicht  nur  einmal  und  an  einer  einzigen  Stelle 
stattfand,  sondern  lange  Perioden  hindurch  und  an  vielen  Stellen  des 
Urmeeres  vor  sich  ging.  Ist  ja  doch  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen, 
dass  die  Autogonie  seit  ihrem  ersten  Eintritt  ununterbrochen  fortdauerte 
und  auch  gegenwärtig  noch  stattfindet.  Wenigstens  könnte  dafür  die 
fortdauernde  Existenz  von  höchst  einfachen  Moneren  (Protamoeba, 
Protogenes)  angeführt  werden,  die  uns  die  denkbar  einfachsten  Formen 
jener  Autogonen  noch  jetzt  unmittelbar  vor  Augen  führen. 

Alle  diese  Umstände  und  die  darauf  gegründeten  Erwägungen 
bestimmen  uns  a  priori  zu  der  Annahme,  dass  zahlreiche,  verschiedene 
Moneren-Arten  unabhängig  von  einander  im  Urmeere  entstanden  sind, 
dass  aber  die  meisten  derselben  im  Kampfe  um  das  Dasein  nach  den 
von  Darwin  entwickelten  Gesetzen  wieder  früher  oder  später  unter- 
gegangen sein  werden,  während  nur  sehr  wenige  sich  zu  erhalten 
und  zu  formen  reichen  Phylen  durch  Differenzirung  zu  entwickeln  ver- 
mocht haben.  Es  werden  also  jetzt  nur  noch  verhältnissmässig  wenige 
selbstständige,  aus  verschiedenen  Moneren  zu  verschiedener  Höhe  ent- 
wickelte Stämme  oder  Phylen  neben  einander  fortexistiren,  während 
der  bei  weitem  grösste  Theil  derselben  schon  wieder  untergegangen 
ist.  Nun  stimmen  in  der  That  mit  diesen  a  priori  erlangten  Annahmen 
die  eigenthümlichen  Verhältnisse,  welche  uns  a  posteriori  die  Ver- 
gleichuug  der  Thiere  und  Pflanzen  und  der  zwischen  ihnen  mitten 
inue  stehenden  unbestimmten  Organismen  aufdeckt,  ganz  vortrefflich 
überein.  Alle  über  diesen  schwierigen  Punkt  geführten  Streitigkeiten 
finden  ihre  Erledigung,  sobald  wir  annehmen,  dass  die  zahlreichen 
Organismen,  welche  sich  unmöglich  ohne  offenbaren  Zwang  entweder 
dem  Thier-  oder  dem  Pflanzenreiche  einreihen  lassen,  mehreren  selbst- 
ständigen Stämmen  von  Lebewesen  augehören,  die  sich  unabhängig 
von  den  Stämmen  des  Thier-  und  Pflanzen -Ueichs  entwickelt  haben. 
Wir  linden  in  den  bekannten  Thatsachen  durchaus  keine  Nöthigung 
für  die  Annahme,  dass  alle  Organismen-Stämme  entweder  Thiere  oder 
Pflanzen  sein  müssen.  Vielmehr  müssen  wir  die  bisher  gültige  exclu- 
sive  Zweitheilung  in  Thier-  und  Pflanzenreich  in  dieser  Beziehung  für 
nient  begründet  erachten.    Es  ist  schon  von  verschiedenen  Seiten  dar- 


III.    Ursprung  des  Thier-  und  Pflanzen-Reiches.  203 

auf  aufmerksam  gemacht  worden,  dass  es  sowohl  für  die  Zoologie 
als  für  die  Botanik  ein  grosser  Gewinn  sein  würde,  wenn  man  die 
vielen  zweifelhaften  Lebewesen,  die  weder  echte  Thiere  noch  echte 
Pflanzen  sind,  in  einem  besonderen  Mittelreiche  oder  Urwesenreiche 
vereinigen  würde;  doch  hat  unseres  Wissens  noch  Niemand  den  Ver- 
such gemacht,  ein  solches  neues  Reich  der  Urwesen  nach  Inhalt  und 
Umfang  fest  zu  bestimmen,  und  seine  Begrenzung  wissenschaftlich  zu 
begründen  und  zu  rechtfertigen.  Wir  wagen  hier  diesen  Versuch  auf 
Grund  der  obigen  Deductionen  und  schlagen  vor,  alle  diejenigen 
selbstständigen  Organismen -Stämme,  welche  weder  dem  Thier-  noch 
dem  Pflanzenreiche  mit  voller  Sicherheit  und  ohne  Widerspruch  zuge- 
rechnet werden  können,  unter  dem  Collectivnamen  der  Protisten,1) 
Erstlinge  oder  Urwesen,  zusammenzufassen. 

IV.  Stämme  der  drei  Reiche- 
Wenn  unsere  vorhergehenden  Betrachtungen  richtig  sind,  und 
wenn  wir  mit  Recht  annehmen,  dass  die  mannichfaltig  entwickelten 
Gruppen  der  Organismenwelt  mehr  als  zwei  verschiedenen  autogonen  Mo- 
neren ihren  Ursprung  verdanken,  und  demnach  mehr  als  zwei  verschiedene 
Stämme  oder  Phylen  darstellen;  wenn  wir  ferner  mit  Recht  diese  ver- 
schiedenen, ganz  von  einander  unabhängigen  Phylen  auf  die  drei 
Hauptgruppen  oder  Reiche  der  Thiere,  Protisten  und  Pflanzen  ver- 
theilen,  so  haben  wir  nun  hier  weiter  die  Frage  zu  beantworten,  ob 
jede  dieser  drei  Hauptgruppen  aus  einem  oder  aus  mehreren,  und  im 
letzteren  Falle  aus  wie  vielen  Stämmen  oder  Phylen  sie  besteht. 

Die  Betrachtungen,  welche  wir  oben  über  die  Bedingungen  der 
Autogonie  angestellt  haben,  im  Verein  mit  einer  allgemeinen  Ver- 
gleichung  der  Verwandtschafts-Verhältnisse  zwischen  den  sogenannten 
„Klassen"  der  organischen  Reiche,  scheinen  uns  zu  der  Annahme  zu 
berechtigen,  dass  jedes  der  drei  organischen  Reiche  aus  mehre- 
ren Phylen  zusammengesetzt  ist.  Am  wenigsten  zweifelhaft 
scheint  uns  dies  für  die  Protisten  zu  sein.  Dagegen  liesse  sich  einer- 
seits das  Thierreich,  andererseits  das  Pflanzenreich  (namentlich  das 
letztere)  schon  mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  als  ein  einziger  Stamm 
auffassen,  obwohl  wir  unsererseits  mehr  geneigt  sind,  auch  hier  mehrere 
selbstständige  Stämme  anzunehmen.  Denn  wenn  wir  die  palaeonto- 
logischen  und  embryologischen  Entvvickelungs-Reihen  aller  Organis- 
men vergleichend  ins  Auge  fassen,  uns  einen  umfassenden  und  all- 
seitigen Ueberblick  über  alle  Organisations- Verhältnisse  der  drei  Reiche 
zu  gewinnen  streben,  so   werden  wir   ebenso    hinsichtlich   des  Thier- 


')  nqüitaior,  io;  das  Allererste,  Ursprüngliche. 


204  Thiere  und  Pflanzen. 

reichs  und  des  Pflanzenreichs,  wie  hinsichtlich  des  Protistenreiches 
zu  der  Ansicht  hingeführt,  dass  jedes  derselben  eine  Gruppe  von 
mehreren,  aus  verschiedenen  Moneren  autogon  entstandenen  Stämmen 
darstelle. 

Offenbar  ist  diese  Frage,  obwohl  bisher  noch  von  Niemand  in 
Angriff  genommen,  für  die  vergleichende  Morphologie  von  der  gröss- 
ten  Wichtigkeit.  Denn  es  handelt  sich  dabei  um  die  endgültige  Ent- 
scheidung, ob  die  auffallenden  Aehnlichkeiten,  welche  wir  zwischen 
den  Stämmen  jedes  Reiches  wahrnehmen  (z.  B.  die  Aehnlichkeiten 
zwischen  den  Wirbelthieren  und  Gliederthieren,  oder  zwischen  den 
Xematophyten  und  Cormophyten),  homologe,  durch  gemeinsame  Ab- 
stammung erworbene,  oder  aber  analoge,  durch  gleiche  Anpassung 
entstanden  sind.  Wenn  alle  Organismen  jedes  der  drei  Reiche  von 
einem  und  demselben  autogonen  Monere  abstammen,  wenn  mithin  je- 
des Reich  einen  einzigen  Stamm  darstellt,  so  können  auch  zwischen  allen 
Gliedern  des  Stammes  Homologieen  existiren  d.  h.  Aehnlichkeiten, 
welche  auf  der  gemeinsamen  Abstammung,  auf  der  Vererbung  von 
der  gemeinsamen  Stammform  beruhen.  Wenn  dagegen  jedes  Reich 
aus  mehreren  Phylen  besteht,  die  ganz  unabhängig  von  einander  aus 
verschiedenen  Moneren  entstanden  sind,  so  können  auch  alle  Aehn- 
lichkeiten, welche  sich  etwa  zwischen  Gliedern  verschiedener  Stämme 
auffinden  lassen,  nur  Analogieen  sein,  d.  h.  durch  die  ähnliche  An- 
passung an  ähnliche  Existenzbedingungen  erworben.  Wenn  z.  B.  alle 
Thiere  Glieder  eines  einzigen  Thier-Phylon  sind  und  ihren  gemeinsamen 
Ursprung  auf  eine  einzige  Moneren- Art  zurückzuführen  haben,  so  wird 
die  Gliederung  der  Vertebraten  und  Articulaten,  die  Zusammensetzung 
ihres  Rumpfes  aus  vielen  hinter  einander  liegenden  Metameren,  auf 
Homologie  beruhen;  wenn  dagegen  das  Thierreich  aus  mehreren 
Phylen  besteht,  und  wenn  Vertebraten  und  Articulaten  zwei  getrennte 
Phylen  darstellen,  so  wird  die  ähnliche  Gliederung  ihres  Rumpfes 
nur  als  Analogie  aufzufassen  sein.  Offenbar  ist  aber  dieser  Unter- 
schied für  die  philosophische  Morphologie  von  der  äussersten  Wich- 
tigkeit. 

Die  Hülfsmittel,  welche  uns  zur  Lösung  dieser  eben  so  wichtigen 
als  schwierigen  Frage  zu  Gebote  stehen,  sind  nun  allerdings  äusserst 
unvollkommen  und  unsicher.  Wir  können  dieselbe,  wie  die  vorher- 
gehenden Fragen,  nur  mit  annähernder  Wahrscheinlichkeit  entschei- 
den, durch  umsichtige  Erwägung  der  vielfach  verwickelten  Bezie- 
hungen, welche  uns  die  embryologische,  palaeontologische  und  syste- 
matische Entwickelung  und  der  lichtvolle  Parallelismus  dieser  drei 
Entwickelungsreihen  an  die  Hand  giebt.  Wenn  wir  nun,  wie  es  im 
sechsten  Buche  eingehend  geschehen  wird,  auf  Grund  dieser  Er- 
wägungen möglichst  sorgfältig  und  umsichtig  Umfang  und  Zahl  der 


IV.    Stämme  der  drei  Reiche.  205 

Stämme  zu  bestimmen  suchen,  so  kommen  wir  zu  dem  Resultate,  dass 
jedes  der  drei  Reiche  aus  mehreren  Stämmen  besteht,  deren  jeder 
aus  einer  eigentümlichen  Moneren-Art  sich  entwickelt  hat.  Zwar  ist  es 
möglich,  dass  diese  verschiedenen  Stämme  doch  noch  an  ihrer  Wurzel 
zusammenhängen,  d.  h.  dass  die  scheinbar  selbstständigen  Urformen 
der  einzelnen  Stämme  durch  Differenzirung  einer  einzigen  autogonen 
Moneren-Art  entstanden  sind;  allein  wir  besitzen  keine  hinreichenden 
Garantieen,  um  dies  mit  einiger  Sicherheit  behaupten  zu  können.  Es 
scheint  uns  aber  für  unseren  Gegenstand  weit  erspriesslicher,  nur  die 
genügend  sicheren  Phylen  als  geschlossene  Einheiten  hinzustellen,  als 
einen  tieferen  Zusammenhang  derselben,  und  eine  vielleicht  nicht  be- 
gründete Einheit  ihrer  Wurzel  zu  behaupten.  So  können  wir  also 
z.  B.  sämmtliche  Wirbelthiere  und  ebenso  sämmtliche  Gliederthiere  als 
Glieder  eines  einzigen  Stammes  mit  aller  Sicherheit  hinstellen,  und 
von  einem  Phylon  der  Vertebraten,  einem  Phylon  der  Articulaten  spre- 
chen. Wir  können  aber  nicht  mit  genügender  Sicherheit  von  einem 
vereinten  Phylon  der  Vertebraten  und  Articulaten  sprechen,  obwohl 
uns  ihr  primitiver  Zusammenhang  vielleicht  wahrscheinlich  ist.  Wir 
müssen  daher  bei  Bestimmung  des  Umfangs  und  Inhalts  der  einzelnen 
Phylen  in  dieser  Beziehung  sehr  vorsichtig  sein,  und  ziehen  es  ent- 
schieden vor,  lieber  eine  grössere  Anzahl  von  Phylen  anzunehmen, 
deren  jeder  uns  sicher  eine  geschlossene  Einheit  von  blutsverwandten 
Organismen  darstellt,  als  eine  geringere  Anzahl  von  Stämmen,  von 
denen  vielleicht  einer  oder  der  andere  selbst  erst  wieder  aus  mehreren 
ursprünglich  getrennten  Stämmen  zusammengesetzt  ist. 

Da  wir  im  sechsten  Buche  unsere  Auftassimg  und  Begrenzung  der 
Organismen-Stämme  ausführlich  begründen  werden,  so  begnügen  wir 
uns  hier  mit  einer  einfachen  Aufzählung  derselben,  und  heben  dazu 
nur  wiederholt  und  ausdrücklich  folgenden  wichtigen  Grundsatz  her- 
vor: Jeder  Stamm  (Phylon)  der  Organismen-Welt  umfasst 
sämmtliche  jetzt  noch  existirende  oder  bereits  ausgestor- 
bene Lebensformen,  welche  alle  von  einer  und  derselben 
autogonen  Stammform  ihre  Herkunft  ableiten.  DieseStamm- 
form  (autogones  Urwesen)  ist  stets  zu  denken  als  ein  voll- 
kommen structurloses  und  homogenes  Moner,  ein  einfachstes 
organisches  Individuum,  ein  lebender  Klumpen  einer  Eiweissverbin- 
dung,  der  sich  ernährte  und  durch  Theilung  fortpflanzte,  und  aus 
welchem  erst  allmählig  in  vielen  Fällen  eine  Zelle  (durch  Difteren- 
zirung  von  Kern  und  Plasma)  und  aus  dieser  (durch  Theilung)  ein 
mehrzelliges  Lebewesen  sich  entwickelt  hat.  Einige  Phylen  sind  auf 
dem  primitiven  Urzustände  des  Moneres  stehen  geblieben,  andere  ha- 
ben sich  zu  einzelligen,  andere  zu  mehrzelligen  Organismen  ent- 
wickelt. 


206  Thiere  und  Pflanzen. 

Wenn  wir  nun  von  diesen  festeu  Gesichtspunkten  aus  die  Zahl 
der  Stamme,  die  in  jedem  der  drei  organischen  Reiche  sich  mit  eini- 
ger Sicherheit  unterscheiden  lassen,  bestimmen,  so  kommen  wir  zu 
folgendem  System  der  Phylen:  A.  Thierreich:  l)  Vertebrata 
(Pachycardia  et  Leptocardia).  2)  Mollusca  (Cephalota  et  Acephala). 
3)  Articulata  (Arthropoda,  Vermes  et  lnfusoria).  4)  Eckinodermata. 
ö)  Coelenterata.  B.  Protistenreich:  1)  Spongiae  (Porifera).  2)  Nocti- 
lucae  (Myxocystoda).  3)  Bhiz-opoda  (Radiolaria,  Actinosphaerida  et 
Acyttaria).  4)  Protoplasla  (Areellida,  Amoehida  et  Gregarinae.  5)  Mo- 
neres  (Protamoebae,  Protogenida  et  Vibriones ).  6)  Ftagellata.  7)  Dia- 
tomea.  8.  Myxomycetes  (Mycetozoa).  C.  Pflanzenreich:  1)  Phyco- 
phyta  (Algae  pro  parte).  2)  Characeae.  3)  Nematophyta  (Fungi  et 
Lichenes).  4)  fJormophyta  (Phanerogamae  omnes  et  Cryptogamae 
exclusis  Nematophytis,  Characeis  et  Phycophytis). 

V.    Characteristik  der  Stämme  und  Reiche. 

Da  nach  unserer  Ansicht  jedes  der  drei  Organismen -Reiche  aus 
mehreren  Phylen  besteht,  so  muss  natürlich  der  systematische  Werth, 
die  classificatorische  Bedeutung  der  Reiche  gänzlich  von  der  der 
Stämme  verschieden  sein.  Der  Stamm  ist  eine  natürliche  Gruppe, 
eine  concrete  Einheit,  das  Reich  dagegen  eine  künstliche  Gruppe,  eine 
abstracte  Einheit.  Alle  Glieder  und  über  einander  geordneten  Kate- 
gorieen  (Klassen,  Ordnungen,  Gattungen,  Arten  etc.)  eines  Stammes 
sind  innerhalb  desselben  durch  das  continuirliche  Band  der  gemein- 
samen Abstammung  zu  einem  untrennbaren  realen  Ganzen  verbunden, 
durch  Homologie.  Alle  Stämme  eines  Reiches  dagegen  sind  nur  künst- 
lich durch  gewisse  Aehnlichkeiten  zu  einer  idealen  Einheit  zusammen- 
gestellt, durch  Analogie.  Daher  hat  denn  auch  der  Versuch  einer 
Characteristik  oder  differeutiellen  Diagnostik  einen  ganz  verschiedenen 
Werth  bei  den  Reichen  und  bei  den  Stämmen.  Wir  werden  leichter 
eine  umfassende  künstliche  Diagnose  der  drei  organischen  Reiche,  als 
eine  erschöpfende  natürliche  Characteristik  der  einzelnen  Stämme 
geben  können.  Machen  wir  aber  wirklich  dazu  den  Versuch,  so  finden 
wir  alsbald,  dass  sowohl  jene  als  diese  in  absoluter  Vollkommenheit 
nicht  zu  geben  ist. 

Eine  erschöpfende  und  alle  Glieder  (Kategorieen)  des 
Stammes  gleichmässig  umfassende  Characteristik  eines 
Phy  Ion  ist  ganz  unmöglich.  Zwar  findet  man  in  allen  Lehrbüchern 
solche  Definitionen  oder  Diagnosen  der  grossen  Hauptpruppen,  welche 
im  Ganzen  unseren  Stämmen  entsprechen,  und  diese  Diagnosen  haben 
oft  den  vollen  Schein  einer  abgerundeten  Definition.  Auch  ist  es  in 
der  That  nicht  schwer,  manche  Phylen  in  dem  Umfange,  wie  wir 
sie  jetzt   kennen,   vortrefflich  durch   bestimmte  und  scharf  unter- 


V.    Characteristik  der  Stämme  und  Reiche.  207 

scheidende  Merkmale  zu  cbaracterisiren.  So  z.  B.  ist  die  Diagnose 
des  Wirbelthier  -  Stammes ,  des  Coelenteraten- Stammes  etc.  mit  voller 
Schärfe  und  Sicherheit  zu  geben.  Allein  eine  solche  Diagnose  ist  nur 
möglich  dadurch,  dass  man  ausschliesslich  die  vollendeten  Formen 
zusammenstellt  und  vergleicht,  die  werdenden  und  nicht  entwickelten 
dagegen  ausschliesst.  Dies  gilt  ganz  ebenso  von  der  Definition  der 
Stämme,  wie  von  derjenigen  der  Gruppen  innerhalb  der  Stämme.  Jeder 
wird  uns  dies  zugeben,  wenn  er  an  die  embryonale  Entwickelung 
denkt.  Es  ist  z.  B.  ganz  unmöglich,  die  Embryonen  von  Vögeln  und 
Reptilien  bis  zu  einer  gewissen  Zeit  ihrer  Entwickelung  zu  unterschei- 
den, und  doch  setzt  die  Definition  der  vollendeten  Formen  beide  Klas- 
sen scharf  und  vollständig  von  einander  ab.  Ebenso  ist  es  ganz  unmög- 
lich, die  Eier  und  die  ersten  Entwickelungszustände  (z.  B.  die  maul- 
beerförmigen  Zellenhaufen,  die  aus  der  totalen  Eifurchung  hervorgehen) 
von  Thieren  verschiedener  Klassen  (z.  B.  Cephalophoren  und  Lamelli- 
branchien)  zu  unterscheiden;  diese  Unterscheidung  ist  selbst  bei  Ange- 
hörigen ganz  verschiedener  Stämme  (z.  B.  Echinodermen  und  Mollus- 
ken) oft  unmöglich.  In  noch  viel  höherem  Maasse  macht  sich  aber 
dieser  Umstand  geltend,  wenn  wir  an  die  palaeontologische  Entwicke- 
lung und  an  die  continuirlich  zusammenhängenden  Stufenreihen  von 
Formen  denken,  die  aus  einer  und  derselben  gemeinsamen  Wurzelform 
nach  verschiedenen  Richtungen  hin  sich  divergent  entwickeln.  Da  hier 
liberall  eine  unendliche  Menge  verbindender  Zwischenglieder  ganz 
allmählig  von  einer  Form  in  die  andere  hiuüberleitet  und  da  auch  die 
höchst  entwickelten  und  scharf  ausgebildeten  Endglieder  der  Ent- 
wickelungsreihen  durch  eine  ununterbrochene  Stufenfolge  mit  den  nie- 
dersten und  einfachsten  Moneren,  den  gemeinsamen  autogonen  Stamm- 
formen, continuirlich  zusammenhängen,  so  ist  es  geradezu  unmöglich, 
sowohl  die  einzelnen  Glieder  (Kategorieen)  eines  Stammes  durch  eine 
scharfe  Definition  zu  unterscheiden,  als  auch  den  ganzen  Stamm  durch 
eine  auf  alle  seine  Glieder  passende  und  auf  kein  Glied  eines  ande- 
ren Stammes  passende  Diagnose  zu  cbaracterisiren.  Wenn  dies  den- 
noch häufig  möglich  zu  sein  scheint,  wenn  wir  z.  B.  die  drei  Klassen 
der  Säuger,  Vögel  und  Reptilien  durch  scharfe  Diagnosen  trennen, 
wenn  wir  den  Stamm  der  Wirbelthiere  scharf  cbaracterisiren,  so  ist 
dies  blos  dadurch  möglich,  dass  wir  ausschliesslich  die  höchst  ent- 
wickelten und  ausgebildeten  Formen  vergleichen  und  die  zahllosen 
ernbryologischen  und  palaeontologischen  Entwickelungszustände  gänz- 
lich vernachlässigen.  So  z.  B.  können  wir  die  drei  Ordnungen  der 
Hufthiere  (Pachydermen,  Pferde  und  Wiederkäuer)  in  der  Jetztwelt 
sein-  scharf  von  einander  trennen;  es  ist  dies  aber  ganz  unmöglich, 
wenn  wir  ihre  früheren  Embryonal-Zustände,  oder  auch  wenn  wir  nur 
ihre  ausgestorbenen  Blutsverwandten  der  Tertiärzeit  mit  in  den  Kreis 


•_>i  is  Thiere  und  Pflanzen. 

der  Betrachtung'  hineinziehen,  welche  theils  die  gemeinsamen  Stamm- 
formen, theils  die  unmittelbaren  Zwischenglieder  zwischen  denselben  dar- 
stellen. Nur  desshalb  können  wir  scharf  den  Stamm  der  Wirbelthiere 
von  den  übrigen  thierischen  Phylen  trennen,  weil  wir  von  ihnen  nur 
die  hoch  entwickelten  Formen  der  Fische,  Amphibien  und  der  allan- 
toiden  Vertebratcn  kennen,  während  uns  alle  ihre  einfacher  gebauten 
Vorfahren  und  die  zahllosen  niedrigeren  Vertebraten,  von  denen  uns 
blos  der  einzige  Amphioxus  eine  Ahnung  zu  geben  vermag,  ganz  un- 
bekannt sind.  Und  doch  muss  sich  auch  der  Stamm  der  Wirbelthiere, 
ebenso  wie  der  der  Articulaten,  aus  einem  autogonen,  "einer  Prota- 
moeba  ähnlichen  Monere  allmählig  entwickelt  haben,  wie  uns  schon 
ihre  gemeinsame  embryonale  Entwicklung  aus  einem  einfachen  Eie 
beweisst.  Jeder  Stamm  muss  sich  aus  einem  solchen  einfachsten  Mo- 
nere allmählig  stufenweis  emporgehoben  haben,  muss  also  auch  zahl- 
reiche, höchst  unvollkommene  „Species"  innerhalb  seines  Formenkreises 
einschliessen,  welche  nur  als  einfachste  Individuen  erster  Ordnung, 
als  Piastiden  (erst  Cytoden,  später  Zellen)  existirt  und  sich  längere 
Zeit  hindurch  auch  als  solche  fortgepflanzt  haben,  ehe  sich  aus  ihnen 
im  Kampfe  um  das  Dasein  höhere  Organismen  entwickelten.  Wir 
können  also  zu  einer  differentiellen  Diagnose  jedes  Phylon,  zu  einer 
wirklich  characteristischen  Definition  jedes  Stammbegriffs  nur  dadurch 
künstlich  gelangen,  dass  wir  die  höchst  entwickelten  Formen  allein 
berücksichtigen  und  die  unvollkommneren  und  indifferenten  embiyonalen 
und  palaeontologischen  Entwickelungsformen  ausschliessen. 

Ganz  ebenso  unmöglich,  als  eine  scharfe  Unterscheidung  und  eine 
vollständige  Characteristik  der  einzelnen  Stämme,  ist  auch  eine  voll- 
kommen scharfe  Diagnose  und  eine  alle  Glieder  jedes  Reiches  um- 
fassende Definition  der  drei  Reiche,  deren  jedes  wieder  aus  mehreren 
Stämmen  besteht.  Da  jedoch  der  Begriff  des  Reiches  nicht,  wie  der 
des  Stammes,  einer  realen  Einheit  entspricht,  sondern  blos  ein  künst- 
licher Collectivbegriff  ist,  und  sich  auf  eine  Anzahl  von  Analogieen, 
von  Aehnlichkeiten  stützt,  die  mehrere  selbstständige  Stämme  unter 
sich  zeigen,  so  brauchen  wir  in  der  Diagnose  der  Reiche  bloss  diese, 
allen  Stämmen  eines  Reiches  und  allen  Stämmen  der  anderen  Reiche 
abgehenden  Eigenthüinlichkeiten  hervorzuheben,  um  sie  von  einander 
künstlich  zu  unterscheiden.  Natürlich  werden  auch  hier  nur  die  aus- 
gebildeteren  Formen  berücksichtigt  werden  können,  welche  jene  Unter- 
schiede deutlich  zeigen,  da  wir  keine  Mittel  besitzen,  die  niedersten 
und  einfachsten  Formen,  die  frühesten  embryologischen  und  palaeon- 
tologisclien Entwicklungsstufen  (ebenso  der  einzelnen  Reiche,  wie  der 
einzelnen  Stämme)  von  einander  zu  unterscheiden.  Es  wird  also  auch 
diese  Diagnose  der  Reiche  eine  durchaus  künstliche  und  mangelhafte 
sein,  gleich  allen  anderen  Diagnosen  des  Systems.   Da  wir  aber  diese 


V.    Characteristik  der  Stämme  und  Reiche.  209 

Diagnosen  nicht  entbehren  können,  und  da  wir  in  der  wissenschaft- 
lichen Praxis  tiberall  die  einzelnen  Gruppen  (Klassen,  Arten  etc.)  scharf 
trennen  und  durch  Namen  unterscheiden  müssen,  obwohl  wir  wissen, 
dass  sie  durch  unmerkliche  Zwischenformen  zusammenhängen,  so 
wollen  wir  auch  hier  den  schwierigen  und  gefährlichen  vorläufigen 
Versuch  wagen,  eine  künstliche  und  möglichst  (!)  scharfe  Characteristik 
der  drei  Reiche,  unter  vorwiegender  Berücksichtigung  der  vollkomme- 
neren, am  meisten  ausgebildeten  Formen  aufzustellen. 


VI.    Character  des  Thierreiches. 

Fünf  Stämme  des  Thierreiches:    1.  Vertebrata  (Pachycardia  et  Leptocardia). 

2.  Mollusca  (Cephalota  et  Acephala).     3.  Articulata  (Arthropode,  Ver- 

mes  et  Infusoria).     4.  Echinodermata.    5.  Coeleuterata. 

VI.  A.    Chemischer  Character  des  Thierreiches. 

Aa.    Character  der  chemischen  Substrate  der  Thiere. 

Die  wichtigsten  Substanzen  des  Thierkörpers  (vor  Allen  das 
Plasma  oder  Protoplasma  der  Piastiden)  sind  Eiweiss-Verbindungen 
(Albuminate),  durch  deren  Thätigkeit  die  meisten  anderen  Verbin- 
dungen des  Thierleibes  mittelbar  oder  unmittelbar  erzeugt  werden. 
Die  Eiweisskörper  der  Thiere  treten  in  zahlreichen  noch  sehr  unbe- 
kannten Modificationen  auf,  von  denen  die  wichtigsten  das  Thiereiweiss 
(das  beim  Erhitzen  in  Flocken  gerinnende  Albuminat  der  Eier,  des 
Blutserum,  des  Muskelsaftes),  der  Thierfaserstoff  (Blutfibrin,  Muskel- 
syntonin  etc.)  und  der  Thierkäsestoff  (Casein  der  Milch  etc.)  sind. 
Aus  den  Eiweiss- Verbinclungen  der  Thierkörper  gehen  stickstoffhaltige, 
meist  sauerstonreichere  und  kohlenstoffärinere  Eiweiss-Derivate  her- 
vor, welche  besonders  als  Zellenausscheidungen,  als  Cuticularbildungen 
und  als  Intercellularsubstanzen,  eine  grosse  Rolle  spielen,  und  welche 
auch  von  vielen  Protisten,  dagegen  von  den  Pflanzen  sehr  selten,  viel- 
leicht nie  erzeugt  werden:  Hornsubstanz  (der  Epithelialgewebe),  leim- 
gebende Substanz  (der  Bindegewebe),  elastische  Substanz  und  die  nah- 
verwandte Substanz  der  Membranen  der  meisten  thierischen  Zellen; 
ferner  die  vielerlei  Modificationen  des  Chitins  und  der  verwandten 
Substanzen  (Fibroin,  Conchiolin  etc.).  Ebenso  sind  die  Thiere  aus- 
gezeichnet durch  die  Erzeugung  von  stickstoffhaltigen  Säuren 
(Harnsäure,  Hippursäure,  Inosinsäure  etc.),  welche  den  Pflanzen  feh- 
len, wogegen  die  stickstofffreien  Säuren  hier  eine  sehr  viel  geringere 
Verbreitung  und  Bedeutung,  als  bei  den  Pflanzen  haben.  Die  stick- 
stoffhaltigen Basen  der  Thiere  (Harnstoff,  Kreatin,  Leucin  etc.) 
sind    schwach   alkalisch   und   fast   von    constanter   Zusammensetzung, 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  J4 


210  Thiere  und  Pflanzen. 

umgekehrt  wie  bei  den  Pflanzen.  Der  wichtigste  Farbstoff  der  Pflan- 
zen, das  Chlorophyll,  kommt  in  den  Thieren  nur  sehr  selten  vor 
(z.  B.  bei  Stentor,  bei  Hydra  viridis,  einigen  Turbellarien,  BonelUa  etc.). 
Fette  kommen  in  allen  Thieren  vor.  Die  stickstofffreien  Verbindungen 
aus  der  Gruppe  der  Kohlenhydrate,  welche  bei  den  Pflanzen  als 
Cellulose,  Stärke,  Gummi.  Zucker  etc.  eine  so  hervorragende  Rolle 
spielen,  kommen  in  den  Thieren  nur  selten  vor  (Cellulose  im  Mantel 
der  Tunicaten);  nur  der  Zucker  (Milchzucker,  Traubenzucker)  ist  häufig. 
Während  diese  Kohlenhydrate,  vor  Allen  die  Cellulose,  im  Pflanzen- 
körper die  eigentlich  skeletbildenden  Substanzen  sind,  finden  wir  da- 
gegen im  Körper  der  meisten  Thiere  Skelete  aus  anorganischen,  d.  h. 
nicht  kohlenstoffhaltigen  Verbindungen,  gebildet,  insbesondere  aus 
Kalksalzen;  bei  den  Wirbelthieren  überwiegt  der  phosphorsaure,  bei 
den  Wirbellosen  der  kohlensaure  Kalk,  der  oft  den  grössten  Theil  des 
Körpers  bildet  (Anthozoen).  Im  Allgemeinen  treten  diese  und  andere 
Salze  (insbesondere  der  Alkalien  und  alkalischen  Erden,  Kochsalz  etc.) 
im  Thierkörper  in  constanteren  Mengenverhältnissen  auf  und  können 
sich  weniger  substituiren,  als  dies  bei  den  Pflanzen  der  Fall  ist. 

Ab.  Character  der  chemischen  Processe  der  Thiere. 
Der  wesentliche  Character  der  chemischen  Processe,  welche  im 
Thierkörper  vor  sieh  gehen,  beruht  auf  Analyse  und  Oxydation  zu- 
sammengesetzter Verbindungen,  und  lässt  sich  in  den  wenigen  Worten 
zusammenfassen:  Das  Thier  ist  ein  Oxydations-Organismus. 
Das  Thierleben  im  Grossen  und  Ganzen  ist  ein  Oxydations-Process. 
Die  Thiere  bilden  aus  den  verwickelten  „organischen"  oder  Kohlenstoff- 
Verbindungen  (Albuminaten,  Fetten  etc.),  welche  sie  aus  den  Pflanzen 
als  Nahrung  aufnehmen,  durch  Analyse  und  Oxydation  die  ein- 
facheren „anorganischen"  Verbindungen  (Kohlensäure,  Wasser  und 
Ammoniak),  welche  wiederum  den  Pflanzen  zur  Nahrung  dienen.  Doch 
kommen  im  Einzelnen  daneben  auch  vielfach  synthetische  und  Reduc- 
tions-Processe  vor. 

VI.  B.    Morphologischer  Character  des  Thierreiches. 

Ba.    Character  der  thierischen  Individualitäten. 

Der  wesentliche  tectologische  Character  der  Thiere  liegt  so- 
wohl in  der  verwickeiteren  Zusammensetzung  des  Thierleibes  aus  weit 
differenzirten  Individuen  verschiedener  Ordnung,  als  auch  besonders  in 
der  verschiedenartigsten  Ausbildung  der  Individuen  zweiter  Ordnung, 
der  Organe,  welche  viel  mauuichfaltiger,  als  bei  den  Pflanzen  und 
Protisten,  differenzirt  und  polymorph  sind.  Die  Piastiden,  die  Indi- 
viduen erster  Ordnung,  sind  bei  den  Thieren  allermeist  Zellen,  und 
zwar  meistens   Nacktzellen  (ohne   Membran),  weniger  Hautzellen  (mit 


VI.    Character  des  Thierreiches.  211 

Membran).  Sehr  häufig,  und  allgemein  in  den  entwickelten  Personen, 
vereinigen  sich  bei  den  Thieren  mehrere  Nacktzellen  zur  Bildung  von 
Zellstöcken  (Nervenfasern,  Muskelfasern),  was  bei  den  Pflanzen  nur 
bei  der  Bildung  der  Milchsaftgefässe  und  der  Spiralgefässe  geschieht. 
Daher  verliert  bei  den  Thieren  stets  wenigstens  ein  Theil  der  Zellen 
ihre  individuelle  Selbstständigkeit,  während  sie  dieselbe  in  den  Pflan- 
zen meist  behalten.  Ueberhaupt  erreicht  die  Entwickelung  der  „Ge- 
webe" durch  Diflerenzirung  der  Zellen  bei  den  Thieren  einen  weit 
höheren  Grad,  als  bei  den  Protisten  und  Pflanzen.  Bei  allen  ent- 
wickelten Thieren  kann  man  vier  Gruppen  von  Geweben  unter- 
scheiden: I.  Epithelialgewebe,  II.  Bindegewebe,  III.  Muskelgewebe, 
IV.  Nervengewebe.  Die  Organe  der  Thiere  sind,  entsprechend  ihren 
mannichfaltigen  Functionen,  äusserst  mannichfaltig  entwickelt.  Es  lassen 
sich  bei  allen  entwickelten  Thieren  in  morphologischer  Hinsicht  zahl- 
reiche verschiedene,  und  in  physiologischer  Hinsicht  allgemein  vier 
Gruppen  von  Organen  unterscheiden:  I.  Ernährungs-Organe  (Werk- 
zeuge der  Verdauung,  Circulation,  Respiration),  IL  Fortpflanzungs- 
Orgaue  (Geschlechts-Werkzeuge),  III.  Locomotions-  oder  Bewegungs- 
Organe  (Muskeln),  IV.  Beziehungs- Organe  oder  Nerven  (Organe  der 
Sinnesempiindung,  der  Willensbewegung  und  des  Denkens).  Die  In- 
dividualitäten sechster  Ordnung,  welche  bei  den  Pflanzen  als  Stöcke 
(Cormi)  so  allgemein  und  hoch  entwickelt  sind,  treten  als  solche  con- 
tinuirlich  zusammenhängende  Raumeinheiten  nur  bei  den  unvollkomme- 
neren Stämmen  der  Thiere  auf,  allermeist  nur  bei  festsitzenden  For- 
men des  Thierreichs,  da  hiermit  nicht  die  freie  Bewegung  der  Indivi- 
duen fünfter  Ordnung,  der  Personen,  verträglich  ist,  welche  bei  den 
Thieren  ganz  vorwiegend  entwickelt  sind.  Statt  dessen  finden  wir  bei 
den  Thieren  sehr  allgemein  Polymorphismus  freier  Personen,  und  die 
Bildung  von  Staaten  (Heerden  etc.),  welche  sich  von  den  realen  Ein- 
heiten der  Stöcke  dadurch  unterscheiden,  dass  die  einzelnen  Personen 
nur  ideal  zur  Einheit  des  Ganzen  verbunden  sind. 

Bb.    Character  der  thierischen  Grundformen. 

Die  Thiere  zeichnen  sich  sowohl  vor  den  Protisten  als  vor  den 
Pflanzen  hinsichtlich  ihrer  Grundformen  dadurch  aus,  dass  bei  ihnen 
allgemein  die  Zeugiten-Form,  und  zwar  gewöhnlich  die  Eudi- 
pleuren-Form,  die  herrschende  ist,  die  Grundform  also  der  halben 
amphithecten  Pyramide  (sogenannte  „bilaterale  Symmetrie"),  welche  bei 
den  Pflanzen  meist  nur  in  den  höheren  Formen,  bei  den  Protisten 
aber  überhaupt  selten  vorkommt.  Die  physiologischen  Individualitäten 
der  Thiere,  welche  meist  durch  morphologische  Individuen  fünfter 
Ordnung  oder  Personen  repräsentirt  werden,  zeichnen  sich  meist 
durch   sehr  verwickelte  äussere  Formen  aus,  unter  denen  gewöhnlich 

14* 


212  Thiere  und  Pflanzen. 

die  Eudipleuren-Form  und  andere  Grundformen  der  höchsten,  am 
meisten  differenzirten  Stufen  sehr  versteckt  sind.  Dagegen  sind  bei 
ihnen  die  niedriger  stehenden  Grundformen,  besonders  die  vollkommen 
regulären  Formen,  die  bei  den  Protisten  so  vorwiegen,  im  Ganzen 
selten.  Die  Grundform  der  regulären  Pyramide,  welche  bei  den 
Pflanzen  (besonders  in  den  Sexual- Individuen)  so  sehr  verbreitet  ist, 
erscheint  bei  den  Thieren  viel  seltener,  allgemeiner  nur  bei  deu  soge- 
nannten „Strahlthieren",  den  beiden  Stämmen  der  Echinodermen  und 
Coelenteraten.  Die  letzteren  sind  zum  grösseren  Theil  festsitzende 
Thiere.  Bei  deu  frei  beweglichen  Thieren  musste  die  Eudipleureu- 
Form  schon  wegen  des  offenbaren  Vortheils,  den  sie  für  die  freie 
Ortsbewegung  bietet,  im  Kampfe  um  das  Dasein  den  Vortheil  über 
die  unpractischere  „regulär- radiäre-'  Form,  die  Grundform  der  regu- 
lären Pyramide,  gewinnen. 

VI.   C.    Physiologischer  Character  des  Thierreiches. 

Ca.  Character  der  allgemeinen  L  ebeus  ersehe  inuage  u  bei  deu 

Thieren. 

Die  Ernährung  der  Thiere  zeichnet  sich  vor  derjenigen  aller 
Pflanzen  und  der  meisten  Protisten  dadurch  aus,  dass  die  allermeisten 
Thiere  feste  Nahrungsstoffe  in  besondere  Höhlungen  ihres  Inneren 
(Darm)  aufnehmen,  in  welchen  dieselben  verflüssigt  (verdaut)  und  dann 
durch  die  Wandungen  dieser  Höhlen  hindurch  (mittelst  Endosmose) 
aufgesaugt  werden.  Doch  fehlen  solche  Höhlungen  manchen  schma- 
rotzenden Thieren  (Cestoden,  Acanthocephalen),  welche  gleich  parasi- 
tischen Pflanzen  bereits  zubereitete  flüssige  Nährstoffe  durch  ihre  Ober- 
fläche (Haut)  imbibireu.  Die  Thiere  nehmen  allgemein  Sauerstoff  aus 
der  Atmosphäre  auf  und  ausserdem  neben  gewissen  einfacheren  Ver- 
bindungen (Wasser,  Kochsalz  und  andere  kohlenstofffreie  Salze)  auch 
noch  sämmtlich  als  eigentliche  Nahrungsstoffe  verwickeitere  Kohlen- 
stoff-Verbindungen (Albuminate,  Fette  etc.),  welche  sie  theils.  unmittel- 
bar aus  den  Pflanzen,  theils  aus  den  pflanzenfressenden  Thieren  be- 
ziehen. Indem  sie  diese  oxydireu,  bilden  sie  Kohlensäure  und  andere 
einfache  Verbindungen.  Daher  athmen  die  Thiere  sämmtlich  Sauerstoff 
ein,  Kohlensäure  aus.  Bei  deu  allermeisten  Thieren  wird  der  durch 
die  Verdauung  gewonnene  Ernährungssaft  (Chylus,  Blut)  durch  be- 
sondere Systeme  von  communicirenden  Röhren  (Chylusgefässen,  Blut- 
gefässen; den  verschiedenen  Körpertheilen  zugeleitet,  und  dessen  Fort- 
bewegung in  denselben  entweder  durch  contractile  Wimpern  oder  durch 
besondere  contractile,  rhythmisch  pulsirende  Behälter  (Herzen)  geregelt 
und  beschleunigt.  Die  Fortpflanzung  geschieht  bei  den  Thieren 
allgemein  auf  geschlechtlichem  Wege,  und  ausserdem  bei  den  meisten 
niederen   Thieren  zugleich   auf  ungeschlechtlichem  Wege  (durch  Thei- 


VI.    Oharacter  des  Thierreiches.  213 

lung,  Knospenbildung).  Hier  wechseln  dann  diese  beiden  Formen  der 
Fortpflanzung'  meist  in  der  Weise  mit  einander  ab,  dass  ein  regel- 
mässiger Generationswechsel  besteht.  Dieser  fehlt  den  allermeisten 
höher  entwickelten  Thieren.  Die  beiderlei  Geschlechter  sind  bei  der 
grossen  Mehrzahl  der  Thiere  getrennt,  nur  bei  vielen  niederen  Formen 
in  einem  Individuum  fünfter,  selten  sechster  Ordnung  vereinigt. 

Bei  allen  Thieren  finden  wir  diese  allgemeinen  Lebensthätigkeiten 
der  Ernährung,  des  Wachsthums  und  der  Fortpflanzung  unzertrennlich 
verbunden  mit  gewissen  molekularen  Bewegungserscheinungen  und 
Massebewegungen  (mechanischen  Leistungen),  welche  auch  allen  Pflan- 
zen und  Protisten  unentbehrlich  sind.  Auch  hier  sind  es  in  erster 
Linie  gegenseitige  Lageveränderungen  der  Moleküle  des  Plasma,  welche 
sich  als  „Contractionen",  als  Wach sthum  und  als  Fortpflanzung  (Thei- 
lung  und  Knospenbildungj  der  Piastiden  äussern.  Auch  hier  beruhen 
diese  allgemeinen  „organischen"  Functionen  (die  man  oft  unpassend 
„vegetative"  nennt)  im  Grunde  darauf,  dass  (vielleicht  immer  unter 
Wärme -Ent Wickelung)  Spannkräfte  in  lebendige  Kräfte  übergeführt 
werden. 

C  b.    Character   der   besonderen  thierischen   Lebenserscheinungen. 

Ausser  den  oben  genannten  lebendigen  Kräften  entwickeln  alle 
Thiere  eine  Summe  von  eigenthümlichen  Bewegungserscheinungen, 
welche  den  Pflanzen  grösstentheils  abgehen  und  welche  man  desshalb 
wohl  als  „animale"  Functionen  im  engeren  Sinne  bezeichnen  kann. 
Diese  thierischen  Bewegungen  beruhen  wesentlich  auf  dem  characte- 
ristischen  Oxydations-Chemismus  der  Thiere.  Indem  die  Hauptsumme 
der  chemischen  Processe  in  dem  Thiere  besonders  darauf  hinausläuft, 
die  verwickelten  und  lockeren  Kohlenstoff- Verbindungen  durch  Oxyda- 
tion in  die  einfachen  und  festen  Verbindungen  des  Wassers,  der  Koh- 
lensäure, des  Ammoniaks  überzuführen,  entwickeln  sie  eine  grosse 
Menge  lebendiger  Kraft,  welche  als  potentielle  oder  Spannkraft  in 
jenen  complicirten  Verbindungen  gebunden  war.  Die  Thiere  setzen 
vorzüglich  Spannkräfte  in  lebendige  Kräfte  um.  Die  Bewe- 
gungen der  befreiten  lebendigen  Kraft  äussern  sich  theils  als  Wärme 
(„thierische  Wärme"),  theils  als  Licht  (Leuchten  der  Seethiere),  vor- 
züglich aber  als  die  eigenthümliche  Bewegung  gewisser,  ausschliesslich 
thierischer  Organe,  der  Muskeln  und  Nerven.  Die  Muskelbewe- 
gungen äussern  sich  in  der  Verrichtung  gröberer  mechanischer  Arbeit 
durch  besonders  differenzirte  contractile  Zellen  oder  Zellenstöcke, 
welche  durch  ihre  Contractionen  Ortsbewegungen  einzelner  Theile  des 
Körpers  gegen  einander  oder  gegen  die  Aussenwelt  bewirken.  Die 
Nervenbewegungen,  welche  das  Thier  vor  Allen  characterisiren, 
sind,     vom    mechanischen    Gesichtspunkt    aus    betrachtet,     wesentlich 


214  Thiere  und  Pflanzen. 

„Auslösungen",  d.  h.  Bewegungen,  welche  eine  gewisse  Menge  von 
Spannkraft  in  lebendige  Kraft  verwandeln.  Das  Nervensystem  stellt 
einen  zusammenhängenden  Regulationsapparat  dar,  der  alle  Theile  des 
Körpers  unter  einander  in  Verbindung  setzt.  Es  besteht  aus  einem 
Centralapparat  (Nervencentrum,  Ganglienknoten),  in  welchem 
die  verschiedensten  Theile  des  Nervensystems  in  mittelbare  oder  un- 
mittelbare Wechselwirkung  treten  und  in  welchem  ausserdem  selbst- 
ständige Regulations-Centra  existiren;  und  aus  einem  Leitungsappa- 
rat (peripherisches  Nervensystem,  Nervenfasern),  welcher  theils  centri- 
fugal,  theils  centripetal  den  nervösen  Centralapparat  mit  den  übrigen 
Körpertheilen  in  Wechselwirkung  setzt.  Die  centripetalen  Leitungs- 
fasern (sensible  Nerven)  sind  Auslösungsketten,  welche  an  ver- 
schiedenen Theilen  des  peripherischen  Körpers  (insbesondere  in  den 
Sinnesorganen)  Eindrücke  aufnehmen,  und  diese  durch  äussere  Ein- 
flüsse (Licht,  Schall,  Wärme,  Druck  etc.)  bewirkten  Auslösungen  auf 
das  Centrum  übertragen,  wo  sie  entweder  Vorstellungen  (Empfindungen) 
erregen  oder  unmittelbar  auf  eine  centrifugale  Auslösungskette  über- 
tragen werden  (Reflexbewegungen).  Die  centrifugalen  Leitungsfasern 
(motorische  Nerven)  sind  dagegen  Auslösungsketten,  welche  ent- 
weder unmittelbar  (bei  den  eben  erwähnten  Reflexbewegungen)  Aus- 
lösungsbewegungen, die  sie  von  centripetalen  Nerven  erhalten  haben, 
oder  aber  Auslösungen  (Willens-Vorstellungen),  die  vom  Nervencentrum 
bewirkt  sind,  auf  die  Muskeln  übertragen  und  also  mechanische  Arbeit 
auslösen.  Diejenigen  Auslösungen  des  Nervensystems,  welche  vom 
Centrum  aus  als  Willens -Vorstellungen  auf  die  Muskeln  übertragen, 
und  diejenigen,  welche  von  den  Sinnes-Organen  aus  als  Empfindungs- 
Vorstellungen  auf  das  Centrum  übertragen  werden,  sind  die  für  das 
Thier  am  meisten  characteristischen  Bewegungs-Vorgänge.  Doch  sind 
dies  Functionen,  welche  nur  den  höher  entwickelten  Thieren  zukom- 
men und  vielen  niedrigsten  Thieren  (ohne  selbststäudig  entwickelte 
Nervencentra)  fehlen.  Bei  diesen  sind  dann  sämmtliche  Nervenbewe- 
gungen nur  Reflexbewegungen,  indem  jede  centrifugale  Auslösung 
erst  durch  eine  centripetale  hervorgerufen  werden  muss.  Diese 
schliessen  sich  zunächst  an  die  Protisten  und  an  die  höchsten  Pflanzen 
an,  bei  denen  ebenfalls  (Mimosa,  Dionaea,  Centaurea)  solche  Reflex- 
bewegungen vorkommen.  Die  eigenthümlichen ,  im  Centralapparate 
ausgelösten  Bewegungserscheinungen,  welche  vorzüglich  die  beiden 
Vorstellungen  des  Empfindens  und  Wollens  bewirken,  pflegt  man  unter 
dem  Namen  des  Seelenlebens  zusammenzufassen.  Bei  den  höher 
entwickelten  Thieren  (aber  nicht  bei  den  niederen  Thieren)  differeuzirt 
sich  aus  der  Wechselwirkung  dieser  beiden  Functionen  noch  eine  dritte, 
die  höchste  und  vollkommenste  aller  thierischen  Functionen,  das  Den- 
ken.    Die   äusserst  dunkeln  und  unvollkommen  bekannten  Molekular- 


VI.    Oharacter  des  Thierreiches.  215 

Bewegungen,  welche  den  Denkprocess  bewirken,  erwarten,  ebenso  wie 
die  Wechselwirkung  der  Seeleuthätigkeiten,  ihre  Erklärung  von  der 
Physiologie  der  Zukunft.  Nur  soviel  steht  fest,  dass  alle  diese  höchst 
complicirten  Bewegungserscheinungen  (Bildung  der  Begriffe,  Urtheile, 
Schlüsse,  Iuductionen,  Deductionen  etc.)  unmittelbare  Wirkungen  (Aus- 
lösungen) der  Eiweiss- Moleküle  in  den  Nervencentren  sind,  und  dass 
diese  höchsten  Leistungen  des  Organismus  also  auch  mit  der  Existenz 
der  Molekularbewegungen  in  jenen  höchst  verwickelt  zusammengesetz- 
ten und  lockeren  Kohlenstoff- Verbindungen  stehen  und  fallen.  Keine 
einzige  dieser  Bewegungen  ist  frei  (d.  h.  ohne  Ursache)  wie  gewöhn- 
lich von  dem  „freien  Willen",  dem  „freien  Denken"  dichterisch  be- 
hauptet wird,  sondern  alle  erfolgen  mit  absoluter  Notwendigkeit  aus 
den  complicirten  Summen  vorhergehender  Bewegungen,  welche  jene 
Auslösungen  (Vorstellungen)  in  den  Nervencentren  bewirken.  Alle 
diese  höchsten  und  am  meisten  characteristischen  Leistungen  der  thie- 
rischen  Organismen  beruhen  darauf,  dass  dieselben  beständig  Massen 
von  gebundenen  oder  Spannkräften  (durch  Oxydation  der  complicirten 
Kohlenstoff- Verbindungen)  in  lebendige  Kräfte  überführen. 


VII.  Character  des  Protistenreiches. 

Acht  Stämme  des  Prolistenreiches:  1.  Spongiae  (Porifera).  2.  Noctilucae 
(Myxocystoda).  3.  Rhizopoda  (Radiolaria,  Actinosphaerida  et  Acyttaria). 
4.  Protoplasta  (Arcellida,  Araoebida  et  Gregariuae).  5.  Moneres 
(Protaiaoebae,  Protogenida  et  Vibriones).     6.  Flagellata.    7.  Diatomea. 

8.    Myxoniycetes  (Mycetozoa). 

VII.  A.      Chemischer  Character  des  Protistenreiches. 
Aa.    Character  der  chemischen  Substrate  der  Protisten. 

Die  wichtigsten  Substanzen  des  Protistenkörpers  (vor  Allen  das 
Plasma  oder  Protoplasma  der  Piastiden)  sind  Eiweiss-Verbindungen 
(Albuminate),  durch  deren  Thätigkeit  die  meisten  anderen  Verbin- 
dungen des  Protistenleibes  mittelbar  oder  unmittelbar  erzeugt  werden. 
Die  Ei weisskörper  der  Protisten  treten  in  zahlreichen  Modifikationen 
auf,  welche  uns  sämmtlich  noch  fast  ganz  unbekannt  sind.  Aus  den 
Eiweiss-Verbindungen  der  Protistenkörper  gehen  bei  Vielen  stickstoff- 
haltige Eiweiss-Derivate  hervor,  welche  den  von  den  Thieren  er- 
zeugten elastischen,  leimgebenden  und  Hornsubstanzen  sehr  nahe  zu 
stehen  scheinen  und  gleich  diesen  oft  als  Ausscheidungsmassen  zwischen 
den  Piastiden  eine  grosse  Rolle  spielen,  so  das  Fasergewebe  (Fibroin) 
der  Spongien,  die  Kapseln  vieler  encystirter  und  Zellhäute  vieler  ein- 
zelliger und  mehrzelliger  Protisten.    Das  Verhalten  der  meisten  dieser 


216  Thiere  und  Pflanzen. 

Producte  in  den  Protisten  ist  noch  sehr  imbekannt,  ebenso  das  Ver- 
halten der  stickstoffhaltigen  und  stickstofffreien  Säuren,  ebenso  das 
Verhalten  der  stickstoffhaltigen  Basen.  Der  wichtigste  Pflanzenfarbstoff, 
das  Chlorophyll,  kommt  auch  in  einzelnen  Protisten  verschiedener 
Abtheilungen  vor  (Spongillen.  Euglenen  und  andere  Flagellaten  etc.). 
Fette  scheinen  in  den  meisten  Protisten  ebenso  wie  in  allen  Pflanzen 
und  Thieren  vorzukommen.  Die  stickstofffreien  Verbindungen  aus  der 
Gruppe  der  Kohlenhydrate,  welche  die  Pflanzen  so  auffallend  von 
den  Thieren  unterscheiden,  kommen  auch  bei  manchen  Protisten  vor; 
Cellulose  wird  von  vielen  Protisten  aus  den  Stämmen  der  Myxomyceten 
und  Flagellaten  ausgeschieden.  Anorganische,  d.  h.  nicht  kohlenstoff- 
haltige Verbindungen,  insbesondere  Chlornatrium  etc.,  kommen  in  den 
Protisten  eben  so  allgemein  als  in  den  Thieren  und  Pflanzen  vor. 
Viele  Protisten  zeichnen  sich  aber  aus  durch  die  ungewöhnliche  Menge 
theils  von  Kieselsäure,  theils  von  kohlensaurem  Kalk,  welche 
sie  in  Form  von  festen  Skeletbildungen  ausscheiden,  und  wodurch  sie 
sich  mehr  an  die  Thiere,  als  an  die  Pflanzen  anschliessen.  Insbeson- 
dere sind  in  dieser  Beziehung  ausgezeichnet  die  Kieselschalen  der 
Diatomeen,  vieler  Flagellaten  (Periditiium) ,  die  formell  höchst  ent- 
wickelten, theils  aus  Kieselsäure,  theils  aus  kohlensaurem  Kalk  ge- 
bildeten Stacheln  (Spicula)  und  Gehäuse  der  Spongien  und  Khizopoden, 
vieler  Protoplasten  etc. 

Ab.  Character  der  chemischen  Processe  der  Protisten. 

Der  wesentliche  Character  der  chemischen  Processe,  welche  im 
Protistenkörper  vor  sich  gehen,  ist  uns  noch  fast  ganz  unbekannt. 
Die  einen  Protisten  scheinen,  gleich  den  Thieren,  vorzugsweise 
Oxydations-Organismen  zu  sein  und  vorwiegend  Sauerstoff  aufzunehmen, 
Kohlensäure  abzugeben  (Spongien,  Noctiluken,  Rhizopoden,  ein  Theil 
der  Protoplasten).  Die  anderen  Protisten  scheinen,  gleich  den 
Pflanzen,  vorzugsweise  Keductions-Organismen  zu  sein  und  vorwie- 
gend Kohlensäure  aufzunehmen,  Sauerstoff  abzugeben  (ein  Theil  der 
Protoplasten,  die  Moneren,  Flagellaten,  Diatomeen).  Doch  sind  uns 
im  Ganzen  diese  wichtigen  Verhältnisse  noch  äusserst  wenig  bekannt. 

VII.    B.    Morphologischer    Character    des    Protistenreiches. 

Ba.    Character  der  protistischen  Individualitäten^ 

Der  wesentliche  tectologische  Character  der  Protisten  liegt 
in  der  sehr  unvollkommenen  Ausbildung  und  Dift'erenzirung  der  Indi- 
vidualität überhaupt,  insbesondere  aber  derjenigen  zweiter  Ordnung, 
der  Organe.  Sehr  viele  Protisten  erheben  sich  niemals  über  den  mor- 
phologischen  Werth   von    Individuen  erster  Ordnung  oder  Piastiden. 


VII.    Character  des  Protistenreiches.  217 

Diese  Plastiden,  theils  einzeln  lebend,  theils  gesellig  verbunden,  blei- 
ben sehr  häufig  zeitlebens  ^  membranlos  (Spongien,  ßhizopoden,  Proto- 
plasten, Vibrioniden);  bei  anderen  umgeben  sie  sich  zeitweilig  oder 
bleibend  mit  einer  Membran  von  Kieselerde  (Diatomeen,  einige  Fla- 
gellaten),  oder  von  Cellulose  (Myxomyceten,  einige  Flagellaten),  oder 
von  einer  stickstoffhaltigen  Substanz  (einige  Protoplasten  und  Flagella- 
ten). Die  Plastiden  sind  sehr  häufig  kernlos  (Cytoden),  andere  Male 
kernhaltig  (Zellen).  Sehr  oft  kommen  Cytoden  und  Zellen  in  einem 
und  demselben  Protisten  combinirt  vor.  Sehr  häufig  vereinigen  sich 
die  Plastiden  der  Protisten  zu  sehr  lockeren  Verbänden,  die  leicht 
wieder  in  die  einzelnen  Individuen  auseinander  fallen.  Gewöhnlich 
erheben  sich  diese  Verbände  nicht  über  den  Werth  von  Zellstöcken 
oder  einfachsten  Individuen  zweiter  Ordnung.  Bisweilen  gleichen  die- 
selben äusserlich  den  echten  Stöcken  oder  Individuen  sechster  Ordnung. 
Sehr  selten  sind  bei  den  Protisten  die  Individuen  höherer  Ordnung  ausge- 
bildet. Von  besonderen  Organen  ist  bei  den  Meisten  keine  Rede,  da  alle 
Functionen  noch  gleichzeitig  von  den  nicht  differenzirten  Plastiden  be- 
sorgt werden.  Nur  bei  den  Spongien,  Radiolarien  und  Myxomyceten  be- 
ginnen sich  deutliche  Organe  zu  differenziren.  Indessen  kann  man  als 
allgemeinen  Character  der  Protisten  den  Mangel  höherer  Differen- 
zirung  überhaupt,  besonders  aber  den  Mangel  differenter  Organe, 
sowie  das  Stehenbleiben  auf  der  niedrigsten  Stufe  individueller  Aus- 
bildung bezeichnen,  welche  bei  den  Thieren  und  Pflanzen  meistens 
schnell  vorübergeht.  Daher  finden  wir  das  grosse  Gesetz  des  Poly- 
morphismus oder  der  Arbeitstheilung,  welches  bei  den  höheren  Thieren 
und  Pflanzen  so  vollkommene  Organismen  hervorbringt,  und  bei  den 
Individuen  aller  Ordnungen  die  Differenzirung  bestimmt,  bei  den  Pro- 
tisten nur  in  ganz  untergeordnetem  Grade  wirksam. 

Bb.    Character  der  protistischen  Grundformen. 

Die  Protisten  zeichnen  sich  grösstenteils  vor  den  Thieren  und 
Pflanzen  dadurch  aus,  dass  ihre  Grundformen,  ebenso  wie  ihre  Indi- 
vidualitäten, obwohl  sehr  mannichfaltig  gebildet,  dennoch  meistens  auf 
den  niedersten  Stufen  stehen  bleiben,  und  sich  sehr  selten  zu  den 
höheren  Stufen  erheben,  welche  bei  jenen  die  herrschenden  sind. 
Insbesondere  finden  sich  unter  den  Protisten  sehr  häufig  vollkommen 
formlose  Gestalten  mit  durchaus  unbestimmten  und  oft  beständig 
wechselnden  Umrissen,  ohne  feste  geometrische  Grundform.  Daher  ist 
auch  ein  Theil  derselben  als  Amorph ozoa  bezeichnet  worden  (viele 
Protoplasten,  Spongien,  Myxomryceten).  Auch  in  dieser,  wie  in  vielen 
anderen  Beziehungen  gleichen  viele  derselben  bleibend  den  ersten 
Embryonal -Zuständen  von  Thieren  und  Pflanzen.  Nächst  den  voll- 
kommen amorphen    Gestalten   sind  am   häufigsten    die    vollkommen 


218  Thiere  und  Pflanzen. 

regelmässigen:  kugelige,  ellipsoide,  sphaeroide,  cylindrische,  regulär 
polyedrische,  prismatische  etc.  Insbesondere  kommt  hier  die  reine 
Kugelform,  der  reine  Cylinder  sehr  häutig  vor.  Die  meisten  Protisten, 
welche  ein  äusseres  oder  inneres  starres  Skelet  besitzen  (Diatomeen, 
Rhizopoden,  viele  Flagellaten  und  andere  Protisten)  lassen  in  dessen 
Bildung  meist  äusserst  deutlich ,  und  nicht  selten  mathematisch  rein 
ausgeprägt,  eine  vollkommen  regelmässige  stereometrische  Grundform 
erkennen,  so  zwar,  dass  in  vielen  Fällen  die  Gestalt  kr y stallähnlich 
wird,  und  dass  ebenso,  wie  bei  den  Krystallen,  eine  vollkommen  exacte 
geometrische  Ausmessung  und  Berechnung  der  organischen  Gestalt 
möglich  wird.  In  dieser  Beziehung  sind  namentlich  viele  Radiolarien, 
ferner  manche  Protoplasten  und  Diatomeen  sehr  ausgezeichnet.  Die 
Radiolarien  allein  schon  zeigen  eine  grössere  Anzahl  von  stereome- 
trischen Grundformen  realisirt,  als  sonst  im  ganzen  Thier-  und  Pflanzen- 
Reiche  zusammengenommen  vorkömmt.  Mehr,  als  irgend  sonst  wo, 
kann  man  hier  an  eine  krystallographische  Untersuchung  der  Orga- 
nismus-Formen denken. 


VII.   C.    Physiologischer  Character  des  Protistenreiches. 

Ca.    Character  der  allgemeinen  Lebenserscheinungen  bei  den 

Protisten. 

Die  Ernährung  der  Protisten  ist  uns  zum  grossen  Theile  noch 
ganz  oder  fast  ganz  unbekannt.  Von  sehr  vielen  derselben  kennen 
wir  weder  die  Natur  ihrer  Nahrungsstoffe,  noch  den  Process  der 
Nahrungsaufnahme,  noch  die  Vorgänge  des  Stoffwechsels.  Viele  Pro- 
tisten scheinen  sich  in  diesen  Beziehungen  mehr  den  Pflanzen  anzu- 
schliessen  (Diatomeen,  Flagellaten,  Vibrioniden,  Myxomyceten,  ein 
Theil  der  Protoplasten),  andere  dagegen  mehr  den  Thieren  (ein  ande- 
rer Theil  der  Protoplasten,  Rhizopoden,  Noctiluken,  Spongien).  Beson- 
dere Ernährungscanäle,  welche  den  Ernährungssaft  aufsammeln  und 
verschiedenen  Körpertheilen  zuleiten,  finden  sich  blos  bei  den  Spongien. 
Contractile,  zum  Theil  rhythmisch  pulsirende  Hohlräume  (Blasen,  Va- 
cuolen)  welche  deü  Ernährungssaft  abwechselnd  aus  dem  Plasmakörper 
aufsaugen  und  in  den  letzteren  hineinpressen,  finden  sich  besonders  bei 
Protoplasten,  Myxomyceten  und  Flagellaten.  Der  Athmungsprocess  ist 
bei  den  meisten  Protisten  unbekannt.  Einige  athmen,  gleich  den  meisten 
Pflanzen,  Kohlensäure  ein,  Sauerstoff  aus;  andere  zeigen  den  umge- 
kehrten Respirations-Modus  der  Thiere.  Die  Fortpflanzung  geschieht 
bei  sehr  vielen  Protisten,  wahrscheinlich  bei  der  grossen  Mehrzahl, 
ausschliesslich  auf  dem  einfachsten  ungeschlechtlichen  Wege  (durch 
Theilung,  Knospenbildung).  Nur  bei  verhältnissmässig  wenigen  Pro- 
tisten kommt  neben  der  ungeschlechtlichen  auch  geschlechtliche  Fort- 


VII.    Character  des  Protistenreiches.  219 

pflanzung  vor,  und  es  sind  dann  die  beiderlei  Geschlechter  bald  in 
einem  Individuum  vereinigt,  bald  getrennt  (Spongien,  ein  Theil  der 
Flagellaten). 

Wie  bei  allen  Thieren  und  Pflanzen,  so  sind  auch  bei  allen  Pro- 
tisten diese  allgemeinen  „organischen"  Functionen  der  Ernährung,  des 
Wachsthums  und  der  Fortpflanzung  unmittelbar  verbunden  mit  mole- 
kularen Bewegungserscheinungen  und  Masse-Bewegungen  (mechanischen 
Leistungen).  Wir  nehmen  diese  zum  Theil  wahr  in  gewissen  Lage- 
veränderungen der  Moleküle  des  Plasma,  welche  sich  bei  den  Protisten 
namentlich  sehr  oft  äussern  als  die  charakteristischen  „  Sarcode- 
strömung en"  (Rhizopoden,  Noctiluken,  ein  Theil  der  Pro  toplasten 
und  Myxoinyceten)  oder  „amoeboiden  Bewegungen"  (Spongien, 
ein  Theil  der  Protoplasten,  Flagellaten  und  Myxomyceten);  ferner  als 
Wachsthum  und  als  Fortpflanzung  (Theilung  und  Knospenbildung)  der 
einzelnen  Piastiden,  welche  hier  gewöhnlich  das  physiologische  Indi- 
viduum repräsentiren.  Auch  hier,  wie  bei  den  anderen  Organismen, 
sind  diese  Bewegungen,  welche  zugleich  zur  Bildung  neuer  Formen 
führen,  nur  dadurch  möglich,  dass  Kräfte,  welche  in  den  verwickelten 
Kohlenstoff-Verbindungen  des  Plasma  als  gebundene  oder  Spannkräfte 
vorhanden  sind,  in  lebendige  Kräfte  übergeführt  werden. 

Cb.  Character  der  besonderen  protistischen  Lebenserscheinungen. 

Wie  uns  die  Grundlagen  der  allgemeinen  Lebensthätigkeiten  der 
Protisten,  und  insbesondere  ihres  Stoffwechsels,  zur  Zeit  noch  höchst 
mangelhaft  bekannt  sind,  und  wie  wir  von  den  meisten  derselben  nicht 
wissen,  ob  sie  sich  mehr  den  Thieren  oder  mehr  den  Pflanzen  an- 
schliessen,  so  gilt  dasselbe  auch  von  dem  Character  und  den  Ursachen 
ihrer  besonderen  Lebensthätigkeiten.  Nur  so  viel  scheint  sich  zu  er- 
geben, dass  bei  den  verschiedenen  Protisten  in  dieser  Beziehung  sehr 
wesentliche  Verschiedenheiten  vorkommen,  indem  die  einen  sich  mehr 
den  Thieren,  die  anderen  mehr  den  Pflanzen  anschliessen.  Im  Ganzen 
aber  scheinen  die  Protisten  auch  in  dieser  Beziehung  zwischen  den 
Thieren  und  Pflanzen  mitten  inne  zu  stehen.  In  sämmtlichen  Orga- 
nismen aller  drei  organischen  Reiche  kommen  Reductionsprocesse, 
durch  welche  Wärme  und  andere  lebendige  Kräfte  gebunden  (zu 
Spannkräften)  werden,  und  Oxydationsprocesse,  durch  welche  gebun- 
dene Wärme  und  andere  Spannkräfte  frei  und  lebendig  werden,  neben 
einander  vor.  Bei  den  Thieren  überwiegen  die  letzteren,  bei  den 
Pflanzen  die  ersteren;  bei  den  Protisten  scheinen  sich  Beide  im  Gan- 
zen das  Gleichgewicht  zu  halten.  Doch  dürften  die  meisten  Protisten 
sich  mehr  durch  reichliche  Entwickelung  lebendiger  Kräfte  (mechani- 
scher Arbeit,  Ortsbewegung  der  Piastiden)  an  die  Thiere  anschliessen, 
während   sie  sich  von   den  Pflanzen   durch  geringe  Neigung  zur  An- 


220  Thiere  und  Pflanzen. 

häufimg  von  Spannkräften  mehr  entfernen.  Andererseits  fehlen  den 
Protisten  allgemein  diejenigen  complicirteren  Molekularbewegungen, 
welche  bei  den  Thieren  als  die  besonderen  Leistungen  der  Muskeln 
und  Nerven  auftreten,  und  ebenso  fehlen  natürlich  alle  diejenigen 
höheren  Functionen  des  Nervensystems,  welche  sich  in  dem  Nerven- 
centrum  der  höheren  Thiere  zu  Vorstellungen  (Empfinden,  Wollen, 
Denken)  differenziren.  Dagegen  sind  Bewegungen,  welche  den  Re- 
flexbewegungen der  Thiere  und  der  höheren  Pflanzen  (Mimosen  etc.) 
vollkommen  entsprechen,  bei  den  Protisten  sehr  allgemein  verbreitet, 
ohne  an  differenzirte  Muskeln  und  Nerven -Organe  geknüpft  zu  sein, 
und  treten  zum  Theil  in  sehr  eigenthümlicher  Form  auf  (Spongien, 
Rhizopoden,  Protoplasten  etc.).  Die  meisten  dieser  mechanischen 
Arbeitsleistungen  und  die  anderen  besonderen  Bewegungen  der 
Protisten  (z.  B.  die  sehr  eigenthümlichen  Bewegungen  der  Diatomeen, 
Vibrioniden ,  vieler  Flagellaten,  Protoplasten  etc.)  sind  aber  noch  sehr 
wenig  bekannt.  Zwar  ist  von  den  meisten  derselben  anzunehmen,  dass 
sie  auf  Freiwerden  lebendiger  Kräfte  beruhen;  doch  könnte  von  einigen 
auch  behauptet  werden,  dass  sie  umgekehrt  .die  Wirkungen  der  Bin- 
dung von  Spannkräften  sind.  In  diesen,  wie  in  vielen  anderen  physio- 
logischen und  morphologischen  Beziehungen  haben  wir  eine  befriedi- 
gende Erkenntniss  der  Protisten  erst  von  ausgedehnteren  zukünftigen 
Untersuchungen  zu  erwarten. 

VIII.    Character  des  Pflanzenreiches. 

Vier  Stumme  des  Pflanzenreiches:  1.  Phyeuphyta  (Algae  pro  parte). 
2.  Characeae.  3.  Nernatophy  ta  (Fungi  et  Lichenes).  4.  Cormophyta 
(Phanerogamae  ownes  et  Cryptogainae  exclusas  Netnatophytis,  Characeis  et 

Phycophytis). 

VIII.  A.    Chemischer  Character  der  Pflanzenreiches. 

A  a.   Character    der   chemischen  Substrate    der  Pflanzen. 

Die  wichtigsten  Substanzen  des  Pflanzenkörpers  (vor  Allen  das 
Plasma  oder  Protoplasma  der  Piastiden)  sind  Eiweiss-Verbindungen 
(Album in ate),  durch  deren  Thätigkeit  die  meisten  anderen  Verbin- 
dungen des  Pflanzenleibes  mittelbar  oder  unmittelbar  erzeugt  werden. 
Die  Eiweisskörper  der  Pflanzen  treten  in  zahlreichen  noch  sehr  unbe- 
kannten Modificationen  auf,  von  denen  die  wichtigsten  das  Pflauzen- 
eiweiss  (in  sehr  vielen  Pflanzensäften  gelöst),  der  Pflanzenfaserstoff 
(Fibrin,  der  in  Alkohol  unlösliche  Theil  des  Getreideklebers  etc.)  und 
der  Pflanzenkäsestoff  (Casein  der  Leguminosenfrüchte,  Legumin)  sind. 
Aus  den  Eiweiss -Verbindungen  der  Pflanzenkörper  gehen  sehr  selten, 
vielleicht  nie,  solche  stickstoffhaltige  Ei  weiss -Derivate  hervor,  wie 
sie  im  Körper  der  Thiere  und  vieler  Protisten  als  Zellhäute,  Cuticular- 


VIII.    Character  des  Pflanzenreiches.  221 

bildungen  und  Intercellularsubstanzen,  als  Hornsubstanz,  elastische, 
leimgebende,  Chitin -Substanzen  etc.  eine  sehr  grosse  Rolle  spielen. 
Ebenso  fehlen  den  Pflanzen  die  stickstoffhaltigen  Säuren  (Harnsäure, 
Hippursäure,  Inosinsäure  etc.),  während  die  stickstofffreien  Säuren 
eine  sehr  viel  grössere  Verbreitung  und  Bedeutung  als  bei  den  Thieren 
haben.  Die  stickstoffhaltigen  Basen  der  Pflanzen  (Pflanzen- 
alkaloide:  Strychnin,  Morphin,  Nicotin  etc.)  sind  stark  alkalisch  und 
von  äusserst  mannichfaltiger  Zusammensetzung,  umgekehrt  wie  bei 
den  Thieren.  Der  wichtigste  Pflanzenfarbstoff  ist  das  Chlorophyll, 
welches  jedoch  bloss  den  Cormophyten  fast  allgemein  zukommt,  den 
meisten  Nematophyten  und  Phycophyten  dagegen  fehlt.  Fette  kom- 
men in  allen  Pflanzen  vor.  Eine  der  wichtigsten  chemischen  Eigen- 
thümlichkeiten  aller  Pflanzen  ist  aber  die  massenhafte  und  allgemein 
verbreitete  Bildung  von  stickstofffreien  Producten  aus  der  Gruppe  der 
sogenannten  Kohlenhydrate,  welche  theils  (Cellulose)  von  den 
Piastiden  nach  aussen  abgeschieden  werden  (wie  die  Membranen  und 
Intercellularsubstanzen,  welche  aus  Cellulose  und  ihren  Modificationen 
bestehen),  theils  als- Ablagerungen  im  Innern  der  Piastiden  abgesetzt 
werden  (Stärke,  Dextrin,  Gummi,  Zucker  etc.).  Anorganische,  d.  h. 
nicht  kohlenstoffhaltige  Verbindungen,  insbesondere  phosphorsaure 
Salze  und  Chlorverbindungen  der  Alkalien  und  alkalischen  Erden, 
kommen  allgemein  in  den  Pflanzen  vor,  aber  in  viel  wechselnderen 
Mengenverhältnissen,  und  viel  häutiger  sich  gegenseitig  substituirend, 
als  in  den  Thieren.  Kieselsäure  und  Kalksalze  treten  in  den 
Pflanzen  nur  in  geringer  Menge  und  niemals  so,  wie  in  den  Thieren 
und  Protisten,  als  selbstständige  geformte  Massen,  skeletbildend  auf. 
Der  Mangel  dieser  mineralischen  Skelete  wird  den  Pflanzen  durch  ihr 
Cellulose-Skelet  ersetzt. 

Ab.    Character  der  chemischen  Processe  der  Pflanzen. 

Der  wesentliche  Character  der  chemischen  Processe,  welche  im 
Pflanzenkörper  vor  sich  gehen,  beruht  auf  Reduction  und  Synthese 
einfacher  Verbindungen,  und  lässt  sich  in  den  wenigen  Worten  zu- 
sammenfassen: Die  Pflanze  ist  ein  Reductions-Organismus. 
Das  Pflanzenleben  im  Grossen  und  Ganzen  ist  ein  Reductions-Process. 
Die  Pflanzen  bilden  aus  den  einfacheren  „anorganischen"  Verbindungen, 
besonders  Kohlensäure,  Wasser  und  Ammoniak,  durch  Synthese  und 
Reduction  die  sehr  zusammengesetzten  ., organischen"  oder  Kohlen- 
stoff-Verbindungen (Albuminate,  Fette  etc.),  welche  nachher  dem  Thier 
als  Nahrung  dienen.  Doch  kommen  daneben  allgemein  in  untergeord- 
netem Maasse  (und  auch  vielfach  im  Einzelnen)  analytische  und  Öxy- 
dations-Processe  vor. 


222  Thiere  und  Pflanzen. 

VIII.  B.    Morphologischer  Character  des  Pflanzenreichs. 

Ba.     Character  der  pflanzlichen  Individualitäten. 

Der  wesentliche  tectologische  Character  der  Pflanzen  liegt 
in  der  vorwiegenden  Ausbildung  und  Differenzirung  der  Individuen 
erster  Ordnung,  der  Piastiden.  Dieselben  sind  meistens  von  viel 
beträchtlicherer  Grösse,  als  bei  den  Protisten  und  Thieren.  Gewöhn- 
lich sind  sie  kernhaltig,  also  Zellen;  sehr  häufig  jedoch  auch  kernlos, 
also  Cytoden,  und  bei  den  Nematophyten  und  vielen  Phycophyten  ist 
der  Körper  entweder  allein  oder  doch  vorwiegend  aus  Cytoden  zu- 
sammengesetzt. Die  Piastiden  der  Pflanzen,  sowohl  die  Cytoden  als 
die  Zellen,  scheiden  allermeist  schon  in  sehr  früher  Zeit  eine  Membran 
aus  und  kapseln  sich  dadurch  ab;  selten  bleiben  sie  längere  Zeit  hin- 
durch nackt  (Schwärmsporen);  gewöhnlich  ist  die  schichtweise  Ab- 
setzung der  umhüllenden  Membranen  sehr  mächtig;  es  bleiben  aber, 
da  dieselben  meist  innerhalb  der  primär  abgeschiedenen  Membran  als 
innere  Verdi ekungsschichten  sich  ablagern,  die  einzelnen  Piastiden  dabei 
isolirt  und  es  verschmelzen  weder  die  Individuen  selbst  zu  Plastideu- 
stöcken  (ausgenommen  die  „Gefässe"-  der  Gefässpflanzen:  Milchsaft- 
gefässe,  Spiralgefässe),  noch  die  Membranen  zu  gemeinsamen  Inter- 
cellularmassen  (wie  bei  den  Bindegeweben  der  Thiere  so  häufig  ge- 
schieht). Die  Bildung  von  Zellstöcken  (Milchsaftgefässen,  Spiral- 
gefässen)  ist  weit  beschränkter,  als  bei  den  Thieren.  Diese  „Gefässe" 
sind  neben  dem  einfachen  „Parenchyur  die  einzige  besondere  ..Ge- 
websform"  der  Pflanzen.  Die  Individuen  zweiter  Ordnung,  die  Or- 
gane, sind  bei  den  Pflanzen  allgemein  weit  weniger  ditferenzirt,  als 
bei  den  Thieren;  bei  den  Phycophyten  und  Nematophyten  sind  die- 
selben sehr  wenig  entwickelt;  bei  den  Cormophyten  sind  sie  zwar 
besser  entwickelt,  lassen  sich  aber  vom  morphologischen  Gesichtspunkte 
aus  sämmtlich  als  Modifikationen  von  blos  zwei  Grundorganen 
nachweisen,  Axorgan  und  Blattorgan.  Vom  physiologischen  Ge- 
sichtspunkte aus  betrachtet  sind  die  Organe  der  Pflanzen  ebenfalls 
weit  weniger  ditferenzirt  als  die  der  Thiere,  meistens  entweder  Ernäh- 
rungs-  oder  Fortpflanzungs- Organe.  Sehr  allgemein  und  in  höchster 
Ausbildung  treffen  wir  bei  den  Pflanzen  die  Individuen  sechster  und 
letzter  Ordnung  an,  die  Stöcke  (Cormen),  was  mit  der  festsitzenden 
Lebensweise  und  dem  Mangel  willkührlicher  Bewegung  zusammenhängt. 
Daher  fehlt  den  Pflanzen  auch  die  für  viele  Thiere  characteristische 
und  hier  die  Stockbildung  ersetzende  Staatenbildung.  Gewöhnlich  ist 
mit  der  Stockbildung  der  Pflanzen  ein  sehr  ausgedehnter  Polymorphis- 
mus der  Personen,  eine  weit  gehende  Arbeitstheilung  der  Individuen 
fünfter  Ordnung  (Sprosse)  verbunden. 


VIII.    Character  des  Pflanzenreiches.  223 

Bb.    Character  der  pflanzlichen  Grundformen. 

Die  Pflanzen  stehen  bezüglich  der  Ausbildung-  der  stereometrischen 
Grundformen  in  der  Mitte  zwischen  den  Protisten  und  den  Thieren. 
Die  niederen  Pflanzen,  insbesondere  viele  Algen,  schliessen  sich  mehr 
den  ersteren,  viele  höhere  Pflanzen,  namentlich  Dicotyledonen,  mehr 
den  letzteren  an.  Unter  den  Algen  giebt  es  zahlreiche  Formen,  welche 
die  ganz  regulären,  rein  stereometrisch  ausgeprägten  Formen  vieler 
Protisten  theilen  (Kugel,  Cylinder,  Sphäroid,  reguläre  Polyeder,  Pris- 
men etc.).  Auch  die  einzelnen  Piastiden,  welche  bei  den  Pflanzen 
viel  mehr  als  bei  den  Thieren  den  Rang  von  selbstständigen  Individuen 
erster  Ordnung  beibehalten,  und  welche  zugleich  durch  frühzeitige 
Einschliessuug  in  eine  starre  Cellulose -Kapsel  sehr  bestimmte  und 
scharf  umschriebene  Formen  gewinnen,  zeigen  im  Parenchym  der 
meisten  mehrzelligen  Pflanzen  ähnliche  einfache  stereometrische  Formen 
sehr  rein  ausgeprägt.  Unter  den  pflanzlichen  Individuen  fünfter  Ord- 
nung, den  Sprossen,  besonders  den  Blüthensprossen  der  Phanerogamen, 
ist  die  reguläre  Pyramidenform  sehr  allgemein  herrschend.  Doch 
geht  dieselbe  hier  auch  sehr  häufig  in  die  Grundform  der  amphithec- 
ten  Pyramide  über.  Dagegen  tritt  die  Eudipleuren-Form  („bila- 
terale Symmetrie"  zum  Theil)  in  den  Pflanzen  seltener  in  den  Indivi- 
duen fünfter  Ordnung  (wo  sie  bei  den  höheren  Thieren  so  allgemein 
ist),  als  in  den  Individuen  niederer  Ordnung  (Blättern  z.  B.)  ganz 
rein  auf.  Im  Ganzen  sind  die  äusseren  Formen  der  Pflanzen  schon 
wegen  ihrer  starren  festen  Zellenwände  schärfer  bestimmt  und  daher 
leichter  und  sicherer  auf  eine  stereometrische  Grundform  zurückzu- 
führen, als  bei  den  Thieren. 

VIII.  C.  Physiologischer  Character  des  Pflanzenreiches. 

Ca.     Character  der  allgemeinen  Lebenserscheinungen  bei  den 

Pflanzen. 

Die  Ernährung  der  Pflanzen  unterscheidet  sich  von  derjenigen 
der  allermeisten  Thiere  und  vieler  Protisten  dadurch,  dass  die  Pflanzen 
niemals  feste  Stoffe,  wie  die  Thiere,  in  ihr  Inneres  aufnehmen,  sondern 
ausschliesslich  tropfbarflüssige  und  gasförmige  Stoffe;  diese  dringen 
einfach  auf  endosmotischem  Wege  durch  die  Membranen  der  Piastiden 
hindurch  in  das  Innere  derselben  ein.  Es  fehlen  also  den  Pflanzen  allge- 
mein die  besonderen,  zur  Nahrungs-Aufnahme  und  Verdauung  dienenden 
Höhlen,  welche  den  allermeisten  Thieren  zukommen.  Die  allermeisten 
Pflanzen  nähren  sich  ausschliesslich  von  sehr  einfachen  Verbindungen 
(Wasser,  Kohlensäure,  Ammoniak,  kohlenstofflose  Salzlösungen),  aus 
denen  sie,  wie  bemerkt,  durch  Keduction  zusammengesetzte  Kohlenstoff- 


224  Thiere  und  Pflanzen. 

Verbindungen  bilden.  Daher  athinen  sie  vorwiegend  Kohlensäure  ein, 
Sauerstoff  aus.  Doch  giebt  es  auch  viele  Schmarotzer -Pflanzen 
(Pilze  etc.),  deren  Athmuugsprocess  umgekehrt  (thierisch)  ist,  und 
welche,  gleich  den  Thieren,  bereits  vorgebildete  „organische"  Sub- 
stanzen (verwickelte  Kohlenstoff'- Verbindungen)  zu  ihrer  Ernährung 
brauchen.  Besondere  den  Ernährungssaft  führende  Röhrensysteme 
(Blutgefässe,  Chylusgefässe),  sowie  besondere  contractile  Behälter  (Her- 
zen), welche  dessen  Bewegung  in  denselben  regelmässig  beschleunigen, 
fehlen  den  Pflanzen  allgemein,  während  sie  den  meisten  Thieren  zu- 
kommen. Die  Fortpflanzung  geschieht  bei  den  Pflanzen  allgemein 
auf  ungeschlechtlichem  Wege  (durch  Theilung,  Knospenbildung),  ausser- 
dem bei  den  allermeisten  zugleich  auf  geschlechtlichem  Wege.  Bei 
der  grossen  Mehrzahl  aller  Pflanzen  wechseln  diese  beiden  Formen  der 
Fortpflanzung  in  der  Weise  mit  einander  ab,  dass  ein  regelmässiger 
Generationswechsel  besteht.  Die  beiderlei  Geschlechter  sind  bei  der 
grossen  Mehrzahl  der  Pflanzen  in  einem  Individuum  fünfter  oder  sech- 
ster Ordnung  vereinigt,  nur  bei  einer  geringen  Zahl  getrennt. 

Wenn  wir  die  feineren  Vorgänge,  welche  den  genannten  allge^ 
meinen  Lebensthätigkeiten  der  Pflanzen  zu  Grunde  liegen,  aufsuchen, 
so  finden  wir  dieselben  bei  allen  Pflanzen,  wie  bei  allen  Protisten  und 
Thieren,  mit  einer  Anzahl  von  molekularen  Bewegungserscheinungen 
und  einer  Anzahl  von  Massebewegungen  (mechanischen  Leistungen) 
unmittelbar  verbunden.  Wir  können  diese  Bewegungen  zum  Theil  di- 
rekt wahrnehmen  in  den  pflanzlichen  Individuen  erster  Ordnung  (den 
Piastiden)  als  gegenseitige  Lageveränderungen  der  Moleküle  des  Plasma 
(„Saftströmungen"  oder  „  Plasmacontractionen ") ,  als  Wachsthum 
(Grössenzunahme)  und  als  Fortpflanzung  der  Piastiden  (Theilung, 
Knospenbildung  der  Cytoden  und  Zellen).  Alle  diese  allgemeinen 
„organischen'*  Molekularbewegungen,  welche  schliesslich  zur  Gestaltung 
ungeformten  Stoffes  und  zur  Neubildung  individueller  Formen  führen, 
und  welche  häutig  (vielleicht  immer)  mit  einer  Entwickelung  von 
Wärme  verbunden  sind,  erfordern  einen  Verbrauch  von  Spannkräften. 
Denn  alle  diese  Bewegungen  beruhen  im  Grunde  darauf,  dass  Spann- 
kräfte in  lebendige  Kräfte  übergehen. 

Ob.     Character  der  besonderen   pflanzlichen  Lebenserscheinungen. 

Während  bei  den  Thieren  der  bei  weitem  grösste  und  wichtigste 
Theil  ihrer  Lebeusthätigkeit  in  einer  Entwickelung  lebendiger  Kräfte 
besteht,  die  sich  dort  vorzüglich  als  Wärmebilduug,  Muskelbewegung 
und  Nervenbewegung  (Empfinden,  Wollen,  Denken)  äussert,  so  bildet 
bei  den  Pflanzen  jene  Verwandlung  der  potentiellen  in  actuelle  Kräfte 
nur  einen  sehr  geringen  Theil  ihrer  Lebenserscheinungen  und  der  bei 
weitem  grösste  Theil  ihrer   Functionen   erzielt  gerade  das    entgegen- 


VIII.    Character  des  Pflanzenreiches.  225 

gesetzte  Resultat,  nämlich  die  Umsetzung  von  lebendigen  Kräf- 
ten in   Spannkräfte.     Diese   für  die  Pflanzen  am  meisten  characte- 
ristischen   Bewegungen,    welche    den  Thieren   grösstenteils   abgehen, 
kann  man   daher  auch  als  „vegetative  Functionen"  im  engeren  Sinne 
bezeichnen.     Dieselben   beruhen  wesentlich  auf  dem  characteristischen 
Reductions-Process  der  Pflanzen.     Indem  die  Hauptsumme  der  chemi- 
schen Processe  in  den  Pflanzen  darauf  hinausläuft,  die  einfachen  und 
festen  Verbindungen  des  Wassers,   der  Kohlensäure  und  des  Ammo- 
niaks durch   Zersetzung  (Reduction)  in  die  verwickelten  und  lockeren 
Kohlenstoff -Verbindungen  (Eiweisskörper,  Kohlenhydrate,  Fette)  über- 
zuführen, und  indem  diese  Reduction  nur  unter  Einwirkung  des  Sonnen- 
lichts (durch  Bindung  grosser  Quantitäten  Licht  und  Wärme)  möglich 
ist,   verwandeln  sie  eine  grosse  Menge  freier  oder  bewegender  Kräfte 
(Licht,  Wärme)  in  gebundene  oder  Spannkräfte.     Diese  letzteren  blei- 
ben gebunden  in  den  verwickelten  Kohlenstoff- Verbindungen ,  welche 
allenthalben  in   den  Pflanzen  angehäuft  werden.     Durch  die  Bindung 
von  Wärme,  welche  für  die  Bildung  der  letzteren  nothwendig  ist,  und 
welche  theils  dem  Sonnenlichte,   theils  der  Umgebung  entzogen  wird, 
wirken    die    Pflanzen    abkühlend.      Sie    entwickeln    Kälte.      In    der 
massenhaften  Bildung  und  Anhäufung  dieser  verwickelten  Kohlenstoff- 
Verbindungen  und  der  in  ihnen  locker  gebundenen  Spannkräfte  haben 
wir  den  wesentlichsten  Character  der  besonderen  pflanzlichen  Lebens- 
thätigkeit,    des    eigenthümlichen    „Vegetationsprocesses"     zu     suchen. 
Diese    Aufspeicherung    der    Spannkräfte    in    den    Pflanzen    ermöglicht 
allein  die  besonderen  Lebensbewegungen  der  Thiere,  welche  auf  einer 
Befreiung  derselben,  auf  ihrer  Verwandelung  in  lebendige  Kräfte  be- 
ruhen.    Dadurch  entwickeln  die  Thiere  die  lebendigen  Kräfte,  welche 
sie  als  thierische  Wärme,  als  Muskelbewegimg  und  Nervenbewegung 
äussern.     Doch  fehlen  ähnliche  Bewegungen,   durch  lebendige  Kräfte 
hervorgebracht,  auch  in  den  Pflanzen  nicht  ganz.   Vielmehr  entwickeln 
auch  diese  stellenweise  und  zeitweise  Wärme;  und  bei  vielen  höheren 
Pflanzen    kommen    sogar    verwickelte    Bewegungen    zur    Erscheinung, 
welche  der  Muskel-  und  Nervenbewegung  sich  sehr  nahe  anschliessen. 
Vor   allen  sind  hier  die  ausgezeichneten  Erscheinungen  der  „Reizbar- 
keit"  an    den    Blättern    der    Mimosen    oder    „Sinnpflanzen"    und   der 
Dionaea  muscipula,  an  den  Staubfäden  der  Centaureen,  Berberideen  etc. 
hervorzuheben.    Die  mechanische  Arbeit,  welche  hier  gewisse  Theile 
der  Pflanze  leisten,   ist    durchaus   der  Muskelcontraction  analog,  und 
wird    sogar    oft   in  gleicher  Weise   durch   Ketten   von  „Auslösungen" 
hervorgerufen,  wie  es  bei  den  Nervenbewegungen  der  Thiere  der  Fall 
ist.     In  dieser  Beziehung  sind  namentlich  die  bekannten  Bewegungen 
der   „reizbaren"   Mimosen   äusserst  merkwürdig,    indem    sie    durchaus 
den    Reflexbewegungen   der  Thiere  analog  sind.    Dagegen  ist  es 

Haeckel,    Generelle  Morphologie.  15 


226  Thiere  und  Pflanzen. 

zweifelhaft,  ob  bei  irgend  einer  dieser  Pflanzen  die  Reflexbewegungen 
sich  deutlich  in  die  getrennten  Functionen  des  Empfindens  und  Wol- 
lens  difterenziren ,  welche  in  einem  Centralorgane  als  Vorstellungen 
ausgelöst  werden  miissten.  Wenn  diese  Üifferenzirung  noch  fehlt,  so 
fehlt  sie  sicher  auch  vielen  echten  Thieren  (vielen  Würmern,  Coelen- 
teraten,  besonders  Anthozoen  und  Anderen),  welche  sich  auf  ganz 
ähnliche  Bewegungen,  wie  die  Mimosen  etc.  beschränken.  Indessen 
treten  doch  diese  Leistungen  mechanischer  Arbeit,  welche  den  Reflex- 
bewegungen der  Thiere  sich  unmittelbar  auzuschliessen  scheinen,  und 
wie  diese  mit  einem  Verbrauche  von  Spannkraft  verbunden  sind,  nur 
bei  wenigen  (meist  höheren)  Pflanzen  auf,  und  im  Ganzen  bleibt  die 
besondere  Lebensthätigkeit  der  Pflanzen  darauf  beschränkt,  dass  sie 
(durch  Reduction  und  Wärme-Bindung)  Massen  von  lebendigen  Kräften 
in  Spannkräfte  überführen. 

IX.    Vergleichung  der  drei  Reiche. 

Eine  scharfe  und  vollkommen  unterscheidende  Characteristik  der 
Organismen-Reiche  ist,  wie  die  vorhergehenden  Abschnitte  zeigen,  nur 
dann  möglich ,  wenn  man  ausschliesslich  die  entwickelten  und  voll- 
kommenen Formen  berücksichtigt  und  von  den  niederen  und  einfachen 
Formen  absieht.  So  wenig  wir  im  Stande  sind,  eine  vollständig 
scharfe  und  erschöpfende  Diagnose  eines  Phylon  zu  geben,  welche 
alle  embryologischen  und  palaeontologischen  Entwickelungszustände 
desselben  umfasst,  so  wenig  ist  dies  von  einem  der  drei  organischen 
Reiche  möglich,  deren  jedes  aus  mehreren  Phylen  zu  bestehen  scheint. 
Nur  dann  können  wir  eine  solche  differentielle  Diagnose  aufstellen, 
wenn  wir  die  am  meisten  ausgebildeten  und  characteristischen  Haupt- 
formen vorwiegend  berücksichtigen  und  aus  den  typischen  Characteren 
der  Mehrzahl  der  Formen  ein  allgemeines  Bild  des  Ganzen  in  grossen 
Zügen  und  skizzenhaften  Umrissen  entwerfen. 

Wenn  wir  nun  ausdrücklich  unter  dieser  Voraussetzung  und  unter 
dem  besonderen  Hinweis  darauf,  dass  jedes  Reich  nur  eine  künstliche 
Collectivgruppe  von  mehreren  selbstständigen,  aber  analog  entwickelten 
Phylen  ist,  eine  allgemeine  Characteristik  der  drei  Reiche  vorstehend 
versucht  haben,  so  glauben  wir,  dass  sich  daraus  die  Vorzüge  unserer 
Dreitheilung  vor  der  bisher  gültigen  Zweitheilung  ergeben  haben  wer- 
den. Die  Dreitheilung  hat  besonders  den  grossen  Vortheil,  dass  jedes 
der  beiden  nach  zwei  entgegengesetzten  Richtungen  hin  entwickelten 
grossen  Reiche  sich  weit  schärfer,  sicherer  und  vollständiger  charac- 
terisiren  lässt,  als  es  bei  der  Zweitheilung  möglich  ist.  Denn  wir 
haben  in  den  unzweifelhaften  Pflanzen  (Cormophyten,  Nematophyten, 
Characeen,  Algen;  eine  Summe  von  hervortretenden  Eigenschaften  verbun- 


IX.    Vergleichung  der  drei  Reiche.  227 

den,  welche  uns  ein  abgerundetes  und  deutliches  Characterbild  der 
Pflanze  im  Allgemeinen  vor  Augen  fähren.  Andererseits  finden  wir 
ebenso  in  den  unzweifelhaften  Thieren  (Vertebraten,  Mollusken,  Arti- 
culaten,  Echiuodermen,  Coelenteraten)  eine  Summe  von  auszeichnenden 
Eigenschaften  vereinigt,  welche  uns  ein  ebenso  deutliches  und  scharfes 
Characterbild  des  Thieres  im  Allgemeinen  aufzustellen  erlauben.  Um 
den  grossen  Contrast  in  den  entgegengesetzten  Grundzügen  dieser 
beiden  divergenten  Characterbilder  deutlich  zu  kennzeichnen,  stellen 
wir  sie  hier  nochmals  vergleichend  einander  gegenüber: 

I.  Pflanzencharacter: 
Die  fast  allgemein  bleibende  Selbstständigkeit  der  Individuen  erster 
Ordnung  oder  Piastiden  und  die  Abschliessung  derselben  durch  eine  starre 
Kapsel  aus  Kohlenhydraten  (Zellmembran);  die  Differenzirung  der  Plasti- 
den-Aggregate  in  höchstens  zwei  Gewebsformen:  Parenchjm  und  Gefässe; 
die  Beschränkung  der  Individuen  zweiter  Ordnung  (Organe)  auf  zwei  ver- 
schiedene Reihen:  I.  Blattorgane  und  II.  Axorgane;  wegen  mangelnder  Orts- 
bewegung sehr  allgemeine  Bildung  von  Individuen  sechster  Ordnung 
(Stöcken),  welche  meistens  das  physiologische  Individuum  repräsentiren. 
Allgemeines  Vorherrschen  der  niederen  oder  radiären  Grundformen  (vor- 
züglich der  regulären  Pyramiden).  Die  Lebensthätigkeit  vorzugsweise  auf 
Ueberführung  von  lebendigen  Kräften  in  Spannkräfte,  auf  Bindung  von 
Wärme,  und  auf  Anhäufung  von  verwickelten  Kohlenstoß-Verbindungen  ge- 
richtet, welche  durch  Reduction  aus  den  einfachsten  „anorganischen"  Ver- 
bindungen gewonnen  werden. 

II.  Thiereharacter: 
Die  allgemeine  Verschmelzung  eines  Theiles  der  Individuen  erster  Ord- 
nung (Piastiden)  zu  complexen  Elementartheilen  oder  Zellstöcken  (Muskel- 
fasern, Nervenfasern)  unter  Aufgabe  ihrer  ursprünglichen  Selbstständigkeit, 
der  sehr  allgemeine  Mangel  einer  festen  Kapsel  (Zellmembran)  an  ihrer 
Oberfläche;  die  Differenzirung  der  Plastiden-Aggregate  in  vier  verschiedene 
Gewebs-Formen:  Epitelial-,  Binde-,  Muskel-  und  Nerven- Gewebe;  die 
Differenzirung  der  Individuen  zweiter  Ordnung  (Organe)  in  vier  verschie- 
dene Reihen:  Organe  I.  der  Ernährung,  IL  der  Fortpflanzung,  III.  der 
mechanischen  Arbeit  oder  Locomotion  (Muskeln),  IV.  der  Beziehungen, 
Centralisation  und  Regulation  des  Ganzen  (Nerven);  das  physiologische 
Individuum  meistens  durch  morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung 
(Personeu),  seltener  vierter  Ordnung  (Metameren)  repräsentirt;  wegen  sehr 
allgemeiner  Ortsbewegung  selten  Bildung  von  Individuen  sechster  Ordnung 
(Stöcken),  dagegen  sehr  allgemeine  Bildung  von  Gemeinden  und  Staaten. 
Allgemeines  Vorherrschen  der  höheren  oder  bilateralen  Grundformen, 
(Zeugiten,  und  vorzüglich  Eudipleuren).  Die  Lebensthätigkeit  vorzugsweise 
auf  Ueberführung  von  Spannkräften  in  lebendige  Kräfte  (Muskelbewegung, 
Nerveubewegung  und  Entwickelung  von  Wärme),  und  auf  Zersetzung  von 
verwickelten  Kohlenstoff-Verbindungen  gerichtet,  welche  durch  Oxydation  in 
die  einfachsten  „anorganischen"  Verbindungen  übergeführt  werden. 

15* 


228  Thiere  und  Pflanzen. 

Kein  so  scharfes  und  vollständiges  Bild  vermögen  wir  von  den 
positiven  Characteren  der  Protisten  zu  entwerfen.  Es  ist  mehr 
eine  Summe  von  negativen  Eigentümlichkeiten,  welche  die  verschie- 
denen Protisten-Stämme  zu  einem  Reiche  vereinigt.  Dies  liegt  theils 
an  der  unvollkommenen  Entwickelungsstufe,  welche  die  Protisten 
überhaupt  erreichen,  und  wodurch  sie  den  niedersten  Entwickelungs- 
stufe» des  Thierreichs  sowohl  als  des  Pflanzenreichs  zum  Theil  sehr 
nahe  stehen;  theils  an  der  wirklichen  Mischung  von  thierischen  und 
pflanzlichen  Characteren,  wrelche  viele  Protisten  in  so  auffallender 
Weise  in  sich  vereinigen,  dass  es  ganz  unmöglich  ist,  sie  entweder 
dem  Thierreiche  oder  dem  Pflanzenreiche  zuzugesellen,  ohne  dessen 
Differential  -  Character  wesentlich  zu  beeinträchtigen.  Zum  grossen 
Theil  allerdings  liegt  die  Unmöglichkeit,  jetzt  schon  ein  vollständiges 
Characterbild  der  Protisten  zu  entwerfen,  an  unseren  noch  ausser- 
ordentlich mangelhaften  Kenntnissen,  besonders  ihrer  Ernährungs- 
thätigkeit  und  ihres  Stoffwechsels.  Indessen  ist  es  immerhin  möglich, 
wenigstens  einige  gemeinsame  Züge  aller  Protisten  in  ein  skizzen- 
haftes Characterbild  zusammenzufassen: 

III.    Protistencharacter: 

Die  allgemeine  bleibende  Selbstständigkeit  der  Individuen  erster  Ord- 
nung (Piastiden),  welche  sehr  häufig  einzeln,  oder  locker  zu  Piastiden- 
familien verbunden,  allein  das  physiologische  Individuum  repräsentiren;  In- 
dividuen höherer  Ordnung  (Organe,  Personen  etc )  entweder  gar  nicht  oder 
nur  höchst  unvollkommen  entwickelt;  ebenso  die  Piastidenstöcke,  wenn 
vorhanden,  meist  sehr  unvollständig  ausgebildet,  und  nicht  differenzirt 
(keine  sogenannten  „Gewebe").  Allgemeines  Vorherrschen  der  niedrigsten 
Grundformen,  entweder  gar  keine  bestimmte  Formen  oder  höchst  einfache 
und  regelmässige,  oft  stereometrisch  reine  und  kristallähnliche  Formen 
(Kugel,  Cylinder,  reguläre  Polyeder,  krystallähnliche  Prismen  etc.)  Die  Le- 
bensthätigkeit  grösstenteils  unbekannt;  der  Stoffwechsel,  wie  es  scheint,  bei 
einigen  Protisten  mehr  dem  der  Pflanzen,  bei  anderen  mehr  dem  der  Thiere 
sich  nähernd,  bei  noch  anderen  endlich  zwischen  Beiden  die  Mitte  haltend. 

Wenn  man  die  verschiedenen  Protisten-Stämme  mit  den  Stämmen 
einerseits  des  Thierreichs,  andererseits  des  Pflanzenreichs  vergleicht, 
so  stellt  sich  allerdings  bei  den  einen  eine  nähere  Beziehung  zu 
jenein,  bei  den  anderen  zu  diesem  heraus,  und  wenn  man  die  übliche 
Zweitheilung  der  Organismen  in  Thiere  und  Pflanzen  beibehalten 
will,  so  inuss  man  jedenfalls  das  Protisten -Beich  in  zwei  Theile 
spulten  und  die  eine  Hälfte  jenem,  die  andere  diesem  anreihen.  Die 
Reihe  der  pflanzenartigen  Protisten  würde  durch  die  Myxomyceten, 
Diatomeen  und  Flagellaten,  die  Reihe  der  thierartigen  Protisten  durch 
die  Spongien,  Noctiluken  und  Rhizopoden  gebildet.  Aber  bei  den 
Protoplasten  und  den  Moneren  würden  wir  vollständig  in  Zweifel  sein, 


IX.    Yergleichung  der  drei  Reiche.  229 

wohin  wir  sie  stellen  sollten,  und  auch  für  einen  Theil  der  Flagellaten 
würde  dasselbe  gelten.  Auch  würde  sieh  bei  allen  übrigen  Gruppen 
immer  wieder  der  alte  Streit,  ob  sie  Thiere  oder  Pflanzen  seien, 
erneuern,  je  nachdem  man  diese  oder  jene  Seite  des  Characters  für 
maassgebender  hält,  und  es  würden  sich  immer  wieder  Naturforscher 
finden,  welche  alle  oder  die  meisten  Protisten  zu  den  Thieren,  und 
andere,  welche  sie  zu  den  Pflanzen  stellen.  So  viel  lässt  sich  vor- 
aussehen, dass  dieser  Streit,  auch  wenn  wir  die  Protisten  viel  besser 
kennen  würden,  als  es  jetzt  der  Fall  ist,  immer  fortleben  würde,  weil 
Viele  von  ihnen  in  zu  ausgesprochener  Weise  thierische  und  pflanz- 
liche Charaktere  vereinigen,  und  zwar  in  so  verschiedenartiger  und 
verwickelter  Weise,  dass  eben  jede  scharfe  Grenzbestimmung  des 
Thier-  und  Pflanzen-Reichs  verloren  geht,  wenn  wir  diese  Zweifheilung 
beibehalten. 

Die  definitive  Entscheidung  in  solchen  schwierigen  biologischen 
Fragen  wird  immer  nur  von  der  Entwickelungsgeschichte ,  und  zwar 
in  diesem  Falle  nur  von  der  palaeontologischen,  gegeben  werden 
können.  Leider  lässt  uns  dieselbe  aber  gerade  hier  völlig  im  Stiche, 
und  es  bleibt  nicht  einmal  die  Hoffnung,  dass  wir  durch  eine  zukünf- 
tige Ergänzung  unserer  äusserst  unvollständigen  palaeontologischen 
Kenntnisse  diese  empfindliche  Lücke  werden  ausfüllen  können.  Nie- 
mals wird  uns  die  Phylogenie  die  Entscheidung  darüber  bringen,  ob 
die  verschiedenen  Protisten-Stämme  (wie  es  uns  das  Wahrscheinlichste 
ist)  sich  aus  eben  so  vielen  oder  vielleicht  aus  noch  zahlreicheren 
autogonen  Moneren -Arten  hervorgebildet  haben,  oder  ob  sie  einem 
gemeinsamen  ursprünglichen  Stamme  angehören,  oder  ob  sie  theils 
mit  den  Thierstämmen,  theils  mit  den  Pflanzenstämmen  sich  aus 
gleicher  Wurzel  entwickelt  haben.  Die  übliche  Zweitheilung  der  Or- 
ganismen in  Thiere  und  Pflanzen  würde  nur  in  dem  einen  Falle  eine 
vollkommen  natürliche  sein,  wenn  beide  Reiche,  die  Protisten  mit 
eingeschlossen,  sich  aus  zwei  verschiedenen  autogonen  Moneren-Arten 
hervorgebildet  hätten,  wenn  also  die  eine  Moneren-Art  allen  Thieren 
und  thierähnlichen  Protisten,  die  andere  allen  Pflanzen  und  pflanzen- 
ähnlichen Protisten  den  Ursprung  gegeben  hätte.  Indessen  ist  gerade 
dieser  Fall,  wie  schon  oben  bemerkt,  von  allen  möglichen  der  am 
wenigsten  wahrscheinliche.  Es  ist  also  die  Beibehaltung  der  gewöhn- 
lichen Zweitheilung  weder  real  in  der  Descendenz  begründet,  noch 
von  irgend  welchem  praktischen  Nutzen. 

Wir  glauben  demgemäss,  dass  die  von  uns  versuchte  Dreitheilung 
nur  praktische  Vortheile  und  keinerlei  wissenschaftliche  Nachtheile 
bietet.  Es  wird  dadurch  möglich,  die  beiden  divergenten  Reiche, 
Thier-  und  Pflanzen  -  Reich ,  scharf  zu  trennen  und  den  Begriff  des 
Thieres  und  der  Pflanze  scharf  zu  fixiren.     Es  wird  zugleich,   hoffen 


230  Thiere  und  Pflanzen. 

wir,  die  Hervorhebung  des  Protistenreiches  als  einer  besonderen,  den 
beiden  anderen  Reichen  coordinirten ,  eollectiven  Hauptgruppe,  dazu 
beitragen,  die  Aufmerksamkeit  und  das  Interesse  der  Naturforscher 
immer  mehr  auf  diese  äusserst  interessante  und  bisher  von  den 
meisten  sehr  vernachlässigte  Gruppe  von  Organismen  hinzulenken, 
deren  Studium  für  die  allein  richtige,  d.  h.  die  monistische  Erkennt- 
niss,  für  das  mechanisch -causale  Verständniss  der  lebendigen  Natur 
so  ungemein  lehrreich  ist. 

X.    Wechselwirkung  der  drei  Reiche. 

Schon  aus  der  vorhergehenden  Characteristik  und  Vergleichung 
der  drei  Reiche  wird  die  innige  gegenseitige  Wechselwirkung,  welche 
zwischen  denselben  in  vielen  biologischen  Beziehungen  herrscht,  klar 
geworden  sein.  Doch  ist  dieselbe  von  so  hohem  Interesse  und  von 
solcher  Wichtigkeit  für  eine  mechanische  Erfassung  des  organischen 
Naturganzen,  dass  wir  die  wichtigsten  Punkte  dieses  Verhältnisses 
hier  nochmals  kurz  hervorheben  wollen. 

Zwischen  den  Thieren  und  Pflanzen  existirt,  im  Grossen  und 
Ganzen  betrachtet,  der  am  meisten  durchgreifende  Gegensatz  zunächst 
in  der  Qualität  der  wichtigsten  und  allgemeinsten  organischen  Func- 
tion, der  Ernährung,  indem  der  mit  der  Ernährung  verbundene 
Stoffwechsel  in  beiden  Reichen  geradezu  entgegengesetzt  ist.  Durch 
diesen  „  Kreislauf  der  Stoffe "  ist  der  beständige  Gleichgewichtszustand 
bedingt,  den  die  organische  Natur  im  Grossen  und  Ganzen  zeigt.  Die 
Pflanzen  als  Reductions-Organismen  produciren  durch  ihre  progressive 
Stoffmetamorphose  die  zusammengesetzten  Kohlenstoffverbindungen 
(Albuminate,  Fette,  Kohlenhydrate),  welche  die  Thiere  zu  ihrer  Er- 
nährung brauchen;  und  indem  die  Thiere  als  Oxydations-Organismen 
durch  ihre  regressive  Stoffmetamorphose  die  einfacheren  „anorgani- 
schen" Verbindungen  herstellen  (Wasser,  Kohlensäure,  Ammoniak), 
liefern  sie  wiederum  das  Nahrungsmaterial  für  die  Pflanzen. 

Diesem  Gegensatze  im  Stoffwechsel  der  beiden  Reiche  entspricht 
ein  ähnlicher  Gegensatz  im  Kraftwechsel  derselben.  Indem  die 
Pflanzen  durch  Bindung  von  Licht  und  Wärme,  die  sie  zu  ihren  Re- 
duetionsprocessen  bedürfen,  lebendige  Kräfte  in  Spannkräfte  überfüh- 
ren, liefern  sie  den  Thieren  in  ihren  verwickelten  Kohlenstoff- Verbin- 
dungen diejenigen  Mengen  von  Spannkräften,  welche  die  Thiere  nöthig 
haben,  um  lebendige  Kräfte  entwickeln  zu  können.  Doch  ist- dieser 
Kraftwechsel  nicht,  wie  der  Stoffwechsel,  ein  gegenseitiger,  sondern 
nur  ein  einseitiger,  da  die  lebendigen  Kräfte,  welche  das  Thier  als 
thierische  Wärme,  mechanische  Arbeit  (Muskelbewegung)  und  Aus- 
lösungstliäu^keit  (Nervenbewegung)  producirt,  nicht  in  der  Form  frei 


X.    Wechselwirkung  der  drei  Reiche.  231 

werden,  in  welcher  die  Pflanze  sie  brauchen  kann.  Diese  entnimmt 
vielmehr  die  für  ihr  Leben  nöthige  lebendige  Kraft  grösstentheils  ans 
dem  Sonnenlicht. 

Wie  sich  die  Protisten  hinsichtlich  des  Kraft-  und  Stoffwechsels 
verhalten,  wissen  wir  von  der  Mehrzahl  derselben  nicht.  Einige 
scheinen  sich  mehr  den  Pflanzen,  andere  mehr  den  Thieren  anzu- 
schliessen.  Doch  ist  es  wahrscheinlich,  dass  sich  im  Ganzen  bei  den 
meisten  Protisten  Reduction  und  Oxydation,  progressive  und  regressive 
Metamorphose  ihres  Plasma-Körpers  ziemlich  das  Gleichgewicht  halten 
wird,  da  sie  weder  so  beträchtliche  Mengen  von  lebendiger  Kraft, 
wie  die  Pflanzen,  noch  so  beträchtliche  Mengen  von  Spannkraft,  wie 
die  Thiere  nöthig  haben,  um  ihre  Lebensfunctionen  zu  vollziehen. 
Sie  halten  sich  wahrscheinlich  auch  iu  dieser  Beziehung  auf  einem 
mehr  indifferenten  Standpunkte,  und  sind  daher  auch  von  der  übrigen 
organischen  Natur  weniger  abhängig,  als  es  bei  den  Thieren  und 
Pflanzen  der  Fall  ist. 

Stoffwechsel  und  Kraftwechsel  der  Organismen  in  früheren  Pe- 
rioden der  Erdgeschichte  werden  sich  wesentlich  verschieden  von  den 
jetzigen  Verhältnissen  gestaltet  haben.  Denken  wir  an  den  Urzustand 
der  Erde  zurück,  als  sie  zuerst  von  Organismen  bevölkert  wurde,  so 
müssen  schon  allein  die  ungeheuren  Kohlenstoffmassen,  die  jetzt  im 
Körper  der  Organismen  gebunden  sind,  und  die  damals  vermuthlich 
grösstentheils  als  Kohlensäure,  Kohlenwasserstoffe  etc.  Urmeer  und 
Uratmosphäre  sättigten,  gänzlich  verschiedene  Existenzbedingungen 
hervorgerufen  haben.  Es  ist  daher  auch  wahrscheinlich,  dass  zuerst 
ausschliesslich  pflanzliche  und  protistische  Moneren  durch  Auto- 
gonie  entstanden  sind,  d.  h.  Eiweiss -Verbindungen  in  individueller 
Form,  welche  vorzugsweise  oder  fast  ausschliesslich  in  progressivem 
Stoffwechsel  Reduction  übten  und  Massen  von  disponiblen  festen  und 
einfachen  Kohlenstoff- Verbindungen  in  die  lockeren  und  verwickelten 
Kohlenstoff-Verbindungen  des  Eiweisses,  Fettes,  der  Kohlenhydrate  etc- 
überführten.  Erst  nach  Verlauf  langer  Zeiträume,  nachdem  sich  eine 
reiche  Pflanzenwelt  entwickelt  und  Massen  von  Kohlensäure  etc.  aus 
der  Atmosphäre  und  dem  Urmeere  fortgeschafft  hatte,  werden  in 
dein  nunmehr  respirablen  Medium  durch  Autogonie  thierische  Mone- 
ren entstanden  sein,  d.  h.  Eiweiss- Verbindungen  in  individueller  Form, 
welche  vorzugsweise  in  regressivem  Stoffwechsel  Oxydation  übten, 
welche  die  in  den  Pflanzen  aufgespeicherten  Spannkräfte  sich  zu 
Nutze  machten,  und  in  allmähliger  Weiterentwickelung  das  Wechsel- 
verhältniss  einleiteten,  das  gegenwärtig  zwischen  den  organischen 
Reichen  existirt. 

Die  Differenzirung ,  welche  in  dieser  oder  ähnlicher  Weise  all- 
mählig  stattgefunden  hat,  lässt  sich  jedoch  auch  in  der  Form  denken, 


232  Thiere  und  Pflanzen. 

dass  alle  autogonen  Moneren  pflanzlicher  Natur  nnd  als  Reductions- 
Organismen  thätig  waren,  und  dass  aus  diesen  sich  später,  bei  hin- 
reichender Abnahme  der  freien  Kohlensäure,  Piastiden  hervorbildeten, 
welche  anfangs  nur  wenig,  in  späteren  Generationen  mehr  und  mehr, 
und  zuletzt  überwiegend  als  Oxydations-Organismen,  als  Thiere  thätig 
waren.  Wenn  man  eine  Abstammung  der  ganzen  Organismen -Welt 
von  einer  einzigen  Moneren- Art  annimmt,  so  muss  man  jedenfalls  die 
Wurzel  dieses  einzigen  organischen  Stammbaumes,  d.  h.  seine  auto- 
gone  Moneren-Form  und  zahllose  älteste  Reihen  von  Generationen  als 
pflanzliche,  als  reducirende,  ausehen,  aus  deren  vielfach  verzweigter 
Verwandtschaft  sich  erst  weit  später  mehr  neutrale  Protisten  und 
endlich  die  vorwiegend  oxydirenden,  thierischen  Piastiden  differen» 
zirten,  deren  Nachkommenschaft  das  Thierreich  ist. 

XI   Die  Seele  als  Character  der  Thiere. 

Wenn  man,  wie  es  für  die  kurzen  Definitionen  des  Thieres  und 
der  Pflanze  in  den  Lehrbüchern  erwünscht  ist,   die  am  meisten  cha- 
racteristischen    und    durchgreifenden    Unterschiede    von     Thier     und 
Pflanze  mit  wenigen  Worten  ausdrücken  will,   so  wird   es  immer  am 
natürlichsten  sein,  die  hervorgehobenen  Gegensätze  des  Stoffwechsels 
und  der  Ernährung,  und  des  daran  geknüpften  Kraftwechsels  in  erster 
Linie  zu  betonen,  und  man  kann  die  drei  Reiche  dann  ungefähr  durch 
folgende  Diagnose  bezeichnen:     1)  Die  Pflanzen  bilden  vorwie- 
gend   durch    Reduction    und    Synthese    aus    ganz   einfachen 
sehr  zusammengesetzte  Verbindungen,  binden  dabei  Wärme 
und  entAvickeln  wenig  mechanische  Arbeit.    2)  Die  Protisten 
sind    vorwiegend    indifferente    Organismen,    in    denen    sich 
Reduction     und    Oxydation    das    Gleichgewicht     zu     halten 
scheinen,    welche   bald  Wärme   binden,   bald  abgeben,    und 
mehr  mechanische  Arbeit  als  die  Pflanzen,  weniger  als  die 
Thiere  entwickeln.    3)  Die  Thiere  bilden  vorwiegend  durch 
Oxydation   und  Analyse  aus  sehr  zusammengesetzten   ganz 
einfache  Verbindungen,  entAvickeln  dabei  Wärme  und  viel 
mechanische  Arbeit.   Jedenfalls  ist  diese  Definition  weit  zutreffen- 
der,  als  die  gewöhnlich  in  den  Lehrbüchern  aufgeführte  Behauptung, 
dass    sich    die    Thiere    vor    den    Pflanzen    durch    den    Besitz    einer 
„Seele",   d.   h.   durch   die  Functionen  der  „willkührlichen  Bewegung" 
und  „Empfindung'',  auszeichnen.     Da  auf  diesen  falschen  Satz  immer 
noch  so  grosses  Gewicht  gelegt  wird,   so  wollen  wir  demselben  noch 
einige  Worte  der  Widerlegung  widmen. 

Unter  Seele  oder  Seelenthätigkeit   verstehen  wir  allgemein  eine 
Summe  von  verschiedenen,  hoch  difi'erenzirten  Functionen  des  Central- 


XI.    Die  Seele  als  Character  der  Thiere.  233 

nervensystems,  unter  denen  der  Wille  und  die  Empfindung  die  wich- 
tigsten sind.  Der  Wille,  welcher  der  willkührlichen  Bewegung  zu 
Grunde  liegt,  und  die  Empfindung  sind  Vorstellungen,  welche 
nur  in  dem  hoch  entwickelten  Centralnervensystem  der  höheren 
Thiere  ausschliesslich  zu  Stande  kommen  und  als  complicirte 
Molekularbewegungen  in  den  Ganglienzellen  zu  betrachten  sind. 
Es  erfordern  diese  sehr  verwickelten  Nervenbewegungen  eine  ent- 
sprechend complicirte  Structur  der  N ervencentren ,  wie  sie  sich  nur 
bei  den  vollkommeneren  und  entwickelteren  Thieren  vorfindet.  Auch 
diese  höchst  feinen  und  zusammengesetzten  Structur -Verhältnisse  des 
,,Seelen- Organs",  sowie  die  von  ihm  ausgehende  Seelen -Thätigkeit, 
haben  sich,  gleich  allen  höheren  Organen  und  Functionen  der  voll- 
kommeneren Thiere,  erst  allmählig  durch  Differenzirung  aus  einfachen 
Verhältnissen  hervorgebildet.  Bei  den  niederen  Thieren  (z.  B.  bei 
zahlreichen  niederen  Entwicklungsstufen  der  Coelenteraten ,  Echino- 
dermen,  Würmer,  Mollusken)  finden  wir  statt  deren  nur  die  viel  ein- 
facheren Functionen,  welche  man  mit  dem  Namen  der  „Reflex- 
bewegungen" belegt  hat.  Diese  Reflex -Functionen  der  niederen 
Thiere  finden  sich  auch  bei  den  Protisten  und  den  Pflanzen 
wieder,  welche  kein  ditferenzirtes  „Nervengewebe"  besitzen;  sie  sind 
also  nicht  nothwendig  an  ein  entwickeltes  Nervensystem  geknüpft, 
während  der  Wille  und  die  Empfindung,  ebenso  wie  das  mit  ihnen 
verbundene  Bewusstsein,  immer  eines  hoch  entwickelten  und  coni- 
plicirt  gebauten  Nervencentrums  als  unentbehrlichen  Organes  bedürfen. 
Wenn  wir  von  den  einfacheren  und  niederen  Thierformen  durch  die 
Reihe  der  allmählig  ditferenzirten  Zwischenstufen  zu  den  höchsten 
und  vollkommensten  Thieren  (innerhalb  eines  und  desselben  Stammes) 
emporsteigen,  und  ebenso  wenn  wir  von  der  Larve  oder  dem  neuge- 
borenen Thiere  (z.  B.  beim  Menschen)  zu  dem  reifen  und  erwachsenen 
Thiere  aufsteigen,  so  sehen  wir  aus  den  Reflex-Functionen  der  niederen 
Entwickelungszustände  sich  allmählig  und  langsam  Nervenbewegungen 
entwickeln,  die  sich  in  die  drei  getrennten  Haupt- Functionen  des 
Seelenlebens:  Empfindung,  Wille  und  Gedanken  differenziren. 

Empfindung  und  Wille  sind  Vorstellungen,  welche  während  der 
Leitung  einer  Nervenauslösung  entstehen,  und  die  unmittelbare  Leitung 
der  Reflexbewegungen  unterbrechen,  gewissermaassen  in  diese  einge- 
schaltet werden.  Wie  wir  oben  (p.  214)  gesehen  haben,  können  wir 
uns  die  Reflexbewegung  einfach  vorstellen  als  eine  geschlossene  Kette 
von  Auslösungen,  welche  von  der  Peripherie  des  Körpers  (vom 
Sinnesorgan)  ausgeht,  und  zu  derselben  (zum  Bewegungsorgan,  dem 
Muskel)  zurückkehrt.  Unmittelbar  hat  hier  die  Auslösung  der  centri- 
petalen  Nervenfaser  diejenige  der  centrifugalen  zur  Folge.  Die  cen- 
trale Ganglienzelle  oder  die  Gruppe  von  Ganglienzellen,   welche  die 


234  Thiere  und  Pflanzen. 

Auslösung-  von  der  sensiblen  (centripetalen)  zur  motorischen  (centri- 
fugalen)  hiniiberleiten ,  erfüllen  diese  Function,  ohne  dass  in  ihnen 
dadurch  die  eigentümliche  Molekularbewegung  der  „Vorstellung" 
entsteht.  Erst  wenn  diese  „Vorstellung"  in  den  Eiweissmolekülen 
der  Ganglienzellen  erregt  wird,  können  wir  von  einer  ..Seele"  des 
Thieres  sprechen,  und  wir  bezeichnen  dann  diejenige  Vorstellung, 
welche  bei  der  Erregung  der  Ganglienzellen  durch  die  centripetale 
Faser  erzeugt  wird,  als  Empfindung,  diejenige  Vorstellung  dagegen, 
welche  bei  der  Erregung  der  centrifugalen  Faser  durch  die 
Ganglienzelle  erzeugt  wird,  als  Wille.  Die  am  schwierigsten  zu  be- 
greifende, dunkelste  und  höchste  Function  der  thierischen  Seele  ist 
die  Gedankenbildung,  welche  in  Vorstellungen  besteht,  die  in  den 
Ganglienzellen  während  der  Leitung,  wahrscheinlich  aber  immer  durch 
eine  höchst  complicirte  Wechselwirkung  zahlreicher  centrifugaler  und 
centripetaler  Erregungen,  erzeugt  werden.  Mögen  wir  über  diese 
Vorgänge  noch  so  sehr  im  Dunkeln  sein,  so  viel  ist  sicher,  dass  alle 
diese  differenzirten  Nervenbewegungen,  welche  man  unter  dem  Namen 
des  Seelenlebens  zusammenfasst,  sich  erst  allmählig  bei  den  höheren 
Thieren  differenzirt  und  aus  den  einfacheren  Reflexbewegungen  her- 
vorgebildet haben,  welche  alle  niederen  Thiere  mit  den  Protisten  und 
Pflanzen  theilen. 


XU.    Zoologie,  Protistik,  Botanik. 

Wenn  die  von  uns  vorgeschlagene  Dreitheilung  der  Organismen- 
Welt,  die  Aufstellung  der  drei  coordinirten  Hauptgruppen  oder  Reiche : 
Thiere,  Protisten,  Pflanzen,  naturgemäss  ist,  wie  wir  glauben,  so  muss 
die  Biologie,  als  die  Gesammtwissenschaft  von  den  Organismen,  von 
diesem  Gesichtspunkte  der  Classification  aus  in  drei  coordinirte  Haupt- 
zweige zerfallen:  Zoologie,  Protistik,  Botanik.  Jede  dieser  drei  Wis- 
senschaften hat  ihr  besonderes  Object  und  hat  zur  Aufgabe  die  voll- 
ständige Erkenntniss  dieses  Objects,  in  allen  den  verschiedenen 
Beziehungen,  welche  wir  bereits  oben  (im  zweiten  Capitel)  erläutert 
haben.  Es  muss  also  jede  dieser  drei  Wissenschaften  in  die  verschie- 
denen Zweige  und  Aeste  zerfallen,  welche  oben  (p.  21)  als  die  Zweige 
und  Aeste  der  gesammten  Biologie  hingestellt  worden  sind.  Wir  he- 
ben dies  hier  ausdrücklich  hervor,  weil  Begriff  und  Aufgabe  der  Zoo- 
logie von  den  allermeisten  Zoologen,  Begriff  nnd  Aufgabe  der  Bo- 
tanik von  den  allermeisten  Botanikern  nicht  in  diesem  Sinne  aufge- 
fasst  werden,  vielmehr  fast  immer  nur  einzelne  grössere  oder  kleinere 
Bruchstücke  ihres  weiten  und  grossen  Wissenschaftsgebiets  als  die 
„eigentliche"  Zoologie  und  die  „eigentliche"  Botanik  angesehen  wer- 
den.    Natürlich  existirt  in  dieser  Beziehung  nicht  die  mindeste  Ueber- 


XII.    Zoologie,  Protistik,  Botanik.  235 

einstimm ung  zwischen  den  verschiedenen  Biologen,  da  in  der  Regel 
ein  Jeder  nur  den  kleinen  abgerissenen  Fetzen  der  Wissenschaft  als 
„eigentliche"  Thier-  oder  Pflanzen-Kunde  preist,  in  welchem  er  spe- 
ciell  bewandert  ist.  Da  unter  diesen  Umständen  gegenwärtig  die 
grösste  Verwirrung  und  die  allgemeinste  Unklarheit  über  die  wahre 
Aufgabe  und  das  eigentliche  Ziel  der  Zoologie  und  Botanik  herrscht, 
so  halten  wir  es  keineswegs  für  überflüssig,  hier  nochmals  ausdrück- 
lich hervorzuheben,  dass  Zoologie  die  Gesammtwissenschaft  von  den 
Thieren,  Protistik  oder  Protistologie  die  Gesammtwissenschaft  von 
den  Protisten,  Botanik  oder  Phvytologie  die  Gesammtwissenschaft  von 
den  Pflanzen  ist;  und  dass  jede  dieser  drei  Wissenschaften  die  voll- 
ständige und,  allseitige  Erkenntniss  des  ihr  zugetheilten  Organismen- 
Reiches  zur  Aufgabe  hat. 

Jeder  vernünftige  und  logisch  denkende  Mensch,  der  ausserhalb  un- 
serer Wissenschaft  stellt,  wird  die  vorstehenden  Sätze  so  selbstverständlich 
und  natürlich  finden,  dass  es  ihm  sehr  überflüssig  erscheinen  könnte,  diesel- 
ben hier  doppelt  und  dreifach  hervorzuheben.  Jeder  unbefangene  Natur- 
forscher aber,  der  mit  der  unendlichen  Divergenz  der  allgemeinen  biologi- 
schen Ansichten  vertraut  ist,  und  der  eine  grössere  Anzahl  von  Biologen 
und  von  biologischen  Schriften  über  die  Aufgaben  ihrer  Wissenschaft  be- 
fragt hat,  wird  umgekehrt  die  ausdrückliche  Betonung  jener  Sätze  für  eine 
fundamentale  Notwendigkeit  halten.  In  der  Tuat  braucht  man  bloss  ein 
paar  Dutzend  der  gebräuchlichsten  Lehr-  und  Hand-Bücher  der  Zoologie 
und  Botanik  in  die  Hand  zu  nehmen  und  zu  vergleichen,  um. sich  zu  über- 
zeugen, dass  die  meisten  Verfasser  derselben  thatsächlich  nicht  den  ganzen 
Umfang  und  vollen  Inhalt,  und  also  auch  nicht  das  letzte  Ziel  und  die 
ganze.  Aufgabe  der  Wissenschaft,  der  sie  ihr  Leben  gewidmet  haben,  ken- 
nen. Die  einen  halten  die  Systematik,  die  anderen  die  Anatomie,  einige 
die  Morphologie,  andere  die  Physiologie  für  die  „eigentliche"  Zoologie  oder 
die  „eigentliche"  Botanik.  Die  allermeisten  sogenannten  Zoologen  und  Bo- 
taniker beschäftigen  sich  vorwiegend  oder  ausschlie  slich  mit  einzelnen  Thei- 
len  der  Morphologie,  die  einen  (Systematiker)  mehr  mit  den  äusseren,  die 
anderen  (Anatomen)  mehr  mit  den  inneren  Formverhältnisseu  der  Organis- 
men; jeder  von  beiden  behauptet  aber,  dass  er  die  „eigentliche"  Zoologie 
oder  Botanik  treibe.1)     Die  Physiologie   wird  von  den  Meisten  als  eine  be- 

')  Sehr  viele  sogenannte  Zoologen  und  Botaniker  sind  auch  jetzt  noch  nicht 
über  deu  Standpunkt  des  alten  Boerhaave  hinaus,  der  die  Botanik  mit  fol- 
genden Worten  definirte:  „Botanica  est  scientiae  naturalis  pars,  cujus  ope  feli- 
cissime  et  mininio  negotio  plautae  cognoseuntur  et  in  memoria  retinentur."  Das 
in  Deutschland  am  meisten  verbreitete  „Handbuch  der  Zoologie"  von  Wieg- 
mann  stellt  noch  in  der  neuesten,  von  Troschel  umgearbeiteten  Auflage  (1864) 
der  Zoologie  folgende  Aufgabe:  ,,Sie  hat  die  äusseren  Formen  der  Thiere  (!), 
das  Wichtigste  (!)  ihres  inneren  Baues,  ihre  Lebensweise  und  Heimath  kennen 
zu  lehren;  sie  hat  die  in  der  Gesammtheit  ihres  Wesens  übereinstimmenden 
Thierformen  in  Arten,  Gattungen,  Familien,  Ordnungen  und  Klassen  zusammen- 
zustellen, um  so  das  Vielen  Gemeinsame  leichter  hervorzuheben,  und  das  Erken- 


236  Thiere  und  Pflanzen. 

sondere,  ganz  verschiedene  Wissenschaft  angesehen,  die  mit  der  „eigent- 
lichen" Zoologie  oder  Botanik  Nichts  zu  thun  hat,  Die  Entwicklungsge- 
schichte der  Individuen  (die  Ontogenie  oder  sogenannte  Embryologie)  ist 
zwar  neuerdings  etwas  mehr  zu  Ehren  und  Ansehen  gekommen  und  wird 
wohl  von  den  meisten  Botanikern  und  einigen  Zoologen  als  ein  integriren- 
der  und  höchst  wesentlicher  Zweig  der  Biologie  anerkannt.  Die  coordinirte 
Phvlogenie  dagegen,  die  Eutwickelungsgeschichte  der  Stämme,  einer  der 
interessantesten  und  wichtigsten  biologischen  Wissenschaftszweige,  ist  den 
meisten  Zoologen  und  Botanikern,  ebenso  wie  die  Palaeontologie,  welche 
ihr  das  empirische  Material  liefert,  entweder  gänzlich  unbekannt  oder  wird 
doch  als  eine  fremde,  weitabliegende  Wissenschaft,  allenfalls  als  eine  in- 
teressante Curiosität  betrachtet.  Wenn  in  dieser  Weise,  und  es  ist  dies 
Thatsache,  die  „Versteinerungen,"  die  unschätzbaren  Reliquien  der  ausge- 
storbenen Thiere  und  Pflanzen,  von  den  meisten  Zoologen  und  Botanikern 
entweder  gar  nicht  berücksichtigt,  oder  doch  nicht  richtig  verstanden  und 
gewürdigt  werden,  so  hat  dies  gerade  so  viel  Sinn,  wie  wenn  die  ver- 
gleichenden Sprachforscher  sich  ausschliesslich  mit  den  lebenden  Sprachen 
beschäftigen,  und  das  Studium  der  ausgestorbenen  für  ein  ganz  fremdartiges 
Curiosum  erklären  wollten. 

Wir  sind  gewiss  weit  entfernt  davon,  den  grossen  Vortheil  zu  verken- 
nen, welchen  die  weit  vorgeschrittene  Arbeitsteilung  den  einzelnen  Fächern 
der  Biologie  gebracht  hat.  Ihr  allein  oder  doch  vorzüglich  verdanken  wir 
die  ausserordentliche  Vermehrung  des  (freilich  meist  nicht  ordentlich  ver- 
werteten) empirischen  Kenntniss-Materials,  welche  in  den  letzten  Decennien 
eine  ganze  Reihe  von  selbstständigen  Wissenschafts-Zweigen  hervorgerufen 
hat.  Und  diese  Arbeitsteilung  wird  und  muss  auch  noch  viel  weiter  gehen, 
wenn  die  Riesen- Masse  der  noch  nicht  unserer  Kenntniss  unterworfenen 
Tha,tsachen- Welt  bewältigt  werden  soll.  Allein  wir  können  nicht  umhin, 
auch  auf  die  grossen  Nachtheile  aufmerksam  zu  machen,  welche  mit  jeder 
solchen  weitgehenden  Arbeitstheilung  verbunden  sind,  welche  aber  erst  dann 
die  Wissenschaft  erheblich  beschädigen,  wenn  man  sich,  wie  es  jetzt  meist 
geschieht,  ihrer  Erkenntniss  verschliesst,  Hierher  gehört,  vor  Allen  die 
blinde  Einseitigkeit,  mit  der  sich  die  meisten  Biologen  auf  ein  ganz  klei- 
nes und  beschränktes  Wissenschaftsgebiet  zurückziehen,  ohne  sich  weiter 
um  das  Ganze  der  Wissenschaft  zu  bekümmern.  Dadurch  geht  aber  nicht 
nur  der  erhebende  Blick  für  das  wundervolle  Ganze  der  Natur,  sondern 
auch  die  Fähigkeit  für  die  richtige  Erkenntniss  des  Einzelnen  verloren.  Es 
reis.st  dadurch  ferner  eine  Einseitigkeit  in  der  Untersuchungsmethode  und 
Darstellungsweise  jedes  einzelnen  kleinen  Gebietes  ein,  welche  ein  gegen- 
seitiges Verständniss  erheblich  erschwert  und  Verwirrung  in  die  Literatur 
bringt.  Endlich  aber  verlieren  durch  diese  ausschliessliche  Versenkung  in 
das  kleinste  Detail  die  Naturforseher  ganz  den  Blick  für  die  Erkenntniss  der 
Naturgesetze,  welche  doch  das  höchste  und  letzte  Ziel  der  Wissenschaft  ist, 

nen  der  einzelnen  Arten  zu  erleichtern  (!)."  Von  Physiologie  und  Entwicke- 
lungsgeschichte,  von  Palaeontologie  etc.  ist  in  diesem,  wie  in  den  meisten  übrigen 
Handbüchern  Nichts  oder  nur  einzelne  beiläufige  Bemerkungen  zu  finden. 


XII.     Zoologie,  Protistik,  Botanik.  237 

Die  allgemeine  Begriffsverwirrung,  welche  in  den  meisten  biologischen 
Discipliuen  herrscht,  und  die  merkwürdige  Unklarkeit,  in  welcher  sich  die 
meisten  Biologen  über  Inhalt  und  Umfang  der  Wissenschaftszweige  be- 
finden, in  denen  sie  speciell  arbeiten,  ist  von  uns  bereits  im  zweiten  und 
dritten  Capitel  eingehend  gerügt  worden.  Um  sich  von  der  wirklichen  Be- 
gründung dieser  schweren  Vorwürfe  zu  überzeugen,  ersuchen  wir  den  Le- 
ser, ein  paar  Dutzend  der  gebräuchlichsten  zoologischen  und  botanischen 
Hand-  und  Lehr-Bücher  neben  einander  zu  legen  und  ihre  einleitenden  er- 
sten Capitel  zu  vergleichen.  Man  wird  erstaunen  über  die  unglaub- 
lichen Widersprüche  und  die  ausserordentliche  Divergenz  der  Ansichten  bei 
den  verschiedenen  Autoren,  welche  sich  nicht  etwa  auf  untergeordnete  Ge- 
genstände beziehen,  sondern  auf  die  wichtigsten  Fundamente  der  Wissen- 
schaft, auf  die  Bestimmung  des  Inhalts  und  Umfangs  der  einzelnen  Natur- 
wissenschaften, welche  die  einzelnen  Zoologen  und  Botaniker  als  die  Be- 
standteile der  „eigentlichen"  (neuerdings  „wissenschaftlichen")  Zoologie 
und  Botanik  zu  bezeichnen  belieben.  Wenn  wir  schon  oben  gezeigt  haben, 
dass  die  Begriffe  der  Morphologie  und  Physiologie,  der  Anatomie  uud 
Systematik,  der  Organologie  und  Histologie  u.  s.  w.  von  den  verschiedenen 
Biologen  in  einem  ganz  verschiedenen  und  willkührlichen  Sinne  gebraucht 
werden,  so  gilt  dasselbe  in  noch  höherem  Maasse  von  den  Begriffen  der 
Zoologie  und  Botanik.  Es  ist  daher  keineswegs  überflüssig,  wenn  wir  hier 
nochmals  ausdrücklich  darauf  hinweisen,  dass  jeder  biologische  Wissen- 
schaftszweig, welcher  eine  einzelne  Organismen -Gruppe  behandelt,  aus 
allen  denselben  Disciplinen  zusammengesetzt  ist,  welche  wir  oben  (p.  21) 
als  integrirende   Bestandteile    der  gesammten   Biologie  hingestellt  haben. 

Wenn  wir  also  als  die  drei  Hauptgruppen  oder  Reiche  der  Organis- 
men die  Thiere,  Protisten  und  Pflanzen  betrachten,  und  wenn  wir  unter 
Zoologie,  Protistik  und  Botanik  die  gesammte  Wissenschaft  dieser  drei 
Gruppen  verstehen,  so  muss  jede  dieser  drei  Wissenschaften,  gleich  der 
gesammten  Biologie,  zunächst  in  die  drei  coordinirten  Disciplinen  der 
Morphologie,  Chemie  und  Physiologie  zerfallen,  oder,  wenn  wir  die  statische 
Chemie  mit  der  ersteren,  die  dynamische  Chemie  mit  der  letzteren  vereini- 
gen, in  die  beiden  Hauptfächer  der  Morphonomie  (Morphologie  im  weiteren 
Sinne)  und  der  Phoronomie  (Physiologie  im  weiteren  Siune).  Die  Morpho- 
logie spaltet  sich  wiederum  in  die  beiden  Hauptzweige  der  Anatomie  und 
Entwicklungsgeschichte  (Morphogenie).  Die  Physiologie  theilen  wir  eben- 
falls in  zwei  Disciplinen:  I.  Die  Physiologie  der  Conservation  oder  Selbst- 
erhaltung (a.  Ernährung,  b.  Fortpflanzung),  IL  die  Physiologie  der  Rela- 
tionen oder  Beziehungen  (a.  Physiologie  der  Beziehungen  der  einzelnen  Theile 
des  Organismus  zu  einander  (beim  Thiere  Physiologie  der  Nerven  und 
Muskeln);  b.  Oecologie  und  Geographie  des  Organismus  oder  Physiologie 
der  Beziehungen  des  Organismus  zur  Aussenwelt).  Um  die  gegenseitigen 
Beziehungen  dieser  einzelnen  Disciplinen  klar  zu  übersehen,  fügen  wir  als 
Beispiel  die  folgende  Tabelle  über  die  einzelnen  Zweige  der  Zoologie  bei, 
welche  entsprechend  auch  für  die  Protistik  und  Botanik  Geltung  hat. 


238 


Thiere  und  Pflanzen. 


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Drittes  Buch. 


Erster  Theil  der  allgemeinen  Anatomie. 


Generelle  Tectologie 

oder 

Allgemeine  Structurlehre  der  Organismen. 

(Individualitätslelire  der  Organismen.) 


„Jedes  Lebendige  ist  kein  Einzelnes,  sondern  eine  Mehrheit;  seihst  insofern  es 
uns  als  Individuum  erscheint,  bleibt  es  doch  eine  Versammlung  von  lebendigen,  selbst- 
ständigen Wesen,  die  der  Idee,  der  Anlage  nach  gleich  sind,  in  der  Erscheinung 
aber  gleich  oder  ähnlich ,  ungleich  oder  unähnlich  werden  können.  Diese  Wesen 
sind  theils  ursprünglich  schon  verbunden,  thcils  finden  und  vereinigen  sie  sich.  Sie 
entzweien  sich  and  suchen  sich  wieder,  und  bewirken  so  eine  unendliche  Pro- 
duction  auf  alle  Weise  und  nach  allen   Seiten. 

„Je  unvollkommener  das  Geschöpf  ist,  desto  mehr  sind  diese  Theile  einander 
gleich  oder  ähnlich,  und  desto  mehr  gleichen  sie  dem  Ganzen.  Je  vollkommener  das 
Geschöpf  wird,  desto  unähnlicher  werden  die  Theile  einander.  In  jenem  Falle  ist 
das  Ganze  den  Theilen  mehr  oder  weniger  gleich,  in  diesem  das  Ganze  den  Theilen 
unähnlich.  Je  ähnlicher  die  Theile  einander  sind  ,  desto  weniger  sind  sie  einander 
subordinirt.      Die  Subordination  der  Theile  deutet    auf   ein    vollkommneres  Geschöpf. 

„Dass  nun  das,  was  der  Idee  nach  gleich  ist,  in  der  Erfahrung  entweder  als 
gleich  oder  als  ähnlich,  ja  sogar  als  völlig  ungleich  und  unähnlich  erscheinen  kann, 
darin  besteht  eigentlich  das  bewegliche  Leben  der  Natur,  das  wir  in  unseren  Blät- 
tern zu  entwerfen  gedenken." 

Goethe    Jena,   1807). 


I.    Die  Tectologie  als  Lehre  von  der  organischen  Individualität.        241 


Achtes  Capitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 


Freuet  euch  des  wahren   Scheins, 
Euch  des  ernsten  Spieles, 
Kein  Lebendiges  ist  Eins, 
Immer  ist's  ein  Vieles. 

Goethe. 


I.   Die  Tectologie  als  Lehre  von  der  organischen  Individualität. 

Die  Tectologie  oder  Structurlehre  der  Organismen  ist 
die  gesammte  Wissenschaft  von  der  Individualität  der  be- 
lebten Naturkörper,  welche  meistens  ein  Aggregat  vou  Individuen 
verschiedener  Ordnung  darstellt.  Die  Aufgabe  der  organischen 
Tectologie  ist  mithin  die  Erkenntniss  und  die  Erklärung 
der  organischen  Individualität,  d.  h.  die  Erkenntniss  der  be- 
stimmten Naturgesetze,  nach  denen  sich  die  organische  Materie  indi- 
vidualisirt,  und  nach  denen  die  meisten  Organismen  einen  einheit- 
lichen, aus  Individuen  verschiedener  Ordnung  zusammengesetzten 
Formen-Complex  bilden. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie,  wie  wir  sie  hier  feststellen 
und  bereits  oben  (p.  30,  46,  49)  im  Allgemeinen  erörtert  haben,  sind 
bisher  von  den  meisten  Morphologen  nicht  scharf  ins  Auge  gefasst 
worden,  da  man  in  der  Anatomie  die  Tectologie  und  Promorphologie 
stets  vermischt  zu  behandeln  pflegt.  Wenn  nun  auch  diese  Behand- 
lungsweise  in  der  anatomischen  Praxis  sich  gewiss  am  meisten 
empfiehlt,  und  es  immer  am  bequemsten  sein  wird,  bei  der  Anatomie 
jedes  einzelnen  Organismus  die  gesammte  Anatomie  (Tectologie  und 
Promorphologie)  der  einzelnen  Individuen  verschiedener  Ordnung  nach 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  \Q 


242  Begriff  uml  Aufgabe  der  Tectologie. 

einander  abzuhandeln  (p.  45),  so  müssen  wir  dagegen  hervorbeben, 
dass  es  für  das  theoretische  Verständniss  des  Organismus  von  der 
grössteu  Wichtigkeit  ist,  die  wesentlich  verschiedene  Aufgabe  der 
beiden  anatomischen  Hauptzweige  scharf  getrennt  zu  erfassen ,  und 
Tectologie  und  Promorphologie  als  gesonderte  coordinirte  Wissen 
schaften  neben  einander  zu  begreifen.  Für  die  allgemeine  und  syn- 
thetische Betrachtung  einer  Organismen- Gruppe  wird  daher  die  voll- 
ständige Trennung  der  Tectologie  und  Promorphologie ,  wie  wir  sie 
hier  durchführen,  vorzuziehen  sein,  während  für  die  besondere  und 
analytische  Erforschung  eines  einzelnen  Organismus  sich  mehr  die 
Verschmelzung  der  beiden  anatomischen  Hauptzweige  und  die  Ein- 
th eilung  der  gesammten  Anatomie  in  die  sechs,  oben  (p.  45)  aufge- 
führten Disciplinen  empfehlen  wird. 

Der  Körper  der  grossen  Mehrzahl  aller  jetzt  lebender  Organismen 
stellt  ein   verwickeltes   Gebäude   dar,  welches  aus  gleichartigen  und 
ungleichartigen  Theilen  oder  Organen  in  sehr  complicirter    Weise    zu- 
sammengesetzt ist.     Allgemein  können  wir  diese  „Partes  similares  et 
dissimilares"   derart  in  verschiedene  subordinirte  Kategorieen  einthei- 
len,  dass  jede  höhere  Kategorie  eine  in  sich  abgeschlossene  und  selbst- 
ständige   Einheit,    zugleich    aber    auch    eine    Vielheit    von    mehreren 
Einheiten  der  nächstniederen  Kategorie  darstellt.     Diese  Kategorieen 
betrachten  wir  als  verschiedene  Stufen  oder  Ordnungen  von  organischen 
Individuen.   Wir  können  daher  auch  die  Tectologie  oder  Structurlehre 
als  die  „Wissenschaft  von  der  Zusammensetzung  der  Organis- 
men aus   organischen   Individuen  verschiedener  Ordnung1" 
bezeichnen,  wie  es  oben  (p.  30)  geschehen  ist.     Hiergegen  ist  nur  zu 
erinnern,  dass  diese  verwickelte  Zusammensetzung  des  Organismus  aus 
subordinirten   Individualitäten  A^erschiedener  Ordnung  bei    sehr    zahl- 
reichen niederen  Organismen  fehlt,  nämlich  bei  sehr  vielen  Protisten, 
einzelligen  Algen   etc.   und  überhaupt    bei    allen   Lebewesen,    welche 
zeitlebens  auf  der  niedersten  Stufe  oder   Ordnung  der   Individualität 
stehen  bleiben   und  blos  den  morphologischen  Werth  einer  einzigen 
Plastide   (entweder  einer   Cytode  oder  einer    Zelle)    behalten.     Auch 
ist  die  Erwägung  sehr  wichtig,  dass  alle  organischen  Individuen  ohne 
Ausnahme,    mögen    sie    auch    in   ihrer  vollendeten  Form   die   höchste 
Stufe  der  Complication    erreichen,    und   aus  fünf  verschiedenen   Ord- 
nungen von  Individuen,  wie  die  Wirbelthiere,  oder  aus  sechs,  wie  die 
meisten  Phanerogamen,    zusammengesetzt    sein,    dennoch   diesen   ver- 
wickelten  Hau  erst  durch   die   Entwickelung  erreichen   und   in    ihren 
ersten  Anfängen  stets  ein  einfachstes  Individuum  erster  Ordnung,  eine 
einzelne  Plastide,  repräsentiren.    Da  wir  nun  ausserdem  in  den  homo- 
genen  und   striicturlosen  Moneren   Organismen  kennen,   welche  über- 
haupt nicht  aus  ungleichartigen  Theilen,  sondern  blos  aus  gleichartigen 


I.    Die  Tectologie  als  Lehre  von  der  organischen  Individualität.         243 

Eiweiss-Molekülen  zusammengesetzt  sind,  so  erscheint  es  nicht  passend, 
die  Tectologie  allgemein  als  Merologie  oder  Lehre  von  den  Theilen 
zu  bezeichnen,  falls  man  unter  diesen  ..Theilen"  nur  die  Individuen 
verschiedener  Ordnung  verstehen  will.  Vielmehr  würde  es  vom  allge- 
meinen Gesichtspunkte  aus  passender  erscheinen,  falls  der  Ausdruck 
der  Tectologie  oder  Structurlehre  aus  jenem  Grunde  zu  beschränkt 
erscheinen  sollte,  diesen  Zweig  der  Anatomie  als  die  „Wissenschaft 
von  der  organischen  Individualität"  oder  kurz  als  die  Biontologie1) 
(Individualitäts-Lehre)  zu  bezeichnen. 

Bevor  wir  die  eigentliche  Aufgabe  der  Tectologie  oder  Biontologie 
zu  lösen  und  die  Gesetze  zu  erkennen  versuchen,  nach  denen  sich 
die  organische  Materie  iudividualisirt,  erscheint  es  uns  nothwendig, 
den  Begriff  des  organischen  Individuums  im  Allgemeinen  zu  erörtern 
und  die  sehr  verschiedenen  Ansichten  zu  erwägen,  welche  die  ver- 
schiedenen Naturforscher  sich  über  die  Individualität  der  Organismen 
gebildet  haben.  Erst  dann  können  wir  ausführlich  unsere  eigene  An- 
sicht von  den  morphologischen  und  physiologischen  Individuen  ver- 
schiedener Ordnung  begründen,  welche  nach  unserem  Dafürhalten 
allgemein  unterschieden  werden  müssen. 


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II.    Begriff  des  organischen  Individuums  im  Allgemeinen. 

Das  Wort  „Individuum"  wird  in  ausserordentlich  vielfacher  und 
verschiedenartiger  Bedeutung  angewandt.  Seinem  Wortlaute  nach  soll 
dieser  Begriff  ein  Untheilbares  bezeichnen.  Im  strengsten  Sinne 
untheilbar  können  wir  uns  aber  nur  die  Massen-Atome  vorstellen,  aus 
denen  wir  uns  nach  der  atomistischen  Hypothese  die  Materie  zusammen- 
gesetzt denken,  und  die  Atome  des  expansiven  Aethers,  welche  die 
attractiven  Massen-Atome  trennen.  „Atom-'  (ato/uog)  ist  ja  ursprüng- 
lich weiter  Nichts,  als  das  griechische  Wort  für  das  römische  „Indivi- 
duum", für  das  deutsche  „Untheilbar".  In  diesem  Sinne  wurden 
denn  auch  von  früheren  Philosophen  die  Ausdrücke  Atom  und  Indivi- 
duum als  gleichbedeutend  angewandt. 

Das  Wort  Atom  hat  späterhin  diese  ursprüngliche  Bedeutung  des 
Individuum  allein  beibehalten  und  wird  jetzt  in  diesem  Sinne  aus- 
schliesslich zur  Bezeichnung  der  einfachsten  und  letzten  discreten 
Grössen,  der  kleinsten,  homogenen  und  untheilbaren  Stofftheilchen 
verwandt,  aus  deren  Aggregation  die  atomistische  Hypothese  die  Masse 
und  den  zwischen  den  Masse-Atomen  befindlichen  Aether  construirt. 
Das  Wort  Individuum  dagegen  wird  zur  Bezeichnung  sehr  verschie- 
dener Erscheinungsformen  der   Materie    gebraucht,    welchen    nur    die 


l)  ßiov,  t6  ,  das  concrete  Lebewesen,  das  physiologische  Individuum. 

16* 


244  Begriff  und  Aufgabe  der  Teetologie. 

Idee  der  Einheit  als  gemeinsames  Band  zu  Grunde  liegt.  Wenn 
man  von  der  einheitlichen  Erscheinungsform  der  Individuen 
absieht,  so  bleibt  für  den  Begriff  des  Individuums  weiter  Nichts 
übrig. 

Hieraus  folgt  bereits,  dass  der  Begriff  des  Individuums  kei- 
ner weiteren  Definition  fähig  ist,  dass  er  keine  absolute,  sondern  nur 
eine  relative  Bedeutung  besitzt.  Streng  genommen  ist  das  Indivi- 
duum eigentlich  gar  kein  Begriff,  sondern  nur  die  rein  anschauliche 
Auffassung  irgend  eines  gegebenen  Begriffes  als  Einheit  unter  einer 
Vielheit  von  gleichen  Begriffen.  So  hat  schon  Schieiden1)  das  In- 
dividuum als  „die  rein  anschauliche  Auffassung  irgend  eines  wirk- 
lichen Gegenstandes  unter  einem  gegebenen  Artbegriff"  definirt. 
Erst  die  Beziehung  zu  diesem  Artbegriff  lässt  das  Individuum  als 
solches  erscheinen.  Dasjenige,  was  im  gewöhnlichen  Leben  am 
häutigsten  als  Individuum  bezeichnet  wird,  der  einzelne  Mensch,  oder 
die  Person,  ist  ein  Individuum  unter  dem  Artbegriff  seiner  Nation; 
die  Nation  ist  ein  Individuum  unter  den  übrigen  Nationen  ihrer 
Rasse;  die  Rassen  sind  Individuen  unter  der  Menschen- Art ;  die  Men- 
schen-Art ist  ein  Individuum  unter  den  verschiedenen  Säugethier-Arten 
u.  s.  w.  Erst  wenn  der  Artbegriff  vollkommen  definirt  ist,  von  dessen 
Individuen  man  spricht,  erhält  das  Individuum  eine  bestimmte  Bedeu- 
tung. Es  tritt  uns  dann  die  Individualität  als  eine  einheitliche  Er- 
scheinung entgegen,  welche  nicht  getheilt  werden  kann,  ohne  ihren 
Character,  ihr  eigenstes  Wesen  zu  zerstören. 

Ueber  das  gegenseitige  Verhältniss  der  verschiedenartigen  Indivi- 
dualitäten, die  uns  in  den  concreten  Naturkörpern  entgegentreten, 
über  ihr  coordiuirtes  und  subordinirtes  Verhältniss  im  Allgemeinen 
exi stiren  noch  keine  zusammenhängenden  Untersuchungen.  Desto 
mehr  hat  man  sich  bemüht,  bestimmte  Erscheinungsformen  der  Natur- 
körper xar  üzoxtjv  als  „eigentliche"  Individuen  zu  bestimmen.  Unter  den 
Anorganen  Hess  sich  eine  solche  absolute  Individualität  leicht  in  den 
Kr  y  st  allen  linden.  Unter  den  Organismen  hat  man  bei  den  Thieren 
meistens  keine  Schwierigkeiten  gefunden,  indem  man  als  typisches 
Individuum  die  sowohl  physiologisch  als  morphologisch  vollkommen 
abgeschlossene  und  einheitliche  Erscheinung  auftässte,  in  welcher 
der  einzelne  Mensch  und  alle  übrigen  Wirbelthiere,  wie  die  grosse 
Mehrzahl  der  höheren  Thiere  überhaupt,  auftreten,  und  welche  wir 
vorläufig  als  Person  (Prosopon)  bezeichnen  wollen.  Viel  schwieriger 
erschien  dagegen  die  Feststellung  eines  solchen  absoluten  Individuums 
im  Pflanzenreiche,  woher  es  sich  erklärt,  dass  die  Botaniker  am  meisten 
sich  mit  dieser  Frage  beschäftigt   haben.     Als  diejenige  Einheitsform, 


')    Schieiden,    Gruudzüge    der  wissensch.  13otuu.     III.  Aufl.  1850.  II.  p.  4.' 


II.    Begriff  des  organischen  Individuums  im  Allgemeinen.  245 

welche  der  thierischen  Person  aequivalent  ist,  haben  die  meisten  Bo- 
taniker bei  den  höheren  Pflanzen  den  Spross  oder  die  Knospe  aner- 
kannt. Da  jedoch  neben  dieser  Anschauung  noch  eine  Anzahl  von 
anderen  sehr  verschiedenartigen  Auffassungen  der  thierischen  und 
pflanzlichen  Individualität  sich  Geltung  verschafft  haben,  so  können 
wir  eine  allgemeine  Uebersicht  derselben  hier  nicht  umgehen ;  und 
zwar  wollen  wir  zunächst  die  verschiedenen  Ansichten  über  das  pflanz- 
liche, dann  diejenigen  über  das  thierische  Individuum  neben  einander 
stellen.  Es  wird  sich  durch  eine  vergleichende  Betrachtung  dieser 
sich  widersprechenden  Auffassungen  schon  die  Ansicht  vorbereiten,  zu 
der  uns  die  eigene  eingehende  Untersuchung  mit  Notwendigkeit  hin- 
führt, dass  wir  nämlich  auf  die  Aufstellung  von  absoluten  organischen 
Individuen  überhaupt  verzichten  müssen,  und  nur  dadurch  zum  Ziele 
gelangen,  dass  wir  verschiedene  Ordnungen  oder  Kategorieen 
von  relativen  Individuen  in  den  organischen  Naturkörpern  unter- 
scheiden. 

HI.  Verschiedene  Auffassungen  des  pflanzlichen  Individuums. 

Als  pflanzliche  Individuen  in  absolutem  Sinne  werden  von  der 
unmittelbaren  und  nicht  in  die  Zusammensetzung  der  Pflanzenformen 
eindringenden  Naturanschauung  der  Laien  diejenigen  für  die  ober- 
flächliche Betrachtung  am  meisten  physiologisch  und  morphologisch 
abgeschlossenen  Einheiten  bezeichnet,  welche  die  Botanik  mit  einem 
schärferen  Ausdruck  als  Stock  oder  zusammengesetzte  Pflanze  (Cor- 
mus)  bezeichnet.  Der  einzelne  Baum,  der  einzelne  Strauch,  das  ein- 
zelne Kraut  mit  seinem  Stengel  und  seiner  Wurzel,  seinen  Aesten  und 
Zweigen,  seinen  Blättern  und  Blüthen,  scheint  auf  den  ersten  Blick 
dasjenige  zu  sein,  was  am  nächsten  der  individuellen  Persönlichkeit 
der  höheren  Thiere  als  geschlossene  Einheit  sich  gegenüberstellt. 
Eine  nähere  Betrachtung  zeigt  jedoch  bald,  dass  weder  physiologisch 
noch  morphologisch  diese  Einheit  so  absolut  und  selbstständig  ist,  als 
sie  zunächst  erscheint.  Benachbarte,  scheinbar  selbstständige  Stöcke 
hängen  unterirdisch  durch  ihre  Wurzelausläufer  zusammen,  indem  ent- 
weder, wie  z.  B.  bei  den  Tannen  eines  Tannenwaldes,  die  Wurzel- 
fasern vieler  ursprünglich  selbstständiger  Stöcke  in  continuirliche  Com- 
munication  treten  und  zu  einem  Netze  verwachsen;  oder  indem  eine 
unterirdisch  kriechende  Axe  nach  oben  viele  Knospen  absendet,  welche 
über  der  Erde  als  scheinbar  selbstständige  Stöcke  auftreten.  Aber 
auch  von  den  oberirdischen  vollkommen  isolirten  Stöcken  können  die 
verschiedensten  Arten  der  Sprosse  (Aeste,  Zweige,  Brutknospen  etc.) 
natürlich  oder  künstlich  abgelöst  werden  und  leben  als  selbstständige 
Individuen  weiter,  indem  sie  sich  alsbald  wieder  verästeln  und  neue 
selbstständige  Stöcke  bilden. 


246  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

Aus  diesem  Grunde  haben  die  Botaniker   schon   seit  langer  Zeit 
und    mit    Recht   den    Cormus    oder    Stock  als  eine  zusammengesetzte 
Pflanze,  als  ein  Aggregat  oder  eine  Colonie  von  Individuen  betrachtet, 
und  dagegen  als  eigentlich  individuelle  Pflanze  den  Spross  oder  die 
Knospe   (Gemnia),  den  Trieb,   aus  welchem  jeder  einzelne  Zweig 
hervorgeht,  und  welcher  stets  nur  einer  einzigen  Axe  entspricht.  Diese 
Auffassung    ist    uralt    und    findet    sich    schon    bei    Aristoteles    und 
Hippokrates  angedeutet.    Sie  ist  dann  später  von  Linne,1)  Goethe, 
Erasmus  Darwin  (dem  Grossvater  des  Reformators  der  Descendeuz- 
Theorie)  und  vielen  Anderen  mehr  oder  minder  bestimmt  ausgesprochen 
und  zuletzt  namentlich  von  Alexander  Braun  !)  ausführlich  begrün- 
det worden.     Für  die  Phanerogamen  und   die   höheren  Cryptoganien 
lässt  sich  die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  gar  nicht  verkennen,  sobald 
man  ihre  Vegetations-  und  Fortpflanzungs -Weise,  die  Art   und  Weise 
des  Aufbaues  ihrer  Stöcke,  mit  den  ganz  übereinstimmenden  Verhält- 
nissen der  Stockbildung  bei  den  Coelenteraten,  und  insbesondere  den 
Hydromedusen,   vergleicht.     Dass  die  Sprossen  oder  Knospen  bei  den 
letzteren  und  bei  den  ersteren  ganz  dieselben  Verhältnisse  zu  einander 
und  zum   Ganzen  zeigen,    bedarf  keines   Beweises ,    und   da  bei   den 
Coelenteraten  die  Individuen -Natur  der  Sprosse,    seien   dieselben  nun 
polypoide    (hydroide)    oder    medusoide    Formen,    von    den    deutschen 
Naturforschern  wenigstens,    allgemein    anerkannt    ist,    selbst  bei  den 
Siphonophoren-Stöcken,  wo  sich  einzelne  Individuen  durch  weit  gehende 
Arbeitstheilung  sehr  weit  von  dem  ausgeprägten  Character  der  typischen 
Individuen  entfernen,  so  darf  man,  hierauf  gestützt,  den  Sprossen  der 
Phanerogamen  und  der  höheren    Cryptoganien    den    morphologischen 
Weilh  und  Rang  der  thierischen  Personen  unbedingt  zugestehen. 

Schwierigkeiten  entstehen  für  diese  Auffassung  erst  bei  den  nie- 
deren Cryptogamen,  Flechten,  Pilzen  und  Algen,  wo  die  individuelle 
Selbstständigkeit  der  Sprosse  in  vielen  Fällen  weder  vom  morphologi- 
schen noch  vom  physiologischen  Standpunkte  aus  sich  nachweisen 
lässt.  Dies  ist  z.  B.  dann  der  Fall,  wenn  der  Spross,  eine  Seitenaxe, 
nur  als  seitlicher  Ausläufer  einer  einzigen  Zelle  auftritt,  deren  anderer 
Theil  der  Hauptaxe  als  integrirender  Bestandtheil  angehört.  Die 
Durchführung  des  Grundsatzes,  dass  jeder  seitlichen  Axe  der  Rang 
einer  selbstständigen  Individualität  gebühre,  scheint  hier  zu  den  selt- 
samsten Widersprüchen  zu  führen.  Auch  könnte  man  dann  daran 
denken,  ebenso  jede  kleinere  seitlich  von  der  Axe  ausgehende  Bil- 
dung,   Blätter,    Haare  etc.    als  Individuen    zu    erklären,    ebenso  auch 


')  Linne,  Philos.  botan.  \  132:  „Gemmae  totidem  herbae." 
2)  Alexander  Braun,    l>a,s   Individuum  der  Pflanze  in  seinem  Verhältnis^ 
zur  Species.     Abhandl.  der  Beil.  Akad.   1853. 


III.    Verschiedene  Auffassungen  des  pflanzlichen  Individuums.  247 

die  einzelnen,  oft  unter  bestimmten  Winkeln  gegen  einander  geneigten 
Glieder  (Stengelglieder),  in  welche  die  einfache  Axe  bei  vielen  Pflan- 
zen abgetheilt  ist  u.  s.  w. 

Diese  letztere  Consequenz  ist  denn  auch  von  vielen  Botanikern 
gezogen  worden,  und  von  den  beiderlei  Organen,  aus  denen  sich  der 
Spross  bei  den  höheren  Pflanzen  allgemein  zusammensetzt,  von  der 
Axe  und  dein  Blatte,  hat  man  Jedem  die  Individualität  allein  vindiciren 
wollen.  Die  Auffassung  des  Blattes,  als  des  eigentlichen  Pflanzen- 
Individuums;  wurde  namentlich  durch  die  von  Goethe  begründete 
Lehre  von  der  Pflanzen -Metamorphose  begünstigt,  welche  die  ver- 
schiedensten Pflanzen-Organe,  Laubblätter,  Blumenblätter,  Staubgefässe, 
Fruchtblätter  etc.  als  differenzirte,  durch  Arbeitsteilung  entstandene 
Modifikationen  eines  und  desselben  Grimdorganes,  des  Blattes,  nach- 
weist, und  wonach  die  ganze  Pflanze  lediglich  eine  Composition  aus 
differenzirten  Blättern,  gewissermaassen  ein  Blätterstock  ist.  Nach  dem 
cousequentesten  Extrem  dieser  Auffassung  erscheinen  die  Axengebilde 
bloss  als  Aggregate  aus  den  vereinigten  Basaltheilen  der  einzelnen 
Blätter.  So  ist  nach  Ernst  Meyer  das  Stengelglied  blos  der  untere 
Theil  des  Blattes. 

Ebenso  wie  das  Blatt  ist  von  Anderen  das  Stengelglied  unter 
dem  Namen  Phyton  (Gaudichaud)  als  das  eigentliche  Individuum 
der  Pflanze  hingestellt  worden,  so  von  Agardh,  Engelmann, 
Steinheil  und  Anderen.  Dann  würde  der  Spross  als  ein  gegliederter 
Stock,  eine  Vielheit  von  Individuen  (Stengelgliedern)  erscheinen,  die 
wie  Stockwerke  übereinander  gebaut  sind.  Das  Verhältniss  des  zu 
jedem  Stengelgliede  gehörigen  Blattes  oder  Blattquirls  hat  man  dabei 
so  aufgefasst,  dass  das  Blatt  bloss  der  obere  Theil  des  Stengel- 
gliedes sei. 

Mag  man  nun  mit  den  letzteren  Botanikern  die  Sprosse  (Gemmae) 
der  Phanerogamen  und  der  höheren  Cryptogamen  als  Colonieen  von 
Stengelgliederu  (Phyton)  oder  mit  den  ersteren  als  Stöcke  von  Blättern 
ansehen,  so  wird  man  in  beiden  Fällen  als  die  eigentlichen  Individuen 
Theile  der  Pflanze  betrachten,  welche  nach  den  vorhergehenden  Auf- 
fassungen blos  als  Organe  gelten  konnten.  Man  hat  sich  in  beiden 
Fällen  vorzugsweise  auf  physiologische  Gründe  gestützt,  auf  die 
Fähigkeit  einzelner  Blätter  oder  einzelner  Stengelglieder,  unter  be- 
stimmten Verhältnissen  die  Art  fortzupflanzen  und  neue  Sprosse  aus 
sich  zu  erzeugen.  Allein  abgesehen  von  anderen  Widersprüchen,  zu 
denen  diese  physiologische  Argumentation  führt,  kann  dieselbe  schon 
darum  nicht  für  ausreichend  gelten,  weil  in  vielen  Fällen  schon  ein- 
zelne kleine  Theile  eines  Blattes  oder  eines  Stengelgliedes  genügen, 
um  einem  oder  mehreren  neuen  Sprossen  den  Ursprung  zu  geben. 
So  wachsen  z.  B.  bei  Bryophyllum  aus  jedem  Einschnitte  des  Blatt- 


248  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

randes  Sprossen  hervor.  Die  absterbenden  Blätter  mancher  Zwiebel- 
gewächse erzeugen  auf  ihrer  Oberfläche  Brutknospen,  aus  denen  neue 
Stöcke  hervorwachsen.  In  diesen  Fällen  sind  es  kleine  Zellengruppen 
von  unbestimmter  Umgrenzung  (vielleicht  selbst  einzelne  Zellen),  Ana- 
phyten,  wie  sie  Schultz- Schultzenstein  genannt  hat,  welche 
das  physiologische  Individuum  repräsentiren,  „welche,  von  der  Pflanze 
getrennt,  selbstständig  fortleben,  keimen  und  sich  weiter  entwickeln 
können."  Will  man  hier  aber  cousequent  und  logisch  verfahren  und 
nicht  ganz  willkührlich  die  Grenze  der  Individualität  umschreiben,  so 
muss  man  bis  auf  die  Zellen  als  auf  die  eigentlichen  und  letzten 
morphologischen  Elemente  der  Pflanze  zurückgehen. 

Dieser  letzte  Schritt  ist  denn  auch  von  bedeutenden  Botanikern 
geschehen  und  die  Zelle  als  das  eigentliche  organische  Individuum 
betrachtet  worden,  aus  dem  sich  durch  Aggregation  der  zusammen- 
gesetzte Körper  aufbaue.  Schon  Schieiden  und  Schwann,  die  Be- 
gründer der  neueren  Zellenlehre,  haben  die  Zelle  in  diesem  Sinne 
aufgefasst,  und  nach  ihnen  viele  Andere.  Auch  diese  Ansicht  hat  ihre 
Berechtigung.  Sowohl  in  physiologischer  als  in  morphologischer  Hin- 
sicht besitzen  die  Zellen,  und  zwar  in  viel  höherem  Maasse  die  pflanz- 
lichen als  die  thierischen  Zellen,  einen  hohen  Grad  von  Individualität, 
der  ihnen  eben  ihren  bestimmten  Character  verleiht,  und  sie  als  die 
eigentlichen  Elementar -Organe  oder  auch  Elementar- Organismen  er- 
scheinen lässt.  Als  solche  sind  sie  die  activen  Lebenseinheiten  oder 
Bionten,  deren  Summe  und  Product  erst  der  ganze  Organismus  mit 
allen  seinen  Leistungen  ist. 

Allein  so  wichtige  Gründe  auch  dafür  sprechen  mögen,  die  Zelle 
als  das  am  meisten  selbstständige  und  absolute  Individuum  hinzu- 
stellen, so  begegnen  wir  doch  auch  hier  unüberwindlichen  Schwierig- 
keiten, die  einer  Verallgemeinerung  dieser  Auflassung  sich  entgegen- 
stellen. Zunächst  giebt  es  eine  grosse  Anzahl  von  niederen  Organis- 
men, auf  welche  sich  diese  Bestimmung  der  Individualität  nicht  an- 
wenden lässt,  weil  sie  weder,  gleich  den  höheren,  aus  Zellen  zu- 
sammengesetzt sind,  noch  auch  im  Ganzen  einer  einzigen  Zelle  ent- 
sprechen. Zu  diesen  niedersten  Organismen,  welche  überhaupt  keine 
bestimmte  Beziehung  zur  organischen  Zelle  erkennen  lassen,  und 
die  wir  desshalb  unten  als  Cytoden  den  Zellen  gegenüber  stellen 
werden,  gehören  z.  B.  viele  Rhizopoden,  gewisse  (kernlose)  Algen  etc. 
Ferner  kennen  wir  viele  Beispiele ,  in  denen  auch  einzelne  Theile 
einer  sogenannten  Zelle  sich  einen  hohen  Grad  von  individueller 
Selbstständigkeit  aneignen  und  neuen  Zellen  den  Ursprung  geben 
können.  Unter  den  einzelligen  Pflanzen  aus  der  Algengruppe  der 
Siphoneen  giebt  es  Arien  (Bryopsis  etc.),  bei  denen  der  einzellige 
Körper  ein  fast  unbegrenztes  Wachsthum  zeigt,  einen  Stock  mit  vielen 


III.    Verschiedene  Auffassungen  des  pflanzlichen  Individuums.  249 

Aesten  und  Zweigen  bildet  und  in  eine  Masse  von  unbestimmt  be- 
grenzten peripherischen  Theilen  sich  auflöst,  deren  jeder  wieder  so- 
fort nach  seiner  Trennung  von  der  Zelle  zu  einem  einzelligen  Indi- 
viduum sich  zu  gestalten  vermag. 

So  ist  es  denn  gekommen,  dass  einige  Botaniker  in  ihrem  analy- 
tischen Bestreben,  die  Pflanze  als  ein  zusammengesetztes  Aggregat 
von  Individuen  nachzuweisen,  auch  nicht  bei  der  Zelle  stehen  geblie- 
ben sind,  sondern  nach  weiteren  Elementen  gesucht  haben,  aus  denen 
die  Zellen  erst  wieder  zusammengesetzt  seien,  und  welche  die  eigent- 
lichen und  letzten  selbstständigen  Individuen  der  Pflanzen  repräsen- 
tiren  sollten.  Schon  Turpin  sprach  die  Idee  aus,  dass  diese  eigent- 
lichen „Urindividuen"  der  Pflanze  die  Kügelchen  des  Zellinhalts  seien, 
durch  deren  Aueinanderlegung  die  Zelle  (als  Individuum  zweiter  Ord- 
nung) gebildet  werden  solle.  Ebenso  fasst  Ktitzing  die  Zelle  nicht 
als  Elementarform  der  Pflanze,  sondern  als  eine  complicirte  Gestalt 
auf,  zusammengesetzt  aus  einfacheren  Körpern,  die  er  als  „Molekular- 
gewebe" zusannnenfasst,  und  welche  für  sich  allein  gewisse  Pflanzen 
niedersten  Ranges  bilden  sollen.  Unger  hält  zwar  die  Zelle  für  das 
eigentliche  Elementar- Organ  der  Pflanze,  unterscheidet  aber  in  ihr 
als  kleinste  „individualisirte"  Körper  noch  Bläschen,  Fasern,  Kör- 
ner etc.  Ebenso  erklärt  auch  Nägel i  die  Pflanzenzelle  für  einen  com- 
plicirten  Organismus,  der  aus  individuellen  Theilen  zusammengesetzt 
ist,  z.  B.  aus  Stärkekörnern  u.  dergl    mehr.') 

Dass  auch  diese  Auffassung  ihre  Begründung  hat,  ist  nicht  zu 
bezweifeln.  Die  Zelle  selbst  kann  in  der  That  als  selbstständiger 
Organismus  angesehen  werden,  und  erscheint  als  solcher  wiederum 
aus  Organen  zusammengesetzt,  aus  verschiedenartigen  Theilen,  welche 
zum  Bestehen  des  Ganzen  zusammenwirken.  Mindestens  zwei  ver- 
schiedenartige Theile  sind  an  jeder  echten  Zelle  zu  irgend  einer  Zeit 
ihres  Lebens  nachzuweisen,  nämlich  der  innere  Kern  und  das  äussere, 
diesen  umschliesseude  Protoplasma.  Diese  beiden  Fuudamental-Organe 
der  Zelle  sind  aber  selbst  wieder  aus  Theilchen  zusammengesetzt,  und 
diese  letzteren  könnten  wir  als  die  wirklichen  elementaren  Individuen 
der  Pflanze  bezeichnen.  Suchen  wir  diese  näher  zu  bestimmen,  so 
können  wir  sie  in  Nichts  Anderem  finden,  als  in   den  physikalischen 

')  In  der  seltsamsten  Form  ist  eine  ähnliche  Idee  von  dem  kürzlich  ver- 
storbenen Anatomen  Mayer  in  Bonn  ausgesprochen  worden,  welcher  in  seinen 
„Supplementen  zur  Lehre  vom  Kreislauf'  (1837,  p.  49)  die  kleinsten  Körnchen 
des  Zellinhalts  (auf  Grund  ihrer  Molecularbewegung)  für  thierisch-belebte  Indivi- 
duen (Biosphaeren)  erklärt,  welche  die  Pflanze  als  ihre  Wohnung  aufbauen. 
„Den  Hamadryaden  gleich  bewohnen  diese  sinnigen  Monaden  die  geheimen 
Hallen  der  itindenpaläste,  welche  wir  Pflanzen  nennen,  und  feiern  hijgrTia  ÄtMl&is. 
Zucht  ihre  Tänze  und  ihre  Orgien.'"  /  0«i        e  i    *  <  Jt\ 


250  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

Molekülen ,  welche  die  Materie  des  Kerns  und  des  Protoplasma  zu- 
sammensetzen. Diese  Moleküle  selbst  aber  sind  wieder  aus  den 
chemischen  Atomen  zusammengesetzt.  Somit  wären  wir  denn  wieder 
bei  unserem  Ausgangspunkt  angelangt,  nämlich  der  Identität  von  Atom 
und  Individuum.  Freilich  ist  hiermit,  wie  schon  Alexander  Braun 
ausgeführt  hat,  Nichts  gewonnen.  Denn  wir  besitzen  nicht  die  Mittel, 
die  supponirteu  Moleküle  und  Atome  durch  die  Beobachtung  nachzu- 
weisen. Allerdings  müssen  wir,  wenn  wir  theoretisch  dem  Wesen  des 
Zellenlebens  auf  den  Grund  kommen  wollen,  annehmen,  dass  die 
Thätigkeit  der  Atome  und  der  durch  ihre  verschiedenartige  Gruppirnng 
gebildeten  Moleküle  es  ist,  aus  welcher  Form  und  Function  der  Zelle 
resultirt.  Aber  für  die  uns  vorliegende  Frage  ist  durch  die  Aner- 
kennung der  unsichtbaren  Atome  als  Individuen  Nichts  erreicht.  Noch 
weniger  wird  aber  dadurch  gewonnen,  dass  man  die  ganz  verschieden- 
artigen festen  Körper,  welche  als  sogenannter  Zelleninhalt  in  vielen 
Zellen  sich  finden,  die  Stärke-,  Chlorophyll-,  Fett-,  Pigment-Körner  etc. 
als  Individuen  betrachtet.  Diese  sind  jedenfalls  am  wenigsten  be- 
rechtigt, eine  besondere  Individualität  in  Anspruch  zu  nehmen.  Auch 
sind  sie  unter  sich  so  verschieden,  dass  kein  anderer  gemeinsamer 
Ausdruck  für  sie  zu  finden  ist,  als:  „Geformte  Inhaltstheile  des  Proto- 
plasma." In  sehr  vielen  Zellen  fehlen  sie  als  besondere,  erkennbare 
Theile  völlig. 

Werfen  wir  nun  auf  die  verschiedenen  Theile  der  Pflanze,  welche 
von  den  verschiedenen  Forschern  als  die  „eigentlichen"  oder  absoluten 
pflanzlichen  Individuen  proclamirt  worden  sind,  einen  vergleichenden 
Rückblick,  so  sehen  wir  bald,  dass  alle  diese  Theile  subordinirte 
Stufen  eines  gegliederten  Ganzen  sind,  dass  sie  verschiedenen  Kate- 
gorieen  oder  Ordnungen  angehören,  von  denen  jede  einzelne  eine 
Vielheit  von  der  darauf  folgenden  untergeordneten  Einheit  repräsentirt. 
Nicht  weniger  als  fünf  verschiedene  Ordnungen  oder  über  einander 
geordnete  Kategorieen  von  pflanzlichen  Individuen  lassen  sich 
gemäss  den  vorstehend  augeführten  verschiedenen  Ansichten  bei  den 
höheren  Pflanzen  deutlich  unterscheiden,  nämlich:  1)  der  Stock  (Cor- 
mus),  2)  der  Spross  (Gemma),  3)  das  Stengelglied  (Phyton),  4)  das 
Blatt  (ein  Organ),  5)  die  Zelle.  Jede  dieser  Individualitäten  reprä- 
sentirt, für  sich  betrachtet,  sowohl  in  Form  als  in  Function  eine  selbst- 
ständige Einheit;  jede  ist  aber  zugleich  eine  Vielheit  von  der  nächst 
niederen  Kategorie  und  als  solche  kein  Individuum  mehr.  Es  folgt 
hieraus  also,  dass  wir  das  Suchen  nach  einem  absoluten  Individuum 
aufgeben  und  uns  damit  begnügen  müssen,  die  relative  Individualität 
der  über  einander  geordneten  Pflanzeutheile  festzustellen.  Diese  Wahr- 
heit ist  denn  auch  schon  lange  von  hervorragenden  Botanikern  aner- 


HI.    Verschiedeue  Auffassungen  des  pflanzlichen  Individuums.  251 

kannt  und  darauf  die  Lehre  von  der  relativen  Individualität  der 
Pflanze  begründet  worden. 

Dieser  Auffassung  gemäss,  nach  welcher  verschiedene  Potenzen 
der  individuellen  Entwickelung,  verschiedene  Grade  oder  Kategorieen 
(Ordnungen)  von  Individuen  an  der  Pflanze  unterschieden  werden 
müssen,  nimmt  Decandolle  deren  fünf  verschiedene  an,  nämlich: 
1)  die  Zelle,  2)  die  Knospe,  3)  der  Ableger  (nicht  von  der  Knospe 
wesentlich  verschieden,  sondern  ebenfalls  ein  Spross),  4)  der  Stock, 
5)  der  Embryo  (Alles,  was  aus  einem  einzigen  Keim,  wenn  auch 
zahlreich  durch  Theilung  vervielfältigt,  hervorgeht).  Schieiden  unter- 
scheidet drei  verschiedene  Ordnungen  von  Individuen:  l)  die  Zelle 
oder  das  Elementarorgan,  2)  die  Einzelpflanze  oder  Knospe  (Planta 
simplex),  3)  der  Stock  oder  die  zusammengesetzte  Pflanze  (Planta  com- 
posita).  Weiter  geht  die  Auffassung  von  Is'ägeli,  welcher  noch  meh- 
rere andere  Individualitäts- Kategorieen  des  Pflanzenreichs  in  seine 
Betrachtung  hineinzieht,  und  deien  sechs  unterscheidet,  nämlich: 
1)  die  Moleküle  der  organischen  vegetabilischen  Substanz,  2)  die 
Zelle,  3)  das  Organ,  4)  die  Knospe  (das  Individuum  im  engeren 
Sinne),  5)  die  Art,  (j)  das  Pflanzenreich. 

Wir  glauben,  dass  allein  diese  Theorie  von  der  relativen 
Individualität  im  Stande  ist,  uns  die  Tectologie  der  Pflanzen  zu 
erklären  und  uns  zu  einer  scharfen  Begriffsbestimmung  des  pflanz- 
lichen Individuums  zu  verhelfen.  Wrir  müssen,  wie  es  von  Decan- 
dolle, Schieiden,  Naegeli  und  Anderen  schon  als  nothwendig 
anerkannt  ist,  verschiedene  subordiuirte  Kategorieen  von  pflanzlichen 
Individuen  unterscheiden,  von  denen  jede  höhere  als  Einheit  einen 
Complex  von  mehreren  Einzelwesen  niederer  Stufe,  jede  niedere  als 
Einheit  einen  Bestandteil  eines  Einzelwesens  höherer  Stufe  repräsen- 
tirt.  Den  oben  bereits  unterschiedenen  fünf  Stufen  oder  Ordnungen 
fügen  wir  nuch  eine  sechste,  bisher  meist  ganz  vernachlässigte  bei, 
das  Gegenstück  oder  Antimer.  Wir  unterscheiden  also  an  den  höhe- 
ren, entwickelteren  Pflanzen,  von  den  niederen  zu  den  höheren  Stufen 
aufsteigend,  allgemein  folgende  sechs  Ordnungen:  1)  die  Zelle 
(Cellula),  2)  das  Organ  (Blattorgan  und  Axorgan),  3)  das  Gegen- 
stück oder  Antimer,  4)  das  Steugelglied  oder  Folgestück  (Metamer)^ 
ö)  den  Spross  (Gemma),  (i)  den  Stock  (Cormus). 

IV.  Verschiedene  Auffassungen  des  protistischen  Individuums. 

Der  wichtigste  und  am  meisten  ausgesprochene  morphologische 
Character  der  Protisten,  wodurch  sie  sich  vorzüglich  von  den  Thieren 
und  Pflanzen  unterscheiden,  besteht  in  der  höchst  unvollkommenen 
Ausbildung  ihrer  Individualität  und  in  dem   vorherrschenden    Stehen- 


252  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

bleiben  auf  den  niedersten  Stufen  derselben,  welche  von  den  Thieren 
und  Pflanzen  in  ihren  ersten  Entwicke'ungs-Stadien  rasch  durchlaufen 
werden.  Bei  sehr  zahlreichen  Protisten  giebt  die  Unvollkommenheit 
ihrer  morphologischen  Ausbildung,  der  Mangel  einer  eigentlichen 
organologischen  Differenzirung  und  die  trotzdem  ausgebildete,  wenn 
auch  lockere  Verbindung  einfachster  Individuen  zu  scheinbaren  Colo- 
nieen  Anlass  zu  vielfachen  Zweifeln  über  den  eigentlichen  morpholo- 
gischen Werth  ihrer  Individualität.  Daher  sind  denn  auch  in  dem 
letzten  Decenninm,  welches  unsere  Kenntniss  der  Protisten  so  ausser- 
ordentlich erweitert  hat,  vielfach  verschiedene  Ansichten  über  die 
eigentliche  Individualität  bei  verschiedenen  Protisten -Gruppen  oder 
Stämmen  laut  geworden. 

Keinem  Zweifel  ist  der  Begriff  der  protistischen  Individualität  da 
unterworfen,  wo  dieselbe  zeitlebens  auf  der  niedrigsten  Stufe  einer 
einzelnen  Plastide  bestehen  bleibt,  sei  dieselbe  nun  eine  kernlose  Cv- 
tode,  wie  bei  den  Moneren  und  vielen  Rhizopoden  etc.,  oder  eine 
kernhaltige  Zelle,  wie  bei  den  meisten  Protoplasten  und  den  einzeln 
lebenden  i  solitären)  Flagellaten  und  Diatomeen.  Hier  fällt  jedes 
Einzelwesen  unter  den  Begriff  eines  physiologisch  sowohl  als  morpho- 
logisch vollkommen  abgeschlossenen  Individuums.  Erhebliche  Zweifel 
und  entschiedene  Widersprüche  über  die  Begrenzung  der  Individualität 
sind  dagegen  bei  denjenigen  Protisten  laut  geworden,  deren  Einzel- 
wesen eine  Vielheit  von  lockerer  oder  enger  verbundenen  Piastiden 
repräscntiren.  Insbesondere  sind  es  hier  die  Stämme  der  Rhizopoden 
und  Spongien,  bei  denen  die  Individualität  von  den  verschiedenen 
Beobachtern  sehr  verschieden  beurtheilt  worden  ist. 

Unter  den  Rhizopoden  sind  die  Acyttarien,  insbesondere  die 
Polythalamien,  am  längsten  Gegenstand  der  Untersuchung  gewesen. 
Die  älteren  Beobachter  sowohl,  welche  dieselben  für  Cephalopoden 
hielten,  als  die  meisten  Neueren,  welche  Duj.ardins  richtige  Auf- 
fassung ihrer  Organisation  theilten,  namentlich  auch  Max  Schul tze, 
hielten  die  einzelnen  vielkammerigen,  oft  denen  der  Cephalopoden  so 
ähnlichen  Schalen  der  Polythalamien  für  Individuen.  Ehrenberg 
dagegen  erklärte  sie  für  Colonieen,  die  den  Bryozoen- Stöcken  ganz 
nahe  verwandt  seien ;  und  unter  den  Neueren  hat  der  treffliche  Mono- 
graph  der  Acyttarien,  Carpenter,1)  dieselben  ebenfalls  für  Thier- 
stöcke  erklärt.  Jede  einzelne  Kammer  der  Schale  mit  ihrem  Sarcode- 
Inhalt  ist  nach  ihm  ein  Individuum,  die  ganze  vielkammerige  Schale 
aber  eine  Colonie.  Diese  letztere  Auffassung  ist  nun  allerdings  dann 
richtig,  wenn  man  darunter  nur  Plastidcn -Stöcke  versteht,  nicht  aber, 
wie  Carpenter  und  Ehrenberg,  Colonieen,  welche  den  ausgebilde- 

')  Carpenter,  Introducliou  tu  the  study  uf  tue  Foraminifera.    London  1862. 


IV.    Verschiedene  Auffassungen  des  protistischen  Individuunis.         253 

ten  Thierstöcken  anderer  Stämme  (z.  B.  Anthozoen)  analog  sind. 
Derartige  echte  Colonieen  (Cormen)  finden  sich  vor  bei  der  höher 
entwickelten  Rhizopoden- Klasse  der  Radiolarieu,  welche  theils  aus 
solitären,  einzeln  lebenden,  theils  aus  socialen,  gesellig  verbundeneu 
Individuen  besteht.  Wie  wir  in  unserer  Monographie  der  Radiolarien  l) 
gezeigt  haben,  sind  die  einzelnen  „Centralkapseln"  oder  „Nester"  der 
letzteren  (der  Collozoen,  Sphaerozoen  und  Collosphaeren)  vom  mor- 
phologischen Standpunkte  aus  mehr  als  Individuen  einer  socialen 
Colonie  von  Polyzoen,  vom  physiologischen  Standpunkte  aus  dagegen 
mehr  als  Organe  eines  solitären  Individuums,  eines  Polycyttariums 
aufzufassen  (1.  c.  p.  122).  Da  nun  diese  einzelnen  Centralkapseln 
(nebst  zugehöriger  Schale)  die  vollständigen  morphologischen  Aequi- 
valente  der  vielkamnierigen  Polythalamien  sind,  da  z.  B.  die  Tremato- 
disciden  den  Soritiden,  die  Stichocyriden  den  Nodosariden  unter  den 
Polythalamien  vollständig  entsprechen,  so  können  die  letzteren  keine 
wirklichen  Colonieen  sein,  wie  wir  schon  in  der  dort  angehängten 
Kritik  der  Carpenterschen  Anschauung  gezeigt  haben  (1.  c.  p.  568). 
Sehr  merkwürdig  und  instructiv  für  die  wichtige  Frage  von  der 
organischen  Individualität  sind  die  Spongien,  bei  denen  dieselbe  in 
sehr  verschiedenem  Grade  entwickelt  erscheint.  Während  die  älteren 
Beobachter  jeden  zusammenhängenden,  einfachen  oder  verästelten 
Schwammstock  für  ein  Individuum  hielten,  waren  diejenigen,  welche 
bei  den  Pflanzen  den  Spross  für  das  eigentliche  Individuum  ansahen, 
mehr  geneigt,  dieselbe  Auffassung  auch  auf  die  verästelten  Spongien 
anzuwenden  und  jeden  Zweig,  jede  Seitenaxe  für  ein  Individuum  zu 
halten.  Als  man  aber  in  neuerer  Zeit  die  amoeboiden  Urzellen  kennen 
lernte,  welche  das  ganze  Skelet  der  Schwammstöcke  überziehen  und 
ihre  Maschen  ausfüllen,  glaubte  man  in  diesen  Amoeboiden  die  eigent- 
lichen Individuen  finden,  und  demgemäss  die  ganzen  Schwämme  für 
Colonieen  von  Rhizopoden  halten  zu  müssen.  Gegenüber  dieser  be- 
sonders von  Perty  vertretenen  Ansicht  hielten  die  meisten  Neueren, 
besonders  Duj ardin,  und  derjenige  Anatom,  dem  wir  die  trefflichsten 
Untersuchungen  über  die  Entwickelung  derPoriferen  zu  verdanken  haben, 
Lieb  erkühn,  die  Auffassung  fest,  dass  der  ganze  (gleichviel  ob  einfache 
oder  verästelte)  Schwammstock  ein  einziges  Individuum  repräsentire.2) 
Eine  vierte,  und  wohl  die  richtigste  Ansicht  von  der  unvollständig 
entwickelten  Individualität  der  Schwämme,  ist  endlich  von  dem  neuesten 
Monographen  der  Poriferen,  Oscar  Schmidt,3)  ausgesprochen  worden, 

')  E.  Haeckel,  die  Organisation  der  Radiolarien-Colonieen  (Polyzoen  oder 
Polycyttarien?)  1.  c.  p    116—127. 

2)  Lieberkühn  in  Müller' s  Archiv  für  Anatomie  und  Phys.  1856  p.  512. 

3)  Oscar  Schmidt,  Supplement  zu  den  Spongien  des  adriatischen  Meeres, 
1864,  p.  17. 


254  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectolode 


o 


welcher  die  gesammten  Spongien  in  einfache  (solitäre)  und  in  zu- 
sammengesetzte (sociale)  eintheilt.  Die  Genera  Sycon,  Ute,  Dunster- 
villia,  Tethya,  Caminus  etc.,  kurz  alle  ..diejenigen  Schwämme,  welche 
regelmässig  nur  eine  Ausströmungs-Oeffnung  besitzen,  sind  Einzel- 
Individuen.  Die  Concentrirung  der  Lebenserscheinungen  dieser  Spon- 
gien spricht  sich  darin  aus,  dass  das  Wassergefässsystem,  diese  fin- 
den Spongientypus  jedenfalls  fundamental  wichtige  Einrichtung,  ein 
einheitliches  ist."  Clathria,  Haüchondria,  Spongilla  dagegen,  welche 
gleich  den  meisten  anderen  Schwämmen  mehrere  oder  viele  Aus- 
strömungs-Oeffnungen  haben,  sind  Colonieen.  „Jeder  Theil  des  Stockes, 
an  welchem  sich  ein  einzelnes  Osculum  öffnet,  vereinigt  die  Bedin- 
gungen und  die  Kennzeichen  der  Individualität  in  sich."  Die  einzelnen 
Bezirke  der  Individuen  sind  aber  in  keiner  Weise  scharf  von  einander  ab- 
zugrenzen. Bios  die  Centra  derselben,  die  Oscula,  treten  deutlich  hervor. 

Bei  vielen  Protisten,  wie  auch  bei  niederen  Pflanzen  (Algen), 
wird  die  Individualitäts-Frage  noch  dadurch  in  eigenthümlicher  Weise 
complicirt,  dass  häufig  sogenannte  Copulation  oder  Conjugation  statt- 
findet, so  namentlich  bei  den  Protoplasten  (Gregarinen,  Amoeben  etc.), 
bei  vielen  Flagellaten,  einzelnen  Rhizopoden  (Actinosphaeriden  etc.), 
und  bei  den  Myxomyceten ;  unter  den  Algen  bei  den  Conjugaten  (Des- 
midiaceen  und  Zygnemen)  etc.  Es  verschmelzen  hier  zwei  oder 
mehrere  bisher  selbstständige  Individuen  mit  einander  vollständig  (Co- 
pulation) oder  theilweise  (Conjugation),  so  dass  sie  nur  noch  ein  ein- 
ziges Individuum  darstellen. 

Die  Stockbildungen  oder  Gesellschaften,  welche  unter  den  meisten 
Protisten -Stämmen  so  verbreitet  sind,  können  wir  nur  zum  Theil  für 
echte  Stöcke  oder  Cormen,  analog  denjenigen  der  Thiere  und  Pflanzen, 
halten,  nämlich  dann,  wenn  die  Individuen,  welche  sie  zusammen- 
setzen, selbst  schon  differenzirte  Organismen  sind,  wie  bei  den  Poly- 
cyttarien  und  bei  den  Spongien  mit  mehrfachen  Osculis.  Dagegen 
können  wir  den  sogenannten  Stöcken  oder  Colonieen  vieler  Diatomeen 
und  Flagellaten  (Volvocinen)  blos  den  Werth  von  Piastidenstöcken, 
nicht  von  Cormen  zugestehen,  da  sie  blos  locker  verbundene  und  nicht 
differenzirte  Aggregate  von  einfachsten  Individuen  niederster  Ordnung 
(Piastiden)  darstellen.  Die  verschiedenen  Individualitätsstufen,  welche 
wir  bei  den  meisten  Pflanzen  als  Organe,  als  Antimeren  und  Meta- 
meren,  unterscheiden,  sind  bei  den  Protisten  nur  selten  entwickelt 
und  daher  auch  die  höhere  Individualität  des  Ganzen  nur  sehr  unvoll- 
ständig ausgebildet.  Bei  den  allermeisten  Protisten  repräsentiren  die 
Einzelwesen  zeitlebens  als  Cytoden  oder  als  Zellen  nur  Individualitäten 
niederster  Stufe,  und  die  lockeren  Associationen,  welche  dieselben  in 
vielen  Fällen  bilden,  verdienen  oft  nicht  den  Namen  von  eigentlichen 
Personen  und  von  echten  Stöcken. 


V.    Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums.  255 

V.   Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums. 

Bei  weitem  weniger  Schwierigkeiten,  als  den  Botanikern,  hat  den 
Zoologen  die  Feststellung  der  Individualität  verursacht.  Diese  gingen 
allgemein  aus  von  der  Betrachtung  der  höheren  Thiere,  bei  welchen 
durch  den  Eiuschluss  aller  Organe  in  das  Innere  eines  räumlich  scharf 
begrenzten  Körpers  und  durch  die  ausgeprägte  Einheit  dieses  selbst- 
ständigen Körpers  in  morphologischer  und  physiologischer  Beziehung 
der  individuelle  Character  sehr  deutlieh  ausgesprochen  ist.  Daher 
hielt  man  in  der  Zoologie  gewöhnlich  eine  besondere  Diskussion  über 
diesen  Gegenstand  für  überflüssig.  Erst  als  man  in  der  neueren  Zeit 
den  niederen  Thieren  und  thierähnlichen  Protisten  ein  genaueres  Studium 
zu  widmen  begann,  musste  sich  denkenden  Beobachtern  bald  die 
Thatsache  aufdrängen,  dass  hier,  je  weiter  wir  hinabsteigen,  die  Selbst- 
ständigkeit und  scharfe  Umgränzung  derjenigen  Einheit,  die  bei  den 
höheren  Thieren  als  vollkommen  abgeschlossene  Persönlichkeit  uns 
entgegentritt,  sich  immer  mehr  verliert.  In  der  That  sind  hier,  na- 
mentlich unter  den  Würmern  und  Coelenteraten,  die  Schwierigkeiten 
der  Frage,  was  man  denn  eigentlich  als  Individuum  im  engeren  Sinne 
(der  menschlichen  Person,  dem  pflanzlichen  Spross  entsprechend)  auf- 
zufassen habe,  mindestens  ebenso  gross,  und  oft  noch  grösser,  als 
es  bei  den  Pflanzen  gewöhnlich  der  Fall  ist. 

Ein  weiterer  Umstand,  der  das  Verständnis»  der  thierischen  In- 
dividualität bedeutend  beeinträchtigte,  lag  darin,  dass  man  hier  von 
Anfang  an  entweder  ausschliesslich  oder  doch  vorwiegend  die  physio- 
logische Seite  der  Frage  berücksichtigte  und  die  morphologische  ganz 
oder  fast  ganz  vernachlässigte,  während  die  Botaniker  beide  Seiten 
gemischt  ins  Auge  gefasst  hatten.  Dieser  Umstand  erklärt  sich  ganz 
natürlich  aus  der  mehr  äusserlichen  Gliederung  der  Pflanzenform  und 
den  weit  brauchbareren  Angriffspunkten ,  welche  die  morphologische 
Untersuchung  der  Pflanze  gegenüber  der  viel  schwierigeren  physio- 
logischen darbot.  Auch  kommt  dabei  wesentlich  der  Umstand  mit  in 
Betracht,  dass  die  Centralisation  bei  dem  thierischen  Individuum  weit 
grösser,  als  bei  dem  pflanzlichen  ist,  und  dass  insbesondere  die  durch 
das  Nervensystem  vermittelten  innigen  Beziehungen  der  einzelnen 
thierischen  Körpertheile  zu  einander,  welche  sich  bei  den  höheren 
Thieren  namentlich  in  der  einheitlichen  „Seele"  aussprechen,  bei  den 
Pflanzen  viel  weniger  oder  fast  gar  nicht  entwickelt  sind. 

Eine  eingehende  Besprechung  der  thierischen  Individualität  von 
physiologischem  Gesichtspunkte  aus  findet  sich  in  Johannes  Müllers 
Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen.  Im  ersten  Bande,  und 
zwar  in  dem  zweiten  Capitel  der  Prolegomena,  welches  „Vom  Organis- 
mus und  vom  Leben"  handelt,  wird  die  Bildung   der  Individuen  als 


256  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 


* 


eine  besonders  eharacteristische  Eigenthümlichkeit  der  organischen 
Materie,  gegenüber  der  anorganischen,  bezeichnet.  Der  Organismus 
ist  ein  untheilbares  Ganzes,  weil  er  aus  integrirenden  ungleichartigen 
Theilen  nach  einem  zweckmässigen  Plane  zusammengesetzt  ist.  Diese 
„praestabilirte  Harmonie  der  Organisation"  unterscheidet  die  letztere 
wesentlich  von  der  Krystallisation  der  Auorgane,  welche  bloss  „Aus- 
druck der  waltenden  Kräfte  ist."  Im  Kry stalle,  dem  anorganischen 
Individuum,  ist  Nichts  von  der  „Zweckmässigkeit  der  Gestaltung  für 
die  Thätigkeit  des  Ganzen"  zu  finden,  welche  den  Organismus  aus- 
zeichnet. Im  zweiten  Bande  seines  Handbuchs  geht  Johannes 
Müller  ausführlicher  auf  diese  Fragen  ein,  im  ersten  Abschnitte  des 
siebenten  Buches,  welches  „von  der  gleichartigen  Fortpflanzung  oder 
ungeschlechtlichen  Zeugung"  handelt.  Hier  wird  als  eharacteristische 
Eigenthümlichkeit  aller  organischen  Wesen,  der  Thiere,  wie  der  Pflan- 
zen, die  ,.Multiplication  durch  das  Wachsthum"  bezeichnet.  Die  in 
jedem  organischen  Keime  enthaltene  Kraft  der  Entwickelung  zu  einem 
Individuum  wird  durch  das  Wachsthum  desselben  multiplicirt,  und 
derselbe  organische  Körper,  welcher  anfangs  ein  einziges  Individuum 
war,  repräsentirt  späterhin  eine  Vielheit  von  solchen.  „Die  ent- 
wickelte Pflanze  ist  ein  Multiplum  der  primitiven  Pflanze,  ein  System 
von  Individuen,  die  sich  bis  auf  die  Blätter  reduciren  lassen."  Das- 
selbe Verhältniss  findet  sich  bei  den  Thieren  wieder,  bald  ganz  so 
offenbar,  wie  in  den  Pflanzen  (so  bei  den  Hydren  und  anderen  Poly- 
pen), bald  versteckter,  so  jedoch,  dass  es  „sich  durch  eine  Kette  von 
Schlüssen  an  den  Tag  ziehen  lässt. "  Die  Gestaltungsfähigkeit  ein- 
zelner Theile  des  Individuums  zu  neuen  Individuen  ist  bei  den  ver- 
schiedenen Thieren  sehr  verschieden  gross,  am  ausgedehntesten  bei 
den  niedrigsten,  die  den  Pflanzen  am  nächsten  stehen,  und  nimmt 
nach  oben  hin,  bei  den  höheren,  stufenweis  ab ;  bei  den  meisten  höhe- 
ren ist  sie  bloss  auf  die  Eier  beschränkt.  In  dieser  ganzen  Exposi- 
tion, welche,  abgesehen  von  dem  grösstentheils  teleologisch  -  dualisti- 
schen Standpunkte,  viele  treffliche  Bemerkungen  enthält,  wird  von 
Johannes  Müller  last  bloss  die  physiologische  und  insbesondere 
die  psychologische  Individualität  berücksichtigt,  und  als  Kri- 
terium des  Individuums  einerseits  die  Reproductionsfähigkeit  des  Thei- 
les  zum  Ganzen,  andererseits  die  Einheit  seiner  psychischen  Lei- 
stungen, wie  sie  sich  namentlich  im  einheitlichen  Willen  äussert,  hin- 
gestellt. 

Den  sehr  wichtigen  Unterschied  der  physiologischen  und  morpho- 
logischen Individualität  des  Thieres  zu  erörtern,  fand  sich  erst  Ge- 
legenheit, als  man  diejenigen  Gruppen  niederer  Thiere  näher  kennen 
lernte,  bei  denen  man  im  Zweifel  sein  kann,  ob  man  sie  als  einzelue 
Individuen  oder  als  Gesellschaften  von  solchen,   gleich  den  Pflanzen- 


V.    Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums.  257 

stocken,  auffassen  soll.  Das  ist  der  Fall  insbesondere  bei  den  Cesto- 
den  unter  den  Würmern,  und  bei  den  Siphonophoren  unter  den  Coe- 
lenteraten,  Tbiercolonieen,  welebe  man  früberbin  allgemein  für  ein- 
zelne Individuen  bielt,  während  man  die  individuellen  Bestandtbeile  der 
Colonie  als  Organe  ansah.  Für  die  Siphonophoren  wurde  insbeson- 
dere durch  Leuckart  in  seiner  Abhandlung  „über  den  Polymorphis- 
mus der  Individuen  oder  die  Erscheinung  der  Arbeitsteilung  in  der 
Natur"  (1351)  der  Beweis  geführt,  dass  ihre  schwimmenden,  von  einem 
einheitlichen  Willen  beseelten  und  mit  den  verschiedenartigsten  An- 
hängen besetzten  Körper  keine  Einzelthiere,  sondern  Stöcke  seien; 
Colonieen  von  polymorphen  Individuen,  welche  durch  hoch  entwickelte 
Arbeitsteilung  in  ihrer  äusseren  Form-Erscheinung  weit  aus  einander 
gegangen  seien.  Während  sich  einerseits  durch  Vergleichung  mit  den 
einfachen  polypoiden  (hydroiden)  und  medusoiden  Grundformen  der 
Hydromedusen-Klasse  leicht  der  Nachweis  führen  lässt,  dass  alle  die 
verschiedenartigen  Anhänge  des  Siphonophoren-Stockes,  die  Schwimm- 
glocken, Saugröhren,  Tastkolben,  Fangfäden  u.  s.  w.  den  ersteren 
homolog,  ihre  morphologischen  Aequivalente  sind,  wird  doch  anderer- 
seits die  Selbstständigkeit  dieser  Individuen  durch  ibre  weit  gehende 
Differenzirung  so  sehr  vernichtet,  dass  die  physiologische  Einheit  des 
Organismus  nur  durch  den  ganzen  Stock  repräsentirt  wird  und  dieser 
als  das  höhere  Individuum  erscheint. 

In  dieser  vortrefflichen  Abhandlung  Leuckart s  war  bereits  der 
doppelte  Hinweis  darauf  gegeben,  erstens,  dass  man  auch  beim  Thiere 
wie  bei  der  Pflanze,  wenn  man  die  Individualität  bestimmen  wolle, 
Individuen  verschiedener  Ordnung:  Stöcke,  Individuen  im 
engeren  Sinne,  Organe  u.  s.  w.  unterscheiden  müsse,  und  zweitens 
dass  man  wohl  zwischen  morphologischer  und  physiologischer 
Individualität  zu  unterscheiden  habe.  Leider  wurden  diese  leiten- 
den Gesichtspunkte  gänzlich  vernachlässigt  in  derjenigen  umfangreichen 
Abhandlung,  welche  die  Frage  von  der  thierischen  Individualität  wohl 
am  ausführlichsten,  aber  auch  am  verkehrtesten  und  verworrensten  be- 
handelt hat,  in  Reich erts  Schrift  „über  die  monogene  Fortpflanzung" 
(1852).  Es  würde  uns  zu  viel  Zeit  und  Raum  kosten,  aus  dieser 
breiten,  seltsamen  Schrift  hier  auch  nur  einen  oberflächlichen  Auszug  zu 
geben,  da  allein  schon  die  Uebertragung  der  eigenthümlichen  Ansich- 
ten des  Verfassers  aus  ihrem  dunkeln  mysteriös-philosophischen  Ge- 
wände in  klares,  verständliches  Deutsch  und  eine  fassliche  Explication 
der  darin  versteckten  Gedanken  einen  allzugrossen  Raum  fortnehmen 
würde.  Auch  sind  die  allgemeinen  Anschauungen,  aus  welchen 
Reichert  seine  Deductionen  ableitet;  so  oberflächlich  und  beschränkt, 
so  unklar  und  verworren,  dass  es  nicht  der  Mühe  lohnt,  sie  ernstlich 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  17 


258  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. . 

zu  widerlegen. ')  Der  maassgebende  eigenthümliche  Standpunkt  des 
Verfassers  in  der  Individuen -Frage  ist  grösstentlieils  ein  physiologi- 
scher und  lässt  sich  kurz  dahin  resuniiren,  dass  er  alle  beliebigen  Ge- 
webstheile  von  Thieren  und  Pflanzen  für  Individuen  erklärt,  aus 
denen  unter  Umständen  Knospen  sich  entwickeln  können,  und  Alles 
für  ..Individuenstöcke"  ausgiebt,  was  derartige  Theile  enthält.  Aber 
auch  jeder  Körpertheil  eines  individuellen  Organismus,  der  im  Laufe 
der  Entwicklung  nicht  durch  Differenzirung  einer  primitiven  Anlage 
entsteht,  sondern  durch  Hervorwachsen  über  die  äussere  Oberfläche, 
Wird  für  eine  Knospe,  ein  Individuum  erklärt,  und  der  Körper  aus 
dem  er  hervorwächst,  deingemäss  für  einen  „Individuen-Stock".  Jedes 
derartige  Hervorwachsen  ist  ein  ungeschlechtlicher  Zeugungsprocess. 
In  welche  Verwirrung  und  Widersprüche  diese  ganz  willkührliche  Art 
der  Naturbetrachtung  führt,  mögen  einige  wenige  Beispiele  zeigen. 
Da  bei  der  Hydra  bekanntlich  die  Fähigkeit  fast  aller  Körpertheile, 
sich  abgelöst  vom  Thiere  sofort  wieder  zum  Individuum  zu  gestalten, 
sehr  gross  ist,  so  werden  „die  Arme,  die  Darmhöhle,  der  Stiel  der 
einfachen  Hydra  für  untergeordnete  Individuen- Stöcke  eines  Haupt- 
stockes" erklärt,  Aber  auch  die  verwandten  marinen  Hydroidpolypen 
werden  wegen  dieser  ausserordentlichen  Ileproductionsfähigkeit  der 
ihnen  nahestehenden  Hydra  für  complicirte  Individuen-Stöcke  ausge- 
geben, und  zwar  nicht  nur  die  ausgebildeten  Eiuzelthiere,  sondern  so- 
gar ihre  infusorienarligen  Embryonen!  Dasselbe  wird  dann  weiter 
von  den  einzelnen  Medusen  behauptet!  „Die  Medusa  aurita  ist  ein 
zusammengesetzter  und  complicirter  Individuen-Stock,  dessen  einzelne 
Theile  strahlenförmig  um  die  centrale  Darmhöhle  gruppirt  sind.  Was 
man  daher  als  Organe  der  Medusa  aurita  betrachtet,  sind  nicht  die 
Organe  eines  einlachen  Individuums;  es  sind  vielmehr  Organe  eines 
Haupt -Individuen -Stockes,  die  selbst  wieder  Individuen- Stöcke  dar- 
stellen und  sich  sogar  in  Haupt-  und  untergeordnete  Theile  würden 
eintheilcn  lassen."  Dieselbe  Behauptung  wird  dann  auch  von  den 
Würmern,  sowohl  Turbellarien  als  Anneliden  aufgestellt,  ferner  sogar 


')  Wenn  Jemand  dieses  Urtlxeil  zu  hart  finden  sollte,  so  ersuchen  wir  ihn 
sieh  mit  Aufopferung  einer  beträchtlichen  Quantität  von  Zeit,  Geduld  und  Mühe 
durch  die  ganze,  150  Quartseiten  breite  Schrift  hindurchzuarbeiten.  Wenn  es 
gelungen  ist,  aus  der  dunklen  und  verworrenen  Sprache  Reicherts  mit  einiger 
Sicherheit  zu  erräthen,  was  er  eigentlich  hat  sagen  wollen,  und  wenn  man  dann 
den  ganzen  Gedankengang  verfolgt,  so  wird  mau  über  die  absurden  und  anbe- 
gründeten Willkührlichkeiten,  an  denen  die  ganze  Schrift  reich  ist,  erstaunen. 
Man  findet  schliesslich,  dass  in  dem  anscheinend  streng-philosophischen  Gewände 
nur  ein  ganz  hohler  und  unbrauchbarer,  von  echter  Philosophie  weit  entfernter 
Inhalt  verborgen  liegt. 


V.    Verschiedene  Auffassungen  des  thierisclien  Individuums.  259 

von  den  einfachen  Individuen  der  Tunicaten  und  von  den  Echinodermen. 
Von  den  letzteren  sollen  nicht  allein  die  fünfstrahügen  Individuen,  son- 
dern sogar   die  einzelnen  Strahlen    derselben   complicirte  Individuen- 
stöcke sein,  durch  ungeschlechtliche  Knospenzeugung  entstanden.     Man 
würde  vielleicht  hinter  diesem  dunkeln  Gewirre  von  ineinander  laufen- 
den und  vielfach  widersprechenden  Behauptungen  dennoch  den  richtigen 
tectologischen    Grundgedanken   entdecken  können,    dass  alle  höheren 
Organismen  verwickelte  Aggregate  von  differenzirten  Individuen  ver- 
schiedener Ordnung  seien,  wenn  nicht  andererseits  ein  wesentlicher  Un- 
terschied zwischen  „Individuen"  und  „Organen"  gemacht  würde.     Wäh- 
rend aber  bei  den  Wirbellosen  die  ganze  Zusammensetzung  des  Kör- 
pers auf  durch  Knospung  entstandene  Individuenstöcke  zurückgeführt 
wird,  ist  bei  den  Wirbelthieren  davon  nicht  mehr  die  Hede.     Reich erts 
Anschauungen  würden  sich  noch  einigermaassen  rechtfertigen  lassen, 
wenn  er  wenigstens  so  viel  Consequenz  besessen  hätte,  den  Menschen 
und  die  übrigen  Wirbelthiere ,   so  gut  als  die  Wirbellosen,   für  com- 
plicirte Individuenstöcke  zu  erklären.     Nach  seiner  Autfassung  müsste 
schon  der  Rumpf  des  Wirbelthieres   immer   ein  Individuenstock  sein 
weil  die  einzelnen  Abschnitte  der  Wirbelsäule  durch  ungeschlechtliche 
Zeugung   oder  Knospenbildung    entstehen.      Hier    wird   aber  der  In- 
dividuenstock  plötzlich   „Organstock"   genannt,    während  die  Wirbel- 
losen  in   den   Augen   Reicherts   keine  „Organstöcke"    zu   besitzen 
scheinen.     Weiter  müsste  dann,   wenn   derselbe   seine  Anschauungen 
consequent  durchgeführt  hätte,  das  Wirbelthier  auch  desshalb  ein  compli- 
cirter  Individuenstock  sein,  weil  vier  untergeordnete  Individuenstöcke, 
die  Extremitäten,  an  ihm  hervorsprossen,  und  an  jeder  dieser  letzteren 
müssten   dann  die  fünf  Zehen   als   die  „eigentlichen"  Individuen  be- 
trachtet werden.     Mit  welcher  Inconsequenz   und  Willkühr  Reichert 
weiter  verfährt,   zeigt  schon  der  Umstand,   dass   er  die  Fortpflanzung 
durch  Theilung  gänzlich  leugnet.     „Hauptsächlich  ist  es   die  künst- 
liche oder  natürliche  Ablösung  von  Individuen  oder  Individuen-Stöcken 
eines   meist    durch  Knospenbildung    per    intussusceptionem  gebildeten 
Hauptstockes  gewesen,    die    zu   der  Theorie   von  der  Zeugung  durch 
Theilung  Veranlassung  gegeben  hat."     Mit   diesem  Schlussworte   der 
seltsamen  Schrift  schliessen  wir  unser  Urtheil  über  dieselbe.      Einige 
ihrer  hervorragendsten  Behauptungen  sind  schon  von  Victor  Carus  in 
seiner  Morphologie  widerlegt;  die  übrigen  widerlegen  sich  für  den  un- 
befangenen Leser  selbst. 

Von  weiteren  Ansichten  über  die  Bedeutung  der  thierischen  In- 
dividualität haben  wir  nun  nur  noch  zwei  sehr  verschiedene  Auffassungen 
von  V.  Carus  undvonHuxley  zu  erwähnen.  Victor  Carus  widmet 
den  „thierischen  Individuen  und  ihren  verschiedenen  Formen"  ein  be- 
sonderes Capitel,  das  sechste  des  zweiten  Buches,  in  seinem  „System 

17* 


260  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

der  thierischen  Morphologie. "  Hier  findet  sich  zum  ersten  Male  mit 
voller  Bestimmtheit  die  wesentlich  morphologische  Bedeutung  der  gan- 
zen Frage  betont,  und  deutlich  die  Ansicht  ausgesprochen,  „dass  man 
unter  dem  Begriffe  der  thierischen  Individuen  nur  materiell  abge- 
schlossene morphologische  Facta  subsurairen  darf,"  dass  man 
also  wohl  von  verschiedenen  Formen  der  Individuen  sprechen,  aber 
nicht  einzelne  Formzustände  eines  Körpers  als  eben  so  viele  Einzelin- 
dividuen  unter  einem  die  ganze  Formenreihe  begreifenden  Gesammt- 
individuum  begreifen  darf,  wie  es  Reichert  that.  Bestimmt  man  die 
Individualität  eines  Thieres,  so  ist  dasselbe  im  Momente  der  Beurthei- 
lung  als  unveränderlich  zu  betrachten."  Mit  diesen  Worten  ist  der 
allein  durchführbare  Standpunkt  zur  Beurtheilung  der  thierischen  Indivi- 
dualität im  engeren  Sinne  des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  voll- 
kommen richtig  bezeichnet  und  der  morphologische  Character  der  In- 
dividualitäts-Anschauung gewahrt.  Doch  ist  dieser  richtige  Gedanke 
in  seinen  Consequenzen  nicht  weiter  ausgeführt,  und  auch  die  Defini- 
tion, die  Carus  von  dem  Individuum  (im  engeren  Sinne!)  giebt, l)  will 
uns  nicht  erschöpfend  erscheinen. 

Als  verschiedene  Formen  der  thierischen  Individualität 
unterscheidet  Carus  1.  Vollständige  Individuen,  welche  die  drei 
Functionsgruppen  (Erhaltung  seiner  selbst,  Erhaltung  der  Art,  Bezie- 
hung zur  Aussenwelt)  in  sich  vereinen  und  höchstens  die  Spaltung 
des  Geschlechtsunterschiedes  in  zweierlei  verschiedenen  Geschlechts- 
Individuen  zeigen.  2.  Polymorphe  selbstständige  Individuen,  wie  die 
verschiedenen  theils  geschlechtlich  entwickelten,  theils  nicht  geschlecht- 
lich entwickelten  Individuen  der  Insecten- Staaten,  welche  ohne  ma- 
teriellen Zusammenhang  in  Gesellschaften  beisammen  leben,  als  Sol- 
daten, Arbeiter,  Geschlechtsthiere  u.  s.  w.  differenzirt.  3.  Polymorphe 
Individuen,  gleich  den  vorigen,  theils  geschlechtlich  entwickelt,  theils 
nicht,  sämmtlich  aber  materiell  verbunden  durch  den  Zusammenhang 
ihres  verlängerten  Nahrungscanais,  (z.  B.  in  den  Hydroidencolonieen). 
4.  Polymorphe  Individuen,  gleich  den  vorigen  an  einem  Stock  zusam- 
men vereinigt,  aber  mit  so  weit  entwickelter  Arbeitstheilung,  dass 
nicht  nur  die  Function  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung,  sondern 
auch  die  vegetativen  und  animalen  Functionsgruppen  auf  verschie- 
dene Individuen  übertragen  sind  (Siphonophoren). 


')  „Unter  Individuen  verstehen  wir  die  sich  in  ihrer  entwickelten  Form  an 
den  ihrer  Gattung  gehörigen  morphologischen  Typus  eng  anschliessenden  ma- 
teriellen Einzelgrundlagen  des  Thierlebens,  welche  die  drei  Functionsgruppen 
des  thierischen  Lebens  entweder  einzeln  vollständig  erfüllen ,  oder  welche  sich, 
und  zwar  desto  mehr  je  inniger  ihre  Verbindung  zu  einem  Thierstocke  ist,  in 
die  Uebernahme  einzelner  Verrichtungen  theilen."  V.  Carus,  System  der  thieri- 
schen Morphologie.     1853.     p.  254. 


V.    Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums.  261 

Eine  eigenthümliche,  genetische  und  von  der  vorhergehenden  sehr 
abweichende  Auffassung  der  Frage  von  der  thierischen  Individualität, 
und  die  letzte,  welche  wir  hier  zu  erwähnen  haben,  rührt  von  einem 
der  hervorragendsten  englischen  Naturforscher,  Th.  Huxley,  her.1)  Der- 
selbe unterscheidet  zunächst  allgemein  drei  verschiedene  Arten  (kinds)  der 
Individualität  überhaupt:  1.  Das  subjective  oder  arbiträre  Individuum, 
lediglich  die  einheitliche  Anschauung  eines  einzelnen  Dinges  von  einer 
gegebenen  Art  bezeichnend,  z.  B.  eine  Landschaft,  ein  Jahrhundert. 
2.  Das  Individuum  als  Einheit  von  Theilen,  die  durch  ein  Coexistenz- 
Gesetz  verbunden  sind,  z.  B.  ein  Krystall.  3.  Das  Individuum  als 
eine  Einheit  von  Zuständen,  welche  durch  ein  Successions-Gesetz  ver- 
bunden sind,  also  ein  Cyclus  (z.  B.  eine  Pendelschwingung).  Jeder 
Organismus  ist  ein  solches  Individuum  der  letzteren  Art,  also  eine 
Einheit  von  verschiedenen,  auf  einander  folgenden  Zuständen,  von  der 
Entstehung  des  Eies  an  bis  zum  Tode,  so  also  der  Mensch  in  seiner 
Entwickelungsreihe  als  Ei,  Embryo,  Kind,  Mann  und  Greis.  Allge- 
mein bezeichnet  ist  also  das  thierische  Individuum  die  Summe  der 
Erscheinungen,  welche  durch  ein  Einzelleben  nach  einander  repräsen- 
tirt  werden,  oder  mit  andern  Worten,  die  Summe  aller  einzelnen  For- 
men, die  aus  einem  einzigen  Ei  hervorgehen. 

Die  sehr   verschiedene  Art  und  Weise,  in  der  nach  dieser  Auf- 
fassung das  Individuum  in  verschiedenen  Abtheilungeu  des  Thierreiches 
repräsentirt  wird,  stellt  Huxley  in  folgender  Uebersicht  zusammen: 
I.  Darstellung  des  Individuum s  durch  su ccessiveinseparable  Formen. 

A.  Formen  wenig  verschieden.     Einfaches  Wachsthum  (z.  B.  Ascaris). 

B.  Formen  deutlich  verschieden.     Metamorphose  (z.  B.  Triton). 

II.  Darstellung  des  Individuums  durch  successive  separable 

Formen. 

1)  Frühere  Formen  nicht  unabhängig  von  den  späteren. 

A.  Formen  wenig  verschieden.  Wachsthum  mitEcdysis  oder  Häutung  (z.B.Blatta). 

B.  Formen  deutlich  verschieden.     Wachsthum  mit  Metamorphose  (z.  B.  Käfer). 

2)  Frühere  Formen  theilweis  unabhängig  vou  den  späteren  (z.  B.  Seesterne). 
III.  Darstellung  des  Individuums  durch  successive  und  coexistente 

separable  Formen. 

a.  Aeussere  Knospung.  ]  b.  Innere  Knospung. 

A.  Formen  wenig  verschieden.     Alle  Formen  produciren  Eier. 

Hydra.       Nais.  j   Gyrodactylus. 

B.  Formen  deutlich  verschieden.      Bloss  die  letzten  Formen   produciren  Eier. 
Die  letzten  Formen  nicht  örtlich  (General)  erzeugt. 

Medusa     j     Distoma 
Die  letzten  Formen  örtlich   (Local)  erzeugt. 

Salpa     |     Aphis. 

*)  Th.  Huxley,  Upon  animal  individuality.  Proceed.  of  the  royal  institution. 
Nov.  ser.    Vol.  I,  1855.  p.  184  ff. 


262  Betriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

Das  Individuum  in  Huxleys  Sinne  repräsentirt,  wie  man  sieht, 
keine  anatomische,  sondern  eine  genealogische  Einheit.  Die  Ein- 
heit der  Entwickelung,  oder  die  Einheit  der  Abstammung  von 
einem  und  demselben  Keime,  und  zwar  von  einem  geschlechtlichen 
Keime  (Ei) ,  ist  ihm  das  Kriterium  der  Individualität,  und  mithin  die 
geschlechtliche  Zeugung  die  Grenzmarke  der  gleichen  Individuen.  Da 
nun  hiernach  nur  der  geschlechtlich  erzeugte  Keim  das  Individuum 
repräsentirt,  und  alle  durch  ungeschlechtliche  Zeugung,  sei  es  Knospen- 
bildung oder  Theilung,  entstandenen  Formen  lediglich  Theilstücke  jenes 
ersten  sind,  so  kommen  wir  mit  Huxley  consequenter  Weise  zu  dem 
Schlüsse,  dass  nicht  nur  alle  in  einander  geschachtelten  Generationen 
von  Gyrodactylus,  nicht  nur  alle  durch  Theilung  oder  Knospimg  aus 
einer  einzigen  geschlechtlich  erzeugten  Hydra  oder  Nais  erzeugten 
Formen,  sondern  auch  alle  Hydroidpolypen  und  deren  Stöcke,  welche 
aus  einem  einzigen  Medusen -Ei  hervorgehen,  ferner  alle  Salpen,  die 
in  einer  einzigen  Salpenkette  vereinigt  sind,  ja  sogar  säumitliche 
Blattläuse,  welche  von  der  ersten  geschlechtlich  erzeugten  Amme 
durch  ungeschlechtliche  Zeugung  in  mehreren  (9 — 1 1  und  mehr)  Gene- 
rationen im  Laufe  eines  Sommers  hervorgebracht  sind  (möglicherweise 
viele  Millionen  Blattläuse),  alle  zusammen  nur  ein  einziges  Individuum 
darstellen,  dass  sie  alle  zusammen  nur  eine  Repräsentation  des  Indivi- 
duums durch  successive  und  coexistirende  separable  Formen  sind. 

Dieselbe  genealogische  Auflassung,  welche  Huxley  hier  von  den 
thierischen  Individuen  darlegt,  war  schon  vor  längerer  Zeit  von 
Gallesio  in  seiner  „Teoria  della  riproduzione  vegetale"  (1816)  hin- 
sichtlich der  Pflanzen  aufgestellt  worden.  Auch  Gallesio  betrachtet 
sämmtliche  durch  ungeschlechtliche  Zeugung  (Knospung  oder  Theilung) 
entstandene  Individuen,  also  alle  Sprosse  und  Ableger  der  Pflanze 
(Knospen,  Knollen,  Zweige  etc.)  nur  als  Theilstücke  eines  einzigen 
Individuums,  welches  aus  dem  Ei  (dem  Samenkorn)  hervorgegangen 
ist.  Durch  alle  verschiedenen  Formen  der  ungeschlechtlichen  Zeugung 
soll  das  Individuum  bloss  fortgesetzt,  kein  neues  Individuum  erzeugt 
werden. 

So  leicht  es  auch  erscheinen  muss,  nach  dieser  Autfassung  die 
Grenze  der  organischen  Individualität  zu  bestimmen,  so  wenig  geeignet 
erscheint  dieselbe  dennoch,  eine  allgemein  befriedigende  Vorstellung 
von  deij enigen  anschaulich  leicht  aufzufassenden  Einheit  zu  geben, 
welche  man  allgemein  als  „Individuum  im  engeren  Sinne"  oder  als 
„absolutes  Individuum"  bezeichnet.  Bei  den  höheren  Thieren  aller- 
dings fällt  der  Begriff'  der  Individualität  stets  zusammen  mit  dem 
Kriterium  der  geschlechtlichen  Zeugung,  der  Entwickelung  aus  einein 
befruchteten  Ei.  Bei  den  niederen  Thieren  dagegen  und  bei  den  aller- 
meisten Pflanzen,   wo  geschlechtliche  Generationen  vielfach  mit  unge- 


V.    Verschiedene  Auffassungen  des  thierischen  Individuums.  263 

schlechtlichen  wechseln,  kommen  wir  durch  consequente  Anwendung 
dieses  Kriteriums  alsbald  in  grosse  Verlegenheiten.  In  vielen  Fällen 
können  wir  die  geschlechtlich  erzeugten  Individuen  absolut  nicht  von 
den  ungeschlechtlich  erzeugten  unterscheiden,  und  jene  führen  eine 
eben  so  selbstständige  Existenz,  als  diese.  In  manchen  Fällen  wissen 
wir  positiv,  dass  zahllose  vollkommen  selbstständige  Individuen  oder 
Individuenstöcke,  z.  B.  alle  Trauerweiden  Europas,  alle  Blutbuchen, 
alle  Rosskastanien  mit  gefüllter  Blüthe,  durch  fortgesetzte  ungeschlecht- 
liche Zeugung,  Fortpflanzung  durch  Ableger,  Knospen  etc.  aus  einem 
einzigen  Individuum  hervorgegangen  sind.  Sollen  wir  desshalb  alle 
diese  einzelnen,  über  einen  ganzen  Erdtheil  zerstreuten  Bäume  für 
Theilstücke  eines  einzigen  Individuums  halten?  Sollen  wir  alle  die 
Millionen  von  Blattläusen,  die  von  einer  einzigen  geschlechtlich  er- 
zeugten Blattlaus  durch  fortgesetzte  innere  Knospung  entstanden  sind, 
und  die  alle  dieser  letzteren,  bis  auf  den  Mangel  gewisser  Geschlechts- 
teile, vollkommen  gleichen,  für  abgelöste  Stücke  derselben  erklären? 
Es  widerspricht  dies  zu  sehr  der  natürlichen  Forderung  der  räumlichen 
Einheit,  welche  wir  notlnvendig  von  dem  Individuum,  mögen  wir 
dasselbe  nun  mehr  vom  physiologischen  oder  mehr  vom  morpholo- 
gischen Standpunkt  aus  betrachten,  verlangen  müssen.  Auch  kommen 
wir  dadurch  in  grosse  Verlegenheit  bezüglich  derjenigen  niederen 
Organismen,  bei  denen  eine  geschlechtliche  Fortpflanzung  überhaupt 
noch  nicht  nachgewiesen  ist,  wie  z.  B.  bei  zahlreichen  Organismen  des 
Protistenreichs,  bei  den  Moneren,  Protoplasten,  Khizopoden,  Noctiluken, 
Diatomeen  etc.  Da  diese  niedrig  stehenden  Organismen  sich,  wenig- 
stens zum  grossen  Theil,  ausschliesslich  auf  ungeschlechtlichem  Wege 
fortpflanzen,  so  würde  das  genealogische  Individuum,  wie  es  Gallesio 
für  die  Pflanze,  Huxley  für  das  Thier  bestimmt  hat,  sich  hier  über- 
haupt nicht  erkennen  lassen.  Es  bliebe  nichts  übrig,  als  die  ganze 
Art,  welche  sich  zahllose  Generationen  hindurch  immer  in  derselben 
Weise  auf  ungeschlechtlichem  Wege  fortpflanzt,  oder  vielmehr,  da  die 
Art  veränderlich  ist,  den  Stamm,  welcher  sich  aus  allen  verwandten 
Arten  zusammensetzt,  als  Individuum  zu  bezeichnen.  Allerdings  kön- 
nen wir  auch  diese  Individualität  als  solche  gelten  lassen;  ein  solcher 
Entwickelungs-Cyclus  ist  auch  eine  organische  Einheit;  allein  er  ent- 
spricht nicht  dem  Begriffe  des  individuellen  Organismus,  wie  ihn  die 
Tectologie  als  Theil  der  Anatomie  zu  bestimmen  hat.  Vielmehr  fällt 
diese  genealogische  Individualität,  als  eine  Entwickelungseinheit,  der 
Entwicklungsgeschichte  oder  Ontogenie  anheim  und  wir  werden  sie 
daher  im  fünften  und  sechsten  Buche  zu  erläutern  haben. 

Blicken  wir  nochmals  vergleichend  zurück  auf  die  angeführten 
verschiedenen  Versuche,  welche  zur  Bestimmung  der  thierischen  Indi- 
vidualität  gemacht   worden    sind,    so    finden   wir   deren    Begriff  weit 


264  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

weniger  entwickelt  und  scharf  bestimmt,  als  es  bei  der  pflanzlichen 
Individualität  der  Fall  ist.  Insbesondere  sind  die  verschiedenen  Ord- 
nungen von  Individualitäten,  welche  die  Botaniker  (Decandolle, 
Schieiden,  Nägeli)  in  verschiedener  Weise  mehr  oder  minder  scharf 
als  Kategorieen  verschiedenen  Grades  zu  bestimmen  versucht  haben,  von 
den  Zoologen  bisher  nicht  erkannt  oder  doch  nicht  irgend  präcis  als 
solche  bezeichnet  worden,  obwohl  der  Organismus  der  höheren  Thiere, 
ganz  ebenso  wie  der  der  höheren  Pflanzen,  sich  aus  subordinirten 
Individualitäten  verschiedener  Ordnung  zusammensetzt.  Allerdings 
ist  in  neuerer  Zeit  mehr  und  mehr  auch  in  der  thierischen  Biologie 
die  Zelle  als  Elementar-Organismus  und  als  Individualität  erster  Ord- 
nung anerkannt  worden,  und  der  ganze  Organismus  als  eine  organi- 
sirte  Gesellschaft,  als  ein  Staat  von  Zellen.  Insbesondere  hat  das 
sorgfältige  histologische  Studium  des  menschlichen  Körpers  mehr  und 
mehr  die  Ansicht  befestigt,  dass  die  Zellen  als  die  letzten  selbststän- 
digen „Lebensheerde"  den  ganzen  Organismus  constituiren,  und  dass 
die  Lebensthätigkeit  des  letzteren  nichts  Anderes  ist,  als  die  Summe 
der  Lebensthätigkeiten  der  einzelnen  Zellen.  Namentlich  haben  Brücke 
u.  A.  die  normalen,  Virchow  die  pathologischen  Functionen  des 
menschlichen  Organismus  in  dieser  Weise  als  das  Kesultat  der  ge- 
sammten  Functionen  der  einzelnen  Zellen  oder  „Elementar-Organismen" 
nachzuweisen  versucht.  Da  jedoch  im  thierischen  Organismus  die  ein- 
zelnen Zellen  weniger  selbstständig  sind  als  im  pflanzlichen,  da  ihre 
Wechselbeziehungen  unter  einander  und  zum  Ganzen  innigere  sind, 
so  ist  diese  richtige  Auffassung  nicht  in  der  Weise  wie  bei  den  Pflan- 
zen, zu  allgemeiner  Geltung  gelangt.  Ebenso  hat  man  die  Individua- 
litäten höherer  Ordnung,  welche  bei  den  Pflanzen  theilweis  schon  er- 
kannt worden  waren,  beim  Thiere  fast  nirgends  berücksichtigt.  Eine 
Ausnahme  machen  hier  nur  die  Individuen  höchster  Ordnung,  die 
Stöcke  (insbesondere  die  Colonieen  der  Würmer  und  Coelenteraten), 
deren  pflanzenstockäknliche  Zusammensetzung  zu  einer  analogen  Be- 
trachtung auffordert.  Hier  war  es  denn  auch,  wo  der  Unterschied 
zwischen  physiologischer  und  morphologischer  Individualität  mit  Recht 
besonders  hervorgehoben  und  von  den  Zoologen  (besonders  Leuckart 
und  V.  Carus)  schärfer  betont  wurde,  als  es  bei  den  Pflanzen  ge- 
schehen war. 

Nach  unserer  Ansicht  findet  die  Theorie  von  der  relativen  Indivi- 
dualität ebenso  in  der  Tectologie  der  Thiere,  wie  der  Pflanzen,  allge- 
meine Anwendung,  und  wir  können  auch  bei  den  Thieren  allgemein 
mehrere  über  einander  geordnete  Kategorieen  von  Individuen  unter- 
scheiden, von  denen  jede  höhere  zwar  eine  geschlossene  Einheit,  aber 
dennoch  zugleich  eine  Vielheit  von  subordinirten  Individuen  niederer 
Stufe  darstellt.   Wir  werden  im  Folgenden  den  Beweis  zu  führen  ver- 


V.    Verschiedene  Auffassaugen  des  thierischeu  Individuums.  265 

suchen,  dass  diese  verschiedenen  Stufenfolgen  bei  den  Thieren  durch- 
aus analoge,  wie  bei  den  Pflanzen  sind,  und  dass  wir  demgeniäss 
auch  hier  folgende  sechs  Ordnungen  zu  unterscheiden  haben:  1)  die 
Zelle  (Cellula),  2)  das  Organ  (Rumpf-Organe  und  Extremitäten-Organe), 
3)  das  Gegenstück  oder  Antimer,  4)  das  Rumpfglied  (Segment)  oder 
Folgestück  (Metamer),  ö)  die  Person  (dem  pflanzlichen  Spross  ent- 
sprechend), 6)  den  Stock  (Cormus). 

VI.  Morphologische  und  physiologische  Individualität 

Die  vorhergehenden  Betrachtungen  über  die  verschiedenartige 
Entwickelung  des  Individualitäts-Begriffes  bei  den  Botanikern  und  bei 
den  Zoologen  haben  uns  zu  dem  Resultate  geführt,  dass  die  ersteren 
in  ihrer  anatomischen  Analyse  des  pflanzlichen  Organismus  sorgfältiger 
die  Individualitäten  verschiedener  Ordnung  unterschieden,  die  letzteren 
dagegen  bei  ihrer  biologischen  Betrachtung  des  thierischen  Organismus 
klarer  die  physiologische  und  morphologische  Individualität  aus^  ein- 
ander gehalten  haben.  Hieraus  ergeben  sich  uns  bereits  die  zwei  ver- 
schiedenen Gesichtspunkte,  von  denen  aus  wir  in  unserer  generellen 
Tectologie  die  Individualität  der  Organismen  überhaupt  werden  zu  be- 
trachten haben.  Wir  werden  erstens  genau  und  scharf  zu  unterscheiden 
haben  zwischen  der  morphologischen  und  der  physiologischen  Indivi- 
dualität des  Organismus  und  wir  werden  zweitens  sorgfältig  die  Indi- 
vidualitäten verschiedener  Kategorieen  zu  sondern  haben,  aus  denen 
sich  der  ganze  Organismus  zusammensetzt. 

Morphologisches  Individuum  oder  Form  -  Individuum  oder 
organische  Formeinheit  nennen  wir  allgemein  diejenige  einheitliche 
Formerscheinung,  welche  ein  in  sich  abgeschlossenes  und  formell  conti- 
nuirlich  zusammenhängendes  Ganzes  bildet;  ein  Ganzes,  von  dessen 
constituirenden  Bestandtheilen  man  keinen  hinwegnehmen,  und  das 
man  überhaupt  nicht  in  Theile  auseinander  legen  kann,  ohne  das 
Wesen,  den  Character  der  ganzen  Form  zu  vernichten.  Das  Form- 
individuum ist  demnach  eine  einfache,  zusammenhängende  Rauingrösse, 
die  wir  im  Momente  der  Beurtheilung  als  eine  unveränderliche  Gestalt 
anzusehen  haben.1) 


J)  Passender  würde  man  die  morphologische  Individualität  des  Organismus 
als  das  anatomische  Individuum  zu  bezeichnen  haben,  da  ja  auch  das  vor- 
her besprochene  genealogische  Individuum  oder  die  Entwickelungseinheit,  welche 
wir  als  Keimproduct,  als  Art  und  als  Stamm  im  fünften  und  sechsten  Buche  zu 
betrachten  haben,  unter  den  Begriff  des  morphologischen  Individuums  fällt.  Da 
jedoch  bereits  die  Bezeichnung  des  anatomischen  Individuums  als  morphologi- 
schen (im  Gegensatz  zum  physiologischen)  eingebürgert  ist,  so  wollen  wir  die- 
selbe ein  für  allemal  beibehalten. 


266  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

Physiologisches  Individuum  oder  Leistung»- Individuum  oder 
Lebenseinheit  nennen  wir  diejenige  einheitliche  Fornierscheinuug, 
welche  vollkonnnen  selbstständig  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch 
eine  eigene  Existenz  zu  führen  vermag;  eine  Existenz,  welche  sich  in 
allen  Fällen  in  der  Bethätigung  der  allgemeinsten  organischen  Func- 
tion äussert,  in  der  Selbsterhaltung.  Das  Leistung»  -  Individuum  ist 
demnach  eine  einfache,  zusammenhängende  Kaumgrösse,  welche  wir 
als  solche  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  leben,  d.  h.  sich  er. 
nähren  sehen,  und  welche  wir  also  im  Momente  der  Beurtheilung  als 
veränderlich  ansehen.  Sehr  häutig  vermag  dieselbe  ausserdem  sich 
fortzupflanzen  und  auch  andere  Lebens-Functionen  zu  vollziehen.  Der 
Kürze  halber  wollen  wir  die  physiologischen  Individuen  ein  für  alle- 
mal mit  dem  Namen  der  Bionten  oder  Onten  belegen.') 

Die  morphologische  Individualität  zerfällt  in  sechs  verschiedene, 
subordinirte  Kategorieen  oder  Ordnungen  von  Individuen,  und 
jede  dieser  Ordnungen  tritt  in  bestimmten  Organismen  als  physiolo- 
gische Individualität  auf.  Für  jede  Art  (Species)  ist  aber  eine  be- 
stimmte Ordnung  als  höchste  characteristisch  und  repräsentirt  hier 
ausnahmslos  die  eigentliche  physiologische  Individualität,  wenigstens 
zur  Zeit  der  vollkommenen  Keife  des  Organismus.  Die  sechs  Ord- 
nungen der  organischen  Individualität  sind  folgende: 

I.  Piastiden  (Cytodeu  und  Zellen)  oder  „Elementar-Organismen." 
II.  Organe    (Zellenstöcke    oder    Zellfusionen,     einfache    oder    homo- 
plastische Organe,  zusammengesetzte  oder  heteroplastische  Organe, 
Organ-Systeme,  Organ-Apparate). 

III.  Antimeren  (Gegenstücke  oder  homotype  Theile).  „Strahlen1'  der 
Strahlthiere,  „Hälften"  der  euclipleuren  (bilateral  -  symmetrischen) 
Thiere  etc. 

IV.  Metaineren  (Folgestücke  oder  hoinodyname  Theile).  „Stengel- 
glieder"  der  Phanerogainen,  „Segmente",  Ringe  oder  Zoniteu  der 
Gliederthiere  und  Wirbelthiere  etc. 

V.   Personen  (Prosopen).     Sprosse    oder  Gemmae   der  Pflanzen  und 
Coelenteraten  etc.     „Individuen"  im  engsten  Sinne  bei  den  höheren 
Thieren. 
VI.   Cormeu    (Stöcke    oder  Colouieen).    Bäume,    Sträucher  etc.    (Zu- 
sammengesetzte Pflanzen).     Salpenketten,  Polypenstöcke  etc. 

Jedes  dieser  sechs  morphologischen  Individuen  verschiedener  Ord- 
nung vermag  als  selbstständige  Lebenseinheit  aufzutreten  und  das 
physiologische  Individuum  zu  repräsentiren.  Auf  der  niedersten  Stufe 
der  Piastiden  bleiben  sehr  viele  Organismen  zeitlebens  stehen,  z.  B. 


')    fitov,  i6  {ßtovitt,  tu)  das   physiologische  Individuum  als  concrete  Lebeue- 
einheit,  als  eelbstständiges  „Lebewesen.'- 


VI.    Morphologische  und  physiologische  Individualität.  267 

die  meisten  Protisten  und  viele  Algen.  Die  zweite  Kategorie  des 
Form -Individuums,  das  Organ,  erscheint  als  selbstständige  Lebens- 
einheit bei  vielen  Protisten,  Algen  und  Coelenteraten.  Auf  der  dritten 
Stufe,  dem  An timeren -Zustande,  bleibt  die  Lebenseinheit  stehen  bei 
vielen  Protisten  und  einzelnen  niederen  Pflanzen  und  Thieren.  Die 
vierte  Ordnung,  das  Metamer,  erscheint  als  Lebenseinheit  bei  den 
meisten  Mollusken,  vielen  niederen  Würmern,  Algen  etc.  Die  fünfte 
Kategorie,  die  Person,  repräsentirt  das  physiologische  Individuum  bei 
den  meisten  höheren  Thieren,  aber  nur  bei  wenigen  Pflanzen.  End- 
lich die  sechste  Ordnung  der  morphologischen  Individuen,  der  Stock, 
bildet  die  physiologische  Individualität  bei  den  meisten  Pflanzen  und 
Coelenteraten. 

Sehr  wichtig  ist  nun  die  Erwägung,  dass  alle  Organismen  ohne 
Ausnahme,  welche  als  ausgebildete,  reife  Lebenseinheiten  durch  mor- 
phologische Individuen  höherer  Ordnung  repräsentirt  werden,  ursprüng- 
lich nur  der  niedersten  Ordnung  angehören  und  sich  *  zu  den  höheren 
Stufen  nur  dadurch  erheben  können,  dass  sie  die  niederen  alle  oder 
grösstentheils  durchlaufen.  Der  Mensch  z.  B.  und  ebenso  jedes  andere 
Wirbelthier,  ist  als  Ei  ursprünglich  ein  Form -Individuum  erster  Ord- 
nung. Es  erreicht  die  zweite  Stufe,  indem  aus  der  Eifurchung  ein 
Zellenhaufen  hervorgeht,  der  den  morphologischen  Werth  eines  Organs 
besitzt.  Mit  der  Ausbildung  der  Embryonalanlage  und  mit  dem  Auf- 
treten des  Primitivstreifes  (der  Axenplatte)  scheidet  es  sich  in  zwei 
Individuen  dritter  Ordnung  oder  Antimeren.  Mit  dem  Hervorknospen 
der  Urwirbel  beginnt  die  Gliederung  des  Rumpfes,  der  Zerfall  in  Me- 
tameren,  und  mit  deren  Differenzirung  ist  die  Ausbildung  der  Person, 
des  Form -Individuums  fünfter  Ordnung,  vollendet,  welches  nun  als 
physiologisches  Individuum  persistirt.  Ebenso  durchläuft  jede  ge- 
schlechtlich erzeugte  phanerogame  Pflanze,  indem  sie  aus  der  einfachen 
Zelle  (dem  Keimbläschen,  dem  eigentlichen  Ei)  zum  Zellenhaufen 
(Organ)  wird,  der  sich  mit  dein  Auftreten  einer  Axe  in  zwei  oder 
mehr  Antimeren  differenzirt,  die  drei  ersten  Stufen  der  Form -Indivi- 
dualität. Auf  der  vierten  Stufe  des  Metamers  bleibt  sie  bis  zum  Be- 
ginne der  Gliederung  der  Axe.  Aus  den  diiferenzirten  Stengelgliedern 
setzt  sich  der  Spross  zusammen,  der  nun  aus  der  fünften  zur  sechsten 
Stufe,  dem  Stocke,  sich  durch  Bildung  seitlicher  Sprosse  erhebt. 

Hieraus  geht  deutlich  hervor,  dass  der  eigentliche  morphologische 
Werth  der  physiologischen  Individualität  für  jede  Organismen- Art  nur 
nach  erlangter  vollständiger  Keife,  wenn  sie  „ausgewachsen"  ist,  be- 
stimmt werden  kann.  Man  darf  daher  auch  niemals  als  Kriterium  der 
physiologischen  Individualität,  wie  es  vielfach  geschehen  ist,  die  Ent- 
wickelungsfähigkeit  zu  einer  selbstständigen  Lebenseinheit  be- 
trachten.    Diese   haftet    ursprünglich    stets   an   den   Form -Individuen 


268  Begriff  und  Aufgabe  der  Tectologie. 

erster  Ordnung,  den  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen),  und  erst  durch 
die  Differenzirung  der  Zellen,  welche  bei  den  höheren  Organismen 
(besonders  den  Thieren)  sehr  weit  geht,  verlieren  dieselben  jene 
Fähigkeit,  oder  vielmehr  es  bleibt  dieselbe  auf  einzelne  bestimmte 
Piastiden  (Eier)  beschränkt.  Ausnahmsweise  (Hydra,  viele  Phanero- 
gamen)  behalten  auch  noch  bei  höher  differenzirten  Organismen  zahl- 
reiche Piastiden  diese  Entwickelungsfähigkeit  bei.  Ebenso  wenig  als 
letztere  darf  man  die  Reproductionsfähigkeit,  das  Vermögen 
eines  abgelösten  Theils,  sich  zum  Ganzen  zu  ergänzen  (Würmer,  Coe- 
lenteratcn,  viele  Phanerogamen),  als  Kriterium  der  physiologischen 
Individualität  anwenden,  da  auch  hier  das  eigentlich  Wirksame  die 
ursprünglich  allen  Piastiden  eigene  Entwickelungsfähigkeit  ist.  Will  man 
die  physiologische  Individualität  der  Organismen  dadurch  characteri- 
siren,  so  geht  die  Schärfe  ihres  Begriffes  vollständig  verloren.  Diese 
ist  nur  dadurch  zu  erhalten,  dass  wir  die  Fähigkeit  der  Selbst- 
erhaltung als  das  entscheidende  Kriterium  hinstellen,  sowie  es  für 
die  morphologische  Individualität  in  der  Unfähigkeit  der  Theilung 
in  der  individuellen  Untheilbarkeit  liegt.  Das  Leistungs-Individuum 
ist  der  einheitliche  Lebensheerd,  dessen  Existenz  mit  der  Function  der 
Selbsterhaltung  erlischt;  das  Form -Individuum  ist  die  einheitliche 
Lebensgestalt,  deren  Existenz  mit  ihrer  Theilung  erlischt. 

Die  vielfach  aufgeworfene  Frage  nach  der  absoluten  Individualität 
der  Organismen  ist  also  dahin  zu  beantworten,  dass  dieselbe  nicht 
existirt,  und  dass  alle  Organismen,  als  physiologische  Individuen  be- 
trachtet, entweder  zeitlebens  auf  der  ersten  Stufe  der  morphologischen 
Individualität,  der  Plastide,  stehen  bleiben,  oder  aber,  von  dieser  aus- 
gehend, sich  seeundär  zu  höheren  Stufen  erheben. 

Indem  wir  nun  in  den  folgenden  Capiteln  das  Verhältniss  der 
verschiedenen  Individualitäts- Grade  zu  einander,  welches  die  eigent- 
liche Grundlage  der  gesammten  Tectologie  ist,  näher  zu  bestimmen 
versuchen,  wollen  wir  zunächst  die  Begriffe  der  sechs  einzelnen  Ord- 
nungen der  morphologischen  Individualität  bestimmt  feststellen,  und 
dann  nachweisen,  wie  jede  dieser  verschiedenen  Ordnungen  in  ver- 
schiedenen Organismen  die  physiologische  Individualität  zu  repräsen- 
tiren  vermag. 


I.     Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:   Plastideu.  269 


LI  Bp 


* 


v: 


Neuntes  Capitel. 

Morphologische  Individualität  der  Organismen. 


„Die  Pflanze  erscheint  fast  nur  -einen  Augen- 
blick als  Individuum,  und  zwar  da,  wenn  sie 
sich  als  Samenkorn  von  der  Mutterpflanze  los- 
löst. In  dem  Verfolg  des  Keimens  erscheint  sie 
schon  als  ein  Vielfaches,  an  welchem  nicht  allein 
ein  identischer  Theil  aus  identischen  Theilen 
entspringt,  sondern  auch  diese  Theile  durch  Suc- 
ecssion  verschieden  ausgebildet  werden,  so  dass 
ein  mannichfaltiges,  scheinbar  verbundenes  Ganzes 
zuletzt  vor  unseren  Augen  dasteht.  Allein  dass 
dieses  scheinbare  Ganze  aus  sehr  unabhängigen 
Theilen  bestehe,  giebt  theils  der  Augenschein, 
theils  die  Erfahrung:  denn  Pflanzen,  in  viele 
Theile  getrennt  und  zerrissen,  werden  wieder  als 
eben  so  viele  scheinbare  Ganze  aus  der  Erde 
hervorsprossen." 

Goethe. 


I.   Morphologische  Individuen  erster  Ordnung: 

Piastiden  oder  Plasmastücke. 
I.    1.   Unterscheidung  von  Cytodeu  und  Zellen. 

Als  morphologische  Individuen  erster  und  niedrigster  Ordnung 
würden  wir,  der  gegenwärtig  herrschenden  Auffassung  gemäss,  nur 
eine  einzige  Art  von  Körpern,  die  Zellen  (Cellulae)  aufzuführen 
haben.  Nach  derjenigen  Auffassung  des  thierischen  und  pflanzlichen 
Organismus,  welche  der  unsrigen  am  nächsten  steht,  ist  derselbe  ent- 
weder eine  einzige  einfache  Zelle  oder  ein  einheitliches  Aggregat  von 
mehreren,  entweder  gleichartigen  oder  differenzirten  Zellen.  Die  Zelle 
ist  hiernach  das  allgemeine  Form-Element  oder  das  Elementar -Organ 
aller  Organismen  und  wird  als  solches  jetzt  häufig  als  Elementar- 


270  Morphologische  Individualität  der  Orgauismen. 

Organismus  bezeichnet.  Die  Zellen  sind  entweder  selbst  die  ganzen 
Organismen  (Eier  der  Pflanzen  und  Thiere,  einzellige  Pflanzen  etc.), 
oder  sie  sind  die  Individuen,  durch  deren  Verbindung  der  ganze  Or- 
ganismus, als  Zellen-Gesellschaft  oder  Zellen-Staat,  sich  constituirt. 

Es  ist  diese  Auflassung,  welche  von  Schieiden  und  Schwann 
in  die  Wissenschaft  eingeführt  wurde,  und  welche  man  nach  ihnen  all- 
gemein als  „Zellentheorie*'  bezeichnet,  gegenwärtig  in  der  gesammten 
Biologie  die  herrschende  Theorie.  So  richtig  dieselbe  ohne  Zweifel  im 
Grossen  und  Ganzen  ist,  und  so  sehr  wir  sie  für  die  grosse  Mehrzahl 
aller  Organismen  als  die  allein  berechtigte  anerkennen  müssen,  so  ist 
es  dennoch  nicht  möglich,  sie  auf  alle  Organismen  ohne  Ausnahme 
auszudehnen.  Vielmehr  kennen  wir  viele  Organismen  niedersten 
Ranges,  z.  B.  Polythalamien  und  andere  Rhizopoden,  Protogeniden, 
etc.,  deren  ganzer  Körper  noch  nicht  einmal  den  Werth  einer  einzi- 
gen Zelle  besitzt,  und  einen  individuell  abgeschlossenen  Form-Zustand 
der  lebenden  Materie  repräsentirt,  den  wir  durch  den  Namen  der 
Cytode1)  oder  des  zellenähnlichen  Körpers  bezeichnen  wollen. 

Um  unsere  Unterscheidung    der  Elementar-Organismen    in  Zellen- 
und  Cytoclen  zu  begründen,    ist    es    nöthig,    auf  die   Geschichte  der 
Zellentheorie  einen  flüchtigen  Blick  zu  werfen. 

Sc  hl  ei  den,  dem  das  Verdienst  gebührt,   zuerst  auf  dem  Gebiete  der 
Pflanzenkunde    die    Zellentheorie    begründet    und    mit  scharfer  Consequenz 
durchgeführt  zu  haben,  definirt  die  Pflanzenzelle  (cellula),  als  „das  Elemen- 
tarorgan,  welches  vollständig  entwickelt   eine  aus  Zellstoff  gebildete  Wan- 
dung nnd   eine  halbflüssige    stickstoffhaltige  Auskleidung   besitzt,  und   das 
einzige   wesentliche  Formelement  aller  Pflanzen   bildet,    ohne   welches  eine 
Pflanze   nicht  besteht."      Schwann,    der   Schleidens    Zellentheorie    auf 
die  Zusammensetzung  des  thierischen  Körpers  anwandte,  und  nachwies,  dass 
der  thierische  Organismus  nicht  minder  als  der  pflanzliche  einzig  und  allein 
aus  Zellen  und  Zellenderivaten,    als  letzten  Elementartheilen,  zusammenge- 
setzt sei,   legte   ein  grösseres  Gewicht   auf  den  Zellenkern  (Nucleus)   und 
wies  nach,    dass  der  Kern  in    den  allermeisten    thierischen  Zellen,    und  zu 
irgend  einer  Zeit  ihres  Lebens   wahrscheinlich  in  allen  Zellen    aufzufinden 
sei.     Nach  Schleidens  Auflassung  ist  demnach   die  Zelle   aus   zwei  we- 
sentlichen Bestandtheilen  zusammengesetzt,  ein  Bläschen,  welches  in  einer 
testen,  ringsum  geschlossenen  Wandung  oder  Membran  einen  flüssigen  oder 
halbflüssigen   Inhalt  besitzt.     Nach  Schwann  dagegen  sind  zum  Begrifl'e 
der  Zelle  drei  wesentlich    verschiedene  Bestandteile   uothwendig,   Mem- 
bran, Inhalt  und  Kern.     Der  letzte  Bestandteil,  der  Kern,  wurde  bald 
so  allgemein  in  den  meisten  animalen  und  vegetabilen  Zellen,  wenigstens  in 
einer  gewissen  frühesten  Periode  ihrer  Existenz  nachgewiesen,  dass  die  Triui- 


')  xvi os,  io,  cellula,  Zelle;  xvTwörjs,  cellularis,  zelleuähulich. 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  271 

tätslehre  der  Zelle,  wie  sie  von  Schwann  aufgestellt  war,  allgemein 
herrschend  wurde. 

So  lange  man  sich  vorwiegend  mit  dem  Studium  der  Pflanzenzellen  be- 
schäftigte, die  meistens  schon  in  einer  sehr  frühen  Zeit  ihres  Lebens  und 
fast  allgemein  deutlich  eine  Membran  erkennen  lassen,  und  so  lange  man 
die  von  ihnen  gewonnene  Anschauung  auf  die  Betrachtung  der  thierischen 
Zellen  übertrug,  musste  die  Membran  der  Zelle  als  ein  eben  so  wichtiger 
Bestandtheil  derselben  wie  Kern  und  Inhalt  erscheinen  und  beinahe  zwanzig 
Jahre  hindurch  blieb  daher  die  Trinitätslehre  der  Zelle  fast  unangefochten. 
Erst  als  man  die  Zellen  des  thierischen  Organismus  allgemeiner  und  ein- 
gehender und  unabhängig  von  den  pflanzlichen  zu  betrachten  begann, 
brach  sich  die  Erkenntniss  Bahn,  dass  die  Membran  der  Zelle  in  sehr 
vielen  Fällen  vollkommen  fehlt  uud  dass  die  Zellen  dann  blos  aus  zwei 
wesentlichen  Bestandteilen  zusammengesetzt  sind,  aus  dem  Kern  und  der 
Zellsubstanz  oder  dem  Zellstoff.  Mit  dem  letzteren  Namen  müssen  wil- 
den sogenannten  „Zell- Inhalt"  bezeichnen,  wenn  eine  Membran  und  damit 
der  Gegensatz  von  Hülle  und  Inhalt  fehlt. 

Diese  sehr  wichtige  Reform  der  Zellenlehre  wurde  vouLeydig  herbei- 
geführt, welcher  in  seinem  „Lehrbuch  der  Histologie  des  Menschen  und 
der  Thiere"  (1857)  zuerst  mit  Bestimmtheit  aussprach,  dass  „nicht  alle 
Zellen  blasiger  Natur  sind;  nicht  immer  ist  eine  vom  Inhalt  ablösbare 
Membran  zu  unterscheiden."  Leydig  definirt  die  Zellen  „als  die  kleinsten 
organischen  Körper,  welche  eine  wirksame  Mitte  besitzen,  die  alle  Theile 
auf  sich  selber  und  ihr  Bedürfniss  bezieht.  —  Zum  morphologischen  Be- 
griff einer  Zelle  gehört  eine  mehr  oder  minder  weiche  Substanz,  ur- 
sprünglich der  Kugelgestalt  sich  nähernd,  die  einen  centralen  Körper  ein- 
schliesst,  welcher  Kern  (Nucleus)  heisst.  Die  Zellsubstanz  erhärtet  häufig 
zu  einer  mehr  oder  minder  selbstständigen  Grenzschicht  oder  Membran, 
und  alsdann  gliedert  sich  die  Zelle  nach  den  Bezeichnungen  der  Schule  in 
Membran,  Inhalt  und  Kern." 

Dieselbe  Lehre  ist  dann  von  Max  Schultze1)  ausführlich  begründet 
worden,  indem  derselbe  auf  den  Mangel  der  Membran  an  sehr  vielen,  und 
gerade  deu  wichtigsten  Zellen  (den  Nervenzellen,  Eurchungskugeln  und 
ihren  Abkömmlingen,  den  Embryonalzellen)  aufmerksam  machte.  Max 
Schultze  deiinirt  die  Zelle  als  „ein  Klümpchen  Protoplasma,  in  desseu 
Innerem  ein  Kern  liegt.  Der  Kern  sowohl  als  das  Protoplasma  sind  Theil- 
producte  der  gleichen  Bestandtheile  einer  anderen  Zelle.  Die  Zelle  führt 
ein  in  sich  abgeschlossenes  Leben." 

Der  entscheidende  und  unwiderlegliche  Beweis,  dass  gewissen  Zellen 
jede  Spur  einer  Membran  fehlt,  uud  dass  sie  blos  aus  einem  Klumpen 
halbflüssiger  schleimartiger  Zellsubstanz  (Protoplasma)  bestehen,  welcher 
einen  Kern  umschliesst,  ist  zuerst  von  mir  dadurch  geliefert  worden,  dass 
ich  das  Eindringen  fester  Moleküle  in  das  Innere  des  Protoplasma  und 
ihre  Anhäufung  rings   um  den   Kern   beobachtete,   und   dass  ich  durch  ein 


')  Max  Schultze,  „Ueber  Muskelkörperchen  und  das,  was  man  eine  Zelle 
zu  nennen  habe.'-     Reiche rts   und  Du  Bois-Reynionds  Archiv,  1861,  p.  11. 


272  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

einfaches  Experiment  die  amoebenartigen  Blutzellen  wirbelloser  Thiere 
(Mollusken  und  Crustaceen)  veranlasste,  feste  Piganientmoleküle  mittelst 
ihrer  amoebenartigen  Bewegungen  und  Formveränderungen  in  ihr  Inneres 
aufzunehmen.1)  Diese  Experimente  sind  von  Recklinghausen,2)  Preyer3) 
und  Anderen  an  den  farblosen  Blutzellen  kaltblütiger  und  von  Max 
Schultze4)  neuerlichst,  an  den  farblosen  Blutzellen  warmblütiger  Wirbel- 
thiere,  des  Menschen  selbst,  mit  dem  gleichen  Erfolge  wiederholt  worden. 
Es  kann  hiernach  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  dass  wirkliche  echte  Zellen, 
wofür  die  farblosen  Blutzellen  mit  Recht  allgemein  gelten,  keine  Membran 
besitzen  und  bloss  aus  zwei  wesentlichen  Bestandtheilen,  dem  centralen 
festen  Kern  (Nucleus)  und  der  peripherischen  schleimartigen  Zellsubstanz 
(Protoplasma)  bestehen.  Die  nahe  Verwandtschaft  dieser  Blutzellen  mit 
anderen  amoebenartigen  Zellen  (Embryonalzellen,  Bindegewebszellen,  Knor- 
pelzellen und  indifferenten  Zellen  niederer  Thiere),  welche  die  gleiche  Form 
und  Structur  und  die  gleichen  Bewegungserscheiuungen  zeigen,  macht  es 
aber  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Mangel  der  Membran  sehr  weit  ver- 
breitet und  in  einer  ersten  Jugendperiode  allen  Zellen  gemeinsam  ist. 

Als  wesentliche  Bestandteile  aller  echten  Zellen  müssen  also 
zwei  differente  Theile  betrachtet  werden:  I.  der  innere  (centrale  oder 
excentrische)  Zellkern  (Nucleus,  Cytoblastus) ,  welcher  entweder  ein 
fester,  homogener,  oder  selbst  wieder  ein  zusammengesetzter  (bläschen- 
förmiger) Körper  ist;  IL  der  äussere,  den  Kern  umschliessende  (peri- 
pherische) Zellstoff  (Protoplasma,  Plasma),  welcher  aus  einem 
festflüssigen  Eiweisskörper  besteht.  Als  dritter,  nicht  constanter  und 
in  der  ersten  Jugend  der  Zelle  stets  oder  doch  meist  fehlender  Be- 
standteil, kommt  dazu  in  vielen  Fällen  eine  äusserste,  den  Zellstoff- 
körper  umschliessende  Zellhaut  ^Membrana  cellulae)  welche 
entweder  nur  die  verdichtete  und  als  besondere  Hautschicht  differen- 
zirte  äusserste  Oberflächenlage  des  Protoplasma  oder  aber  von  diesem 
in  flüssiger  Form,  als  Secret,  nach  aussen  abgeschieden,  und  in  Form 
einer  Cuticula  über  demselben  erstarrt,  erhärtet  ist. 

Wir  können  demgemäss  sämmtliche  Zellen  des  Pflanzen-,  Protisten- 
und  Thierreichs  in  zwei  Hauptgruppen  bringen,  Hautzellen  und  hautlose 
Zellen.  Die  nackten  oder  hautlosen  Zellen  oder  Urzellen  (Cel- 
lulae primordiales,  Gymnocyta5),  bestehen  bloss  aus  innerem 
Kern  und  äusserem  Protoplasma.  Dahin  gehören  viele  Eier,  die  Theil- 
producte  derselben  oder  Furcliungskugeln,  die  Embryonalzellen,  viele 
Nervenzellen,  Biudegewebszelleu,  die  ausgeschlüpften  Schwärm- 
sporen  vieler  Algen   etc.     Bei   den   Ha  utz  eilen   oder  Schlauch- 


')  Haeckel,  ßadiolarien,  Berlin  1862,  p.  104—106. 

2)  Recklinghausen,   Virchow's  Archiv  Bd.  XVIII,  p.  184. 

3)  Preyer,  Virchow's  Archiv  Bd.  XXX,  p.  420. 

4)  Max  Schultze,  Archiv  für  raikrosk.  Auat.  Bd.  I,  p.  23. 

5)  yv/Lipüs  nackt;  xüios  (16)  Zelle. 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  273 

zelleu  (Cellulae  membranosae,  Lepocyta)1)  ist  das  den  Kern 
umschliessende  Protoplasma  selbst  wieder  von  einer  äusseren  Membran 
umgeben  oder  aber  in  Intercellularsubstanz  eingeschlossen.  Hierher 
gehören  die  meisten  pflanzlichen  und  viele  thierische  Zellen. 

Die  genannten    zwei    differenten   Bestandteile:    Kern  (Nucleus) 
und  Zellstoff  (Plasma)  müssen  wir  als  die  beiden  integrirenden  und 
zum  Begriff  nothwendigen  Bestandteile  jeder  Zelle  festhalten; 
in  jeder   echten  Zelle   ist   ein   Kern   innerhalb  des  Plasma  zu  irgend 
einer  Zeit  ihres  Lebens,  und  zwar  coustant  in  der  frühesten  Zeit,  nach- 
zuweisen, wenn  er  auch  späterhin  verschwindet.     Ein  Plasmaklumpen 
ohne  Kern  ist  keine  Zelle  mehr.     Zwar  sind  einige  Biologen,  wie  z.  B. 
Brücke  in  seinem  trefflichen  Aufsatz  über  die  Elementar-Organismen, 
noch  weiter  gegangen  und  haben  auch  den  Kern  für  einen  unwesent- 
lichen und  oft  fehlenden  Bestandteil   der  Zelle  erklärt.     Sie  berufen 
sich  darauf,    dass    ein  Kern  in  sehr  vielen  Fällen  nicht  in  der  Zelle 
nachzuweisen   ist.     Allein   entweder  ist  der   Kern  hier   früher  einmal 
vorhanden  gewesen,  und  dann  ist  die  kernlose  Zelle  nicht  mehr  voll- 
ständig,  oder  er  ist  nie  vorhanden  gewesen   und  dann  ist  der  indivi- 
duelle organische  Körper   eben  keine  Zelle,  sondern  ein  Plasmaklum- 
pen,   welcher  noch  nicht  in  inneren  Kern  und  äusseres  Plasma  sich 
differenzirt  hat,  eiue  Cytode,  wie  wir  es  oben  genannt  haben.     Wenn 
wir  den  Kern  als  integrirenden  Bestandteil  des  Zellenbegriffs  aufge- 
ben, so  behalten  wir  für  letzteren  nichts  übrig,  als  das  individualisirte 
Protoplasma,  einen  morphologisch  nicht  näher  bestimmbaren  homogenen 
Eiweisskörper.     Die  Zelle   wird   dann  zum  Lichtenbergischen  Messer 
ohne  Griff  und  Klinge. 

Andrerseits  müssen  wir  grosses  Gewicht  auf  die  von  Brücke  und 
Anderen  hervorgehobene  Thatsache  legen,  dass  individuelle  Elemen- 
tartheile,  und  zwar  sowohl  physiologisch  als  morphologisch  abge- 
schlossene Einheiten,  selbstständige  Lebensheerde  oder  Elementar-Or- 
ganismen existiren,  welche  keine  Zellen  nach  unserer  Definition  sind, 
indem  der  Kern  ihnen  fehlt.  Diese  kernlosen  Elementarorganismen 
sind  es,  welche  wir  als  Cytoden  bestimmt  von  den  echten  (kernhal- 
tigen) Zellen  unterscheiden  müssen.  Sie  bestehen  nur  aus  dem  einen 
wesentlichen  Bestandtheile  der  echten  Zellen,  aus  einem  Klumpen  von 
Plasma  oder  Protoplasma,  während  der  andere  integrirende  Bestand- 
theil  der  letzteren,  der  Kern,  ihnen  vollständig  und  zu  jeder  Zeit  ihrer 
individuellen  Existenz  abgeht.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  sehr  vielen 
Organismen  niederster  Ordnung,  welche  weder  bestimmte  thierische 
noch  deutliche  pflanzliche  Charactere  besitzen,  und  denen  wir  desshalb  in 
dem  Mittelreiche  der  Protisten  den  natürlichsten  Platz  anzuweisen  glauben. 


')  AS7iog  (i6)  Rinde,  Hülle,  Schale;  y.vrog  (rö)  Zelle. 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  lg 


274  Morphologische  Individualität  «1er  Organismen. 

Die  Cytoden  oder  die  kernlosen  Plasmaklumpen  zerfallen  gleich 
den  echten  kernhaltigen  Zellen  in  zwei  Gruppen,  je  nachdem  das 
weiche,  festflüssige  Plasma  ihres  Körpers  aussen  nackt  und  hüllenlos 
oder  an  der  Oberfläche  von  einer  Hülle  oder  Membran  umgeben  ist. 
Diese  Haut  kann,  wie  die  Zellhaut,  entweder  die  verdichtete,  differen- 
zirte  Oberflächenschicht  des  Plasmakörpers  selbst,  oder  aber  von  der 
Oberfläche  des  Plasmakörpers  nach  aussen  als  flüssiges  Secret  abge- 
schieden und  ausserhalb  desselben  zur  Kapsel  erhärtet  sein.  Diese 
Membran  kann  feiner  entweder  den  ganzen  Plasmakörper  ringsum 
vollständig  abschliessen,  z.  B.  bei  den  Siphoneen  und  anderen  soge- 
nannten einzelligen  (aber  kernlosen!)  Algen;  oder  die  Membran  kann 
unvollständig  geschlossen  und  von  einem  oder  mehreren  Löchern  oder 
Oeffhungen  durchbrochen  sein,  aus  welchen  das  eingeschlossene  Plasma 
theilweis  hervortreten  kann,  z.  B.  bei  den  Polytkalamien. 

Beide  Arten  von  Cytoden  sind  wohl  »u  unterscheiden.  Die  nackten 
oder  hautlosen  Plasmaklumpen  oder  Urklumpen  (Gymnocy- 
todae,  Cytodae  primordiales),  haben  als  wesentlichen  Bestandtheil 
bloss  ein  Stück  Plasma.  Dahin  gehören  alle,  für  unsere  jetzigen 
Hülfsmittel  nicht  weiter  zerlegbaren,  homogenen  Organismen  niederster 
Ordnung,  (Protogenes,  Protamoebd),  viele  sogenannte  Monaden,  Vibrio- 
nen etc.  Die  umhüllten  oder  häutigen  Plasmaklumpen  dagegen  oder 
die  Hautklumpen  (Lepocytodae,  Cytodae  membranosae)  be- 
stehen aus  zwei  Theilen,  dem  inneren  Plasma  und  der  dasselbe  ura- 
schliessenden  äusseren  schlaucharligeu  Membran,  welche  in  chemi- 
scher oder  doch  in  physikalischer  Beziehung  sich  von  dem  Plasma 
unterscheidet,  und  oft  mechanisch  von  demselben  abgetrennt  werden 
kann.  Hierher  gehören  viele  niederste  Organismen  von  unbestimmter 
Stellung  und  zum  Theil  von  sehr  indifferenter  Natur,  die  wir  in  un- 
serem Zwischenreiche  der  Protisten  untergebracht  haben,  z.  B.  viele 
Rhizopoden  (Acyttaria);  viele  sogenannte  einzellige  Algen  (Siphoneen); 
auch  die  Sporen  („Sommereier")  der  Aphiden,  Daphniden  etc. 

Die  Cytoden,  welchen  der  Kern  stets  fehlt,  und  die  echten  Zellen, 
welche  stets  einen  Kern  zu  irgend  einer  Zeit  ihres  Lebens  besitzen, 
können  unter  dem  Namen  der  Piastiden  oder  Bildnerinnen  zu 
sammengefasst  werden  und  stellen  als  solche  die  morphologischen  In- 
dividuen erster  Ordnung  dar.  Diese  Bildnerinnen  sind  in  der  That 
die  bildenden,  plastischen  Elemente,  welche  durch  ihr  Zusammenwir- 
ken die  Form-Individuen  höherer  Ordnung  aufbauen,  und  durch  ihre 
Aggregation  die  Gewebe,  die  Organe  etc.  constituiren.  Nach  den  vor- 
ausgebenden Erläuterungen  können  wir  unter  den  Piastiden  allge- 
mein vier  Gruppen  unterscheiden,  welche  sieh  in  folgender  IJebersicht 
auf  zwei  Hauptgruppen  von  Bildnerinnen  (nh'xGudtg,}  vertheilen: 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Plastideu.  275 

Uebersicht  der  verschiedenen  morphologischen  Individuen 

erster  Ordnung: 

Plastides  (Plasmastiicke  oder  Klumpen). 

I.  Cytodae.     (Celli nae.)     Cytoden.     Plasmaklumpen  ohne  Kern. 

I.    1.    Gymnocytodae.     Urklumpen   oder   uackte    Klumpen.     Kernlose 

Plasniaklumpen  ohne  Haut  oder  Schale. 
I.   2.    Lepocyto  dae.    Hautklumpeu  oder  Schläuche.    Kernlose  Plasma- 
klumpen mit  Haut  oder  Schale. 
II.  Cellulae.    (Cyta.)     Zellen.     Plasmaklumpen  mit  Kern. 

II.   1.    Gymnocyta.     Urzellen  oder  nackte  Zellen.     Kernhaltige  Plasma- 
klumpen ohne  Haut  oder  Schale. 
II.   2.    Lepocyta.   Hautzellen  oder  Kernschläuche.   Kernhaltige  Plasma- 
klumpen mit  Haut  oder  Schale. 


II.    2.    Zusammensetzung  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen) 
aus  verschiedenen  Pormbestaudtheilen. 

A.    Plasma.     (Protoplasma.)     Zellstoff. 

Da  wir  durch  die  Eintheilung  der  Plastideu  iu  Cytoden  und  Zellen 
neue  Begriffe  in  die  Plastidologie  oder  die  sogenannte  Gewebelehre 
(Histologie)  eingeführt  haben,  deren  Gebiet  bisher  seit  Schwann  die 
Zellen  als  die  einzigen  und  allmächtigen  Elementar- Organismen  be- 
herrschten, und  da  uns  diese  Unterscheidung  der  Cytoden  und  Zellen 
insbesondere  für  die  Vorstellungen  von  der  ersten  Entstehung  der  Or- 
ganismen die  grösste  Wichtigkeit  zu  besitzen  scheint,  so  müssen  wil- 
den verschiedenen  Structurverhältnissen  der  Plastideu  eine,  wenngleich 
ganz  allgemein  gehaltene,  doch  eingehendere  Betrachtung  widmen, 
als  es  bei  den  Individuen  höherer  Ordnung  gestattet  sein  wird.  Wir 
werden  daher  hier  besonders  die  Zusammensetzung  der  Plastideu  (Cy- 
toden und  Zellen)  aus  verschiedenen  Formbestandtheilen  und  die  we- 
sentlichen Eigenschaften  dieser  Formbestandtheile  ins  Auge  zu  fassen 
haben,  und  betrachten  demgemäss  zunächst  das  Plasma  oder  den 
Zellstoff,  dann  den  Nucleus  oder  Zellkern  und  endlich  die  verschie- 
denen (äusseren  und  inneren)  Plasma-Producte. 

Als  Plasma  oder  Zellstoff,  besser  Bildungsstoff,  bezeichnen 
wir  nach  dem  Vorhergehenden  alle  diejenigen  organischen  Materien, 
welche  als  die  wesentlichen  und  in  keinem  Falle  fehlenden  Träger 
der  Lebensbewegung  erscheinen,  als  das  active  materielle  Sub- 
strat des  Lebens,  und  welche  also  gewissermaassen  als  der  „Le- 
bensstoff" oder  die  „lebende  Materie''  im  engeren  Sinne  bezeichnet 
werden  könnten.  Ueberall,  wo  wir  bisher  im  Thier-,  Protisten-  und 
Pflanzen-Reiche  in  der  Lage  waren,  die  chemische  Natur  dieses  Kör- 
pers bestimmen  zu  können,  hat  sich  derselbe  als  ein  Eiweisskörper 
oder  Album inat  (sogenannte  Protein-Verbindung)  herausgestellt. 

18* 


276  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Das  Plasma  ist  mit  mehreren  verschiedenen  Namen  belegt  woiden: 
Protoplasma' (Mohl),  Oytoplasmu  (Kölliker),  Sarcode  (Dujardin), 
Keimsubstanz  oder  „Germinal  watter'-  (Beale),  Zellsubstanz,  tiiläungssub- 
stanz,  Zellstoff  u.  s.  w.  Wir  werden  es  der  Kürze  halber  stets  als  Bil- 
dungsstoff, Zellstoff  oder  Plasma  bezeichnen.1) 

In  einer  jeden  Plastide,  sowohl  in  jeder  Cytode  als  in  jeder  Zelle,  tritt 
das  Plasma  als  ein  zusammenhängender  festflüssiger  Körper  von  äusserst 
verschiedenartiger  Form  auf,  über  welche  sich  im  Allgemeinen  Nichts  aus- 
sagen lässt.  Die  Grösse  ist  sehr  verschieden,  von  kaum  messbarer  Fein- 
heit bis  zu  einem  Durchmesser  von  mehreren  Linien,  selten  mehreren 
Zollen  (z.  ß.  bei  Oaulerpa  und  anderen  Siphoneen). 

Während  man  früherhin  meistens  das  Plasma,  weil  es  in  formeller  und 
häufig  auch  bedeutend  in  quantitativer  Beziehung  hinter  die  übrigen  Be- 
standtheile  der  Zelle  zurücktritt,  sehr  vernachlässigte  und  namentlich  bei 
den  Pflanzenzellen  vorwiegend  die,  zunächst  allerdings  am  meisten  ins 
Auge  fallende  Membran  berücksichtigte,  ist  man  neuerdings  immer  mehr  und 
immer  allgemeiner  zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  in  dem  Plasma  den 
eigentlichen  Heerd  aller  activen  Lebensbewegung  suchen  zu 
müssen.  Seine  Stellung  unter  den  Eiw  eis  s  st  offen  ist  daher  von  beson- 
derer Bedeutung. 

Die  Gruppe  der  Eiweisskörper,  Albuminate  oder  Protein  Stoffe,  zu 
welcher  alle  verschiedenen  Modificatiouen  des  activen,  lebendigen  Plasma  ge- 
hören, ist  bekanntlich  in  chemischer  Beziehuug  vor  allen  anderen  Stoffen 
durch  zahlreiche  und  sehr  wichtige  Eigenthümlichkeiten  ausgezeichnet. 
Durch  ihre  höchst  complicirte  Zusammensetzung  aus  5  oder  6  Atomarten 
Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff,  Schwefel  und  häufig  auch 
Phosphor)  stellen  sie  sich  über  alle  anderen  organischen  Verbindungen. 
Gewöhnlich  sind  die  Eiweisskörper  von  Fetten,  Alkalien  und  Kalksalzen 
begleitet,  zum  Theil  in  sehr  eigenthümlicher  Weise  chemisch  mit  ihnen 
verbunden.  Daher  hat  man  sie  in  chemisch  reinem  Zustande  bisher  nur 
äusserst  selten  oder  gar  nicht  darzustellen  vermocht.  Ferner  zersetzen  sie 
sich  ausserordentlich  leicht  und  vermögen  die  Zersetzungsbewegung  kata- 
lytisch,  als  gährungserregende  Stoffe,  auf  andere  zersetzungsfähige  Körper 
zu  übertragen.  Ihre  ausserordentliche  Neigung  zu  Umsetzungen  erklärt 
sich  vielleicht  aus  der  ebenso  lockeren  als  verwickelten  atomistischen  Zu- 
sammensetzung ihrer  Moleküle.  Schon  der  leiseste  Anstoss  vermag  diesen 
complicirten  Atomgruppen-Bau  zu  zerstören.  Ihre  quantitative  Zusammen- 
setzung ist  daher  sehr  schwierig  zu  bestimmen,  ihre  theoretische  Constitution 
noch  ganz  unbekannt.  Mit  anderen  Verbindungen,  Salzen,  Säuren  und 
Basen,  treten  sie  in  sehr  wechselnden  Verhältnissen  zusammen.  Die  meisten 
Eiweisskörper  stehen  sich  in  vielen  Beziehungen  sehr  nahe  und  sind  oft 
sehr  schwer  zu  unterscheiden.  Dennoch  verleiht  ihnen  schon  der  geringste 
Unterschied  in  ihrer  atomistischen  Constitution,  der  durch  chemische  Reac- 


')  io  nlua/ju  bedeutet  eigentlich  allerdings  das  (.Jebildete,  Geformte,  und 
richtiger  würde  demnach  für  unsere  bildende  Materie  der  Ausdruck  Plasson 
;?ö  nkäaaov),  das  Bildende,  das  Formende,  sein. 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:    Piastiden.  277 

tionen  oft  gar  nicht  nachzuweisen  ist,  ganz  verschiedene  formbildende 
Eigenschaften.  Endlich  kommt  ein  und  derselbe  Proteinkörper  oft  in  meh- 
reren Modifikationen  vor,  löslichen  und  schwerlöslichen  oder  unlöslichen, 
und  damit  im  Zusammenhange  steht  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  sie  den 
Aggregatzustand  wechseln  und  aus  dem  flüssigen  in  den  festen  übergehen. 
Hieraus  erklärt  es  sich,  dass  die  Proteinkörper  in  chemischer  Beziehung 
die  unbekanntesten,  obwohl  die  für  das  Leben  wichtigsten  von  allen  Mate- 
rien sind,  wahrscheinlich  die  einzigen  activen  Substrate  der  Lebensbewegung. 

Wie  diese  chemischen  Eigentümlichkeiten  die  Eiweisskörper  in  hohem 
Maasse  auszeichnen,  so  gilt  dies  auch  von  ihren  physikalischen  E  igen- 
schaften,  welche  bei  der  histogenetischen  Thätigkeit  des  Plasma  nicht 
minder  in  Frage  kommen.  Ausser  der  schon  hervorgehobenen  Leichtigkeit, 
mit  welcher  dieselben  ihren  Aggregatzustand  wechseln  (z.  P>.  der  Faser- 
stoff bei  seiner  Gerinnung  an  der  Luft,  das  Casein  bei  Berührung  mit 
Lab  etc.),  ist  hier  besonders  hervorzuheben,  dass  sie  beim  Uebergang  aus 
dem  flüssigen  in  den  festen  Zustand  fast  stets  amorph,  und  nur  sehr  selten 
krystallinisch  auftreten.  Dieser  auffallende  Mangel  anKrystallisations-Neigung 
steht  mit  ihrem  ausgezeichneten  Imbibitionsvermögen  und  mit  ihrer  Fähig- 
keit, die  abgerundeten  Formen  der  organischen  Gewebe  zu  bilden,  im 
engsten  Zusammenhang.  Ihre  ausserordentlich  bedeutende  Quellungsfähig- 
keit ist  durch  eine  enorme  Adhäsions-Verwandtschaft  der  Eiweiss-Moleküle 
zum  Wasser  bedingt,  mittelst  deren  sie  grosse  Quantitäten  desselben  in 
ihre  Intermolekularräume  aufzunehmen  und  zu  condensiren  im  Stande  sind. 
Durch  diese  Imbibition  wird  ihr  Yolum  ebenso  vergrössert,  als  ihre  Cohä- 
sion  vermindert;  auch  die  grosse  Leichtigkeit,  mit  der  die  Eiweisskörper 
unter  wenig  verschiedenen  Verhältnissen  ihre  Imbibitions- Fähigkeit  bedeu- 
tend ändern,  ist  bemerkenswerth  und  für  ihre  plastische  Thätigkeit  von 
grosser  Bedeutung. 

Welche  unendliche  Mannichfaltigkcit  in  der  feineren  Zusammensetzung 
der  Eiweissstoffe  herrscht,  welcher  unendlichen  Modifikationen  ihre  physika- 
lischen und  chemischen  Eigenschaften  fähig  sind,  beweist  der  unerschöpf- 
liche Reichthum  verschiedenartiger  Gestalten,  die  in  Form  von  Thieren,  Pro- 
tisten und  Pflanzen  unsern  Erdball  bevölkern.  Alle  diese  unendlichen 
Verschiedenheiten  der  Organismen  in  Grösse  und  Form,  gröberer  und  fei- 
nerer Zusammensetzung,  Consistenz  und  Dichtigkeit,  Farbe  und  Glanz, 
Geschmack  und  Geruch,  kurz  alle  die  uuermessliche  Mannichfaltigkeit  in 
den  verschiedensten  sinnlich  wahrnehmbaren  Eigenschaften  der  organischen 
Körper,  welche  unsere  Sinne  erregen  und  ergötzen,  ist  zurückzuführen  auf 
ebenso  unendlich  zahlreiche  und  feine  Verschiedenheiten  in  der  atomisti- 
schen  Constitution  der  Eiweiss -Verbindungen,  welche  das  Plasma  der 
Piastiden  zusammensetzen. 

Wenn  wir  uns  einerseits  dieser  Thatsache  nicht  verschliessen  können, 
so  müssen  wir  andererseits  unsere  gänzliche  Unfähigkeit  eingestehen,  dem 
Plasma  auf  seinem  formbildenden  Wege  folgen  zu  können.  Die  geringe 
Quantität,  in  der  das  Plasma  auch  in  den  grössten  Zellen  auftritt,  die 
Unmöglichkeit,  dasselbe  rein  zu  isoliren  oder  in  grösseren  Mengen  zu- 
sammenzuhäuien,  haben  uns  in  den  meisten  Fällen  entweder  gar  keine  oder 


278  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

doch  nur  sehr  geringe  Differenzen  in  der  chemisch-physikalischen  Beschaf- 
fenheit des  Plasma  der  verschiedenen  Piastiden  wirklich  wahrnehmen 
lassen,  obwohl  ihre  verschiedenen  physiologischen  Fähigkeiten  davon  be- 
redtes Zeugniss  ablegen.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  eben  nur  aussagen, 
dass  das  Plasma  gewöhnlich  als  ein  festflüssiger  Eiweisskörper  von  der 
Consistenz  eines  zähen,  klebrigen,  fadenziehenden  Schleimes  auftritt,  der 
eich  im  Wasser  nicht  auflöst  und  durch  den  Zutritt  von  Wasser  allein 
schon  in  vielen  Fällen  gerinnt. 

B.    Nucleus.     (Cytoblastus.)     Zellkern. 

Als  derjenige  wesentliche  Formbestandtheil,  welcher  die  organi- 
sche Zelle  als  solche  eharacterisirt  und  von  der  Cytode  oder  kern- 
losen Plastide  unterscheidet,  ist  der  Nucleus  oder  Zellkern  von 
besonderem  Interesse.  Gleich  dem  Plasma  aller  Piastiden  ist  auch 
der  Nucleus  aller  Zellen  stets  aus  einer  Ei  weiss-  Verbindung  ge- 
bildet, welche  durch  geringe  physikalisch -chemische  Differenzen  sich 
von  der  des  Plasma  unterscheidet. 

Bei  den  meisten  thierischen  Zellen  ist  der  Nucleus  während  der 
ganzen  Zeit  ihres  Lebens  nachzuweisen,  während  er  dagegen  bei  vielen 
Pflanzenzellen  (z.  B.  Holz-  und  Gefässzellen)  nur  in  ihrer  Jugend 
existirt  und  späterhin  verschwindet.  Der  Kern  erscheint  in  den  mei- 
sten Zellen  als  ein  scharf  umschriebener  rundlicher  Körper,  weniger 
umfangreich  als  das  Plasma,  da  ihn  dieses  gewöhnlich  von  allen  Sei- 
ten umschliesst.  In  selteneren  Fällen  liegt  in  gewissen  Hautzellen 
der  Kern  ganz  peripherisch,  so  dass  er  nur  auf  der  einen  Seite  vom 
Plasma,  auf  der  anderen  von  der  Membran  begrenzt  wird. 

Im  Gegensatze  zum  Plasma,  welches  durch  Anpassung  an  die 
Aussenwelt  die  verschiedenartigsten  Formen  annehmen  kann,  zeigt  der 
Kern  allermeist  eine  sehr  einfache  und  scharf  umschriebene  Form. 
Gewöhnlich  ist  er  kugelig  oder  sphäroidal,  bald  mehr  ellipsoid,  bald 
mehr  linsenförmig,  seltener  cylindrisch  verlängert  oder  stäbchenförmig, 
sehr  selten  verästelt,  sternförmig  oder  von  complicirterer  Form.  Der 
Grenzcontour  des  Kerns  gegen  das  umschliessende  Plasma  ist  meist 
scharf  und  deutlich. 

Betrachtet  man  die  Zelle  in  ihren  natürlichen  Verhältnissen,  mit  Ver- 
meidung alterirender  Flüssigkeiten,  so  erscheint  der  Kern  sehr  häufig  homo- 
gen und  klar,  und  in  seinem  Lichtbrechungsvermögen  wenig  von  dem 
Plasma  verschieden.  Oft  erzeugt  aber  schon  Wasserzusatz,  und  in  den 
meisten  Fällen  bewirkt  Zusatz  von  Essigsäure  im  Nucleus  einen  fein, 
körnigen  Niederschlag,  so  dass  derselbe  sich  als  dunkel  granulirter  Körper 
scharf  von  dem  umgebenden  Protoplasma  absetzt. 

Ueber  die  Consistenz  und  den  Bau  des  Zellenkerns  findet  man  bei 
Botanikern  und  Zoologen  die  widersprechendsten  Ansichten,  die  sich  wohl 
grossentheils    dadurch    erklären    werden,    dass    der  Kern  in   verschiedenen 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  279 

Zellen  eine  sehr  verschiedene  Beschaffenheit  besitzt.  Während  die  Meisten 
dem  Kerne  eine  festere  Beschaffenheit  als  dein  Plasma  zuschreiben  und 
ihn  als  einen  „leidlich  festen",  soliden,  homogenen  Körper  ansehen,  be- 
schreiben ihn  dagegen  Andere  als  ein  „Bläschen",  aus  fester  Membran 
und  flüssigem  Inhalt  gebildet,  und  in  manchen  Fällen  wird  er  sogar  als 
ein  halbflüssiger  „Eiweisstropfen"  geschildert.  In  der  That  scheint  der 
Cohäsionsgrad  bei  verschiedenen  Kernen  ausserordentlich  verschieden  zu 
sein.  In  sehr  vielen  Fällen  ist  der  Nucleus  ohne  Zweifel  weit  fester  und 
derber  als  das  Plasma,  und  eine  Differenz  von  Hülle  und  Inhalt  dann 
nicht  an  ihm  nachzuweisen,  während  in  anderen  Fällen,  z.  B.  bei  vielen 
Eiern,  Furchungskugeln,  Embryonalzellen,  Nervenzellen  und  anderen  Ur- 
zellen,  der  Kern  als  ein  zartes,  oft  ziemlich  dickwandiges  und  doppelt  con- 
tourirtes  Bläschen  einen  homogenen,  eiweissartigen  Inhalt  zu  umschliessen 
scheint,  dessen  Consistenz  hinter  derjenigen  des  Plasma  zurückbleibt. 

Sehr  häufig  bemerkt  mau  in  dem  Kern,  auch  ohne  Zusatz  alterirender 
Flüssigkeiten,  mehrere  feine  Körner  (oft  vielleicht  Bläschen?)  und  ausser- 
dem ein  grösseres  Korn  oder  Bläschen,  welches  sich  in  der  Regel  durch 
stärkere  Lichtbrechung  auszeichnet.  Dieser  kleine  Körper,  welcher  entweder 
im  Innern  oder  an  der  Peripherie  des  Nucleus  liegt,  wird  als  Nucleolus 
oder  Ker ukörperchen  beschrieben.  Bisweilen  ist  in  diesem  centralen 
Körper  nochmals  ein  vierter  scharf  umschriebener  kleiner  Körper  einge- 
schachtelt, der  dann  N u c  1  e o  1  i n u s  oder  Kernpunkt  genannt  werden 
kann  (z.  B.  in  manchen  Eiern,  Ganglienzellen  etc.). 

Die  chemische  Zusammensetzung  des  Zellkerns  und  der  in  ihm  einge- 
schlossenen Körperchen,  Nucleolus  und  Nucleolinus,  ist  oft  schwierig  zu 
ermitteln  und  in  vielen  Fällen  unbekannt.  Wahrscheinlich  besteht  derselbe 
aber  immer  aus  einem  vom  Plasma  etwas  verschiedenen  Eiweisskörper, 
sei  es  in  festflüssigem,  sei  es  in  festem  Aggregatzustande.  In  allen  Fällen 
wo  durch  mikrochemische  Reaction  die  chemische  Constitution  des  Kerns 
zu  ermitteln  war,  hat  sich  stets  eine  Eiweiss-Yerbindung  herausgestellt. 

C.  Plasina-Producte. 
Da  wir  sämmtliche  Piastiden,  sowohl  Cytoden  als  Zellen,  als 
selbstständige  Elementar-Organismen  zu  betrachten  haben,  die  minde- 
stens in  ihrer  Jugendzeit  ein  mehr  oder  minder  unabhängiges  Leben 
als  morphologische  Individuen  führen,  so  sind  dieselben  natürlich  der 
Lebensbewegung  und  damit  einer  Reihe  von  Veränderungen  unter- 
worfen, die  wir  als  Functionen  der  Piastiden  anzusehen  haben,  und 
die  ihre  Ernährung,  ihre  Fortpflanzung,  und  ihre  Beziehungen  zur 
Aussenvvelt  betreffen.  Von  diesen  verschiedenen  Lebensthätigkeiten 
der  Piastiden  sind  für  uns  hier  diejenigen  zunächst  von  besonderem 
Interesse,  die  man  gewöhnlich  unter  dem  Namen  der  Zellmeta- 
morphose  zusammenfasst,  und  die  sich  auf  die  Veränderung  der 
Grösse,  Form,  Consistenz  und  namentlich  auf  die  Production  von 
Theilen  beziehen,  welche  vom  Plasma  und  dem  Kerne  verschieden 
sind.    Wir  können  diese  Theile,  welche  als  integrirende  morphologische 


280  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Bestan dtheile  der  metamorphosirten  Piastiden  erscheinen,  und  ent- 
weder in  ihrem  Inneren  oder  auf  ihrer  Oberfläche,  aber  immer  mit 
dem  Plasma  räumlich  verbunden  (adhaerent)  auftreten,  allgemein  als 
Producte  des  Plasma  oder  Producte  der  Piastiden  be- 
zeichnen. 

Unter  Producten  der  Piastiden  oder  des  Plasma  fassen  wir  dem- 
geraäss  alle  diejenigen  Form-Bestandtheile  der  metamorphosirten  Zelle 
vorhanden,  welche  von  dem  Plasma  und  dem  Nucleus  verschieden 
sind,  mögen  sie  nun  im  Plasma  eingeschlossen  oder  ausserhalb  des- 
selben liegen.  Demnach  gehören  hierher  alle  diejenigen  Theile,  welche 
man  gewöhnlich  in  der  thierischen  und  pflanzlichen  Zellenlehre  mit 
folgenden  Namen  zu  belegen  pflegt:  1.  die  „Zellenmembranen";  2.  die 
„Intercellularsubstanzen";  3.  der  ,.Zellsaftu;  4.  der  „  Zellinhalt" ,  und 
noch  verschiedene  andere  Theile,  welche  logischer  Weise  unter  eine 
der  erwähnten  Kategorieen  sich  einreihen  lassen. 

Sämmtliche  Producte  des  Plasma,  mögen  dieselben  innerhalb  oder 
ausserhalb  des  metamorphosirten  Plasma  getroffen  werden,   entstehen 
entweder   durch   Diff erenzirung    des    Plasma    oder    durch    Aus- 
scheidung des  Plasma.    Der  Unterschied  zwischen  beiden  Entste- 
hungsvveisen  der  Plasmaproducte    liegt  darin,    dass  im  ersteren  Falle 
die  Substanz    des  Plasma    selbst    sich    verändert    und    in  den  neuen 
Körper  übergeht,  während  im  letzteren  Falle  der  Plasmakörper  selbst 
unverändert  bleibt  und  nicht  in  die  Substanz  des  Productes  übergeht. 
Als  eine  reine  Differenzirung  des  Plasma   würden  wir  z.  B.  die 
Entstehung   der  quergestreiften    aus   der    homogenen  Muskelsubstanz, 
die  Bildung  gewisser  eiweissartiger  Intercellularsubstanzen,  und  über- 
haupt  allgemein    die    Entstehung   der   heterogenen    und    speeifischen 
Plasmakörper   der  Epithelzellen,   Nervenzellen,    Drüsenzellen   etc.  aus 
den    indifferenten    Plasmakörpern    der    homogenen    und    indifferenten 
Embryonal -Zellen  aufzufassen   liaben.     Dagegen  würden  wir  als  eine 
Ausscheidung  des  Plasma  z.  B.    die  Bildung  der  Cuticulae,   (der 
Chitinhäute  etc.)   der  Cellulose- Membranen  und  eines  grossen   Theils 
der  Intercellularsubstanzen,  ferner  im  Innern  der  Piastiden  die  Bildung 
vieler  nicht  eiweissartiger  Stoffe,  z.  B.  der  Stärkemehlkörner  und  an- 
derer Concretionen,  der  Krystalle  etc.  anzusehen  haben. 

So  scharf  sich  aber  auch  der  principielle  Unterschied  der  beiderlei 
Plasma  -  Producte  in  der  Theorie  dahin  aussprechen  lässt,  dass  die 
Differenzirungsproducte  aus  der  Substanz  des  sich  verändernden 
Plasma  selbst,  die  Ausscheidungsproducte  durch  Wirkung  des  Plasma 
nach  aussen,  Exsudation  etc.  entstellen,  so  schwierig  ist  es  in  der 
Praxis  in  den  meisten  Fällen  zu  sagen,  wohin  das  eine  oder  das  an- 
dere Product  zu  rechnen  sei;  und  im  Grunde  genommen  ist  diese 
Unterscheidung  nur  eine  rohe   und  oberflächliche,   denn  eigentlich  ist 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  281 

auch  jede  Ausscheidung  mit  einer  Veränderung-,  d.  h.  Differenzirung 
der  Substanz  des  Plasma,  und  umgekehrt  jede  Differenzirung  mit 
einer  Trennung  bestimmter,  weniger  veränderter  Piasmatheile  von 
anderen  mehr  veränderten,  d.  h.  Ausscheidung  verbunden.  In  sehr 
vielen  Fällen  werden  Ausscheidung  und  Differenzirung  gleichmässig 
bei  der  Bildung  des  Productes  zusammenwirken,  oder  in  einer  Weise 
verbunden,  dass  der  Antheil  des  einen  und  des  anderen  Processes 
sehr  schwierig  zu  bestimmen  sein  wird.  Aus  diesem  Grunde  betrach- 
ten wir  hier  die  Producte  der  Differenzirung  und  Ausscheidung  ge- 
meinschaftlich als  Plasma- Producte  und  unterscheiden  nur  zwischen 
äusseren,  auf  der  Oberfläche  des  bleibenden  Protaplasma  gelegenen 
und  inneren,  innerhalb  oder  zwischen  einzelnen  Theilen  des  Plasma 
gelegenen  Plasma-Pro ducten. 

Ca.  Aeussere  Plasma-Producte. 
(„Zellenmembranen"  und  „Intercellularsubstan  zen".) 

Die  übliche  Trennung  der  äusseren  Plasma-Producte  in  Zellen- 
membranen und  Intercellularsubstanzen  ist  künstlich  und  nicht  ohne 
Willkühr  durchzuführen,  wesshalb  wir  hier  beiderlei  Producte  gemein- 
sam zu  besprechen  haben. 

Die  allgemeine  Bedeutung  der  Membran  der  Piastiden  hat  in 
neuerer  Zeit  sehr  an  Wichtigkeit  verloren,  seitdem,  wie  oben  schon 
angeführt  wurde,  der  Beweis  geführt  worden  ist,  dass  wir  in  allen 
Fällen,  wo  eine  Plastide  von  einer  Haut  umschlossen  ist,  sowohl  bei 
den  kernhaltigen  Zellen,  als  bei  den  kernlosen  Cytoden,  die  Mem- 
bran für  ein  secundäres  Product  des  Plasma  zu  halten  haben, 
nicht  für  einen  primären  und  integrirenden  Bestandtheil  der  Plastide 
als  solcher.  In  der  That  sind  jetzt  so  sichere  und  so  zahlreiche  Bei- 
spiele von  Cytoden  und  von  Zellen  bekannt,  die  Zeit  ihres  Lebens 
nackt  und  membranlos  bleiben,  und  von  anderen  Piastiden,  die  an- 
fangs (bei  ihrer  Entstehung  durch  Theilung  oder  Keimbildung)  nackt, 
später  von  einer  Hülle  oder  Schale  umgeben  sind,  dass  an  der  Wahrheit 
der  obigen  Behauptung  nicht  mehr  gezweifelt  werden  kann.  Für  die 
allgemeine  biologische  Auffassung  der  Zelle  als  Elementar  -  Organis- 
mus ist  aber  dieser  Umstand  von  der  grössten  Wichtigkeit.  Denn 
während  man  früher,  wo  die  allgemeine  Anwesenheit  der  Zellen- 
membran als  eines  das  Plasma  völlig  umschliessenden  Schlauches 
oder  Sackes  als  allgemein  gültiges  Dogma  die  Zellentheorie  beherrschte, 
der  Membran  meist  eine  hohe,  oft  selbst  eine  grössere  physiologische 
Bedeutung  als  dem  in  ihr  enthaltenen  Plasma  zuschrieb,  gewöhnt 
man  sich  jetzt  richtiger  daran,  das  Plasma  als  das  active,  primär  wirk- 
same Element  des  Zellenlebens,  und  die  Membran  dagegen  als  pas- 
siven Bestandtheil,  als  das  secundäre  Product  des  ersteren,  zu  betrachten- 


232  Morphologische  Individualitat  der  Organismen. 

In  sehr  vielen  Fällen  existiren  die  nackten,  hautlosen  Piastiden 
sehr  lange  Zeit  hindurch,  und  zwar  gerade  in  der  Jugendzeit,  wo  sie 
am  thatkräftigsten  und  leistungsfähigsten  sind,  ohne  alle  Hülle,  und 
umgeben  sich  erst  mit  einer  solchen,  wenn  sie  in  den  ruhigeren  und 
passiveren  Zustand  des  Alters  übergehen.  Insbesondere  zeigt  sich 
dieser  Umstand  darin,  dass  die  Membran  meist  ganz  vermisst  wird, 
so  lange  die  Zelle  als  Ganzes  noch  wächst  und  ihr  Volum  ausdehnt, 
und  so  lange  sie  sich  noch  durch  Theilung  vermehrt.  Eine  Plastide 
mit  Membran  (oder  Lepoplastide)  ist  jedenfalls  abgeschlossener  gegen 
die  Aussenwelt,  als  eine  nackte  hüllenlose  Plastide  ohne  Membran 
(oder  Gymnoplastide)  deren  Oberfläche  unmittelbar  mit  ihrer  Um- 
gebung in  Berührung  steht  und  demgemäss  mit  derselben  in  weit 
energischere  Wechselwirkung  treten  kann.  Dieses  Verhältniss  ist 
besonders  von  Max  Schnitze  betont  worden,  welcher  die  von  einer 
Membran  umschlossene  Zelle  sehr  passend  mit  einem  encystirten  In- 
fusorium  vergleicht,  und  hinzufügt,  dass  die  Bildung  einer  chemisch 
differenten  Membran  auf  der  Oberfläche  des  Protoplasma  ein  Zeichen 
beginnenden  Rückschrittes  sei,  ein  Zeichen  herannahender  Decrescenz, 
oder  wenigstens  eines  Stadiums,  auf  welchem  die  Zelle  in  den  ihr  ur- 
sprünglich zukommenden  Lebensthätigkeiten  bereits  eine  bedeutende 
Einschränkung  erleidet.     (I.  c.  p.  21). 

Die  Zellenmembran  fällt  demnach  in  unserer  Anschauung  in  eine 
Ordnung  oder  Kategorie  zusammen  mit  den  übrigen  Theilen  der  Zelle, 
welche  als  Producte  der  Zelle  auftreten,  und  sind  namentlich  nicht 
scharf  zu  trennen  von  einer  anderen  Reihe  äusserer  Plasma-Producte, 
nämlich  von  den  In tercellular- Substanzen,  denen  mau,  beson- 
ders in  der  pflanzlichen  Histologie,  bei  weitem  nicht  die  Bedeutung, 
wie  den  Membranen  zuerkannt  hat.  Zwar  werden  die  Zellenmembranen 
und  die  Intercellular-Substanzen  in  der  Regel,  und  namentlich  von 
den  Botanikern,  als  ganz  verschiedene  Dinge  betrachtet;  indess  ist  es 
in  sehr  vielen,  und  namentlich  thierischen  Geweben  mit  Sicherheit 
nachzuweisen,  dass  die  Intercellularsubstanz  aus  verschmelzenden 
Membranen  benachbarter  Zellen  hervorgeht,  Dass  beiderlei  Substan- 
zen in  vielen  Fällen  von  sehr  verschiedener  chemischer  und  physi- 
kalischer Beschaffenheit  sind,  spricht  nicht  dagegen,  da  die  Zelle 
fähig  ist,  in  verschiedenen  Perioden  ihres  Lebens  sehr  verschiedene 
Stoffe  abzuscheiden. 

Die  Membran  der  Piastiden,  und  zwar  ebenso  die  Cytodcn- 
raerabran,  wie  die  Zellenmembran,  entsteht  entweder  durch  Difi'eren- 
zirung  der  äussersten  Plasmaschicht  der  hautlosen  nackten  Piastiden,  indem 
diese  erhärtet  und  sich  von  den  tieferen  weicheren  Schichten  ablöst,  oder 
sie  entsteht  durch  Ausscheidung  (Exsudation)  einer  besonderen  Substanz, 
welche  alsbald  nach  ihrem  Austritt  aus  der  Oberfläche  des  Plasma  erhärtet, 


T.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  283 

nach  Art  der  Cuticularbildungen.  Wenn  die  Cytodenmernbran  oder  Zellen  - 
membran  durch  blosse  Differenzirung  der  ättssersten  Plasmaschicht  entsteht, 
kann  die  Substanz  dieselbe  chemische  Beschaffenheit  beibehalten,  indem  der 
Eiweissstofl'  des  Plasma,  wie  dies  bei  den  Proteinkörpern  so  leicht  geschieht, 
gerinnt,  aus  dem  flüssigen  in  den  festen  Aggregatzustand  übergeht.  Es 
ist  dann  also  blos  eine  physikalische,  keine  chemische  Differenz  vorhanden, 
während  diese  in  anderen  Fällen  mit  der  ersteren  verbunden  ist.  Wenn 
dagegen  die  Membran  einer  Ausschwitzung  des  Plasma  ihren  Ursprung 
verdankt,  die  an  der  Oberfläche  desselben  sich  verdichtet,  so  ist  die  Sub- 
stanz der  Membran  meist  von  sehr  verschiedener  Natur.  Bei  der  Mehrzahl 
der  Pflanzenzellen,  und  ebenso  bei  den  Mantelzellen  der  Tunicaten  besteht 
sie  dann  aus  Cellulose,  bei  vielen  thierischen  Zellen  aus  einer  sehr  eon- 
sistenten,  dem  elastischen  Gewebsstoff  ähnlichen,  stickstoffhaltigen  Materie 
u.  s.  w.  Sehr  häufig  erscheinen  Zellenmembranen,  welche  eine  ansehnlichere 
Dicke  erreichen,  deutlich  aus  concentrischen  Schichten  zusammengesetzt, 
die  einer  Periodicität  der  Exsudation  ihren  Ursprung  verdanken.  Dann  ist 
meistens  die  innerste  Schicht  die  jüngste  und  sehr  häufig  bleiben  die  Schich- 
ten von  senkrecht  darauf  stehenden  Porencanälen  durchsetzt,  durch  welche 
eine  freie  Communication  und  ein  leichter  Stoffaustausch  zwischen  der 
Oberfläche  des  Plasma  und  der  Umgebung  unterhalten  wird. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  partiellen  Membranbildungen, 
welche  nur  einen  Theil  der  Oberfläche  des  Plasma  betreffen,  während  ein 
anderer  Theil  frei  bleibt.  Schon  die  letzterwähnte  Bildung  von  Poren- 
canälen gehört  hierher,  ferner  das  Offenbleiben  eines  einzigen  grösseren 
Porencanals,  den  mau  dann  als  Ausführungsgang  (bei  den  einzelligen 
Drüsen)  oder  als  Einführungsgang,  Micropyle  (bei  den  Eiern)  bezeichnet. 
Auch  die  Schale  vieler  Rhizopoden  (Acyttarien)  kann  hierher  gerechnet 
werden,  indem  sie  z.  B.  bei  den  Polythalamien  bald  eine  Oeffuung,  bald 
mehrere,  für  den  Austritt  besonderer  Fortsätze  (Pseudopodien)  des  Plasma 
darbietet.  Wenn  eine  ganze  Summe  von  hautlosen  Zellen,  die  in  einer 
einzigen  Schicht  neben  einander  an  der  Oberfläche  liegen,  nun  an  dieser 
freien  Seite  eine  Membran  ausscheiden,  so  wird  diese  als  Cuticula  be- 
zeichnet. Diese  Cuticularbildungen  können  ebenso  wie  die  vollständige 
Zellmembran,  in  vielfachen  Schichten  über  einander  liegen  und  von  Poren- 
canälen durchbohrt  sein,  wie  es  z.  B.  die  mächtigen  festen  Ohitindecken 
der  Grliederthiere  meistens  sind.  Aber  auch  Epithelien,  die  aus  Hautzellen 
bestehen,  können  an  ihrer  Oberflächenseite  noch  eine  besondere  Cuticula 
ausscheiden,  und  die  Substanz  dieser  Cuticula  kann  von  derjenigen  der 
Zellmembran  verschieden  sein,  wie  es  z.  B.  bei  den  Pflanzen  gewöhnlich 
der  Fall  ist.  Bei  den  Flimmerzellen  bleibt,  falls  dieselben  eine  Meinbrau 
besitzen,  die  Haut  an  denjenigen  Stellen  durchbohrt,  an  welchen  die  Cilien, 
als  Fortsätze  des  Plasma,  hervortreten. 

Durch  diese  partiellen  Ausscheidungen,  die  man  auch  wohl  Extra- 
cellularsubstanzen  genannt  hat,  werden  wir  übergeführt  zu  den  Inter- 
cellular-Substanzen,  oder  allgemeiner  gesagt,  den  Interplastidar- 
Sub  stanzen,  welche  in  der  thierischen  Histologie  eine  so  hervorragende 
Rolle    spielen   und   durch   ihre    massenhafte    Entwickelung    namentlich  die 


284  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Gewebsgruppe  der  Bindesubstanzen  so  sehr  auszeichnen.  Seit  man  diese 
Gewebe  genauer  zu  untersuchen  begonnen  bat,  spinnt  sich  ein  endloser 
und  durch  die  Unklarheit  und  Verworrenheit,  mit  der  er  geführt  wird, 
höchst  unerquicklicher  Streit  darüber  fort,  ob  diese  Intercellularsubstanzen, 
wie  sie  namentlich  im  Knochen,  Knorpel,  Bindegewebe,  Schleimgewebe  etc. 
so  massig  entwickelt  sind,  als  Difl'erenzirungsproducte  des  Plasma  selbst, 
aus  einer  Metamorphose  desselben  hervorgegangen,  oder  vielmehr  als  Aus- 
scheidungsproducte  desselben,  in  die  die  Substanz  des  Plasma  selbst  nicht 
eingeht,  zu  betrachten  sind.  Nach  dem,  was  wir  oben  bereits  über  die 
Unmöglichkeit  einer  scharfen  Scheidung  der  Differenzirung  und  Secretion 
gesagt  haben,  erscheint  der  grosse  Aufwand  von  Zeit,  Mühe  und  Worten, 
den  mau  an  diese  Frage  gewendet  hat,  ziemlich  überflüssig  vergeudet. 
Auch  das  einseitige  Bestreben,  das  hierbei  die  Meisten  zeigten,  indem  sie 
entweder  alle  Intercellularsubstanzen  nur  als  Differenziruiigs-  oder  nur 
als  Secretionsproducte  gelten  lassen  wollten,  hat  eine  einfache  und  natur- 
gemässe  Beantwortung  dieser  viel  ventilirteu  Frage  verhindert.  Durch  ver- 
gleichende Untersuchung  der  verschiedenen  Intercellularsubstanzen  bei 
niederen  und  höheren  Thieren  überzeugt  man  sich  leicht,  dass  dieselben, 
ganz  gleich  der  Zellmembran,  im  einen  Falle  fast  nur  durch  Differen- 
zirung, im  andern  Falle  fast  nur  durch  Ausscheidung  aus  dem  Plasma 
entstehen,  während  dazwischen  alle  möglichen  Uebergangsstufen  zwischen 
beiden  vorkommen,  und  oft  Auscheidnng  und  Differenzirung  der  oberflächlichen 
Plasmaschichten  gleichmässig  zur  Ablagerung  der  Zwischensubstanz  bei- 
tragen. Auch  für  die  Lösung  dieser  Frage  war  das  Dogma  von  der  con- 
stanten  Anwesenheit  und  Dauer  der  Zellmembran  sehr  hinderlich. 

Die  Ausscheidung  der  Intercellularsubstanzen  geschieht  ganz  wie  die- 
jenige der  geschichteten  Zellenmembran,  und  in  vielen  Fällen  kann  man  sich, 
z.  B.  bei  verschiedenen  Knorpelformen,  davon  überzeugen,  dass  die  an- 
fänglich vollkommen  deutlich  geschichteten  und  in  ablösbare  concentrische 
Schalen  zu  spaltenden  Membranen  späterhin  in  eine  vollkommen  homogene 
Zwischensubstanz  übergehen.  Ebenso  können  Porencanäle  die  geschichteten 
oder  später  homogenen  Zwischensubstanzen  ganz  ebenso  wie  die  geschich- 
tete isolirbare  Membran  und  die  einseitigen  geschichteten  Cuticularbildungen 
durchsetzen.  Die  verästelten  Canäle,  welche  die  concentrischen  Knochen- 
lamellen durchsetzen  und  von  fadenartigen,  nackten  Ausläufern  des  Plasma 
erfüllt  sind,  haben  dieselbe  Entstehung  und  dieselbe  morphologische  Be- 
deutung wie  die  Porencanäle  der  Cuticularbildungen ,  wie  dies  namentlich 
von  Leydig  nachgewiesen  worden  'ist.  Während  diese  Canäle  bei  den 
letzteren  dem  Verkehr  des  Plasma  mit  der  Aussenwelt  (der  Perspiration  etc.) 
dienen,  vermitteln  sie  bei  den  ersteren,  indem  die  Ausläufer  und  Plasma- 
Zweige  der  verschiedenen  Zellen  sich  begegnen  und  verbinden,  den  Stoff- 
verkehr der  Zellen  unter  einander. 

Wohl  die  merkwürdigsten  von  allen  äusseren  Plasmaproducten  sind 
die  äusserst  zierlich  gestalteten  und  formenreichen  Anhänge,  welche  in  Ge- 
stalt von  Chitinfortsätzen  (Schuppen,  Haaren,  Stacheln,  Pinseln  etc.)  auf  der 
Chitindecke  der  Gliederthiere  auftreten  und  gleich  dieser  selbst  Aus- 
schwitzungen  des  Plasma  sind.     Sic  verdienen  desshalb  eine  besondere  Er- 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  285 

wähnung,  weil  sie  zeigen,  wie  ausserordentlich  weit  die  formbildende  Kraft 
der  kleinsten  Theile  der  Piastiden,  dieser  wahrhaften  „Bildnerinnen"  der 
schönsten  organischen  Formen,  reicht.  Bekanntlich  besitzen  diese  exsu- 
dirten  Anhänge  die  zierlichste  und  complicirteste  Structur,  obwohl  sie  nicht, 
wie  man  früher  glaubte,  aus  einzelnen  Zellen  zusammengesetzt  sind. 

Cb.     Innere   Plasma  -  Producte. 
(„Zellsaft  und  Zellinhalt".) 

Weit  mannichfaltiger  noch,  als  die  form  erreichen  und  auch  chemisch 
sehr  differenten  Stoffe,  welche  die  Piastiden  nach  aussen  auf  ihre 
Oberfläche,  sei  es  durch  Differeuzirung,  sei  es  durch  Secretion,  oder 
durch  beide  Processe  vereinigt,  abscheiden,  sind  diejenigen  theils 
formlosen  theils  geformten  Bestandteile,  welche  man  gewöhnlich  als 
„  Zelleninhalt*'  bezeichnet,  und  welche  wir,  da  sie  sämmtlich  vom 
Plasma  umschlossen  sind,  als  innere  Plasma  -  Producte  zusammen- 
fassen. 

Wir  können  diese  inneren  Ablagerungen  in  der  Substanz  der 
Piastiden  in  flüssige  und  feste  eintheilen,  oder,  da  sich  zwischen  die- 
sen beiden  Aggregatzuständen  gerade  hier  alle  möglichen  Uebergäng-e 
durch  das  „Festflüssige"  hindurch  finden,  in  formlose  und  geformte. 
Zu  den  formlosen  inneren  Plasma- Produkten  rechnen  wir  insbe- 
sondere den  sogenannten  „Zellsaft",  ferner  das  flüssige  Fett  der  Fett- 
zellen etc.  Unter  den  geformten  inneren  Plasma-Producten  sind  die 
Krystalle  im  Inneren  der  Piastiden,  die  Concretionen  (z.  B.  Amylum- 
körner)  die  Pigmentkörner  etc.  oft  von  grosser  Bedeutung. 

Unter  den  formlosen  inneren  Plasmaproducten  ist  vor  allem  wegen 
seines  oft  sehr  bedeutenden  Volumens  der  sogenannte  „Zellsaft"  hervor- 
zuheben, der  namentlich  in  sehr  vielen  Pflanzenzellen  den  bei  weitem  gröss- 
ten  Theil  des  Zellvolums  ausfüllt.  Das  Verhältniss  dieses  Zellsaftes  zu  dem 
Plasma  wurde  früherhin  gewöhnlich  der  Art  aufgefasst,  dass  man  denselben 
als  den  wesentlichsten  Theil  des  Zellinhalts  betrachtete  und  dem  Plasma 
daneben  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  zuschrieb.  Hierzu  veranlasste 
namentlich  das  eigenthümliche  Verhalten  des  Zellsaftes  zu  dem  Plasma  in 
sehr  vielen  grossen  Pflanzenzellen.  Das  Plasma  scheint  hier  nur  als  eine 
sehr  dünne,  körnige  Schicht,  die  aber  einen  geschlossenen  Sack  darstellt, 
die  Innenfläche  der  Cellulose -Membran  auszukleiden,  und  diese  wandstän- 
dige Plasmaschicht,  der  sogenannte  „Primordialschlauch",  ist  durch  viele 
verzweigte  Plasmafäden,  welche  von  ihm  ausgehen  und  den  wässerigen 
Zellsaft  durchziehen,  verbunden  mit  einem  gleichen,  sehr  viel  kleineren 
Sacke,  der  als  eine  zarte  Hülle  den  Nueleus  unmittelbar  umschliesst.  Un- 
tersucht man  die  so  gebildeten  Zellen  während  ihres  Lebens,  so  findet  man 
die  zähflüssige  schleimartige  Substanz  des  Plasma,  die  sich  mit  dem  wässe- 
rigen Zellsaft  nicht  mischt,  in  einer  schnelleren  oder  langsameren  strömen- 
den Bewegung,  welche  der  activen  Contractilität  des  Plasma  ihren  Ursprung 


286  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

verdankt.  Als  die  bekanntesten  Beispiele,  an  denen  sieh  diese  „Strömungen" 
des  contractilen  Plasma  leicht  demonstriren  lassen,  werden  gewöhnlich  die 
Zellen  der  Staubfädenhaare  von  Tradescantiu  angeführt.  Dieselben  sind  in 
der  gleichen  Form  an  sehr  vielen  grossen  Pflanzenzellen  leicht  wahrzuneh- 
men, unter  den  thierischen  Zellen  besonders  an  den  durch  beträchtliche 
Grösse  ausgezeichneten  Knorpelzelleu  (z.  B.  au  den  Medusententakelu) 
und  „Blasenzellen"  des  blasigen  Bindegewebes  (z.  B.  der  Crustaceen, 
Schnecken). 

Diese  eigenthiimliche  Yertheilung  des  Plasma,  auf  die  man  mit  Recht  gros- 
ses Gewicht  gelegt  hat,  ist  zurückzuführen  auf  die  Fähigkeit  des  Plasma,  Va- 
cuoleu  zu  bilden,  d.  h.  wässerige  Flüssigkeiten,  Salzlösungen  etc.,  mit 
denen  sich  seine  eigene  Substanz  nicht  mischt,  in  sein  Inneres  aufzunehmen 
und,  ohne  sich  damit  zu  imbibiren,  sie  in  Form  von  grösseren  und  kleineren 
Tropfen  in  seiner  Substanz  zu  vertheileu.  Dabei  kann  während  des  Durch- 
tritts der  wässerigen  Flüssigkeit  durch  die  äusseren  Plasmaschichten  hin- 
durch die  erstere  durch  unmittelbare  Einwirkung  der  letzteren  verändert 
werden,  so  dass  nun  die  Flüssigkeitstropfen  oder  Vacuolen  im  Innern  be- 
reits als  „innere  Plasma-Producte"  erscheinen.  Werden  die  Vacuolen  gross 
und  zahlreich,  so  fliessen  sie  im  Innern  der  Plastide  zu  einem  einzigen 
Körper  zusammen,  der  fast  die  ganze  geräumige  Höhlung  der  Zellenmem- 
bran ausfüllt,  so  dass  das  Plasma,  zurückgedrängt  auf  die  Ausseufläche  des 
Kerns  und  die  Innenfläche  der  Membran,  nur  noch  durch  diese  beiden 
Schichten  repräseutirt  wird,  sowie  durch  die  beide  Schichten  verbindenden, 
verästelten  Plasmaläden,  welche  die  Beste  der  ursprünglich  die  Vacuolen 
trennenden  Plasmahäute  sind.  Wenn  der  A'ucleus  nicht  im  Innern  der 
Plastide  liegen  bleibt,  sondern  sich  an  deren  Peripherie  begiebt,  so  kann 
zuletzt  die  ganze  Flastide  zu  einer  einzigen  grossen  blasenförmigen  V acuole 
ausgedehnt  werden,  in  der  nur  eine  ganz  düune,  den  Kern  an  irgend  einer 
Stelle  einschliessende  Plasmaschicht,  gleich  einer  dünnen  Eiweissmembran, 
den  grossen  wässerigen  Tropfen  umgiebt. 

Gleichwie  die  Plastide  so  durch  Vacuolen -Bildung,  durch  Aufnahme 
wässeriger  Zellflüssigkeit  in  das  Innere  des  Plasma,  zu  einer  dünnwandigen 
Plasmablase  ausgedehnt  werden  kann,  so  kann  dasselbe  auch  durch  Pro- 
duetion  anderer  Stoffe  im  Innern  geschehen,  z.  B.  von  Fett.  Die  gewöhn- 
lichen Fettzellen  des  Bindegewebes  der  Wirbelthiere  sind  derartige  Plasma- 
blasen, deren  ganzes  Innere  von  einer  einzigen  grossen  Fettkugel,  gewisser- 
uiaassen  einer  Fett-Alveole,  ausgefüllt  wird,  während  in  irgend  einer  Stelle 
der  das  Fett  umhüllenden  Plasmaschicht,  die  als  eine  besondere  Membran 
erscheint,  der  Kern  eingeschlossen  bleibt. 

Eine  weitere  Uebersicht  aller  der  unendlich  verschiedenartigen  Stoffe, 
die  im  Innern  des  Plasma  abgelagert  werden  können,  hat  für  unsere  Be- 
trachtung hier  weiter  kein  besonderes  Interesse  und  es  sollen  blos  einige 
von  den  wichtigsten  derselben  kurz  namhaft  gemacht  werden.  Unter  den 
geformten  inneren  Plasma  -  Producten  sind  von  besonderem  Interesse  die 
Krystalle,  theils  von  organischen,  theils  von  anorganischem  Salzen,  von 
Fetten,  gewissen  Eiweissstoffen  etc.,  die  nicht  selten  im  Plasma  gebildet 
werden.     Sehr  wichtig  sind  ferner   die  verschiedenartigen  Coueretioneu, 


I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  287 

welche  namentlich  in  der  Pflanzenzelle  (z.  B.  als  Amylumkörner)  auftreten, 
und  durch  ihre  deutliche  concentrische  Schichtung  ihre  allmählige  Ent- 
stehung als  Absatz  um  kleine  Bildungscentra  beweisen.  Die  meisten  der 
im  Plasma  eingebetteten  geformten  Körper,  die  wir  als  innere  Plasrna- 
Producte  bezeichnen  können,  sind  noch  sehr  wenig  bekannt,  so  z.  B.  die 
verschiedenen  Pigmente,  die  eiweissartigen  Körner,  welche  in  dem  Plasma 
sehr  verbreitet  sind  etc. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  hier  noch  die  Nesselkapseln, 
insbesondere  der  Coelenteraten,  welche  wohl  zu  den  complicirtesten  und 
künstlichsten  Producten  gehören  dürften,  die  das  Plasma  der  einzelneu 
Zellen  in  seinem  Inneren  bildet.  Dieselben  bestehen  aus  einer  im  Plasma 
gelegenen  hartwandigen  Kapsel,  welche  an  einer  Stelle  eine  Oeffnung  hat. 
An  dieser  ist  ein  sehr  langer,  oft  eomplicirt  gebauter  und  mit  Widerhaken 
versehener  Faden  befestigt,  welcher  spiralig  im  Innern  der  Kapsel  aufge- 
rollt liegt.  Das  Plasma  der  Zelle  nmgiebt  die  Kapsel  als  eine  dünne 
Schicht,  in  welcher  an  einer  Stelle  der  Kern  eingebettet  ist.  Wird  die 
Nesselzelle  berührt,  so  springt  der  elastische  Faden  aus  der  Kapsel  heraus 
und  mit  ihm  entleert  sich  die  giftige  Flüssigkeit,  die  im  Innern  der  Kapsel 
eingeschlossen  war. 

D.    Plasma  und  Nucleus  als  active  Zellsubstanz. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  die  Plasma-Produete  lediglich  als 
passive  Erzeugnisse  des  Plasma,  ohne  Rücksicht  auf  den  Kern  be- 
trachtet, und  es  erscheint  dies  gerechtfertigt,  nach  dem,  was  wir  vom 
Verhältniss  des  Kerns  zum  Plasma  wissen.  Da  dieses  Verhältniss,  ob- 
wohl noch  sehr  dunkel,  doch  von  der  grössten  Wichtigkeit  und  na- 
mentlich für  unsere  Betrachtung  der  Piastiden  als  morphologischer 
Individuen  von  besonderem  Interesse  ist,  so  möge  es  gestattet  sein, 
hier  mit  wenigen  Worten  unsere  Auffassung  desselben  zu  erläutern. 

Im  Allgemeinen  können  wir  bei  allen  Piastiden  das  Plasma  als 
die  active,  formende  Substanz  oder  Keimsubstanz  („germinal  matter" 
Beale'sJ  und  die  Plasma-Produete  entsprechend  als  die  passive,  ge- 
formte Substanz  („formed  matter"  Beale'sJ  bezeichnen.  Bei  den 
Zellen,  wo  neben  dem  Plasma  auch  noch  der  Kern  als  active  Materie 
wirksam  ist,  haben  wir  Kern  und  Plasma  zusammen  als  formende 
Substanz  aufzufassen.  Allerdings  ist  der  Kern,  seinem  ersten  Ur- 
sprünge nach,  als  Differenzirungs-Product  des  Plasma  zu  betrachten, 
aber  in  dem  Sinne,  dass  nunmehr  Plasma  und  Kern  als  coordinirte 
Theile,  gewissermaassen  als  verschiedene  Organe  gleichen  Ranges, 
neben  einander  stehen,  und  differente  Functionen  vollziehen. 

Wenn  wir,  wie  späterhin  gezeigt  werden  wird,  die  Form  jedes 
Organismus  als  das  Product  aus  zwei  verschiedenen  Factoren,  nämlich 
aus  den  ererbten  Eigenschaften  seiner  Materie  und  aus  der  Anpas- 
sung an  die  Verhältnisse  der  Aussenwelt  zu  betrachten  haben,  so 
müssen  wir  dieses  Gesetz  auch  auf  die  Beurtheilung  der  Elementar- 


288  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Organismen,  der  Piastiden  anwenden  können.  Hier  scheinen  nun  die 
beiden  Functionen  der  Erblichkeit  und  der  Anpassung  bei  den  kern- 
losen Cytoden  noch  nicht  aut  differente  Substanzen  vertheilt  zu  sein, 
sondern  der  gesammten  homogenen  Materie  des  Plasma  zu  inhäriren, 
während  dieselben  bei  den  kernführenden  Zellen  in  der  Weise  auf 
die  beiden  heterogenen  activen  Substanzen  der  Zelle  vertheilt  sind, 
dass  der  innere  Kern  die  Vererbung  der  erblichen  Charactere 
das  äussere  Plasma  dagegen  die  Anpassung,  die  Accommodation 
oder  Adaptation  an  die  Verhältnisse  der  Aussenwelt  zu  besorgen  hat. 

Für  diese  Autfassung  dürfte  auch  namentlich  die  bedeutende  Rolle 
sprechen,  welche  der  Kern  allgemein  bei  der  Fortpflanzung  der 
Zellen  spielt.  Fast  immer  geht  der  Theilung  des  Plasma  die  Thei- 
lung  des  Zellenkerns  vorher  und  die  beiden  so  entstandenen  Kerne 
wirken  ipm  als  selbstständige  Attractionscentra,  um  welche  sich  die 
Substanz  des  Plasma  sammelt.  Das  Plasma  dagegen  ist  von  grös- 
serer Bedeutung  für  die  Ernährung  der  Zelle.  Ihm  scheint  bei  der 
Zellenvermehrung  eine  mehr  passive  Rolle  zugetheilt  zu  sein,  und  seine 
Hauptaufgabe  scheint  in  der  Zuführung  des  Nahrungs- Materials  zum 
Kerne,  und  in  der  Vermittlung  des  Verkehrs  der  Zelle  mit  der  Aus- 
senwelt zu  liegen.  Wenn  wir  denigemäss  das  Plasma  vorzugsweise 
als  den  nutritiven,  den  Nucleus  dagegen  vorzugsweise  als  den 
reproductiven  Bestandteil  der  Zelle  ansehen  können,  und  wenn 
wir  dazu  den  im  fünften  Buche  nachgewiesenen  Zusammenhang  einer- 
seits zwischen  der  Ernährung  und  Anpassung,  andererseits  zwischen 
der  Fortpflanzung  und  Erblichkeit  in  Erwägung  ziehen,  so  werden  wir 
mit  Recht  den  Kern  der  Zellen  als  das  hauptsächliche  Organ  der 
Vererbung,  das  Plasma  als  das  hauptsächliche  Organ  der  An- 
passung betrachten  können.  Bei  den  Cytoden,  wo  Kern  und  Plasma 
noch  nicht  differenzirt  sind,  werden  wir  das  gesammte  Plasma  als 
das  gemeinsame  Organ  beider  Functionen  zu  betrachten  haben. 

Hieraus  ergiebt  sich,  dass  der  Kern  nicht  bloss  als  ein  Reservekör- 
per für  das  Plasma  zu  betrachten  ist,  wie  diese  Auflassung  namentlich 
von  Beale  neuerdings  vertreten  worden  ist.  Gewiss  ist  es  ein  gros- 
ses Verdienst  von  Beale,  die  activen  Theile  der  Gewebe  (als  „germmal 
matter''  oder  Keimsubstanz)  als  die  eigentlich  lebenden  und  bildenden 
Elementar-Organismen,  scharf  von  den  passiven  Theilen  (der  „formed 
matter",  oder  geformten  Substanz)  getrennt  zu  haben.  Auch  ist  es  ge- 
wiss sehr  richtig,  wenn  er  die  Zellmembran  und  die  Intercellular- 
substanzen  lediglich  als  geformte  Substanzen  und  das  Plasma  nebst 
Kern  vorzugsweise  als  bildende  Substanz  auffasst.  Dagegen  geht  er 
wohl  zu  weit,  wenn  er  das  Plasma  stets  in  demselben  Grade,  als  es 
äusserlich  durch  Bildung  anderer  Stoffe  abgenutzt,  aufgebraucht  wird, 
von  innen   her,    durch   Auflösung   der  äussern  Kernschichten,    ersetzt 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:   Organe.  289 

werden  lässt.  Plasma  und  Kern  sind  mindestens  in  vielen  Fällen 
doch  wohl  als  wesentlich  heterogene  Piastiden- Theile  zu  betrachten 
und  dem  Kern  vorzugsweise  (wenn  auch  nicht  allein)  die  Fortpflan- 
zung und  damit  die  Vererbung  der  erblichen  Eigenschaften  der  Zelle, 
dem  Plasma  dagegen  vorzugsweise  die  Ernährung  und  damit  zugleich 
die  Anpassung  derselben  an  die  Umgebung,  zuzuschreiben. 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung: 

Organe  oder  Werkstücke. 
IL    1.    Morphologischer  Begriff  des  Organes. 

Die  physiologische  Individualität  des  Organismus  bleibt  bei  zahl- 
reichen niederen  Organismen,  sehr  vielen  Protisten,  den  einzelligen 
Pflanzen,  und  den  einzelligen  Stammformen  der  Thiere  auf  die  morpho- 
logische Individualität  erster  Ordnung,  auf  die  Plastide  beschränkt, 
ohne  sich  jemals  auf  eine  höhere  Stufe  zu  erheben.  Sobald  in  diesen 
Fällen  eine  Vermehrung  der  Piastiden  durch  Theilung  eintritt,  ist  da- 
mit zugleich  eine  Vermehrung  der  physiologischen  Individuen  gegeben, 
die  als  selbstständige  Lebenseinheiten  eine  unabhängige  Existenz 
führen. 

Bei  der  grossen  Mehrzahl  derjenigen  Lebewesen,  welche  gegen- 
wärtig die  Erde  bevölkern,  erhebt  sich  die  physiologische  Individuali- 
tät über  den  Rang  der  einfachen  Piastiden,  der  Form-Individuen  er- 
ster Ordnung,  indem  mehrere  Piastiden  zu  einem  geselligen  Verbände 
zusammentreten,  der  nun  als  eine  höhere  physiologische  Einheit  in 
das  Leben  tritt.  Es  entstehen  dadurch  die  verschiedenen  morphologi- 
schen Individuen  höherer  Ordnung,  welche  wir  oben  als  Organe,  Anti- 
meren,  Metameren,  Personen  und  Stöcke  unterschieden  haben. 

Die  wesentlichsten  und  obersten  Gesetze,  welche  diese  Vereini- 
gung der  einfachen  Form-Individuen  erster  Ordnung  zu  zusammenge- 
setzten leiten,  sind  die  Gesetze  der  Aggregation  oder  Gemeinde- 
bildung und  der  Differenz irung  oder  Arbeitstheilung.  Zunächst 
tritt  eine  Mehrzahl  von  gleichartigen  Piastiden  zu  einer  einfachen, 
aus  homogenen  Elementen  bestehenden  Gesellschaft  zusammen.  Die 
Erhöhung  der  Leistungsfähigkeit,  die  physiologische  Vervollkommnung, 
welche  diese  Gemeinde  von  gleichartigen  Piastiden  als  höhere  Einheit 
auszeichnet,  besteht  zunächst  bloss  in  einem  quantitativen  Zuwachs 
der  Kräfte.  Mehrere  gleiche  Individuen  vereinigt  vermögen  mehr 
Kraft  zu  entwickeln,  als  ein  einziges  allein.  Allmählig  aber  geht  aus 
dieser  quantitativen  Vervollkommnung  durch  Aggregation  die 
viel  wichtigere  qualitative  Vervollkommnung  durch  Differenzirung 
hervor.     Es   treten    nämlich    zunächst    sehr    geringe,    bald    aber   be- 

Haeckel,  Generelle  Morphologie,  19 


290  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

deutendere  Unterschiede  zwischen  den  ursprünglich  gleichartigen  Plasti- 
den  auf,  welche  endlich  zu  einer  vollständigen  Arbeitsteilung  führen. 
Indem  die  einzelnen  Cytoden  oder  Zellen  ihre  individuelle  Selbst- 
ständigkeit dadurch  mehr  oder  weniger  aufgeben,  und  in  die  Dienste 
der  höheren  Einheit,  des  Piastidenstockes,  treten,  entwickeln  sie  be- 
stimmte Eigenthümlichkeiten  einseitig  nach  gewissen  Richtungen  hin 
und  ergänzen  und  bedingen  sich  dadurch  gegenseitig.  Die  nähere 
Erörterung  dieser  tectologischen  Grundgesetze,  nach  denen  aus  einer 
Vielheit  von  einfachen  Formindividuen  erster  Ordnung  durch  Aggre- 
gation und  Differenzirung  Individuen  höherer  Ordnung  entstehen, 
bleibt  dem  elften  Capitel  vorbehalten. 

Die  Bezeichnungen,  welche  die  verschiedenen  Autoren  diesen 
mannichfaltigen  höheren  Form-Individuen  beilegen,  die  noch  nicht  den 
Rang  der  Person  (des  Individuums  im  gewöhnlichen,  engeren  Sinne) 
erreichen,  sind  sehr  verschieden.  Man  nennt  sie  „höhere  Eiern  entar- 
theile, Gewebe,  Organe,  Systeme,  Apparate"  u.  s.  w.,  indem  man  bald 
mehr  an  die  morphologische,  bald  mehr  an  die  physiologische  In- 
dividualität derselben  denkt.  Eine  consequente  Unterscheidung  und 
klare  Eintheilung  derselben  ist  aber  noch  kaum  versucht  und  auch 
nur  sehr  schwierig  durch  die  ganze  bunte  Organismen-Welt  hindurch 
auszuführen.  Am  meisten  haben  sich  mit  dieser  Aufgabe  die  Anthro- 
potomen  beschäftigt,  denen  aber  gewöhnlich  der  Ueberblick  über  die 
vielfach  verschiedenen  einfacheren  Organismen  zu  sehr  abgeht,  um 
aus  ihrer  genauen  Kenntniss  der  organischen  Zusammensetzung  des 
menschlichen  Körpers  eine  allgemein  anwendbare  Classification  der 
Organe  verschiedener  Ordnung  für  alle  Organismen  ableiten  zu  kön- 
nen. In  der  Regel  findet  man  die  Angabe,  dass  der  menschliche  Kör- 
per (und  überhaupt  der  Wirbelthier  -  Organismus)  zusammengesetzt  sei 
aus  vier  verschiedenen,  über  einander  stehenden  morphologischen  Ein- 
heiten, nämlich  1.  Apparaten,  2.  Systemen,  3.  Organen,  und  diese 
letzteren  endlich  4.  aus  den  höheren  und  niederen  Elementartheilen 
(Geweben  der  Zellen).  Wir  glauben,  dass  man  alle  diese  verschiede- 
nen Theil-Kategorieen  am  besten  unter  dem  gemeinsamen  Namen  der 
Organe  zusammenfasst,  und  unter  diesen  Organe  verschiedener  Ord- 
nungen oder  Stufen  unterscheidet. 

Der  Begriff  des  Organ  es  oder  „Werktheiles,  Werkzeuges"  ist 
ursprünglich  ein  rein  physiologischer  und  es  bedarf  daher  einer  Recht- 
fertigung, wenn  wir  denselben  zur  Bezeichnung  der  morphologischen 
Individualität  zweiter  Ordnung  verwenden.  Diese  Rechtfertigung  liegt 
zunächst  schon  darin,  dass  die  Leistungen  jedes  Werkzeuges  nur  zum 
Theile  durch  chemisch-physikalische  Eigenschaften,  zum  Theile  aber 
zugleich,  und  sehr  oft  zum  grössten  Theile,  durch  seine  Form  und 
durch  die  der  äusseren  Form  zu  Grunde  liegende  innere  Structur  oder 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  291 

Zusammensetzung  aus  mehreren  Formen  bedingt  ist.  Für  die  Werk- 
zeuge des  Lebens,  die  wir  im  engeren  Sinne  „Organe"  nennen,  gilt 
dies  um  so  mehr,  da  sie  meistens  ungleich  complicirtere  Form-  und 
Stractur- Verhältnisse  zeigen,  als  die  feinsten  Organe  oder  Maschinen, 
die  wir  künstlich  zu  construiren  im  Stande  sind.  Auf  diese  Zusam- 
mensetzung des  Organs  aus  einer  Mehrzahl  von  untergeordneten  Form- 
einheiten gründete  Victor  Carus  seine  morphologische  Characteristik 
des  Organs  als  einer  „Summe  bestimmter  Elem entartheile  oder  Gewebe 
in  constanter  Verbindung  und  Form."  Diese  Definition  ist  aber  zu 
allgemein,  weil  sie  eben  so  gut  auf  die  Form -Individuen  dritter  bis 
bis  sechster  Ordnung  passt.  Diese  letzteren,  sowie  auch  den  Begriff 
des  Gewebes  müssen  wir  ausschliessen  und  den  Ausdruck  Elemen- 
tartheil durch  den  bestimmten  morphologischen  Begriff  der  „Plastide" 
ersetzen,  andererseits  den  einheitlichen  Character  des  Organs  als 
eines  Ganzen  hervorheben. 

Der  morphologische  Begriff  des  Organs  im  Allgemeinen  lässt  sich 
nach  dieser  unserer  Auffassung  feststellen  als  „eine  constante  einheit- 
liche Raumgrösse  von  bestimmter  Form,  welche  aus  einer  Summe 
von  mehreren  bestimmten  Piastiden  (entweder  von  Cytoden  oder  von 
Zellen,  oder  von  Beiden),  in  constanter  Verbindung  zusammengesetzt 
ist,  und  welche  nicht  die  positiven  Charactere  der  Form -Individuen 
dritter  bis  sechster  Ordnung  erkennen  lässt."  Diese  morphologische 
Definition  des  Organs  mag  insbesondere  ihres  th eilweise  negativen 
Inhalts  wegen  sehr  mangelhaft  erscheinen,  wird  aber  bei  der  ausser- 
ordentlichen Verschiedenartigkeit  der  verschiedenen  Organe  nicht  leicht 
durch  eine  bessere  allgemein  anwendbare  zu  ersetzen  sein. 

II.    2.   Eintheilung   der  Organe    in  verschiedene  Ordnungen. 

Nachdem  wir  den  morphologischen  Begriff  des  Organs  festgestellt 
haben,  müssen  wir,  um  wenigstens  eine  allgemeine  Uebersicht  über 
die  unendlich  mannichfaltige  Zusammensetzungs -Weise  desselben  zu 
gewinnen,  den  Versuch  wagen,  nach  dem  höheren  oder  geringeren 
Grade  ihrer  Zusammensetzung  verschiedene  Ordnungen  von  Organen 
zu  unterscheiden.  Allerdings  ist  dieser  Versuch  sehr  schwierig,  da 
man  die  morphologischen  Einheiten  verschiedenen  Banges,  welche 
sich  aus  Vielheiten  von  Piastiden  zu  Organen  verschiedener  Ordnung 
aufbauen,  in  den  mannichiältigen  Gruppen  der  Organismen  nach  ganz 
verschiedenen  Gesichtspunkten  beurtheilt  hat.  Daher  herrscht  in  den 
allgemeinen  Ansichten,  welche  hierüber  in  den  Einleitungen  zu  histo- 
logischen und  anatomischen  Handbüchern  gegeben  werden,  grosse 
Unklarheit,  und  es  ist  bekannt,  dass  in  dem  Capitel  von  der  soge- 
nannten „Classification  der  Gewebe  und  Organe"  die  seltsamsten  und 
widersprechendsten  Ansichten    zu  Tage   kommen.     Wenn    wir   unter 

19* 


292  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

möglichst  allgemeiner  Berücksichtigimg  aller  Organismen  die  Organe 
nach  ihrem  geringeren  oder  höheren  Grade  von  Complication  in 
mehrere  Kategorieen  zu  ordnen  versuchen,  so  können  wir  folgende 
fünf  Ordnungen  von  Organen  unterscheiden:  1.  Zellenfusionen  oder 
Cytocormen.  2.  Einfache  oder  homoplastische  Organe.  3.  Zusammenge- 
setzte oder  heteroplastische  Organe.  4.0rgan-Systeme.  5.  Organ-Apparate. 

Gewöhnlich  gestaltet  sich  die  Lehre  vorn  Aufbau  des  Organismus  (ins- 
besondere des  menschlichen)  zu  folgendem  Satze:  Die  Zellen  gruppiren 
sich  zur  Bildung  von  Geweben,  entweder  durch  einfache  Aggrogation  oder 
nachdem  sie  sich  bereits  zu  „höheren  Elementartheilen",  z.  B.  Zellnetzen, 
Muskel-  und  Nerven-Röhren  etc.)  vereinigt  haben ;  aus  den  Geweben  setzen 
sich  die  Organe  zusammen;  die  Organe  treten  zur  Bildung  von  Systemen 
oder  von  Apparaten  zusammen,  wobei  man  unter  letzterem  Namen  meist 
eine  physiologische,  unter  ersterem  eine  morphologische  Einheit  von  mehre- 
ren Organen  versteht.  So  sagt  z.  B  Kölliker  in  seinem  vielverbreiteten 
Handbuch  der  Gewebelehre  des  Menschen:  „Die  Elementartheile  einfacher 
und  höherer  Art  sind  nicht  regellos  im  Körper  zerstreut,  sondern  nach  be- 
stimmten Gesetzen  zu  den  sogenannten  Geweben  und  Organen  vereint. 
Mit  dem  ersten  Namen  bezeichnet  man  jede  gesetzmässige,  in  gleichen  Theilen 
immer  in  derselben  Weise  wiederkehrende  Anordnung  der  Elementar- 
theile, mit  dem  eines  Organes  dagegen  eine  gewisse  Zahl  von  E  lerne u- 
tartheilen  von  bestimmter  Form  und  Verrichtung.  Vereinen  sich  mehrere 
oder  viele  Organe  gleicher  oder  verschiedener  Art  zu  einer  höheren  Ein- 
heit, so  heisst  dies  ein  System. u  Die  Organe  werden  dann  weiter  in  ein- 
fache und  zusammengesetzte  eingetheilt,  je  nachdem  sie  nur  aus  einem  ein- 
zigen oder  aus  mehreren  Geweben  zusammengesetzt  sind.1) 

Am  schärfsten  sind  diese  Organe  verschiedener  Ordnung  von  Victor 
Carus  unterschieden  und  characterisirt  worden,  welcher  den  zusammen- 
gesetzten Organismus  sich  ebenfalls  aus  Geweben,  Organen  und  Systemen 
aufbauen  lässt.    Er  versteht  unter  Geweben  „die  an  verschiedenen  Stellen 


l)  Kölliker  (Gewebelehre)  unterscheidet  vier  verschiedene  Hauptformen  von 
Geweben:  I.  Zellengewebe  (1.  Oberhaut.  2.  Aechte  Drüsen),  II.  Gewebe  der 
Bindesubstanz  (1.  Einfache  Bindesubstanz,  2.  Knorpel,  3.  Faserige  Bindesubstauz 
(Bindegewebe  uud  elastisches  Gewebe),  4.  Knochen  und  Zahnbein,  III.  Muskel- 
gewebe (1.  Glatte  Muskeln,  2.  Quergestreifte  Muskeln),  IV.  Nervengewebe.  Die 
aus  diesen  Geweben  zusammengesetzten  Organe  werden  von  Kölliker  folgen- 
dermaasseu  classiticirt:  A.  Ein  fache  Organe:  I.  Organe  des  Zellengewebes 
(1.  Oberhäute,  Haare,  Nägel,  Linse,  2.  Einfache  Drüsen  ohne  Bindegewebshülle). 
II.  Organe  der  Bindesubstanz  (1.  Glaskörper,  2.  Chorda  dorsalis,  gefässloser  Knor- 
pel, elastischer  Knorpel,  3.  Sehnen,  Bänder,  Fascien  etc.),  B.  Zusammenge- 
setzte Orgaue:  III.  Organe  mit  Vorwiegen  des  Zellengewebes  (Grössere  ächte 
Drüsen),  IV.  Organe  mit  Vorwiegen  der  Bindesubstauz  (1.  Gefässhaltige  Biude- 
gewebshäute,  2.  Knochen,  Zähne,  3.  Gefässe,  4.  Blutgefässdrüsen),  V.  Organe 
mit  Vorwiegen  des  Muskelgewebes  (glatte  und  quergestreifte  Muskeln),  VI.  Or- 
gane mit  Vorwiegen  des  Nervengewebes  (Ganglien,  Nerven,  Hirn,  Mark), 
VII.  Orgaue,  in  denen  alle  Gewebe  vertreten  sind  (1.  die  einzelnen  Organe  des 
Darmes,  der  Geschlechtsorgane   und  der  grösseren  Drüsen.  2.  höhere  »Siuuesorgane. 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  293 

des  Thierkörpers  auftretenden,  durch  gleiche  Form  und  gleiche  Verbindung 
der  in  ihre  Zusammensetzung  eingehenden  E leine ntartheile  characterisirten 
näheren  Formbestandtheile  der  Organe  und  Systeme",  und  unterscheidet 
„einfache  Gewebe,  welche  nicht  durch  eine  Vereinigung  mehrerer  ge- 
bildet sind"  und  „zusammengesetzte  Gewebe,  welche  ausser  eigen- 
thiimlichen  Elementen  noch  einzelne  oder  mehrere  der  einfachen  enthalten 
(Muskel-,  Nerven-  und  Drüsen-Gewebe)".  Nach  dieser  Definition  sind  aber 
die  „Gewebe"  (ebenso  wie  nach  der  von  Kölliker  gegebenen)  nicht  von 
den  „Organen"  zu  unterscheiden,  welche  nach  Carus  nur  „eine  Summe 
bestimmter  Elementartheile  oder  Gewebe  in  constanter  Verbindung  und 
Form"  sind.  Carus  unterscheidet  dann  zwar  weiter  unter  den  Organen 
„einfache  Organe,  welche  von  einem  einzigen  Gewebe  gebildet  werden 
oder  andere  Elemente  nur  mehr  zufällig  beigemengt  enthalten"  und  „zu- 
sammengesetzte Organe",  welche  aus  der  Vereinigung  mehrerer  Gewebe 
entstehen.  Indess  ist  nicht  einzusehen,  wodurch  sich  die  „einfachen  Organe" 
von  den  „einfachen  Geweben"  dann  eigentlich  unterscheiden. 

Noch  weniger  allgemein  anwendbar,  und  noch  reicher  an  Widersprüchen 
und  mangelhafter  Bestimmung  als  diese  Classification  der  Gewebe  und  Or- 
gane ist  diejenige  der  „Organ-Complexe"  höherer  Ordnung,  welche  mau 
gewöhnlich  entweder  als  „Systeme"  oder  als  „Apparate"  zusarnmenfasst, 
auch  wohl  diese  beiden  Namen  häufig,  ohne  sich  etwas  Bestimmtes  dabei 
zu  denken,  vermischt  gebraucht.  Allerdings  kann  man  den  Ausdruck 
Organ-System  zur  Bezeichnung  eines  Organ-Complexes  höherer  (vierter) 
Ordnung  beibehalten.  Er  muss  dann  aber  ausschliesslich  in  seinem  ur- 
sprünglichen morphologischen  Sinne  zur  Bezeichnung  eines  continuirlich 
zusammenhängenden  Organcomplexes  gebraucht  werden,  in  dem  ein  einziges 
Gewebe,  d.  h.  eine  einzige  Art  von  Zellen  oder  von  Zellenstöcken 
ganz  vorwiegend  als  wesentlicher  Bestandtheil  aultritt,  wie  dies  z.  B. 
beim  Nervensystem,  beim  Muskelsystem,  beim  System  der  äusseren  Haut- 
decken und  ihrer  Anhänge  der  Fall  ist.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem 
Ausdruck  Organ- Apparat,  welcher  ursprünglich  und  auch  gewöhnlich 
in  mehr  physiologischem  Sinne  gebraucht  wird,  zur  Bezeichnung  eines 
(oft  sehr  verschiedenartig  zusammengesetzten,  räumlich  getrennten  und  dis- 
continuirlicheu)  Organcomplexes,  der  blos  durch  das  gemeinsame  Kriterium 
der  gleichen  Function  verbunden  erscheint,  wie  z.  B.  der  Bewegungs- 
Apparat,  der  Ernährungs- Apparat.  Freilich  werden  in  dem  Begriffe  des 
Organ -Apparates,  wie  es  auch  bei  den  meisten  anderen  derartigen  allge- 
meinen Begriffsbildungen  so  oft  stattfindet,  physiologische  und  morphologische 
Vorstellungen  in  mehr  oder  weniger  unklarer  Weise  vermischt  angewendet, 
und  es  gelingt  daher  nur  schwer,  befriedigende  Definitionen  dieser  höheren 
Organ-Einheiten  aufzustellen.  Jedoch  kann  man  den  Begriff  des  Organ- 
Apparates  auch  zur  Bezeichnung  eines  rein  morphologischen  Organ- 
Complexes  beibehalten,  eines  solchen  einheitlich  abgeschlossenen  Ganzen 
nämlich,  welches  aus  mehreren  verschiedenen  einfachen  und  zusammen- 
gesetzten Organen  aufgebaut  ist,  in  welchem  aber  nicht,  wie  beim  Organ- 
System,  eine  einzige  Plastiden-Art  oder  eine  einzige  Gewebs-Form  über  die 
übrigen    das    volle  Uebergewieht  hat;    z.  B.  der  Bewegungs-Apparat  der 


294  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Wirbelthiere ,   bei  welchem  Knochensystern  und  Muskelsystem  gleichmässig 
stark  betheiligt  sind. 

Wir  würden  also  als  einen  höchsten  Orgau-Complex  oder  als  ein  Organ 
höchster  (fünfter)  Ordnung  den  Organ -Apparat,  und  als  einen  nächst 
tieferen  Cotnplex  (als  Organ  vierter  Ordnung)  das  Organ- System  hin- 
stellen können.  Als  zwei  nächst  niedere  Ordnungen  würden  wir  ferner  zu 
betrachten  haben  solche  Organe,  welche  aus  mehreren  verschiedenen  Plasti- 
den-Arten  (Geweben),  und  solche,  welche  nur  aus  einer  einzigen  Plastiden- 
Art  (einem  einzigen  Gewebe)  zusammengesetzt  sind.  Erstere  würden  als 
zusammengesetzte  oder  heteroplastische  Organe  eine  dritte  Ordnung, 
letztere  als  einfache  oder  homoplastische  Organe  (identisch  mit  den 
einfachen  Geweben)  eine  zweite  Ordnung  von  Organen  constituiren.  End- 
lich würde  die  tiefste  Stufe  oder  die  erste  Ordnung  der  Organe  von  den 
Zellfusionen  oder  Cytocormen  (den  sogenannten  „höheren  Elementar- 
theilen")  gebildet  werden. 

Was  die  Gewebe  betrifft,  so  scheinen  uns  dieselben  nicht  als  beson- 
dere morphologische  Einheiten  aufgeführt  werden  zu  können,  welche  man, 
wie  es  häufig  geschieht,  zwischen  die  Piastiden  und  die  Organe  einschieben 
möchte.  Vielmehr  fällt  der  Begriff  des  Gewebes,  da  wo  dasselbe  eine  be- 
stimmte morphologische  Einheit  repräsentirt,  also  einen  Plastiden-Complex 
der  eine  bestimmt  umschriebene  Form  besitzt,  zusammen  mit  dem  Begriff 
des  einfachen  Organs.  Dies  wird  alsbald  klar,  wenn  wir  die  beiden 
oben  angeführten  Definitionen  vom  Gewebe  und  vom  einfachen  Organ  genau 
vergleichen.  Der  Ausdruck  „Gewebe"  soll  zunächst  weiter  Nichts  bedeu- 
ten, als  eine  Vielheit  von  gleichen,  gesellig  verbundenen  Piastiden,  wobei 
man  gewöhnlich  gleichzeitig  an  die  physiologischen  Leistungen  dieses 
Zellen -Cornplexes  und  an  die,  morphologischen  Eigenthümlichkeiten  denkt 
welche  durch  die  Form,  Lagerung  und  Verbindung  der  constituirenden 
Gewebs- Elemente  bedingt  sind.  Das  Gewebe  an  sich  hat  aber  keine 
Form,  ist  räumlich  vollkommen  unbegrenzt  und  kann  in  keinem  Falle  als 
eine  morphologische  Individualität  aufgefasst  werden.  Sobald  ein  einfaches, 
aus  Zellen  von  einerlei  Art  gebildetes  Gewebe  als  ein  einheitlicher  Körper 
von  bestimmter  Form  und  Grösse  auftritt,  wird  dasselbe  zum  „einfachen 
Organ",  wie  z.  B.  in  der  Linse,  in  den  Knorpeln,  in  den  Moos  blättern  etc. 
Wir  können  daher  den  Unterschied  zwischen  einfachem  Gewebe  und  ein- 
fachem Organ  nur  darin  finden,  dass  das  letztere  als  ein  Körper  von  be- 
stimmter Form  und  Grösse  auftritt,  während  das  erstere  lediglich  eine 
Vielheit  von  eng  verbundenen  Piastiden  von  einerlei  Art  bezeichnet,  und 
die  Art  und  Weise,  in  welcher  diese  Piastiden  verbunden  sind.  Wenn  wir 
von  der  Verschiedenheit  der  Gewebe  sprechen,  so  meinen  wir  im  Grunde 
nur  die  Verschiedenheiten,  welche  sich  in  Form,  Grösse  und  Verbindungs- 
weise der  einzelnen  Piastiden  aussprechen  und  die  sogenannte  Classification 
der  Gewebe  ist  dann  weiter  Nichts  als  eine  Classification  der  verschiedenen 
Arten  von  Piastiden.  Das  „Gewebe"  ist  gewissermaassen  die  „Species" 
der  verschiedenen  Piastiden -Formen.  Wenn  wir  dagegen  die  Formen 
betrachten,  welche  durch  die  Verbindung  der  Piastiden  von  einerlei  Art 
entstehen,  so  handeln  wir  bereits  von  den  einfachen  Organen. 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  295 

Eine    eigentümliche    Stellung    und    eine    besondere    (erste)    Ordnung 
müssen   wir  hier  noch  den  sogenannten  „höheren  Elementar th eilen" 
einräumen,  welche  man  gewöhnlich  den  „einfachen  Zellen"  gegenüberstellt. 
Dieselben   werden  von   Kölliker  bezeichnet  „als  Formen,   bei  denen  eine 
ganze   Summe    von   Zellen    zur  Bildung   einer    höheren    Einheit   verbunden 
ist"1" ')     Offenbar  ist  aber  auch  diese  Definition  wieder  nicht  von  derjenigen 
des    „einfachen    Organs"    zu    unterscheiden   und   bedarf  einer   wesentlichen 
Beschränkung.     Als   höhere  Elementartheile  werden  theils  wirkliche  höhere 
morphologische  Einheiten  von  einer  bestimmten  Form  und  Grösse  bezeich- 
net,   die    durch    innige    Verbindung    oder    sogenannte    Verschmelzung    von 
Zellen  entstehen,  wie  z.  B.  die  Muskelprimitivröhren,  Nervenprimitivröhren, 
theils  aber  auch  nur  formlose  Aggregate  von  Zellen,  deren  einzelne  Zellen 
inniger    (z.    B.    netzförmig)    verbunden    sind,  als   dies  gewöhnlich  bei  der 
Gewebsbildung  der  Fall  ist,  wie  z.  B.  die  Zellnetze  des  Knochen-Gewebes. 
Diese    letzteren    (und    es    gehört    hierher    die    Mehrzahl    der    sogenannten 
höheren  Elementartheile)   werden   wir  daher  einfach  als  verschiedene  Arten 
von  Piastiden  oder  Individuen  erster  Ordnung  zu  betrachten  haben,  während 
dagegen   die   erstereu  als  bestimmte  morphologische  Einheiten  bereits  unter 
den  Begriff  der  einfachsten  Organe  fallen.     Es   gehören   dahin  die  Muskel- 
primitivfasern, die  Nervenprimitivfasern  der  Thiere,  ferner  die  sogenannten 
„Gefässe"   der   Pflanzen,   Milchsaftgefässe  und  Spiralgefässe,   die  letzteren 
allerdings  meist  sehr  bald  nach  ihrer  Entstehung  absterbend,  indem  an  die 
Stelle   des   verschmolzenen  Plasma   Luft  in   die  Zellfusionen  eintritt.     Wir 
werden  diese  Zellfusiunen,  welche  bald  aus  nicht  vollständig  erfolgter  Tren- 
nung  mehrerer  gemeinsam    entstandener   Zellen   (z.  B.   quergestreifte  Mus- 
keln)   bald     aus     wirklicher     Verschmelzung    mehrerer    vorher    getrennter 
Zellen  entstehen  (z.  B.  Spiralgefässe  der  Pflanzen)  allgemein  als  einfachste 
Organe  erster  Ordnung  den  vorher  genannten  „einfachen  Organen"  (zweiter 
Ordnung)  voranstellen  und  demnach  im  Allgemeinen  folgende  fünf  Katego- 
rieen   von   Organen  verschiedenen  Banges    unterscheiden    können:    Organe 
erster    Ordnung:    Zellfusionen    (Zellenstöcke  oder  Cytocormen  oder  höhere 
Elementartheile).     Organe    zweiter   Ordnung:  Homoplasten   (Einfache   oder 
homoplastische  Organe).     Organe   dritter  Ordnung:  Heteroplasten  (Zusam- 
mengesetzte oder  heteroplastische  Organe).    Organe  vierter  Ordnung:  Organ- 
Systeme.    Organe  fünfter  Ordnung:  Organ-Apparate. 


')  Die  „höheren  Elementartheile"  werden  von  Kölliker  in  zwei  Ab- 
theilungen gebracht:  I.  Höhere  Elementartheile,  welche  die  sie  zu- 
sammensetzenden Zellen  noch  mehr  oder  weniger  deutlich  zeigen: 
1.  Zellennetze  des  Zellengewebes,  2.  Zellennetze  aus  dem  Gewebe  der  Binde- 
substanzen, 3.  Zellennetze  aus  der  Abtheilung  des  Muskelgewebes,  4.  Zellennetze 
aus  dem  Gewebe  der  Nerven.  II.  Höhere  Elementartheile,  deren  Bil- 
duugszellen  nicht  mehr  zu  erkennen  sind:  5.  Kernlose  Fasernetze  des 
cytogenen  Gewebes,  6.  Fasernetze  der  quergestreiften  Muskelu,  7.  Fasern  und 
Fasernetze  des  Nervengewebes,  8.  Röhren  und  Röhrengeflechte  der  Blut-  und 
Lymph-Capillaren,  9.  Röhren  und  Röhrengeflechte  der  feinsten  Tracheen  der 
Wirbellosen. 

a  o  V 


296  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

A.   Organe  erster  Ordnung: 

Zellfusionen.     (Zellenstöcke,    Cytocormi,    höhere  Elementartheile.) 

Die  Organe,  welche  wir  als  einfachste  morphologische  Organe, 
also  als  Organe  erster  Ordnung  ansehen,  werden  nur  von  einem  klei- 
nen Theile  der  sogenannten  „höheren  Elementartheile"  gebildet,  näm- 
lich von  den  sogenannten  Muskelprimitivfasern  und  Nervenprimitiv- 
fasern  der  Thiere  und  von  denjenigen  sogenannten  ,.  mehrkernigen 
Zellen",  welche  bleibend  mehrere  Kerne  enthalten.  Unter  den  Pflan- 
zen sind  entsprechende  Bildungen  als  sogenannte  „Gefässe"  (Milch- 
saftgefässe  und  Spiralgefässe)  sehr  allgemein  verbreitet.  Unter  den 
Protisten  entstehen  Zellfusionen  oft  durch  „Copulation*'  (z.  B.  bei  den 
Gregarinen). 

Der  eigenthümliehe  Character  der  Zellfusionen  und  ihr  Unter- 
schied von  den  einfachen  Organen  beruht  darin,  dass  die  Verbindung 
von  mehreren  Zellen  einer  Art  an  und  für  sich  schon  die  Bildung  eines 
einfachsten  Organs,  d.  h.  eiuer  bestimmt  geformten  morphologischen 
Einheit  bedingt.  Die  Form  dieses  Organs  ist  also  unabhängig  von 
gröberen  morphologischen  Verhältnissen  des  ganzen  Organismus  und 
das  Organ  in  seinen  Eigenthümlichkeiten  wird  lediglich  durch  die 
specifische  Beschaffenheit  der  innig  verbundenen  Zellen  bedingt. 

Es  muss  hierbei  ausdrücklich  erinnert  werden,  dass  wir  unter  einer 
Zelle  nur  einen  Plasma-Klumpen  mit  einem  Kerne  verstehen  können. 
Der  häufig  gebrauchte  Ausdruck  einer  „mehrkernigen  Zelle"  ist 
eine  Contradictio  in  adjecto,  da  ja  eben  nur  die  Einheit  des  Kerns  die 
individuelle  Einheit  der  Zelle  als  eines  Elementar-Organismus  bedingt. 
Jeder  Plasmaklumpen,  der  mehr  als  einen  Kern  umschliesst,  möge  er 
nun  von  einer  Membran  umhüllt  sein  oder  nicht,  ist  eine  Vielheit  von 
Zellen,  und  wenn  diese  Vielheit  eine  bestimmte  einheitliche  Form  be- 
sitzt, so  haben  wir  sie  als  Zellenstock  zu  dem  Range  eines  Organes 
erster  Ordnung  zu  erheben.  Die  einzelne,  d.  h.  einkernige  Zelle, 
verhält  sich  zum  Zellenstock  oder  der  mehrkernigen  Zelle  ganz  eben 
so  wie  ein  einzelner  Polyp  zum  ganzen  Polypeustock.  Und  wie  bei 
den  letzteren  häufig,  z.  B.  bei  den  Maeandrinen,  die  einzelnen,  aus 
fortgesetzter  Theiluug  des  einfachen  Thiers  hervorgehenden  Polypen, 
so  innig  verbunden  bleiben,  dass  die  Grenzen  der  einzelnen  Indivi- 
duen nicht  zu  bestimmen  sind,  so  ist  dies  auch  oft  bei  den  Zellen- 
stöcken der  Fall,  welche  entweder  aus  einer  fortgesetzten  unvollständigen 
Theilung  einer  einfachen  Zelle  oder  aber  aus  einer  wirklichen  Ver- 
schmelzung vorher  getrennter  Zellen  entstehen.  Diese  beiden  ver- 
schiedenen Entstehungsweisen  der  Zellfusionen  sind  oft  sehr  schwer 
zu  unterscheiden,  z.  B.  bei  vielen  Primitivfäsern  oder  Primitivröhren 
der  Muskeln  und  Nerven,  den  Milchsaftgefässen  der  Pflanzen  etc. 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  297 

Aus  dem  Vorhergehenden  ergiebt  sich  bereits,  dass  wir  „höhere 
Elementartheile"  nur  von  Zellen,  d.  h.  von  kernführenden  Piastiden, 
nicht  aber  von  Cytoden  oder  kernlosen  Piastiden  gebildet,  wahrnehmen 
können.  Denn  wenn  wir  auch  wirklich  grössere  Cytoden  durch  Ver- 
schmelzung mehrerer  kleinerer  entstehen  sehen,  (wie  es  z.  B.  bei  den 
Plasmodien  der  Myxomyceten  der  Fall  ist),  so  besitzen  wir  durchaus 
kein  morphologisches  Kriterium,  um  diesen  Cytodencomplex  als  solchen 
erkennen  und  von  den  ursprünglich  einfachen  Cytoden  derselben  Art 
unterscheiden  zu  können.  Bei  den  Zellstöcken  dagegen,  welche  durch 
Verschmelzung  mehrerer  Zellen  entstehen,  ist  ihr  Ursprung  so  lange 
erkennbar,  als  die  Kerne  der  verschmolzenen  Zellen  noch  persistiren. 
Denn  der  Kern  der  Zelle  bestimmt  ihre  Individualität. 

Die  häufigste  Form,  in  welcher  die  Zellfusionen  oder  Zellenstöcke  auf- 
treten, ist  die  langgestreckte  Form  einer  cylindrischen  oder  bandförmig  ab- 
geplatteten Röhre  oder  Faser.  Solche  Röhren  oder  Fasern  sind  die  soge- 
nannten Muskelprimitivbündel  der  quergestreiften  Muskeln,  welche  besser 
als  Muskelprimitivröhren  oder  Muskel  primitivfasern  bezeichnet 
werden.  Der  Zellenstock  bildet  hier  ein  sehr  langgestrecktes,  an  beiden 
Enden  zugespitztes  cvlindrische»  Rohr,  dessen  zarte  Hülle,  das  Sarcolemma 
oder  die  Primitiv  scheide ,  eine  Ausscheidung  der  innig  verbundenen  mem- 
branlosen Zellen  ist,  welche  dies  Rohr  ausfüllen.  Das  Plasma  der  ver- 
schmolzenen Zellen  ist  grossentheils  zu  der  sogenannten  „quergestreiften 
Masse"  contractiler  Substanz  differenzirt,  d.  h.  in  eine  Menge  von  kubischen 
Körperchen  (Muskelwürfeln)  zerfallen,  welche  durch  zwei  verschiedene 
Zwischensubstanzen  (Quer-  und  Längs -Bindemittel)  der  Quere  nach  zu 
„Discsa,  der  Länge  nach  zu  „Fibrillen"  vereinigt  werden. ')  Die  nicht 
difierenzirten  Reste  des  Protoplasma  finden  sich  als  eine  feinkörnige  weichere 
Masse  theils  zwischen  den  Würfeln,  theils  an  der  Innenfläche  der  von  ihm 
ausgeschiedenen  Primitivröhren,  theils  (und  oft  besonders  reichlich)  um  die 
einzelnen  Kerne  angehäuft,  welche  als  die  Centralheerde  der  difierenzirten 
Zellen  persistiren.  Die  Zahl  dieser  Kerne  bezeichnet  die  Zahl  der  Zellen, 
wrelche  in  der  Bildung  des  Zellenstockes  aufgegangen  sind.  Ganz  ähnlich 
den  Muskelprimitivröhren  verhalten  sich  die  Nervenprimiti  vröhren, 
deren  Primitivscheide  ebenfalls  als  Ausscheidung  des  Plasma  der  vereinig- 
ten Zellen  zu  betrachten  ist.  Das  Plasma  hat  sich  bei  den  dunkeln  oder 
markhaltigen  Nervenfasern  in  eine  äussere  (fettige)  Markscheide  und  einen 
inneren  (albuminoseu)  Axencylinder  differenzirt.  Die  Kerne  der  vereinigten 
Zellen  liegen  meist  an  der  Innenseite  der  Primitivscheide,  zwischen  ihr  und 
dem  Plasma.  In  diesen  Fällen  bleiben  also  die  einzelnen  Zellen  des 
Stockes  membranlos,  während  der  ganze  Stock  oder  die  Fusion  ein  Mem- 
bran (Primitivscheide)  absondert. 


')  Ueber  die  Verbindung  der  Muskelwürfel  uder  „sarcous  elements"  durch 
zweierlei  verschiedene  Zwischensubstanzen  (Quer-  und  Längs  -  Bindemittel) 
vergl.  nieinen  Aufsatz  über  die  Gewebe  des  Flusskrebses  (Müllers  Archiv  1857.) 


298  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Die  einzigen  Zeilfasionen  oder  Zellstöcke,  welche  im  Pflanzenreiche 
vorkommen  und  den  Primitivröhren  der  zusammengesetzten  thierischen  Mus- 
keln und  Nerven  entsprechen,  sind  (abgesehen  von  den  bei  niederen  Pflan- 
zen häutigen  Copulationen  von  Zellen)  die  sogenannten  „Ge  fasse a  der 
höheren  oder  Gefässpflanzen  (Gefäss-Cryptogamen  und  alle  Phanerogamen). 
Sie  zerfallen  allgemein  in  „Milchsaftgefässe"  und  „Spiralgefässe",  von  denen 
die  ersteren  bleibend  mit  einem  milchigen  Safte,  die  letzteren  bald  nach 
ihrer  Entstehung  nur  noch  mit  Luft  gefüllt  sind.  Die  Spiralgefässe  der  Pflanzen 
entstehen  dadurch,  dass  an  einer  Reihe  hinter  einander  gelegener  Zellen 
die  trennenden  Zwischenwände  resorbirt  werden,  so  dass  das  Plasma  der 
verschmolzenen  Zellen  unmittelbar  sich  vereinigt. 

B.    Organe  zweiter  Ordnung: 
Einfache  oder  homoplastische  Organe. 

(Gleichartige  Plastiden-Gemeinden  oder  homogene  Plastideu-Complexe.) 
Homoplasten.     „Gewebe"  im  engsten  Sinne. 

Als  eine  zweite  Ordnung-  von  Organen  betrachten  wir  diejenigen, 
welche  von  Vielen  als  einfache  Gewebe,  oder  selbst  als  „Gewebe41 
schlechtweg,  besser  als  „  einfache  Organe  "  bezeichnet  werden,  und 
welche  man  noch  bestimmter  „homoplastische  Organe"  nennen 
kann.  Diese  stimmen  mit  denen  der  ersten  Ordnung,  den  Zellenstöcken 
darin  übereiu,  dass  sie  nur  aus  Piastiden  von  einerlei  Art  oder, 
wie  man  gewöhnlich  sagt,  aus  einem  einzigen  Gewebe  gebildet  wer- 
den. Sie  unterscheiden  sich  aber  von  den  Cytocormen  darin,  dass 
die  Form  des  Organs  hier  nicht  zunächst  durch  die  Verbindung  der 
Piastiden  selbst  bedingt  wird,  sondern  scheinbar  unabhängig  davon 
durch  die  Bau-Verhältnisse  des  ganzen  Organismus,  den  sogenannten 
,.Bauplan. "  Es  können  daher  diese  homoplastischen  Organe  in  der 
verschiedensten  Form  auftreten,  obgleich  sie  aus  einer  und  derselben 
Zellenart  gebildet  sind,  wie  z.  B.  die  verschiedenen  Knorpel,  die  ver- 
schiedenen Moosblätter  einer  und  derselben  Species,  —  während  die 
Cytocormen,  die  aus  einerlei  Art  Zellen  bestehen,  allein  schon  wegen 
ihrer  constanten  Verbindungsweise  bei  einer  und  derselben  Species  an 
den  verschiedensten  Orten  meist  in  einer  und  derselben  Form  auftre- 
ten, z.  B.  Muskel-  und  Nervenfasern.  Bei  diesen  Organen  erster  Ord- 
nung wird  also  die  äussere  Form  des  Organs  an  und  für  sich  schon 
durch  die  Verbindungsweise  der  verschmelzenden  Zellen  bedingt, 
während  sie  bei  den  Organen  zweiter  Ordnung  von  dieser  Verbin- 
dungsweise unabhängig  ist  und  durch  die  gröberen  Structur-Verhält- 
nisse  des  ganzen  Organismus  bedingt  wird. 

Die  Piastiden,  welche  homoplastische  Organe  zusammensetzen,  kön- 
nen sowohl  kernlose  (Cytoden)  als  kernhaltige  (Zellen)  sein,  wobei  die 
innigere  Verbindung  der  Elemente,  welche  durch  den  Mangel  der 
Membran  bedingt  wird,  für  die  Formbildung  des  homoplastischen  Or- 


IL    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  299 

gans  an  sich  ohne  besondere  Bedeutimg  ist.  Die  letztere  erfolgt  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  die  einzelnen  Zellen,  wie  bei  den  Cytocormen, 
hautlos  und  innig  verschmolzen,  oder  ob  sie  durch  Membranen  oder 
Intercellularsubstanzen  getrennt  und  also  relativ  selbstständig  sind. 

Als  solche  einfache  oder  homoplastische  Organe  lassen  sich  bei 
Wirbelthieren  anführen  die  gesammte  Oberhaut  (Epidermis)  sammt 
ihren  Anhängen  (Haare,  Nägel,  Schuppen,  Drüsen  etc.)  die  Krystall- 
linse  (Epidermis-Product),  Knorpel  (Chorda  dorsalis,  viele  Arten  von 
hyalinem  und  faserigem  Knorpel),  und  manche  andere,  gefässlose  und 
nervenlose  Formen  der  Bindesubstanz,  z.  B.  das  Schleimgewebe  der 
Whartonschen  Sülze  des  Nabelstranges.  Unter  den  Pflanzen  sind 
gleiche  einfache  oder  homoplastische  Organe  insbesondere  auf  den 
niederen  Stufen  sehr  verbreitet,  und  es  gehören  dahin  alle  diejenigen 
Blattorgane  und  Axenorgane,  welche  nur  aus  einer  einzigen  Art  von 
Piastiden  (aus  einem  einzigen  Gewebe)  zusammengesetzt  sind  (z.  B.  der 
Thallus   vieler  Cryptogamen,  die  Blätter  vieler  Zellencryptogamen  etc.) 

C.    Organe  dritter  Ordnung: 

Zusammengesetzte  oder  heteroplastische  Organe. 

(Ungleichartige  Plastiden-Gemeinden  oder  heterogene  Plastiden-Complexe.) 

Heteroplasten.  „Organe"  im  engsten  Sinne. 

Die  bei  weitem  grösste  Mehrzahl  aller  Organe  besteht  bei  den 
höheren  Organismen,  sowohl  Thieren  als  Pflanzen,  nicht  aus  einer 
einzigen,  sondern  aus  mehreren  Arten  von  Zellen  oder  Geweben,  in- 
dem mehrere  verschieden  differenzirte  Zellcomplexe,  seien  es  Organe 
erster  oder  zweiter  Ordnung,  sich  vereinigen,  um  ein  Organ  dritter 
Ordnung,  ein  zusammengesetztes  oder  heteroplastisches  Organ 
zu  bilden.  Die  zwischen  den  anfänglich  gleichartigen  Zellen  eingetre- 
tene Arbeitstheilung  befähigt  dieselben  in  ihrer  Verbindung  zu  einem 
einheitlichen  Ganzen  zu  höheren  Leistungen. 

Bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Thiere  ist  die  Zusammensetzung 
der  meisten  Organe  aus  mehreren  Geweben,  aus  mehr  als  einer  Art 
von  Zellen,  schon  dadurch  bedingt,  dass  in  sehr  früher  Zeit  des  Lebens 
eine,  später  immer  weiter  gehende  Dift'erenzirung  der  anfangs  gleich- 
artigen Piastiden  eintritt,  und  dass  aus  dieser  Gevvebs-Differenzirung 
einerseits  sehr  verschiedenartig  zusammengesetzte  Organe  hervorgehen, 
andererseits  eigenthümliche  Kelations- Organe  oder  Centralisations- 
Organe,  welche  die  verschiedenen  anderen  Organe  in  mehr  oder 
weniger  nahe  Verbindung  unter  einander  und  mit  den  Central-Organen 
bringen.  Ein  solches  Beziehungs-Organ  des  Thierleibes  ist  das  Nerven- 
system, ein  anderes  das  ernährende  Gefässsystem.  Ferner  wird  eine 
räumliche  Verbindung   und  zugleich  Sonderung  der  benachbarten  Or- 


300  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

gane  durch  die  verschiedenen  Gewebe  der  Bindegewebsgruppe  herbei- 
geführt. Alle  diese  den  ganzen  Körper  der  höheren  Thiere  durch- 
ziehenden Organe  senden  ihre  Zweige  und  Ausläufer  in  das  Innere 
der  meisten  übrigen  Organe  hinein,  wo  sie  sich  zwischen  deren  con- 
stituirenden  Geweben  ausbreiten.  In  gleicher  Weise  wird  bei  den 
höheren  Pflanzen  der  ganze  Körper  von  den  „Gelassen"  durchzogen, 
welche  überall  in  die  von  einfachen  Gewebsformen  (Parenchym,  Pros- 
enchyin,  Merenchym)  constituirten  Axorgane  und  Blattorgane  ein- 
dringen und  so  deren  Natur  als  heteroplastische  Organe  bedingen. 

Die  grosse  Mehrzahl  der  Organe,  wenigstens  bei  den  höheren 
Thieren  und  Pflanzen,  ist  also  insofern  zusammengesetzt,  als  sie  nicht 
allein  aus  den  Piastiden  der  speeifischen  Gewebsform  zusammengesetzt 
sind,  welche  ihre  eigenthümlichen  Leistungen  vermitteln,  sondern  auch 
noch  Aeste  des  Nervensystems  oder  Aeste  der  Gefässbündel  erhalten, 
welche  sie  mit  dem  übrigen  Organismus  in  Beziehung  setzen,  Aeste 
des  Gefässsystems,  welches  sie  ernährt,  Aeste,  Scheiden  und  Hüllen 
des  Biudegewebssystems,  welches  sie  stützt,  umschliesst  und- mit  den 
benachbarten  verbindet.  In  dieser  Weise  zusammengesetzte  Orgaue 
sind  bei  den  Thieren  die  einzelnen  Muskeln,  die  einzelnen  Nerven, 
die  einzelnen  Knochen,  Blutgefässe,  Drüsen,  Schleimhäute  etc. ;  bei  den 
höheren  Pflanzen  die  einzelnen  Blätter  und  die  verschiedenen  Axorgane. 

Eine  allgemeine  Uebersicht  der  heteroplastischen  oder  zusammen- 
gesetzten Organe  (welche  eigentlich  den  Begriff  des  „Organs"  xaz3 
£&Xt]v  im  engsten  morphologischen  Sinne  repräsentiren),  ist  hier  nicht 
am  Orte  und  würde  viel  zu  weit  führen,  zumal  die  Art  und  Weise, 
in  welcher  sich  die  Cytocormen  (Muskeln,  Nerven  etc.)  und  die  ver- 
schiedenen Piastiden -Arten  oder  Gewebe  (Bindegewebe,  Decken- 
gewebe etc.)  zu  zusammengesetzten  Organen  verbinden,  in  den  ver- 
schiedenen Abtheilungen  des  Thierreichs  äusserst  verschiedenartig  und 
bei  den  höheren  Thieren  sehr  verwickelt  ist.  Einfacher  ist  dies  Ver- 
hältniss  bei  den  höheren  Pflanzen,  wo  sich  alle  verschiedenen  hetero- 
plastischen Organe  als  Modifikationen  von  nur  zwei  verschiedenen 
Grundorganen  nachweisen  lassen:  Axorgane  und  Blattorgane. 
Wrollte  man  die  äusserst  mannichfaltigen  zusammengesetzten  Organe 
der  Thiere  in  ähnlicher  Weise  auf  einige  wenige  Fundamentalorgaue 
reduciren,  so  könnte  man  allgemein  höchstens  Rumpforgane  und 
Extremitäten  unterscheiden.  Da  die  thierischen  Rumpforgane  als 
axiale  Theile  gewissermaassen  den  pflanzlichen  Axorganen,  und  die 
Extremitäten  als  seitliche  Theile  den  pflanzlichen  Blattorganen  ent- 
sprechen, so  könnte  man  allgemein  bei  den  Organismen  zwei  Reihen 
von  zusammengesetzten  oder  heteroplastischen  Organen  unterscheiden : 
I.  Axial-Organe  (Runipftheile,  Stengeltheile  etc.);  II.  Lateral- 
Organe  (Extremitäten,  Blätter  etc.). 


II.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  301 

D.    Organe  vierter  Ordnung: 

Organ  -  Systeme. 

Der  Unterschied  zwischen  denjenigen  zusammengesetzten  Organ- 
Complexen,  welche  man  Systeme,  und  denjenigen,  wrelche  man 
Apparate  nennt,  beruht,  wie  schon  oben  erörtert  wurde,  wesentlich 
darauf,  dass  der  ersteren  Benennung  eine  morphologische,  der  letzteren 
eine  physiologische  Vorstellung  zu  Grunde  liegt.  Bei  einem  Organ- 
System  hat  man  die  Einheit  der  Form  seiner  wesentlichen  consti- 
tuirenden  Form-Elemente,  bei  einem  Apparat  die  Einheit  der  Leistungen 
dieser  Elemente  im  Auge.  Dennoch  lässt  sich  auch  der  Begriff  des 
Apparates  in  morphologischem  Sinne  auffassen  und  zur  Bezeichnung 
eines  Organ- Complexes  höchster  Ordnung  verwerthen,  wie  wir  oben 
gezeigt  haben. 

Jedes  einzelne  Organ-System  bildet  also  eine  morphologische 
Einheit,  welche  aus  einer  Vielheit  von  zusammengesetzten  Organen 
besteht,  in  welche  aber  ausserdem  auch  einfache  Organe  und  Zellen- 
stöcke als  constituirende  Elemente  eintreten  können.  Eine  einzige 
Piastiden- Art,  eine  einzige  Gewebs  Form  ist  aber  stets  in 
jedem  Organ-Systeme  überwiegend,  und  die  übrigen  Gewebe,  die 
ausserdem  noch  dasselbe  constituiren  helfen,  sind  diesem  Character- 
Gewebe  des  Systems  sowohl  in  morphologischer  als  physiologischer 
Beziehung  untergeordnet:  Hierin  liegt  ein  wesentlicher  Unterschied 
von  den  Apparaten,  bei  denen  mehrere  Systeme  als  coordinirte  Con- 
stituentien  des  Ganzen  neben  einander  auftreten  können,  ohne  dass 
ein  einzelnes  derselben  irgend  eine  Praeponderanz  hat. 

Als  Organ -Systeme  in  diesem  Sinne  können  wir  beim  Menschen 
und  bei  den  Wirbelthieren  überhaupt  betrachten:  l)  das  Deckensystem 
(System  der  Hautdecken)  mit  Oberhaut,  Lederhaut  und  sämmtlicheu 
Anhängen  dieser  Theile  (Haare,  Nägel,  Hautdrüsen,  Tastkörper  etc.), 
2)  das  Skeletsystem  (mit  Knochen,  Knorpeln,  Bändern,  Gelenkkapseln 
und  verbindender  Bindesubstanz),  3)  das  Muskelsystem  (mit  Muskeln, 
Sehnen,  Fascien,  Schleimbeuteln  etc.),  4)  das  Nervensystem  (mit  Ge- 
hirn und  Rückenmark,  peripherischen  Ganglien,  Nervenfäden  und 
Sinnesorganen),  5)  das  Gefässsystem  (mit  Herz,  Blutgefässen,  Lymph- 
gefässen,  Lymphdrüsen,  Milz),  6)  das  Darmsystem  (Darmcanal  nebst 
den  Drüsen,  die  aus  ihm  hervorwuchern,  Speicheldrüsen,  Leber,  Pan- 
creas,  Lungen,  Nieren  etc.),  7)  das  Genitalsystem,  dessen  wesentlichste 
Bestandtheile  sich  aus  den  Primordialnieren  und  ihren  Adnexis  ent- 
wickeln. 

Im  Allgemeinen  sind  die  Organ -Systeme  bei  den  Thiereu  wreit 
vollkommener  entwickelt  und    differenzirt,  als   bei  den  Pflanzen.     Je 


302  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

weiter  die  Centralisatioo  clor  Personen  geht,  desto  schärfer  ist  die 
Trennung-  der  einzelnen  Organ  -  Systeme ,  desto  einheitlicher  der  Zu- 
sammenhang jedes  Systems.  Bei  den  höheren  Pflanzen  könnte  man 
als  derartige  zusammenhängende  Systeme  vielleicht  unterscheiden: 
1)  das  Decken- System  (mit  Oberhaut,  Haaren,  Rinde  etc.),  2)  das 
Parenchym-System,  3)  das  Gefässsystem  (Gefässbündel  etc.). 

E.    Organe  fünfter  Ordnung: 
Organ-Apparate. 

Obgleich  dem  Begriffe  des  Apparates,  wie  schon  bemerkt,  wesent- 
lich eine  physiologische  Vorstellung  zu  Grunde  liegt,  und  man  also 
gewöhnlich  unter  einem  Apparate  einen  Complex  von  einfachen  und 
zusammengesetzten  Organen  versteht,  die  zu  einem  einheitlichen  Gan- 
zen behufs  einer  einzigen  gemeinsamen  Function  verbunden  sind,  so 
können  wir  dennoch,  wie  oben  gezeigt  wurde,  dem  Begriffe  des  Appa- 
rates auch  eine  morphologische  Bedeutung  beilegen.  Wir  verstehen 
dann  darunter  einen  einheitlich  abgeschlossenen  Complex  von  mehre- 
ren verschiedenartigen  untergeordneten  Organen  (verschiedenen  Syste- 
men und  Geweben  angehörig),  in  welchen  mehrere  coordinirte  Gewebe 
der  Art  verbunden  sind,  dass  keins  allein  eine  vorwiegende  Bedeutung 
vor  allen  anderen  beanspruchen  kann. 

Wir  dürfen  diese  Apparate  um  so  eher  als  eine  Ordnung  von 
Organen  höchsten  Ranges  anführen,  als  die  morphologische  Einheit 
des  Ganzen  in  denselben  meist  nicht  minder  deutlich,  oft  sogar  augen- 
fälliger hervortritt,  als  in  den  einzelnen  Systemen.  Die  Form-Einheit 
des  Apparates  beruht  aber  nicht,  wie  bei  dem  Systeme,  auf  dem  aus- 
schliesslichen Vorwiegen  einer  einzigen  Gewebs-Form,  sondern  viel- 
mehr auf  einer  räumlichen  Sonderung,  die  schon  bei  der  gröbsten 
Betrachtung  des  Organismus  ins  Auge  springt,  So  befindet  sich  der 
Ernährungsapparat  fast  ganz  auf  die  Pleuroperitonealhöhle  des  Wirbel- 
thieres  beschränkt,  der  Gesichtsapparat  auf  den  Inhalt  der  Augenhöhle, 
der  Geruchsapparat  auf  die  Nasenhöhle  etc. 

Da  nun  ausser  der  räumlichen  Sonderung  und  Einheit  auch  die 
morplx »lugische  Zusammensetzung  jedes  Apparates  aus  coordinirten 
und  subordinirten  Organen  und  Systemtheilen  dem  Ganzen  ein  ein- 
heitliches Gepräge  giebt,  so  können  wir,  gestützt  auf  den  innigen  Zu- 
sammenhang und  die  Wechselwirkung  von  Form  und  Function,  ebenso, 
wie  es  bei  dem  Begriffe  des  Orgaues  im  Allgemeinen  bereits  ge- 
schehen ist,  die  morphologische  Einheit  des  Apparates  von  der  physio- 
logischen sondern  und  die  erstere  als  Organ  fünfter  Ordnung  hier  in 
Betracht  ziehen. 

Die  säinnitlichen  Organ- Apparate,  welche  man  weiter  in  niedere 
oder    besondere    und    in    höhere    oder    allgemeinere    gruppiren    kann, 


IT.    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  303 

lassen  sich  auf  drei  Häuptgruppen  vertheilen,  entsprechend  den  drei 
Haupt -Functionsgruppen,  welche  der  Organismus  besitzt:  Erhaltung 
seiner  selbst,  Erhaltung  der  Art  und  Erhaltung  der  Beziehungen  zur 
Aussenwelt.  Hiernach  werden  wir  beim  Menschen  und  den  Wirbel- 
thieren  überhaupt  folgende  Gruppen  von  Apparaten  unterscheiden 
können:  I.  Apparate  zur  Erhaltung  des  Individuums  (der  Person): 
Ernährungs-Apparat  (und  als  untergeordnete  Apparate:  Verdauung»-, 
Circulations-,  Respirations-  und  Secretions-Apparate);  TL  Apparat  zur 
Erhaltung  der  Art:  Fortpflanzungs- Apparat  (Genitalien);  III.  Ap- 
parate zur  Erhaltung  des  Verkehrs  mit  der  Aussenwelt:  Relations- 
Apparate:  A.  Bewegungs-Apparat  (aus  Muskelsystem  oder  activen 
und  Knochensystem  oder  passiven  Locomotions- Organen  zusammen- 
gesetzt). B.  Seelen -Apparat  (aus  Nervensystem  und  Sinnesorganen 
zusammengesetzt,  unter  letzteren  als  einzelne  Sinnes-Apparate  die  ge- 
schlossenen Einheiten  der  fünf  Sinne:  Auge  (Gesicht),  Ohr  (Gehör), 
Nase  (Geruch),  Zunge  (Geschmack),  Hautdecke  (Gefühl).  Bei  den 
Pflanzen  werden  wir  ebenso  allgemein  Ernährung»- Apparate,  Fort- 
pflanzungsapparate und  Relationsapparate  unterscheiden  können. 


III.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung: 

Antimeren  oder  Gegenstücke. 
(Homo typische  Theile.) 

Die  vorhergehende  Betrachtung  der  morphologischen  Individuen 
erster  und  zweiter  Ordnung,  der  Piastiden  und  der  Orgaue,  hat  uns 
mit  Ueberwindung  grosser  Schwierigkeiten  in  das  verwickelte  Laby- 
rinth von  coordinirten  und  subordinirten  Theilen  eingeführt,  aus  wel- 
chen der  ganze  Organismus  der  höheren  Thiere  und  Pflanzen  als 
höhere  Einheit  zusammengesetzt  wird.  Eine  genauere  Betrachtung 
der  höchst  complicirten  und  kunstvollen  Art  und  Weise,  auf  welche 
diese  Zusammensetzung  erfolgt,  lässt  uns  alsbald  erkennen,  dass  die 
stufenweise  emporsteigende  Complication  des  organischen  Baues, 
wenigstens  bei  den  höheren  Pflanzen  und  Thieren,  nicht  allein  nach 
den  grossen  Gesetzen  der  Aggregation  und  der  Differenzirung  (oder 
des  Polymorphismus)  erfolgt,  sondern  dass  die  verschiedenen  coor- 
dinirten und  subordinirten  Theile  sich  derartig  im  Ganzen  verflechten, 
gegenseitig  räumlich  durchwachsen  und  verbinden,  und  in  so  ver- 
wickelter Weise  in  einander  eingreifen,  dass  wir  zur  Aufstellung  ganz 
verschiedener  morphologischer  Einheiten  gelangen,  je  nachdem  wir 
unseren  Standpunkt  auf  verschiedenen  Seiten  nehmen  und  von  diesem 
oder  jenem  gemeinsamen  Tertium  aus  zwei  Einheiten  vergleichen. 
So   kann  also   derselbe  Nerv,    derselbe  Muskel  als   ein  Complex  von 


3Q4  Morphologische  Individualität  der  Organismeu. 

einfachen  Organen  erster  und  zweiter  Ordnimg-,  oder  als  ein  hetero- 
plastisches Organ,  oder  als  ein  Theil  eines  Organ  -  Systems,  oder  als 
ein  Theil  eines  Organ- Apparates  aufgefasst  werden,  und  von  jedem 
dieser  verschiedenen  Gesichtspunkte  aus  wird  er  eine  verschiedene 
Beurtheilung  erfahren. 

Schon  hieraus  geht  hervor,  dass  die  Organe  (und  ebenso  die 
morphologischen  Individuen  niederer  Ordnung  überhaupt)  sich  nicht 
allein  durch  stufenweis  fortgesetzte  Aggregation  und  Arbeitstheilung 
zu  den  Individualitäten  höherer  Ordnung  zusammenfügen,  sondern 
dass  hier  complicirte  Gesetze  der  Formbildung  walten,  um  deren  Er- 
kenntniss  mau  sich  bisher  uoch  kaum  bemüht  hat.  Wie  wenig  auf 
diesem  wichtigen  und  interessanten  Gebiete  der  allgemeinen  Morpho- 
logie noch  geschehen  ist,  geht  aber  weiter  namentlich  daraus  hervor, 
dass  man  die  höheren  Individualitäten,  welche  zunächst  aus  dem  Zu- 
sammentreten der  verschiedenen  Organe  hervorgehen,  und  die  wir  im 
Folgenden  als  Antimeren  und  Metameren  untersuchen  werden,  über- 
haupt  noch  keiner  eingehenden  Untersuchung  und  allgemeinen  Ver- 
gleichung,  ja  häufig  nicht  einmal  einer  Erwähnung  gewürdigt  hat. 
Mindestens  sind  sie  als  besondere  morphologische  Individualitäten 
bisher  nur  selten  oder  nie  anerkannt  worden. 

Die  Theile  des  Organismus,  welche  wir  hier  als  Antimeren  oder 
Gegenstücke,  und  Metameren  oder  Folgestücke  unterscheiden,  sind 
scharf  ausgeprägte  morphologische  Individualitäten,  welche  eineu 
Rang  über  den  Organen  einnehmen,  während  sie  den  höheren  mor- 
phologischen Einheiten  fünfter  und  sechster  Ordnung  beständig  unter- 
geordnet sind.  In  der  bei  weitem  grössten  Mehrzahl  der  Organismen- 
Arten  ist  das  einzelne  physiologische  Individuum  nicht  ein  blosses 
Aggregat  von  Organen,  sondern  eine  Einheit  von  mehreren  Metameren 
und  Antimeren.  Für  die  Gesammtform  des  Organismus  sind  diese 
Theilstücke,  welche  als  scharf  ausgeprägte  Formeinheiten  in  Vielzahl 
neben  und  hinter  einander  auftreten,  von  der  allergrössten  Bedeutung, 
und  dennoch  hat  man  sie  bisher  fast  gar  keiner  Betrachtung  gewür- 
digt; ja  es  existirt  für  die  beiden  wesentlich  verschiedenen  Individua- 
litäten des  Antimeres  oder  Metameres  nicht  einmal  ein  besonderer 
einfacher  Name.  Wo  man  sie  bisher  im  concreten  Falle  der  Ver- 
ständigung halber  hat  erwähnen  müssen,  hat  man  Beide  zusammen 
mit  dem  nichtssagenden  oder  doch  vieldeutigen  Ausdrucke  des  Seg- 
ments oder  TheilstUcks  oder  Gliedes  (Articulum),  oder  auch  wohl 
des  „homologen  oder  homonomen  Theils"  belegt.  Die  Metameren, 
als  welche  wir  z.  B.  die  einzelnen  gleichartigen  hinter  einander  ge- 
legenen Abschnitte  des  Wirbelthier-  und  des  Gliederthier-Rumpfes,  die 
einzelnen  Stielglieder  der  Crinoideen -Stengel,  die  Stengelglieder  der 
Phanerogameu  ansehen,   hat   man  insbesondere  häufig  „Glieder"  und 


III.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  Antimeren.  305 

bei  den  Gliederthieren  und  Würmern  „Ringe"  oder  Zoniten  genannt. 
Die  Antimeren,  die  neben  einander  gelegenen  Hauptabschnitte  da- 
gegen hat  man,  wenn  ihrer  nur  zwei  zugegen  sind,  wie  bei  den 
Wirbel-,  Glieder-  und  Weich-Thieren,  als  „Körperhälften",  wenn  ihrer 
drei,  vier,  fünf  oder  mehr  sind,  wie  bei  den  „Strahlthieren "  und 
Phanerogamen-Blüthen,  als  „Strahlen"  oder  „  Uadialsegmente  " ,  oft 
aber  ebenfalls  als  „Glieder4*  bezeichnet. 

Der  einzige  Naturforscher,  welcher  bisher  diese  beiderlei  Theile 
vom  allgemeineren  Gesichtspunkte  aus  untersucht  und  auf  die  hohe 
Bedeutung  derselben  für  die  Gesetze  der  organischen  Formbildung 
hingewiesen  hat,  ist  der  verdienstvolle  Bronn,  welcher  in  seinen 
trefflichen  „morphologischen  Studien"  (1858)  diejenigen  neben  ein- 
ander gelegenen  Hauptabschnitte,  welche  wir  Antimeren  nennen, 
als  homotypische  Theile,  diejenigen  hinter  einander  liegenden  Ab- 
schnitte dagegen,  welche  wir  Metameren  nennen,  als  homonyme 
Theile  bezeichnet  hat.  In  dem  Capitel,  in  welchem  er  das  wichtige 
von  ihm  entdeckte  „Gesetz  der  Zahlen-Reduction  gleichnamiger  Theile" 
behandelt,  fasst  er  beiderlei  Abschnitte  als  „gleichgesetzliche"  oder 
„homonome"  Körpertheile  zusammen  und  giebt  von  Beiden  eine  kurze 
Definition,  welche  jedoch  weder  erschöpfend,  noch  hinreichend  klar 
und  genau  ist.  Wir  werden  diese  Definition  in  dem  nächsten  Abschnitte, 
welcher  von  den  Metameren  handelt,  wörtlich  aufiihren  und  näher 
beleuchten,  und  wenden  uns  hier  sogleich  zur  näheren  Betrachtung 
derjenigen  Formeinheiten  des  Organismus,  welche  wir  allgemein  als 
Antimeren  bezeichnen  wollen. 

Unter  Antimeren  oder  Gegenstücken  (den  homotypischen 
Organen  Bronn 's)  verstehen  wir  diejenigen  neben  (nicht  hinter) 
einander  liegenden,  als  deutlich  geschlossene  Einheiten  auftretenden 
Körperabschnitte  oder  „Segmente",  welche  als  gleichwerthige  Organ- 
complexe  alle  oder  fast  alle  wesentlichen  Körpertheile  der  Species 
(alle  typischen  Organe)  in  der  Art  zusammengesetzt  enthalten,  dass 
jedes  Antimer  die  wesentlichsten  Eigenschaften  der  Species  als  Organ- 
Complex  repräsentirt,  und  dass  nur  noch  die  Zahl  der  Antimeren 
als  das  die  Species -Form  bestimmende  Element  hinzutritt.  Bei  den 
meisten  höheren,  sogenannten  „bilateral-symmetrischen"  Thieren  (Wir- 
bel-, Glieder-,  Weich-Thieren)  besteht  der  Körper  demgemäss  nur  aus 
zwei  Antimeren,  den  beiden  Körperhälften  nämlich,  welche  in  der 
Medianebene  verwachsen  sind.  Bei  den  sogenannten  „Strahlthieren**, 
sowie  bei  den  allermeisten  Geschlechts-Individuen  (Blüthen)  der  Pha- 
nerogamen,  ist  dagegen  der  Körper  aus  so  vielen  Antimeren  zusam- 
mengesetzt, als  „Strahlen",  d.  h.  Kreuzaxen,  vorhanden  sind,  also 
drei  bei  den  meisten  Monocotyledonen  und  vielen  Radiolarien,  vier 
bei  den  meisten  Medusen,  den  Eugosen  und  Cereanthiden,  ferner  auch 

Haeckel,   Generelle   Morphologie.  20 


30G  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

bei  deii  meisten  Würmern  und  bei  sehr  vielen  Dicotyledonen,  fünf 
bei  den  meisten  Echinodermen  und  Dicotyledonen,  sechs  bei  den 
meisten  Anthozoen  (Enallonemen,  die  Hugosen  ausgenommen,  und 
Antipathiden)  und  bei  einigen  Medusen  (Carmariniden).  Sehr  selten 
im  Ganzen  genommen  ist  der  Körper  aus  mehr  als  sechs  Antimeren 
zusammengesetzt.  Sieben  kommen  nur  ausnahmsweise  vor,  z.  B.  bei 
Luidia  Savignyi  unter  den  Seesternen,  bei  Trictitalis  enropaea  unter 
den  Phanerogamen.  Acht  Antimeren  finden  sich  bei  allen  Ctenopho- 
ren  und  Octactiuien  (Alcyonarien),  dagegen  sehr  selten  bei  den  Pha- 
nerogamen (Mimusops  unter  den  Sapotaceen).  Ebenfalls  selten  treten 
neun,  zehn,  zwölf  und  zwanzig  oder  mehr  Antimeren  zur  Bildung  des 
Körpers  zusammen.  In  der  Kegel  sind  die  niedrigeren  Zahlen  der 
Antimeren  innerhalb  der  Species  constant.  Sobald  aber  mehr  als 
sechs  Antimeren  auftreten,  wird  die  Grundzahl  (acht  ausgenommen) 
innerhalb  der  Species  schwankend  und  um  so  unbeständiger,  je  höher 
die  Zahl  steigt.  Dasselbe  Verhältuiss  zeigt  sich  auch  bei  den  Meta- 
meren,  z.  B.  wenn  man  die  Insecten  (mit  wenigen,  neun  bis  dreizehn 
Ringen)  und  die  Myriapoden  und  Arachniden  (mit  sehr  zahlreichen 
Metameren)  vergleicht.  Dies  Verhältniss  ist  sehr  wichtig  für  die  Be- 
gründung des  Bronn' sehen  Gesetzes  der  Zahlenreduction  gleichnamiger 
Theile. 

So  unwesentlich  es  vom  physiologischen  Standpunkte  aus 
erscheinen  mag,  ob  der  ganze  Körper  (die  Person)  aus  zwei,  drei, 
vier,  fünf  oder  mehr  gleichen  Körpertheilen  zusammengesetzt  ist,  von 
denen  jeder  sämmtliche  wesentliche  Organ -Complexe  oder  typischen 
Organe  des  Körpers  in  der  gleichen  Zahl,  Form,  Structur  und  Lage- 
rung enthält,  und  also  für  sich  schon  die  Species  repräsentiren  könnte, 
so  ausserordentlich  wichtig  ist  die  homotypische  Grundzahl,  wie 
wir  mit  Bronn  die  speeifische  Antimeren-Zahl  nennen  können,  für 
die  morphologische  Betrachtung  des  Körpers  als  Ganzen.  Ins- 
besondere wird  durch  die  Antimeren  jene  Summe  von  Form-Eigenthüm- 
lichkeiten  bedingt,  welche  man  gewöhnlich  als  Habitus  bezeichnet, 
und  welche  oft  eben  so  schwer  zu  definiren  und  näher  zu  bestimmen 
ist,  als  sie  dem  geübten  Auge  characterbestimmend,  als  physiogno- 
misches  Moment  entgegentritt. 

Freilich  ist  uns  der  Causal-Nexus  zwischen  dem  typischen  Organi- 
sationscharacter  und  der  homotypischen  Grundzahl  der  Organismen 
zur  Zeit  noch  vollständig  unbekannt.  Dass  er  aber  vorhanden  ist, 
beweist  die  auffallende  Constanz,  welche  die  Antimeren-Zahl  inner- 
halb der  grossen  Hauptabteilungen  des  Thier-  und  Pflanzenreiches 
zeigt.  Ohne  Ausnahme  sind  die  Wirbelthiere  und  Weichthiere  nur 
aus  zwei,  die  Ctenophoren  und  Octaetinien  aus  acht  Antimeren  zu- 
sammengesetzt  und   ganz  vorherrschend  ist   unter  den   Echinodermen 


III.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  Antimeren.  307 

die  Antimerenzahl  fünf,  unter  den  Monocotyledonen  die  Zahl  drei. 
Diese  Umstände  sind  sicher  nicht  bedeutungslos,  und  sie  veranlassen 
uns,  hier  noch  etwas  näher  auf  das  gegenseitige  Verhältniss  der  Anti- 
meren zu  einander  und  zum  Ganzen  einzugehen. 

In  letzterer  Beziehung  ist  zunächst  als  besonders  bestimmend  für 
den  Habitus  des  Organismus  hervorzuheben,  dass  die  Antimeren 
entweder  einander  ganz  gleich,  oder  nur  ähnlich,  und  im  ersteren 
Falle  entweder  symmetrisch  gleich  oder  congruent  sein  können. 
Aehnlich  nennen  wir  dieselben,  wenn  sie  zwar  in  allen  oder  doch 
den  meisten  wesentlichen  Formbeziehungen  übereinstimmen  und  die- 
selbe Zahl  von  grösseren  Organen  in  derselben  relativen  Lagerung 
verbunden  besitzen,  aber  doch  in  untergeordneten  Beziehungen,  in  der 
Grösse,  der  geringeren  oder  stärkeren  Entwickelung,  der  äusseren 
Oberflächen  -  Gestaltung  etc.  mehr  oder  minder  verschieden  sind,  so 
dass  auch  die  Anzahl  der  kleinsten  heterogenen  Theilchen,  welche  sie 
zusammensetzen,  auffallend  ungleich  ist.  Aehnlich  sind  z.  B.  die  bei- 
den Hälften  eines  Pleuronectes ;  ähnlich  ist  der  unpaare  Strahl  der 
symmetrischen  Echinodermen  den  vier  anderen  Strahlen.  Gleich  da- 
gegen sind  zwei  homotypische  Theile,  wenn  sie  nicht  bloss  in  jenen 
wesentlichen,  sondern  auch  in  diesen  untergeordneten  Beziehungen 
(der  Grösse,  Entwickelungsstärke  und  Flächenbegränzung  etc.)  voll- 
kommen übereinstimmen,  so  dass  die  Zahl  der  kleinsten  heterogenen 
Theilchen  in  beiden  Antimeren  nicht  merklich  verschieden  ist. 

Gleiche  Antimeren  sind  entweder  symmetrisch  oder  congruent. 
Symmetrisch  sind  zwei  gleiche  Antimeren,  wenn  die  Lagerung  der 
kleinsten  heterogenen  Theilchen  in  beiden  zwar  relativ  dieselbe, 
aber  absolut  entgegengesetzt  ist,  so  dass  sich  die  beiden  Gegenstücke 
wie  das  Spiegelbild  eines  Körpers,  oder  wie  Rechts  und  Links  ver- 
halten, und  niemals  sich  wirklich  decken  und  ersetzen  können.  Con- 
gruent dagegen  sind  zwei  gleiche  Antimeren,  wenn  die  Lagerung 
der  kleinsten  heterogenen  Theilchen  in  beiden  nicht  bloss  relativ, 
sondern  auch  absolut  dieselbe  ist,  so  dass  sich  die  beiden  Gegen- 
stücke vollständig  decken  und  sich  gegenseitig  ersetzen  können. 
Congruent  sind  z.  B.  die  vier  Antimeren  der  Medusen,  die  sechs  An- 
timeren der  Antipathiden,  die  fünf  Radialsegmente  der  sogenannten 
„regulären"  fünfzähligen  Blüthen  (z.  B.  Primulaceen,  Oxalis,  Nican- 
dra  etc.).  Symmetrisch  sind  die  beiden  Hälften  der  Wirbelthiere  und 
der  Gliederthiere;  je  zwei  von  den  vier  paarigen  Antimeren  der  sym- 
metrischen Echinodermen  (Clypeaster  etc.),  je  zwei  von  den  vier 
paarigen  Gegenstücken  der  sogenannten  „irregulären"  fünfzähligen 
Blüthen  (z.  B.  der  Papilionaceen,  Veilchen  etc.). 

Streng  genommen  kann  eine  analoge  Differenz,  wie  sie  zwischen 
congruenten  und  symmetrisch   gleichen  Antimeren   stattfindet,    auch 

20* 


308  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

bei  ähnlichen  Antimeren  nachgewiesen  werden  und  wir  können  da- 
nach positiv  ähnliche  und  negativ  ähnliche  Antimeren  unterscheiden. 
Positiv  ähnlich  können  solche  Antimeren  genannt  werden,  bei 
welchen  diejenigen  Organe  und  Organtheile,  die  in  beiden  Antimeren 
gleicherweise  vorhanden  sind,  auch  die  gleiche  relative  und  absolute 
Verbindung,  das  gleiche  Lagcrungs-Verhältniss  zur  Mittelebene  oder 
Mittellinie  des  Körpers  zeigen.  Negativ  ähnlich  dagegen  (oder 
symmetrisch1  ähnlich)  würden  diejenigen  ähnlichen  Antimeren  heissen, 
bei  denen  auch  dieses  Lagcrungs-Verhältniss  absolut  entgegengesetzt 
ist.  Beispiele  hierfür  liefern  die  symmetrischen  Seeigel  (Clypeastriden, 
Spatangiden  etc.).  Bei  diesen  Echiniden  sind  die  fünf  Antimeren 
(Radien),  welche  bei  den  Cidariden  congruent  sind,  sämmtlich  nicht 
congruent,  aber  paarweise  symmetrisch,  so  dass  man  zwei  Paare  von 
Radien  und  einen  unpaaren  Radius  unterscheiden  kann.  Der  ganze 
Körper  kann  in  einen  dorsalen  und  einen  ventralen  Abschnitt  zerlegt 
werden.  Der  dorsale  (gewöhnlich  sogenannte  vordere)  Abschnitt  wird 
Trivium  genannt,  weil  er  den  unpaaren  Radius  und  das  dorsale  (vor- 
dere) Paar  der  paarigen  Radien  enthält,  während  der  ventrale,  das 
Bivium,  das  ventrale  (hintere)  Paar  der  Antimeren  oder  Radien  ent- 
hält. Bezeichnen  wir  nun  den  unpaaren  Radius  mit  A,  die  beiderseits 
an  denselben  angrenzenden  Radien  mit  B  und  C,  und  die  beiden 
(ventralen)  Radien  des  Bivium  mit  D  und  E.  so  dass  die  linke  Seite  aus 

A  A 

^r-,  C  und  E,  die  rechte  aus  — ,  B  und  D  gebildet  wird,  so  sind  B  und 

—  -> 

C  unter  sich  symmetrisch  gleich,  ebenso  D  und  E  unter  sich  symme- 
trisch gleich;  dagegen  B  und  D  positiv  ähnlich,  B  und  E  negativ- 
ähnlich,  ebenso  C  und  E  positiv  ähnlich,  C  und  D  negativ  ähnlich.  Genau 
dieselben  gegenseitigen  Formbeziehungen,  wie  diese  fünf  Antimeren  der 
bilateralen  Seeigel,  zeigen  die  fünf  Antimeren  der  sogenannten  „irre- 
gulären" fünfzähligen  Geschlechts-Individuen  (Blüthen)  der  Papiliona- 
ceen  und  Labiaten,  der  Veilchen,  der  „strahlenden"  Randblüthen  vieler 
Umbelliferen,  Compositen  etc. 

Vollständiger  Mangel  einer  Antimeren-Zusainmensetzung  des  Kör- 
pers findet  sich  nur  bei  sehr  wenigen  Organcomplexcn,  nämlich  bei  den 
absolut  regulären  und  den  absolut  irregulären.  Es  giebt  nur  einen 
einzigen  absolut  regulären  Körper  und  das  ist  die  Kugel,  welche  in 
geometrisch  reiner  Form  den  Körper  gewisser  Radiolarien  bildet 
(Thalassicollidcn,  Sphaerozoidcn).  Hier  können  wir  die  Antimerenzahl 
=  x,  setzen.  Umgekehrt  wird  dieselbe  =  u  bei  sehr  vielen  Spon- 
gien,  deren  vollkommen  unregelmässiger  oder  „amorpher"  Körper 
durchaus  keine  Abtheilung  in  gleichartige  Organcomplexe  zeigt,  die 
man  als  Antimeren  betrachten  könnte.  Dasselbe  gilt  von  sehr  vielen 
cryptoganieu  Pflanzen. 


III.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  .Antimeren.  309 

Die  verschiedene  Art  und  Weise,  in  welcher  die  Antimeren  zur 
Bildung  des  ganzen  Körpers  zusammentreten,  ist  für  den  characteristi- 
schen  Habitus,  den  man  mit  den  Ausdrücken  des  „bilateralen"  und 
des  „strahligen"  Typus  bezeichnet,  von  der  grössten  Wichtigkeit.  Bei 
den  echten  Bilateralthieren,  den  Dipleuren,  deren  Körper  nur  aus 
zwei  Antimeren  („symmetrischen  Körperhälften")  besteht  (Wirbel-, 
Glieder-  und  Weich -Thieren),  legen  sich  die  beiden  Gegenstücke  mit 
zwei  einander  zugekehrten  Flächen,  in  einer  Ebene  (Mittelebeue)  an 
einander.  Bei  den  echten  „Strahlthieren"  dagegen,  sowohl  ganz  regu- 
lären (Medusen,  Ästenden)  als  bilateral  symmetrischen  (Ctenophoren, 
Spatangiden),  bei  denen  mehr  als  zwei  Antimeren  („Radial- Segmente" 
oder  „  Strahlen ")  zum  Körper  zusammentreten,  berühren  sich  dieselben 
in  einer  Linie,  der  Haupt-  oder  Längsaxe  und  haben  also  sämmtlich 
eine  Kante  gemeinsam.  Selten  nur,  z.  B.  bei  vielen  Radiolarien, 
deren  Grundform  die  Kugel  oder  ein  reguläres  oder  ein  endosphä- 
risches  Polyeder  ist,  berühren  sich  die  Antimeren  nur  in  einem  ein- 
zigen Punkte  und  haben  demgemäss  nur  diesen  Punkt  gemeinsam. 

Eigenthümliche  Verschiedenheiten  bezüglich  der  Antimeren -Zu- 
sammensetzung der  Person  oder  des  Form-Individuums  im  engeren 
Sinne  zeigen  unter  den  phanerogamen  Pflanzen  häufig  die  geschlechts- 
losen Personen  (Blattsprosse  etc.)  und  die  Geschlechts-Individuen 
(Blüthen-Sprosse").  Die  letzteren,  als  die  morphologisch  höher  ent- 
wickelten und  differenzirten,  weisen  uns  meistens  ganz  dieselbe  regel- 
mässige und  leicht  erkennbare  Zusammensetzung  aus  Antimeren  auf, 
wie  die  allermeisten  Thier-Personen.  Es  entsprechen  z.  B.  in  dieser 
Beziehung  vollkommen  die  „regulären"  Echinodermen  (Ästenden  etc.) 
den  regelmässigen  fünfzähligen  Blüthen  (Primulaceen,  Oxalideen  etc.), 
die  „irregulären"  Echinodermen  (Spatangiden  etc.)  den  unregelmässigen 
fünfzähligen  Blüthen  (Papilionaceen,  Labiaten,  Umbelliferen  etc.).  Auch 
ist  die  Mannichfaltigkeit  in  der  Art  dieser  Zusammensetzung,  welche 
die  characteristische  Physiognomie  der  Blumen  bestimmt,  nicht  minder 
gross,  als  bei  den  Thieren.  Bei  den  Blattsprossen  dagegen,  den  ge- 
schlechtslosen Individuen  der  Phanerogamen,  sind  diese  Compositions- 
Verhältnisse,  welche  sich  in  der  Blattstellung  aussprechen,  im  Ganzen 
seltener  eben  so  einfach,  regelmässig  und  deutlich,  wie  bei  den 
Blüthen.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  den  Axorganen  mit  zweizeiliger, 
gegenständiger,  kreuzständiger  und  wirtelständiger  (quirliger)  Blatt- 
stellung. Sehr  häufig  treten  hier  aber  statt  dessen  sehr  complicirte 
Verhältnisse  auf,  welche  schwierig  auf  die  einfache  Zusammensetzung 
des  geschlechtslosen  Sprosses  aus  gegenständigen  Antimeren  zurück- 
zuführen sind.  Insbesondere  wird  die  letztere  häufig  dadurch  versteckt, 
dass  die  Blattorgane  in  einer  enger  oder  weiter  gewundenen  Spirale  an 
der  Axe  heraufsteigen.     Man  pflegt  gewöhnlich   die   Spiraltendenz  in 


310  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

der  Blattstellung  der  Phaneroganien  u.  s.  w.  als  eine  primitive  Eigen- 
tümlichkeit derselben  zu  betrachten  und  die  vorher  angeführten  Fälle 
von  zweizeiliger,  gegenständiger,  kreuzständiger  und  wirtelständiger 
(quirliger)  Blattstellung  als  abgeleitete  Formen,  welche  durch  secun- 
dären  Zerlall  lautender,  continuirlicher  Spiralen  in  abgesetzte,  ge- 
schlossene Ringe  entstanden  seien.  Indessen  ist  es  vielleicht  richtiger, 
umgekehrt  die  letzteren  als  die  eigentlichen  ursprünglichen  Grund- 
formen zu  betrachten,  welche  aus  einer  gesetzmässigen  Verbindung 
von  Antimeren  und  Metameren  (in  ähnlicher  Weise  wie  bei  den 
,,Strahlthieren"  z.  B.  den  Echinodermen)  gebildet  sind.  Die  Blatt- 
stellungs- Spiralen  würden  dann  als  abgeleitete  Formen  zu  betrachten 
sein,  secundär  entstanden  durch  besondere  Wachsthums -Verhältnisse 
der  sich  streckenden  Metameren,  welche  in  besonderen  Beziehungen 
zu  den  Antimeren  der  benachbarten  Metameren  stehen.  Wir  glauben, 
dass  für  eine  richtige  Autfassung  dieser  schwierigen  und  verwickelten 
Verhältnisse  die  Vergleichung  der  analogeu  einfacheren  Verbindung 
von  Antimeren  und  Metameren  bei  den  Strahlthieren  sehr  wichtig  ist. 
Bei  den  meisten  Echinodermen  insbesondere  finden  wir  in  ganz  ana- 
loger Weise,  wie  bei  den  meisten  phaneroganien  Personen,  mehrere 
Antimeren  (gewöhnlich  fünf)  und  zahlreiche  Metameren  (hinter  ein- 
anderliegende  Abschnitte  der  Hauptaxe,  Stengelglieder  etc.)  zu  einer 
complicirt  gebauten  Person  verbunden.  Das  ursprüngliche,  homotypische 
Verhältniss  bei  den  Echinodermen  ist  aber  immer  die  reguläre  Zu- 
sammensetzung aus  fünf  Antimeren.  deren  Stücke  in  geschlossene,  hinter 
einander  liegende  Kreise  geordnet  sind,  wie  bei  den  meisten  Ge- 
schlechts-Personen  (Blüthen)  der  Phanerogameu;  und  nur  ausnahms- 
weise, und  offenbar  erst  in  Folge  secundärer  Entwickelung ,  laufen 
diese  Kreise  in  einander,  indem  sie  sich  zu  continuir liehen  Spiralen 
verbinden,  z.  B.  bei  den  spiraligen  Reihen  von  Stachelhöckern  vieler 
Echiniden,  von  Kelchtafeln  vieler  Crinoiden  etc.  Ebenso  dürften  viel- 
leicht die  Spiralen  der  Blattstellungen  bei  den  meisten  geschlechtslosen 
Personen  (Blattsprossen)  der  Phaneroganien  zu  erklären  sein. 

Wir  führen  die  Antimeren  oder  Gegenstücke  als  morphologische 
Individuen  dritter  Ordnung  auf,  weil  die  echten,  eigentlichen  Anti- 
meren in  allen  Fällen  Organ-Complexe  darstellen,  also  Einheiten,  welche 
aus  einer  Vielheit  von  Forni-Individuen  zweiter  Ordnung  bestehen. 
Vielleicht  dürfte  es  in  mehrfacher  Beziehung  richtiger  erscheinen,  die 
Rangordnung  der  beiden  Individualitäten  zu  wechseln  und  die  Anti- 
meren als  die  morphologischen  Individuen  zweiter,  die  Organe 
als  die  morphologischen  Individuen  dritter  Ordnung  aufzustellen. 
Hierfür  könnte  namentlich  angeführt  werden,  dass  auch  bei  vielen 
Organismen,  welche  noch  keine  distineton  Organe  besitzen,  dennoch 
der  Körper  (eine  einfache  Plastide)  bereits  aus  Antimeren  zusammen- 


III.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  Antimeren.  311 

gesetzt  erscheint,  wie  z.  B.  bei  den  Desmidiaceen,  Diatomeen  und 
vielen  anderen  Protisten;  ferner,  dass  auch  jedes  einzelne  Organ  aus 
mehreren  Antimeren  zusammengesetzt  scheinen  kann,  z.  B.  ein  einfaches 
Blatt  aus  zwei,  ein  handförmiges  (in  drei,  vier,  fünf  gleiche  Lappen 
gespaltenes  Blatt)  aus  drei,  vier,  fünf  Antimeren  etc.  Indessen  würde, 
streng  genommen,  diese  Auffassung  dazu  führen,  das  Antimer  sogar 
als  morphologisches  Individuum  erster  Ordnung  hinzustellen,  da  ja 
die  meisten  einzelligen  Organismen  bereits  deutlich  aus  zwei  oder 
mehreren  Antimeren  zusammengesetzt  erscheinen,  mithin  eine  einzelne 
Plastide  eine  Einheit  repräsentirt,  welche  aus  einer  Vielheit  von  Anti- 
meren bestehen  würde.  Hier,  wie  auch  sonst  in  vielen  Fällen,  scheint 
eine  strenge  Rangordnung  der  morphologischen  Individualitäten  nicht 
durchführbar  zu  sein,  zumal  wenn  dieselben,  wie  es  so  oft  geschieht,  in 
verwickelter  Weise  in  einander  greifen.  Wir  können  diese  Rangord- 
nung aber  auch  im  vorliegenden  Falle  bestimmt  dadurch  feststellen, 
dass  wir  die  Subordination  der  einzelnen  Kategorieen  in  allen  Organis- 
men untersuchen  und  hieraus  das  allgemeine  Gesetz  ableiten;  und 
auf  dieser  empirischen  Grundlage  erscheint  uns  die  von  uns  gewählte 
Rangordnung  als  die  richtigste.  Der  scheinbare  Widerspruch  löst  sich, 
sobald  wir  scharf  zwischen  Antimeren  und  Parameren  (Gegen- 
stücken und  Nebenstücken)  unterscheiden. 

In  sehr  vielen  Fällen  sehen  wir,  dass  untergeordnete  Theile, 
z.  B.  einzelne  Organe,  die  Gesammtform  sowohl  als  die  characte- 
ristische  Zusammensetzung  des  ganzen  Organismus  wiederholen.  So 
wiederholt  sich  z.  B.  bei  den  Arthropoden  die  Gliederung  des  Rumpfes 
in  derjenigen  der  Extremitäten,  bei  den  Mimosen  die  Stengel gliederung 
in  derjenigen  der  gefiederten  Blätter.  Ebenso  sehen  wir,  dass  die 
homotypische  Zusammensetzung  des  ganzen  Organismus  sich  häufig 
in  einer  analogen  Zusammensetzung  einzelner  Theile  oder  Organe 
wiederholt.  Letztere  erscheinen  oft  in  so  regelmässiger  und  constanter 
Weise  aus  homotypischen  Theilen  zusammengesetzt,  wie  die  ganze 
Person,  z.  B.  die  einfachen  Blätter  der  Phanerogamen  (also  Organe!) 
aus  zwei  symmetrischen  Hälften.  Um  nun  jede  Verwechselung  dieser 
untergeordneten  Gegenstücke  mit  den  Antimeren  des  ganzen  Organismus 
auszuschliessen,  wollen  wir  die  ersteren  allgemein  als  homonome 
Theile,  Nebenstücke  oder  Parameren  bezeichnen.  Solche  sind 
also  z.  B.  die  beiden  Hälften  der  dipleuren  Blätter,  die  drei  Blättchen 
von  dreizähligen  Blättern  (z.  B.  vom  Kleeblatt),  die  drei  Arme  der 
dreiarmigen  Pedicellarien  der  Echinodermen ,  die  fünf  Zehen  des 
menschlichen  Fusses  und  des  Wirbelthierfusses  überhaupt. 

Parameren  oder  Nebenstücke  (homonome  Theile)  sind  also  all- 
gemein entsprechende  Theile,  welche  um  eine  Kreuzaxe  oder  Breiten- 
axe  des  Körpers  (oder  um  die  Hauptaxe  eines  einzelnen  Körpertheils) 


312  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

herum  neben  einander  liegen.  Antimeren  oder  Gegenstücke  dagegen 
sind  entsprechende  Theile,  welche  um  die  Hauptaxe  (Längsaxe)  des 
Körpers  herum  neben  einander  liegen.  Parameren  sind  stets  unterge- 
ordnete Theile  eines  Form-Individuums  erster  oder  zweiter,  Antimeren 
dagegen  stets  vierter  oder  fünfter  Ordnung.  Die  Parameren  verhalten 
sich  demnach  zu  den  Antimeren  ganz  analog,  wie  die  sogleich  zu 
besprechenden  Epimeren  zu  den  Metameren. 


IV.    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung: 
Metameren  oder  Folgestücke. 

(Homodyname  Theile  oder  allgemein  homologe  Theile.) 

Mehr  Aufmerksamkeit,  als  den  Antimeren,  hat  man  bisher  den 
Metameren  geschenkt,  obwohl  dieselben  gewöhnlich  nicht  in  so  con- 
stanter  Zahl  und  in  so  begrenzter  Form  als  gestaltbestimmende  Ein- 
heiten zu  einer  Mehrheit  zusammentreten,  wie  es  bei  jenen  der  Fall 
ist.  Da  dieselben  aber  häufiger  als  die  Autinieren  die  Rolle  von 
physiologischen  Individuen  spielen,  und  ausserdem  in  der  Axe  der 
Phanerogamen  als  Stengelglieder,  im  Rumpfe  der  Vertebraten  und 
Articulaten,  (dort  innerlich  als  „Wirbelsegmente ",  hier  äusserlich 
als  Ringe  oder  Zoniten)  sehr  autfallend  hervortreten,  so  hat  man  ihnen 
immerhin  eingehendere  Betrachtungen  in  einzelnen  Stämmen  gewidmet. 

Das  Verhältniss  der  Metameren  zu  den  Antimeren  ist  bisher  unseres 
Wissens  nur  von  dem  trefflichen  Broun  näher  zu  bestimmen  versucht 
worden,  welcher  sich  iu  seinen  morphologischen  Studien  (p.  410)  folgender- 
maassen  über  diese  beiderlei  wesentlichen  Fonneinheiten  ausspricht:  „Man 
hat  Homologie  genannt  die  vollkommene  Uebereinstimmung  der  Theile 
verschiedener  Pflanzen  und  Thiere  in  ihrer  relativen  ursprünglichen  Lage, 
anderen  Theilen  gegenüber,  ohne  alle  Rücksicht  auf  ihre  Form.  So  sind 
die  Vorderbeine  aller  Wirbelthiere  homolog,  mögen  es  nun  Flossen,  Flügel, 
Grab-Apparate,  Gehfüsse  oder  Arme  mit  Händen  sein.  Wir  haben  früher 
(1850)  Theile  eines  und  desselben  Thieres  homonom  (gleichgesetzlich)  ge- 
nannt, welche  von  einerlei  Art  oder  nach  einerlei  Gesetz  oder  Plan  ge- 
bildet sind,  müssen  aber  jetzt  der  Deutlichkeit  wegen  noch  genauer  unter- 
scheiden. Wir  nennen  homo typische  solche  Organe,  welche  nach  der 
Grundform  des  Typus  oder  System -Kreises,  wozu  sie  gehören,  eine  ganz 
identische  Stelle  im  Individuum  einnehmen  und  daher  auch  ihrer  Zahl  nach 
fest  bestimmt  sind.  Sie  werden  daher  in  ihrer  Lage  in  Bezug  zur  Haupt- 
axe des  Organismus  so  weit  übereinstimmen,  dass  sie  deu  zwei  Polen  einer 
beliebigen  Queraxe  oder  zweier  gleicher  Radien  desselben  entsprechen. 
Dann  wird  es  also  bei  jedem  höheren  Thiere  nur  zwei  homotypische  Beine, 
Finger,  Rippen,  Zähne,  und  bei  den  Strahlthieren  nur  je  vier,  fünf,  sechs 
homotypische    Strahlen,     Arme,     Fühlergiinge,    Strahleuleisten     und    dgl. 


IV.    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:  Metameren.  313 

geben  können.  Wir  wählen  dagegen  den  Ausdruck  homonym  (gleich- 
namig) für  solche  Formbestandtheile  eines  und  des  nämlichen  Thieres  oder 
Vegetabils,  die,  auch  im  gewöhnlichen  Leben  unter  einerlei  Namen  zusam- 
menbegriffen, und  nach  einerlei  Plane  gebildet,  doch  immer  insofern  in 
der  Lage  von  einander  abweichen,  als  sie  an  einer  Haupt-  oder  Strahlen- 
Axe  hinter,  oder  in  dem  Pole  einer  Quer-Axe  nebeneinander  liegen.  Zu  den 
ersten  gehören  alle  Ringel  eines  Kerbthieres,  alle  succet>siven  Fuss-,  Zahn- 
und  Rippen- Paare  eines  Thieres,  die  successiven  Paare  oder  alternirenden 
Individuen  von  Gliedern,  Fiederästen,  Pedicellen  und  Ranken  am  Arme 
eines  Crinoiden  etc.  Zu  den  letzten  gehören  alle  Finger  und  Zehen  einer 
Hand  und  eines  Fusses,  dahin  auch  die  successiv  verschiedenen  Cyclen 
von  Strahlenleisten  in  einem  Korallenbecher  u.  s.  w.  Die  homotype  Grund- 
zahl ist  bei  den  Strahlthieren  6,  5,  4,  3,  bei  den  höheren  Thieren  2.  Für 
die  homonymen  Organe  aber  giebt  es  keine  andere  Grundzahl,  als  das  Paar 
oder  die  Einheit." 

Das  Yerhältniss  zwischen  gewissen,  durch  ähnliche  Lagerung  sich  ent- 
sprechenden Theilen,  welches  Bronn  als  Homonymie  bezeichnet,  ist  auch 
von  Andern  nach  R.  Owen  „Allgemeine  Homologie"  oder  „Homologie  der 
Reihe"  genannt.  Owen  unterscheidet  drei  verschiedene  Arten  der 
Homologie:  1.  Homologie  der  Reihe,  wenn  gleichartig  gebildete  und 
aufeinander  folgende  Organe  oder  Theile  des  Körpers  eines  und  des- 
selben Thieres  unter  einander  verglichen  werden,  also  z.  B.  das  Verhält- 
niss  der  verschiedenen  hinter  einander  liegenden  Segmente  eines  Glieder- 
thieres  zu  einander  oder  der  verschiedenen  Abschnitte  der  Wirbelsäule 
eines  Wirbelthieres  zu  einander.  2.  Allgemeine  Homologie,  wenn  ein 
Theil  oder  eine  Reihenfolge  von  Theilen  auf  den  geineinsamen  Gruudtypus 
bezogen  wird,  und  deren  Erscheinung  einen  Begriff  jenes  Grundtypus  in  sich 
birgt,  auf  welchen  eine  Thiergruppe  aufgebaut  ist,  so  z.  B.  das  Yerhältniss 
der  Schädelwirbel  oder  der  Kreuzwirbel  zum  Grundtypus  des  Wirbels. 
3.  Specielle  Homologie,  wenn  zwei  (oder  mehrere)  correspon- 
dirende,  durch  bestimmte  Lage  und  Verhältniss  zum  Ganzen  überein- 
stimmende Theile  von  zwei  (oder mehreren)  verschiedenen  Thieren  mit 
einander  verglichen  und  auf  den  gleichen  Grundtypus  reducirt  werdeu, 
z.  B.  der  Flügel  eines  Vogels  und  die  Brustflosse  eines  Fisciies. 

Versucht  man  sich  die  etwas  dunkeln  Definitionen,  die  Owen  von  sei- 
nen drei  Arten  der  Homologie  giebt,  aufzuklären  und  durch  Beispiele  zu 
erläutern,  so  stellt  sich  alsbald  heraus,  dass  die  allgemeine  Homologie  und 
die  Homologie  der  Reihe  nicht  zu  unterscheiden  sind,  und  dass  die  ver- 
suchte Unterscheidung  beider  nur  darauf  beruht,  dass  die  gegenseitigen 
Beziehungen  der  beiden  zu  vergleichenden  Theile  in  der  letzteren  beschränk- 
ter, weniger  klar  und  allgemein  aufgefasst  sind,  als  in  der  ersteren.  Die 
Homologie-der  Reihe  begnügt  sich  mit  einer  unvollständigen  und  un- 
klaren Erkenntniss,  indem  sie  die  beiden  zu  vergleichende  Theile  nur  un- 
ter einander  und  ohne  Hervorhebung  des  gemeinsamen  Grundtypus  ver- 
gleicht, während  die  allgemeine  Homologie  das  gegenseitige  Verhält- 
niss schärfer  und  mit  besonderer  Beziehung  zum  gemeinsamen  Grund- 
typus   vergleicht.     Es    bleiben    mithin    nur    zwei    verchiedene    Arten    der 


314  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

Homologie  übrig,  allgemeine  und  specielle  Homologie.  Von  diesen  fällt 
die  allgemeine  Homologie  zusammen  mit  dem,  was  Bronu  Homonymie" 
nennt,  während  die  specielle  Homologie  diejenige  Beziehung  zweier  zu 
vergleichender  Theile  bezeichnet,  welche  die  vergleichende  Anatomie 
kurzweg  Homologie  nennt,  Beide  Ausdrücke  sind  rein  morphologi- 
scher Natur  und  vergleichen  lediglich  die  Form  der  beiden  entsprechen- 
den Theile,  während  diejenige  physiologische  Art  der  Yergleichuug,  welche 
sich  auf  die  Function  zweier  correspondireuder  Theile  bezieht,  allgemein 
Analogie  genannt  wird.1)  Die  Homonymie  vergleicht  zwei  correspon- 
dirende  Theile  eines  und  desselben  TMeres,  während  die  Homologie  zwei 
entsprechende  Theile  von  zwei  verschiedenen  Thieren  in  Vergleichung 
zieht. 

Wollen  wir  den  viel  gebrauchten,  aber  auch  viel  missbrauchten 
Begriff  der  Homologie  fernerhin  mit  Vortheil  anwenden,  so  ist  es 
noth wendig,  ihn  bestimmt  zu  präcisiren  und  stets  nur  in  dem  zuletzt 
erwähnten  Sinne  (von  Owens  ., specieller  Homologie")  anzuwen- 
den, indem  wir  zwei  oder  mehrere  entsprechende  Theile  von 
zwei  oder  mehreren  verschiedenen  Organismen  in  Bezug  auf 
ihre  gemeinsame  Grundform  vergleichend  betrachten.  Hierbei  können 
wir  schon  im  Voraus  darauf  hinweisen  (was  im  sechsten  Buche  näher 
erläutert  werden  wird),  dass  eine  solche  wahre  Homologie  nur 
stattfinden  kann  zwischen  zwei  Theilen,  welche  aus  der  gleichen 
ursprünglichen  Anlage  entstanden  sind  und  sich  erst  im  Laufe 
der  Zeit  durch  Differenzirung  von  einander  entfernt  haben.  Dem- 
gemäss  können  auch  nur  zwei  Theile  homolog  sein,  welche  zwei 
Thieren  eines  und  desselben  Stammes  (oder  Kreises,  Phylon) 
angehören  (z.  B.  zwei  Wirbelthieren,  oder  zwei  Gliederthieren) ;  nie- 
mals kann  aber  eine  wahre  Homologie  stattfinden  zwischen  zwei 
Theilen,  welche  zwei  Thierformen  von  zwei  verschiedenen  Stämmen 
angehören,  z.  B.  zwischen  zwei  Theilen  eines  Wirbelthiers  und  eines 
Gliederthiers,  mögen  dieselben  auch  noch  so  ähnlich  zu  sein  scheinen. 

Auch   den  Begriff  der  Homonymie   Bronns    (der  mit   Owens 


')  Obgleich  der  Unterschied  der  Homologie  und  Analogie  ein  so  klarer 
und  bestimmter  ist,  werden  beide  .Ausdrücke  dennoch  sehr  häufig  verwechselt 
und  durch  die  Vermischuug  beider  Begrifi'e  grosse  Verwirrung  angerichtet,  Es 
mag  daher  hier  nochmals  scharf  hervorgehoben  werden,  dass  beide  Begriffe  nur 
durch  das  gemeinsame  Tertium  der  Vergleichung  mit  einander  zusammen- 
hängen, dass  sie  zwei  verschiedene  Arten  der  Vergleichung  sind.  Die 
Analogie  oder  die  physiologische  Vergleichung  kann  nur  die  ent- 
sprechende Function  zweier  Theile  betreffen,  während  die  Homologie  oder 
die  morphologische  Vergleichung  stets  nur  die  correspondirende  Form 
zweier  Theile  betreffen  kann.  Analog  sind  z.  B.  die  Kiemen  der  Fische  und 
die  Lungen  der  öäugethiere,  während  homolog  die  Schwimmblasen  der  Fische 
und  die  Lungen  der  iSäugethiere  sind. 


IV.    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:  Metameren.  315 

allgemeiner  Homologie  und  Homologie  der  Reihe  zusammenfällt) 
werden  wir  noch  näher  zu  bestimmen  und  in  zwei  verschiedene  Be- 
griffe zu  zerlegen  haben.  In  Bronn's  oben  mitgetheiltem  Sinne  be- 
zeichnet derselbe  ganz  allgemein  die  Beziehung  zwischen  zwei  ähn- 
lichen Theilen,  die,  ,,nach  einerlei  Plan  gebildet,  doch  immer  insofern 
in  der  Lage  von  einander  abweichen,  als  sie  an  einer  Haupt-  oder 
Strahlen-Axe  hinter,  oder  in  dem  Pole  einer  Quer-Axe  neben  ein- 
ander liegen. "  In  dieser  Definition  sind  schon  wesentliche  Differenzen 
der  als  „homonym"  zusammengefassten  Theile  angedeutet.  Denn  es 
ist  klar,  dass  wir  nicht  ohne  Weiteres  derartige  hinter  oder  neben 
einander  gelegene  Abschnitte  mit  einander  vergleichen  können, 
gleichviel,  ob  sie  in  einer  Haupt-  (Längs-)  Axe  oder  in  einer  Quer- 
Axe  hinter  einander  oder  neben  einander  liegen.  Wir  werden  z.  B. 
nicht  die  einzelnen  Segmente  des  Gliederthier- Rumpfes  (einer  Haupt- 
axe)  und  diejenigen  seiner  Extremitäten  (Seitenaxen)  direct  als  ein- 
ander gleichwerthig  betrachten  dürfen. 

Um  uns  über  diese  eben  so  schwierigen  als  wichtigen,  bisher  aber  noch 
keiner  scharfen  Erörterung  unterzogenen  Verhältnisse  der  Furnien-Zusammen- 
setzung  zu  verständigen,  ist  es  nöthig,  aus  dem  vierten  Buche  einige  Be- 
stimmungen über  die  allgemeine  Bezeichnung  der  wesentlichsten  Axen  vor- 
auszunehmen; die  Begründung  derselben  ist  dort  nachzusehen.  Wir  unter- 
scheiden an  den  sogenannten  bilateral-symmetrischen  Thiereu  (Wirbel- 
Glieder-,  Weichthieren),  deren  Grundform  wir  unten  als  Dipleure  näher 
bestimmen  werden,  drei  auf  einander  senkrechte  Axen,  welche  den  drei 
Dimensionen  des  Raumes  entsprechen.  Die  erste  oder  Längsaxe  (Axis 
longitudinalis),  welche  gewöhnlich  von  vorn  nach  hinten  geht,  betrachten 
wir  als  die  Haupt  axe;  ihr  einer  Pol  ist  der  Mundpol  (Polus  oralis, 
Peristomii),  ihr  anderer  der  Gegenmundpol  (Polus  aboralis,  Antistornii)- 
Die  zweite  Axe,  welche  vom  Rücken  zum  Bauch  geht,  nennen  wir  Dicken- 
axe  (Axis  dorsoventralis);  ihr  einer  Pol  ist  der  Rückenpol  (Polus  dorsa- 
lis),  ihr  anderer  der  Bauchpol  (Polus  ventralis).  Die  dritte  Axe,  welche 
von  Rechts  nach  Links  geht,  ist  unsere  Breitenaxe  (Axis  lateralis);  ihr 
einer  Pol  ist  der  rechte,  ihr  anderer  der  linke  Pol.  Bei  den  sogenann- 
ten „Strahlthiereu"  oder  Radiaten,  welche  man  auch  oft  als  reguläre  be- 
zeichnet, ebenso  bei  den  meisten  Geschlechts-Individuen  (Blüthensprossen) 
der  Phanerogamen  sind  die  bezeichneten  drei  Axen  bald  zu  unterscheiden 
(wenn  sie  zur  Formgruppe  der  Centrepipeden  gehören),  bald  nicht.  Im 
letztern  Falle  (bei  den  vollkommen  „regulären"  Strahlthieren  und  Blüthen) 
ist  bloss  die  Längendimension  durch  eine  Axe  bestimmt  und  diese  Haupt- 
axe  ist  die  Längsaxe,  welche  vom  Mundpol  zum  Gegenmundpol  geht  (z.  B. 
beim  Seestern  vom  Mund  zum  After,  bei  der  Meduse  vom  Mund  zur 
Mitte  der  Glockenwölbung,  bei  der  regulären  trichterförmigen  Blüthe  von 
der  Mündung  zum  Grunde  (Ansatz)  der  Blüthe.  Die  anderen  Axen,  welche 
durch  die  Zahl  der  „Strahlen"  bestimmt  werden,  in  der  Mitte  dieser  „Strahlen, 
abschnitte"  verlaufen  und  sich  in  der  Hauptaxe  kreuzen,  fünf  bei  den  Echino- 


31  fi  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

dermen  und  den  meisten  Dicotyledoncn  -  Blüthen,  vier  bei  den  meisten 
Medusen  und  vielen  Dicotvledonen ,  drei  bei  vielen  Kadiolarien  und  den 
meisten  Monocyletodonen-Blüthen)  nennen  wir  Kreuzaxen  (Stauri). 

Eine  der  häufigsten  Erscheinungen,  welche  der  Organismus  der 
höhereu  Thiere  bezüglich  seines  Aufbaues  aus  untergeordueteu  Theilen 
darbietet,  ist  die  Gliederung  oder  Segmentirung  desselben,  d.  h. 
die  Bildung  von  hinter  einander  in  einer  Axe  gelegenen  Abschnitten, 
deren  jeder  im  Wesentlichen  dieselbe  Anzahl  von  Organen  in  gleicher 
oder  ähnlicher  Lagerung.  Zusammensetzung,  Forin  etc.  wiederholt. 
Diese  Gliederung,  wie  sie  am  ausgesprochensten  bei  den  Wirbelfilieren, 
Gliederthieren  und  Echinodermen  auftritt  (während  sie  den  Weich- 
thieren  in  sehr  characteristischer  Weise  abgeht),  kann  sowohl  den 
Stamm  (in  der  Längsaxe)  als  die  seitlicheu  Anhänge  des  Stammes 
betreffen,  welche  entweder  in  der  Breitenaxe  (bei  den  Gliederthieren) 
oder  in  den  Kreuzaxen  (bei  den  Strahlthieren)  hinter  einander  liegen. 
In  beiden  Fällen  werden  die  Segmente  von  Bronn  als  homonyme 
Theile  bezeichnet.  Ganz  denselben  allgemeinen  morphologischen 
Werth,  wie  den  einzelneu  Segmenten  oder  Zoniten  des  Wirbel- 
und  Glieder-Thier-Rumpfes,  müssen  wir  auch  den  einzelnen 
Stengelgliedern  der  Phauerogamen  zugestehen.  Auch  diese  sind 
Wiederholungen  homonymer  Theile  in  der  Hauptaxe.  Und  ebenso 
tragen  wir  kein  Bedenken,  die  Gliederung,  die  sich  in  Seitentheilen 
(Blattorganen)  der  Phauerogamen  ausspricht,  z.  B.  in  den  gefiederten 
Blättern,  der  Gliederung  der  Seitenanhänge  (Extremitäten)  bei  den 
Wirbel-  und  Gliederthieren  gleichzusetzen. 

Für  die  richtige  Werthschätzung  der  Rangstufe  der  subordiuirten 
Formgruppen,  aus  denen  sich  der  ganze  Leib  jener  gegliederten  Thiere 
und  Pflanzen  aufbaut,  ist  es  aber  durchaus  uothwendig,  diese  beiden 
Fälle  wohl  zu  unterscheiden.  Wir  werden  daher  den  von  Bronn 
eingeführten  Namen  der  Homonymie  auf  das  Verhältniss  der  hinter 
einander  liegenden  Segmente  beschränken,  welche  durch  Gliederung 
eines  nicht  in  der  Hauptaxe  liegenden  Seitentheils  entstehen,  welcher 
also  einer  Breitenaxe  oder  Kreuzaxe  entspricht;  während  wir  dagegen 
die  wechselseitige  Beziehung  derjenigen  Segmente,  welche  durch 
Gliederung  des  Rumpfes  selbst  in  der  Hauptaxe  (Längsaxe)  entstehen, 
als  Homodynamie  zu  bezeichnen  vorschlagen.  Ferner  werden  wil- 
der Kürze  und  Bequemlichkeit  halber  die  Segmente  der  Haupt  - 
axen  oder  die  homodynamen  Theile  Metameren,  die  Seg- 
mente der  Kreuzaxen  (oder  Breitenaxen)  oder  die  homo- 
nymen Theile  Epimereu  nennen. 

Homonyme  Organe  in  unserem  Sinne  oder  Epimeren  sind 
also  z.  B.  die  Extremitäten  -  Abschnitte  (z.  B.  Oberarm,  Vorderarm, 
Carpus,  Metacarpus,  Phalangen  der  vorderen  Extremität)  der  Wirbel- 


IV.    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:  Metameren.  317 

thiere,  ferner  die  sogenannten  Glieder  oder  Segmente  der  Extremitäten 
(z.  B.  coxa,  trochanter,  femur,  tibia,  tarsus)  der  Gliederthiere,  ferner 
die  einzelnen  Abschnitte  der  Armzweige  (Pinnulae  etc.)  bei  den  Cri- 
noiden,  die  einzelnen  Nesselringe  an  den  Tentakeln  der  Medusen  u.  s.  w. 
Im  Pflanzenreiche  haben  wir  dem  entsprechend  als  Epimeren  oder 
homonyme  Theile  alle  ähnlichen  Gliederbildungen  an  den  Blättern  zu 
betrachten,  z.  B.  die  Fiederu  der  gefiederten  Blätter  etc. 

Homo  dy  na  nie  Organe  oder  Metameren  sind  dagegen:  bei 
den  Wirbelthieren  die  einzelnen  Abschnitte  des  Rumpfes,  deren  jeder 
einem  Urwirbel,  und  am  ausgebildeten  Thiere  einem  Wirbel  nebst  zu- 
gehörigen Organen  entspricht  (einem  Rippenpaar,  einem  Gauglienpaar 
des  Sympathicus,  einem  Paar  austretender  Intercostal-Nerven  und  Ge- 
fässe  etc. ;  bei  den  Gliederthieren  ebenso  die  hinter  einander  liegen- 
den Segmente  oder  Glieder  des  Rumpfes,  die  bei  den  Gliederfüsseru 
schon  weit  differenzirt  (heteronom ),  bei  den  Würmern  dagegen  noch 
sehr  gleichartig  (homonom)  sind,  so  dass  in  jedem  Stücke  dieselben 
Organe  sich  wiederholen.  Ebenso  stark  entwickelt  wie  bei  den  Wirbel- 
und  Glieder-Thieren  ist  die  Homodynamie  oder  Metameren-Bilduug 
auch  bei  den  Echinodermen;  hier  haben  wir  als  Metameren  zu  be- 
trachten: bei  den  Echinideu  die  hinter  einander  liegenden  Platten- 
paare jedes  Ambulacrums,  nebst  entsprechendem  Segmente  des  Anibu- 
lacralsystems,  Nervensystems  etc.,  bei  den  Ästenden  die  sogenannten 
Winkelstücke  oder  Pseudovertebrae  der  Arme, ')  bei  den  Crinoiden  die 
Stengelglieder  des  Stiels  etc.  Vollkommen  diesen  entsprechende  Me- 
tameren sind  im  Pflanzenreiche  die  Stengelglieder  der  Phanerogamen. 
Die  Metameren  sind  also  subordiuirte  Theile  (Glieder)  eines  Forai- 
Individuuins  fünfter,  die  Epimeren  dagegen  erster,  zweiter  oder  drit- 
ter Ordnung. 

Die  Metameren  oder  homodynamen  Körperabschnitte  haben  als 
Gliederungen  der  Hauptaxe  (Längsaxe)  natürlich  einen  weit  höheren 
morphologischen  Werth  als  die  Epimeren,  welche  nur  als  Gliederungen 
der  Nebenaxen  (Breitenaxe  oder  Kreuzaxen)  auftreten.  Auch  werden 
wir  unten  sehen,  dass  die  letzteren  im  Thierreiche  niemals  oder  nur 
sehr  selten  der  physiologischen  Iudividualisation  fähig  sind,  welche 
die  ersteren  sehr  leicht  und  häufig  erlangen.  Die  Metameren  sind  bei 
den  niederen  Formen  des  Thierstammes,  in  welchem  sie  auftreten, 
lediglich  Multiplicationen  der  speeifischen  Form  der  betreffenden  Art, 
Wiederholungen,    welche  ursprünglich  so  unabhängig  sind,    dass    sie 

')  Auf  den  ersten  Blick  könnte  man  mehr  geneigt  sein,  diese  Theile  der 
Echinodermen  als  Epimeren,  als  homonyme  Theile  zu  betrachten.  Indessen  lehrt 
eine  tiefere  Erfassung  der  schwierigen  Echiuodermen-Homologien,  dass  wir  die- 
selben mit  grösserem  Rechte  als  Metameren  oder  homonyme  Theile  auffassen. 
Vergl.  hierüber  das  VI.  Buch. 


318  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

sehr  leicht  sich  von  einander  abtrennen  und  dass  alsdann  jedes  ein- 
zelne Metamer  jene  Species-Form  mehr  oder  weniger  vollständig  re- 
präsentirt.  Die  Epimeren  dagegen  vermögen  niemals  in  ähnlicher 
Weise  die  Species-Form  zu  vertreten,  da  sie  eben  nicht  Wiederholungen 
des  ganzen  Organismus,  sondern  nur  Multiplicationen  von  einzelnen 
seitlichen  Theileu  desselben,  von  Organen  verschiedener  Ordnung  sind. 
Die  Epimeren  verhalten  sich  zu  den  Metameren  ganz  analog,  wie  die 
Parameren  zu  den  Antimeren. 

Die  sogenannte  Gliederung  oder  homodyname  Zusammensetzung 
des  ganzen  Organismus  (dessen  physiologische  Individualität  in  Form 
der  Person  auftritt),  wie  sie  bei  den  Wirbelthieren,  den  meisten 
Gliederthieren,  Echinodermen  und  den  meisten  Phanerogamen  statt- 
findet, bekundet  einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Organisation 
und  wir  können  daher  allgemein  diese  Organismen  als  höher  und 
vollkommener  bezeichnen,  im  Vergleich  zu  jenen,  bei  denen  die  Meta- 
meren-Bildung  fehlt,  und  bei  denen  mithin  das  physiologische  Indivi- 
duum selbst  nur  den  Werth  eines  Metameres  erreicht,  wie  bei  den 
niederen  Würmern,  den  Mollusken  etc.  Besonders  lehrreich  für  die 
richtige  Auffassung  der  Homodynamie  oder  der  Metameren-Bildung  ist 
die  allmählige  Uebergangsreihe  von  ungegliederten  zu  gegliederten 
Formen,  wie  sie  uns  die  niederen  Würmer  (besonders  Cestoden)  zeigen; 
hier  zeigt  sich  auf  das  Klarste,  wie  dieselben  Theile  (Metameren), 
die  in  den  niederen  Formen  als  physiologische  Individuen  auftreten, 
in  den  höheren  Formen  nur  den  Rang  von  homodynamen  Theileu 
haben.      (Vergl.  den  IV.  Abschnitt  des  zehnten  Capitels). 


V     Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung: 
Personen  oder  Prosopen. 

(Sprosse  oder  Blasti.) 

Wir  gelangen  nunmehr  im  aufsteigenden  Stufengange  unserer  Be- 
trachtung zu  derjenigen  höheren  organischen  Formeinheit,  welche  so- 
wohl der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  der  Laien,  als  auch  die  in  der 
Zoologie  (nicht  aber  in  der  Botanik!)  allgemein  herrschende  An- 
schauungsweise als  das  Individuum  xav  i£oxi}v  oder  als  das  „eigent- 
liche" Individuum  aufzufassen  pflegt.  Obwohl  eine  unbefangene  und 
tiefer  eingehende  Betrachtung  der  organischen  Individualität  zeigt, 
dass  auch  diese  „eigentlichen"  oder  absoluten  Individuen  in  der  That 
nur  relative  sind,  und  auf  keine  andere  individuelle  Geltung  Anspruch 
machen  können,  als  sie  auch  dem  Metamer  und  allen  anderen,  vorher 
aufgeführten  Individuen  niederen  Ranges  zukommt,  und  obwohl  diese 
„eigentlichen"    Individuen    bei    den    meisten    höhereu    Pflanzen    und 


V.    Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Personen.  319 

Coelenteraten  nur  als  subordinirte  Bestandtheile  einer  noch  höher 
stehenden  Einheit,  des  Stockes  erscheinen,  so  ist  dennoch,  ausgehend 
von  der  Individualität  des  Menschen  und  der  höheren  Thiere,  die  irr- 
thümliche  Autfassung  der  morphologischen  Individuen  fünfter  Ordnung 
als  der  „eigentlichen"  organischen  Individuen  eine  so  allgemeine  ge- 
worden, und  hat  sich  so  fest  in  dem  wissenschaftlichen  sowohl  als  im 
Volks -Bewusstsein  eingenistet,  dass  wir  sie  als  die  Hauptquelle  der 
zahlreichen  verschiedenartigen  Autfassungen  und  Streitigkeiten,  die  in 
Betreff  der  organischen  Individualität  herrschen,  bezeichnen  müssen. 

Um  diese  „eigentliche"  Individualität,  welche  sich  durch  be- 
stimmte morphologische  Eigenschaften  mit  voller  Sicherheit  als  ein 
„morphologisches  Individuum  fünfter  Ordnung"  scharf  characterisiren 
lässt,  ein  für  allemal  von  allen  anderen  organischen  Individualitäts- 
Formen  zu  unterscheiden,  wollen  wir  für  dieselbe  beständig  die  Bei- 
zeichnung der  Person  oder  des  Pros opon1)  beibehalten.  Mit  diesem 
Ausdrucke  lehnen  wir  uns  unmittelbar  an  den  bestehenden  Sprachge- 
brauch an,  welcher  ja  insbesondere  das  menschliche  Individuum  sehr 
allgemein  als  „Person"  bezeichnet.  Die  Botaniker  gebrauchen  zur  Be- 
zeichnung derselben  morphologischen  Individualität  fünfter  Ordnung 
den  Ausdruck  Spross  oder  Blastus,  welcher  sehr  häutig  irrthümlich 
durch  den  keineswegs  gleichbedeutenden  Ausdruck  der  Knospe  (Gerama) 
ersetzt  wird.  Wir  machen  daher  ausdrücklich  darauf  aufmerksam, 
dass  im  Sinne  der  besten  Botaniker,  und  namentlich  im  Sinne  der- 
jenigen, welche  die  Individualität  der  Sprosse  am  eingehendsten  und 
klarsten  behandelt  haben,  wie  Alexander  Braun,  der  Ausdruck 
Spross  oder  Blastus  ausschliesslich  in  dem  hier  beibehaltenen  Sinne 
für  das  morphologische  Pflanzen- Individuum  fünfter  Ordnung  ge- 
braucht wird.  Der  Ausdruck  Knospe  oder  Gemma,  welcher  so  oft 
damit  verwechselt  wird,  ist  dagegen,  wenn  er  einen  scharf  bestimmten 
Begriff  bezeichnen  soll,  nur  für  diejenige  rein  physiologische  In- 
dividualität irgend  einer  Ordnung  anzuwenden,  welche  durch  den  be- 
stimmten ungeschlechtlichen  Fortpflanzungs- Modus  der  Knospenbil- 
dung (Gemmatio)  entsteht.  Wie  wir  im  siebzehnten  Capitel  noch 
näher  ausführen  werden,  ist  dieser  wichtige  Spaltungs-Process  durch 
Gemmation  bei  organischen  Individuen  aller  Ordnungen  weit  ver- 
breitet, und  es  entstehen  nicht  bloss  viele  Sprosse  durch  Knospung, 
sondern  auch  viele  Zellen,  Organe,  Metamereu  und  Stöcke.  Knospe 
oder  Gemma  bedeutet  also  in  diesem  correcten  und  fortan  stets  fest- 
zuhaltenden Sinne  ausschliesslich  ein  durch  Knospenbilduug  erzeugtes 
Individuum  irgend  einer  Ordnung.  Spross  oder  Blastus  dagegen 
nennen  wir  mit  Alexander  Braun  u.  A.  ausschliesslich  das  echte 


l)  tiqöswtiov,  to;  Persona.     ßlc<ar6i,  6;  der  Spross. 


320  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

morphologische  Individuum  fünfter  Ordnung.  Der  pflanzliche 
Spross,  Blastos,  ist  also  mit  der  thierischeu  Person,  dem  Prosopon, 
identisch  und  es  könnte  demnach  die  erstere  Bezeichnung  überflüssig 
erscheinen.  Man  kann  sie  aber  mit  Vortheil  beibehalten  für  diejenigen 
Personen,  welche  nicht  frei  als  Bionten  leben,  sondern  als  unterge- 
ordnete Bestandteile  der  höheren  Einheit,  des  Stockes  (Cormus)  auf- 
treten. Wir  werden  also  fernerhin  die  morphologischen  Individuen 
fünfter  Ordnung  nur  dann  als  Sprosse  (Blasti)  bezeichnen,  wenn  sie 
iutegrirende  Bestandteile  eines  Individuums  sechster  Ordnung  (Cormus) 
sind,  wie  bei  den  meisten  Phanerogamen  und  Coelenteraten;  dagegen 
als  Personen  (Prosopa),  wenn  sie  frei  als  selbstständige  Bionten  exi- 
stiren,  wie  bei  den  Wirbelthieren ,  Arthropoden,  und  bei  der  soge- 
nannten „einfachen  Pflanze"  d.  1k  einer  Phanerogamen  mit  ganz  ein- 
facher gegliederter  Axe,  ohne  alle  Nebenaxen  (Zweige,  Ausläufer  etc.). 

Wenn  wir  nun  in  diesem  Sinne  die  Bezeichnung  der  Person  und 
des  Sprosses  fest  beibehalten,  so  lässt  sich  deren  Begriff  als  morpho- 
logisches Individuum  fünfter  Ordnung  vollkommen  scharf  und  bestimmt 
feststellen.  Es  besteht  nämlich  das  echte  Prosopon  und  der  echte 
Blastos  in  allen  Fällen  aus  einer  Vielheit  von  untergeordneten 
Individuen  der  ersten  bis  vierten  Ordnung.  Jedes  einzelne 
morphologische  Individuuni  fünfter  Ordnung  ist  also  zusammengesetzt 
aus  mindestens  zwei  Metameren,  mindestens  zwei  Antimeren  und  ebenso 
stets  aus  einer  Vielheit  von  Organen  und  einer  Vielheit  von  Piastiden. 
Eine  jede  physiologische  Individualität,  welche  diesem  Begriffe  nicht 
entspricht,  wie  z.  B.  die  meisten  Mollusken,  welche  nicht  aus  Meta- 
meren zusammengesetzt,  sondern  selbst  ein  Metamer  sind,  können  wir 
nicht  als  Person  anerkennen. 

Die  Person  oder  das  Prosopon  in  diesem  Sinne  ist  das  morpho- 
logische Substrat  der  physiologischen  Individualität  bei  allen  Verte- 
braten  und  Arthropoden,  allen  „gegliederten  Thierenk-  überhaupt  (also 
auch  den  gegliederten  Würmern  (Anneliden,  Cestodenj.  Als  Spross 
setzt  dieselbe  die  Stöcke  der  meisten  Coelenteraten  und  Phanerogamen 
und  der  höheren  Cryptogamen  zusammen. 

Da  das  richtige  Verständnis  dieser  wesentlichen  Zusammensetzung 
des  Sprosses  aus  Vielheiten  von  Individuen  aller  vier  subordinirten  Ord- 
nungen von  sehr  grosser  Bedeutung  ist,  wollen  wir  dasselbe  an  einigen 
Beispielen  erläutern.  Nehmen  wir  zunächst  das  Wirbelthier  heraus,  und 
als  concreten  Typus  das  am  besten  bekannte  Wirbelthier,  den  Menschen 
selbst.  Der  meuschliche  Körper  besteht  zunächst  aus  zwei  Antimeren,  einer 
rechten  und  linken  Hälfte ;  er  lässt  sich  ferner  zerlegen  in  eine  Anzahl 
hinter  einander  gelegener  homodynamer  Abschnitte  oder  Metameren,  die  Reihe 
der  einzelnen  VVirbelsegmente,  mit  deren  jedem  sich  zugleich  ein  Nerven- 
paar, ein  Gelässpaar,  ein  gewisser  Muskel-    und  Knochen- Apparat   in    der 


V.    Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Personen.  321 

ganzen  Ausdehnung  der  Längsaxe  (der  Wirbelsäule)  wiederholt.  Jedes 
Metamer  und  jedes  Antiraer  ist  wieder  zusammengesetzt  aus  einem  Organ- 
complexe  verschiedener  Ordnungen.  Die  höchsten  Organcomplexe ,  die 
Apparate,  lassen  sich  zerlegen  in  Theile  von  Organsystemen,  diese  wie- 
derum in  heteroplastische  Organe,  welche  ihrerseits  theils  aus  homoplasti- 
schen Organen,  theils  aus  Zellfusionen  zusammengesetzt  sind.  In  letzter  In- 
stanz zeigen  sich  endlich  alle  Organe,  gleich  den  letzteren,  aus  einfachen 
Zellen  aufgebaut.  Wir  können  also  das  Individuum  des  ganzen  mensch- 
lichen Körpers,  dessen  morphologische  und  physiologische,  vollkommen  abge- 
schlossene und  begrenzte  Einheit  unbestritten  ist,  nachweisen  als  eine  höchst 
verwickelte  Summe  von  morphologischen  Individuen  erster,  zweiter,  dritter 
und  vierter  Ordnung,  welche  auf  die  kunstvollste  Weise  zu  einem  harmoni- 
schen Ganzen,  eines  Form-Individuum  fünfter  Ordnung,  verbunden  sind. 

Wesentlich  dieselbe  Architectonik  wie  die  Wirbelthiere,  zeigen  uns  die 
Articulaten,  bei  denen  nur  die  Zusammensetzung  der  Person  aus  den 
Metameren  wegen  ihrer  äusserlichen  Gliederung  schon  auf  den  ersten  Blick 
viel  auffallender  erscheint  als  bei  den  innerlich  gegliederten  Vertebraten. 
Nur  auf  den  niedersten  Stufen  des  Articulaten-Kreises ,  bei  den  Infusorien 
und  den  nächstverwandten  Turbellarien,  Trematoden  und  solitären  Cestoden 
(Caryophyllaeus),  bei  den  Nematoden,  Gephyreen  und  bei  einigen  an- 
deren, nicht  gegliederten  Wurmgruppen  erhebt  sich  das  Bion  nur  zum 
vierten  morphologischen  Individualitäts  -  Range,  zum  Metamer.  Bei  den 
übrigen  Würmern,  sowie  bei  allen  Arthropoden  tritt  eine  Vielheit  von 
solchen  Metameren  zur  Bildung  der  Person  zusammen.  Der  bald  dipleure, 
bald  tetrapleure  Körper  besteht  Her  allgemein  aus  zwei  oder  vier  Anti- 
meren,  und  einer  Kette  hinter  einander  gelegener  Metameren,  deren  jedes 
einen  verwickelt  gebauten  Complex  von  Organen  darstellt,  die  ihrerseits 
wieder  aus  einem  Vielheit  von  Piastiden  zusammengesetzt  sind. 

Dieselbe  tectologische  Composition  finden  wir  bei  allen  Echinodermen 
wieder,  wo  jedes  Antimer  (deren  gewöhnlich  fünf  sind)  deutlich  aus  einer 
Kette  hinter  einander  gelegenen  Metameren  zusammengesetzt  ist.  Diese 
Zusammensetzung  ist  bei  den  Holothurien  oft  nur  innerlich  (wie  bei  den 
Vertebraten),  dagegen  bei  den  Echiniden,  Ästenden  und  Crinoiden  inner- 
lich und  äusserlich  scharf  ausgesprochen. 

Weniger  leicht  ist  die  Gliederung  der  Personen  bei  den  meisten  C  o  e- 
lente raten  zu  erkennen,  insbesondere  bei  vielen  Anthozoen  und  Hydroid- 
polypen.  Bei  den  Anthozoen,  die  gewöhnlich  nicht  für  gegliedert  gelten, 
wird  die  Zusammensetzung  der  Metameren  theils  durch  äussere  ringförmige 
Einkerbung  (viele  Actinien) ,  theils  durch  äussere  und  innere  scharfe  Glie- 
derung (z.  B.  sehr  deutlich  bei  den  Isidinen),  theils  durch  Bildung  hori- 
zontaler (auf  der  Längsaxe  des  Körpers  senkrechter)  Scheidewände  (Disse- 
pimenta)  angedeutet.  Die  letzteren  sind  bald  vollständig  durchgehende 
Platten,  welche  die  Person  deutlich  in  eine  Anzahl  über  (oder  hinter)  ein- 
ander gelegener  Metameren  (Kammern,  Stockwerke)  scheiden  (Tabulae, 
Planchers,  Böden),  bald  unregelmässigere  und  theilweis  unterbrochene  Septa, 
welche  innerhalb  oder  ausserhalb  des  „Kelches"  (der  Person)  die  Gliede- 
rung andeuten  (Dissepimenta  endothecalia  und  exutheealia).  Bei  den  Stöcken 

Haeckel,  Generelle  [Morphologie.  21 


D99  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

der  Hydroidpolypen  sind  die  Grenzen  der  Metameren  meistens  an  den 
Ringelungen  oder  Gliederungen  der  Hauptsprossen  und  Seitensprossen 
(Personen)  zu  erkennen,  welche  die  Stöcke  zusammensetzen,  bei  den  mei- 
sten Siphonophoren  an  der  regelmässigen  Wiederholung  der  Metameren 
(„Individuen")  an  den  primären  und  secundären  Sprossen  der  Stöcke. 

Durch  die  Coelenteraten,  und  insbesondere  die  Hydromedusen,  werden 
wir  unmittelbar  zu  den  Pflanzen  hinübergeführt,  unter  denen  uns  die 
Phanerogamen  und  höheren  Cryptogamen  wesentlich  dieselbe  tectologische 
Zusammensetzung  erkennen  lassen.  Diejenige  Individualität,  welche  wir 
bei  den  Coelenteraten -Stöcken  mit  Recht  als  „Einzelthier"  betrachten  und 
der  Person  der  Articulaten  und  Yertebrateu  an  die  Seite  stellen,  wird  hier 
bei  den  höheren  Pflanzen  durch  den  Spross  oder  Blastus  vertreten,  d.  h. 
durch  diejenigen  Theile  des  Pflanzenstockes,  welche  als  eigene  „Axen" 
oder  „Seitenaxen,u  als  selbstständige,  aus  einem  Axenorgau  (Stengel)  und 
Blättern  (Blattorganen)  zusammengesetzten  Theile,  von  der  „Hauptaxe" 
der  ursprünglichen  Einzelpflanze  seitlich  abgehen.  Mit  seltenen  Ausnahmen 
(Viscum)  ist  jeder  dieser  seitlichen  Sprosse  ebenso  aus  einer  Anzahl  von 
hinter  einander  gelegenen  Metameren  (Stengelgliedern,  Internodia)  zusam- 
mengesetzt, wie  bei  den  meisten  Coelenteraten  und  Articulaten  und  bei  allen 
Vertebraten.  Auch  die  verschiedene  Art  und  Weise,  in  welcher  diese  ge- 
gliederten Sprosse  zu  der  höheren  Individualität  des  Stockes  zusammenge- 
setzt sind,  erscheint  bei  den  Phanerogamen  durchaus  aualug,  wie  bei  den 
Coelenteraten,  bei  den  Anthozoen  und  Hydromedusen. 

In  der  That  ist  es  überraschend,  dieselbe  wesentliche  Zusammensetzung 
der  Person  in  der  ganzen  Organismen -Welt,  vom  Moose  bis  zum  Baume, 
vom  Bandwurm  bis  zum  Menschen  überall  wieder  zu  finden.  Stets  ist  das 
morphologische  Individuum  fünfter  Ordnung,  welches  eine  so  grosse  physio- 
logische Rolle  spielt,  aus  einer  Vielheit  vou  Metameren  und  Antimereu  zu- 
sammengesetzt, deren  jedes  wieder  aus  einem  Organ-Complex  besteht.  Nie- 
mand hat  vielleicht  dieser  grossen  Wahrheit  sich  mehr  genähert  als  Goethe, 
dessen  klarer  Blick  das  innere  Wesen  der  „organischen  Naturen"  ohne 
Mikroskop  richtiger  erkannte,  als  das  mit  dem  Mikroskop  bewaffnete  Auge 
der  gedankenlosen  Naturforscher  von  Fach,  »j 


')  Ausser  der  p.  240  angeführten  Stelle,  in  welcher  Goethe  die  fundamen- 
talen Gesetze  der  Aggregation  und  Differenzirung  (Arbeitstheiluiig)  lange  vor 
Broun  und  Mi  Ine  Edwards  ausspricht,  und  einzelneu  audereu  fcstelleu  iu  der 
„Metamorphose  der  Pflanze"  ist  besonders  nachfolgender,  von  Eckerm  ann  (Ge- 
spräche mit  Göthe,  1837,  Vol.  II ,  p.  65)  verzeichneter  Ausspruch  Gothe's 
sehr  merkwürdig:  „Grosse  Geheimnisse  liegen  noch  verborgen,  manches  weiss 
ich,  von  vielem  habe  ich  eine  Ahnung.  Etwas  will  ich  Ihnen  vertrauen  und  mich 
wunderlich  dabei  ausdrücken.  Die  Pflanze  geht  von  Knoteu  zu  Knoten,  uud 
schliesst  zuletzt  ab  mit  der  Blüthe  und  dem  Sameu.  Iu  der  Thierwelt  ist  es 
nicht  anders.  Die  Raupe,  der  Bandwurm  geht  vonKuoteu  zu  Knoteu  und  bildet 
zuletzt  eineu  Kopf;  bei  den  höher  steheudeu  Thieren  und  Meuscheu  siud  es  die 
Wirbelknochen,  die  sich  aufügen  und  anfügen,  und  mit  dem  Kopfe  abschliessen, 
iu  welchem  sich  die  Kräfte  conceutrireu.     Was  so  bei  Einzelnen  geschieht,  ge- 


V.    Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Personen.  323 

In  allen  angeführten  Fällen,  also  bei  der  grossen  Mehrzahl  aller 
Thiere  und  Pflanzen,  und  insbesondere  bei  fast  allen  vollkommeneren 
Formen  beider  Reiche,  sehen  wir  die  Person  oder  den  Spross  durch 
seine  Gliederung-  oder  Articulation  characterisirt,  d.  h.  dadurch,  dass 
eine  Anzahl  homodynamer  Theile  (Metameren)  in  der  Hauptaxe  (Längs- 
axe)  des  aus  Antimeren  zusammengesetzten  Körpers  hinter  einander 
liegen.  Gewöhnlich  kömmt  diese  Gliederung  dadurch  zu  Stande,  dass 
ein  ursprünglich  einfaches  Metamer  eine  Kette  von  Terminalknospen 
treibt,  welche  durch  unvollständige  Scheidewände  (Knoten,  Nodi)  ge- 
trennt werden  und  vereinigt  bleiben.  Wir  können  also  diese  ganz 
characteristische,  typische  Form  der  Person,  welche  bei  den  meisten 
höheren  Thieren  als  Bion,  bei  den  meisten  Coelenteraten  und  Pflanzen 
als  Theil  des  Stockes  erscheint,  definiren  als  eine  Kette  von  hinter 
einander  gelegenen  Metameren,  durch  Terminalknospung  entstanden. 
(Vergl.  das  siebzehnte  Capitel). 

Nun  existiren  aber  ausser  diesen  Metameren  -Complexen,   welche 
alle  in  ihrer  gegliederten  Kettenform  übereinstimmen,  noch  andere  Me- 
tameren-Colonieen,  welche  sich  wesentlich  durch  den  gänzlichen  Mangel 
der  Terminalknospung   von    den   ersteren  unterscheiden   und  dadurch 
ein  so  verschiedenes  Ansehen  erhalten,  dass  man  dieselben  allgemein 
mit  den  Form-Individuen  sechster  Ordnung,   den  echten  Stöcken  oder 
Cormen  vereinigt   hat.     Es  gehören   hierher  alle  jene  stockähnlichen 
Synusieeu  oder  Colonieen,    welche   nicht    aus   gegliederten  Personen, 
sondern   aus    ungegliederten  Metameren    zusammengesetzt  sind.     Dies 
ist  der  Fall  nur  bei  sehr  wenigen  Pflanzen,  z.  B.  bei  Viscum,  dagegen  bei 
sehr  zahlreichen  Thieren,  nämlich  den  meisten  stockbildenden  Mollusken. 
Gleich  den  echten  Stöcken  oder  Cormen,  mit  denen  sie  allgemein  (aber 
nicht  mit  Recht!)  zusammengestellt  werden,  entstehen  diese  Pseudo-Cor- 
men,  welche  insbesondere  bei  den  Tunicaten  und  Bryozoen  eine  so  man- 
nichfaltige  Entwickelung  erreichen,  durch  lateraleKnospenbildung. 
Die  Knospen  sind  aber  keine  echten  Sprosse,  gleich  den  gegliederten 
Sprossen  oder  Blasten  der  meisten  Pflanzen  und  Coelenteraten,    son- 
dern   einfache    ungegliederte  Metameren,    über   deren   morphologische 
Aequivalenz  mit  den  frei  lebenden  „Einzelthieren "  der  höheren  Mollus- 
ken   kein  Zweifel    bestehen    kann.     Gleich  diesen  sind  sie  aus  zwei 
Antimeren  und    aus    vielen  Organen  und  Piastiden  zusammengesetzt, 


schiebt  auch  bei  ganzen  Corporationen.  Die  Bienen,  auch  eine  Reihe  von  Ein- 
zelheiten, die  sich  an  einander  schliessen,  bringen  als  Gesammtheit  etwas  her- 
vor, das  auch  den  Schluss  macht  und  als  Kopf  des  Ganzen  anzusehen  ist,  die 
Bienenkönigin.  Wie  dieses  geschieht,  ist  geheimnissvoll,  schwer  auszusprechen; 
aber  ich  könnte  sagen,  dass  ich  darüber  meine  Gedanken  habe.  So  bringt  ein 
Volk  seine  Helden  hervor,  die  gleich  Halbgöttern  zu  Schutz  und  Heil  an  der 
Spitze  stehen." 

21* 


324  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

ohne  dass  eine  Reihe  homodynamer  Theile  in  ihrer  Längsaxe  auf  ein- 
ander folgt,  können  also  nur  als  einfache  Metameren,  als  Form -In- 
dividuen vierter  Ordnung-  aufgefasst  werden. 

Da  nun    der   morphologische  Character  der  Persou  wesentlich  in 
ihrer  Zusammensetzung-  aus  Metameren  lieg-t,  da  jede  einzelne  Person 
eine  Vielheit  von  eng-  verbundenen  Folgestücken  ist,    so   werden  wir 
diese  sogenannten   ^Mollusken-Stöcke'"    der  Tunicaten   und   Bryozoen, 
sowie  die  aequivalenten  Pseudo-Cormen  von  Viscum  und  anderen  „ein- 
fachen Pflanzenstöcken  ohne  Stengelglieder"  nicht  als  echte  Stöcke  oder 
Cormen  betrachten  dürfen,   sondern  als  einfache  Personen.  Die  Richtig- 
keit dieser  Auflassung,  welche  vielleicht  Manchem  paradox  erscheinen 
könnte,   wird  durch   den  Vergleich  mit  den   ähnlichen   Coelenteraten- 
Colonieen  vollkommen  bestätigt,  besonders  aber  durch  die  unbefangene 
Betrachtung  derjenigen  Mollusken -Stöcke,  welche  nicht  durch  die  ge- 
wöhnliche Form  der  äusseren  Lateral-Kuospenbildung  entstehen,   son- 
dern durch  eine  davon  verschiedene  Spaltungs-Art,   theils   durch  eine 
innere  Knospung,    welche  sich   der  terminalen  Knospenbildung  nähert 
(Salpen)   theils    durch  Strahltheilung    oder  Diradiation    (Ascidiae  com- 
positae,  Botryllida).     Bei  den  Salpen   (ausgenommen  Salpella  pinnata 
etc.),  bei  welchen   die  an  dem  Knospenstock  (Blastorganon)  innerlich 
stattfindende    Gemination    mehr    oder   weniger    sich    der    terminalen 
nähert,  entstehen  Ketten,  welche  den  niedersten  Metameren -Ketten  bei 
den  Würmern   (Cestoden)   sehr  ähnlich  sind   und    gleich  diesen  deut- 
lich  eine  einzige  Person    darstellen.     Noch    merkwürdiger    aber  sind 
die  echten  Personen  derjenigen  Tunicaten,  bei  welchen  die  Metameren 
(hier  ebenfalls    unrichtig  ,.Einzelthiereu  genannt)    sich  fast  nach   Art 
der  Antimeren   strahlig  um   ein    gemeinsames   Centralorgan   (Kloake) 
zusammenstellen.     Dies  ist  bei  den  Botrylliden   oder  zusammengesetz- 
ten Ascidien  der  Fall,    an    welche    sich   Salpella  pinnata   unmittelbar 
anschliesst.    Ein  solches   sogenanntes  „System"  von   Einzelthieren  ist 
offenbar  nur  eine  einzige  Person,  und  es  wird  dies  dadurch  noch  be- 
stimmter bewiesen,  dass  dieselben  meistens  noch   zur  Bildung  echter 
Stöcke  (Cormen)  zusammentreten.     Aber  auch  die  verzweigten  Perso- 
nen  der  Bryozoen   unterscheiden  sich  demnach  nur  dadurch  von  den 
vorher  aufgeführten  Personen  der  meisten  Pflanzen  und  höheren  Thiere, 
dass  die  Metameren-Colonie  im  letzteren  Falle  durch  terminale,   im 
ersteren  durch  laterale  Knospenbildung  aus  einem  einfachen  Metamere 
entsteht.     Daher   werden  die  Metameren -Synusieen  hier  nicht   zu  ge- 
gliederten Ketten,  sondern  zu  verzweigten  Büschen,  ähnlich  den  echten 
Büschen   oder  Frutices   der  Phanerogamen,    wie   man  die  von  unten 
auf   verästelten   Cormen    mit    rudimentärem   Hauptstamme  zu   nennen 
pflegt.     Immerhin  ist  der  äussere  Forniunterschied   dieser  Metameren- 
Büsche  von  den  Mctamercn-Kotten  so  bedeutend,   dass  es  nicht  über 


V.    Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Personen.  325 

flüssig  erscheint,  dieselben  als  zwei  verschiedene  Arten  von  Form-In- 
dividuen fünften  Hanges  neben  einander  zu  stellen;  die  letzteren  kann 
man  Prosopa  catenata,  die  ersteren  Prosopa  fruticosa  nennen. 

Wollte  man  die  bisherige  Auffassung  der  Tunicaten-  und  Bryozoen- 
Stöcke  und  der  analogen  gliederlosen  Pflanzenstöcke  (Viscum  etc.)  als 
echte  Stöcke  oder  Cormen  beibehalten,  so  würde  dadurch  sowohl  der 
festbestimmte  morphologische  Character  der  Person  als  einer  Vielheit 
von  verbundenen  Metameren,  als  auch  der  festbestimmte  morphologische 
Character  des  Cormus  als  einer  Vielheit  von  verbundenen  Personen 
vernichtet  werden,  und  wir  würden  uns  ganz  ausser  Stande  sehen, 
denselben  durch  irgend  eine  andere,  klare  und  bestimmte  Definition 
zu  ersetzen.  Es  ist  allerdings  richtig,  dass  die  sogenannten  Stöcke 
der  Mollusken,  von  Viscum  etc.,  äusserlich  den  echten  Stöcken  der 
meisten  Phanerogamen  und  der  meisten  Coelenteraten  weit  mehr 
gleichen,  als  den  einfachen  Sprossen  derselben  und  den  Personen  der 
Articulaten  und  Vertebraten.  Allein  diese  äussere  Aehnlichkeit  ist 
lediglich  durch  die  gleiche  Entstehungsweise,  durch  die  laterale 
Knospung  bedingt,  und  muss  zurücktreten  hinter  der  viel  wichtigeren 
morphologischen  Aequivalenz  aller  Personen  als  Complexen  von  Meta- 
meren. In  den  Ketten-Personen  ist  in  der  Regel  der  Zusammenhang 
der  einzelnen  Metameren  (Zoniten,  Internodien)  ein  viel  innigerer  als 
in  den  Busch-Personen,  wo  die  einzelnen  Metameren  weit  selbstständiger 
erscheinen.  Allein  bei  den  niederen  Würmern  und  insbesondere  bei 
den  Cestoden  wird  auch  die  physiologische  Selbstständigkeit  der  In- 
ternodien so  gross,  dass  man  dieselben  desshalb  irrig  als  Einzelthier, 
äquivalent  eine  Person,  aufgefasst  hat.  Dieser  Umstand  zeigt  deutlich 
wie  allein  schon  die  grössere  physiologische  Selbstständigkeit  eines 
organischen  Individuums  dazu  verleiten  kann,  demselben  einen  höhe- 
ren morphologischen  Rang  zuzuschreiben,  als  dasselbe  wirklich  besitzt. 

Wir  können  demnach  allgemein  zwei  verschiedene  Formen  der 
morphologischen  Individualität  fünfter  Ordnung  unterscheiden: 

I.  Ketten  -  Personen  (Prosopa  catenata),  entstanden 
durch  terminale  Knospenbildung  der  Metameren:  „Eigent- 
liche Individuen"  oder  Personen  der  Wirbelthiere ,  der  meisten  Glie- 
derthiere  {aller  Arthropoden,  Anneliden  und  vieler  niederer  Würmer, 
Bandwurmketten  etc.),  aller  Echinodermen  und  der  meisten  Coelen- 
teraten; gegliederte  (aus  Internodien  zusammengesetzte)  Sprosse  der 
Pflanzen  (der  meisten  Phanerogamen  und  höheren  Cryptogamen). 

II.  Busch  -  Personen  (Prosopa  fruticosa),  entstanden 
durch  laterale  Knospenbildung  der  Metameren:  Sogenannte 
Stöcke  (Pseudo-Cormen)  der  Mollusken  (Tunicaten,  Bryozoen),  vieler 
Coelenteraten  (ohne  Rumpfgliederung)  und  einzelner  Phanerogamen 
(ohne  Stengelgliederung)   Viscum  etc.,  sowie  vieler  Cryptogamen. 


326  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

VI.  Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung: 

Stöcke  oder  Cormen. 

Den  höchsten  Grad  morphologischer  Vollendung  in  der  Zusam- 
mensetzung aus  verschiedenen  Individualitäten  finden  wir  bei  den- 
jenigen Organismen,  bei  welchen  eine  Vielheit  von  Personen  oder 
Sprossen  sich  zu  der  höheren  Einheit  des  Stockes  oder  Cornius  ver- 
bindet. Es  ist  dies  die  sechste  und  letzte  Stufe,  welche  der  Organis- 
mus in  seiner  fortschreitenden  Structur-Verwickelung  erreicht. 

Unter  Stock  oderCormus  verstehen  wir  ausschliesslich 
diejenige  organische  Formeinheit,   welche   aus  einer  Viel- 
heit  von  Personen   oder  Form-Individuen  fünfter  Ordnung 
zusammengesetzt    ist.      In    dieser    ihrer  Eigenschaft    als  unterge- 
ordnete Bestandtheile  eines  Stockes  bezeichnen  wir  die  Personen  mit 
dem  Namen  der  Sprosse  oder  Blastem     Wir  schliessen  also  aus  dem 
morphologischen  Begriffe  des  Cormus  alle  diejenigen  stockähnlichen 
Bildungen    aus,    welche  sowohl  in  der  Botanit:   als   in   der  Zoologie 
sehr    oft    als  Stöcke    bezeichnet  werden,    ohne  wirkliche   Cormen  zu 
sein.     Als  solche  Pseudo-Cormen  haben  wir  im  vorigen  Abschnitt  die 
sogenannten  Stöcke  der  meisten  Tunicaten  und  Bryozocn  kennen  ge- 
lernt, welche  bloss  den  Rang  der  Personen  besitzen,     Solche  falsche 
Stöcke  sind  ferner  die  sogenannten  Stöcke  vieler  niederer  Pflanzen  und 
Protisten,   bei  welchen  die  Componenten  des  stockähnlichen  Gebildes 
nicht  Individuen  fünfter,  sondern  erster  Ordnung  sind,  einfache  Cytoden 
oder  Zellen  (z.  B.   die  Stöcke  der  Diatomeen,   Volvocinen  und  vieler 
Thallophyten,    besonders  Algen).     Alle    diese  Scheinstöcke    oder 
Pseudocormen    stimmen    nur    darin    mit   den   echten  Stöcken   oder 
Cormen  überein,    dass   sie    (meistens    ziemlich  lockere)  Verbindungen 
von  Individuen  einer  subordinirten  Ordnung  darstellen,   niemals  aber 
von  echten  Individuen  fünfter  Ordnung.     Es  ist  also  lediglich  die  Zu- 
sammensetzung aus    untergeordneten  Individualitäten,    meistens    noch 
verstärkt  durch  eine  äussere  Aehnlichkeit,  welche  zu  der  allgemeinen 
Verwechselung    der    echten  mit  den  Scheinstöcken  geführt  hat.     Be- 
sonders die  Art  der  äusseren  Spaltung,  nämlich  die  laterale  Knospen- 
bildung,   welche  Beiden    gemeinsam   ist,   scheint  jenen  Mangel  einer 
sehr  wichtigen  Unterscheidung  bewirkt  zu  haben.  '  Bei  vielen  Schein- 
stöcken von  Diatomeen,   Flagellaten,   Algen   und  Nematophyten   sind 
es  einzelne  Piastiden,  bei  den  vorher  besprochenen  Scheinstöcken  von 
Viscum,  von  den  Bryozoen  und  Tunicaten  sind  es  einzelne  Metameren, 
welche    durch    fortgesetzte    lat  rale    Knospenbildung    ganz    ähnliche 
verzweigte  Bildungen   produciren,    wie  die  stockbildenden  Personen. 
Es  ist  aber  für  die  allgemeine  Morphologie  von  der  grössten  Wichtig- 
keit, den  wesentlichen  Unterschied    zwischen  diesen  echten  Stöcken 


VI.    Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung:  Stöcke.  327 

sechster  Ordnung1  und  jenen  falschen  Scheinstöcken  fünfter  Ordnung 
(Personen)  oder  zweiter  Ordnung  (Organen)  zu  erkennen.  Der  Aus- 
druck Colonie  oder  Gemeinde  (Synusie)  lässt  sich  auf  alle 
diese  stockartigen  Verbindungen  gemeinsam  anwenden  und  bedeutet 
nichts  als  die  Vereinigung  einer  Vielheit  von  Individuen  niederer  Ord- 
nung zu  einer  morphologischen  Einheit  höherer  Ordnung.  Der  echte 
Stock  oder  Cormus  aber  ist  eine  ganz  bestimmte  Art  dieser  Colo- 
nieen,  nämlich  nur  diejenige,  höchste  und  vollkommenste  Art,  welche 
aus  Individuen  fünfter  Ordnung  oder  Personen  zusammengesetzt  ist. 

Da  der  Cormus  die  höchste  und  letzte  von  allen  sechs  Indivi- 
dualitäts-Ordnungen ist,  so  kann  er  niemals  als  integrirender  Bestand- 
teil einer  höheren  Ordnung  auftreten,  wie  alle  fünf  untergeordneten 
Individualitäten  und  es  fällt  daher  in  gewissem  Sinne  stets  die  mor- 
phologische und  physiologische  Individualität  in  ihm  zusammen.  Da 
der  morphologische  Character  der  Person  oder  des  Sprosses,  wie  wir 
vorher  sahen ,  ein  ganz  bestimmter  ist,  so  muss  auch  gleicherweise 
derjenige  des  Stockes,  welcher  stets  eine  Vielheit  von  Sprossen  ist, 
vollkommen  fest  bestimmt  sein.  Jeder  Stock  besteht  demnach  nicht 
allein  aus  einer  Mehrheit  von  Personen,  sondern  auch  natürlich 
aus  einer  Mehrheit  von  Metameren,  Antimeren,  Organen  und  Pla- 
stiden,  weil  ja  jeder  einzelne  Spross  allein  schon  eine  Vielheit  von 
diesen  vier  untergeordneten  Individualitäten  repräsentirt. 

Die  echten  Stöcke  oder  Cormen  erreichen  ihre  höchste  Entwicke- 
lung  und  weiteste  Verbreitung  im  Pflanzenreiche,  wo  die  allermei- 
sten Phanerogamen  und  höheren  Cryptogamen  sich  zu  festsitzenden 
Stöcken  entwickeln.  Nur  sehr  wenige  Phanerogamen  bleiben  auf 
einer  niedrigeren  Stufe  der  Individualität  stehen,  wie  z.  B.  Viscum 
(als  Busch  -  Person)  und  die  „einfachen"  (nicht  verästelten)  Pflanzen 
(als  Ketten-Personen)  auf  der  Stufe  der  Person.  Ausnahmsweise  kom- 
men solche  ganz  einlache  Personen  (astlose  Hauptsprosse  mit  einer 
einzigen  einfachen  Blüthe)  auch  bei  solchen  Species  vor,  die  gewöhn- 
lich einen  verzweigten  Stock  bilden,  z.  B.  Radiola  millegrana,  Ery- 
thraea  pulchella,  Saxifraga  tridactylites.  Constant  auf  der  Stufe  des 
Metameres  (oder  selbst  des  Antimeres?)  bleibt  das  actuelle  Bion  bei 
Lemna  stehen. 

Im  Protistenreiche  scheinen  echte  Stockbildungen  im  Ganzen 
sehr  selten  zu  sein.  Es  lassen  sich,  wie  oben  bemerkt  wurde,  nur  die 
Colonieen  der  Kadiolarien  (Polycyttarien)  und  der  Spongien  mit  vielen 
Osculis  (Clathria,  Halichondria  etc.)  dahin  rechnen.  Jedoch  verharrt 
auch  hier,  wie  bei  den  meisten  Protisten,  die  Individualität  überhaupt 
auf  einer  so  niederen  Stufe  der  Differenzirung,  dass  man  selbst  ge- 
gen jene  Deutung  erhebliche  Zweifel  geltend  machen  könnte.  Die 
meisten  sogenannten  Stöcke  der  Protisten  (z.  B.  Diatomeen,  Flagellaten) 


328  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

sind  falsche  Stöcke,  die  nur  den  morphologischen  Rang  von  Individuen 
zweiter  Ordnung  (Organen)  beanspruchen  können. 

Viel  weniger   ausgedehnt   und  entwickelt,    als  bei  den  Pflanzen, 
ist  die  echte  Stockbildung  im T hierreiche,  wo  dieselbe  ausschliesslich 
auf  wenige  Formen  des  Mollusken-Stammes  und  auf  viele  Thiere  des 
Coelenteraten-Phylum  beschränkt   bleibt.     Gänzlich  fehlt  dieselbe  im 
Stamme  der  Wirbelthiere  und  Gliederthiere.     Was   man  bei  den 
niedersten  Gruppen  der  letzteren,  bei  den  niederen  Anneliden  und  den 
socialen  Cestoden    als  Stöcke    bezeichnet    hat,    sind  in   der  That  nur 
Ketten-Personen,   (gleich  den  Arthropoden  und  Verteb raten)  und  was 
man   „eigentliche  Individuen"  (äquivalent  den  Personen)   genannt  hat 
(Proglottiden   oder  Glieder)   sind   Metameren.      Nur  einige   Anneliden 
stellen  vorübergehend  das  Bild  von  echten  Stöcken  dar,  so  lange  näm- 
lich  als   mehrere  durch   terminale  Knospung  hinter  einander  entstan- 
dene Personen  (Metameren-Ketten)  mit  einander  vereinigt  bleiben.     Da 
dieselben    sich  jedoch  nach    ihrer    vollständigen  Ausbildung  alle  vom 
elterlichen  Thiere  ablösen,  bleiben  sie  niemals  dauernd  in  dieser  eigen- 
thümlichen  Bildung  eines  „Ketten- Stockes"    vereinigt.     Was  man  bei 
dem    Stamme    der   Mollusken,   in    den  Klassen   der  Tunicaten    und 
Bryozoen  als  Stockbildung  bezeichnet  hat,    sind  grösstentheils  falsche 
Stöcke  vom  Range  der  Personen,  und  zwar  gewöhnlich  Busch-Personen 
(die  meisten  Bryozoen  und  Tunicaten),  seltener  Ketten-Personen  (Sal- 
pen).      Die    sogenannten    „solitären"    Tunicaten     {Doliolum,    solitäre 
Generation  von  Salpa,  Pkallusia  etc.)  sind  Bionten  vom  Formen-Werthe 
der  Metameren,  wie  alle  höheren  Mollusken.    Echte   Stöcke  giebt  es 
nur  bei  sehr  wenigen  niederen  Mollusken,  nämlich  bei  den  Botrylliden 
oder  „Ascidiae  compositae, "  und  bei  den  gegliederten  Bryozoen.     Bei 
den  Botrylliden  sind  die  Cormen  aus  den  sogenannten  „Systemen''  zu- 
sammengesetzt.    Jedes    System    ist    ein    morphologisches    Individuum 
fünfter  Ordnung,    eine  Person,   zusammengesetzt  aus  mehreren  (meist 
5 — 10,  oft  aber  auch  über  hundert)  Metameren,  welche  hier  aber  nicht 
longituclinal,  sondern  radial,   Antimeren  ähnlich,    um  eine  einzige  ge- 
meinsame Egestionsöffnung  (Kloake)  gruppirt  sind.     Gewöhnlich  wer- 
den dieselben  als  „eigentliche"  Individuen  oder  Einzelthiere  betrachtet, 
verdienen   aber   vielmehr,    wie  vorher  gezeigt  wurde,    als  Metameren 
aufgefasst  zu  werden.     Man  könnte  vielleicht  geneigt   sein,   dieselben 
wegen  ihrer  radialen  Zusammenordnung  lieber  nur  als  Antimeren  auf- 
zufassen.    Allein   offenbar  ist  hier  diese  Anordnung  nicht  von  maass- 
gebender  Bedeutung,   da  auch  bei  Salpa  pinnata  (und   den  ähnlichen 
Salpellen)  die  Metameren   in  einem  Kreise  -um  eine  Längsaxe  stehen, 
während  sie  bei  den  übrigen  Salpen  bald   schief,   bald   ganz  quer  in 
regelmässig  gegliederte  Ketten  gestellt  sind.     Die  .,Bryozoa  articulata1' 
aus    der   Gruppe    der   Chilostomcn  (Catenicelliden,     Cellulariden  und 


VI.    Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung:  Stöcke.  329 

Salicornariden)  zeichneu  sich  vor  den  übrigen  Bryozoen  dadurch  aus, 
dass  alle  einzelne  Zweige  (Personen)  des  Stockes  deutlich  gegliedert, 
aus  Metameren  zusammengesetzt  und  mithin  der  Stock  ein  echter  Cor- 
mus  ist.  Dasselbe  gilt  auch  von  der  Mehrzahl  der  Coelenteraten- 
Stöcke,  wo  die  Gliederung  der  Personen,  ihre  Zusammensetzung  aus 
Metameren,  sowohl  bei  den  Anthozoen  als  Hydroidpolypen  meist  deut- 
lich ausgesprochen  ist.  Doch  kommen  daneben  auch  vielfach  falsche 
Scheinstöcke  ohne  Gliederbildung  vor,  zusammengesetzt  aus  Bionten 
vom  Werthe  der  Metameren,  welche  sich  zu  Busch-Personen  vereinigt 
haben.  Die  Echinodermen  gelten  gewöhnlich  sämmtlich  für  „ein- 
fache Individuen",  d.  h.  Personen  und  man  nimmt  an,  dass  ihnen 
Stockbildung  gänzlich  fehlt.  Indessen  ist  es  uns,  wie  wir  im  sechsten 
Buche  näher  zeigen  werden,  höchst  wahrscheinlich,  dass  alle  Echino- 
dermen echte  Cormen  sind,  nämlich  Articulaten-Stöcke,  entstanden  durch 
radiale  Verbindung  von  (meistens  fünf)  gegliederten  Würmern,  welche 
sich  in  ähnlicher  Weise  eine  gemeinsame  Ingestionsöffnung  bildeten, 
wie  die  Botrylliden  unter  den  zusammengesetzten  Ascidien  sich  eine 
gemeinsame  Egestionsöffnung  (Kloake)  gebildet  haben.  Diese  Hypo- 
these scheint  uns  sowohl  in  der  anatomischen  Verwandtschaft  der 
Echinodermen  und  Würmer,  als  besonders  in  ihrer  Entwickelungsge- 
schichte  begründet  zu  sein.  Es  würden  in  diesem  Falle  die  Echino- 
dermen für  die  vollkommensten  von  allen  Thierstöcken  zu  halten  sein, 
bei  denen  die  Centralisation  des  Cormus,  die  einheitliche  Ausbildung 
des  ganzen  Stockes  ihren  höchsten  Grad  erreicht  hat. 

Die  allermeisten  Cormen  entstehen,  wie  wir  im  achtzehnten  Capitel 
sehen  werden,  durch  laterale  Knospeubildung  von  Personen  und  blei- 
bende Vereinigung  dieser  Sprosse.  Dahin  gehören  die  allermeisten 
Stöcke  der  Phanerogamen  und  der  Hydroidpolypen.  Auch  sehr  viele 
Anthozoenstöcke  entstehen  durch  diesen  Spaltungs- Modus.  Andere 
Anthozoen,  und  zwar  vorzugsweise  die  Astraeiden,  entstehen  durch 
unvollständige  Längstheiluug  und  Diradiation  von  Personen.  Viel 
seltener,  und  bei  den  Phanerogamen,  wie  es  scheint,  nur  als  Monstrosi- 
tät, findet  sich  die  Selbsttheilung  von  Personen  im  Pflanzenreiche  vor, 
wo  sie  zu  der  eigenthümlichen  Stocklörm  führt,  welche  man  Fasciation 
nennt  (sehr  eigenthümlich  z.  B.  bei  der  Hahnenkammpflanze,  Celosia 
cristata,  und  bei  einigen  monströsen  Cacteen,  Mammillaria  etc.). 

Die  verschiedenen  Formen  der  Stöcke  sind  ausserordentlich  man- 
nichlaltig  und  bieten  in  den  beiden  Stämmen  der  Cormophyten  und 
Coelenteraten  zahlreiche  und  oft  sehr  auffallende  Analogieen  dar. 
Hauptsächlich  ist  hierbei  bestimmend  die  EigenthUmiichkeit  der  ersten 
Person  (Hauptspross,  Blastus  primarius)  von  welcher  die  Knospenbildung 
ausgeht,  und  ihr  Verhältniss  zu  den  übrigen  Sprossen  oder  Seiten- 
sprossen (Blasti  secundarii).     Je   stärker  sich  die   Hauptaxe  im   Ver- 


330  Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

hältniss  zu  den  Seitensprossen  entwickelt,  je  mehr  sie  über  diese  das 
Uebergewicht  behält,  desto  entschiedener  tritt  der  individuelle  Character 
des  Cormus  hervor;  je  weniger  dies  der  Fall  ist,  desto  mehr  erscheint 
der  ganze  Stock  nur  als  ein  Aggregat  von  coordinirten  Personen 
(Syinpodium). 

Je  nach  der  unterirdischen  oder  oberirdischen  Entwickelung  des 
Hauptsprosses  (Blastus  primarius)  und  je  nach  dem  gegenseitigen  Ver- 
halten des  Hauptsprosses  zu  den  Seitensprossen  (Blasti  secundarii), 
sowie  nach  der  Differenzirung  der  letzteren  in  geschlechtslose  und  ge- 
schlechtlich entwickelte,  lassen  sich  bei  den  Pflanzenstöcken  zahlreiche, 
mit  sehr  verschiedeuen  Namen  benannte  Stockformen  unterscheiden. 
Zunächst  kann  man  als  zwei  Hauptgruppen  allgemein  einfache  und 
zusammengesetzte  Stöcke  trennen.  Einfache  Stöcke  (Cormi  sim- 
plices)  nennen  wir  solche,  bei  denen  entweder  alle  Sprosse  sexuell 
sind,  oder  bloss  der  Hauptspross  geschlechtslos,  alle  Nebensprosse 
aber  geschlechtlich  entwickelt  sind,  z.  B.  alle  unverästelten  einjährigen 
Gräser,  jede  einjährige  verästelte  Pflanze,  bei  welcher  alle  Aeste 
terminale  Bltithen  tragen,  einfache  Pflanzen  mit  einer  einzigen  Dolden- 
blüthe,  z.  B.  Androsace  maxima,  einfache,  unverästelte,  einjährige  Com- 
positen  mit  einem  einzigen  Blüthenköpfchen.  Letztere  finden  sich  z.  B. 
bei  Arnoseris  pusilla,  Anacyclus  officinalis  und  ausnahmsweise  bei 
Erigeron  canadense,  Chrysanthemum  segetum  etc.  Zusammenge- 
setzte Stöcke  (Cormi  compositi)  dagegen  sind  solche,  bei  denen 
nicht  bloss  der  Hauptspross,  sondern  auch  ein  Theil  der  Nebensprosse 
geschlechtslos,  der  übrige  Theil  der  Nebensprosse  geschlechtlich  differen- 
zirt  ist,  wie  dies  bei  den  allermeisten  Phanerogamen  der  Fall  ist. 
Unter  diesen  unterscheiden  die  Botaniker  dann  weiter  einjährige  Stöcke 
oder  Stengel  (Caules)  und  mehrjährige  zusammengesetzte  Stöcke  oder 
Stämme  (Trunci).  Ferner  nennen  dieselben  solche  Pflanzen,  welche 
unterirdische  Stämme  und  oberirdische  Stengel  haben,  Stauden  (Sivffru- 
tices),  sodann  Stämme,  welche  von  unten  auf  verästelt  sind,  ohne 
Vorherrschen  des  Hauptstammes,  Büsche  (Frutices),  und  endlich  Stämme, 
deren  untere  Aeste  bald  absterben,  so  dass  die  oberen  eine  Krone 
bilden,  Bäume  (Arbores). 

Ganz  ähnliche  Unterschiede  in  der  Stockbildung,  wie  diese  bei 
den  Phanerogamen  eingeführten,  Hessen  sich  dann  auch  bei  den  Coe- 
lenteraten  machen,  welche  echte  Stöcke  bilden,  bei  den  Anthozoen 
und  Hydroniedusen.  Indessen  sind  hier  auch  verschiedene  andere, 
namentlich  die  durch  longitudinale  Theilung  entstandenen  Stockformen 
zu  berücksichtigen,  welche  im  Pflanzenreiche  entweder  gar  nicht  oder 
nur  bei^  den  Thallophyten  vorkommen.  Ferner  würde  man  hier  ins- 
besondere zu  unterscheiden  haben  zwischen  solchen  Stöcken,  welche 
gleich  den  meisten  Phanerogamen  aus  Ketten-Personen,  zusammenge- 


VI.    Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung:  Stöcke.  331 

setzt  sind,  und  solchen,  welche  bloss  aus  Busch -Personen  bestehen. 
Zu  letzteren,  die  man  Busch-Stöcke  (Cormi  fruticosi)  nennen 
kann,  gehören  die  Mollusken-Stöcke  der  Botrylliden  und  vieler  Bryo- 
zoen,  zu  ersteren,  die  man  Glieder-Stöcke  (Cormi  articulati)  nen- 
nen kann,  die  meisten  Coelenteraten-Stöcke.  Da  jedoch  dieselben 
sehr  schwierig  zu  classificiren  und  bisher  nicht  mit  genügender  Logik 
untersucht  sind,  so  können  wir  auf  eine  Aufzählung  derselben  hier 
verzichten. 

Für  eine  uaturgemässe  Erkenntniss  der  echten  Stöcke  und  ihres 
Verhältnisses  zu  den  untergeordneten  Form-Individuen,  sowie  für  eine 
richtige  tectologische  Beurtheilung  des  Verhältnisses  der  sechs  Indivi- 
dualitäts-Ordnungen zu  einander  ist  keine  Thiergruppe  von  solcher 
hohen  Bedeutung,  wie  die  der  Coelente raten,  und  insbesondere  die 
Abtheilungen  der  Siphonophoren  und  der  stockbildendeu  Corallenthiere 
(Anthozoen).  Die  vollkommene  morphologische  Parallele  derselben  mit 
den  Phanerogamen  lässt  sich  durch  alle  sechs  Ordnungen  der 
morphologischen  Individualität  und  sogar  durch  ihre  untergeordneten 
Neben-Kategorieen  hindurchführen.  Als  zusammengesetzter  Stock 
entspricht  der  blühende  Baum  vollständig  dem  geschlechtsreifen  Coral- 
lenstock.  Beide  sind  aus  einer  Vielheit  vom  geschlechtlichen  und  un- 
geschlechtlichen Personen  aufgebaut.  Jede  Person,  jeder  Blüthenspross 
des  Baums,  jeder  „Polyp"  des  Corallenstocks,  besteht  wiederum  aus 
einer  Vielheit  von  Metameren  oder  Stengelgliedern  (Blattkreise  der 
Blüthe,  Stockwerke  der  Polypen),  und  aus  einer  Vielheit  von  Anti- 
meren  („Strahlstücken.")  Jedes  Metamer  und  jedes  Antimer  ist  eine 
Vielheit  von  Organen  verschiedener  Ordnung,  von  Epimereu  (Glieder 
der  einzelnen  Blätter,  der  einzelnen  Tentakeln)  und  von  Parameren 
(Hälften  der  eudipleuren  Blätter  und  Tentakeln).  Endlich  ist  zuletzt 
jede  dieser  morphologischen  Einheiten  eine  Vielheit  oder  Synusie 
von  mehreren  verbundenen  Form  -  Individuen  erster  Ordnung  oder 
Piastiden. 


332  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 


Zehntes  Capitel. 

Physiologische  Individualität  der  Organismen. 


„Das  Anerkennen  eines  Neben-,  Mit-  und 
Ineinanderseins  und  Wirkens  verwandter  le- 
bendiger Wesen  leitet  uns  bei  jeder  Betrach- 
tung des  Organismus  und  erleuchtet  den 
Stufenweg  vom  Unvollkommenen  zum  Voll- 
kommenen." 

Goethe. 


I.   Die  Piastiden  als  Bionten. 
Physiologische  Individuen  erster  Ordnung. 

Jede  der  sechs  wesentlich  verschiedenen  Formeinheiten,  welche 
wir  im  vorigen  Capitel  als  sechs  verschiedene  Ordnungen  der  mor- 
phologischen Individualität  unterschieden  haben,  tritt  bei  gewissen 
Organismen-Arten  als  physiologisches  Individuum  oder  Bion  auf.  Wir 
haben  mit  diesem  Ausdruck  diejenige  einheitliche  liaumgrösse  bezeichnet, 
welche  als  lebendiger  Organismus,  als  centralisirte  Lebenseinheit,  voll- 
kommen selbstständig  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  eine  eigene 
Existenz  zu  führen  vermag ;  eine  Existenz,  welche  sich  in  allen  Fällen 
in  der  Bethätigung  der  allgemeinsten  organischen  Function  äussert, 
in  der  Selbsterhaltung  durch  Stoffwechsel.  Auch  andere  Lebensfunc- 
tionen,  die  Fortpflanzung  oder  die  Erhaltung  der  Art,  sowie  die  Ver- 
mittelung  ihrer  Beziehungen  zur  Aussenwelt,  z.  B.  durch  Ortsbewegungen, 
vermag  das  physiologische  Individuum  zu  verrichten,  ohne  dass  jedoch 
die  Verrichtung  dieser  Functionen  als  nothwendig  zum  Begriffe  des 
Bion  betrachtet  werden  müsste.     Das  Bion  oder  Functions-Individuum 


I.    Die  Piastiden  als  Biouteu.  333 

ist  demnach  keineswegs,  wie  das  morphologische  Individuum,  eine 
untheilbare  Raumgrösse,  die  wir  im  Momente  der  Beurtheilung  als 
unveränderlich  anzusehen  haben  (untheilbar  in  dem  Sinne,  dass  wir 
keinen  Theil  von  ihr  wegnehmen  können,  ohne  ihren  Character  als 
Form -Individuum  zu  vernichten).  Vielmehr  ist  das  physiologische  In- 
dividuum eine  einheitliche,  zusammenhängende  Raumgrösse,  welche 
wir  als  solche  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  leben,  d.  h.  sich  in 
der  allgemeinen  Lebensbewegung,  im  Stoffwechsel,  erhalten  sehen, 
und  welche  wir  also  im  Momente  der  Beurtheilung  als  veränderlich 
ansehen;  auch  können  sich  Theile  von  dem  Functions-Individuum  ab- 
lösen, ohne  dass  seine  Individualität,  d.  h.  sein  Fortbestehen  als 
selbstständige  Lebenseinheit  dadurch  gefährdet  wird,  und  wenn  das 
Bion  sich  fortpflanzt,  geschieht  sogar  diese  Ablösung  von  Theilen,  die 
sich  zu  neuen  Bionten  zu  entwickeln  vermögen,  regelmässig.  Wir 
können  demnach  den  wichtigen  Unterschied  zwischen  der  morpholo- 
gischen und  physiologischen  Individualität  kurz  dahin  zusammenfassen: 
Das  physiologische  Individuum  (Bion)  ist  eine  einzelne 
organische  Raumgrösse,  welche  als  centralisirte  Lebens- 
einheit der  Selbsterhaltung  fähig  und  zugleich  theilbar 
ist,  und  welche  wegen  der  mit  diesen  Functionen  verbun- 
denen Bewegungen  nur  als  eine  in  verschiedenen  Zeit- 
momenten  veränderliche  erkannt  werden  kann.  Das  mor- 
phologische Individuum  (erster  bis  sechster  Ordnung)  da- 
gegen ist  eine  einzelne  organische  Raumgrösse,  welche 
als  vollkommen  abgeschlossene  Formeinheit  untheilbar 
ist,  und  welche  in  diesem  ihren  Wesen  nur  als  eine  in 
einem  bestimmten  Zeitmomente  unveränderliche  erkannt 
werden  kann. 

Wie  wir  bereits  oben  zeigten  (p.  260)  vermag  jede  der  sechs 
morphologischen  Individualitäten  verschiedener  Ordnung,  welche  im 
vorigen  Capitel  characterisirt  wurden,  die  physiologische  Individualität 
zu  repräsentiren ,  und  jedes  Bion,  welches  als  der  reife  Repräsentant 
der  Species  einen  höheren  morphologischen  Individualitäts-Grad  besitzt, 
muss,  falls  es  sich  aus  einem  befruchteten  Ei  oder  einer  unbefruch- 
teten Plastide  (Spore)  entwickelt,  während  seines  Entwiekeluugs-Cyclus 
alle  vorhergehenden  niederen  Individualitäts-Grade  durchlaufen  haben. 
Dieses  wichtige  Verhältniss  wird  im  siebzehnten  Capitel  näher  erläutert 
werden,  woselbst  auch  das  physiologische  Individuum  als  die  Einheit 
des  individuellen  Entvvickelungs- Kreises  eingehender  wird  gewürdigt 
werden.  Hier  ist  unsere  Aufgabe  nur,  nachzuweisen,  dass  in  der  That 
jede  der  sechs  morphologischen  Individualitäts-Stufen  als  Bion  fungiren 
kann.  Es  wird  jedoch,  bevor  wir  in  dieser  Beziehung  die  sechs  ver- 
schiedenen Ordnungen  organischer  Form -Einheiten  durchgehen,  noth- 


334  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

wendig  sein,  zu  unterscheiden  zwischen  drei  wesentlich  verschiedenen 
Erscheinungsweisen  oder  Arten  der  physiologischen  Individua- 
lität, welche  allgemein  als  das  actuelle  Bion  (oder  das  Bion  im 
engeren  Sinne),  das  virtuelle  oder  potentielle  Bion  und  das  partielle 
oder  scheinbare  Bion  bezeichnet  werden  können. 

I.  Actuelles  Bion  oder  physiologisches  Individuuni  im 
eugeren  Sinne  ist  jedes  vollständig  entwickelte  organische 
Individuum,  welches  den  höchsten  Grad  morphologischer 
Individualität  erreicht  hat,  der  ihm  als  reifen,  ausgewach- 
senen Repräsentanten  der  Species  zukommt.  Dieser  Grad 
ist  für  jede  organische  Species  ein  bestimmter.  Es  ist  also  z.  B.  das 
actuelle  Bion  bei  den  Phanerogamen  ein  morphologisches  Individuum 
sechster,  bei  den  Wirbelthieren  fünfter,  bei  den  meisten  Mollusken 
vierter,  bei  den  Spougien  (?)  dritter,  bei  den  Volvocinen  zweiter,  bei 
den  einzelligen  Algen  erster  Ordnung. 

IL     Virtuelles    Bion    oder    potentielles    physiologisches 
Individuum  ist  jedes  unentwickelte  organische  Individuum, 
so  lange  es  noch  nicht  den  höchsten  Grad  morphologischer 
Individualität    erreicht   hat,    welcher    ihm   als  reifen,    aus- 
gewachsenen   Repräsentanten    der    Species    zukommt,    und 
zu  welchem    es  sich  entwickeln  kann.     Dieser  Grad  ist  zu  ver- 
schiedenen Zeiten,   in  verschiedenen  Stadien   oder  Perioden  der  indi- 
viduellen   Entwickelung    ein   verschiedener.     Es    ist    also  z.   B.   beim 
Menschen    und    bei    den    Wirbelthieren  überhaupt  das  virtuelle   Bion 
zuerst    ein    morphologisches    Individuum    erster    (Ei),    dann    zweiter 
(Blastoderma),    dann    dritter  (Embryonal- Anlage    ohne  Primitivstreif), 
dann  vierter  (Embryo  mit  Primitivstreif),  dann  endlich  fünfter  Ordnung 
(Embryo   mit   Primitivrinne  und  Urwiibelkette).     Bei   den  Anthozoen, 
welche  Stöcke  bilden,  z.  B.  den  Astraeiden,  ist  das  virtuelle  Bion  im 
ersten  Stadium  der  Entwickelung  (als  einfaches  Ei)  ein  morphologisches 
Individuum    erster,   dann    (als  kugeliger   Zellenhaufen)  zweiter,    dann 
(als  protaxonier,  noch  nicht  diradiirter  Körper)  dritter,  darauf  (als  dira- 
diirter  Körper  mit  sechs  Antimeren)  vierter,  dann  (als  Polyp  mit  ge- 
gliederter Hauptaxe,  nachdem  die  horizontalen  Böden,  Tabulae,  aus- 
gebildet sind)  fünfter,  endlich  (nachdem  die  Stockbildung  durch  Thei- 
lung  oder  Knospenbildung  begonnen  hat)  sechster  Ordnung.    Bei  den 
Phanerogamen  lassen  sich  die  gleichen  sechs  Stufen  oder  Ordnungen 
der  morphologischen  Individualität,  welche  das  virtuelle  Bion  während 
seiner  Entwickelung  bis   zum    actuellen  durchläuft,  folgendermaassen 
ordnen:    erste    Stufe:    Embryobläschen    (Ei);    zweite    Stufe:    Vorkeim 
(Proembryo);    dritte  Stufe:    Keim  (Embryo)  ohne  Cotyledonen;  vierte 
Stufe:    Keim  (Embryo)  mit  Cotyledonen;  fünfte  Stufe:  Keim  (Embryo) 
mit  Cotyledonen  und  Plumula  (Internodien);  nach  dem  Keimen:  junge 


I.    Die  Plastideu  als  Bionten.  335 

einfache  Pflanze;  sechste  Stufe:  verzweigte  Pflanze  (Stock).  Jeder 
Organismus  also,  welcher  als  actuelles  Bion  ein  morphologisches  In- 
dividuum zweiter  oder  höherer  Ordnung  ist,  muss  vorher  die  vorher- 
gehenden Individualitäts-Stufen  als  virtuelles  Bion  durchlaufen  haben. 
Hier  tritt  mithin  das  virtuelle  Bion  als  regulärer,  in  periodischem 
Cyclus  sich  wiederholender  Entvvickelungszustand  auf  und  ist  zuerst, 
als  Ei  oder  Spore,  eine  einfache  Plastide,  ein  Form-Individuum  erster 
Ordnung,  welches  einen  abgelösten  Bestandtheil  des  actuellen  elter- 
lichen Bion  bildete.  Es  kann  aber  auch  bei  vielen  Organismen  jeder 
einzelne  Körpertheil  unter  Umständen  als  virtuelles  Bion  auftreten, 
d.  h.  sich  zum  actuellen  Bion  entwickeln,  wie  es  bei  der  Hydra  der 
Fall  ist  und  bei  zahlreichen  Pflanzenarten,  wo  viele  einzelne  Zellen 
oder  Zellgruppen  des  Körpers  eine  so  ausgezeichnete  Reproductions- 
Fähigkeit  besitzen,  dass  sie  sich,  losgelöst  vom  elterlichen  Organis- 
mus, vom  actuellen  Bion,  selbst  wieder  zu  einein  solchen  ergänzen 
und  heranbilden  können. 

III.  Partielles  Bion  oder  scheinbares  physiologisches 
Individuum  ist  jeder  Theil  eines  organischen  Individuums 
welcher  die  Fähigkeit  besitzt,  nach  seiner  Ablösung  von 
dem  potentiellen  oder  actuellen  Bion  längere  oder  kürzere 
Zeit  sich  selbst  zu  erhalten  und  als  scheinbares  selbst- 
ständiges Bion  seine  Existenz  unabhängig  fortzuführen, 
ohne  sich  jedoch  zum  actuellen  Bion  entwickeln  zu  können. 
Das  scheinbare  oder  partielle  Bion  vermag  niemals,  wie  das  virtuelle, 
sich  zum  Ganzen  zu  reproduciren  und  zum  actuellen  Bion  durch 
selbstständiges  Wachsthum  allmählich  sich  auszubilden.  Vielmehr 
geht  es  zu  Grunde,  nachdem  es  eine  Zeit  lang  sich  erhalten,  und  bis- 
weilen während  dieser  Zeit  eine  bestimmte  Function  (z.  B.  die  Fort- 
pflanzung) ausgeübt  hat.  So  ist  es  z.  B.  mit  dem  Hectocotylus  der 
Cephalopoden  (einem  Organ),  mit  der  Proglottis  der  Cestoden  (einem 
Metamer),  mit  dem  männlichen  Blüthen-Spross  der  Vallisneria  (einer 
Person),  welche  sich  von  einem  actuellen  Bion  höherer  Ordnung  abge- 
löst haben.  Wie  man  sieht,  ist  der  Begriff  dieses  partiellen  oder 
scheinbaren  Bion  ein  sehr  weiter  und  unbestimmter,  und  es  kommt 
ihm  bei  weitem  nicht  die  hohe  Bedeutung  zu,  wie  dem  wesentlich 
verschiedenen  virtuellen  und  actuellen  Bion.  Doch  haben  die  meisten 
früheren  Versuche,  die  organische  Individualität  zu  bestimmen,  gerade 
auf  das  partielle  Bion  einen  ausserordentlich  hohen  Werth  gelegt,  und 
es  ist  deshalb  wohl  nicht  überflüssig,  dasselbe  als  eine  dritte  Er- 
scheinungsweise der  physiologischen  Individualität  neben  dem  virtuellen 
und  actuellen  Bion  aufzuführen. 

Wenn  wir  oben  wiederholt  den  wichtigen  Satz  hervorhoben,  dass 
jede  der  sechs  morphologischen  Individualitäten  als  Bion  oder  physio- 


336  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

logisches  Individuum  auftreten  kann,  so  gilt  dies  von  allen  drei  Er- 
scheinungsformen des  letzteren.  Sowohl  das  actuelle,  als  das  virtuelle, 
als  endlich  auch  das  partielle  Bion  kann  durch  jede  der  sechs  mor- 
phologischen Individualität»- Formen  repräsentirt  werden.  Wir  be- 
kommen so  achtzehn  mögliche  organische  Lebenseinheiten,  welche  wir 
jetzt  nach  einander  in  aufsteigender  Linie  betrachten  wollen.  Wir  wer- 
den zuerst  von  jeder  morphologischen  Individualitätsstufe  das  actuelle 
Bion  als  das  wichtigste,  nächstdem  das  virtuelle  Bion  und  zuletzt  das 
partielle  Bion  in  Betracht  ziehen.  Wir  beginnen  mit  dem  morphologi- 
schen Individuum   erster  Ordnung,  der  Plastide. 

I.    A.    Die  Plastideu  als  actuelle  Bionten. 

Die  Gytoden  und  Zellen,  welche  wir  oben  als  Piastiden  oder 
Form  -  Individuen  erster  Ordnung  zusammengefasst  haben,  sind  von 
allen  sechs  Individualitätsstufen  die  bei  weitem  am  meisten  verbreitete 
insofern  alle  Organismen,  welche  sich  aus  Eiern  (Zellen)  oder  Sporen 
(Keimpiastiden)  entwickeln,  in  ihrem  ersten  Jugendzustande  als  vir- 
tuelle Bionten  den  Formwerth  einfacher  Plastiden  besessen  haben. 
Aber  auch  als  actuelle  Bionten  sind  die  Gytoden  und  Zellen  von  sehr 
grosser  Bedeutung,  und  es  gehören  hierher  alle  jene  monoplastiden 
Organismen,  welche  man  gewöhnlich  als  „einzellige"  zu  bezeichnen 
pflegt.  Gegen  diesen  Ausdruck  ist  aber  zu  erinnern,  dass  es  sowohl 
einfache  Zellen,  als  auch  einfache  Cytoden  giebt,  welche  selbstständige 
Species  repräsentiren ,  und  also  den  wirklichen  Werth  von  actuellen 
Bionten  besitzen. 

Die  Zellen  und  Cytoden,  als  die  beiden  Hauptgruppen  aller 
Plastiden-Formen,  haben  wir  oben  in  je  zwei  untergeordnete  Gruppen 
geschieden,  je  nachdem  sie  eine  Membran  (Schale)  besitzen,  oder 
nicht  (p.  275).  Wir  erhielten  so  die  vier  Kategorieen  der  Gymno- 
cytoden,  Lepocytoden,  Gymnocyten  und  Lepocyten.  Alle  vier  Plas- 
tiden-Arten  kommen  als  actuelle  Bionten  vor,  besonders  häufig  im 
Protistenreiche,  seltener  im  Pflanzenreiche. 

Einfache  Gymnocytoden  oder  Urklumpen,  also  einfache  Plasma- 
klumpen ohne  Kern  und  ohne  Schale  oder  Membran,  finden  sich  als 
actuelle  Bionten  in  dem  Stamme  der  Moneren,  wo  die  Protamoebeu, 
Protogeniden  und  Vibrionen  zeitlebens  auf  dieser  niedrigsten  Indivi- 
dualitätsstufe stehen  bleiben.  Wahrscheinlich  gehört  auch  Actinophrys 
sol  hierher,  deren  einfacher  nackter  Sarcode-Körper  keine  Kerne 
einschliesst. 

Weit  zahlreicher  und  mannichfaltiger  erscheinen  die  Lepocytoden 
oder  Hautklumpen  entwickelt,  welche  als  actuelle  Bionten  zahlreiche 
Species  des  Protisteureiches  und  der  niederen  Pflanzen -Stämme,  be- 
sonders   der    Algen    bilden.     Wir    rechnen    hierher    alle    sogenannten 


I.    Die  Plastideu  als  Bionten.  337 

„  einzelligen "  Pflanzen  und  Protisten,  welche  keinen  Kern  besitzen, 
also  in  Wahrheit  noch  keine  Zelle,  sondern  bloss  eine  Cytode  dar- 
stellen, einen  Plasmaklumpen,  welcher  von  einer  Schale  oder  Membran 
total  oder  partiell  umschlossen  ist.  Zu  den  merkwürdigsten  der  hier- 
her gehörigen  niederen  Pflanzen  sind  diejenigen  colossalen  Siphoneen 
zu  rechnen  (Caulerpa,  Bryopsis  etc.),  welche  vollständig  die  differen- 
zirteii  Formen  höherer  Pflanzen  mit  Wurzeln,  Stengel,  Aesten  und 
Blättern  nachahmen,  aber  dennoch  trotz  ihrer  beträchtlichen  Grösse 
nur  aus  einer  einzigen,  sehr  grossen  Lepocytode  bestehen,  einem 
kernlosen  Plasmaschlauche,  welcher  von  Cellulose-Haut  umgeben  ist 
und  verschiedene  „innere  Plasmaproducte"  einschliesst.  Nicht  minder 
merkwürdig  sind  die  unendlich  mannichfaltigen  und  zum  Theil  höchst 
complicirt  gebauten  Formen  der  Polythalamien  und  vieler  anderen 
Rhizopoden,  deren  ganzer  weicher  Körper  nur  aus  einem  einzigen 
homogenen  Plasmaklumpen  ohne  Kern  besteht,  und  bei  dem  die  Mem- 
bran durch  eine  gewöhnlich  kalkige  Schale  von  äusserst  verwickelter 
Structur  ersetzt  wird.  Man  pflegt  zwar  meistens  diese  Acyttarien,  und 
namentlich  die  Polythalamien,  nicht  als  monoplastide  Organismen  auf- 
zufassen, sondern  als  „vielzellige",  und  sagt,  das«  ihr  nicht  differen- 
zirter  weicher  Protoplasmakörper  „aus  verschmolzenen  Zellen"  zu- 
sammengesetzt sei.  Richtiger  wäre  aber  wohl  zu  sagen,  dass  derselbe 
„noch  nicht  in  Zellen  differenzirt"  sei,  da  bisher  noch  zu  keiner  Zeit 
des  Lebens  echte  Zellkerne  in  dem  Protoplasma -Leibe  der  meisten 
Acyttarien  nachgewiesen  sind.  Einzelne  Ausnahmen  (Gromid)  können 
sich  immerhin  trotzdem  zu  wirklicher  Zellen  -  Differenzirung  erheben, 
indem  Kerne  in  dem  Plasma  auftreten.  Diese  sind  dann  schon  Form- 
Individuen  zweiter  Ordnung. 

Unter  den  Gymnocyten  oder  Urzellen,  den  einfachen  nackten 
Zellen,  welche  als  actuelle  Bionten  auftreten,  sind  vor  Allen  die  echten 
Amoeben  höchst  bemerkenswerth,  die  merkwürdigen,  in  allen  Ge- 
wässern so  verbreiteten  Formen,  welche  uns  als  selbstständige  Species 
dauernd  einen  Form-Zustand  repräsentiren,  den  wir  bei  vielen  höhereu 
Organismen  nur  als  vorübergehenden  Embryonal-Zustand  (virtuelles 
Bion)  oder  als  integrirenden  Bestandtheil  (partielles  Bion)  von  Ge- 
weben (Blut,  Lymphe)  kennen.  Neuerdings  ist  man  zwar  sehr  geneigt, 
alle  Amoeben  als  solche  virtuelle  oder  partielle  Bionten  zu  betrachten, 
und  es  ist  in  der  That  sehr  schwierig,  durch  irgend  welche  Mittel  den 
bestimmten  Beweis  zu  liefern,  dass  nicht  alle  Amoeben  blosse  frei 
gewordene  Gewebsbestandtheile  oder  Entwickelungszustände  anderer 
Organismen  sind;  aber  eben  so  schwer  oder  vielmehr  unmöglich  ist 
der  Beweis  des  Gegentheils,  und  daher  scheint  uns  immer  noch  die 
Annahme  sicherer  und  hinlänglich  gerechtfertigt,  dass  es  wirklich  auch 
Amoeben  als  selbständige  „Species",  d.  h.  als  actuelle  Bionten  giebt. 

IIa  ecke),  Generelle  Morphologie.  22 


338  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Insbesondere  dürften  hierher  diejenigen  Amoeben  gehören,  welche 
durch  besondere  constante  und  characteristische  Structur- Verhältnisse 
ausgezeichnet  sind,  wie  z.  B.  die  Amoeba  quadrilineata  von  Carter. 

Weit  häufiger  und  verschiedenartiger  als  die  Urzellen,  sind  die 
Hautzellen  oder  Lepocyten,  welche  als  actuelle  Bionten  im  Keiche 
der  Protisten  und  der  niederen  Pflanzen  auftreten.  Es  gehören  hier- 
her alle  echt  „einzelligen"  Organismen  mit  Schale  oder  Membran, 
d.  h.  alle  jene,  bei  welchen  die  reife  ausgebildete  Species  den  Form- 
Werth  einer  einzigen  einfachen  und  vollkommen  selbstständigen,  von 
einer  Membran  umgebenen  Zelle  hat.  Jeder  Organismus,  welcher  als 
actuelles  Bion  eine  Hautzelle  darstellt,  muss  also  als  solche  aus  drei 
wesentlichen  Bestandtheilen  zusammengesetzt  sein,  aus  einem  inneren 
Kern,  einem  diesen  umschliessenden  Plasmaklumpen  und  einer 
äusseren  Membran.  Dies  ist  der  Fall  bei  vielen  Protisten  verschiede- 
ner Stämme,  z.  B.  allen]  einkernigen  Protoplasten  (einzelligen 
Arcelliden  und  Gregarinen),  vielen  solitären  Flagellaten  (Cryptomona- 
den,  Astasiaeen,  Peridinien),  allen  solitären  Diatomeen  (z.  B.  Coscino- 
discus,  Navicula  etc.).  Aus  dem  Pflanzenreiche  gehören  hierher  alle 
echten  (d.  h.  kernhaltigen)  einzelligen  Algen,  welche  nicht  zu  Colo- 
nieen  vereinigt,  sondern  solitär  leben,  z.  B.  Hydrocytium,  und  alle 
Desmidiaceen,  welche  als  actuelle  Bionten  eine  einzige  Zelle  mit 
einem  einzigen  Kerne  bilden.  Die  Membran,  welche  den  Character 
der  Lepocyten  ausspricht,  kann  entweder  vollständig  geschlossen  sein, 
wie  bei  den  letzterwähnten  Algen  und  bei  den  Gregarinen,  oder  theil- 
weise  unvollständig,  so  dass  das  eingeschlossene  Plasma  aus  den 
Spalten  oder  Löchern  hervortreten  kann,  wie  bei  den  Diatomeen 
(nach  Max  Schultze's  neuesten  Beobachtungen),  Flagellaten  (wo  die 
Geissei  aus  einem  Schalenspalt  vortritt)  und  Arcelliden  (wo  die  Pseu- 
dopodien aus  der  Schalenmündung  vortreten).  Die  Membran  oder 
Schale  besteht  bei  den  Diatomeen  und  vielen  Peridinien  aus  Kiesel- 
erde, bei  vielen  Flagellaten  aus  Cellulose,  bei  anderen  aus  einer 
stickstoffhaltigen  organischen  Substanz. 

I.   B.    Die  Piastiden  als  virtuelle  Bionten. 

Der  Fall,  dass  die  potentielle  physiologische  Individualität  durch 
Piastiden  oder  Form -Individuen  erster  Ordnung  repräsentirt  wird,  ist, 
wie  vorher  bemerkt,  der  häutigste  von  allen,  insofern  nicht  allein  sämmt- 
liche  so  eben  aufgezählte  Organismen,  welche  als  actuelle  Bionten 
den  Formwerth  einer  Plastide  haben,  diesen  während  der  ganzen 
Zeitdauer  ihrer  Existenz  besitzen,  sondern  auch  alle  höheren  Organis- 
men (zweiter  bis  sechster  morphologischer  Ordnung),  welche  sich  aus 
einem  einlachen  Ei  (Zelle)  oder  Spore  (Keimplastide)  entwickeln,  in  die- 
ser ersten  Zeit  ihrer  Existenz  als  einfache  Piastiden,  also  als  virtuelle 


I.    Die  Piastiden  als  Bionten.  339 

Bionten  erster  Ordnung-  auftreten.  Alle  diese  Keime  von  dem  Form- 
wertlie  einer  einfachen  Plastide  vermögen  sich  unmittelbar  zu  einem 
Organismus  zu  entwickeln,  der  als  reifes  Bion  den  morphologischen 
Werth  eines  Plastiden-Complexes  besitzt. 

Solche  virtuelle  Bionten  erster  Ordnung-  sind  also  alle  wirklich 
einzelligen  Eier  der  Thiere  (mithin  die  mehrzelligen  Insecten-Eier 
ausgenommen?),  ferner  die  Embryobläschen  oder  Keimbläschen  (oder 
echten  Eier)  der  Phanerog-amen,  die  Archeg-onium-Centralzellen  und 
die  einfachen  (monoplastiden)  Sporen  oder  Keimpiastiden  der  Crypto- 
g-amen  und  vieler  Protisten  etc.  Aber  ausser  diesen  regulären  Fort- 
pflanzungszellen, welche  auf  dem  ordinären  Wege  der  Zeugungskreise 
die  Erhaltung-  der  Art  bewirken,  müssen  auch  alle  jene  einfachen 
Piastiden  hierher  gerechnet  werden,  welche,  von  irgend  welchen  Theilen 
eines  actuellen  Bion  abgelöst,  die  Fähigkeit  besitzen,  sich  unmittelbar 
wieder  zu  einem,  dem  elterlichen  gleichen  Bion  zu  entwickeln,  wie 
dies  von  einzelnen  abgelösten  Piastiden  vieler  Protisten  und  niederer 
Cryptogamen  (selbst  einzelner  höherer  Pflanzen,  z.  B.  Bryophyllum) 
bekannt  ist;  ferner  von  der  Hydra  und  anderen  niederen  Thieren. 

Die  Piastiden,  welche  als  virtuelle  Bionten  auftreten,  sind  bald 
echte  (kernhaltige)  Zellen  (z.  B.  die  echten  Eier),  bald  kernlose  Cy- 
toden  (z.  B.  viele  Sporen  und  sogenannte  „Sommer-Eier").  Meistens 
sind  sie  von  einer  Membran  umgeben,  selten  hüllenlos.  Nackte  Eier 
finden  sich  z.  B.  bei  vielen  Medusen  (Lizzia,  Oceania  etc.).  Auch  die 
ihren  Hüllen  entschlüpften  Schwärmsporen  sind  nackt. 

I.   C.    Die  Piastiden  als  partielle  Bionten. 

Sehr  viele  Cytoden  und  Zellen,  welche  nicht,  gleich  den  vorher 
erwähnten  Piastiden,  die  Fälligkeit  besitzen,  losgelöst  vom  elterlichen 
Organismus,  sich  weiter  zu  entwickeln  und  zu  einem  actuellen  Bion 
zu  ergänzen,  vermögen  dennoch  sich  nach  ihrer  Ablösung  vom  zuge- 
hörigen Organismus  längere  oder  kürzere  Zeit  am  Leben  zu  erhalten, 
und  dieselben  Functionen,  welche  sie  vorher,  im  Zusammenhang  mit 
dem  Ganzen  ausübten,  auch  jetzt  noch  isolirt  weiter  zu  führen.  Viele 
Piastiden  oder  selbst  Plastidentheile  vermögen  sogar  ihre  specielle 
Function  erst  nach  der  Ablösung  vom  actuellen  Bion  zu  erfüllen,  wie 
die  Zoospermien.  Alle  diese  morphologischen  Individuen  erster  Ord- 
nung würden  wir  hier  als  partielle  oder  scheinbare  Bionten  aufzu- 
führen haben. 

Wir  finden  diese  Erscheinung  vorzüglich  bei  nackten,  amoeben- 
artigen  Piastiden,  welche  sich  durch  ihre  characteristischen  Bewegungen 
auszeichnen,  z.  B.  bei  den  farblosen  Blutzellen  der  Thiere,  den  Zellen 
der  Spongien  etc.  Diese  vermögen  oft  tagelang  nach  ihrer  Ablösung 
aus  dem  zugehörigen  Organismus  ihre  Bewegungen  fortzusetzen,  und 

22* 


340  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

nach  den  neuesten  Versuchen  von  Recklingh aus en  scheint  es  selbst, 
dass  die  Blutzellen  höherer  Thiere  unter  gewisses  günstigen  Bedin- 
gungen ausserhalb  des  Organismus  sich  nicht  allein  zu  erhalten,  son- 
dern auch  fortzupflanzen  und  bestimmte  Veränderungen  einzugehen 
fähig  sind.  Ebenso  vermögen  viele  Flimmerzellen,  besonders  von 
niederen  Thieren,  noch  lange  Zeit,  nachdem  sie  sich  von  dem  zuge- 
hörigen Organismus  abgelöst  haben,  ausserhalb  desselben  zu  erhalten 
und  ihre  beständigen  Bewegungen  unvermindert  fortzusetzen.  Auch 
einzelne  Pflanzenzellen,  aus  dem  Zusammenhange  des  Parenehyms 
ausgelöst,  vermögen  unter  Umständen  sich  lange  Zeit  lebensfähig  zu 
couserviren,  und  nicht  allein  sich  selbst  zu  erhalten,  sondern  auch  durch 
Theilung  sich  zu  vervielfältigen,  ohne  dass  sie  jedoch  die  Fälligkeit 
besässen,  sich  vollständig  zu  einem  actuellen  Bion  zu  entwickeln. 
Unter  den  isolirten  Zellen  der  Phanerogamen  scheinen  besonders  viele 
Pollenkörner  einen  hohen  Grad  von  physiologischer  Individualität  zu 
besitzen.  In  noch  auffallenderem  Maasse  findet  sich  dieselbe  aber  bei 
den  beweglichen  Zoospermien  der  Cryptogamen  und  der  Thiere  vor, 
welche  sogar  erst  nach  ihrer  Ablösung  vom  actuellen  Bion  ihre  eigent- 
liche Function  zu  erfüllen  beginnen. 


11.    Die  Organe  als  Bionten. 

Physiologische  Individuen  zweiter  Ordnung. 

Während  die  Piastiden  als  morphologische  Individuen  erster  Ord- 
nung sehr  häufig  zugleich  die  physiologische  Individualität  repräsen- 
tiren,  so  ist  dies  bei  den  Organen,  als  Form-Individuen  zweiter  Ord- 
nung, ungleich  seltener  der  Fall.  Doch  sind  immerhin  die  Fälle, 
welche  als  solche  sicher  betrachtet  werden  können,  viel  häufiger,  als 
es  wohl  beim  ersten  Gedanken  an  ihre  Möglichkeit  scheinen  könnte. 
Es  ist  in  dieser  Beziehung  vor  Allem  sehr  wichtig,  sich  an  die  rein 
morphologische  Bedeutung  zu  erinnern,  in  welcher  wir  oben  den  Be- 
griff des  Organes  festgestellt  haben  (p.  291).  Wir  verstanden  darunter 
allgemein  „jede  constante  einheitliche  Raumgrösse  von  bestimmter 
Form,  welche  aus  einer  bestimmten  Summe  von  mehreren  Piastiden 
in  constanter  Verbindung  zusammengesetzt  ist,  und  welche  nicht  die 
positiven  Charactere  der  Form-Individuen  dritter  bis  sechster  Ordnung 
erkennen  lässt. "  Von  der  einfachen  Plastide  unterscheidet  sich  das 
Organ  durch  seine  Zusammensetzung  aus  mehreren  Piastiden,  von  den 
Antimeren  und  den  anderen  höheren  Individualitäten  durch  den  Mangel 
derjenigen  characteristisehcn  Eigenschaften,  welche  diese  bestimmt 
kennzeichnen.  Bei  der  unendlichen  Mannichfaltigkeit  in  äusserer  Form 
und   innerer  Zusammensetzung   ist  es   nicht  möglich,   diese  allerdings 


II,  Die  Organe  als  Bionten.  341 

wesentlich  negative  Begriffsbestimmung  durch  eine  allgemein  gültige 
positive  zu  ersetzen.  Vielmehr  müssen  wir  jeden  Piastiden -Complex, 
also  jede  aus  zwei  oder  mehr  Piastiden  zusammengesetzte  Formeinheit 
von  bestimmter  Grösse  und  Zusammensetzung  ein  Organ  nennen,  so- 
bald dieselbe  nicht  den  bestimmten  Form-Character  eines  Individuums 
dritter  oder  höherer  Ordnung  trägt. 

In  jedem  Organismus,  welcher  einer  höheren  Ordnung  angehört,  ist  es 
leicht,  die  untergeordneten  Individualitäten  als  solche  zu  erkennen,  die  Me- 
tameren,  Antimeren  und  Piastiden  zu  bestimmen.  Organe  werden  wir  hier 
also  alle  diejenigen  einheitlichen  Gestalterscheinungen  nennen,  welche  keiner 
der  fünf  anderen  Individualitäts-Ordnungen  angehören.  In  den  tectologisch 
so  bestimmt  differenzirten  Phanerogamen,  Wirbelthieren ,  Articulaten  etc. 
werden  wir  daher  niemals  in  Zweifel  sein,  welche  Theile  wir  als  Organe  zu 
betrachten  haben,  und  welche  nicht.  Schwieriger  wird  diese  Unterschei- 
dung aber  bei  vielen  niederen  Formen  beider  Reiche,  besonders  den  Crypto- 
gamen,  und  kaum  möglich  erscheint  sie  oft  bei  den  Protisten.  Hier  kommt 
nun  Alles  darauf  an,  den  morphologischen  und  den  physiologischen  Begriff 
des  Organs  scharf  zu  sondern.  Lediglich  der  erstere  giebt  uns  das  Form- 
Individuum  zweiter  Ordnung. 

Das  Organ  als  physiologische  Einheit  kann  ein  integrirender 
Bestaudtheil  von  Form-Individuen  aller  sechs  Ordnungen  sein,  und  bedeutet 
weiter  nichts  als  einen  Körpertheil ,  welcher  eine  bestimmte  Verrichtung 
leistet.  So  ist  z  B.  an  einer  Flimmerzelle  das  Flimmerhaar  ein  Organ  der 
Plastide,  und  ebenso  an  einer  Nesselzelle  die  Nesselkapsel  und  der  Nessel- 
faden. An  jedem  zusammengesetzten  Organe  sind  die  untergeordneten 
Theile,  welche  Plastiden-Complexe  sind,  zugleich  „Organe  des  Organs." 
(Hierauf  beruht  die  oben  angeführte  Unterscheidung  der  Organe  von  fünf 
verschiedenen  Ordnungen).  Jedes  Antimer  ist  aus  mehreren  Organen  zu- 
sammengesetzt, kann  aber  selbst  als  „Organ"  einer  Person  erscheinen  (z.  B. 
die  Arme  der  Seesterne).  Ebenso  kann  man  die  Metaineren  vom  physio- 
logischen Gesichtspunkte  aus  als  „Organe  der  Person",  und  die  Personen 
als  „Organe  des  Stockes"  bezeichnen,  wie  z.  B.  ersteres  bei  den  Glieder- 
würmern, letzteres  bei  den  Siphonophoren  sehr  häufig  geschieht.  In  allen 
diesen  Fällen  leitet  beim  Gebrauche  des  Wortes  Organ  die  Vorstellung 
von  der  physiologischen  Leistung,  welche  dasselbe  als  integrirender  Bestaud- 
theil eines  anderen  Körpers  ausführt. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  dem  morphologischen  Begriffe 
des  Organs.  Dieser  bedeutet  stets  nur  eine  solche  untheilbare  Formein- 
heit von  constanter  Grösse  und  Zusammensetzung,  welche  eine  Mehrheit 
von  Piastiden  umfasst,  und  welche  weder  als  Antimer,  noch  als  Metamer, 
weder  als  Person,  noch  als  Stock  betrachtet  werden  kann.  Solche  Form- 
einheiteii  kommen  nun  in  der  That  nicht  nur  ganz  allgemein  als  constituirende 
Bestandtheile  aller  morphologischen  Individuen  dritter  bis  sechster  Ordnung 
vor,  sondern  dieselben  treten  auch  als  physiologische  Individuen  vollkom- 
meu  selbstständig  auf,  seltener  freilich  als  actuelle,  sehr  allgemein  aber  als 
virtuelle  und  bisweilen  in  sehr  auffallender  Form  als  partielle  Bionten, 


342  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Von  den  fünf  verschiedenen  Stufen  oder  Ordnungen  der  Organe, 
welche  wir  oben  unterschieden  haben,  treten  am  häufigsten  die  Organe 
erster  und  zweiter  Ordnung,  Zellfusionen  und  einfache  Organe,  seltener 
diejenigen  dritter  Ordnung  (zusammengesetzte  Organe)  als  Bionten  auf. 
Niemals  können  dagegen,  ihrer  Natur  nach,  die  Organe  vierter  und 
fünfter  Stufe,  die  Organsysteme  und  Organ-Apparate,  den  Werth  von 
physiologischen  Individuen  erhalten. 

II.    A.    Die  Organe  als  actuelle  Bionten. 

Sobald  man  die  ganz  verschiedene  physiologische  und  morpholo- 
gische Bedeutung  des  Organbegriffs  gemischt  gebraucht,  wie  dies  ge- 
wöhnlich geschieht,  so  wird  man  zu  keiner  klaren  Anschauung  über 
die  wichtige  Thatsache  gelangen,  dass  auch  morphologische  Organe 
den  Werth  von  actuellen  Bionten  besitzen,  und  als  solche  die  reifen 
Formen  selbstständiger  Species  repräsentiren  können.  Es  ist  dies 
nach  unserer  Ansicht  bei  allen  denjenigen  niederen  Organismen  der 
Fall,  welche  als  reife  Species-Form  einen  Plastiden-Complex  darstellen, 
an  welchem  sich  weder  Antimeren  noch  Metameren  unterscheiden  lassen, 
und  welche  demgemäss  weder  Personen  noch  echte  Stöcke  (Cormen) 
sein  können.  Hierher  gehören  sehr  viele  Protisten  und  niedere 
Pflanzen,  namentlich  aber  alle  sogenannten  „Colonieeii  von  einzelligen 
Organismen".  Uebrigens  können  als  actuelle  Bionten,  wie  bemerkt, 
nur  Organe  erster,  zweiter  und  dritter  Ordnung  fungiren.  Organe 
vierter  und  fünfter  Stufe  (Organ-Systeme  und  Organ-Apparate),  wie 
wir  deren  Begriff  oben  morphologisch  festgestellt  haben,  können  ihrer 
Natur  nach  niemals  die  reife  Species-Form  repräsentiren. 

a.  Organe  erster  Ordnung  oder  Zellfusionen,  also  Plas- 
tiden-Complexe,  welche  aus  mehreren  verschmolzenen  Zellen  bestehen 
(sogenannte  „vielkernige  Zellen"),  treten  als  actuelle  Bionten  verhält- 
nissmässig  selten  auf,  z.  B.  unter  den  Protisten  bei  denjenigen  Rhizo- 
poden  (Gromid)  und  Protoplasten  (Arcelliden),  deren  homogener  Sar- 
code-Körper eine  Mehrzahl  von  Kernen  einschliesst. 

b.  Organe  zweiter  Ordnung  oder  einfache  (homo- 
plastische) Organe,  also  Piastiden- Complexe ,  welche  aus  einem 
Aggregate  von  mehreren  gleichartigen,  mehr  oder  weniger  vollständig 
getrennten  Piastiden  (Cytoden  oder  Zellen)  bestehen  (sogenannte 
„Colonieen  einzelliger  Organismen"),  sind  als  actuelle  Bionten  unter 
den  Protisten  und  niederen  Pflanzen  sehr  verbreitet.  Die  Piastiden, 
welche  das  Bion  vom  morphologischen  Werthe  eines  einfachen  Organs 
constituiren,  sind  bald  Cytoden,  bald  Zellen.  Cytoden-Colonieen  dieser 
Art  bilden  viele  niedere  Algen  und  Nematophyten  und  einige  Fla- 
gellaten.  Zellen-Colonieen  dagegen  werden  vorzüglich  von  den  socialen 
Protisten,  von  den  coloniebildenden  Diatomeen   (Cocconcma,   Gompho- 


II.    Die  Organe  als  Biouten.  343 

nema  etc.)  und  vielen  Flagellaten- Stöcken  (Dinobryinen,  Volvocinen, 
Hydromorinen  etc.)  gebildet.  Gewöhnlich  werden  alle  diese  Synusieen 
als  echte  Stöcke  betrachtet.  Da  jedoch  ihre  constituirenden,  unter 
sich  nicht  verschiedenen  „Einzelthiere"  nur  den  Werth  von  Piastiden 
besitzen,  können  wir  dieselben  nur  als  einfache  Organe  betrachten. 

c.  Organe  dritter  Ordnung  oder  zusammengesetzte 
(hetero plastische)  Organe,  also  Plastiden-Complexe,  welche  aus 
einem  Aggregate  von  mehreren  ungleichartigen,  differenzirten  Piastiden 
bestehen,  und  welche  nicht  die  positiven  morphologischen  Charactere 
der  Antimeren  oder  anderer  Form-Individuen  höherer  Ordnung  zeigen, 
kommen  ebenfalls  unter  den  niederen  Pflanzen  und  Protisten  nicht 
selten  vor.  Wir  können  als  solche  viele  Thallophyten  (sowohl  Algen 
als  Nematophyten)  von  ganz  unregelmässiger  Gesammtform  betrachten, 
welche  aus  ungleichartigen  Zellen  zusammengesetzt  sind.  Ferner 
können  die  meisten  Myxoinyceten,  einige  Rhizopoden  (z.  B.  die  Acti- 
nosphaeriden)  und  viele  Spongien  hierher  gerechnet  werden. 

II.    B.    Die  Organe  als  virtuelle  Bionten. 

Als  virtuelle  Bionten  zweiter  Ordnung,  welche  also  unter  den 
morphologischen  Begriff  des  Organs  fallen,  betrachten  wir  alle  die- 
jenigen selbstständig  lebenden  Plastiden-Complexe,  welche  nicht  die 
positiven  Charactere  der  Form-Individuen  dritter  bis  sechster  Ordnung 
besitzen,  welche  aber  fähig  sind,  sich  zu  einer  dieser  Individualitäts- 
Ordnungen  zu  entwickeln.  Diese  Zustände  glauben  wir  in  allen  den- 
jenigen polyplastiden  Entwickelungszuständen  höherer  Organismen  zu 
finden,  welche  noch  nicht  in  Antimeren  sich  differenzirt  haben,  wie 
z.  B.  in  der  ersten  Embryonal-Anlage  der  Vertebraten,  im  Proembryo 
der  Phanerogamen  etc.  Aber  bei  vielen  niederen  Organismen  sind  es 
auch  einzelne,  aus  dem  Zusammenhang  des  Ganzen  entfernte  Plastiden- 
Complexe  von  unbestimmter  Begrenzung  (sogenannte  „  parenchymatische 
Individuen*),  welche  sich  zur  actuellen  Form  der  Species  zu  ent- 
wickeln vermögen.  Solche  sind  z.  B.  viele  Zellengruppen  aus  dem 
Leibe  der  Hydra  und  anderer  Hydroidpolypen ,  einzelne  Parenchym- 
stücke  aus  den  Blättern  vieler  Phanerogamen  etc.  Gleichwie  die 
Functionen  der  actuellen,  so  können  auch  diejenigen  der  virtuellen 
Bionten  durch  Organe  erster,  zweiter  und  dritter  Ordnung  ausgeübt 
werden. 

a.  Organe  erster  Ordnung  oder  Zellfusionen  treten  als 
virtuelle  Bionten  verhältnissmässig  sehr  selten  auf.  Wir  müssen  als 
solche  alle  sogenannten  „mehrkernigen  Zellen"  betrachten,  welche, 
aus  dem  Parenchym-Verbande  des  Organismus  ausgelöst,  die  Fähigkeit 
besitzen,  sich  zum  Ganzen  zu  entwickeln.  Solche  „Brutzellen",  Mutter- 
zellen, welche  eine  Mehrheit  von  Kernen,  also  von  Tochterzellen  ein- 


344  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 


schliessen,  treten  theils  mehr  regelmässig,  theils  mehr  zufällig  aus 
dem  Verbände  des  Ganzen  zu  Zeiten  hervor,  um  sich  selbstständig 
zu  einem  vollkommenen  actuellen  Bionten  auszubilden.  Dahin  können 
wir  z.  B.  die  Gemmulae  der  Spongien  rechnen.  Auch  andere  Poly- 
sporen  (mehrkernige  Keimzellen)  können  hierher  gerechnet  werden. 
Unter  den  Protisten  und  Thallophyten  gilt  dasselbe  von  manchen 
„Brutzellen". 

b.  Organe  zweiter  Ordnung  oder  einfache  Organe  (Ho- 
mop lasten)  als  virtuelle  Bionten  finden  sich  allgemein  als  vor- 
übergehende Entwickelungsstadien  bei  allen  höheren  Organismen, 
welche  sich  aus  einer  Zelle  (Ei  oder  Spore)  entwickeln.  Wir  müssen 
als  solche  virtuelle  Bionten  vom  Formen-Werthe  eines  Organs  zweiter 
Ordnung  alle  noch  nicht  dirrerenzirten  Furchungskugeln  betrachten, 
welche  aus  der  fortgesetzten  Eitheilung  entstanden  sind,  ferner  alle 
„Embryonal- Anlagen"  und  „Proembryonen",  auch  Embryonen,  so 
lange  ihre  Zellenmasse  noch  aus  lauter  gleichartigen  Furchungs- 
producten  besteht,  Ebenso  müssen  wir  hierher  alle  abgelösten  Paren- 
chymstücke  von  Organismen  dritter  bis  sechster  Ordnung  rechnen, 
welche  aus  lauter  gleichartigen  Zellen  bestehen  und  fähig  sind,  sich 
zum  actuellen  Ganzen  zu  entwickeln,  z.  ß.  eine  Gruppe  gleich- 
artiger Zellen  von  Hydra. 

c.  Organe  dritter  Ordnung  oder  zusammengesetzte  Or- 
gane (Heterop lasten)  finden  sich  als  virtuelle  Bionten  ebenfalls 
bei  allen  höheren  Organismen,  welche  sich  aus  einer  Plastide  (Ei 
oder  Spore)  entwickeln.  Es  gilt  dies  von  denjenigen  vorübergehenden 
Entwickelungszuständen,  Avelche  differenzirtc  Plastidencomplexe  dar- 
stellen, die  sich  aber  noch  nicht  in  Antimeren  oder  Metameren  diffe- 
renzirt  haben.  Als  solche  sind  z.  B.  die  Wirbelthier-Embryonen  zu 
betrachten,  wenn  zwar  die  drei  Keimblätter  in  der  Embryonal-Anlage 
differenzirt,  aber  die  Antimeren  noch  nicht  durch  die  Bildung  des 
Primitivstreifens  angedeutet  sind.  Auch  der  Phanerogainen- Embryo 
gehört  hierher,  so  lange  die  homotypische  Zusammensetzung  noch 
nicht  durch  das  Hervorknospen  der  Cotyledonen  bestimmt  ist.  Ferner 
können  wir  alle  durch  Knospung  entstellenden  Metameren,  Sprossen 
u.  s.  w.  so  lange  als  virtuelle  Bionten  vom  Formwerthe  eines  Organs 
dritter  Ordnung  betrachten,  als  ihre  differenzirte  Zellenmasse  noch 
nicht  die  homotypische  Zusammensetzung  des  Ganzen  erkennen  lässt. 
Endlich  rechnen  wir  hierher  alle  aus  einem  höheren  Organismus  aus- 
gelösten Parenchymstiicke,  welche  aus  ungleichartigen  Piastiden  be- 
stehen und  fähig  sind,  sich  zum  actuellen  Ganzen  zu  entwickeln 
(z.  B.  Blattstücke  mit  Gcfässhiindeln,  Parenchym  und  Oberhaut  von 
Bryophyllum  etc.). 


IL    Die  Organe  als  Bionten.     »  345 

IL    0.    Die  Organe  als  partielle  Bionteu. 

Als  partielle  Bionten  zweiter  Ordnung-  betrachten  wir  alle  Plas- 
tiden-Complexe  vom  morphologischen  Werthe  eines  Organes,  welche 
selbstständig,  abgelöst  vom  zugehörigen  Organismus,  längere  oder 
kürzere  Zeit  zu  leben  vermögen,  ohne  sich  zum  actuellen  Ganzen 
entwickeln  zu  können.  Es  gehören  also  hierher  alle  selbstständig 
existirenden  sogenannten  „individualisirten  Organe''.  Solche  kommen 
ebenfalls  unter  allen  drei  niederen  Ordnungen  der  Organe  vor. 

a.  Organe  erster  Ordnung  oder  Zellfusionen  vermögen 
verhältnissmässig  selten  als  partielle  Bionten  sich  zu  erhalten,  z.  B. 
manche  mehrkernige  Brutzellen  von  Protisten,  welche  zwar  abgelöst 
fortwuchern  können,  aber  ohne  sich  weiter  zu  entwickeln. 

b.  Organe  zweiter  Ordnung  oder  einfache  Organe  (Homo- 
p lasten)  müssen  als  partielle  Bionten  betrachtet  werden,  wenn  sie 
als  abgelöste  Parenchymgruppen,  welche  aus  gleichartigen  Piastiden 
zusammengesetzt  sind,  ihre  Existenz  unabhängig  vom  zugehörigen 
Ganzen  zu  fristen  vermögen,  ohne  sich  zu  einem  solchen  zu  entwickeln. 
Es  ist  dies  der  Fall  bei  vielen  zufällig  abgelösten  homoplastischen 
Parenchynistücken  von  niederen  Thieren  und  Pflanzen.  Solche  unregel- 
mässige Zellengruppen  können  oft  nach  ihrer  Ablösung  lange  Zeit 
fortexistiren,  und  selbst  sich  durch  Wachsthum  vergrössern,  ohne  zu 
einer  wirklichen  Entwicklung  zu  gelangen. 

c.  Organe  dritter  Ordnung  oder  zusammengesetzte  Or- 
gane (Heteroplasten)  bieten  die  am  meisten  ausgezeichneten  Fälle 
von  „individualisirten  Organen"  dar,  Fälle,,  welche  nicht  wie  die 
der  beiden  vorigen  Reihen,  mehr  zufällig  und  bedeutungslos,  sondern 
regelmässig,  und  selbst  durch  specielle  physiologische  Beziehungen  zu 
hoher  Bedeutung  erhoben,  bei  Organismen  der  verschiedensten  (und 
auch  höher  stehender)  Gruppen  sich  linden.  Es  lösen  sich  also  in 
diesem  Falle  bestimmte  Organe  dritter  Ordnung,  welche  aus  differen- 
zirten  Zellen  zusammengesetzt  sind,  vom  actuellen  Bion  ab;  um  eine 
selbstständige  Existenz,  unabhängig  von  ersterem,  weiter  zu  führen, 
wobei  sie  bisweilen  noch  bestimmte  und  selbst  höchst  wichtige  Func- 
tionen für  das  Bion  vollziehen.  Unzweifelhaft  den  merkwürdigsten 
Fall  von  solchen  hoch  individualisirten  Organen  bieten  uns  die  be- 
rühmten Hectocotylen  der  hectocotyliferen  Cephalopoden  dar  (Argo- 
nauta,  Philonexis,  Tremoctopus).  Bekanntlich  ist  der  Hectocotylus, 
welcher  anfangs  für  einen  Parasiten,  später  für  das  rudimentäre 
Männchen  der  betreffenden  Dinteutische  gehalten  wurde,  Nichts  als 
ein  abgelöster  Arm  des  kleinen  Männchens,  welcher  selbstständig 
umherkriechend  vollkommen  das  Bild  eines  actuellen  Bion  vorspiegelt 
und    als   solches  selbst  die   wichtige  Function  der  Begattung  ausübt. 


346  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Nicht  weniger  vollständig-  als  die  frei  umherschwimmenden  Hectoco- 
tylen  erscheinen  die  seltsamen  beAveglichen  Hautlappen  auf  dem 
Kücken  von  Thetis  individualisirt,  welche  sich  so  leicht  vom  Thiere 
ablösen  und  tagelang  scheinbar  selbstständig  umher  kriechen,  dass  sie 
früher  ebenfalls  als  Epizoen  (Vertumnus  thetidicola)  beschrieben  wurden. 
Ebenso  unvollkommen  sind  ferner  die  Pedicellarien  der  Echinodermen 
individualisirt,  die  auf  beweglichen  Stielen  festsitzenden  mehrklappigen 
Greifzangen,  welche  auch  auf  dem  todten  Thiere  noch  lange  ihre 
automatischen  Bewegungen  fortsetzen.  In  eine  Reihe  mit  diesen  sind 
dann  vielleicht  auch  die  vogelkopfartigen  Greiforgane  (Avicularien) 
und  die  pendelnden  Wedelorgane  oder  Vibracula,  und  die  anderen 
ähnlichen,  automatisch  beweglichen  Anhänge  zu  stellen,  welche  auf 
vielen  Bryozoen- Stöcken  sich  finden,  und  ebenfalls  unabhängig  von 
den  entwickelten  Thieren,  noch  lange  nach  deren  Tode  ihre  mono- 
tonen Bewegungen  fortsetzen.  Doch  werden  diese  Anhänge  von  An- 
deren als  rudimentäre  Individuen  betrachtet,  die  durch  weit  gehenden 
Polymorphismus  stark  degenerirt  sind.  Die  definitive  Entscheidung, 
ob  derartige,  mehr  oder  weniger  unabhängige  Anhänge  von  Colonieen 
mehr  als  polymorphe  Individuen  oder  als  individualisirte  Organe  auf- 
zufassen sind,  ist  in  diesen,  wie  in  manchen  anderen  Fällen,  ebenso 
für  die  allgemeine  Morphologie  wichtig,  als  ohne  genaueste  biologische 
Kenntniss  der  ganzen  Species  und  ihrer  vollständigen  Entwickelungs- 
geschichte  nicht  zu  geben. 

Viel  seltener,  als  solche  äussere  Organe  zeigen  bisweilen  isolirte 
innere  Organe,  welche  aus  dem  actuellen  Bion  durch  natürliche  oder 
künstliche  Einflüsse  entfernt  sind,  Lebenserscheinungen,  welche  ihnen 
in  auffallendem  Maasse  den  Character  der  partiellen  physiologischen 
Individualität  verleihen.  Dahin  gehören  z.  B.  die  inneren  Kiemen 
(sogenannten  Wasserlungen)  der  Holothurien,  der  Schlundkopf  der 
Planarien,  das  Herz  vieler  Amphibien  und  Reptilien,  und  viele  andere 
contractile  zusammengesetzte  Organe  niederer  Thiere,  welche  noch 
tagelang  nach  ihrem  Austritt  aus  dem  Körper  ihre  automatischen 
Bewegungen  selbstständig  fortsetzen  können. 

Sehr  verbreitet  scheint  ferner  die  partielle  Individualisation  von 
Organen  in  dem  Hydromedusen- Stamm  zu  sein.  Man  findet  hier  in 
verschiedenen  Abtheilungen  eine  grosse  Selbstständigkeit  einzelner 
Körpertheile,  welche,  abgelöst  vom  Ganzen,  entweder  als  virtuelle 
Bionten  sich  sogleich  zum  Ganzen  entwickeln,  oder  doch  als  partielle 
Bionten  längere  Zeit  hindurch  sich  isolirt  zu  erhalten  und  ihre  Lebens- 
bewegung fortzusetzen  vermögen.  So  findet  man  z.  B.  im  Meere  sehr 
oft  einzelne  abgerissene  Tentakeln  von  Ctenophoren  und  Hydromedusen, 
abgelöste  Magenschläuche  der  letzteren,  isolirte  A\7imperorgane 
(Schwinimplättchen)  der  ersteren,  welche  noch  Tage  lang  ihre  charac- 


III.    Die  Antimeren  als  Bioriten.  347 

teristischen  Bewegungen  mit  unverminderter  Kraft  fortsetzen  können. 
Einen  hohen  Grad  individueller  Selbstständigkeit  erreichen  ferner 
auch  bei  vielen  Hydromedusen  die  Geschlechtsorgane,  welche  in 
manchen  Familien  (z.  B.  Tubulariden)  die  vollständigste  Uebergangs- 
reihe  von  einfachen  und  sehr  unvollkommenen  Organen  zu  sehr  hoch 
organisirten  und  ganz  selbstständigen  Medusen  zeigen.  Da  jedoch 
diese  individualisirten  Geschlechtskapseln,  welche  als  Medusen  sich 
ablösen  und  frei  umherschwimmen,  durch  ihre  weitgehende  tectolo- 
gische  Differenzirung  bereits  den  morphologischen  Werth  von  Meta 
meren  erlangt  haben,  und  nicht  bloss  aus  Parameren,  sondern  auch 
aus  Antimeren  zusammengesetzt  sind ,  so  können  wir  dieselben  vom 
streng  morphologischen  Gesichtspunkte  aus  nicht  mehr  als  Organe  be- 
trachten. 


III.  Die  Antimeren  als  Bionten. 

Physiologische  Individuen  dritter  Ordnung. 

In  noch  höherem  Grade  als  bei  den  Organen  muss  es  bei  den 
Antimeren  seltsam  und  befremdend  erscheinen,  dass  sie  als  physio- 
logische Individuen  eine  selbstständige  Existenz  führen  können.  In 
der  That  sind  auch  hier  die  wirklich  unzweifelhaften  Fälle  von 
physiologischer  Individualisation  weit  seltener,  und  von  den  actuellen 
Bionten  ist  es  selbst  zweifelhaft,  ob  dieselben  jemals  durch  Antimeren 
repräsentirt  werden  können.  Sehr  ausgedehnt  findet  sich  aber  unter 
den  Antimeren  die  virtuelle,  und  bei  manchen  Organismen  auch  die 
partielle  Individualisation  vor. 

III.    A.  Die  Antimeren  als  actuelle  Biouten. 

Wenn  man  im  Gedächtniss  behält,  dass  die  Antimeren  oder 
Gegenstücke  als  Form-Individuen  dritter  Ordnung  eigentlich  nur  durch 
ihr  gegenseitiges  Verhältniss  zu  einander,  und  zu  dem  Form-Individuum 
vierter  oder  fünfter  Ordnung,  welches  sie  zusammensetzen,  bestimmt 
characterisirt  werden,  so  muss  es  von  vornherein  sehr  zweifelhaft 
erscheinen,  ob  dieselben  jemals  als  actuelle  Bionten  auftreten  können. 
In  der  That  ist  uns  in  allen  drei  organischen  Reichen  kein  einziger 
sicherer  Fall  bekannt,  dass  die  reife  Form  einer  Species  durch  ein 
Form-Individuum  repräsentirt  wird,  welches  unzweifelhaft  den  Form- 
werth  eines  einzigen  Antimeres  hätte.  Die  allermeisten  reifen  Species- 
Bepräsentanten  sind  entweder  aus  zwei  Antimeren  („Körperhälften") 
oder  aus  drei  oder  mehr  Antimeren  („  Strahlstücken ")  zusammengesetzt. 
Diejenigen  Piastiden- Complexe  aber,  welche  als  actuelle  Bionten  ein 
Aggregat   aus   differenzirten   Zellen    darstellen,    ohne    aus  zwei  oder 


348  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

mehr  Antimeren  zusammengesetzt  zu  erscheinen,  werden  wir  mit 
grösserem  Rechte  für  Bionten  zweiter,  als  für  Bionten  dritter  Ordnung 
halten  müssen.  So  haben  wir  denn  auch  die  Spohgieh,  die  Myxomy- 
ceten,  viele  Thallophyten  etc.,  bei  denen  jener  Fall  eintritt,  als  actuelle 
Bionten  vom  morphologischen  Werthe  eines  Heteroplasten  oder  zu- 
sammengesetzten Organs,  und  nicht  eines  Antimeres  betrachtet.  Nur 
dann  könnten  wir  actuellen  Bionten  den  Formwerth  eines  einzigen 
Metameres  zuschreiben,  wenn  sie  vollkommene  morphologische  Aequi- 
valente  von  Th eilen  wären,  welche  bei  verwandten  Arten  als  un- 
zweifelhafte Antimeren  eines  Metameres  oder  einer  Person  auftreten. 
Vielleicht  wären  gewisse  Arten  von  Lemna  als  actuelle  Antimeren  zu 
betrachten. 

III.    B.   Die  Antimeren  als  virtuelle  Bionten. 

Während  die  actuellen  Bionten  vielleicht  nie,  die  partiellen  Bionten 
nur  selten  durch  Antimeren  repräsentirt  werden,  so  ist  dies  dagegen 
bei  den  virtuellen  oder  potentiellen  Bionten  sehr  häufig  der  Fall.  Es 
müssen  nämlich  hierher  alle  Fälle  von  Fortpflanzung  durch  spontane 
Selbsttheilung  und  durch  künstliche  (zufällige)  Theilung  gerechnet 
werden,  bei  welchen  die  Theilungsebene  den  Körper  eines  actuellen 
Bion  in  seine  Antimeren  zerlegt,  und  wo  die  einzelnen  Antimeren  sich 
unmittelbar  wieder  durch  Reproduction  der  übrigen  Antimeren  zu  voll- 
ständigen Bionten  ergänzen.  Bei  den  eudipleuren  Thieren,  welche 
sich  durch  Längstheilung  fortpflanzen  (Infusorien)  stellt  also  jede  der 
beiden  Körperhälften  nach  vollendeter  Spaltung  ein  einziges  Antimer 
dar,  welches  sich  als  virtuelles  Bion  zu  einem  vollständigen  actuellen 
Bion  durch  Reproduction  der  anderen  Hälfte  zu  ergänzen  vermag.1) 
Ebenso  müssen  wir  bei  den  ..Strahlthieren",  bei  den  Coelenteraten 
und  Echinodermen,  jeden  Strahl,  d.  h.  jedes  Antimer,  als  virtuelles 
Bion  betrachten,  wenn  dasselbe,  durch  künstliche  oder  natürliche 
Spaltung  abgelöst,  unabhängig  von  den  anderen  sich  zu  einem 
actuellen  physiologischen  Individuum  auszubilden  vermag.  Die  inter- 
essanten Fälle  von  virtueller  Individualisation  der  Antimeren,  welche 
bei  den  Echinodermen  vorkommen,  sind  um  so  merkwürdiger,  als  der 
Organismus  gerade  dieser  „Strahlthiere"  sonst  in  so  hohem  Grade  die 


')  Ganz  dieselbe  Fortpflanzung  durch  einfache  Längstheiluug  finden  wir  bei 
sehr  vielen  Protisten  (Diatomeen,  Protoplasten  etc.)  und  niederen  Pflanzen 
(Desmidiaceen,  Euastrum  etc.)  wieder,  bei  denen  ebenfalls  jede  Hälfte  des  Bion 
sich  sofort  nach  vollendeter  Spaltung  wieder  durch  Wachsthum  zum  actuellen 
Bion  ergänzt.  Da  aber  hier  das  Bion  nur  den  Werth  einer  einzigen  Plastide 
(Zelle)  besitzt,  so  können  wir  hier  die  Körperhälften,  welche  als  virtuelle  Bion- 
ten auftreten,  nicht  als  Antimeren  ansehen ,  sondern  müssen  sie  als  Paramereu 
bezeichnen  (s.  oben  p.  311). 


III.    Die  Antimeren  als  Bionten.  349 

bestimmte  Neigung  zeigt,  nur  auf  dem  Wege  geschlechtlicher  Zeugung 
sich  zu  der  bestimmten  Form  der  Person  oder  des  Form-Individuums 
fünfter  Ordnung  zu  entwickeln.  Es  betreffen  diese  Fälle  einige  wenige 
Arten  von  Seesteraen,"  welche  einigen  sonst  nicht  gerade  besonders 
ausgezeichneten  Gattungen  angehören. 

Dasjenige  Astend,  bei  welchem  am  häufigsten  ein  Antimer  sich  zu  in- 
dividualisiren  scheint,  ist  Ophidiaster  multiforis  M.  et  Tr.,  welcher 
im  rotheu  uud  im  indischen  Meere  vorkommt.  Es  ist  dies  ein  kleiuer, 
schlanker,  Ophiureu  ärmlicher  Seestern  mit  kleiner  Scheibe  (Scheibenra- 
dius zum  Armradius  ==  1  :  10  —  12)  und  sehr  schlanken,  cylindrischen, 
nach  dem  Ende  zu  verdünnten  Armen  (neunmal  so  lang  wie  breit).  Die 
grosse  Mehrzahl  der  Individuen  hat  5  Arme;  aber  auch  solche  mit  4  und 
6  Armen  sind  nicht  selten;  bisweilen  steigt  die  Armzahl  auf  sieben.  Die 
Madreporenplatte  ist  bei  Individuen  mit  4—5  Armen  gewöhnlich,  doppelt, 
bei  solchen  mit  6  —  7  Armen  gewöhnlich  dreifach  vorhanden.  Gewöhnlich 
liegen  die  Madreporenplatten  in  benachbarten  Interbrachialräumen.  Die 
Arme  sind  selten  von  nahezu  gleicher  Länge,  gewöhnlich  2—3  benachbarte 
länger,  als  die  andern.  Gar  nicht  selten  aber  findet  mau  Individuen,  bei 
denen  4  ganz  kleine  Arme  am  Ende  eines  einzigen  sehr  grossen  sich  befin- 
den, und  bei  denen  eine  eigentliche  Mittelscheibe  kaum  existirt. l)  Diese 
Fälle  liefern  uns  evidente  Beweise  von  der  virtuellen  Individualisation  eines 
einzelnen  Antimeres,  welches  sich  durch  Reproduction  der  vier  übrigen 
Antimeren  zu  dem  actuellen  Bion  vom  morphologischen  Werthe  einer  pent- 
actinoten  Person  zu  entwickeln  vermag.  Durch  welchen  Torgang  hier  das 
einzelne  Antimer  zur  Ablösung  vom  Ganzen  und  zur  individuellen  Ent- 
wickelung  veranlasst  wird,  ist  unbekannt,  und  wir  wissen  insbesondere  nicht, 
ob  die  Ablösung  Folge  eines  inneren  Wachsthumsprocesses,  also  spontane 
Radialtheilung  (wie  bei  dem  gleich  zu  erwähnenden  Stomobrachium) 
oder  Folge  zufälliger,  von  aussen  einwirkender  Gewalt,  also  künstliche  Thei- 
lung  ist.  Die  verhältnissmässig  grosse  Anzahl  der  Exemplare  von  Ophi- 
diaster multiioris,  welche  dieses  ausgezeichnete  Verhalten  zeigeu, 
lässt  die  Verrnuthung  einer  natürlichen,  spontanen  Radialtheiluug  gerecht- 
fertigt erscheinen.  Andererseits  ist  es  leicht  denkbar,  dass  die  langen  dün- 
nen Arme  von  der  kleinen  Mittelscheibe  leicht  zufällig  abreissen,  und  ver- 
möge ausgezeichneter  Reproductionskraft  die  ganze  Scheibe  reproducireu. 
Während  bei  den  andern  Seesterneu  die  verstümmelte  Scheibe  die  Arme 
wieder  zu  ersetzen  vermag,  kann  also  hier  jeder  einzelne  Arm  die  ganze 
Scheibe    sammt    den  andern  Armen  aus    sich  regeneriren.     Es    würde    von 


l)  Bei  einem  solchen  Individuum,  welches  wir  vor  uns  haben,  ist  der  grosse 
Arm  34"""  lang  und  an  der  Basis  4",m  breit.  Von  den  4  kleinen  Armen  sind  die 
beiden  zunächst  den  grossen  umgebenden  6"""  lang,  an  der  Basis  2"""  breit  und 
die  beiden  dem  grossen  gegenüberstehenden  5"""  laug,  an  der  Basis  ebenfalls 
2»"»  breit.  Eine  Madreporenplatte  ist  nicht  sichtbar,  ebenso  ein  After  nicht 
deutlich;  dagegen  auf  der  Ambulacralseite  eine  sehr  kleine  Mundöffnuug,  in  welcher 
die  5  Ambulacralfurcheu  zusammenstussen. 


350  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

hohem  Interesse  sein,  diese  merkwürdigen  Fälle  von  potentieller  Individuali- 
sation  eines  Antimeres  näher  zu  untersuchen,  und  insbesondere  durch  Ex- 
perimente am  lebenden  Thiere  zu  bestimmen,  ob  der  Arm  nur  regenerations- 
f'ähig  ist,  wenn  er  noch  ein  zugehöriges  Scheibenstück  besitzt,  oder  ob  auch 
der  abgerissene  Arm  allein,  ohne  jede  Theilnahme  der  Scheibe,  diese  Re- 
generation ausführen  kann.  Im  letzteren  Falle  würde  sich,  streng  genom- 
men, nur  ein  Organ,  im  ersteren  Falle  das  ganze  Antimer,  zum  actuellen 
physiologischen  Individuum  gestalten. 

Ein  zweiter  Seestern,  bei  welchem  der  gleiche  Fall  häufig  vorzukom- 
men scheint,  ist  Asteracanthion  tenuispinus,  eine  im  Mittelmeer  nicht 
seltene  Art,  von  welcher  wir  zahlreiche  Exemplare  im  Hafen  von  Messina 
gesammelt  haben.  Sie  hat  5 — 10,  meistens  6-8  Arme,  und  wie  der  vorige 
Seestern,  eine  sehr  kleine  Scheibe,  (Scheibenradius  zum  Armradius  =  1:4 — 7). 
Madreporenplatten  sind  gewöhnlich  2— -3  vorhanden.  Auch  bei  diesem 
Seestern  fällt  die  grosse  Zahl  der  Individuen  auf,  deren  Arme  von  sehr  un- 
gleicher Länge  sind.  Doch  fanden  wir  nur  zwei  Exemplare  mit  einem  ein- 
zigen colossalen  Arme,  während  die  übrigen  (in  einem  Fall  6,  im  andern  7) 
Arme  noch  ganz  klein  und  offenbar  eben  erst  hervorgesprosst  waren.  Drei 
Exemplare  zeigten  einerseits  zwei  starke  und  lange  Arme  neben  einander,  an- 
dererseits diesen  gegenüber  fünf  sehr  kurze  Arme,  in  zwei  Fällen  unge- 
fähr i,  im  dritten  nur  |  so  lang,  als  die  beiden  unter  sich  fast  gleich  lan- 
gen grossen  Arme.  Ein  Exemplar  hatte  3  grosse  Arme  neben  einander, 
diesen  gegenüber  T  noch  nicht  halb  so  lange  unter  sich  fast  gleiche  Arme. 
Nicht  weniger  als  sieben  Exemplare  hatten  einerseits  4  lange  und  dicke, 
andererseits  3 — 6  kurze  und  dünne  Arme.  Die  übrigen  beobachteten  Exem- 
plare, 11  an  der  Zahl,  hatten  6 — 9  ziemlich  gleich  lange  Arme,  oder  nur 
1 — 3  kleine,  offenbar  in  Regeneration  begriffene  Stummel  zwischen  den 
grösseren.  Vergleicht  man  diese  Fälle,  so  würden  strenggenommen  nur  die 
beiden  ersterwähnten  neben  die  von  Ophidiaster  multiforis  erwähnten 
Fälle  zu  stellen,  und  als  Antimeren,  die  sich  zu  actuellen  physiologischen 
Individuen  mittelst  Regeneration  zu  gestalten  begannen,  zu  betrachten  sein. 
In  den  anderen  Fällen,  wo  offenbar  ebenfalls  gespaltene  Personen  vor- 
lagen, die  den  verloren  gegangenen,  meist  grösseren  Theil  der  Scheibe  re- 
generirten,  haben  wir  es  nicht  mehr  mit  einem  einzelnen,  sondern  bereits  mit 
einer  Mehrzahl  von  Antimeren  zu  thuu,  die  gemeinsam  ein  physiologisches 
Individuum  repräsentiren.  Die  grosse  Anzahl  der  Fälle,  in  denen  der 
ganze  Seestern  aus  2  sehr  ungleichen  Hälften,  der  eiuen  mit  4  grossen,  der 
anderen  mit  3 — 6  kleinen  Armen  zusammengesetzt  ist,  lässt  die  Vermuthung 
aufkommen,  dass  es  sich  hier  um  einen  Akt  freiwilliger  Halbirung  (Dimi- 
diatio  spontanea),  mit  nachheriger  Regeneration  des  Ganzen  von  jeder  Hälfte 
aus  handle.  Indessen  wird,  angesichts  des  Mangels  anderweitiger  Bei- 
spiele spontaner  Selbsttheilung  bei  den  Echinodermen,  sowohl  hier  bei 
Asteracanthion  tenuispinus,  als  dort  bei  Ophidiaster  multiforis, 
die  Annahme  vielleicht  mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich  haben,  dass  die 
virtuellen  Bionten,  welche  sich  zu  actuellen  zu  ergänzen  vermögen,  nicht 
einem  natürlichen  Selbsttheilungs-Acte  in  Folge  innerer  Wachsthumsverhält- 
nisse,  sondern  einer  künstlichen  Spaltung   durch   zufällige  äussere  Einflüsse 


III.    Die  Antimeren  als  Bionten.  351 

(Verstümmelung)  ihren  Ursprung  verdanken.  Ob  auch  die  merkwürdige 
Fähigkeit  niederer  Echinodermen  (Synapta),  sich  selbst  freiwillig  in 
zahlreiche  Stücke  zu  zerbrechen,  mit  diesen  Vorgängen  bei  Seesternen  zu- 
sammenzustellen sei,  ist  nicht  zu  entscheiden,  da  man  nicht  weiss,  ob  die 
einzelnen  Stücke  der  Synapta  das  Vermögen  besitzen,  als  virtuelle  Bion- 
ten sich  zu  einer  vollständigen  Person  zu  ergänzen.  Wäre  Dieses  aber 
auch  der  Fall,  so  würden  diese  Theilstücke  nicht  den  Formwerth  von  Anti- 
meren,  sondern  von  Metameren,  oder  von  Metameren-Gruppen  besitzen. 

Unter  den  Coelenteraten  scheint  einen  ausgezeichneten  Fall  von  virtueller 
Individualisation  der  Antimeren  das  Stomobrachium  mirabile  darzubie- 
ten, eine  Meduse,  welche  nach  Kölliker  durch  wiederholte  Strahltheiluug 
in  einzelne  Strahlstücke  zerfallen  soll,  die  sich  zur  actuellen  Medusen-Form 
zu  ergänzen  vermögen.  Doch  ist  dieser  merkwürdige  Selbsttheilungs-Pro- 
cess  in  seinen  einzelnen  Beziehungen  noch  nicht  näher  untersucht,  und  es  ist 
noch  fraglich,  ob  die  kleinsten  Strahlstücke,  welche  durch  fortgesetzte  Dira- 
diation  entstehen,  wirklich  einzelne  Antimeren,  oder  nicht  vielmehr  Anti- 
meren-Gruppen  sind. 

III.    C.    Die  Antimeren  als  partielle  Bionten. 

Einzelne  Theilstücke  höherer  Organismen ,  welche,  abgelöst  vom 
Ganzen,  selbstständig'  fortzuleben  vermögen,  ohne  sich  zum  actuellen 
Bion  zu  ergänzen,  treten,  wie  wir  vorher  sahen,  häufig  in  Gestalt  von 
Organen,  aber  wohl  nur  selten  in  Gestalt  von  Antimeren  auf.  Man 
kann  als  solche  partielle  Bionten  vom  Formwerthe  einzelner  Antimeren 
z.  B.  einzelne  abgerissene  Seestern-Arme  nebst  zugehörigem  Scheiben- 
stiicke  betrachten,  welche  unter  Umständen  längere  Zeit  sich  selbst- 
ständig zu  erhalten  fähig  sind,  ohne  doch  zu  einem  actuellen  Bion 
sich  vollständig  entwickeln  zu  können.  Doch  sind  diese  Fälle  selten 
und  von  keiner  grossen  Bedeutung.  Auch  bei  einigen  Hydromeduseu 
kommen  dergleichen  vor. 


IV.   Die  Metameren  als  Bionten. 

Physiologische  Individuen  vierter  Ordnung. 

Weit  häufiger  und  allgemeiner,  als  die  Antimeren,  erhalten  die 
Metameren  oder  Folgestiicke  den  physiologischen  Werth  eines  selbst- 
ständigen Bion.  Es  vermögen  häufig  isolirte  Metameren  als  partielle 
Bionten  ihre  Existenz  zu  fristen  (z.  B.  die  Proglottiden  der  Band- 
würmer). Ferner  finden  sich  Metameren  als  virtuelle  Bionten  im  Ent- 
wickelungskreise  aller  höheren  Thiere  und  Pflanzen  vor.  Endlich 
giebt  es  grosse  Abtheilungen  des  Thierreichs,  z.  B.  die  Mollusken, 
welche  als  actuelle  Bionten  fast  allgemein  nur  den  Formwerth  von 
Metameren  erhalten. 


352  Physiologische  Individualität  der  Orgauisnien. 

IV.    A.    Die  Metameren  als  actuelle  Bionten. 

Dass  iu  ansehnlichen  Abteilungen  des  Thierreichs  das  physiolo- 
gische Individuum  nicht,  wie  bei  den  meisten  Thieren,  den  morpholo- 
gischen Werth  der  Person,  sondern  den  des  Metameres,  also  nicht  den 
Formwerth  fünfter,  sondern  nur  vierter  Ordnung  besitzt,  ist  bisher 
gänzlich  übersehen,  oder  doch  bei  der  herrschenden  allgemeinen  Un- 
klarheit über  den  Individualitäts- Begriff  nicht  richtig  erkannt  worden. 
In  der  That  erhebt  sich  aber  die  reife  Species-Form  als  actuelles 
Bion  sehr  oft  nicht  zu  derselben  tectologischen  Stufe,  zur  Höhe  der 
Person,  welche  sie  bei  den  Wirbelthieren,  Arthropoden  und  Echino- 
dermen  erreicht,  bleibt  vielmehr  vorher  eine  Stufe  niedriger,  auf  der 
Metameren-Form,  stehen.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  den  meisten  Thie- 
ren, welche  als  actuelle  Bionten  nicht  selbst  aus  Metameren  zusam- 
mengesetzt sind,  also  z.  B.  bei  den  allermeisten  Mollusken  (allen 
höheren  und  den  „solitären"  niederen  Formen),  bei  vielen  niederen 
Würmern  (Trematoden  etc.)  und  bei  vielen  Coelenteraten  (einem 
Theile  der  Hydromedusen,  Ctenophoren  etc.). 

Hin  diese  neue  Auflassung  zu  rechtfertigen,  müssen  wir  von  der  Be- 
trachtung des  Articulaten-Staninies  ausgehen,  in  welchem  die  niederen  For- 
men auf  der  Metanieren-Stufe  stehen  bleiben,  während  die  höheren  Formen 
durch  Aggregation  von  Metameren,  die  hinter  einander  liegen,  Metanieren- 
Ketten,  d.  h.  Personen  bilden.  Bei  allen  Arthropoden  und  bei  allen,  un- 
mittelbar sich  an  sie  anschliessenden,  gegliederten  Würmern  (Anneliden, 
Cestoden)  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  sie  als  reife  Species-Repräsentanten 
(actuelle  Bionten)  den  morphologischen  Werth  der  Person,  des  Form -In- 
dividuums fünfter  Ordnung,  besitzen,  ebenso  gut  wie  die  einzelnen  Wirbel- 
thiere.  Wie  bei  letzteren,  besteht  ihr  individueller  Köiper  aus  einer  Kette 
hintereinander  gelegener  Metameren,  deren  jedes  aus  zwei  seitlichen  Anti- 
nieren  zusammengesetzt  ist.  Jedes  Antimer  ist  wiederum  aus  einer  Summe 
von  zusammengesetzten  und  einfachen  Organen  coustruirt,  und  diese  Organe 
selbst  sind  wieder  Mehrheiten  von  Piastiden.  Es  besteht  also  bei  allen 
Wirbelthieren  und  höheren  Articulaten  (Arthropoden  und  gegliederten  Wür- 
mern) der  ganze  Körper  des  actuellen  Bion  aus  einer  Summe  von  sub- 
ordiuirteu  Form-Individuen  erster  bis  vierter  Ordnung,  und  ist  mithin  selbst 
ein  Form-Individuum  fünfter  Ordnung,  eine  Person.  Der  einzige  Unter- 
schied zwischen  den  Wirbelthieren  und  Arthropoden  einerseits,  und  den 
gegliederten  Würmern  andererseits,  besteht  darin,  dass  die  Metameren  bei 
letzteren  unter  einander  sehr  gleichartig  und  daher  von  einander  sehr  un- 
abhängig, dagegen  bei  ersteren  sehr  ungleichartig  (diiferenzirt)  und  daher 
vom  Ganzen  und  von  einander  sehr  abhängig  sind. 

Wenden  wir  uns  nun  von  den  höheren  Articulaten  zu  den  niederen,  so 
treuen  wir  hier  wesentlich  verschiedene  Verhältnisse  an.  Bei  allen  Infu- 
sorien (die  wir  für  eine  Ausgangsgruppe  der  Articulaten  halten),  bei  den 
ihnen  nächstverwandten  Turbellarien,   bei  den  Trematoden  und  Nematoden 


IV.    Die  Metamerea  als  Bionten.  353 

ist  der  Körper  des  aetuellen  Bion  weder  äusserlich  noch  innerlich  geglie- 
dert und  es  beweist  die  gesanimte  Structur  desselben  hinreichend,  dass  er 
nicht  einem  ganzen  Anneliden-Bion,  sondern  nur  einem  einzelnen  Metamere 
desselben  morphologisch  aequivalent,  mithin  nicht  ein  Individuum  fünfter, 
sondern  vierter  Ordnung  ist.  Diese  Auffassung  wird  aufs  Bestimmteste  be- 
stätigt durch  die  interessante  Gruppe  der  Bandwürmer,  bei  denen  die 
höheren  Formen  den  gegliederten  Anneliden,  die  niederen  den  ungeglieder- 
ten Treinatoden  morphologisch  äquivalent  sind.  Die  meisten  Cestoden,  ins- 
besondere die  meisten  Taeniaden,  Tetraphyllideeu  und  viele  Pseudophyllideen 
erscheinen  als  eine  scharf  gegliederte  Kette  von  „Segmenten"  oder  „Einzel- 
thieren."  Jedes  der  letzteren  (Proglottis)  ist  zweifelsohne  einerseits  einem 
einzelneu  „Segmente"  eines  Anneliden,  andererseits  einem  ganzen  ungeglie- 
derten Trematoden  morphologisch  gleichwertig.  Das  letztere  wird  nament- 
lich durch  die  merkwürdigen  einfachen,  ungegliederten  oder  solitären  Band- 
würmer der  Caryophyllideen  -  Familie  bewiesen,  welche  auch  als  actuelle 
Bionten  nur  den  Werth  einer  einzelnen  Proglottis  und  eines  einzelnen 
Trematoden  besitzen.  Ebenso  wie  bei  Caryophyllaeus  entwickelt  sich 
bei  einigen  Tetraphyllideeu  (Echeneibothrium  min  im  um)  jede  Pro- 
glottis selbststäudig  zu  einem  aetuellen  Bion,  indem  sie  sich  frühzeitig  vom 
Scolex  ablöst  und  isolirt  zur  Geschlechtsreife  heranwächst.  Die  ganze 
Baudwurmkette  (Strobila)  der  socialen  Cestoden  ist  mithin  einem  ganzen 
Annelid  morphologisch  vollkommen  aequivalent,  also  ein  Form-Individuum 
fünfter  Ordnung.  Die  gewöhnliche  Ansicht,  dass  der  „ganze  Bandwurm" 
(z.  B.  von  Tuctiia,  Bo  thrhocephalus)  ein  echter  Stock,  d.h.  ein  Form- 
Individuum  sechster  Ordnung  sei,  ist  falsch,  und  dadurch  bedingt,  dass  man 
niemals  gehörig  die  ganz  verschiedenen  Ordnungen  der  morphologischen 
Individualität  unterschieden  hat.  Das  letztere  ist  hier  allerdings  zum  Theil 
auch  dadurch  erschwert  worden,  dass  die  Zusammensetzung  des  geglieder- 
ten Körpers  aus  Metameren  bei  vielen  Würmern  sehr  undeutlich  wird, 
z.  B.  bei  vielen  Pseudophyllideeu  unter  den  Cestoden,  bei  den  meisten 
Acanthocephalen  (wo  jedoch  Echinorhy  nchu  s  u'gilis  uud  E.  monili- 
formis sehr  deutlich  gegliedert  ist),  bei  den  meisten  Nemertinen  (wo  die 
Zusammensetzung  aus  einer  Metamerenkette  aber  auch  bisweilen  äusserlich 
durch  ringförmige  Einschnürungen  oder  Zeichnungen  und  stets  innerlich 
durch  die  Wiederholung  der  hinter  einander  gelegenen  Darmtaschen  uud 
Genital drüsen  sehr  deutlich  ausgesprochen  ist),  und  bei  den  Hirudineen  (wo 
sie  durch  das  gegliederte  Bauchmark  und  die  Wiederholung  der  Schleifen- 
canäle  etc.  ebenfalls  unzweifelhaft  dargethan  ist).  Wir  können  demgemäss 
allgemein  unter  den  Würmern  hinsichtlich  ihrer  tectologischen  Ausbildung 
zwei  Stufen  unterscheiden,  nämlich  solche,  bei  denen  das  actuelle  Bion 
ein  Metamer  und  solche,  bei  denen  es  eine  Person  ist.  Unter  letzteren 
können  als  zwei  Untergruppen  solche  Würmer  unterschieden  werden,  bei 
welchen  der  Zusammenhang  der  Metameren  ein  sehr  lockerer  und  solche, 
bei  welchen  er  ein  inniger  ist.  Es  wird  dies  durch  folgende  Zusammen- 
stellung übersichtlich  werden: 

Erste  Gruppe  der  Würmer:  Ungegliederte  Würmer:    das  actuelle  Bion 
ist  ein    einziges  Metamer,    also    ein  Form-Individuum    vierter  Ordnung:    die 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  23 


354  Physiologiche   Individualität  deif  Organismen. 

solitären  Bandwürmer:  C'aryophyllaeus,  Echeneibothrium,  alle  Trematoden  uud 
Turbellarien  (nach  Ausschluss  der  Nemertinen) ,  alle  Nematoden  (?)  und 
Gephyreen  (?) 

Zweite  Gruppe  der  Würmer:  Gegliederte  Würmer:  das  actuelle  Bion 
ist  eine  Kette  von  Metameren,  also  ein  Form-Individuum  fünfter  Ordnung,  eine 
Person.  Erste  Abtheilung:  die  durch  terminale  Knospung  entstundeneu  Meta- 
meren bleiben  innig  verbunden  uud  sind  oft  äusserlich  nicht  zu  unterscheiden; 
Undeutlich  gegliederte  Würmer:  Sociale  Bandwürmer  aus  der  Pseudo- 
phyllideen-Familie  (Ligula,  Trinenophorxs) ,  Nemertinen,  Acanthocephalen  (?), 
Hirudineen,  Sagitta  (mit  zwei  Metameren).  Zweite  Abtheilung:  die  durch  ter- 
minale Knospung  entstandenen  Metameren  trennen  sich  schärfer  von  einander, 
und  sind  auch  äusserlich  deutlich  zu  unterscheiden:  Deutlich  gegliederte 
Würmer:  Sociale  Bandwürmer  aus  den  Familien  der  Taeniadeu  und  Tetraphylli- 
deen,  einige  Acanthocephalen  (EeMnorhynchusaijiiis  und  E.  moniliformis),  die  mei- 
sten Anneliden. 

Unzweifelhaft  ist  also  bei  den  gegliederten  Würmern  das  actuelle 
Bion,  wie  bei  den  Wirbeltnieren  und  Arthropoden,  eine  Person,  ein 
morphologisches  Individuum  fünfter  Ordnung,  bei  den  ungegliederten 
Würmern  dagegen  ein  Metamer,  ein  Form-Individuum  vierter  Ordnung. 
Das  letztere  gilt  nun  auch  von  allen  Mollusken,  mit  Ausnahme  der 
socialen  „stockbildenden"  Tunicaten  und  Bryozoen.  Ueberall  fehlt 
hier  gänzlich  die  Gliederung,  die  Zusammensetzung  aus  einer  Kette 
hinter  einander  gelegener  Metameren,  und  es  bleibt  also  das  soge- 
nannte Einzelthier,  welches  aus  zwei  Antimeren  zusammengesetzt  ist, 
stets  auf  der  vierten  Individualitätsstufe  stehen,  bildet  selbst  ein  ein- 
ziges Metamer.  Es  wird  dies  sofort  klar,  wenn  wir  die  Mollusken 
mit  den  ungegliederten  Würmern  vergleichen;  an  die  sie  sich  unmittel- 
bar anreihen.  Bekanntlich  sind  einige  Schnecken  (Gasteropoden)  den 
niederen  Würmern  sehr  nahe  verwandt,  und  insbesondere  schliessen 
sich  die  niedersten  Opisthobranchien  unmittelbar  an  die  Turbellarien 
an,  von  denen  sie  oft  (Rhodope)  kaum  zu  unterscheiden  sind.  Die 
Tectologie  der  actuellen  Bionten  ist  hier  .vesentlich  die  gleiche,  wie 
dort.  Ganz  so  verhalten  sich  aber  auch  in  der  Zusammensetzung  des 
Körpers  aus  zwei  Antimeren  und  dem  gänzlichen  Mangel  jeder  Glie- 
derung alle  anderen,  nicht  „stoekbildeuden'w  Mollusken,  nämlich  erstens 
alle  Cephaloten  oder  kopftragenden  Mollusken  ( Cephalopoden, 
Cochleen)  und  zweitens  alle  „Einzelthiere''  unter  den  kopflosen 
Mollusken  oder  Acephalen  (alle  Lamellibranchien  und  Brachiopoden, 
und  unter  den  Tunicaten  die  Ascidiae  simplices,  die  Appendicularien, 
Doliolum  und  die  solitären  Generationen  der  Salpen.  Alle  diese 
Mollusken  haben  als  ausgebildete  reife  Species- Repräsentanten  nur 
den  morphologischen  Rang  eines  Metameres. 

Dasselbe  gilt  endlich  auch  von  allen  actuellen  Bionten  unter  den 
Coelenteraten,  welche  nicht  aus  •Metameren  zusammengesetzt  sind, 
also    von    allen  Ctenophoren,    allen    Medusen    und    allen   denjenigen 


IV.    Die  Mefameren  als  Bicmten.  355 

Polypen  (Hydroidpolypen  sowohl  als  Anthozoen),  welche  nicht  ge- 
gliedert, d.  h.  nicht  mit  Böden  oder  Dissepimenten  versehen,  oder 
äusserlich  wenigstens  geringelt  sind.  Alle  diese  ungegliederten  „Ein- 
zelthiere"  der  Coelenteraten,  mögen  sie  nun  aus  vier  Antimeren  be- 
stehen, wie  die  meisten  Medusen,  oder  aus  acht,  wie  alle  Ctenophoren 
und  Alcyonarien  (Octactinien),  oder  aus  sechs,  wie  die  Zoantharien, 
haben  als  actuelle  Bionten  nur  den  morphologischen  Werth  eines  ein- 
zigen Metameres,  und  sind  also,  gleich  den  Mollusken,  Trematoden 
und  Proglottiden,  nicht  „eigentliche  Individuen"  (d.  h.  Personen), 
wofür  man  sie  gewöhnlich  anzusehen  pflegt. 

Unter  den  Pflanzen  erreichen  zahlreiche  Cryptogamen  als  actuelle 
Bionten  nur  den  Metameren -Werth ,  nämlich  alle  diejenigen,  welche 
nur  aus  mehreren  Antimeren,  nicht  aus  mehreren  Metameren  zusam- 
mengesetzt sind,  wie  das  bei  vielen  Thallophyten  der  Fall  ist.  Selten 
dagegen  findet  sich  dieser  Fall  bei  den  Phanerogamen,  wo  nur  die 
„einfachen  Pflanzen  ohne  Stengelglicder"  dahin  gerechnet  werden 
können,  z.  B.  Lemna.  Auch  diese  ist  als  actuelles  Bion  ein  einfaches 
Metamer,  falls  man  nicht  wenigstens  gewisse  Formen  derselben  rich- 
tiger als  actuelle  Antimeren  betrachten  nmss. 

IV.    B.    Die  Metameren  als  virtuelle  Bionten. 

Nicht  minder  grosse  Bedeutung  als  die  actuelle,  besitzt  die  vir- 
tuelle Individualität  der  Metameren.  Wir  müssen  nämlich  nach  den 
oben  angeführten  Grundsätzen  alle  Entwickelungszustände  von  Per- 
sonen oder  Sprossen  für  virtuelle  Metameren  halten,  welche  bereits 
aus  zwei  oder  mehreren  Antimeren,  aber  noch  nicht  aus  Metameren 
zusammengesetzt  sind.  Demgemäss  ist  z.  B.  der  Wirbelthier-Embryo 
ein  virtuelles  Bion  in  Metameren-Form  von  dem  Momente  an,  wo 
durch  Auftreten  des  Primitivstreifens  die  Sonderung  in  zwei  Antimeren 
eintritt,  bis  zu  dem  Momente,  wo  durch  Erscheinen  der  Urwirbel 
die  Sonderung  in  eine  Kette  von  mehreren  Metameren  geschieht. 
Ebenso  ist  der  Arthropoden-Embryo  so  lange  ein  einfaches  Metamer, 
als  nicht  die  Gliederung  oder  Segmentirung  erscheint.  Der  Band- 
wurm-Scolex  aus  den  Familien  der  Taeniaden,  Tetraphyllideen  etc. 
ist  so  lange  ein  virtuelles  Metamer,  als  er  nicht  Proglottiden 
erzeugt.  Gleicherweise  ist  der  Phanerogamen  -  Embryo  so  lange 
ein  Metamer,  als  nicht  durch  Gliederung  der  Plumula  die  Anlage 
einer  Metameren  -  Kette  gebildet  wird.  In  allen  diesen  Fällen  ist 
der  vorübergehende  Entwickelungszustand  der  Person  ein  virtuelles 
Bion  vom  morphologischen  Werthe  eines  einfachen  Metameres,  von 
dem  Momente  an,  wo  das  Bion  aus  zwei  oder  mehreren  Antimeren  zu- 
sammengesetzt erscheint,  bis  zu  dem  Momente,  wo  dasselbe  durch  Knos- 
pung (Gliederung)  zu  einer  Metamercn-Kette,  d.  h.  zu  einer  Person  wird. 

23* 


356  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Weiterhin  müssen  wir  dann  aber  auch  als  virtuelle  oder  poten- 
tielle Bionten  alle  diejenigen  einzelnen  Metameren,  z.  B.  bei  vielen 
Anneliden,  betrachten,  welche  fähig  sind,  sich  von  der  Kette  des 
actuellen  Bion  abzulösen  und  selbstständig  (durch  terminale  Knospung) 
zu  einer  Metameren-Kette  (Person)  zu  ergänzen. 

IV.    C.  Die  Metameren  als  partielle  Bionten. 

Wie  für  die  allgemeine  Unterscheidung  der  actuellen  und  vir- 
tuellen, so  liefern  auch  für  das  Verständniss  der  partiellen  Bionten 
die  Metameren  als  physiologische  Individuen  vierter  Ordnung  aus- 
gezeichnet klare  und  treffende  Beispiele.  Wir  können  diese  eben  so 
wichtigen,  als  schwierigen,  und  bisher  gänzlich  vernachlässigten  Ver- 
hältnisse der  physiologischen  Individualität  nicht  besser  erläutern,  als 
durch  wiederholten  Hinweis  auf  den  Articulaten-Stamm ,  und  ins- 
besondere auf  die  Würmer,  deren  niedere  Formen  uns  aufs  klarste 
den  Unterschied  zwischen  der  actuellen,  virtuellen  und  partiellen  Er- 
scheinung der  physiologischen  Individualität  zeigen.  Wie  wir  unter 
der  Bandwürmer- Gruppe  in  dem  ausgebildeten  Caryophyllaeus  und 
Echeneibothrium  die  besten  Beispiele  für  die  actuelle,  in  dem  Scolex 
der  Taeniaden  für  die  virtuelle,  so  finden  wir  daselbst  in  den  freien 
Proglottiden  die  klarsten  Beispiele  für  die  partielle  Erscheinungsweise 
der  physiologischen  Individualität  in  der  Form  des  Metameres.  Die 
freien  Proglottiden  der  Taenien,  welche  gewöhnlich  irrthümlich  für 
„eigentliche  Individuen'',  d.  h.  für  Personen,  gehalten  werden,  sind 
lediglich  einzelne  Metameren,  welche  bei  vielen  Cestoden- Arten 
(Taenia  mediocanellata  etc.)  in  ausgezeichneter  Weise  als  partielle 
Bionten  eine  selbstständige  Existenz  zu  fristen  vermögen.  Als  schein- 
bar selbstständige  physiologische  Individuen  vermögen  sich  diese  ab- 
gelösten Folgestücke  der  Strobila  (des  actuellen  Bion)  längere  oder 
kürzere  Zeit  zu  erhalten  und  umher  zu  bewegen,  ohne  doch  der  Ent- 
wickelung  zum  actuellen  Bion  fähig  zu  sein.  Sie  leisten  hier  als 
individualisirte  Metameren  dasselbe,  wie  die  Hectocotylen  als  indivi- 
dualisirte  Organe,  wie  die  männlichen  Vallisnerien  als  individualisirte 
Personen.  Wir  können  kein  besseres  Beispiel  für  den  Character  des 
partiellen  Bion  überhaupt  anführen.  Weniger  vollständig  als  bei  den 
Cestoden  ist  die  Individualisation  der  Metameren  als  partieller  Bionten 
bei  vielen  anderen  Würmern  (z.  B.  Anneliden),  bei  denen  ebenfalls 
einzelne  Segmente  (Metameren)  sich  ablösen  und  längere  oder  kürzere 
Zeit  selbstständig  fortleben  können,  ohne  doch  die  Fähigkeit  zu  be- 
sitzen, sich  durch  terminale  Knospung  zu  einer  Metameren-Kette, 
d.  h.  einer  Person,  zu  ergänzen. 


V.    Die  Personen  als  Bionten.  357 

V.  Die  Personen  als  Bionten. 

Physiologische  Individuen  fünfter  Ordnung. 

Die  Person  oder  das  Prosopon  ist  von  allen  morphologischen 
Individualitäten,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  insofern  die  hervor- 
ragendste, als  sie  bei  der  grossen  Mehrzahl  aller  Thiere  und  Pflanzen 
als  physiologisches  Individuum  auftritt,  und  zwar  bei  den  meisten 
Thieren  als  actuelles,  bei  den  meisten  Pflanzen  als  virtuelles  und  als 
partielles  Bion.  Da  der  Mensch,  gleich  allen  anderen  Wirbelthieren, 
im  reifen  Zustande  (als  actuelles  Bion)  den  Formwerth  eines  morpho- 
logischen Individuums  fünfter  Ordnung  hat,  so  wurde  von  ihm  aus 
der  Begriff  des  „Individuums"  auf  die  übrigen  Organismen  übertragen, 
und  somit  in  der  oben  schon  erläuterten  Weise  der  Grund  zu  der 
allgemeinen  Verwirrung  gelegt,  in  welcher  sich  die  Individualitätslehre 
bisher  fand.  Sobald  wir  einerseits  scharf  unterscheiden  zwischen 
morphologischem  und  physiologischem  Individuum,  andererseits  zwischen 
den  verschiedenen  Ordnungen  der  morphologischen  Individualität,  so 
lichtet  sich  dieses  verworrene  Dunkel,  und  es  zeigt  sich,  dass  die 
Person  als  Bion  bei  Weitem  nicht  die  übermässige  Bedeutung  und 
Ausdehnung  besitzt,  welche  man,  von  der  beschränkten  subjectiven 
Betrachtung  des  Menschen  ausgehend,  ihr  allgemein  zugeschrieben 
hat.  Dadurch  wird  jedoch  die  hohe  Bedeutung  der  Person,  welche 
sie  als  die  allgemeine  Darstellungsform  der  physiologischen  Indivi- 
dualität bei  allen  höheren  Thieren  besitzt,  keineswegs  gemindert. 

Wir  haben  oben  (p.  325)  als  zwei  wesentlich  verschiedene  For- 
men der  Person  die  Ketten- Person  (Prosopon  catenatum)  und  die 
Busch-Person  (Prosopon  fruticosurn)  unterschieden,  erstere  durch  ter- 
minale, letztere  durch  laterale  Knospenbildung  von  Metameren  ent- 
standen. Sowohl  jene  als  diese  können  als  actuelle,  virtuelle  und 
partielle  Bionten  zur  Erscheinung  kommen. 

V.    A.    Die  Personen  als  actuelle  Bionten. 

Die  grösste  Wichtigkeit  als  actuelle  Bionten  besitzen  die  Personen 
im  Thierreiche,  da  die  reife  ausgebildete  Repräsentativform  der  Species 
bei  der  grossen  Mehrzahl  aller  Thiere  durch  morphologische  Indivi- 
duen fünfter  Ordnung  gebildet  wird.  Es  ist  dies  der  Fall  beim 
Menschen  und  allen  übrigen  Wirbelthieren,  bei  allen  Arthropoden, 
allen  „gegliederten"  Würmern  (Anneliden,  Nemertinen,  den  meisten 
Cestoden  etc.),  ferner  bei  allen  Echinodermen  und  allen  denjenigen 
Polypen  (sowohl  Anthozoen  als  Hydroidpolypen),  welche  keine  echten 
„Stöcke"  bilden,  sondern  als  Einzelthiere  leben,  die  durch  horizontale 
(auf  der  Längsaxe  senkrechte)   Scheidewände   oder    Böden    (Tabulae, 


358  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Dissepimenta),  oder  auch  nur  durch  entsprechende  ringförmige  äussere 
Einschnürungen,  in  eine  Reihe  von  über  (hinter)  einander  liegenden 
Stockwerken  oder  Gliedern  eingetheilt  sind,  z.  B.  viele  Actinien,  die 
unverästelten  Personen  einzelner  Isidinen.  Auch  die  Ketten  der  echten 
Salpen  können  hierher  gerechnet  werden. 

Bei  allen  diesen  Thieren  sind  die  actuellen  Bionten  entschiedene 
Ketten -Personen,  d.  h.  aus  einer  Vielheit  von  Metarneren  zusammen- 
gesetzt, welche  in  einer  einzigen  Reihe  in  der  Längsaxe  des  Körpers 
hinter  einander  liegen  und  durch  terminale  Knospung  entstehen.  Eben 
solche  Prosopa  catenata  sind  im  Pflanzenreiche  die  meisten  soge- 
nannten „einfachen  Pflanzen"  der  Phanerogamen  und  Gefäss-Crypto- 
gamen,  d.  h.  aus  mehreren  Stengelgliedern  zusammengesetzte  Sprosse, 
welche  keine  Zweige  (Seitensprosse)  und  nur  eine  einzige,  einfache 
terminale  Blüthe  tragen,  also  keine  echten  Stöcke  bilden.  Unter  den 
Phanerogamen  sind  es  nur  sehr  wenige  Species,  deren  actuelle  Bionten 
constant  als  solche  ganz  einfache  Personen  auftreten,  da  die  aller- 
meisten Species  entweder  verzweigte  (aus  seeundären  geschlechtslosen 
Sprossen  zusammengesetzte)  Stöcke  bilden,  oder  doch  einen  zusammen- 
gesetzten Blüthenstand  (einen  aus  sexuellen  Sprossen  zusammengesetzten 
Stock)  tragen.  Dagegen  kommen  solche  ganz  einfache  actuelle  Per- 
sonen häufiger  als  Ausnahme  bei  solchen  Species  vor,  die  gewöhnlich 
Stöcke  bilden  (z.  B.  Radiola  linoides ,  Erythraea  pulchella,  Saxifraga 
tridactylites  etc.). 

Viel  seltener,  als  diese  gegliederten  Ketten-Personen,  welche  man 
auch  Personen  im  engeren  Sinne  nennen  kann,  treten  die  Personen 
der  anderen  Hauptform,  die  Busch -Personen  (Prosopa  fruticosa) 
als  actuelle  Bionten  auf.  Es  ist  hier,  wie  wir  oben  sahen,  jede  ein- 
zelne Person  aus  einer  Vielheit  von  Metameren  zusammengesetzt, 
welche  niemals  in  einer  Reihe  (in  der  Hauptaxe)  hinter  einander, 
sondern  in  verschiedenen  Höhen  oder  in  gleicher  Höhe  neben  einander 
liegen,  und  durch  laterale  Knospung  eines  Metameres  entstehen.  Dies 
ist  verhältnissmässig  häufig  bei  niederen  Pflanzen  (Thallophyten),  aber 
nur  sehr  selten  bei  höheren  Pflanzen  der  Fall,  nämlich  bei  verzweig- 
ten Phanerogamen  ohne  Sprossgliederung  (z.  B.  Viscuni).  Viel  häu- 
figer finden  sich  solche  Busch-Personen  als  actuelle  Bionten  im  Thier- 
reiche,  besonders  bei  den  Mollusken,  wo  die  meisten  Bryozoen  und 
eine  Anzahl  Tunicaten  (viele  zusammengesetzte  Ascidien)  hierher  ge- 
hören, auch  die  Ketten  der  Salpellen  iSalpa  pinnala  etc.)  Ferner 
müssen  wir  als  solche  auch  alle  diejenigen  falschen  Coelenteraten- 
Stöcke  betrachten,  deren  Hauptspross  und  deren  Seitensprossen  nicht 
gegliedert  (geringelt  oder  tabulirt)  sind,  z.  B.  viele  Coryniden  unter 
den  Hydroidpolypen  und  Perforaten  unter  den  Anthozoen. 


V.   Die  Personen  als  Bionten.  359 

V.    B.    Die  Personen  als  virtuelle  Bionten. 

Wie  die  morphologischen  Individuen  fünfter  Ordnung  bei  den 
meisten  Thieren  als  actuelle,  so  treten  sie  bei  den  meisten  Pflanzen 
als  virtuelle  Bionten  auf.  Wir  nennen  dieselben  dann  Sprosse  oder 
Blasti.  Bei  den  allermeisten  Phanerogamen  erscheint  der  Embryo, 
welcher  die  Eihüllen  durchbricht,  zunächst  als  eine  einfache,  gegliederte 
Pflanze,  d.  h.  als  eine  Person,  welche  fähig  ist,  durch  laterale  Knos- 
pung Seitensprosse  (ebenfalls  Personen)  zu  treiben,  und  so  einen 
echten  Stock  (Cormus)  zu  bilden.  Da  also  bei  den  meisten  Phanero- 
•gamen  der  Cormus  das  actuelle  Bion  ist,  so  kann  die  Person  oder 
der  Spross,  aus  deren  Vielheit  erstere  besteht,  nur  das  virtuelle  Bion 
sein,  und  also  nicht  das  „eigentliche  Individuum",  wie  oft  behauptet 
wurde.  Die  virtuelle  Individualität  der  Pflanzen -Sprosse  zeigt  sich 
auch  darin,  dass  die  geschlechtslosen  Personen,  d.  h.  die  „  Blattsprosse " 
fast  immer  die  Fähigkeit  besitzen,  abgelöst  vom  Stocke,  sich  wiederum 
zu  einem  neuen  Stocke  zu  entwickeln,  indem  sie  durch  laterale  Knos- 
pung neue  gegliederte  Sprosse  treiben,  die  zu  einem  Cormus  ver- 
einigt bleiben.  Diese  virtuelle  Individualität  der  Sprosse  ist  für  die 
künstliche  Cultur  der  Pflanzen  äusserst  wichtig,  weil  auf  derselben 
•die  so  allgemein  benutzte  Möglichkeit  beruht,  die  Pflanzen  willkürlich 
auf  ungeschlechtlichem  Wege  durch  Ableger,  Absenker  etc.  zu  ver- 
mehren und  durch  Pfropfen,  Oculiren  etc.  zu  veredeln. 

Ganz  in  derselben  Weise,  wie  bei  den  meisten  Phanerogamen, 
treten  die  Personen  als  virtuelle  Bionten  bei  sehr  vielen  Coelenteraten 
auf,  nämlich  bei  fast  allen  denjenigen,  welche  echte  Stöcke  bilden, 
d.  h.  Colonieen  von  gegliederten  Personen.  Auch  hier  sind,  wie  bei 
den  Pflanzen,  gewöhnlich  die  einzelnen  abgelösten  Sprosse  fähig,  sich 
durch  Bildung  von  Seitensprossen  alsbald  wieder  zu  neuen  Corinen 
zu  entwickeln. 

In  den  allermeisten  Fällen  sind  die  Personen,  welche  als  virtuelle 
Bionten  auftreten,  Ketten-Personen.  Aber  auch  Buschpersonen  können 
dieselbe  Function  übernehmen.  Es  ist  dies  z.  B.  bei  vielen  Tunicaten, 
Bryozoen  und  diesen  ähnlichen  Coelenteraten-Colonieen  der  Fall,  deren 
Pseudo-Cormen  oder  Buschpersonen  sich  zur  Bildung  echter  Stöcke  zu 
vervielfältigen  vermögen,  wie  z.  B.  bei  den  Botrylliden.  Bei  diesen 
zusammengesetzten  Ascidien  vermag  jede  Buschperson  („System  von 
Einzelthieren")  sich  zu  einem  zusammengesetzten  Stocke  zu  entwickeln. 
Auch  bei  Thallophyten  kommt  dieser  Fall  vor. 

V.    C.    Die  Personen  als  partielle  Bionten. 
Weit  geringere  Bedeutung  als  die  actuelle  und  virtuelle,   hat  für 
die  Personen  die  partielle  Individualität.     Die  Fälle,  dass   Personen 
eines  Stockes  sich  spontan  von  diesem  ablösen  und  ihre  selbstständige 


360  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

Existenz  fortführen,  ohne  sich  selbst  wieder  zu  einem  Stocke  zu  ent- 
wickeln, sind  verhältnissmässig  selten.  Gewöhnlich  finden  wir  viel- 
mehr, dass  Personen  ^Sprosse),  welche  künstlich  oder  natürlich  von 
einem  Stocke  abgelöst  werden,  virtuelle,  und  nicht  bloss  partielle 
Bionten  sind.  Ein  ausgezeichnetes  Beispiel  von  partieller  Individua- 
lität bietet  uns  die  merkwürdige  Wasserpflanze  Vallisneria  spiralis, 
bei  welcher  die  kurzgestielten  männlichen  Personen  (Blüthensprosse) 
sich  zur  Blüthezeit  vom  Stocke  trennen,  um  an  die  Oberfläche  des 
Wassers  zu  gelangen  und  dort  schwimmend  die  langgestielten  weib- 
lichen Personen  zu  befruchten.  Dieser  interessante  Fall  bietet  die 
merkwürdigste  Analogie  mit  den  Medusen,  den  Proglottiden  der  Taenien 
und  den  Hectocotylen  der  Cephalopoden.  In  allen  drei  Fällen  lösen 
sich  geschlechtsreife  Theile  vom  actuellen  Bion  ab,  um  als  partielle 
Bionten  selbstständig  zu  erscheinen.  Bei  Vallisneria  sind  es  morpho- 
logische Individuen  fünfter,  bei  den  Medusen  und  den  Proglottiden 
vierter,  beim  Hectocotylus  zweiter  Ordnung,  welche  diese  scheinbare 
Selbstständigkeit  erlangen.  Einen  geringeren  Grad  partieller  Indivi- 
dualität zeigen  uns  die  reifen  Früchte  der  Phanerogamen  (während 
die  darin  eingeschlossenen  Samen  virtuelle  Bionten  sind).  Selbst  die 
abgerissenen  Einzelblüthen  der  Phanerogamen  (Geschlechts-Personen), 
welche,  in  Wasser  gesteckt,  fortblühen,  können  hier  aufgeführt  werden. 
Dasselbe  gilt  auch  von  vielen  Personen  der  Coelenteraten,  welche 
abgelöst  vom  Stocke,  noch  eine  Zeit  lang  fort  vegetiren,  ohne  sich  zu 
dem  actuellen  Bion  des  Stockes  ergänzen  zu  können. 


VI.  Die  Stöcke  als  Bionten. 

Physiologische  Individuen  sechster  Ordnung. 

Da  die  Stöcke  oder  Cormen  die  morphologischen  Individuen  der 
letzten  und  höchsten  Ordnung  sind,  so  könnte  es  zunächst  scheinen, 
als  ob  in  allen  Fällen,  wo  echte,  aus  einem  Complex  von  mehreren 
Personen  bestehende  Stöcke  überhaupt  vorkommen,  dieselben  gleich- 
zeitig auch  physiologische  Individuen  sein  niüssten,  und  es  ist  dies  in 
gewissem  Sinne  richtig.  Denn  da  keine  höhere  morphologische  Indi- 
vidualität über  dem  Stocke  steht,  so  kann  derselbe  auch  niemals  als 
subordinirtes  Form-Individuum  einer  solchen  eingefügt  sein.  Indessen 
lässt  sich  doch  bei  den  verschiedenen  Cormus- Arten,  und  insbesondere 
bei  den  verschiedenen  Formen  der  zusammengesetzten  Stöcke  insofern 
ein  Unterschied  hinsichtlich  ihrer  Fähigkeit  zur  physiologischen  Indi- 
vidualisation  nachweisen,  als  nicht  alle  einfachen  Stöcke,  welche  an 
jedem  zusammengesetzten  Cormus  vereinigt  sind,  in  gleichem  Maasse 
als  Bionten  erscheinen  können.    Es  wird  dies  sofort  klar,  sobald  mau 


VI.    Die  Stöcke  als  Bioriten.  361 

sich  erinnert,  dass  auch  die  Blüthenstände  der  Phanerogamen  als  be- 
sondere Stöcke  (als  sexuelle  Cormen)  aufgefasst  und  von  den  ge- 
schlechtslosen Cormen  (verzweigten  blüthenlosen  Aesten)  unterschieden 
werden  müssen.  In  Beiden  verhält  sich  die  physiologische  Individua- 
lität verschieden.  Es  sind  nicht  alle  Stöcke  in  gleichem  Maasse  fähig, 
als  actuelle,  virtuelle  und  partielle  Bionten  aufzutreten. 

VI.    A.   Die  Stöcke  als  actuelle  Bionten. 

Bei  allen  Arten  von  Organismen,  welche  überhaupt  zur  Stock- 
bildung gelangen,  wird  die  reife,  ausgebildete  und  fortpflanzungsfähige 
Species-Form  durch  das  morphologische  Individuum  sechster  Ordnung 
repräsentirt.  Es  ist  also  hier  jedes  entwickelte  und  vollkommen  aus- 
gebildete Bion  ein  echter  Stock  (Cormus)  in  dem  Sinne,  wie  wir  diesen 
morphologischen  Begriif  oben  festgestellt  haben.  Dies  ist  der  Fall  bei 
der  grossen  Mehrzahl  aller  Phanerogamen  und  bei  sehr  vielen  Crypto- 
gamen,  unter  den  Thieren  aber  nur  bei  einer  grossen  Anzahl  von 
Coelenteraten  (vielen  Hydromedusen  und  Anthozoen)  und  bei  einer 
geringen  Anzahl  von  Mollusken  (Botrylliden  und  gegliederten  Bryozoen). 
Alle  verschiedenen  Formen  der  Stöcke,  welche  wir  oben  unterschieden 
haben,  kommen  hier  vor.  Die  einfachen  Stöcke  (Cormi  simplices) 
sind  jedoch  im  Ganzen  viel  seltener,  als  die  zusammengesetzten  (Cormi 
compositi).  Die  grösste  Mannichfaltigkeit  in  der  Ausbildung  der  Cor- 
men als  actueller  Individuen  wird  einerseits  durch  das  mehr  oder 
minder  bedeutende  Uebergewicht  des  Hauptsprosses  (Blastus  primarius) 
über  die  Nebensprosse  (Blasti  secundarii)  bedingt,  andererseits  durch 
die  ausserordentlich  verschiedenartig  entwickelte  Arbeitstheilung  unter 
den  Sprossen,  welche  den  Cormus  zusammensetzen.  Unter  den  thie- 
rischen  Cormen  schliessen  sich  den  Phanerogamen  in  dieser  Beziehung 
am  engsten  die  Siphonophoren-Stöcke  an. 

Der  höchst  complicirte  Aufbau  der  zusammengesetzten  Phanero- 
gamen-Stocke  aus  zahlreichen  über  einander  geordneten  Generationen 
von  einfachen  Stöcken  führt  zur  Bildung  der  colossalsten  und  gewal- 
tigsten Bionten,  welche  die  organische  Natur  hervorbringt.  Dahin 
gehören  die  riesigen  Coniferen,  welche  die  grössteAusdehnung  der  or- 
ganischen Läugsaxe  unter  allen  Landbewohnern  zeigen,  und  unter  denen 
z.  B.  Pinus  trigona,  P.  strobus,  Äraucaria  excelsa  etc.  Stämme  von 
gegen  300  Fuss  Länge  bilden;  diese  werden  nur  noch  von  den  meerbe- 
wohnenden Algenriesen,  der  Macrocystis  pyrifera  etc.  übertroffen,  deren 
Hauptsprosse  länger  als  400  Fuss  werden.  Das  Gewaltigste  in  der 
Entwicklung  der  Kreuzaxen  leisten  die  imposanten  Adansonien  mit 
Stämmen  von  30  Fuss  Durchmesser.  Als  die  Grossartigsten  aller 
physiologischen  Individuen  müssen  wir  aber  die  Manglebäume  (Bhizo- 
phora)  und  die  indischen  Feigenbäume  (Ficus  indicaj  betrachten,  bei 


362  Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

welchen  durch  bleibenden  Zusammenhang  zahlreicher  zusammen- 
gesetzter Stöcke,  die  aus  einem  einzigen  hervorgehen,  diese  alle  zu- 
sammen ein  einziges  Bion  darstellen,  oft  unter  der  Form  eines  ganzen 
Waldes.  Die  colossalen  Stämme  und  Kronen  dieser  Kiesenbäume 
lassen  als  höchst  zusammengesetzte  Stöcke  an  Yolum  und  Masse  Alles 
weit  hinter  sich,  was  je  einzelne  Personen  (z.  B.  Walfische)  leisten 
können.  In  dieser  Beziehung  zeigt  sich  die  höhere  physiologische 
Ausbildungsstufe,  welche  durch  Zusammensetzung  der  Personen  zu 
Cormen  erreicht  wird,  sehr  deutlich. 

Das  Thierreich  bringt  nur  im  niedersten  Stamme,  bei  den  Coelen- 
teraten,  ausserdem  nur  noch  bei  einigen  Mollusken  (bei  den  Bo- 
trylliden  und  gegliederten  Bryozoen),  actuelle  Bionten  von  echter 
Cormus-Form  hervor  und  steht  also  in  dieser  Beziehung  eine  Stufe 
tiefer,  als  das  Pflanzenreich.  Doch  übertreffen  auch  hier  die  echten 
stockbildenden  Formen  durch  colossale  Massenentwickelung  bei  weitem 
alle  einzelnen  Personen,  wie  schon  die  Anthozoen- Stöcke  der  Südsee 
zeigen,  die  ungeheuren  inselbildenden  Corallen-Riffe.  Der  quantitative 
Nachtheil,  den  die  physiologische  Individualität  der  höheren  Thiere  durch 
mangelnde  Stockbildung  erleidet,  wird  aber  aufgewogen,  ja  weit  über- 
wogen durch  den  qualitativen  Vortheil  der  freieren  Beweglichkeit  der 
Personen,  welche  bei  allen  höheren  Thieren  als  actuelle  Bionten 
fungiren.  Ausserdem  tritt  dann  hier  noch  an  die  Stelle  der  gebundenen 
Stockbildung  die  freiere  Gemeinden-  und  Staaten -Bildung.  Die 
Arbeitstheilung  entwickelt  sich  hier  in  nicht  minderem  Maasse  als  dort, 
und  die  nothwendige  Wechselwirkung  der  thierischen  Personen,  die 
in  Heerden,  Familien,  Gemeinden,  Staaten  beisammen  leben,  ist  nicht 
weniger  innig,  als  diejenige,  welche  zwischen  Personen  eines  und 
desselben  Stockes  stattfinden  muss.  Der  einzige  Unterschied  ist,  dass 
hier  ein  materielles  und  continuirliches,  dort  ein  ideelles  und  contiguir- 
liches  Band  die  Vielheit  der  Personen  zur  Einheit  der  Gemeinde 
zusammenhält.  Wenn  wir  demgemäss  auch  die  freien  Staaten  der 
Menschen  und  der  anderen  höheren  Thiere  niemals  als  morphologische 
Individualitäten  auffassen  können,  so  werden  sie  dennoch  als  actuelle 
Bionten  in  weiterem  Sinne  zu  betrachten  sein. 

Die  mehr  oder  minder  innigen  Vereinigungen  von  vielen  Personen, 
welche  die  actuelle  physiologische  Individualität  der  Gemeinde  und 
des  Staates  bilden,  sind  bisher  nicht  näher  von  tectologischem  Stand- 
punete  aus  als  ideelle  Aequivalente  der  Cormen,  der  Form-Individuen 
sechster  Ordnung,  untersucht  worden.  Die  Bildungs-Gesetze  sind  hier 
wie  dort  dieselben.  Die  Staaten  der  Menschen  sind  ebenso  wie  die- 
jenigen der  anderen  Thiere  nach  den  Gesetzen  der  Aggregation  und 
des  Polymorphismus  gebildet.  Auch  die  verschiedenen  Staatsformen 
wiederholen  sich  bei  den  verschiedensten  Thiergruppen.     Viele  Thiere, 


VI.    Die  Stöcke  als  Bionten.  363 

namentlich  Arthropoden,  und  unter  diesen  besonders  die  Ameisen, 
übertreffen  viele  menschliche  Staaten  durch  die  reine  Entwickelung  der 
republicanischen  Staatsform,  der  höchsten  und  vollkommensten  Synusie, 
welche  grösste  Freiheit  mit  vernünftigster  Einheit  verbindet. 

VI.    B.    Die  Stöcke  als  virtuelle  Bionten. 

Da  alle  selbstständigen  echten  Stöcke  zur  Zeit  der  vollständigen 
Reife  eo  ipso  auch  actuelle  Bionten  sind,  so  können  wir  als  poten- 
tielle oder  virtuelle  Bionten  alle  jene  Stöcke  betrachten,  welche  noch 
nicht  zur  vollständigen  Keife,  die  sie  später  erreichen,  gelangt  sind? 
also  alle  Pflanzenstöcke,  welche  noch  nicht  geblüht,  alle  Polypenstöcke1 
welche  noch  nicht  Geschlechtsproducte  erzeugt  haben.  Ueberhaupt 
können  alle  einfachen  Stöcke,  welche  sich  zu  zusammengesetzten  zu 
entwickeln  vermögen,  als  potentielle  Bionten  gelten.  Ausserdem  wer- 
den wir  aber  auch  alle  einfachen  geschlechtslosen  Stöcke,  welche  sich 
im  Verbände  zusammengesetzter  Stöcke  vorfinden,  z.  B.  alle  verzweig- 
ten blüthenlosen  Aeste  als  virtuelle  Bionten  betrachten  können,  insofern 
sie,  losgelöst  vom  Ganzen,  fähig  sind,  sich  selbstständig  wieder  zu 
einem  zusammengesetzten  Stock  zu  entwickeln.  Ausgeschlossen  sind 
hiervon  die  geschlechtlich  differenzirten  Stöcke  (Inflorescentien  oder 
Blüthenstände)  der  Phanerogamen ,  welche  sich  niemals  zu  einem  zu- 
sammengesetzten Stocke  als  actuellem  Bion  ergänzen  können. 

VI.    C.    Die  Stöcke  als  partielle  Bionten. 

Als  scheinbare  oder  partielle  Bionten  können  wir  nur  diejenigen 
Stöcke  betrachten,  welche,  abgelöst  von  actuellen  zusammengesetzten 
Stöcken,  nicht,  gleich  den  so  eben  erwähnten,  fähig  sind,  sich  wieder 
durch  Wachsthum  zu  ergänzen  und  zu  einem  vollständigen  zusammen- 
gesetzten Cormus  zu  entwickeln,  sondern  nur  längere  oder  kürzere 
Zeit  nach  ihrer  Ablösung  noch  eine  selbstständige  Existenz  zu  fristen 
vermögen.  Es  ist  dies  der  Fall  z.  B.  bei  den  einfachen  Stöcken, 
welche  die  zusammengesetzten  Cormen  der  Siphonophoren  bilden. 
Erstere  vermögen  sich  von  letzteren  abzulösen  und  als  partielle  (aber 
nicht  virtuelle)  Biunten  weiter  zu  leben.  Ferner  gehören  hierher  die 
geschlechtlich  differenzirten  Stöcke  oder  die  sogenannten  Blüthenstände 
(Inflorescentien)  der  Phanerogamen,  welche,  künstlich  oder  zufällig 
abgelöst  vom  Hauptstock,  ebenso  wie  Einzelblüthen  (Personen)  noch 
eine  Zeit  lang  weiter  blühen,  aber  nicht  wieder  zum  actuellen  Bionten 
sich  ergänzen  können.  Dieselben  stehen  dadurch  in  einem  bemerkens- 
werthen  Gegensatze  zu  den  geschlechtslosen  Personen  der  Phaneroga- 
men (Blattsprossen),  welche  gerade  umgekehrt  die  virtuelle  Individua- 
lität in  hohem  Maasse  und  sehr  allgemein  besitzen. 


364  Tectologische  Thesen. 


Elftes  Capitel. 

Tectologische  Thesen. 


„Eine  Erfahrung,  die  aus  mehreren  anderen 
besteht,  ist  offenbar  von  einer  höheren  Art.  Auf 
solche  Erfahrungen  der  höheren  Art  loszuarbeiten 
halte  ich  für  höchste  Pflicht  des  Naturforschers, 
und  dahin  weist  uns  das  Exempel  der  vorzüg- 
lichsten Männer,   die   in  diesem  Fache  gearbeitet 


haben." 


Goethe. 


I.   Thesen  von  der  Fundamental  -Structur  der  Organismen. 

1.  Alle  morphologischen  Eigenschaften  der  Organismen,  sowohl 
ihre  anatomischen,  als  ihre  Entwickelungs-Erscheinungen,  und  von 
den  anatomischen  Eigenschaften  sowohl  die  tectologischen  als  die 
promorphologischen  Verhältnisse,  sind  die  notwendigen  Folgen 
mechanischer  wirkender  Ursachen.') 


')  Indem  wir  am  Schlüsse  dieses  dritten  Buches  und  der  folgenden  drei 
Bücher  eine  Anzahl  von  allgemeinen  Grundsätzen  der  organischen  Morphologie 
in  Form  von  „Thesen"  aussprechen,  wollen  wir  damit  nicht  sowohl  eine  „Ge- 
setzsammlung der  organischen  Morphologie-'  begründen,  als  vielmehr 
einen  Anstoss  und  Fingerzeig  zu  einer  solchen  Begründung  geben.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  wir  gegenwärtig  noch  in  keiner  Weise  befähigt  sind,  eine  con- 
tinuirliche  Kette  von  morphologischen  Gesetzen  zu  entwickeln,  die  nur  einiger- 
maassen  auf  unbedingte  mathematische  Gültigkeit  und  Anerkennung  rechnen  und 
sich  eine  lange  Lebensdauer  versprechen  könnte.  Eine  Wissenschaft,  die  noch 
so  sehr  in  primis  cuuabulis  liegt  wie  die  Morphologie  der  Organismen,  muss 
noch  bedeutende  Metamorphosen  durchmachen,  ehe  sie  es  wagen  kann,  für  ihre 
allgemeinen  Sätze  den  Rang  von  unbedingten  ausnahmslos   wirkenden  Naturge- 


Tectologische  Thesen.  365 

2.  Jeder  Organismus  oder  belebte  Naturkörper  ist  eine  materielle 
Raumgrösse  (Masseneinheit),  welche  als  solche  aus  einer  Summe  von 
Massen -Atomen  und  zwischen  denselben  befindlichen  Aether -Atomen 
zusammengesetzt  ist. 

3.  Die  Massen- Atome,  welche  jeden  Organismus  zusammensetzen, 
gehören  mindestens  vier  verschiedenen  Atom-Arten  (chemischen  Ele- 
menten oder  Urstoffen)  an,  welche  zu  sehr  verwickelten  Verbindungen 
in  demselben  vereinigt  sind. 

4.  Die  chemischen  Verbindungen,  aus  welchen  jeder  Organismus 
zusammengesetzt  ist,  sind  theils  constante,  welche  allen  Organismen 
gemeinsam  zukommen,  theils  inconstante,  welche  einem  Theile  der 
Organismen  besonders  zukommen. 

5.  Die  constanten,  allen  Organismen  ohne  Ausnahme  zukommen- 
den chemischen  Verbindungen  sind  Kohlenstoff- Verbindungen  aus  der 
Gruppe  der  Eiweisskörper  (Albuminate,  Protein-Verbindungen),  welche 
alle  mindestens  aus  vier  verschiedenen  Atom- Arten:  Kohlenstoff, 
Sauerstoff,  Wasserstoff  und  Stickstoff  zusammengesetzt  sind;  meistens 
zugleich  noch  aus  Schwefel  und  oft  aus  Phosphor. 

6.  Die  inconstanten,  nur  einem  Theile  der  Organismen  zukom- 
menden chemischen  Verbindungen  sind  theils  organische  (kohlenstoff- 
haltige) Verbindungen  (Fette,  Kohlenhydrate  etc.),  theils  anorganische 
(kohlenstofffreie)  Verbindungen  (Alkali-Salze,  Kalk-Salze,  Kiesel- Ver- 
bindungen etc.). 

7.  Von  den  chemischen  Verbindungen,  welche  das  materielle  Sub- 
strat jedes  Organismus  bilden,  befindet  sich  immer  wenigstens  ein 
Theil  (und  zwar  ausnahmslos  ein  Theil  der  constanten  Eiweiss-Ver- 
bindungen)  im  festflüssigen  Aggregatzustande  (Imbibitions-Zustande). 

8.  Alle  Eigenschaften  der  Organismen  sind  die  unmittelbaren  oder 
mittelbaren  Wirkungen  der  chemischen  Verbindungen,  aus  denen  sie 
zusammengesetzt  sind,  und  in  letzter  Linie  der  Massen -Atome  und 
Aether-Atome,  aus  welchen  jene  chemischen  Verbindungen  zusammen- 
gesetzt sind. 

9.  Alle  Eigenschaften  der  Organismen  sind  entweder  physiologische 


setzen  in  Anspruch  zu  nehmen.  Eine  Anzahl  solcher  Gesetze  glauben  wir 
allerdings  gefunden  und  in  dem  vorliegenden  Werke  begründet  zu  haben.  Wir 
sind  aber  nicht  im  Stande,  mit  der  erforderlichen  Sicherheit  zu  sagen,  welche 
von  den  hier  formulirten  allgemeinen  Wahrheiten  wirkliche  Gesetze,  welche  bloss 
Regeln  sind,  welche  davon  eine  ganz  allgemeine,  welche  eine  beschränktere 
Gültigkeit  haben.  Statt  daher  das  Schlusscapitel  jedes  unserer  vier  morpho- 
logischen Bücher  mit  dem  mehr  versprechenden  als  leistenden  Titel:  „Theorieen 
und  Gesetze"  zu  schmücken,  ziehen  wir  es  vor,  die  Primordienjlßxaelben, 
gemischt  mit  einigen  allgemeinen  Regeln,  als  „Thesen"  zus 
deren  weitere  Entwickelung  zu  Gesetzen  wir  von  unsern  Nacl 


366  Tectologische  Thesen 

(Bewegungs-Erscheinungen  der  Massen-Atome  und  der  aus  ihnen  zu- 
sammengesetzten Moleküle)  oder  morphologische  (Lagerungs-  Ver- 
hältnisse der  Massen- Atome  und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten 
Moleküle). 

10.  Die  Leistungen  oder  Functionen  der  Organismen  (physiolo- 
gische Eigenschaften  uder  Lebeuserscheinungen)  sind  als  Bewegungen 
(Anziehungen  und  Abstossungen)  der  Atome  und  Moleküle  nur  in 
einer  Reihe  von  Zeitmomenten  erkennbar  und  als  solche  Object  der 
Physiologie  (Biodynamik). 

11.  Die  Formen  oder  Morphen  der  Organismen  (morphologische 
Eigenschaften  oder  Lebensbilduugen)  sind  als  Ruhezustände  (Gleich- 
gewichtszustände) der  Atome  und  Moleküle  nur  in  einem  einzigen 
Zeitmomente  erkennbar  und  als  solche  Object  der  Morphologie 
(Biostatik). 

12-  Die  Massen-Bewegungen  (Anziehungen  und  Abstossungen  der 
Atome  und  Moleküle  in  den  organischen  Verbindungen),  welche  wir 
Lebens- Erscheinungen  nennen,  erfolgen  innerhalb  jedes  Organismus 
nach  denselben  ewigen  und  unabänderlichen  Gesetzen  der  die  ge- 
sammte  Natur  beherrschenden  Notwendigkeit,  wie  alle  Bewegungs- 
Erscheinungen  in  der  anorganischen  Natur;  alle  sind  mithin  die  not- 
wendigen Folgen  wirkender  Ursachen  (nach  dem  allgemeinen  Causal- 
Gesetz). 

13.  Die  Ruhezustände  (Gleichgewichts -Zustände)  der  Atome  und 
Moleküle  iu  den  organischen  Verbindungen,  welche  wir  Lebens-Formen 
nennen,  werden  durch  dieselben  ewigen  und  unabänderlichen  Gesetze 
der  absoluten  Nothwendigkeit  bedingt,  wie  alle  gesetzmässigen  Formen 
in  der  anorganischen  Natur  (Krystalle);  alle  sind  mithin  die  notwen- 
digen Folgen  wirkender  Ursachen  (nach  dem  allgemeinen  Causal- 
Gesetz). 

14.  Die  Masse-Bewegungen  der  organischen  Atome  und  Moleküle, 
deren  Endresultat  die  Lebens-Formen  sind,  gehen  immer  aus  von  den 
niemals  fehlenden,  sehr  beweglichen  und  veränderlichen  Eiweiss- Ver- 
bindungen, welche  die  „active"  organische  Materie  oder  den  „Lebens- 
stoff" im  engeren  Sinne  bilden. 


II.   Thesen  von  der  organischen  Individualität. 

15.  Jeder  einzelne  Organismus  als  lebendige  Masseneinheit  er- 
scheint in  der  Form  einer  einheitlich  abgeschlossenen  und  selbststän- 
digen Raumgrösse,  welche  ganz  oder  theilweise  von  festflüssiger  orga- 
nischer Materie  gebildet  wird  und  eine  einheitliche  Summe  von 
Leistungen  (Lebens-Erscheinungen)  ausführt. 


Tectologische  Thesen.  367 

16.  Jeder  einzelne  Organismus,  vom  morphologischen  Standpunkte 
aus  betrachtet  und  bloss  hinsichtlich  seiner  formellen  Individualität 
als  Einheit  untersucht,   erscheint  als  ein  morphologisches  Individuum. 

17.  Jeder  einzelne  Organismus,  vom  physiologischen  Standpunkte 
aus  betrachtet  und  bloss  hinsichtlich  seiner  functionellen  Individualität 
als  Lebens-Einheit  untersucht,  erscheint  als  physiologisches  Individuum 
oder  Bion.1) 

18.  Das  Bion  oder  das  physiologische  Individuum  als  Lebens- 
einheit ist  an  ein  materielles  Substrat  gebunden,  welches  entweder 
ein  einziges  einfaches  morphologisches  Individuum  oder  ein  einheit- 
licher Complex  (Synusie,  Colonie)  von  zwei  oder  mehreren,  innig  ver- 
bundenen einfachen  morphologischen  Individuen  ist. 

19.  Jeder  einheitliche  Complex  (Synusie  oder  Colonie)  von  zwei 
oder  mehreren,  innig  verbundenen  einfachen  morphologischen  Indivi- 
duen, welcher  ein  natürliches  Ganze,  eine  selbstständige  Formeinheit 
bildet,  ist  als  ein  morphologisches  Individuum  zweiter  oder  höherer 
Ordnung  zu  betrachten. 

20.  Alle  morphologischen  Individuen,  welche  im  Thierreiche,  im 
Protistenreiche  und  im  Pflanzenreiche  als  materielle  Substrate  der 
Biouten,  als  Träger  der  einheitlichen  Lebens -Erscheinung  auftreten, 
lassen  sich  in  sechs  subordinirte  Stufen  oder  Ordnungen  gruppiren, 
welche  wir,  von  unten  nach  oben  aufsteigend,  mit  folgenden  morpho- 
logisch bestimmten  Ausdrücken  bezeichnen:  1)  das  Plasmasttick 
(Plastis);  2)  das  Werkstück  (Organon);  3)  das  Gegenstück  (Anti- 
rueros);  4)  das  Folgestück  (Metameros) ;  5)  die  Person  (Prosopon); 
6)  der  Stock  (Corinos). 

21.  Jede  einzelne  Form-Einheit  höherer  Ordnung  ist  eine  Vielheit 
(Synusie  oder  Colonie)  von  mehreren  vereinigten  Formeinheiten  der 
vorhergehenden  niederen  Ordnungen. 

22.  Nur  die  Plastide  (entweder  Cytode  oder  Zelle)  als  das  mor- 
phologische Individuum  erster  und  niederster  Ordnung  ist  demnach 
ein  wirklich  einfaches  Form-Individuum ;  alle  übrigen  morphologischen 
Individuen  (zweiter  bis  sechster  Ordnung)  sind  stets  zusammengesetzte 
Individuen  oder  Colonieen  (Synusieen,  Complexe). 

l)  Um  den  schleppenden  und  vielsylbigen  Ausdruck  des  „physiologischen 
Individuums"  zu  vermeiden,  haben  wir  denselben  durch  den  kurzen  und  bezeich- 
nenden Ausdruck  des  Bion  ersetzt,  (6  ßCog,  rö  ov).  Entsprechend  würde  sich 
das  morphologische  Individuum  kurz  alsMorphon  bezeichnen  lassen  (ij  [*0Q(fi), 
to  ov).  Wir  haben  indessen  den  Gebrauch  dieser  Bezeichnung  hier  vermieden, 
um  nicht  allzuviele  neue  Kunstausdrücke  (deren  wir  ohnehin  schon  eine  grosse 
Anzahl  zur  Bezeichnung  neuer  Begriffe  bedürfen)  in  die  organische  Morphologie 
einzuführen.  Da  jede  der  sechs  verschiedenen  morphologischen  Individualitäten 
ihre  eigene  bestimmte  Bezeichnung  besitzt,  so  kommt  der  Ausdruck  „morpho- 
logisches Individuum"  überhaupt  viel  seltener  zur  Anwendung. 


368  Tectologische  Thesen. 

111    Thesen  von  den  einfachen  organischen  Individuen. 

23.  Die  Plastide  oder  das  Plasniastück,  als  das  einzige  einfache 
organische  Individuum,  ist  das  allgemeine  Form -Element  aller  Orga- 
nismen, die  gemeinsame  Grundlage  aller  Thiere,  Protisten  und  Pflan- 
zen ohne  Ausnahme. 

24.  Jede  lebende  Plastide  ohne  Ausnahme  besteht  aus  einem  zu- 
sammenhängenden Stücke  einer  festfliissigen  Eiweiss  -  Verbindung 
^Plasma),  welche  den  eigentlich  activen  Lebensstoff  repräsentirt,  in- 
dem sie  in  beständiger  chemischer  Umsetzung  begriffen  ist,  und  dadurch 
die  Lebens-Beweguugen  veranlasst. 

25.  Alle  die  endlos  mannichfaltigen  und  verschiedenartigen  mor- 
phologischen und  physiologischen  Eigenschaften  der  Organismen  sind 
lediglich  die  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Wirkungen  der  endlos 
mannichfaltigen  und  verschiedenartigen  atomislischen  Zusammensetzung 
der  Eiweiss-Verbindungen,  welche  als  individuelle  Plasmaklumpen  das 
Plasma  der  Piastiden  bilden. 

26.  In  allen  Piastiden  ist  das  Plasma  entweder  der  einzige  active 
Bestandteil  (das  „Lebenselement"),  oder  es  hat  sich  im  Innern  des 
Plasma  ein  zweiter  activer  Bcstandtheil  aus  demselben  differenzirt, 
der  Kern  oder  Nucleus,  welcher  aus  einer  von  dem  Plasma  verschie- 
denen Eiweiss-Verbindung  besteht. 

27.  Die  Zellen,  als  Piastiden  mit  Plasma  und  Kern,  sind  demnach 
als  eine  höhere  Entwickelungsstufe,  von  den  unvollkommeneren  Cyto- 
den,  den  einfachen  Plasmaklumpen  ohne  Kern  zu  unterscheiden. 

28.  Alle  Formbestandtheile  der  Piastiden,  und  also  der  Organis- 
men überhaupt  (als  einfacher  Piastiden  oder  Plastiden-Complexe), 
welche  nicht  actives  Plasma  oder  activer  Kern  sind,  werden  als  pas- 
sive oder  seeundäre  von  jenen  activen  oder  primären  Plastiden-Theilen 
gebildet,  entweder  äusserlich  (Zcllenmembranen  und  Intercellular-Sub- 
stanzen)  oder  innerlich  (innere  Plasma-Pro duete). 

IV.   Thesen  von  den  zusammengesetzten  organischen  Individuen 

29.  Alle  morphologischen  und  physiologischen  Eigenschaften  der 
zusammengesetzten  organischen  Individuen  (zweiter  bis  sechster  Ord- 
nung) sind  die  nothwendige  Wirkung  der  sie  constituireuden  einfachen 
Individuen  (Piastiden)  und  zwar  in  letzter  Instanz  ihrer  activen  Be- 
standtheile  (Plasma  und  Kern). 

30.  Die  Composition  der  zusammengesetzten  Individuen  aus 
Aggregaten  von  einfachen  Individuen  erfolgt  in  den  Organismen  aller 
drei  Reiche  (Thieren,  Protisten  und  Pflanzen)  nach  denselben  ein- 
fachen Gesetzen. 


Tectologische  Thesen.  369 

31.  Das  Organ  (in  rein  morphologischem  Sinne,  als  das  morpho- 
logische Individuum  zweiter  Ordnung)  ist  ein  Complex  von  zwei  oder 
mehreren  vereinigten  Piastiden  (Cytoden  oder  Zellen). 

32.  Das  Antimer  oder  der  homotype  Stücktheil  ist  ein  Complex 
von  zwei  oder  mehreren  vereinigten  Organen. 

33.  Das  Metamer  oder  der  homodyname  Stücktheil  ist  ein  Com- 
plex von  zwei  oder  mehreren  vereinigten  Antimeren. 

34.  Die  Person  oder  das  Prosopon  ist  ein  Complex  von  zwei  oder 
mehreren  vereinigten  Metameren. 

35.  Der  Stock  oder  Cormus  ist  ein  Complex  von  zwei  oder  meh- 
reren vereinigten  Personen. 


V.  Thesen  von  der  physiologischen  Individualität. 

36.  Jede  bestehende  Art  oder  Species  von  Organismen  ist  aus 
allen  physiologischen  Individuen  zusammengesetzt,  welche  unter  nahezu 
gleichen  Verhältnissen  oder  doch  unter  sehr  ähnlichen  Existenz-Be- 
dingungen eine  nahezu  gleiche  oder  doch  sehr  ähnliche  Formenreihe 
während  ihrer  individuellen  Entwickelung  durchlaufen. 

37.  Für  jede  Art  oder  Species  von  Organismen  ist  die  Stufe  der 
morphologischen  Individualität,  welche  das  vollständig  reife  und  aus- 
gebildete physiologische  Individuum  repräsentirt,  eine  constante,  welche 
wir  mit  dem  Ausdruck  des  actuellen  Bion  bezeichnen. 

38.  Wirklich  einfache  Organismen-Species  können  bloss  die  Mono- 
plastiden  genannt  werden,  d.  h.  diejenigen  Arten,  bei  welchen  das 
actuelle  Bion  sowohl,  als  alle  Entwickelungsstadien  desselben,  den 
Formen- Werth  einer  einzigen  Plastide  (entweder  einer  Cytode  oder 
einer  Zelle)  besitzen.1) 

39.  Alle  Organismen- Arten,  welche  als  actuelle  Bionten  aus  zwei 
oder  mehreren  Piastiden  zusammengesetzt  sind,  und  demgemäss  den 
Form -Werth  eines  morphologischen  Individuums  zweiter  bis  sechster 
Ordnung  haben,  können  als  zusammengesetzte  Organismen-Species 
oder  Polyplastiden  bezeichnet  werden. 

40.  Alle  Organismen,  welche  als  actuelle  Bionten  durch  morpho- 
logische Individuen  zweiter  bis  sechster  Ordnung  dargestellt  werden 
(also  alle  zusammengesetzte  Organismen-Species),  durchlaufen  während 
ihrer  individuellen  Entwickelung  die  vorhergehenden  niederen  Indivi- 
dualitätsstufen, von  der  ersten  an. 


l)  Monoplastiden  sind  also  sowohl  alle  echt  „einzelligen"  (monocyten)  Or- 
ganismen (z.  B.  die  solitären  Diatomeen) ,  als  auch  alle  „kernlosen  einzelligen" 
(also  monocytoden)  Organismen,  z.  B.  Caulerpa  und  andere  kernlose  Siphoneen. 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  24 


370  Tectologische  Thesen. 

41.  So  lange  das  Bion  sich  auf  einer  morphologischen  Individua- 
litätsstufe  befindet,  welche  niedriger  ist,  als  diejenige,  welche  es 
später  als  actuelles  Bion  erreicht,  muss  dasselbe  entweder  als  virtu- 
elles oder  als  partielles  bezeichnet  werden. 

42.  Als  virtuelles  oder  potentielles  Bion  muss  das  physiologische 
Individuum  unterschieden  werden,  wenn  dasselbe  die  Fähigkeit  be- 
sitzt, sich  zu  der  höheren  morphologischen  Individualitätsstufe  zu  ent- 
wickeln,   welche  dem  actuellen  Bion  seiner  Species  eigentümlich  ist. 

43.  Als  partielles  oder  scheinbares  Bion  dagegen  muss  das  phy- 
siologische Individuum  angesehen  werden*,  wenn  es  zwar  die  Fähigkeit 
besitzt,  als  selbstständige  Lebenseinheit  längere  oder  kürzere  Zeit  zu 
existiren,  nicht  aber  sich  zu  der  morphologischen  Individualitätsstufe 
zu  entwickeln,  welche  dem  actuellen  Bion  seiner  Species  eigenthüm- 
lich ist. 

44.  Sowohl  die  actuellen,  als  die  virtuellen,  als  die  partiellen 
Bionten  können  als  materielles  Substrat  jede  der  sechs  morphologischen 
Individualitäts-Ordnungen  haben. 

45.  Alle  physiologischen  Individuen,  gleichviel  welche  morpholo- 
gische In di vi dualitäts- Ordnung  ihr  materielles  Substrat  bildet,  sind  in 
allen  ihren  Leistungen  und  Form- Verhältnissen  auf  die  morphologischen 
Individuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen)  als 
„Elementar -Organismen"  zurückzuführen,  da  jedes  Bion  entweder 
selbst  eine  einfache  Plastide  (Monoplastis)  oder  ein  Aggregat  (Synusie, 
Colonie,  Complex)  von  mehreren  Piastiden  ist  (Polyplastis). 

46.  Sämmtliche  physiologische  und  morphologische  Eigenschaften 
eines  jeden  polyplastiden  Organismus  erscheinen  mithin  als  das  not- 
wendige Gesammtresultat  aus  den  physiologischen  und  morphologischen 
Eigenschaften  aller  Piastiden,  welche  denselben  zusammensetzen. 

VI.   Thesen  von  der  tectologischen  Differenzirung  und  Centralisation. 

47.  Die  Structur  oder  der  Bau  (die  innere  Form)  der  Organismen 
ist  das  Verhältniss  der  einzelnen  constituirenden  Bestandteile  der 
Organismen  zu  einander  und  zum  Ganzen. 

48.  Bei  den  monoplastiden  Organismen,  welche  als  actuelle  Bion- 
ten stets  auf  der  ersten  morphologischen  Individualitätsstufe  stehen 
bleiben,  ist  demnach  die  Structur  durch  das  Verhältniss  der  (activen) 
constituirenden  Plasma-Moleküle  und  der  von  ihnen  producirten  ande- 
ren (passiven)  Stoff-Moleküle  zu  einander  und  zum  Ganzen  bestimmt. 

4(.>.  Bei  den  polyplastiden  Organismen  hingegen,  welche  als 
actuelle  Bionten  die  zweite  oder  eine  noch  höhere  morphologische 
Individualitätsstufe  erreichen,  ist  die  Structur  durch  das  Verhältniss 
bestimmt,  welches  die  constituirenden  morphologischen  Individuen  von 


Tectologische  Thesen.  371 

allen   untergeordneten,  und  in  letzter  Instanz  von  der  ersten  Indivi- 
dualitäts-Stufe zu  einander  und  zum  Ganzen  einnehmen. 

50.  Die  verschiedenen  Grade  der  morphologischen  Vollkommen- 
heit, welche  die  verschiedenen  Organismen -Arten  zeigen,  sind  theils 
durch  ihre  tectologi sehen,  theils  durch  ihre  piomorphologischen  Eigen- 
schaften bedingt,  also  weder  allein  durch  die  Structur,  noch  allein 
durch  die  Grundform. ') 

51.  Die  verschiedenen  Grade  der  Vollkommenheit  der  Organismen 
sind,  insofern  sie  unmittelbar  auf  den  Structur- Verhältnissen  beruhen, 
durch  mehrere  verschiedene  tectologische  Momente  bestimmt,  welche 
wesentlich  auf  dem  gegenseitigen  Verhältniss  der  aggregirten  mor- 
phologischen Individuen  verschiedener  Ordnung  zu  einander  und  zum 
Ganzen  beruhen. 

52.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  höher  der  morpho- 
logische Individualitäts-Grad  ist,  zu  welchem  er  sich  erhebt,  je  grösser 
also  die  Zahl  der  untergeordneten  Individualitätsstufen  ist,  welche  ihn 
zusammensetzen. 

53.  Der  Organismus  ist,  falls  er  aus  gleichartigen  Piastiden  zu- 
sammengesetzt ist,  um  so  vollkommener,  je  grösser  die  Anzahl  der 
constituirenden  Piastiden  ist. 


')  Wir  haben  es  im  Vorhergehenden  vermieden,  die  verwickelte  Frage  von 
der  „Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit,  der  höheren  und  niederen  Stellung, 
der  zusammengesetzten  und  einfachen  Natur"  der  verschiedenen  Organismen-Arten 
speciell  zu  erörtern,  deren  Behandlung  bei  den  verschiedenen  Autoren  das  klarste 
Bild  von  der  chaotischen  Verwirrung  und  dem  Mangel  fester  Begriffsbestim- 
mungen in  der  organischen  Morphologie  liefert.  Nicht  allein  hat  man  fast  all- 
gemein versäumt,  die  ganz  verschiedene  Art  der  Vollkommenheit  oder  Aus- 
bilduugsstufe  zu  unterscheiden,  welche  durch  die  Differenzirung  der  Structur, 
und  diejenige,  welche  durch  die  Differenzirung  der  Grundform  bedingt  ist;  son- 
dern man  hat  oft  selbst  nicht  zwischen  physiologischer  und  morphologischer  Ver- 
vollkommnung unterschieden.  Ferner  hat  in  dieser  schwierigen  Frage  der  Um- 
stand sehr  verhängnissvoll  die  Verwirrung  vermehrt,  dass  man  nicht  allein  in 
jeder  kleineren,  sondern  auch  in  den  grösseren  Organismen-Gruppen  bestrebt 
war,  alle  existirenden  Formen  in  einer  einzigen  aufsteigenden  Stufenleiter  der 
Vollkommenheit  hinter  einander  zu  ordnen.  Diese  Vorstellung  ist  aber  grund- 
falsch, da  wegen  der  allgemeinen  „Divergenz  der  Charactere"  überall  die  ver- 
wandten Formen  und  Formengruppen  in  das  baumförmige  Schema  von  coordinir- 
ten  und  subordinirten,  niemals  in  das  leiterförmige  Schema  von  bloss  subordi- 
nirten  Ausbildungsstufen  geordnet  werden  müssen.  Allein  schon  aus  diesem 
Umstände,  der  im  sechsten  Buche  näher  erläutert  wird,  ist  es  sehr  wichtig,  die 
verschiedenen  Arten  oder  Modi  der  Vollkommenheit,  des  zusammengesetzteren 
und  einfachen  Baues,  der  höheren  und  niederen  Stellung,  scharf  zu  unterscheiden. 
Das  Wichtigste  ist  hierbei  zunächst  die  Trennung  der  wesentlich  verschiedenen 
tectologischen  und  promorphologischen  Differenzirung,  des  Ausbildungsgrades  der 
Structur  und  der  Grundform. 

24* 


372  Tectologische  Thesen. 

54.  Der  Organismus  ist,  falls  er  aus  ungleichartigen  Piastiden 
zusammengesetzt  ist,  um  so  vollkommener,  je  ungleichartiger  die  con- 
stituirenden  Piastiden   sind  (Gesetz  der  Differenzirung  der  Piastiden). 

55-  Jede  morphologische  Individualität  irgend  einer  Ordnung  ist 
um  so  vollkommener,  je  ungleichartiger  die  in  Mehrzahl  vorhandenen 
Individuen  der  nächst  tieferen  Ordnung  sind,  welche  sie  constituiren, 
je  grösser  also  deren  Polymorphismus  (Arbeitstheilung,  Differen- 
zirung)  ist. 

56.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  abhängiger  die 
gleichartigen  Individualitäten,  welche  ihn  zusammensetzen,  von  einander 
und  vom  Ganzen  sind,  und  je  mehr  also  der  ganze  Organismus  cen- 
tralisirt  ist,  und  alle  subordinirten  Individualitäten  beherrscht  (Gesetz 
der  Centralisation). 

57.  Jedes  einzelne  Form  -  Individuum  irgend  einer  Ordnung  ist 
dagegen  um  so  vollkommener,  je  unabhängiger  dasselbe  von  seinen 
coordinirten  Genossen  (den  anderen  Form-Individuen  derselben  Ordnung) 
und  je  unabhängiger  es  zugleich  von  dem  übergeordneten  Ganzen  ist 
(Gesetz  der  individuellen  Autonomie). 

58.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  höher  zwischen 
allen  untergeordneten  Individualitäten,  welche  ihn  zusammensetzen, 
der  Grad  der  Arbeitstheilung  und  der  Grad  der  Wechselwirkung  ist, 
je  grösser  mithin  die  Differenzirung  und  die  Centralisation  des  ganzen 
Organismus  ist. 

VII.  Thesen  von  der  Vollkommenheit  der  verschiedenen  Individualitäten. 

59.  Die  Form-Individuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden  (Cytoden 
und  Zellen),  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  grösser  die  An- 
zahl der  constituirenden  Plasmamolektile  ist,  je  differenter  ihre  ato- 
mistische  Zusammensetzung  und  folglich  ihre  physiologische  Function 
ist,  je  abhängiger  mithin  dieselben  von  einander  und  von  der  ganzen 
Plastide  sind,  und  je  mehr  die  ganze  Plastide  centralisirt  und  von 
dem  etwa  übergeordneten  Organe  unabhängig  ist. 

60.  Die  Form-Individuen  zweiter  Ordnung,  die  Organe,  sind  all- 
gemein um  so  vollkommener,  je  grösser  die  Anzahl  ihrer  consti- 
tuirenden Piastidon  ist,  je  differenter  deren  chemische  Zusammen- 
setzung und  folglich  auch  ihre  physiologische  Function  ist,  je  abhän- 
giger mithin  die  Piastiden  von  einander  und  vom  ganzen  Organ  sind, 
und  je  mehr  das  ganze  Organ  centralisirt  und  von  dem  etwa  über- 
geordneten Antimer  unabhängig  ist. 

61.  Die  Form -Individuen  dritter  Ordnung  oder  Antimeren  sind 
allgemein  um  so  vollkommener,  je  grösser  die  Anzahl  der  constituiren- 
den Organe,  je  differenter  deren  histologische  Zusammensetzung,  und 


Tectologische  Thesen.  373 

folglich  auch  ihre  physiologische  Function  ist,  je  abhängiger  mithin 
die  Organe  von  einander  und  vom  ganzen  Antimer  sind,  und  je  mehr 
das  ganze  Antimer  centralisirt  und  von  dem  etwa  übergeordneten 
Metamer  unabhängig  ist. l) 

62.  Die  Form -Individuen  vierter  Ordnung,  die  Metameren  oder 
Folgestücke,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzirter,  je 
ungleichartiger  ihre  homotypische,  organologische  und  histologische 
Zusammensetzung,  und  folglich  auch  je  vielseitiger  ihre  physiologische 
Function  ist,  je  abhängiger  mithin  die  constituirenden  Piastiden, 
Organe  und  Antimeren  von  einander  und  vom  ganzen  Metamer  sind, 
und  je  mehr  das  ganze  Metamer  centralisirt  und  von  der  etwa  über- 
geordneten Person  unabhängig  ist. 

63.  Die  Form-Individuen  fünfter  Ordnung,  die  Personen  oder 
Prosopen,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzirter,  je 
ungleichartiger  ihre  homodyname,  homotypische,  organologische  und 
histologische  Zusammensetzung,  und  folglich  auch  je  vielseitiger  ihre 
physiologische  Function  ist,  je  abhängiger  mithin  die  constituirenden 
Piastiden,  Organe,  Antimeren  und  Metameren  von  einander  und  vom 
ganzen  Prosopon  sind,  und  je  stärker  die  ganze  Person  centralisirt 
und  von  dem  etwa  übergeordneten  Stocke  unabhängig  ist. 


')  Die  vielfachen  tectologischen  Schwierigkeiten ,  welche  bei  den  höheren 
Organismen  dadurch  entstehen,  dass  die  verschiedenen  morphologischen  Indivi- 
dualitäten sich  auf  das  Vielfältigste  durch  einander  weben  und  oft  in  der  ver- 
wickeltsten  Weise  verbinden,  sind  zum  Theil  von  uns  schon  in  den  vorhergehen- 
den Capiteln  besprochen  worden.  Besonders  leicht  können  in  dieser  Hinsicht  Täu- 
schungen durch  die  gegenseitige  Durehflechtung  der  Metameren  und  Antimeren, 
sowie  der  Organe,  welche  als  Epimeren  und  Parameren  in  ihrer  gegenseitigen 
relativen  Lagerung  ähnliche  Complicationen  zeigen,  hervorgerufen  werden  (vgl. 
p.  311,  316).  Zum  Theil  liegt  auch  hierin  der  Grund,  dass  die  homotypen  und 
homodynamen  Verhältnisse  bisher  überhaupt  so  wenig  berücksichtigt  und  nicht 
gehörig  aufgeklärt  worden  sind.  Was  das  wichtige  tectologische  Verhältniss  der 
Antimeren  zu  den  Metameren  betrifft,  so  wollen  wir  hier  schliesslich  noch  aus- 
drücklich hervorheben,  dass  wir  bei  der  Tectologie  der  Personen,  insofern  sie 
deren  Zusammensetzung  aus  Antimeren  betrifft,  stets  die  Zahl  der  Antimeren, 
ebenso  wie  bei  den  Metameren,  und  unabhängig  von  der  Anzahl  der  letzteren 
bestimmen,  weil  diese  hierbei  ohne  Einfluss  ist.  Strenggenommen  müssten  wir 
einem  Wirbelthier,  welches  aus  vierzig  Metameren  besteht,  achtzig  Antimeren  zu- 
schreiben, weil  jedes  Metamer  aus  zwei  Antimeren  besteht.  Wir  schreiben  aber 
der  ganzen  Person  hier  nur  zwei  Antimeren  zu,  weil  die  gleiche  homotype  Zu- 
sammensetzung sich  in  allen  homodynamen  Abschnitten  wiederholt.  Ebenso 
schreiben  wir  einer  fünfstrahligen  Blüthe  mit  sechs  füufgliederigen  Blattkreisen 
(Metameren)  oder  einem  fünfarmigen  Crinoid  mit  sechs  Metameren  nicht  dreissig, 
sondern  fünf  Antimeren  zu.  Die  Beachtung  dieser  Bestimmung  ist  besonders  von 
grosser  Bedeutung  für  die  richtige  Erkenntniss  der  Grundformen, 


374  Tectologische  Thesen. 

64.  Die  Form-Individuen  sechster  Ordnung,  die  Stöcke  oder  Cor- 
men,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzirter,  je  un- 
gleichartiger ihre  prosopologische,  homodyname,  homotypische,  orga- 
nologische  und  histologische  Zusammensetzung,  und  folglich  auch  je 
vielseitiger  ihre  physiologische  Function  ist,  je  abhängiger  mithin  die 
constituirenden  Piastiden,  Organe,  Antimeren,  Metameren  und  Perso- 
nen (Sprosse)  von  einander  und  vom  ganzen  Stocke  sind,  und  je 
stärker  also  der  ganze  Stock  centralisirt  ist. 


Viertes  Buch. 


Zweiter  Theil  der  allgemeinen  Anatomie. 


Generelle  Promorphologie 

oder 

Allgemeine  Grundformenlehre  der  Organismen. 

(Stereometrie  der  Organismen.) 


„Freudig  war  seit  vielen  Jahren 
Eifrig  so  der  Geist  bestrebt, 
Zu  erforschen,  zu  erfahren, 
Wie  Natur  im  Schaffen  lebt. 
Und  es  ist  das  ewig  Eine, 
Das  sich  vielfach  offenbart; 
Klein  das  Grosse,  gross  das  Kleine, 
Alles  nach  der  eignen  Art, 
Immer  wechselnd,  fest  sich  haltend, 
Nah  und  fern,  und  fern  und  nah 
So  gestaltend,  umgestaltend  — 
Zum  Erstaunen  bin  ich  da." 

Goethe. 


I.    Die  Promorphologie  als  Lehre  von  den  organischen  Grundformen.    377 


Zwölftes  Capitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 


„Was  man  an  der  Natur  Geheimnissvolles  pries, 
Das  wagen  wir  verständig  zu  probiren, 
Und  was  sie  sonst  organisiren  Hess, 
Das  lassen  wir  krystallisiren." 

Goethe. 


1.    Die  Promorphologie  als  Lehre  von  den  organischen  Grundformen. 

Die  Promorphologie  oder  Grundformenlehre  der  Or- 
ganismen ist  die  gesammte  Wissenschaft  von  der  äusseren 
Form  der  organischen  Individuen,  und  von  der  stereo- 
metrischen Grundform,  welche  derselben  zu  Grunde  liegt, 
und  auf  deren  Erkenntniss  durch  Abstraction  sich  jede  wissenschaft- 
liche Darstellung  einer  organischen  Form  stützen  muss.  Die  Auf- 
gabe der  organischen  Promorphologie  ist  mithin  die  Er- 
kenntniss und  die  Erklärung  der  organischen  individuellen 
Gesammtform  durch  ihre  stereometrische  Grundform  d.  h. 
die  Bestimmung  der  idealen  Grundform  durch  Abstraction  aus  der 
realen  organischen  Form,  und  die  Erkenntniss  der  bestimmten  Natur- 
gesetze, nach  denen  die  organische  Materie  die  äussere  Gesammtform 
der  organischen  Individuen  bildet. 

Begriff  und  Aufgabe  der  organischen  Promorphologie,  wie  wir  sie 
hier  feststellen  und  bereits  oben  (p.  30,  46,  49)  im  Allgemeinen  er- 
örtert haben,  sind  bisher  noch  nicht  Gegenstand  von  eingehenden 
morphologischen  Untersuchungen  gewesen.     Die  Vorwürfe,  welche  die 


378  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

meisten  Zoologen  und "  Botaniker  hinsichtlich  der  allgemeinen  Ver- 
nachlässigung der  Tectologie  verdienen,  gelten  in  noch  höherem 
Maasse  hinsichtlich  der  Promorphologie.  Nur  sehr  wenige  Naturfor- 
scher haben  versucht,  in  der  scheinbar  gesetzlosen  und  ganz  unbe- 
rechenbaren Formenmannichfaltigkeit  des  Thier-  und  Pflanzenreichs 
nach  der  Erkenntniss  allgemeiner  Gesetze  zu  streben,  nach  denen  diese 
Formen  gebildet  sind.  Nur  Einzelne  haben  den  wenig  berücksichtig- 
ten Versuch  gemacht,  mathematisch  bestimmbare  Grundformen  aufzu- 
finden, welche  die  nothwendige  Gesetzlichkeit  auch  in  den  complicirte- 
sten  Bildungen  der  organischen  Naturkörper  verrathen;  aber  auch 
diese  sind  meistens  bald  vor  den  grossen  Schwierigkeiten  zurückge- 
schreckt, welche  einer  mathematischen  Erkenntniss  der  organischen 
Formen  entgegenstehen,  und  welche  bei  jedem  tieferen  Eindringen  in 
das  ßäthsel  ihrer  höchst  complicirten  Bildungen  die  erstere  unmög- 
lich erscheinen  lassen. 

Die  anorganische  Morphologie  ist  in  dieser  Beziehung  der  or- 
ganischen unendlich  voraus.  Derjenige  Wissenschaftszweig,  welcher 
dort  der  organischen  Promorphologie  entspricht,  ist  die  Krystallo- 
graphie,  und  es  ist  bekannt,  welchen  hohen  Grad  wissenschaftlicher 
Vollendung,  vorzüglich  durch  strenge  Anwendung  der  rein  mathemati- 
schen Methode,  diese  „Promorphologie  der  Anorgane"  erlangt  hat.  Von 
der  Krystallographie  lernen  wir,  dass  die  Erkenntniss  des  Wesens 
der  Form  nicht  durch  die  blosse  Beschreibung  der  realen  Form  des 
Individuums,  sondern  durch  die  Construction  seiner  idealen  Grundform 
gewonnen  wird.  Der  wissenschaftlichen  Mineralogie  genügt  nicht  die 
genaueste  äusserliche  Beschreibung  eines  individuellen  Krystalles, 
wenn  nicht  das  Verhältuiss  seiner  verschiedenen  Axen  und  deren  Pole 
zu  einander  erörtert  und  daraus  die  ideale  stereometrische  Grundform 
des  Krystalles,  sein  „System"  erkannt  ist.  Bei  den  Organismen  da- 
gegen begnügt  man  sich  fast  allgemein  mit  der  blossen  Beschreibung 
entweder  der  äusseren  Oberflächen  oder  der  inneren  Structur,  und 
vernachlässigt  die  ideale  stereometrische  Grundform,  welche  auch  hier 
unter  der  verwickelten  individuellen  Form  verborgen  liegt,  entweder 
gänzlich,  oder  glaubt  genug  gethan  zu  haben,  wenn  man  sie  entweder 
als  „bilateral-symmetrische"  oder  als  „radial-reguläre"  bezeichnet. 

Wir  befinden  uns  also  hier  beim  Eintritt  in  die  Promorphologie 
in  der  seltsamen  Lage,  die  Wissenschaft,  deren  Grundzüge  wir  dar- 
stellen wollen,  nicht  allein  in  den  ersten  embryonalen  Anfängen 
schlummernd,  sondern  sogar  nicht  einmal  als  selbstständige  indivi- 
duelle Disciplin  anerkannt  zu  finden.  Die  Promorphologie  der  Or- 
ganismen, welche  nach  unserer  Ueberzeugung  ein  so  wichtiger  Be- 
standteil der  organischen  Morphologie  ist,  dass  w7ir  ihn  sogar  der 
Tectologie  als  anderen  ebenbürtigen  Hauptzweig  der  Anatomie  gegen- 


I.    Die  Promorphologie  als  Lehre  von  den  organischen  Grundformen.    379 

überstellen,  ist  in  der  That  als  solcher  bisher  noch  von  keinem  Natur- 
forscher anerkannt,  und  selbst  von  den  wenigen  denkenden  Männern, 
welche  ihm  ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten,  nicht  in  gehörigem 
Maasse  cultivirt  und  hervorgehoben  worden. 

Wenn  wir  daher  im  Folgenden  die  Fundamente  der  organischen 
Promorphologie  für  die  gesammte  Formenwelt  der  drei  organischen 
Reiche  festzustellen  versuchen,  so  haben  wir  nicht  allein  mit  der  gros- 
sen Schwierigkeit  des  Gegenstandes  an  sich  zu  kämpfen,  sondern  in 
noch  höherem  Maasse  mit  den  Vorurtheilen  der  Zeitgenossen,  welche 
grösstentheils  diesem  ersten  Versuche  einer  „organischen  Stereometrie" 
in  erhöhtem  Maasse  die  Ungunst  der  Beurtheilung  zuwenden  werden, 
die  unsere  morphologischen  Reformversuche  überhaupt  zu  erwarten 
haben.  Es  erscheint  desshalb  nothwendig,  ehe  wir  die  bisher  unter- 
nommenen promorphologischen  Versuche  überblicken,  den  Begriff  der 
organischen  Grundform  selbst,  wie  er  uns  persönlich  vorschwebt  und 
im  Folgenden  speciell  untersucht  ist,  in  seiner  allgemeinen  Bedeutung 
kurz  zu  erörtern  und  festzustellen. 


](.   Begriff  der  organischen  Grundform  im  Allgemeinen. 

Unter  organischer  Grundform  oder  Promorphe  verstehen  wir  all- 
gemein denjenigen  mathematischen  Körper,  welcher  der  äusseren  Form 
jedes  organischen  Individuums  erster  bis  sechster  Ordnung  zu  Grunde 
liegt,  und  welcher  mit  dieser  letzteren  in  allen  wesentlichen  Verhält- 
nissen der  formbestimmenden  Körperaxen  und  ihrer  beiden  Pole  über- 
einstimmt. Die  ideale  stereometrische  Grundform  sowohl  als  die  reale 
Form  des  organischen  Individuums,  in  welcher  die  erstere  verkörpert 
ist,  sind  also  lediglich  durch  ihre  fest  bestimmten  Axen  und  deren 
beide  Pole  erkennbar  und  einer  mathematischen  Bestimmung  fähig. 
Mithin  sind  nur  diejenigen  organischen  Individuen  von  dieser  stereo- 
metrischen Erkenntniss  ausgeschlossen,  bei  denen  wegen  absoluten 
Mangels  jeder  bestimmten  Axe  auch  eine  stereometrische  Grundform 
nicht  ausgesprochen  ist,  nämlich  die  absolut  unregelmässigen  oder 
amorphen  Gestalten,  welche  wir  in  der  Formengruppe  der  Axenlosen 
(Anaxonia)  zusammenfassen.  Diese  „axenlosen"  organischen  Indivi- 
duen verhalten  sich  zu  der  grossen  Mehrzahl  der  „axenfesten"  oder 
Axonien  ebenso,  wie  die  amorphen  Anorgane  zu  den  Krystallen. 
Doch  lässt  sich  auch  für  die  Anaxonien  eine  stereometrische  Behand- 
lungsweise  finden,  wie  im  ersten  Abschnitt  des  dreizehnten  Capitels 
gezeigt  werden  wird. 

Die  ideale  stereometrische  Grundform,  welche  wir  in  jedem  realen 
organischen  Form -Individuum  erster  bis  sechster  Ordnung  verkörpert 


380  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

finden,  ist  eine  absolut  bestimmte,  eine  vollkommen  constante  und 
daher  gesetzmässige.  In  dieser  Constanz  der  idealen  stereometri- 
schen Grundform,  d.  h.  in  ihrem  notwendigen  causalen  Zusammen- 
hange mit  den  formbildenden  Ursachen  der  realen  organischen  Form, 
kurz  in  ihrer  Gesetzmässigkeit,  liegt  der  hohe  Werth,  den  dieselbe  für 
eine  wissenschaftliche  Erkenntniss  und  Darstellung  der  realen  organi- 
schen Formen  besitzt.  Es  wird  nämlich  dadurch  möglich,  alle  wesent- 
lichen Form -Verhältnisse  jedes  organischen  Körpers  durch  den  ein- 
fachsten Ausdruck  mit  mathematischer  Sicherheit  zu  bezeichnen.  Die 
einfache  Angabe  der  stereometrischen  Grundform  jedes  morphologi- 
schen Individuums  gentigt  vollkommen,  um  alle  characteristischen 
Form-Eigenschaften  desselben  mit  einem  einzigen  Wort  zu  bezeichnen, 
an  welches  dann  die  Beschreibung  der  äusseren  Einzelheiten  sich  ohne 
Mühe  anschliessen  lässt.  In  dieser  Beziehung  ist  die  Promorphologie 
der  wahre  mathematische  Grundstein  der  mechanischen  Morphologie 
der  Organismen  im  Allgemeinen  und  der  descriptiven  Morphographie 
im  Besonderen. 

Die  Form  jedes  Körpers,  als  die  Summe  aller  äusseren  Grenz- 
flächen, Grenzlinien  und  Grenzwinkel  desselben,  ist  im  Allgemeinen 
nichts  Anderes  als  das  Lagerungsverhältniss  der  constituirenden  Be- 
standteile des  Körpers,  oder,  genauer  ausgedrückt,  das  Resultat  aus 
der  Zahl  und  Grösse,  der  gegenseitigen  Lagerung  und  Verbindung, 
der  Gleichheit  oder  Ungleichheit  aller  constituirenden  Bestandtheile 
des  Körpers.  Wenn  wir  nun  diese  allgemeine  Definition  der  Form  je- 
des Körpers  auf  die  ideale  organische  Grundform  übertragen,  welche 
einem  morphologischen  Individuum  bestimmter  Ordnung  zu  Grunde 
liegt,  so  zeigt  sich  auch  diese  wesentlich  als  das  nothwendige  Resul- 
tat der  Zahl  und  Grösse,  Lagerung  und  Verbindung,  Gleichheit  oder 
Ungleichheit  der  constituirenden  Formbestandtheile,  d.  h.  zunächst  der 
morphologischen  Individuen  der  nächst  niederen  Ordnung.  Schon 
hieraus  ist  klar,  dass  die  stereometrische  Grundform  jedes  morpho- 
logischen Individuums  nicht  bloss  aus  der  Oberflächen  -  Betrachtung 
seines  Aeusseren  erkannt  werden  kann,  dass  vielmehr  dazu  eine 
vollständige  Erkenntniss  seiner  inneren  Zusammensetzung  aus  den 
subordinirten  Formindividuen  niederer  Ordnung  unentbehrlich  ist.  Ob- 
gleich also  die  Promorphologie  wesentlich  die  Aufgabe  hat,  die  äus- 
sere Form  jedes  gegebenen  morphologischen  Individuums  geometrisch 
zu  erklären,  kann  sie  diese  Aufgabe  doch  nur  lösen  durch  die  vor- 
hergegangene tectulogische  Erkenntniss  seiner  inneren  Form,  seiner 
Structur.  Aus  diesem  Grunde  muss  also  stets  die  tectologische  Er- 
kenntniss jedes  organischen  Form -Individuums  seiner  promorphologi- 
schen vorausgehen. ') 

')    Wie   wichtig   die    tectologische  Erkenntniss   der  inneren  Structur   für  das 


II.    Begriff  der  organischen  Grundform  im  Allgemeinen.  3gl 

Die  organische  Grundform  ist  also  keineswegs  eine  willkübrliche 
Abstraction,  welche  wir  durch  beliebige  Hervorhebung  oder  willkür- 
liche Ergänzung  einzelner  Begrenzungs- Flächen,  Linien  oder  Winkel 
des  organischen  Körpers  erhalten,  sondern  sie  ist  der  nothwendige 
und  unveränderliche  Ausdruck  des  constanten  Lagerungs- Verhältnisses 
aller  constituirenden  Bestandteile  der  organischen  Form  zu  einander 
und  zum  Ganzen.  Jedes  organische  Form -Individuum  besitzt  also  in 
jedem  gegebenen  Zeitmomente  nur  eine  einzige  constante  geometrische 
Grundform. 


111..  Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen. 

Die  allgemeine  Existenz  constanter  stereometrischer  Grundformen 
in  allen  realen  morphologischen  Individuen  ist  bisher  nicht  in  dem 
Sinne,  wie  wir  sie  so  eben  bestimmt  haben,  anerkannt  worden.  Zwar 
haben  einige  wenige  denkende  Morphologen ,  unter  denen  namentlich 
Bronn,  Johannes  Müller,  Burineister,  G.  Jäger  hervorzuheben 
sind,  versucht,  die  verwickelten  Thierformen  auf  einfache  geometrische 
Grundformen  zurückzuführen.  Indessen  galt  es  doch  bei  der  Mehrzahl 
der  organischen  Morphologen,  und  zwar  bei  den  Botanikern  noch  mehr, 
als  bei  den  Zoologen,  als  feststehendes  Dogma,  dass  eine  solche  Re- 
duction  entweder  gar  nicht  oder  nur  in  höchst  beschränktem  Maasse 
möglich  sei.  Vergleicht  man  in  dieser  Beziehung  die  einleitenden 
Bemerkungen,  welche  selbst  die  besseren  zoologischen  und  botani- 
schen Lehrbücher  über  die  allgemeine  Form  der  Thiere  und  Pflan- 
zen geben,  so  wird  man  meistens  weiter  Nichts  finden,  als  die  kurze 
Angabe,  dass  der  Körper  der  Organismen,  sowohl  der  Thiere  als  der 
Pflanzen,  von  höchst  complicirten  gekrümmten  Flächen  und  krummen 
Linien  begrenzt  werde,  während  die  reinen  Formen  der  anorganischen 
Naturivörper,  der  Krystalle,  sich  durch  ebene  Flächen  und  grade  Linien 
scharf  unterscheiden  sollen.  Es  wird  sogar  diese  Differenz  als  eine 
der  wesentlichsten  aufgeführt,  welche  die  beiden  grossen  Hauptab- 
theilungen der  Naturkörper,  organische  und  anorganische,  trennen; 
auch  wird  oft  noch  hinzugefügt,  dass  eine  mathematische  Bestimmung 
der  Form,  eine  Reduction  auf  einfache  geometrische  Grundformen,  wie 
sie  bei    den   Kr,  stallen    so    leicht  durchzuführen,    und    Aufgabe   der 


pvomorphologische  Verständniss  der  äusseren  Form  ist,  mag  das  Beispiel  der 
Ctenophoren  zeigen.  Vielfach  wird  als  deren  Grundform  das  Ei  oder  das 
Ellipsoid  angegeben,  welches  aber  nur  die  Grundform  der  Hautdecken  ist;  die 
Promorphe  des  Ganzen  ist  vielmehr  die  achtseitige  amphithecte  Pyramide. 
Ebenso  ist  bei  den  Cidariden  (den  regulären  Seeigeln)  die  Grunj, 
Kugel  (diese  ist  bloss  die  Grundform  der  Schale!),  sondern 
guläre  Pyramide.  /<sS^ 


382  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

Kvy stall ograpliie  sei,  bei  den  Thieren  und  Pflanzen  auf  unüberwind- 
liche Hindernisse  stosse.  Entweder  sollen  geometrisch  reine  Formen, 
wie  die  meisten  Krystalle  (aber  auch  nur  annähernd!)  darstellen,  im 
Organismus  gar  nicht  vorkommen,  oder  ihre  Regelmässigkeit  soll  sich 
darauf  beschränken,  dass  die  eine  Gruppe  der  Formen  symmetrisch 
oder  bilateral,  d.  h.  aus  zwei  gleichen  Hälften  zusammengesetzt,  die 
andere  Gruppe  dagegen  regulär  oder  radial,  d.  h.  aus  mehr  als 
zwei  gleichen  Stücken  zusammengesetzt  sei.  Dem  entsprechend  wer- 
den sämmtliche  organische  Formen  von  den  meisten  Morphologen  in 
drei  grosse  Gruppen  gebracht:  I.  absolut  unregelmässige  Formen 
(nicht  halbirbar);  II.  regelmässige  (oder  strahlige)  Formen  (in  zwei 
oder  mehreren  Richtungen  halbirbar);  III.  symmetrische  (oder  zwei- 
seitige) Formen  (nur  in  einer  einzigen  Richtung  halbirbar). 

Am  wenigsten  hat  bisher  die  Frage  nach  der  stereometrischen 
Grundform  des  Organismus  die  Botaniker  beschäftigt,  obschon  in  vie- 
len Pflanzen  dieselbe  überraschend  rein  und  scharf  ausgesprochen  ist, 
allerdings  mehr  in  einzelnen  Theilen  (z.  B.  symmetrischen  Blättern, 
pyramidalen  Früchten,  tetraedrischen  und  dodecandrischen  Pollen-Zellen), 
als  in  ganzen  Pflanzen  höherer  Form-Ordnung.  Schieiden  sagt  bloss: 
„Regelmässig  nennt  man  bei  der  Pflanze  solche  Formen,  die  sich 
mit  vielen  Schnitten  durch  eine  angenommene  Axe  in  zwei  gleiche 
Theile  theilen  lassen,  symmetrisch  dagegen  solche,  die  nur  durch 
einen  einzigen  Schnitt  in  zwei  gleiche  Theile,  die  sich  dann  wie 
rechte  und  linke  Hand  verhalten,  getheilt  werden  können."  E.  Meyer 
nennt  die  ersteren  (die  regulären  Formen)  concentrische,  die  letz- 
teren ebenfalls  symmetrische,  und  unterscheidet  als  eine  dritte 
Form  die  diaphorischen  (unseren  Dysdipleura  entsprechend),  bei 
welcher  rechte  und  linke  Hälfte  einen  organischen  Gegensatz  (durch 
ungleiches  Wachsthum)  bildet,  durch  welchen  ihre  Symmetrie  fheil- 
weis  wieder  aufgehoben  wird.  Auch  Hugo  von  Mo  hl  hat  in  seiner 
Dissertation  „über  die  Symmetrie  der  Pflanzen"  (1836)  nur  diese  drei 
verschiedenen  Grundformen  betrachtet  und  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
ihre  Beziehungen  zum  Wachsthume  und  zur  Differenzirung  (besonders 
bei  den  niederen  Pflanzen)  erläutert,  obwohl  seine  schönen  Unter- 
suchungen über  den  Pollen  (1834)  ihn  hätten  veranlassen  können,  die 
Frage  auch  von  einem  weiteren  Gesichtspunkte  aus  zu  behandeln  und 
namentlich  die  rein  stereometrische  Grundform  vieler  Zellen  hervorzu- 
heben. Er  behandelt  aber  nur  die  Symmetrie  des  Thallus,  des  Sten- 
gels und  Blattes  und  die  allmähligen  Uebergänge  der  symmetrischen 
einerseits  in  die  regulären  („concentrischen")  andererseits  in  die  dia- 
phorischen (asymmetrischen,  unsere  dysdipleuren)  Formen. 

Weit  allgemeiner  und  eingehender,  als  die  Botaniker,  haben  sich 
die  Zoologen  mit  den  organischen  Grundformen  hinsichtlich  ihrer  Ein- 


III.    Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen.         383 

theilung  in  irreguläre,  reguläre  und  symmetrische  beschäftigt.  Hier 
ist  sogar  vielfach  die  Ansicht  verbreitet,  dass  man  symmetrische  oder 
Bilateral-Thiere  und  reguläre  oder  Strahl-Thiere  als  zwei  Hauptgrund- 
formen des  Thierreiciles  unterscheiden  könne.  Zu  den  bilateralen  oder 
symmetrischen  Thieren,  bei  denen  der  Körper  aus  zwei  gleichen  oder 
ähnlichen  Theilhälften  besteht,  werden  von  den  meisten  Zoologen  die 
drei  Stämme  der  Vertebraten,  Articulaten  und  Mollusken  gerechnet, 
zu  den  regulären  oder  strahligen  Thieren  dagegen,  bei  denen  der 
Körper  aus  drei  oder  mehr  gleichen  Theilen  besteht,  die  beiden 
Stämme  der  Echinodermen  und  Coelenteraten.  Einige  Autoren  stellen 
zu  den  Strahlthieren  als  einen  dritten  Stamm  auch  noch  die  bunte 
Collectivgruppe  der  „Protozoen",  während  Andere  die  Gruppe  der 
Strahlthiere  auf  die  Echinodermen  und  Coelenteraten  beschränken  und 
die  Protozoen  als  eine  dritte,  unregelmässige  oder  unsymmetrische 
Gruppe  des  Thierreiches  aufstellen,  bei  welcher  gleiche  Theile  über- 
haupt nicht  zu  unterscheiden  seien.  Eine  weitere  Unterscheidung  von 
thierischen  Grundformen,  als  diese  zwei  oder  drei,  ist  gewöhnlich  nicht 
zu  finden,  ebenso  wenig  eine  ausführlichere  Erörterung  der  wichtigen 
Unterschiede,  welche  diese  Differenzen  im  ganzen  Körperbau  bedin- 
gen. Von  den  meisten  Zoologen  wird  diese  Frage,  welche  die  wich- 
tigsten Grundsätze  der  allgemeinen  Morphologie  berührt,  und  die  ganze 
Auffassung  der  organischen  Form  wissenschaftlich  reguliren  muss, 
vielmehr  als  eine  gleichgültige  Nebensache  vernachlässigt. 

Derjenige  Naturforscher,  welcher  sich  mit  diesen  morphologischen 
Grundfragen  am  eingehendsten  beschäftigt  hat,  ist  Bronn,  auf  dessen 
treffliche  Arbeiten  wir  nachher  zurückkommen.  Ausserdem  sind  Bur- 
meister  und  G.  Jäger  unter  den  wenigen  Zoologen  hervorzuheben,  wel- 
che auf  diese  Verhältnisse  mehr  Gewicht  gelegt  und  darauf  sogar  eine 
Eintheilung  des  ganzen  Thierreiches  basirt  haben.  Die  „ Strahlform"  der 
Radiaten  hat  neuerdings  Agassiz  besonders  betont.  Burmeister')  theilt 
das  ganze  Thierreich  nach  der  dreifach  verschiedenen  Grundform  in  drei 
verschiedene  Hauptabtheilungen:  I.  Irreguläre,  IL  Reguläre,  III.  Symmetri- 
sche Thiere,  und  definirt  dieselben  folgendermaassen:  I.  Irreguläre 
Thiere  (1.  Infusorien.  2.  Rhizqpoden).  Nicht  halbirbar.  „Die  Ober- 
fläche ist  in  ihrem  Abstände  vom  Mittelpunkt  ohne  alles  bestimmte  Gesetz; 
d.  h.  die  verschiedenen  Punkte  der  Oberfläche  verhalten  sich  in  ihren  Distan- 
zen vom  Mittelpunkt  verschieden,  sie  folgen  absolut  keiner  angebbaren  Regel." 
II.  Reguläre  Thiere  (1.  Polypina,  2.  Medusina,  3.  Radiata).  Nach  mehr 
als  einer  einzigen  Richtung  halbirbar.  „Die  Oberfläche  verhält 
sich  zum  Mittelpunkt  gesetzlich,  aber  das  Gesetz  ist  nicht  für  alle  Punkte 
dasselbe,  sondern  nur  für  gewisse,  nach  endlichem  Zahlenwerthe  bestimm- 
bare.    Alle  natürlichen  Formen  dieser  Kategorie  lassen  sich  nicht  nach  un- 


')    Bur  meister,   Zoonomische  Briefe,  1856,  I.  Bd.,  p.  26—36. 


384  Begriff  uud  Aufgabe  der  Promophologie. 

endlich  vielen,  sondern  nur  nach  einer  beschränkten  Zahl  von  Richtungen 
in  zwei  gleiche  Hälften  theilen,  und  die  Zahl  dieser  Richtungen  hängt  ab 
von  der  Anzahl  der  gleichen  Abstände  ihrer  äusseren  Oberflächenbestand- 
theile  vom  Mittelpunkt."  III.  Symmetrische  Thiere  (1.  Mollusca, 
2.  Arthrozoa.  3.  Vertebrata.)  Nur  nach  einer  einzigen  Richtung 
halbirbar.  „Die  erste  und  wichtigste  Eigenthünilichkeit  derselben  besteht 
darin,  dass  sie  keinen  blossen  Mittelpunkt  haben,  wonach  die  Distanzen  der 
Oberfläche  sich  bestimmen,  sondern  statt  des  Punktes  eine  Linie,  eine  so- 
genannte Axe.  Gegen  diese  Axe  stellen  sich  die  Oberflächenpunkte  stets 
paarig  weit  ab,  so  dass  sie  von  ihr  nach  entgegengesetzten  Seiten  hin  in 
gleichen  Entfernungen  sich  befinden.  Beide  Hälften  der  symmetrischen 
Körper  verhalten  sich  wie  die  Hälften  unseres  Leibes,  die  linke  und  die 
rechte." 

Diesen  Ansichten  Burmeisters  (1856)  schliesst  sich  im  Wesentlichen 
ein  Aufsatz  von  Gustav  Jäger  „Ueber  Symmetrie  und  Regularität  als 
Eiutheilungs-Principien  des  Thierreichs"  an1),  worin  derselbe  die  Erschei- 
nungsweisen der  „regulären"  und  „symmetrischen"  Thiere  näher  zu  erklären 
und  zu  definiren  versucht.  Jäger  adoptirt  Burmeisters  Eintheilung  des 
Thierreichs  in  drei  grosse  Hauptgruppen;  die  irregulären  Thiere  (Infu- 
sorien, Rhizopodeu)  nennt  er  axenlose,  die  regulären  oder  radiären 
(Polypen,  Medusen,  Echinodermen)  einaxige,  die  symmetrischen  oder 
bilateralen  (Weich-,  Glieder-,  Wirbel -Thiere)  zweiaxige  Thiere.  Diese 
Hervorhebung  der  Axen  des  Thierkörpers,  auf  welche  zuerst  Bronn  hin- 
gewiesen hatte,  ist  von  wesentlicher  Bedeutung;  doch  ist  die  weitere  daran 
geknüpfte  Erörterung  und  die  darauf  gegründete  Beneunungsweise  keine 
glückliche.  Jäger  unterscheidet  drei  Paare  von  Flächen  am  Thierkörper, 
entsprechend  den  drei  Dimensionen  des  Raumes.  Diegleichen  Flächen  be- 
zeichnet er  als  parallele,  die  verschiedenen  als  polare.  Demnach  ist 
„ein  symmetrischer  Köi'per  ein  solcher,  der  zwei  Polpaare  und  ein  Parallelen- 
paar hat.  Ein  regulärer  Körper  ist  ein  solcher,  der  ein  Polpaar  uud  zwei 
Parallelenpaare  hat."  Das  einaxige,  reguläre  oder  radiäre  Thier  „hat  nur 
ein  unpaares  sogenanntes  Axen-Organ  und  alle  anderen  Organe  sind  in  der 
Mehrzahl  in  einer  zur  Axe  senkrechten  Ebene."  Bei  dem  zweiaxigen, 
symmetrischen  oder  bilateralen  Thiere  dagegen  „sind  alle  Organe,  die  in 
der  Axenebene  liegen  und  alle  aus  einem  solchen  Organe  in  der  Richtung 
der  Axenebene  sich  secundär  entwickelnden  Organe  unpaar.  Dagegen 
muss  die  Zahl  aller,  nicht  in  der  Axenebene  liegenden  Organe  durch  zwei 
dividirbar  sein."  Wenngleich  manche  fundamentale  Unterschiede  zwischen 
den  radialen  und  bilateralen  Thieren  hiermit  ganz  richtig  bezeichnet  sind, 
so  ist  doch  die  weitere  Erörterung  derselben  und  namentlich  ihre  embryo- 
logische Begründung  wenig  glücklich,  ebenso  wenig  die  Behauptung,  dass 
diese  drei  Hauptgruppen  des  Thierreiches  in  ihrer  Grundform  den  drei 
Hauptabtheilungen  des  Pflanzenreiches  entsprechen,  indem  die  Cryptogaruen 


l)    Sitzungsberichte    der    mathematisch  -  naturwissenschaftlichen  Klasse   der 
Wiener  Akademie.    1857.    Bd.  XXIV,  p.  338. 


III.    Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen.        385 

mit  den  axenlosen  Irregui ärthieren,  die  Monocotylen  mit  den  einaxigen  Re- 
gulärthieren  und  die  Dicotylen  mit  den  festsitzenden  symmetrischen  Thieren 
und  namentlich  mit  den  Brachiopoden  zusammenstimmen  sollen.  Doch  ist 
andererseits  als  ein  Verdienst  Jägers  hervorzuheben,  dass  er,  namentlich 
den  Behauptungen  derjenigen  Autoren  gegenüber,  welche  alle  Echino- 
dermen  und  Polypen  als  bilateral -symmetrische  Thiere  betrachtet  wissen 
wollten,  die  radial-reguläre  Grundform  dieser  Thiere  aufrecht  erhält. 

Weit  umfassender  und  eingehender  als  Burmeister  und  Jäger,  und 
mit  weit  tieferem  Verständniss  für  die  wirklichen  maassgebenden  Hauptun- 
terschiede der  Grundformen  hat  der  verdienstvolle  Bronn  die  vorliegen- 
den Fragen  behandelt,  und  das  Wichtigste  darüber  schon  15  Jahre  früher 
(1841)  festgestellt.  Wie  Bronn  zu  den  wenigen  Zoologen  unserer  Zeit  ge- 
hörte, welche  über  dem  Einzelnen  das  Ganze  nicht  vergessen  und  neben 
dem  Unterscheidenden  auch  das  Gemeinsame  der  Naturgestalten  zu  er- 
kennen streben,  so  war  er  durch  seine  umfassenden  allgemeinen  Kenntnisse 
und  durch  seine  denkende  und  vergleichende  Betrachtungsweise  der  Natur 
vorzugsweise  zur  Lösung  der  vorliegenden  Aufgaben  befähigt.  Doch  ist  er 
hierbei  im  Einzelnen,  und  namentlich  in  dem  Versuche,  einfache  geometri- 
sche Grundformen  für  die  verschiedenen  Thiergestalten  aufzustellen,  nicht 
so  weit  gekommen,  als  es  der  richtige  Weg,  den  er  einschlug,  hätte  ver- 
muthen  lassen  sollen.  Die  Grundzüge  von  Bronns  allgemeinen  morpho- 
logischen Anschauungen  sind  schon  in  seiner  »trefflichen  „Geschichte  der 
Natur"  (1841) ')  niedergelegt,  ausführlich  erörtert  dagegen  in  den  „morpho- 
logischen Studien" 2)  und  mit  besonderem  Scharfsinn  bezüglich  der  Strahl- 
thiere  weiter  ausgeführt  in  dem  zweiten  Bande  seiner  Klassen  und  Ord- 
nungen des  Thierreichs  (Actinozoen,  1860),  insbesondere  in  den  „Rückblicken 
auf  die  neun  Strahlthierklassen"  (p.  413 — 423).  Bronn  adoptirt  zwar  eben- 
falls die  übliche  Eintheilung  der  Thierformen  in  die  oben  genannten  drei 
Hauptgruppen,  welche  er  als  Amorphozocn,  Actinozoen  und  Hemisphenozoen 
bezeichnet,  erörtert  jedoch  die  wesentlichen  Unterschiede  und  characteristi- 
schen  Eigenschaften  derselben  weit  eingehender,  als  es  je  von  anderer  Seite 
geschehen  ist.  Am  wenigsten  zutreffend  erscheint  die  allgemeine  Auffas- 
sung der  Grundformen  der  Protozoen,  oder  der  irregulären  (axenlosen)  Thiere, 
von  denen  er  vier  Klassen  (1.  Spongiae,  2.  Polycystina,  3.  Rhizopoda, 
4.  Infusoria)  unterscheidet,  und  die  er  als  formlose  Thiere,  Amorpho- 
zoa  bezeichnet,  ein  Ausdruck,  der  nur  in  dem  Sinne  zugelassen  werden 
kann,  dass  „deren  Form  sich  auf  keinen  gemeinsamen  Grundausdruck 
zurückführen  lässt."  Vortrefflich  dagegen  sind  Bronns  Erörterungen  über 
die  Grundform  der  Actinozoen  oder  der  regulären  (einaxigen)  Strahlthiere 
(Coelenteraten  und  Echinodermen)  und  deren  verschiedene   Modificationen. 

Die  Grundform  der  radialen  oder  regulären  Actinozoen  ist  nach  Bronn, 
wie  bei  der  grossen  Mehrzahl  aller  Pflanzenformen,  ein  Ei  oder  ein  Kegel 
(Ooid  oder  Conoid),  als  diejenige  einfachste  geometrische  Grundform,  welche 


')  H.  Bronn,  Geschichte  der  Natur,  I.  Bd.  1841,  p.  4;  IL  Bd.  1843,  p.  2,  5. 
2)  Heinrich  Georg  Bronn,  Morphologische  Studien  über  die  Gestaltungs- 
gesetze der  Naturkörper.     Leipzig.     1858,  p.  39 — 80. 

Haeckel,  Geuerell«  Morphologie.  gfj 


386  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

sich  von  allen  anderen  unterscheidet  durch  eine  einzige,  mit  zwei  verschie- 
denen Polen  versehene  Hauptaxe  „während  alle  möglichen  wagerechten  (in 
einer  und  derselben  Ebene  liegenden)  Axen,  die  wir  uns  rechtwinklig  zur 
vorigen  liegend  vorstellen  können,  unter  sich  gleich  und  gleichpolig  sein 
würden.  Denken  wir  uns  in  verschiedenen  Höhen  über  einander  ganze 
Wirtel  von  solchen  gleichen  und  gleichpoligen  Queraxen,  so  werden  die 
oberen  Wirtel  um  so  mehr  an  den  Eigenschaften  des  positiven  Poles  der 
uugleichpoligen  Hauptaxe  theilnehmen,  je  näher  sie  ihm  sind;  und  die  un- 
teren Wirtel  mehr  den  Eigenschaften  des  negativen  Poles  entsprechen." 
Als  wesentlicher  Unterschied  der  Ooid-  (oder  Conoid-)Formen  der  Pflanzen 
von  denjenigen  der  Strahlthiere  wird  dann  hervorgehoben,  dass  bei  den 
ersteren  die  Entwickelung  der  regelmässig  um  die  Hauptaxe  gruppirten 
Theile  in  Spirallinien,  bei  den  letzteren  dagegen  in  concentrischen  Parallel- 
kreisen (oder  in  Meridianlinien)  fortschreitet.  Die  spiral  entwickelte  Ooid- 
Form  der  Pflanzen,  wie  sie  sich  z.  P>.  sehr  rein  ausgeprägt  am  Coniferen- 
Zapfen  (Strobilus)  zeigt,  wird  daher  als  Zapfen-Ei  oder  Strobiloid-Porm 
bezeichnet,  die  concentrisch  oder  radial  entwickelte  Ooid-Form  der  Strahl- 
thiere dagegen,  wie  sie  sich  z.  B.  in  Actinia  zeigt,  als  Strahlen-Ei  oder 
Actinioid-Form.  „Die  Actinioid-Form  der  Actinozoen  (Coelenteraten 
und  Echinodermen)  geht  mit  vollkommen  werdendem  Locomotions-Vermögen 
allmählig  in  die  hemisphenoide  über,  welche  aber  keineswegs  mit  solcher 
fortschreitenden  Vervollkommnung  gleichen  Schritt  hält."  Als  Hemi- 
sphenoid-Form  oder  Halbkeil  bezeichnet  Bronn  die  bilateral-symmetri- 
sche Grundform  der  zweiaxigen  Thiere  oder  der  Weich-,  Kerb-  und  Wirbel- 
Thiere.  „Die  Grundform  dieser  drei  oberen  Thierkreise  ist  also  vorn  und 
hinten  verschieden,  unten  und  oben  verschieden,  rechts  und  links  gleich. 
Man  kann  sie  wie  in  den  meisten  Krystallen,  auf  drei  unter  rechtem  Win- 
kel sich  schneidende  Axen  beziehen,  welche  aber  nicht,  wie  dort  gewöhn- 
lich, gleichpolig  sind,  sondern  wovon  die  zwei  wichtigsten,  die  Längen-  und 
die  Höhen-Axe,  verschiedene  und  nur  die  Quer-Axe  gleiche  Pole  besitzen. 
Sehen  wir  uns  nach  einer  geometrischen  Form  um,  welche  die  genannten 
Eigenschaften  in  sich  vereinigt,  so  finden  wir  den  passenden  Ausdruck  da- 
für etwa  in  einem  der  Länge  nach  halbirten  Keile,  einem  solchen  nämlich, 
der  auf  wagerechter  Grundfläche  ruhend,  oben  rückwärts  ansteigt,  mithin 
unten  und  oben,  hinten  und  vorn  verschieden,  und  nur  rechts  und  liuks 
gleichseitig  ist."     (Morpholog.  Stud.  p.  70). 

Die  wichtigsten  Erörterungen  über  diesen  Gegenstand,  welche  wir  nun 
ausser  Bronns  Arbeiten  noch  anzuführen  haben,  welche  jedoch  nur  einen 
einzelnen  Theil  desselben  behandeln,  sind  die  geistvollen  Untersuchungen 
von  Johannes  Müller  „über  den  allgemeinen  Typus  der  Echinodermen"') 
und  von  Fritz  Müller  „über  die  angebliche  Bilateralsymmetrie  der  Rip- 
penquallen"2).   Diese   vortrefflichen  Arbeiten   beziehen   sich  gerade  auf  die 


l)  Johannes  Müller,  über  den  Bau  der  Echinodermen.    Berliu  1854  (Abh. 
der  Berl.  Akad.) 

2J  Fritz  Müller,  Archiv  für  Naturgesch.  XXVII.  Jahrg.  Bd.  I,  p.  320. 


in.    Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen.        387 

Grundformen  derjenigen  Thiere  —  einerseits  der  bilateral-radialen  Echino- 
dernien,  andererseits  der  symmetrisch-regulären  Coelenteraten  —  welche 
einer  allgemeinen  Unterscheidung  der  radialen  und  der  bilateralen  Thiere 
die  grössten  Schwierigkeiten  entgegensetzen,  indem  sie  von  den  einen  Zoo- 
logen zu  jenen,  von  den  anderen  zu  diesen  gerechnet  werden.  So  viel 
Scharfsinn  aber  auch  in  jenen  Arbeiten  zu  einer  präciseren  Bestimmung 
dieser  zweifelhaften  Mittelformen  aufgewendet  erscheint,  so  kann  das  Re- 
sultat derselben  doch  nicht  als  befriedigende  Lösung  der  schwierigen  Frage 
bezeichnet  werden.  Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  vorzugsweise  darin 
zu  suchen,  dass  die  Betrachtung  von  den  Flächen  des  Thierkörpers  aus- 
gegangen ist  und  auf  diese  das  meiste  Gewicht  gelegt  hat,  statt  vor  Allem 
die  Axen  und  deren  Pole  aufzusuchen,  welche  die  maassgebenden  Grund- 
züge der  Thiergestalt  bestimmen  und  welche  die  Flächenbeschaffenheit  selbst 
erst  bedingen.  Auch  sind  hier  so  wenig  als  in  den  meisten  anderen  pro- 
morphologischen Versuchen  die  Antimeren  gehörig  berücksichtigt,  deren 
Zahl  und  Verbindung,  Gleichheit  oder  Ungleichheit  vor  Allem  die  Grund- 
form constituirt.  Fritz  Müller  kommt  daher  zu  dem  irrthümlichen  Re- 
sultate, dass  die  Grundform  der  Ctenophoren  zweistrahlig  sei.  Johannes 
Müller  stellt  als  ideale  Grundform  der  Echinodermen  eine  Kugel  auf, 
welche  eine  bestimmte  Axe  mit  zwei  verschiedenen  Polen  und  eine  be- 
stimmte Meridianebene  besitzt,  durch  welche  sie  in  zwei  symmetrisch  gleiche 
Theile  zerfällt,  sowie  fünf  Radialfelder,  durch  welche  ihre  Oberfläche  in 
ein  Bivium  und  ein  Trivium  zerfällt.  Eine  solche  Kugel  ist  aber  in  Wahr- 
heit keine  Kugel,  sondern  eine  halbe  zehnseitige  amphithecte  Pyramide. 

Immerhin  sind  die  trefflichen  Bemerkungen  von  Fritz  Müller  über  die 
Grundformen  der  Rippenquallen  und  von  Johannes  Müller  über  die 
Grundformen  und  die  Homologieen  der  Echinodermen  sehr  zu  beachten, 
schon  allein  desshalb,  weil  sie  das  nothwendige  Ziel  einer  scharfen  stereo- 
metrischen Erkenntniss  der  organischen  Fonnen  richtig  erkannten  und 
dasselbe  in  der  festen  Bestimmung  einer  allgemeinen  Grundform  suchten, 
wenn  sie  es  auch  nicht  erreichten.  Es  ist  dies  um  so  mehr  anzuerkennen, 
als  sich  die  meisten  Morphologen  bisher  der  Erkenntniss  dieses  Zieles  ver- 
schlossen, und  statt  danach  zu  streben,  die  organischen  Formen  mit  der 
grössten  Willkührlichkeit  bezeichnet  haben. 


IV.   Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie. 

Die  Forderung-,  dass  die  organische  Morphologie  die  allein  absolut 
sichere  Methode  der  mathematisch-philosophischen  Erkenntniss  einzu- 
schlagen und  dass  sie  insbesondere  auch  die  Betrachtung  der  orga- 
nischen „Form  an  sich"  nach  dieser  stereometrischen  Methode  zu  be- 
ginnen habe,  ist  schon  wiederholt  und  mit  Recht  von  denkenden 
Naturforschern  gestellt  und  von  den  vorher  genannten  auch  zu  erfüllen 
versucht  worden.  Insbesondere  hat  die  neuere  Physiologie,  seitdem 
sie  den  allein  möglichen  mechanisch -causalen  Weg  bei  Erforschung 

25* 


388  Begriff  und  Aufgabe  der  Prornorphologie. 

der  dynamischen  Lebens -Processe  eingeschlagen  hat,  wiederholt  die 
Notwendigkeit  ausgesprochen,  dass  auch  die  organische  Morphologie 
bei  Untersuchung  der  statischen  Lebens- Substrate,  der  organischen 
Formen,  denselben  Weg  verfolgen  müsse.  Indessen  erschien  diese 
Forderung  immer  eben  so  leicht  ausgesprochen,  als  schwer  zu  erfüllen. 
Der  theoretischen  Nothwendigkeit  schien  sich  stets  die  praktische  Un- 
möglichkeit gegenüber  zu  stellen. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  liegt  nach  unserer  Ansicht  wesent- 
lich darin,  dass  man  meistens  nicht  nach  einer  Erkenntniss  der  stereo- 
metrischen Grundform,  sondern  nach  einer  absoluten  mathematischen 
Erkenntniss  der  gesammten  äusseren  Form  des  Organismus,  nach 
einer  genauen  Ausmessung  und  Berechnung  aller  Einzelnheiten  seiner 
Überfläche  strebte.  Diese  ist  aber  in  der  That  entweder  (in  den 
meisten  Fällen)  ganz  unmöglich,  oder  da,  wo  sie  ausführbar  ist,  von 
ganz  untergeordnetem  Werthe.  Die  Gründe  dafür  haben  wir  bereits 
oben  (p.  26,  p.  13t»)  erörtert.  Sie  liegen  theils  in  der  absoluten  und 
unbegrenzten  Variabilität  der  Organismen,  theils  in  ihrem  festflüssigen 
Aggregatzustande.  Wollte  man  dennoch  eine  sorgfältige  stereometrische 
Ausmessung  und  Berechnung  aller  der  unendlich  verwickelten  und 
vielfältig  gekrümmten  Flächen,  Linien  und  Winkel  versuchen,  welche 
auch  die  meisten  einfacheren,  festflüssigen  organischen  Formen  be- 
grenzen, so  würde  eine  derartige  geometrische  Bestimmung  weder 
von  theoretischem  Interesse  noch  von  praktischer  Bedeutung  sein. 
Auf  eine  solche  absolute  mathematische  Bestimmung  der  Ober- 
flächen-Formen können  wir  daher,  namentlich  auch  angesichts  der 
individuellen  Ungleichheit  und  Variabilität  aller  Organismen  vollstän- 
dig verzichten. 

Anders  verhält  sich  die  theoretische  Bedeutung  und  der  praktische 
Werth  der  stereometrischen  Grundform,  deren  Erkenntniss  für  den 
organisch»  nMorphologen  dieselbe  Wichtigkeit,  wie  für  den  anorganischen 
Krystallographen  besitzt.  Diese  ist  wesentlich  unabhängig  von  allen 
Einzelheiten  der  Oberflächen-Begrenzung  und  richtet  ihr  Augenmerk 
vor  Allen  auf  die  formbestimmenden  Axen  des  Körpers  und  deren 
Pole.  Die  Methode  der  Krystallographie  zeigt  uns  hier  den  allein 
möglichen  und  richtigen  Weg.  Kein  Krystallograph  würde  jemals  zu 
der  Aufstellung  von  einigen  wenigen  geometrischen  Grundformen  für 
die  mannichfaltigen  vielflächigen  Krystallkörper  der  Mineralien  gelangt 
sein,  wenn  er  bei  der  Betrachtung  der  Krystallflächen  stehen  geblie- 
ben wäre  und  sich  mit  der,  wenn  auch  noch  so  sorgfältigen  Aus- 
messung derselben  begnügt  liätte.  Zur  Entdeckung  der  einfachen 
Grundform  des  Krystalles  oder  seines  „Systems"  gelangt  vielmehr  der 
Mineralog  nur  dadurch,  dass  er  die  idealen  Axen  des  Krystallkör- 
pers  aufsucht,   mit  Bezug  auf  welche  sämmtliche  Theilchen  desselben 


IV.    Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie.  389 

eine  bestimmte  Lagerung   einnehmen,   und  dass    er  die  gleiche  oder 
verschiedene  Beschaffenheit  dieser  Axen  und  ihrer  Pole  erwägt. 

Ganz  ebenso  muss  auch  der  Morpholog  zu  Werke  gehen,  der  ein- 
fache geometrische  Grundformen  für  die  unendliche  Mannichfaltigkeit 
der  Thier-  und  Pflanzengestalten  auffinden  will ,  und  gerade  in  dieser 
vorwiegenden  Berücksichtigung  der  Axen  des  organischen  Naturkörpers 
und  seiner  Pole  ist  das  Verdienst  der  bahnbrechenden  Arbeiten  von 
Bronn  und  der  späteren  von  Jäger  zu  suchen.  Wie  die  nachfol- 
genden Untersuchungen  beweisen  werden,  führt  eine  scharfe  Erfassung 
der  Axen  und  ihrer  Pole  nicht  allein  sicher,  sondern  auch  einfach 
und  leicht  zu  der  Entdeckung  der  einfachen  geometrischen  Grundform, 
der  Urgestalt  oder  des  Modells,  des  organisirten  Krystalls  gewisser- 
maassen,  welcher  der  augenscheinlich  ganz  unberechenbaren  Gestalt 
der  allermeisten  Thier-,  Protisten-  und  Pflanzen-Gestalten  zu  Grunde 
liegt.  Erst  wenn  diese  mathematisch  bestimmte  Grundform,  dieses 
constante  „  Krystallsystem "  des  organischen  Individuums  gefunden  ist, 
welches  mit  einem  einzigen  Worte  alle  wesentlichen  Grundverhältnisse 
der  Gestalt  ausspricht,  kann  sich  daran  die  wissenschaftliche  Dar- 
stellung der  individuellen  Einzelheiten  der  Form  anschliessen.  Man 
misst  dann  zunächst  die  Länge  der  verschiedenen  Axen  und  den  Ab- 
stand der  einzelnen  Oberflächentheile  von  denselben  und  von  ihren 
Polen,  und  kann  so  erforderlichenfalls  eine  mathematisch  genaue  Be- 
schreibung des  Ganzen  entwerfen. 

Als  eines  der  wichtigsten  Ergebnisse,  welche  uns  diese  stereome- 
trische Betrachtungsweise  der  organischen  individuellen  Form  geliefert 
hat,  ist  schon  oben  hervorgehoben  worden,  dass  die  herrschende  An- 
sicht von  der  fundamentalen  morphologischen  Differenz  der  anorga- 
nischen und  organischen  Naturkörper  ein  unbegründetes  Dogma  ist 
(p.  137 — 139).  Wenn  in  den  meisten  Handbüchern  die  Grundformen 
der  mineralischen  Kry stalle  einerseits,  die  der  Thiere  und  Pflanzen 
andrerseits  als  vollkommen  und  im  Grunde  verschieden  bezeichnet 
werden,  so  ist  dies  ganz  irrig.  Es  giebt  Organismen,  insbesondere 
unter  den  Rhizopoden,  welche  zwar  nicht  in  der  Flächen- Ausbildung, 
wohl  aber  in  der  die  Flächenform  bestimmenden  Axenbildung  von 
regulären  Krystallen  gar  nicht  zu  unterscheiden  sind.  Ja  es  lassen 
sich  sogar  unter  den  Radiolarien  viele  Thierformen  nachweisen,  deren 
ganzes  Skelet  gewissermassen  weiter  nichts  als  ein  System  von  ver- 
körperten Krystallaxen  ist,  und  zwar  gehören  diese  organisirten  Kry- 
stallformen  den  verschiedenen  Systemen  an,  welche  auch  der  Minera- 
log  unterscheidet.  So  finden  wir  z.  B.  in  Haliomma  hexacanthum  und 
Actinomma  drymodes  das  reguläre  Hexaeder  des  tesseralen  Kristall- 
systems, in  Acanthostaurus  hastatus  und  Astromma  Aristotelis  das 
Quadrat-Octaeder  des  tetragonalen  Krystallsystems,  in  Tetrapyle  octa- 


390  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

cantha  und  Stephanastrum  rhombus  das  Rhomben-Octaeder  des  rhom- 
bischen Krystallsystems  vollkommen  regulär  verkörpert.  Man  braucht 
bloss  die  Spitzen' der  betreffenden  Axen  durch  Linien  zu  verbinden 
und  durch  je  zwei  benachbarte  Linien  eine  Fläche  zu  legen,  um  in 
der  That  die  entsprechenden  Octaeder-Formen  zu  erhalten. 

Wie  wir  nun  in  diesen  Fällen  unmittelbar  durch  die  objective 
Betrachtung  in  der  organischen  Gestalt  eine  einfache  stereometrische 
Grundform  erkennen,  welche  nicht  von  derjenigen  eines  Krystallsystems 
zu  unterscheiden  ist,  so  linden  wir  auch  in  den  andern  concreten  Ge- 
stalten der  organischen  Individuen  (bloss  die  amorphen  Anaxonien 
ausgenommen)  unmittelbar  eine  einfache  stereometrische  Form  als 
ideale  Grundform  durch  die  constanten  Beziehungen  der  Axen  und 
ihrer  Pole  constant  ausgesprochen,  und  wir  können  demnach  in  der 
That  die  Promorphologie  als  Stereometrie  der  Organismen  ansehen. 
Die  detaillirte  Beschreibung  jeder  organischen  Form  muss  zunächst 
diese  Grundform  aufsuchen,  die  Maassverhältnisse  ihrer  Axen  be- 
stimmen und  an  dieses  mathematische  Skelet  der  Form  die  Darstellung 
der  Einzelnheiten  überall  anfügen. 


Y.    Grundformen  aller  Individualitäten. 

Alle  bisherigen  Versuche,  die  organischen  Grundformen  zu  bestim- 
men, hatten  entweder  ganz  ausschliesslich  oder  doch  vorwiegend  die 
actuellen  Bionten  als   die  concreten  Repräsentanten  der    Species    im 
Auge,  welche  durch  morphologische  Individuen  aller  sechs  Ordnungen 
repräsentirt  werden  können.     Wie  man  aber  diese  sechs  Ordnungen 
selbst,   als  subordinirte  Kategorieen   von  Individualitäten  meist  nicht 
gehörig  unterschieden  hat,  so  hat  man  auch  meistens  nicht  daran  ge- 
dacht, die  Grundform  der  subordinirten  Individualitäten  zu  bestimmen, 
welche  als  constituirende  Bestandtheile  von  Form-Individuen  höherer 
Ordnung  auftreten.     Und  doch  ist  diese  stereometrische  Bestimmung 
der    einzelnen    Theile    für  jede   scharfe  Erkenntniss  der  organischen 
Form  ebenso   unerlässlich  wie  diejenige  des  Ganzen.     Während  man 
also  z.  B.  bei  den  „Strahlthieren u  (Echinodermen,  Coelenteraten)   be- 
strebt   war,    die    strahlige    (reguläre)    oder    bilaterale   (symmetrische) 
Grundform   oder  den  Uebergang  der  ersteren  in   die  letztere  an  der 
realen  Form   des  ganzen  Thieres  (des  actuellen  Bion)   zu  erkennen, 
hat    man    sich    nicht    um    die    ideale   Grundform  der    constituirenden 
Metameren,   Antimeren,  Organe  und  Piastiden  bekümmert,  und  doch 
hat  jede  dieser  Individualitäten  so  gut  ihre  constante  Grundform,  wie 
das   ganze  actuelle  Bion,   welches  bei  den  Echinodermen  ein  Form- 
Individuum  fünfter  Ordnung,   eine  Person  ist.     Wir  werden  also  bei 


V.    Grundformen  aller  Individualitäten.  391 

jeder  genauen  Beschreibung  einer  organischen  Form,  die  vollständig 
sein  soll,  die  stereometrische  Grundform  nicht  allein  des  ganzen 
Form-Individuums  höherer  Ordnung,  welches  das  actuelle  Bion  reprä- 
sentirt,  sondern  auch  aller  subordinirten  Individuen,  welche  dasselbe 
constituiren,  aufzusuchen  und  dann  erst  die  Beschreibung  der  Ein- 
zelnheiten der  äusseren  Form  jedes  Individuums  anzuschliessen 
haben. 

Ebenso  werden  wir  dann  nicht  allein,  wie  es  bisher  geschehen 
ist,  bloss  die  Grundform  des  ausgebildeten  actuellen  Bion,  sondern 
auch  diejenige  seiner  individuellen  Entwicklungsstufen  aufzusuchen 
haben.  Erst  dadurch  wird  der  volle  Einblick  in  die  mathematische 
Gesetzlichkeit  der  organischen  Form-Entwickelung  gewonnen.  Die- 
selben Species,  welche  als  actuelle  Bionten  eine  sehr  differenzirte  und 
vollkommene  Grundform  besitzen,  zeigen  auf  ihren  früheren  Ent- 
wickelungs -Zuständen  meist  eine  Reihe  von  niederen  und  unvollkom- 
menen Grundformen.  Die  Erkenntniss  dieser  auf  einander  folgenden 
Stufenleiter  von  allmählig  sich  differenzirenden  Formen,  ist  für  das 
Verständuiss  der  Promorphologie  nicht  minder  lehrreich,  als  für  das 
der  Embryologie  und  der  Ontogenie  überhaupt.  So  finden  wir  z.  B., 
dass  die  sogenannten  „bilateralen"  Seeigel,  welche  als  actuelle  Bionten 
die  bilaterale  Strahlform  (Amphipleuren-Form)  besitzen,  in  früherer 
Zeit  die  vollkommen  reguläre  Strahlform  (Homostauren-Form)  zeigen, 
während  ihre  Larven  (Ammen)  sich  durch  dje  se^r  wesentlich  ver- 
schiedene rein  bilateral-symmetrische  Form  (Zygopleuren-Form)  aus- 
zeichnen. Offenbar  ist  hier  das  volle  Verständniss  der  Grundform  nur 
dann  möglich,  wenn  man  dieselbe  durch  alle  Entwickelungs-Zustände 
hindurch  verfolgt. 

Am  leichtesten  erkennbar  und  am  deutlichsten  ausgesprochen  ist 
die  stereometrische  Grundform  der  Organismen  allerdings  meistens  in 
den  Personen,  den  Form-Individuen  fünfter  Ordnung,  welche  bei  den 
meisten  Thieren  als  materielles  Substrat  für  das  actuelle  Bion  dienen 
und  bei  den  meisten  Pflanzen  den  Stock  zusammensetzen.  Wir  wer- 
den daher  diese  auch  in  dem  dreizehnten  Capitel,  welches  die  stereo- 
metrischen Grundformen  systematisch,  gleich  den  Krystallsystemen,  zu 
ordnen  versucht,  vorzugsweise  berücksichtigen.  Doch  ist  es  sehr 
wichtig,  auch  alle  anderen  Individualitäts-Ordnungen  promorphologisch 
zu  untersuchen,  wie  dies  im  vierzehnten  Capitel  geschehen  wird,  und 
es  wird  sich  dann  zeigen,  dass  die  wesentlichen  tectologischen  Unter- 
schiede, durch  welche  wir  die  sechs  Ordnungen  der  morphologischen 
Individuen  von  einander  trennen,  auch  in  promorphologischer  Beziehung 
begründet  sind.  Die  tectologische  Stufenreihe  der  organischen  Voll- 
kommenheit ist  übrigens  von  der  promorphologischen  Scala  wohl  zu 
unterscheiden. 


392  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

VI.  Promorphologische  Bedeutung  der  Antimeren. 

Wenn    von    allen    morphologischen  Individualitäten  vorzugsweise 
diejenigen  fünfter  Ordnung,   die  Personen,    und   demnächst  die  Meta- 
meren,   zur  ersten  übersichtlichen   Erkeuntniss   der  Grundformen    ge- 
eignet erscheinen,    so  liegt  dies  besonders  daran,   dass  bei  ihnen  in 
besonderem  Maasse  die  Gesammtform  des  Ganzen  als  das  nothwendige 
Resultat  der  Zusammensetzung  aus  den  integrirenden  Bestandtheilen, 
nämlich    den    Form-Individuen    dritter    Ordnung    oder   den  Antimeren 
erscheint.   Indem  die  Antimeren,  als  die  neben  einander  liegenden  Be- 
standteile,   welche   das  Metamer  und  die  Person  constituiren,    eine 
bestimmte    Mitte,    entweder    einen    Mittelpunkt    (Centrostigmen)    oder 
eine  Mittellinie  (Centraxonien)  oder  eine  Mittelebene  (Centrepipeden) 
gemein  haben,  in  welcher  sie  sich  berühren,  bestimmen  sie  hierdurch 
und  durch   ihre  Zahl  zunächst  die  Axen,   von  denen  die  Grundform 
des  Ganzen  abhängig  ist.     Ferner  bestimmen  die  zusammengehörigen 
Antimeren,    welche    neben    einander    um    die    gemeinsame    Mitte   des 
Metameres  oder  der  Person  herumliegen,  durch  ihre  Gleichheit  (Con- 
gruenz  und  Symmetrie)  oder  Ungleichheit  (positive  und  negative  Aehn- 
lichkeit,    vergl.    p.    308),    sowie    durch    ihre    eigene    stereometrische 
Grundform,  die  Beschaffenheit  (Gleichheit  oder  Ungleichheit)  der  beiden 
Pole    der  constanten  Axen,    welche   die  Grundformen  des  Metamers 
oder    der    Person    bedingen.     In    dieser  Beziehung  besitzen   also  die 
Antimeren    eine    ganz    hervorragende    Bedeutung;    ihr    vollkommenes 
Verständniss  muss  der  promorphologischen    Erkenntniss    des    Ganzen 
vorausgehen. 

Nehmen  wir  z.  B.  eine  vollkommen  regelmässige  vierstrahlige 
Meduse  her,  deren  Grundform  bei  bloss  oberflächlicher  Betrachtung 
eine  Halbkugel  oder  ein  Kugelsegment  zu  sein  scheint  (z.  A.  Aurelia, 
Thawnantias),  so  finden  wir  durch  sorgfältige  tectologische  Unter- 
suchung ihrer  Antimeren,  dass  ihre  Grundform  (ebenso  wie  bei  den 
regulären  „ vierzähligen "  Blüthen  (z.  B.  von  Paris,  Erica)  eine  regu- 
läre vierseitige  Pyramide  ist.  Zunächst  wird  erstens  durch  die 
Nebeneinanderlagerung  der  vier  Antimeren  um  eine  gemeinsame 
Hauptaxe  (Längsaxe)  die  Centraxonform  und  zwar  die  Stauraxon- 
form  des  Metameres  (der  ganzen  Meduse)  bestimmt,  sodann  zweitens 
durch  die  eudipleure  Grundform  der  Antimeren  die  Heteropolie  der 
Hauptaxe,  und  somit  die  einfache  Pyramidenform  der  Meduse, 
ferner  drittens  durch  die  Congruenz  der  vier  Antimeren  die  Gleich- 
heit der  Kreuzaxen  und  somit  die  reguläre  Pyramidenform  des 
Ganzen  (Homostaurie)  und  endlich  viertens  durch  die  Anzahl  der 
Antimeren,  durch  die  homotypische  Grundzahl  Vier,  die  Grundform 
der  Meduse  als  eine  vierseitige   reguläre  Pyramide  (Tetractinoten- 


VI.   Promorphologische  Bedeutung  der  Antiraeren.  393 

Form).  Nach  dem  bisherigen  morphologischen  Verfahren  bedurfte  es 
einer  zeilenlangen  Beschreibung,  um  diese  allgemeine  Grundform  (noch 
dazu  meist  ganz  unvollständig)  zu  eruiren,  während  jetzt  nach  unserer 
promorphologischen,  auf  das  Antimeren-Verständniss  gegründeten  Dar- 
stellungs- Methode  durch  das  einzige  Wort  „Tetractinot "  alle  wesent- 
lichen formellen  Eigenschaften  der  Meduse,  ihre  gesammte  typische 
Grundform  ausgedrückt  ist,  an  welche  sich  unmittelbar  die  detaillirte 
Darstellung  der  formellen  Einzelnheiten  anlehnen  kann.  Die  promor- 
phologische, auf  die  Tectologie  gegründete  Erkenutniss  der  Grund- 
form liefert  uns  so  das  mathematisch  bestimmte  und  klare  ideale 
Skelet  der  organischen  Form,  welches  wir  mit  dem  realen  Fleische 
der  concreten  Detail-Schilderung  zu  überkleiden  haben. 

Jedes  andere  Beispiel  zeigt  eben  so  treffend  wie  das  angeführte 
den  hohen  Werth,  welchen  unsere  tectologische  und  promorphologische 
Analyse  des  organischen  Individuums  für  das  wahre  philosophisch- 
anatomische Verständniss  desselben  besitzt.  Dieses  gründet  sich  we- 
sentlich auf  die  Erkenntniss  der  Zusammensetzung  der  individuellen 
Form  aus  den  homotypischen  Theilen,  welche  durch  ihre  Zahl,  Gleich- 
heit, Grundform  etc.  die  Beschaffenheit  der  maassgebenden  Axen  des 
Ganzen  und  ihrer  Pole  bedingen.  Hieraus  ergiebt  sich  auch,  warum 
alle  bisherigen  promorphologischen  Versuche  zu  keinem  erspriesslichen 
Resultate  gelangen  konnten.  Da  sie  die  Antimeren  selbst  entweder 
gar  nicht  oder  doch  nicht  genügend  berücksichtigten,  so  konnte  auch 
von  der  Grundform  kein  klares  Verständniss  erreicht  werden. 

Ganz  denselben  hohen  Werth,  welchen  die  Antimeren  als  die 
die  Grundform  bestimmenden  Theile  für  die  morphologischen  Indivi- 
duen vierter  und  fünfter  Ordnung  (Metameren  und  Personen)  haben, 
besitzen  die  Parameren  für  die  Form-Individuen  erster  und  zweiter 
Ordnung  (Piastiden  und  Organe).  Wir  haben  oben  alle  jene  Theile 
von  einzelnen  Organen  oder  von  einzelnen  Piastiden  als  Parameren 
oder  Nebenstücke  bezeichnet  (p.  311),  welche  in  analoger  Weise  um 
eine  gemeinsame  Mitte  dieser  Form-Individuen  zweiter  und  erster 
Ordnung  herum  liegen,  wie  die  Antimeren  oder  Gegenstücke  um  die 
Mitte  der  Metameren  und  Personen.  Dieselbe  Grundform,  welche  die 
letzteren  zeigen,  besitzen  auch  die  ersteren,  und  es  ist  hier  wie  dort 
die  Beschaffenheit  der  homotypischen  und  homonomen  Theile,  welche 
die  maassgebenden  Axen  und  deren  Pole  bestimmt.  So  wird  z.  B. 
die  eudipleure  Form  der  meisten  pflanzlichen  Blätter  (Organe)  durch 
die  Zahl,  Gleichheit  und  Grundform  der  beiden  constituirenden  Para_ 
meren,  der  symmetrisch  gleichen,  dysdipleuren  Blatthälften  bedingt. 
Ebenso  wird  die  octopleure  Allostauren-Form  (Rhomben -Octaeder), 
welche  die  Grundform  von  Stephanastrum,  von  vielen  Pollen-Zellen  etc. 
ist,  durch  die  Zahl;  Gleichheit  und  Grundform  der  vier  constituirenden 


394  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

Parameren,  der  vier  congruenten  Quadranten  der  vierseitigen  Doppel- 
pyramide bestimmt. 

Die  wesentlichen  Momente,  welche  sowohl  bei  den  Parameren 
als  bei  den  Antimeren  die  Axen  und  Pole,  und  somit  die  Grundform 
der  aus  ihnen  zusammengesetzten  höheren  Formeinheit  bestimmen,  sind 
also:  1)  die  Zahl  der  Antimeren  (homotype  Zahl)  oder  Parameren 
(homonome  Zahl);  2)  die  Gleichheit  (Congruenz  oder  Symmetrie) 
oder  Ungleichheit  (positive  oder  negative  Aehnlichkeit)  der  Anti- 
meren oder  Parameren;  3)  die  gegenseitige  Lagerung  und  Verbin- 
dung der  Antimeren  oder  Parameren;  4)  die  stereometrische  Grund- 
form der  Antimeren  oder  Parameren  selbst.  Da  mithin  die  Parameren 
als  die  für  die  Grundform  bestimmenden  Bestandtheile  der  Piastiden 
und  der  Organe  (sowie  auch  der  Antimeren  selbst),  durchaus  dieselbe 
promorphologische  Bedeutung  haben,  wie  die  Antimeren,  welche  die 
Promorphe  der  Metameren  und  Personen  bestimmen,  so  gilt  Alles,  was 
wir  im  folgenden  Capitel  von  den  Antimeren  anführen,  ganz  ebenso 
auch  von  den  Parameren.  Wir  heben  dies  ausdrücklich  hervor,  da  wir 
bei  unserer  systematisch  -  promorphologischen  Untersuchung  immer 
nur  die  Antimeren  in  dieser  Beziehung  erörtern  werden.  Die  Grund- 
form der  Stöcke  oder  Cormen,  als  der  Form -Individuen  sechster  und 
höchster  Ordnung,  wird  ebenso  durch  die  Zahl,  Gleichheit,  Lagerung 
und  Grundform  der  Personen  oder  Sprosse  bestimmt,  wie  die  Promorphe 
der  Metameren  und  Personen  durch  die  entsprechenden  Verhältnisse 
der  Antimeren. 


VII.  Systematische  Bedeutung  der  Grundformen. 

Ein  Grundfehler  aller  bisherigen  Untersuchungen  der  zoologischen 
Grundformen  liegt  in  der  falschen  Voraussetzung,  dass  die  verschie- 
denen Grundformen,  welche  sich  aus  der  realen  Form  der  actuellen 
thierischen  Bionten  ableiten  lassen ,  vollkommen  einigen  wenigen 
grossen  Hauptabtheilungen  des  Thierreiches  entsprechen.  So  entstand 
die  vielfach  angenommene  Eintheilung  des  Thierreiches  in  die  drei 
Grundformen  der  irregulären  Amorphozoen,  der  regulären  Strahlthiere 
und  der  symmetrischen  Bilateralthiere.  Nun  ist  aber,  wie  schon  die 
so  verschieden  aufgefassten  Abteilungen  der  bilateralen  Echinodermen 
und  der  Ctenophoren  lehren,  diese  Voraussetzung  eine  ganz  unberech- 
tigte. Weder  alle  sogenannten  bilateral-symmetrischen  Thiere,  noch 
alle  radial-regulären  besitzen  eine  gemeinsame  stereometrische  Grund- 
form. Schon  ein  Blick  auf  die  verschiedene  Höhe  ihrer  systematischen 
Entwickelimg  und  die  entsprechend  verschiedene  Ausbildung  der 
Grundform  in  verschiedenen  Lebensaltern  genügt,  um  diesen  Irrthum 
zu  widerlegen.     Aber  selbst  wenn  man  nur  die  actuellen  Bionten  be- 


VIL    Systematische  Bedeutung  der  Grundformen.  395 

rücksichtigt,  finden  wir  hier  in  einem  und  demselben  Stamme,  z.  B. 
bei  den  Coelenteraten,  eine  ganze  Reihe  von  verschiedenen  Grund- 
formen neben  einander  vor. 

In  noch  weit  höherem  Grade  wird  dies  durch  die  Protisten  be- 
wiesen. Unter  diesen  und  insbesondere  unter  dem  gestaltenreichen 
Stamme  der  Rhizopoden  kommen  die  verschiedensten  Grundformen 
neben  einander,  und  zwar  bei  sonst  nächstverwandten  Thierarten  vor, 
die  einer  und  derselben  Familie,  oft  selbst  einer  und  derselben  Gat- 
tung angehören.  Die  vielgestaltige  Classe  der  Radiolarien  umfasst  mehr 
verschiedene  organische  Grundformen,  als  sonst  im  ganzen  Thier- 
reiche  überhaupt  vorkommen.  Der  Name  Amorphozoen,  mit  dem  ziem- 
lich häufig  die  Protozoen,  und  insbesondere  die  Rhizopoden  und 
Infusorien  bezeichnet  werden,  konnte  in  dieser  Beziehung  nicht  un- 
passender gewählt  werden.  Nichts  ist  irriger,  als  die  gebräuchliche 
Angabe,  dass  die  Grundform  der  Rhizopoden  und  der  Protozoen  über- 
haupt nicht  zu  bestimmen,  ohne  bestimmte  Grundlage  oder  ganz 
unregelmässig  sei.  Gerade  unter  diesen  niedersten  Protisten  begegnen 
wir  reineren  und  weit  leichter  auf  geometrische  Formen  zu  reduciren- 
den  Gestalten,  diese  sind  regelmässiger,  fester,  von  schärferen  Linien 
und  einfacheren  Flächen  begrenzt,  als  es  in  den  meisten  höheren 
Thierklassen  der  Fall  ist.  Wollte  man  die  Protozoen,  und  die  Rhizo- 
poden insbesondere,  ihrer  Grundform  nach  bezeichnen,  so  wäre  der 
Ausdruck  Myrioniorpha  oder  Polymorphozoa  weit  besser  als  der 
Name  Amorphozoa.  Es  sind  nicht  die  formlosesten,  sondern  die 
formreichsten  Körper  der  gesammten  Organismen-Welt. 

Wenn  man  diesen  letzteren  Umstand  gehörig  würdigt,  gelangt 
man  auch  zur  Einsicht  in  eine  andere  wesentliche  Ursache,  welche 
bisher  eine  selbstständige  Entwickelung  der  Promorphologie  verhin- 
dert hat.  Offenbar  liegt  diese  darin,  dass  die  bisherigen  Morphologen 
viel  zu  wenig  die  Organismen  der  niedrigsten  Stufen  berücksichtigt 
und  fast  ausschliesslich  die  höher  organisirten  Formen,  einerseits 
Coelenteraten  und  Echinoclermen,  andererseits  Mollusken,  Würmer, 
Gliederfüsser  und  Wirbelthiere  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen 
haben.  Hätte  man,  statt  die  Rhizopoden,  Infusorien  und  übrigen  Pro- 
tozoen unter  dem  Collectivbegriff  der  „formlosen"  Thiere  zusammen- 
zufassen, die  einzelnen,  meist  so  auffallenden  Formen  derselben  etwas 
genauer  betrachtet,  und  was  gerade  hier  eben  so  leicht  als  lohnend 
ist,  die  geometrische  Grundform  derselben  zu  abstrahiren  versucht, 
man  würde  sicher  schon  längst  zu  ganz  anderen  Einblicken  in  die 
vielfältigen  Grundformen  des  Thierreiches  gelangt  sein,  als  sie  durch 
die  ganz  schematische  Scheidung  in  axenlose  irreguläre,  einaxige 
reguläre  und  zweiaxige  symmetrische  Thiere  gewährt  werden.  Schon 
allein  die  sehr  regelmässigen  und  scharf  umschriebenen  Formen  der 


396  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

Acyttarien,  insbesondere  der  Polythalamien,  hätten  auf  diesen  Weg 
hiuführen  können.  Keine  Abtheilung  des  Thier-  und  Pflanzen-Reiches 
ist  aber  in  dieser  Beziehung  instructiver,  an  Formen  reicher  und  leich- 
ter auf  ganz  bestimmte  stereometrische  Grundformen  reducirbar,  als 
diejenige  der  Radiolarien.  Der  eingehenden  Beschäftigung  mit  dieser 
gestaltenreichsten  aller  Organismen-Gruppen  verdanken  wir  es  haupt- 
sächlich, dass  wir  zur  Unterscheidung  der  im  Folgenden  aufgestellten 
Grundformen  geführt  wurden.  Diese  Grundformen  sind  hier  zum 
grossen  Theil  in  solcher  Reinheit  verkörpert  und  mit  so  mathematischer 
Strenge  ausgeführt;  dass  ein  einziger  Blick  auf  eine  naturgetreue  Ab- 
bildung genügt,  um  sich  von  dem  unzweifelhaften  Character  der  be- 
stimmten stereo metrischen  Grundform  sofort  zu  überzeugen.  Da  die 
Radiolarienklasse  in  dieser  Beziehung  die  lehrreichste  von  allen 
Organismen-Gruppen,  zugleich  aber  noch  sehr  wenig  in  weiteren 
Kreisen  bekannt  ist,  so  erlauben  wir  uns  hier,  speciell  auf  die  natur- 
getreuen Abbildungen  zu  verweisen,  welche  von  den  verschiedensten 
Radiolarien-Formen  durch  Ehrenberg,  Johannes  Müller  und  uns 
selbst  gegeben  worden  sind.1) 


YII1.  Promorphologie  und  Orismologie. 

Der  hohe  Werth,  welchen  wir  einer  scharfen  stereometrischen 
Bestimmung  der  organischen  Grundformen  zuschreiben  müssen,  und 
welcher  uns  bewegt,  die  Promorphologie  als  selbstständige  coordinirte 
Wissenschaft  der  Tectologie  an  die  Seite  zu  stellen ,  ist  unseres  Er- 
achtens  vorzüglich  in  der  theoretischen  Wichtigkeit  der  damit  verbun- 
denen monistischen  Erkenntniss  begründet,  dass  die  äusseren  Formen 
der  Organismen  nicht  willkührliche  Phantasiegebilde  eines  anthro- 
pomorphen  Schöpfers,  sondern  mechanische  Producte  einer  Summe  von 
wirkenden  Ursachen  sind,  und  dass  dieselben  ebenso  mit  absoluter 
Notwendigkeit  aus  der  tectologischen  Zusammensetzung  ihrer  con- 
stituirenden  Bestandtheile  folgen,  wie  die  anorganische  Krystallform 
aus  der  atomistischen  Zusammensetzung  der  krystallisirenden  Materie 
und  deren  Wechselwirkung   mit  ihrer  Umgebung.     Insbesondere  sind 


')  Ehrenberg,  Mikrogeologie.  Leipzig  1854.  Johannes  Müller,  Ab- 
handlungen der  Berliner  Akademie.  1858.  E.  Ha e ekel,  Monographie  der 
Radiolarien.  Berlin  1862.  Die  Abbildungen  von  Radiolarien  aller  Familien, 
welche  ich  in  dem  Atlas  von  35  Kupfertafeln  gegeben  habe,  der  meine  Mono- 
graphie begleitet,  sind  mittelst  der  Camera  lucida  nach  der  Natur  entworfen  und 
liefern  euuerete  Beispiele  für  fast  alle  Grundformen,  welche  ich  im  System  des 
folgenden  Capitels  anführen  werde.  Ich  habe  daher  dieselben  in  Klammern 
(Rad.)  citirt. 


VIII.    "Proniorphologie  und  Orismologie.  397 

es  die  morphologischen  Individuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden, 
welche  sich  in  dieser  Beziehung  den  Krystallen  vollkommen  gleich 
verhalten.  Die  einzigen  Form-Unterschiede,  welche  sich  zwischen  den 
Krystallen  und  den  Piastiden  zeigen,  sind  durch  den  festfliissigen 
Aggregatzustand  der  letzteren  und  ihre  „ererbten"  Eigenschaften 
bedingt,  wie  wir  im  fünften  Capitel  gezeigt  haben.  Bei  den  morpho- 
logischen Individuen  zweiter  und  höherer  Ordnung  ist  die  Grundform 
wiederum  das  nothwendige  Resultat  ihrer  Zusammensetzung  aus  den 
subordinirten  Individualitäten.  Dieses  wichtige  Gesetz  müssen  wir  als 
das  monistische  Grundgesetz  der  organischen  Promorphologie  be- 
trachten. 

Ausser  dieser  hohen  theoretischen  Bedeutung  besitzt  aber  unserer 
Ansicht  nach  die  Promorphologie  noch  einen  sehr  bedeutenden  prak- 
tischen Werth.  Wir  finden  diesen  vorzüglich  darin,  dass  von  ihr  eine 
gründliche  Reform  der  descriptiven  Morphologie,  der  systematischen 
Morphographie  ausgehen  wird,  und  dass  namentlich  die  in  der  letzte- 
ren gebräuchliche  Orismologie  dadurch  eine  philosophische  Läuterung- 
erfahren  wird.  Jeder  Morphologe  muss  oder  könnte  bei  einigem  Nach- 
denken wissen,  in  welchem  traurigen  Zustande  sich  gegenwärtig  die 
gesammte  organische  Orismologie  oder  Terminologie  (wie  sie  ge- 
wöhnlich mit  einer  Vox  hybrida  bezeichnet  wird)  befindet,  Dies  gilt 
vorzüglich  von  dem  allgemeinen  Theile  derselben,  welcher  die  Ge- 
sammtform  der  organischen  Individuen  und  die  Beziehungen  ihrer 
verschiedenen  Theile  zur  Aussenvvelt  zu  bezeichnen  hat.  Dass  hier 
nicht  allein  zwischen  allen  verschiedenen  systematischen  Gebieten  die 
grösste  Discrepanz,  sondern  auch  auf  einem  und  demselben  Gebiete 
die  grösste  Uneinigkeit  zwischen  den  verschiedenen  Autoren  herrscht, 
ist  allbekannt;  wir  brauchen  bloss  an  die  Coelenteraten  zu  erinnern. 
Diese  chaotische  Verwirrung  erklärt  sich  aber  ganz  natürlich  aus  der 
mangelhaften  Bestimmung  der  stereometrischen  Grundform  und  der 
unvollkommenen  Unterscheidung  der  Form-Individuen  verschiedener 
Ordnung,  vorzüglich  der  Antimeren.  Sobald  man  diese  scharf  unter- 
scheidet und  ihre  constanten  Beziehungen  stets  im  Auge  behält,  so  er- 
giebt  sich  leicht  eine  strenge  und  allgemein  anwendbare  Bezeichnung 
der  verschiedenen  Körpertheile  und  Körperregionen. 

Ein  Hauptfehler  der  gegenwärtig  noch  herrschenden  Orismologie 
oder  Terminologie  auf  dem  descriptiven  Gebiete  der  Morphologie  liegt 
darin,  dass  man  überall  morphologische  und  physiologische  Bezeich- 
nungen bunt  durch  einander  gebraucht,  und  ohne  sich  bewusst  zu 
werden,  dass  derselbe  Begriff  einen  wesentlich  verschiedenen 
Inhalt  und  Umfang  besitzt,  je  nachdem  man  bloss  an  seine 
morphologische  oder  bloss  an  seine  physiologische  Be- 
deutung denkt.     Die  meisten  Bezeichnungen  sind   weder  das  Eine 


398  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie. 

noch  das  Andere,  sondern  ein  willkührliches  Gemisch  von  Beiden,  und 
daher  entspringt  die  allgemeine  Confusion  und  die  auffallenden  Wider- 
sprüche, welche  gegenwärtig  selbst  über  die  wichtigsten  und  alltäg- 
lichen morphologischen  Begriffe  herrschen.  Man  denke  nur  an  die 
„.Wasserlungen"  der  Holothurien!  So  ist  es  nicht  allein  mit  den  ein- 
zelnen Organen,  sondern  auch  mit  den  Regionen  des  Körpers  und  mit 
den  Seiten,  welche  seine  Oberflächen  begrenzen. 

Nichts  hat  in  dieser  Beziehung  die  klaren  promorphologischen 
Grundverhältnisse  mehr  verhüllt,  als  die  mangelhafte  Unterscheidung 
der  Axen  und  ihrer  Pole  und  eine  wilikührlich  wechselnde  Benennung 
derselben.  Die  Ausdrücke  Vorn  und  Hinten,  Oben  und  Unten  z.  B. 
werden  hier  sehr  allgemein  statt  der  Bezeichnungen  Oral  und  Aboral, 
Dorsal  und  Ventral  gebraucht.  Ebenso  bedient  man  sich  oft  der 
Ausdrücke  horizontale  und  verticale  Axe  statt  longitudinale  und  dorso- 
ventrale  Axe.  Die  ersteren  Bezeichnungen  sind  aber  aus  der  allgemei- 
nen Morphologie  ganz  zu  verbannen,  da  sie  physiologischen  Ursprungs 
sind  und  sich  wesentlich  auf  die  Bewegungsrichtung  des  Organismus 
oder  auf  die  Stellung,  welche  derselbe  zur  Erdaxe  oder  zum  Horizont 
gewöhnlich  einnimmt,  beziehen.  Diese  ist  eben  bei  verschiedenen 
Arten  eine  ganz  verschiedene,  und  selbst  bei  einem  und  demselben 
Individuum  zu  verschiedenen  Zeiten  seines  Lebens  ganz  entgegen- 
gesetzt, während  die  morphologischen  Beziehungen  der  Körpertheile 
zu  einander  constant  sind,  und  also  allein  als  Basis  der  Orismologie 
dienen  können.  So  z.  B.  ist  dieselbe  Axe  (Hauptaxe  oder  Längsaxe), 
welche  beim  Menschen,  beim  Pinguin,  bei  den  Seeigeln  und  Seester- 
nen, bei  den  festsitzenden  Mollusken  und  Strahlthieren  vertical  steht, 
umgekehrt  horizontal  bei  den  meisten  frei  beweglichen  Thieren  und 
den  kriechenden  Pflanzen.  Der  erste  Pol  dieser  Axe,  der  orale  oder 
Mundpol  (Peristomium),  liegt  vorn  bei  den  meisten  frei  beweglichen, 
hinten  bei  den  rückwärts  kriechenden  Thieren,  oben  bei  den  meisten 
festsitzenden  Thieren  und  Pflanzen,  unten  bei  den  kriechenden  Cepha- 
lopoden,  Seeigeln,  Seesternen  etc.  Bei  den  Holothurien,  welche  zu- 
erst auf  der  Mundseite  mit  verticaler  Hauptaxe,  später  auf  der  Bauch- 
seite mit  horizontaler  Hauptaxe  kriechen,  ist  die  Peristomseite,  wTelche 
anfangs  die  uutere  ist,  nachher  die  vordere,  und  die  Antistomseite, 
welche  zuerst  die  obere  ist,  später  die  hintere.  Bei  den  Cephalopoden 
ist  der  Kopf  unten  und  die  Hauptaxe  vertical,  wenn  sie  kriechen,  da- 
dagegen  der  Kopf  hinten  und  die  Hauptaxe  horizontal,  wenn  sie 
schwimmen. 

Diese  wenigen  Beispiele  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  dass  es 
wirklich  ganz  unmöglich  ist,  die  physiologischen  Bezeichnungen 
Vorn  und  Hinten,  Oben  und  Unten  etc.  in  der  Weise,  wie  es  noch 
jetzt  allgemein  in  der  Morphologie  geschieht,  beizubehalten,  ohne  die 


VIII.    Promorphologie  und  Orismologie.  399 

vorhandene  Confusion  noch  mehr  zu  steigern,  und  dass  es  vielmehr 
durchaus  nothwendig  ist,  statt  deren  die  ganz  bestimmten,  unzweifel- 
haften und  constanten  Bezeichnungen  einzuführen,  welche  die  generelle 
Promorphologie  von  den  constanten  und  bei  allen  Organismen  fest  be- 
stimmten Verhältnissen  der  Axen  und  ihrer  Pole  entnimmt.  Durch  diese 
rein  morphologische,  mathematisch -philosophische  und  auf  die  gene- 
relle Promorphologie  gegründete  Orismologie  wird  es  allein  möglich 
werden,  ein  gegenseitiges  Verständniss  der  Naturforscher  auf  allen 
Gebietsteilen  der  organischen  Morphologie  herbeizuführen,  und  den 
grossen  Uebelstand  aufzuheben,  dass  gegenwärtig  jeder  Specialforscher 
in  seinem  beschränkten  Gebiete  ganz  beliebig  identische  Theile  bei 
verschiedenen  Organismen  mit  verschiedenen  Ausdrücken,  und  ver- 
schiedene Theile  mit  identischen  Ausdrücken  belegt.  Jede  strenge 
Orismologie  oder  Terminologie  der  Organismen  kann  sich  nur  auf  die 
morphologische  Erkenntniss  der  Homologieen,  nicht  auf  die  physiolo- 
gische Erkenntniss  der  Analogieen  gründen,  und  in  dieser  Beziehung 
ist  unsere  einzig  feste  Basis  für  die  Bezeichnung  der  verschiedenen 
Körperregionen  und  für  eine  generelle  Topographie  der  Organismen 
die  Promorphologie. 


400  System  der  organischen  Grundformen. 


Dreizehntes  Capitel. 

System  der  organischen  Grundformen. 


„Dich  im  Unendlichen  zu  finden, 
Musst  unterscheiden  und  dann  verbinden." 

Goethe. 


Erste  Klasse  der  organischen  Grundformen. 
Axenlose.     Anaxonia. 

(Acentra.     Organische  Formen  ohne  constante  Mitte). 
Realer  Typus:   Spongilla. 

Sämmtliche  individuelle  Formen  der  Organismen  zerfallen  hin- 
sichtlich ihrer  stereometrischen  Grundform  zunächst  in  zwei  grosse 
Hauptgruppen:  Axenlose  (Anaxonia)  und  Axenfeste  (Axonia).  Die 
Axenlosen  lassen  durchaus  keine  feste  bestimmbare  Grundform  er- 
kennen und  sind  absolut  unregelmässig,  während  die  Axenfesten 
irgend  eine  deutliche,  bezeichnungsfähige  stereometrische  Grundform 
bestimmen  lassen.  Bei  den  Axonien  ist  eine  bestimmte  ideale  Mitte 
des  Körpers  vorhanden,  eine  centrale  Eaumgrösse,  zu  welcher  die 
übrigen  Körpertheile  eine  bestimmte  Beziehung  zeigen.  Diese  Mitte 
(Centrum)  kann  ein  Punkt  (bei  den  Homaxonien  und  Polyaxonien) 
oder  eine  Linie  (bei  den  Protaxonien  mit  Ausnahme  der  allopolen 
Heterostauren),  oder  eine  Ebene  (bei  den  allopolen  Heterostauren) 
sein.  Bei  den  Anaxonien  fehlt  eine  solche  Mitte  vollständig.  Man 
kann  daher  die  Axonien  oder  Axenfesten  auch  als  Centromorpha 
bezeichnen,  als  Gestalten  mit  einer  bestimmten  Mitte,  und  die  Anaxo- 
nien als  Acentra,  als  Gestalten,  bei  denen  eine  solche  Mitte  nicht 
bestimmbar  ist.  Dieser  fundamentale  Unterschied  der  beiden  obersten 
und  allgemeinsten  Hauptgruppen  von  Formen  der  organisirten  Materie 


Axenlose  Grundformen.     Anaxonia.  401 

ist  derselbe,  der  auch  die  beiden  zunächst  unterscheidbaren  und 
wichtigsten  Hauptabtheilungen  von  Formen  der  nicht  organisirten 
Materie  characterisirt;  auch  diese  letztere  erscheint  entweder  amorph 
oder  in  einer  bestimmten  Form,  die  je  nach  dem  Aggregatzustande 
verschieden  ist.  Das  tropfbar  flüssige  Abion  oder  Anorgan  nimmt  im 
vollkommenen  Gleichgewichtszustande  die  Form  des  kugeligen  Tropfens, 
der  Kugel  an;  geht  dasselbe  aber  durch  Krystallisation  aus  dem 
tropfbaren  in  den  festen  Aggregatzustand  über,  so  nimmt  es  die  regel- 
mässige, stereometrisch  bestimmbare  Gestalt  des  Krystalls  an.  Es 
entsprechen  mithin  die  Axonien  oder  Centromorphen  der  organischen 
Körperwelt  den  Kugeln,  Sphaeroidalformen ,  Krystalloiden  und  Kry- 
stalleu  der  anorganischen  Körperwelt,  wie  die  Anaxonien  oder  Acen- 
tren  der  ersteren  den  Amorphen  der  letzteren  vergleichbar  sind. 
Man  hat  daher  auch  wohl  die  anaxonien  Organismen,  welche  auf  den 
niedersten  Organisationsstufen  sehr  verbreitet  sind,  insbesondere  bei 
den  Protisten  (Protozoen)  als  „  Gestaltlose "  oder  Amorphozoa  bezeich- 
net. Doch  ist  dieser  an  sich  richtige  Name  desshalb  schlecht  verwend- 
bar, weil  man  darunter  in  der  Regel  nicht  allein  wirklich  formlose 
Organismen,  wie  die  Amoeben  und  Halisarcen,  sondern  auch  eine 
Menge  bestimmt  geformter  Species  begriffen  hat.  Gewöhnlich  wird 
der  Begriff  Amorphozoa  als  gleichbedeutend  mit  Protozoa  gebraucht 
und  umfasst  als  solcher  die  Spongien,  Rhizopoden,  Infusorien  und 
Protoplasten.  Und  doch  enthalten  gerade  diese  Thierklassen  eine 
grössere  Anzahl  und  Mannichfaltigkeit  von  geometrisch  bestimmbaren 
Grundformen,  als  alle  übrigen  Abtheilungen  des  Thierreichs  zusammen 
genommen.  <    (Vergl.  p.  395). 

Die  organischen  Grundformen,  welche  wir  als  wirklich  echte 
Anaxonien  oder  Acentren  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  bezeich- 
nen müssen,  sind  im  Ganzen  viel  seltener,  als  man  gewöhnlich  an- 
nimmt. Die  Personen,  Metameren  und  Antimeren,  also  die  Form- 
Individuen  fünfter,  vierter  und  dritter  Ordnung  sind  selten  oder  eigent- 
lich niemals  wirklich  acentrisch  oder  anaxon,  da  schon  durch  ihre 
tectologische  Qualität  bestimmte  Axen  in  ihnen  ausgesprochen  sind. 
Häufig  sind  dagegen  vollkommen  anaxonie  Formen  bei  den  Form- 
Individuen  erster  und  zweiter  Ordnung,  den  Piastiden  und  Organen, 
ferner  bei  denen  sechster  Ordnung,  den  Stöcken  (z.  B.  vielen 
Corallenstöcken).  Meist  sind  die  anaxonien  Piastiden  und  Organe 
integrirende  Bestandtheile  von  Form -Individuen  dritter  und  höherer 
Ordnung.  Sehr  viele  Zellen  und  Cytoden  im  pflanzlichen  und  thieri- 
schen  Parenchym  sind  ebenso  vollkommen  acentrisch,  wie  viele  innere 
Organe  der  Thiere  und  äussere  Organe  der  Pflanzen.  Viel  seltener 
sind  dagegen  wirklich  anaxonie  Formen  als  materielles  Substrat  von 
actuellen  Bionten  zu  finden,  so  bei  den  erwähnten  Stöcken,  ausserdem 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  26 


402  System  der  organischen  Grundformen. 

fast  nur  im  Protistenreiche,  bei  denjenigen  Stämmen  der  Organismen- 
weit,  die  auch  in  anderer  Beziehung  auf  der  tiefsten  Stufe  der  Orga- 
nisation stehen.  Vor  Allem  sind  hier  die  einfachsten  Anfänge  des 
Protistenreiches,  Protogenes  und  Protamoeba  zu  nennen,  die  höchst 
wichtigen  und  interessanten  Moneren,  welche  als  vollkommen  structur- 
lose  und  homogene,  nackte  Plasmaklumpen  jeder  bestimmten  Form 
entbehren,  und  vermöge  der  Fähigkeit  der  Moleküle  ihres  festflüssigeu 
Eiweisskörpers,  nach  allen  Richtungen  hin  ihre  gegenseitige  Lage  frei 
zu  ändern,  alle  möglichen  unbestimmbaren  Formen  zeitweise  annehmen 
können  (vergl.  p.  133,  134).  An  diese  vollkommen  formlosen  Mone- 
ren schliessen  sich  unmittelbar  die  echten  Amoeben  (mit  Kern  und 
contractiler  Blase)  an,  deren  stets  sich  verändernde  Körperform  eben- 
falls absolut  unregelmässig  ist,  ferner  einige  nah  verwandte  Proto- 
plasten mit  formlosem  Panzer  (Cyphidium),  einige  Flagellaten  und 
Myxomyceten  und  einige  beschalte  Rhizopoden  niedersten  Ranges,  die 
Gattung  Squamulina  und  Acenulina  unter  den  kalkschaligen  Polytha- 
lamien  (wenigstens  die  typische  Art  derselben,  A.  acmosa).  Die 
mannichfaltigste  Entwickelung  der  Anaxonform  im  Grossen  findet  sich 
in  der  Klasse  der  Spongien,  die  zum  grössten  Theile  dieser  Grund- 
form angehören  dürfte. 

Will  man  einen  concreten  Ausdruck  für  die  acentre  oder  anaxonie 
Körperform  haben,  so  mag  man  sie  als  Klumpen  (Bolus)  bezeich- 
nen. Eine  Zerlegung*  derselben  in  correspondirende  Theile,  welche 
eine  bestimmte  Beziehung  auf  eine  gemeinsame  Mitte  haben,  ist  nie- 
mals möglich,  da  ja  diese  Mitte  selbst  fehlt,  und  weder  ein  Mittel- 
punkt, noch  eine  Mittellinie  (Axe),  noch  eine  Mittelebene  jemals  er- 
kennbar ist.  Doch  lässt  sich  eine  streng  geometrische  Ausmessung 
auch  dieser  amorphen  Formen,  falls  dieselbe  erforderlich  ist,  leicht 
dadurch  herbeiführen,  dass  man  einen  willkührlich  im  Innern  des 
anaxonien  Körpers  angenommenen  Mittelpunkt  durch  gerade  Linien 
mit  allen  Punkten  der  Oberfläche  verbindet,  welche  ungefähr  den 
Ecken  von  polygonalen  Grenzflächen  entsprechen.  Dadurch  zerfällt 
der  ganze  Körper  in  eine  Anzahl  von  irregulären  Pyramiden,  welche 
sich   geometrisch  untersuchen  lassen. 

Zweite  Klasse  der  organischen  Grundformen. 

Axenfeste.     Axonia. 

( Centromorpha.     Slereomelriscli    bestimmbare   organische  Formen   mit  einer 

constanlen  Mille.) 

Alle  organischen  Formen,  welche  nicht  absolut  unregelmässig 
sind,  lassen  stets  eine  feste  Mitte,  ein  Centrum,  erkennen,  in  wel- 
chem bestimmte  Axen  zusammentreffen  oder  durch  welches  mindestens 


Axenfeste  Grundformen.     Axonia.  403 

eine  bestimmte  Axe  geht.  Wir  nennen  sie  deshalb  allgemein  Axen- 
feste "(Axonien)  oder  Mittenfeste  (Centromorphen).  Sämmtliche  Theile 
des  Körpers  nehmen  gegen  diese  Mitte  und  gegen  diese  Axen  eine 
bestimmte  Lage  ein,  so  dass  die  ganze  Gestalt  niemals  absolut  irregu- 
lär, sondern  stets  entweder  regulär  (einaxig,  Jäger),  oder  symmetrisch 
(zweiaxig,  Jäger)  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  ist.  Es  kann  also 
stets  mindestens  eine  Halbirungs-Ebene  durch  den  Körper  gelegt 
werden,  welche  denselben  in  zwei  congruente  oder  symmetrisch  gleiche 
oder  doch  symmetrisch  ähnliche  Hälften  theilt.  Die  Mitte,  auf  welche 
sich  alle  Körpertheile  beziehen,  kann  entweder  ein  Punkt  (Stigma), 
oder  eine  Linie  (Axon),  oder  eine  Fläche  (Epiphania)  sein;  letztere 
ist  gewöhnlich  eine  Ebene  (Epipedum).  Nach  diesem  Verhalten  kön- 
nen wir  alle  Axenformen  in  drei  wesentlich  verschiedene  Hauptgruppen 
zusammenstellen:  I.  Centrostigma;  die  Mitte  ist  ein  Punkt; 
alle  Axen  gehen  durch  diesen  Mittelpunkt  (Stigma  centrale); 
dies  ist  der  Fall  bei  allen  Homaxonien  und  bei  allen  Polyaxonien. 
II.  Centraxonia;  die  Mitte  ist  eine  Linie,  und  zwar  gewöhnlich 
eine  gerade  Linie;  diese  Linie  ist  die  Hauptaxe  (Axon  principa- 
lis);  alle  übrigen  Axen  müssen  durch  diese  Hauptaxe  gehen;  dies 
findet  statt  bei  allen  Protaxonien,  mit  Ausnahme  der  Zeugiten  oder 
allopolen  Heterostauren;  es  gehören  also  hierher  alle  Monaxonien,  alle 
homopolen  Stauraxonien  und  von  den  heteropolen  Stauraxonien  alle 
Homostauren  und  die  autopolen  Heterostauren.  111.  Centrepipeda; 
die  Mitte  ist  eine  Fläche  und  zwar  gewöhnlich  eine  ebene  Fläche 
oder  Ebene.  Diese  Ebene  ist  die  Medianebene  (Superficies 
sagittalis)  und  in  derselben  liegt  die  Hauptaxe  und  eine  der  beiden 
darauf  senkrechten  Richtaxen,  während  die  andere  zugleich  auf  der 
Medianebene  senkrecht  steht.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  säinmtlichen 
Zeugiten  oder  allopolen  Heterostauren,  die  man  desshalb  auch  Centre- 
pipeda nennen  kann;  dahin  gehören  alle  amphipleuren  und  zygopleuren 
Formen  (bilateral-symmetrische  im  Sinne  der  meisten  Autoren). 

Wenn  wir  diejenigen  durch  den  Körper  gelegten  Ebenen,  die 
denselben  entweder  in  zwei  congruente  oder  in  zwei  symmetrisch 
gleiche  oder  in  zwei  symmetrisch  ähnliche  Hälften  zerlegen,  Halbi- 
rungsebenen  nennen,  so  ist  bei  den  Centrepipeden  nur  eine  ein- 
zige Halbiiungsebene  vorhanden  und  diese  ist  identisch  mit  der 
Medianebene.  Der  Körper  besteht  hier  aus  zwei  symmetrisch  gleichen 
oder  zwei  symmetrisch  ähnlichen,  aber  niemals  aus  zwei  congruenten 
Theilötücken.  Bei  den  Centraxonien  sind  mehrere,  mindestens  zwei 
Halbirungsebenen  vorhanden,  welche  aber  sämmtlich  durch  die  Haupt- 
axe gehen  müssen,  und  welche  diese  Mittellinie  gemeinsam  haben. 
Der  Körper  besteht  hier  stets  entweder  aus  zwei  congruenten  Theil- 
stücken   oder  aus  mehr  als  zwei  Theilstücken,  von  denen  mindestens 

26* 


404  System  der  organischen  Grundformen. 

zwei  und  zwei  congruent  sind.  Bei  den  Centrostigmen  endlich 
sind  mehrere,  mindestens  drei  Halbirungsebenen  vorhanden,  welche 
alle  nur  einen  Punkt,  den  Mittelpunkt,  gemeinsam  haben,  sonst  aber 
in  allen  möglichen  Pachtungen  des  Raumes  liegen  können.  Der  Kör- 
per besteht  hier  stets  aus  mehreren,  mindestens  aus  vier  congruenten 
oder  doch  nahezu  congruenten,  seltener  bloss  ähnlichen  Theilstücken. 
Nach  diesen  fundamentalen  und  sehr  wichtigen  Unterschieden  in 
den  Beziehungen  aller  Körpertheile  zu  einer  gemeinsamen  Mitte  zer- 
fallen also  die  sämmtlichen  Centromorphen  oder  Axonien  in  die  drei 
principalen  Formengruppen  der  Centrostigmen,  Centraxonien  und 
Centrepipeden  (Zeugiten).  Wenn  wir  nun  die  weiteren  Unterschiede 
der  zahlreichen  Grundformen,  die  hierher  gehören,  richtig  erkennen 
und  würdigen  wollen,  so  müssen  wir  zunächst  die  Eigenschaften  der 
Axen  ihres  Körpers  und  demnächst  der  Pole  dieser  Axen  näher  be- 
stimmen. In  dieser  Beziehung  lassen  sich  nun  sänimtliche  Axonien 
oder  Centromorphen  in  zwei  Hauptgruppen  vertheilen,  in  Gleichaxige 
(Homaxonia)  und  in  Ungleichaxige  ( Heteraxonia).  Bei  den 
ersteren  sind  alle  Axen,  die  sich  durch  die  Mitte  des  Körpers  legen 
lassen,  absolut  gleich,  bei  den  letzteren  dagegen  ungleich.  Die  Zahl 
der  gleichen  Axen,  die  durch  die  Mitte  gelegt  werden  können,  ist 
zugleich  bei  ersteren  unendlich  gross,  bei  letzteren  beschränkt.  Die 
Homaxonform  kann  nur  eine  einzige  sein,  die  Kugel,  während  die 
Heteraxonform  äusserst  manuichfaltig  differenzirt  ist.  Die  Homaxonien 
und  die  Heteraxonien,  als  die  beiden  ursprünglichsten  und  allgemein- 
sten Formarten  der  organisirteu  centromorphen  Materie,  entsprechen 
zugleich  den  beiden  ursprünglichsten  und  allgemeinsten  Gestaltungs- 
weisen, in  welchen  der  nicht  organisirte  geformte  Stoff  im  flüssigen 
und  im  festen  Aggregatzustande  auftreten  kann,  der  Kugel  und  dem 
Krystall.  Die  Kugelform ,  welche  das  Anorgan  im  tropfbar  flüssigen 
Aggregatzustande  und  im  vollkommenen  Gleichgewicht  als  Tropfen 
zeigt,  ist  dieselbe,  welche  der  homaxonie  Organismus  insbesondere 
auf  der  ersten  Formstufe  als  festfliissige  Plastide  so  oft  annimmt. 
Die  Heteraxonform  der  Organismen  lässt  sich  stets  auf  gewisse  ein- 
fache geometrische  Grundformen  zurückführen,  welche  den  Krystall- 
formen  der  festen  Mineralien  entsprechen  und  zum  Theil  sogar  mit 
diesen  identisch  sind. 

Erste  Unterklasse  der  Axonien  oder  Centromorphen. 

Gleichaxige.    Homaxonia. 

Stereo  metrische  Grundform:  Kugel. 

Realer  Typus:  Sphaerozoum  (oder   Volvox). 

Die  Eigenschaften  der  Kugel,   welche   die  einzig  mögliche  Hom- 
axonform und  zugleich   der  einzige    absolut   reguläre  Körper  ist,  sind 


Gleichaxige  Grundformen.     Homaxonia.  405 

so  bekannt,   dass   dieselben  hier  nicht  erörtert  zu  werden  brauchen. 
Da  alle  Punkte  der  Oberfläche  gleich  weit  vom  Mittelpunkte  entfernt 
sind,  so  ist  eine  Unterscheidung  bestimmter  Axen  nicht  möglich.     Die 
unendlich  vielen  Axen,  welche  sich  durch  den  Mittelpunkt  der  Kugel 
legen  lassen,    sind  sämmtlich  absolut   gleich.     Die  rem  geometrische 
Kugelform  ist  in  der  Organismenwelt  vielfach  verkörpert,   vorzüglich 
in  den  Form-Individuen  erster  Ordnung,  den  Piastiden  (sowohl  Cyto- 
den  als  Zellen).     Bei  sehr  Arielen  Thicren,   Protisten  und  Pflanzen  ist 
diejenige  Plastide,  welche  als  virtuelles  Bion  das  ganze  physiologische 
Individuum   potentia  repräsentirt,   das  Ei   oder   die   Spore,   eine  voll- 
kommen   reguläre    Kugel.     Aber    auch    im    entwickelten    Organismus 
behalten  viele  Zellen,  als  Individuen  erster  Ordnung,  die  geometrische 
Kugelform  bei,  so  z.  B.  viele  Blut-Zellen,  Pollen -Zellen  etc.     Ferner 
stellen    viele    Organe    oder    Form -Individuen    zweiter    Ordnung    die 
Kugelform  ganz  regelmässig  dar,    so  z.  B.   die   Centralkapseln  vieler 
Radiolarien,   die  Sporangien  vieler  Cryptogamen  etc.     Selbst  actuelle 
Bionten  vom  Formwerth    eines  Organs  behalten  bisweilen    die    reine 
Kugelform  bei,  so  die  Colonieeu  vieler  frei  im  Wasser  schwimmender 
oder  schwebender  Organismen,  z.  B.  Spliaerozoum,   Vulvox,  Pandorina 
etc.     Sehr  selten   nur   ist  die  reine  Kugelform   in  Individuen  vierter, 
fünfter  und  sechster  Ordnung  verkörpert.     Unter  den  Radiolarien  ge- 
hören   dahin    die    meisten    Colliden,    namentlich   die  Thalassicolliden 
(Thalassicolla,   Thalassolampe)  und   die  Thalassosphaeriden  (Physema- 
tium,  Thalassosphaera ,   Thalassoplancta)  (Rad.  Taf.  I — III),  ferner  die 
kugeligen  Individuen   der  meisten  Radiolarien- Colonieeu,   namentlich 
der  Sphaerozoideu  (Collozoitm,  Sphaerozoum,  Rhaphidozoum),  bei  denen 
überdies   oft   noch   die  Colonieeu   selbst,   sowie  alle   einzelnen  Form- 
elemente innerhalb  der  sphärischen  Centralkapsel  die  Kugelform  rein  be- 
wahren (Ha e ekel,  Monographie  der  Radiolarien,  Taf.  XXXII — XXXV.) 
Die    Sphaerozoideu    dürften    demgemäss    am    passendsten   als  die 
concreten  Repräsentanten  der  Homaxonform  bezeichnet  werden. 

Zweite  Unterklasse  der  Axonien  oder  Centromorphen. 

Ungleichaxige.     Iteteraxonia. 

Heteraxonieu  oder  ungleichaxige  Centromorphen  nennen  wir  alle 
diejenigen  organischen  Formen,  welche  eine  endliche  Anzahl  von  be- 
stimmten Axen  unterscheiden  lassen,  die  von  allen  übrigen,  durch 
das  Centrum  gelegten  Axen  verschieden  sind.  Hierher  gehören  alle 
diejenigen  Gestalten  der  orgauisirten  Materie,  die  im  Allgemeinen  den 
Krystallformen  des  nicht  organisirten  Mineralstoffes  vergleichbar  und 
in  der  That  zum  Theil  von  ihnen  nicht  zu  unterscheiden  sind.  Wie 
bei  den  Krystallen  geschieht,   werden  wir  der  Betrachtung  der  Ober- 


406  System  der  organischen  Grundformen. 

flächen  und  ihrer  Beziehungen  nur  einen  secundären  Werth  beilegen 
können  und  in  erster  Linie,  um  die  Grundformen  der  verschiedenen 
Heteraxonien  zu  bestimmen,  die  Axen  des  Körpers  und  deren  Pole 
aufsuchen  und  ihre  Gleichheit  oder  Ungleichheit  (Differenzirung)  be- 
rücksichtigen müssen. 

In  dieser  Beziehung  zerfällt  nun  die  ganze  Masse  der  ungleich- 
axigen  Organismen  abermals  in  zwei  grosse  Lager.  Bei  den  Einen 
ist  eine  bestimmte  Hauptaxe  des  Körpers  erkennbar,  welche  von  allen 
Axen  bestimmte  Verschiedenheiten  zeigt;  bei  den  Anderen  dagegen 
sind  alle  bestimmbaren  Axen  von  gleichem  Werthe  oder  es  sind 
wenigstens  mehrere  (mindestens  drei)  Hanptaxen  vorhanden,  die  vor 
den  übrigen,  unbedeutenderen  Axen  sich  auszeichnen,  unter  sich  aber 
nicht  verschieden  sind.  Die  letzteren,  die  Heteraxonien  mit  zwei  oder 
mehreren  Hauptaxen,  nennen  wir  Vielaxige,  Polyaxonia,  wogegen 
die  ersteren,  die  Ungleichaxigen  mit  einer  einzigen  Hauptaxe,  am 
passendsten  als  Hauptaxige,  Protaxonia,  bezeichnet  werden.  Bei 
den  Polyaxonien  ist,  wie  bei  den  Homaxonien,  die  Mitte  des  Körpers 
noch  ein  Punkt,  während  dieselbe  bei  den  Protaxonien  eine  Linie, 
oder  (bei  den  allopoleu  Heterostauren)  eine  Ebene  ist. 

Erste  Ordnung  der  HeteraxonieD : 
Vielaxige.     Polyaxonia. 

Stereometrlsclie  Grundform:  Endnsplwerisches  Polyeder. 

Die  allgemeine  Grundform  der  Polyaxonien  ist  ein  endosphä- 
risches  Polyeder,  d.  h.  ein  Polyeder,  dessen  Ecken  sämmtlich  eine 
einzige  Kugelfläche  berühren.  Das  Centrum  dieser  Kugel  ist  zugleich 
der  Mittelpunkt  des  Polyeders,  und  die  Axen  des  Polyeders  erhalten 
wir  dadurch,  dass  wir  alle  Ecken  desselben  mit  dem  Centrum  durch 
gerade  Linien  verbinden.  Keine  einzelne  von  diesen  Axen  ist  vor 
den  übrigen  so  ausgezeichnet,  dass  sie  als  Hauptaxe  bezeichnet  werden 
könnte.  Es  schliesst  sich  diese  vielaxige  Grundform  offenbar  zunächst 
an  die  absolut  regelmässige  Kugelform  an  und  unter  den  Radiolaricn 
giebt  es  eine  Anzahl  von  Bionten,  welche  eben  so  gut  den  Einen  wie 
den  Anderen  zugerechnet  werden  könnten.  Unter  den  Piastiden 
zeigen  insbesondere  viele  Pollen  Körner  diese  Grundform  sehr  rein. 
Form -Individuen  vierter  Ordnung  bildet  dieselbe  sehr  häufig  in  der 
Ptadiolarienklasse,  und  zwar  bei  actuellen  Bionten.  Ausserdem  scheint 
die  Polyaxon- Gestalt  nur  sehr  selten  als  Grundform  der  Organismen 
aufzutreten. 

Wie  in  der  Stereometrie  die  Polyeder  in  reguläre  und  irreguläre 
eingetheilt  werden,  so  können  wir  diese  Eintheilung  auch  auf  diejenigen 


Endospkaer-polyedrische  Grundformen.     Polyaxonia.  407 

Organismen  anwenden,  in  denen  die  Polyaxonform  realisirt  ist.  Dabei 
halten  wir  für  das  reguläre  Polyeder  die  geometrische  Definition  fest, 
dass  sämmtliche  dasselbe  begrenzende  Flächen  reguläre  und  congruente 
Polygone  sind.  Bekanntlich  beweist  die  Stereometrie,  dass  nur  fünf 
Arten  von  absolut  regulären  Polyedern  möglich  sind,  nämlich:  1)  das 
Tetraeder;  2)  das  Octaeder;  3)  das  Icosaeder;  4)  das  Hexaeder; 
5)  das  Dodecaeder.  Alle  übrigen  Polyeder  sind  als  irreguläre  zu  be- 
zeichnen. Die  uuregelmässigen  endosphaerischen  Polyeder  oder  die 
Polyaxonia  arrhythma  sind  unter  den  Radiolarien-Bionten  und 
unter  den  Pollen -Zellen  weit  zahlreicher  verkörpert,  als  die  regel- 
mässigen Polyeder  oder  die  Polyaxonia  rhythmica.  Doch  kom- 
men auch  alle  Arten  der  letzteren  bisweilen  in  geometrisch  reiner 
Form  realisirt  in  organischen  Individuen  vor. 


e* 


Erste  Unterordnung  der  Polyaxonien : 
Irreguläre  Vielaxige.     Polyaxonia  arrhythma. 

SlereoiHelrische  Grundform:  Irreguläres  endosphaerisches  Polyeder. 

Zu  den  arrhythmen  Polyaxonien  müssen  wir  alle  diejenigen  endo- 
sphärischen  Polyeder  rechnen,  deren  Grenzflächen  theilvveis  ungleich,  nicht 
sämmtlich  reguläre  und  congruente  Polygone  sind.  Es  gehören  hier- 
her sehr  zahlreiche  Pollenkörner,  auch  einige  kugelige  Sporen  und 
Eier  mit  irregulär  netzförmiger  Oberfläche,  ferner  von  den  Radiolarien 
die  meisten  Species  aus  den  formenreichen  Familien  der  Ethmosphae- 
riden,  Aulosphaeriden,  Cladococciden,  Ommatiden,  Collosphaeriden, 
und  viele  einzelne  Formen  aus  anderen  Kacliolarien -Familien.  Bei 
allen  diesen  polyaxonien  Radiolarien  besteht  der  geformte  Theil  des 
Körpers  aus  einer  weichen  kugeligen  Centralkapsel  und  aus  einer 
kugeligen  Kieselschale,  welche  die  erstere  concentrisch  umschliesst 
und  welche  sich  häufig  als  ein  System  von  mehreren  concentrischen, 
durch  Radialstäbe  verbundenen,  kugeligen  Kieselschalen  innerhalb  oder 
ausserhalb  der  Centralkapsel  wiederholt.  Da  die  Kugeln  meistentheils 
ganz  regelmässig  gebildet,  genau  concentrisch  um  den  gemeinsamen 
Mittelpunkt  geordnet  und  durch  regelmässige  Radialstäbe  verbunden 
sind,  so  könnte  mau  vielleicht  geneigter  sein,  diese  Formen  noch  den 
Homaxonien  zuzuzählen.  Doch  sind  die  Kieselschalen  stets  von 
Gitterlöchern  durchbrochen,  die  meistens  sehr  regelmässig  vertheilt 
und  von  gleicher  oder  fast  gleicher  Grösse  sind.  Durch  die  Mittel- 
punkte dieser  Gitterlöcher  und  das  Centrum  der  Kugel  lassen  sich 
Axen  legen,  die  verschieden  sind  von  denjenigen,  welche  durch  das 
Centrum  und  durch  die  Knotenpunkte  des  Kieselnetzwerks  zwischen 
den  Gitterlöchern  gelegt  werden  können.  Auch  sind  sehr  häufig  diese 
letzteren   Axen  in  Form   radialer    Kieselstacheln    verkörpert    und    oft 


408  System  der  organischen  Grundformen. 

sehr  mächtig1  entwickelt.  Man  braucht  bloss  die  Spitzen  dieser  Kiesel- 
radien durch  Linien  zu  verbinden,  und  durch  die  benachbarten  Linien 
Flächen  zu  legen,  um  ein  endosphärisches  Polyeder  zu  erhalten. 
Ausserdem  ist  oft  schon  durch  die  Form  der  Gitterlöcher  oder  durch 
die  Verbindungs weise  der  sie  begrenzenden  Zwischenbalken,  oft  auch 
durch  besondere  Sculptur  der  Gitterschale  die  Grundform  des  arrhyth- 
men  endosphärischen  Polyeders  deutlich  genug  ausgesprochen.  Die 
Zahl  und  Form  seiner  Grenzflächen  ist  so  mannichfaltig  und  ver- 
schiedenartig, dass  sich  im  Allgemeinen  nichts  Bestimmtes  darüber 
sagen  lässt. 

Die  merkwürdigste  Formähnlichkeit  mit  diesen  polyaxonien  Ra- 
diolarien  zeigen  zahlreiche  Pollen- Körner  von  Phanerogamen,  oft  in 
einer  so  überraschenden  Weise,  dass  man  beide  gänzlich  verschiedene 
Objecte  verwechseln  könnte.  Insbesondere  ist  es  der  Pollen  von 
Malvaceen,  welcher  kaum  von  den  Kieselschalen  gewisser  Ethniosphae- 
riden  und  Collosphaeriden  zu  unterscheiden  ist.  Die  Pollenzellen  von 
Sida  abutilon  und  Phlox  undulata  besitzen  genau  dieselbe  complicirte 
Sculptur,  wie  die  Schale  von  Ethmosphaera,  Heliosphaera  etc. 

Die  grosse  Menge  verschiedener,  meist  durch  grosse  Zierlichkeit 
und  Schönheit  der  Architectur  ausgezeichneter  Formen,  welche  die 
arrhythmen  polyaxonien  Radiolarien  aufzuweisen  haben,  können  wir 
im  Allgemeinen  in  zwei  verschiedene  Gruppen  ordnen.  Bei  den  Einen 
sind  die  polygonalen  Grenzflächen  des  endosphärischen  Polyeders  alle 
von  einerlei  Art,  d.  h.  alle  von  der  gleichen  Anzahl  von  Seiten  und 
Wiukeln  begrenzt;  bald  sind  alle  Flächen  des  Polyeders  dreieckig, 
bald  sechseckig  u.  s.  w. ;  diese  können  daher  Isopolygona  heissen. 
Bei  den  Anderen  sind  dagegen  die  Grenzflächen  des  Polyeders  sämmt- 
lich  oder  doch  theilweis  nicht  von  einerlei  Art;  die  Zahl  der  Seiten 
und  Winkel  ist  wenigstens  bei  einigen  polygonalen  Grenzflächen 
verschieden  von  der  der  andern.  Diese  im  Allgemeinen  unregel- 
mässigeren  Formen  können  als  Allopolygona  bezeichnet  werden. 

Erste  Gattung  der  arrhythmen  Polyaxonien. 

Ungleichvieleckige.     Allopolygona. 

Slereometrische  Grundform:  Irreguläres  endosphaerisches  Polyeder  mit 

itngleichviel  eckigen  Seile)} . 
Realer  Typus:  Rhizosphaera  (Taf.  II,  Fig.  15). 

Diejenigen  endosphärischen  Polyeder,  deren  Seitenflächen  nicht 
alle  ein  und  dieselbe  Anzahl  von  Seiten  und  Winkeln  haben,  und 
welche  wir  hier  als  Allopolygone  zusammenfassen,  bilden  die  Grund- 
form der  Bionten  bei  zahlreichen  Radiolarien  aus  verschiedenen  Fa- 
milien.    Es   gehören  dahin  die  Gattungen  Cyrtidosphaera  und  Arach- 


Endosphaer-polyedrische  Grundformen.     Polyaxonia.  409 

nosphaera  von  den  Ethmosphaeriden  (Rad.  Taf.  X,  Fig.  2,  3,  Taf. 
XI,  Fig.  2—4),  ein  Theil  der  Cladococciden  (Taf.  XIII,  XIV),  Actin- 
elius  von  den  Acanthometriden,  ferner  viele  Ommatiden ,  z.  B. 
Haliomma  capillaceum,  H.  erinaceus  (Taf.  XXIII,  Fig.  2—4),  ferner 
von  den  Sponguriden  die  Gattungen  Rhizosphaera  (Taf.  XXV),  Spon- 
godiclyum  (Taf.  XXVI,  Fig.  4— ß),  dann  die  Polycyttarien  -  Gattung 
CoUosphaera  (Taf.  XXXIV)  und  viele  andere  subsphärische  Radiola- 
rien.  Dieselbe  Form,  oft  kaum  zu  unterscheiden,  zeigen  viele  Zellen 
des  pflanzlichen  Pollens.  Wo  bei  diesen  Formen  die  endosphärische 
Polyeder-Form  nicht  schon  in  der  Gitterbildung  der  Schale  deutlich 
ausgesprochen  ist,  da  wird  sie  sofort  klar,  sobald  man  die  Spitzen 
der  benachbarten  Radialstacheln  durch  Linien  verbindet  und  durch 
je  zwei  benachbarte  Linien  eine  Fläche  legt. 


Zweite  Gattung  der  arrhythmen  Polvaxonien. 

Gleiehvieleekige.     Isopolygona. 

Stereometrische  Grundform:  Irreguläres  endosvhuerisches  Polyeder  mit 

gleichviel  eckigen  Seiten. 

Realer  Typus:  Ethmosphaera  (Taf.  II,  Fig.  16). 

Noch  deutlicher  und  bestimmter,  als  bei  den  Allopolygonen,  tritt 
die  endosphärische  Polyeder-Form  bei  denjenigen  Grundformen  auf, 
die  wir  Isopolygone  nennen,  weil  die  Anzahl  der  Seiten  und  Winkel, 
welche  ihre  Seitenflächen  begrenzen,  bei  allen  Flächen  dieselbe  ist. 
Viele  von  diesen  nähern  sich  schon  sehr  dem  regulären  Polyeder, 
indem  die  Mehrzahl  ihrer  Grenzflächen  aus  ganz  ähnlichen  oder  theil- 
weis  selbst  congruenten  (oder  doch  fast  congruenten)  regulären  Poly- 
gonen gebildet  wird,  und  nur  die  wenigen  Grenzflächen,  welche 
zwischen  die  congruenten  zur  Vervollständigung  der  Kugelform  not- 
wendig eingeschaltet  werden  müssen,  um  ein  Weniges  von  jenen  ver- 
schieden sind.  Die  Zahl  der  Seiten  und  Winkel  ist  in  allen  Polygonen 
stets  die  gleiche.  Je  nachdem  die  Polygone  Dreiecke,  Vierecke, 
Sechsecke  u.  s.  w.  sind,  Hesse  sich  hier  eine  Anzahl  von  untergeord- 
neten Grundformen  unterscheiden  (trigonale,  tetragonale,  hexagonale 
Arten  der  Isopolygone).  In  höchst  ausgezeichneter  Weise  tritt  die 
Isopolygon- Form  in  vielen  Pollen-Körnern  und  in  den  Kieselschalen 
vieler  Radiolarien  jnit  kugeliger  Centralkapsel  auf.  Unter  den  letzteren 
ist  besonders  die  zierliche  Aulosphaera  hervorzuheben,  die  eine  be- 
sondere, sehr  merkwürdige  Familie  der  Radiolarien  bildet  (Rad.  Taf. 
X,  Fig.  4,  5;  Taf.  XI,  Fig.  5).  Die  kugelige  Gitterschale,  von 
1—2 Durchmesser,  ist  hier  aus  lauter  dreieckigen  Maschen  zu- 
sammengesetzt,   die    grösstenteils    congruente    gleichseitige    Dreiecke 


410  System  der  organischen  Grundformen. 

sind;  nur  einzelne  sind  ein  wenig-  grösser  oder  kleiner,  als  die  übrigen. 
In  jedem  Knotenpunkt  steht  ein  radialer  Stachel.  Verbindet  man  die 
Spitzen  aller  Stacheln,  die  säinmtlich  gleich  lang  sind,  durch  Linien 
und  legt  durch  diese  Linien  Ebenen,  so  erhält  man  ein  zweites 
grösseres  endosphärisches  Polyeder,  welches  dem  inneren  kleineren 
concentrisch  ist  und  dessen  Maschen  ebenfalls  sämmtlich  annähernd 
gleichseitige  und  congruente  Dreiecke  sind.  Bisweilen  scheint  sich 
die  Zahl  der  congruenten  Dreiecke  auf  zwanzig  zu  beschränken  und 
dann  geht  die  Form  in  die  des  regulären  Icosaeders  über.  Bei  vielen 
Radiolarien  ist  die  isopolygone  Gitterkugel  aus  einer  grossen  Anzahl 
von  Sechsecken  zusammengesetzt,  die  ebenfalls  grösstentheils  regulär 
und  congruent  oder  doch  wenigstens  subregulär  sind,  so  bei  Ethiito- 
sphaera,  Heliosphaera  inevmis,  H.  tenuissima  (Taf.  IX,  Fig.  1,  2;  Taf. 
XI,  Fig.  1),  ferner  bei  vielen  Cladococciden  (Taf.  XIII,  XIV),  vielen 
Ommatiden  (Taf.  XXIV,  Fig.  1,  4,  5)  etc.  Ganz  dieselbe  ausgezeichnet 
zierliche  und  regelmässige  Form  tindet  sich  bei  vielen  Pollenzellen, 
namentlich  von  Malvaceen.  Besonders  ist  der  Pollen  von  Phlox  undu- 
lata  und  Sida  abutilon  durch  seine  merkwürdige  Aehnlichkeit  mit  der 
Kieselschale  von  Ethmosphaera  überraschend.  Ferner  ist  unter  den 
Kadiularieu  sehr  ausgezeichnet  die  merkwürdige  Diplosphaera  gracilis, 
deren  Kieselskelet  aus  zwei  concentrischen  endosphaerischen  Polyedern 
besteht,  einem  inneren  mit  subregulären  sechseckigen  und  einem 
äusseren  mit  subregulären  quadratischen  und  rechteckigen  Grenz- 
flächen (Taf.  X,  Fig.  1).  Doch  muss  diese,  wie  viele  andere  ähnliche 
arrhythme  Polyaxonformen  aus  verschiedenen  Radiolarien  -  Familien, 
wegen  der  zwanzig  nach  Müller's  Gesetz  vertheilten  radialen  Haupt- 
stacheln vielmehr  zu  den  Isostauren  (homopolen  Stauraxonien)  gerech- 
net werden,  welche  die  Grundform  des  Quadrat-Octaeders  haben. 


Zweite  Unterordnung  der  Polyaxonien. 
Reguläre  Vielaxige.     Polyaxonia  rhythmica. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläres  endosphärisches  Polyeder. 

Viel  seltener  als  die  arrhythmen  oder  irregulären  sind  die  rhyth- 
mischen oder  regulären  Polyaxonien  in  organischen  Individuen  zu 
finden.  Sie  verdienen  aber  desshalb  ein  besonderes  Interesse,  weil 
sie  nächst  der  Kugel  die  regelmässigsten  aller  Körper  sind.  Solche 
vollkommen  regelmässige,  in  geometrischem  Sinne  reguläre  Polyeder, 
die  unter  den  Mineralformen  als  Krystalle  des  regulären  uder  tesse- 
ralen  Systems  sehr  häufig  vorkommen,  sind  uns  aus  der  Organismen- 
Welt  nur  bekannt  von  den  Pollen-Körnern  vieler  Phanerogamen,  von 
den   Antheridien  der  Characeen   und   von  den  Kieselschalen    einiger 


Regulär-polyedrische  Grundformen.     Polyaxonia  rhythmica.  411 

Radiolarien.  Unter  letzteren  finden  sie  sich  ganz  scharf  und  klar 
ausgebildet  bloss  in  der  Familie  der  Ommatiden,  in  einzelnen  Arten 
der  Gattungen  Haliomma  und  Aclinomma,  ferner  bei  Aulosphaera  und 
in  der  Spicula  einiger  Sphaerozoiden.  Alle  fünf  Arten  von  regulären 
Polyedern,  welche  die  Geometrie  als  die  einzig  möglichen  absolut 
regulären  Polyeder  nachweist,  sind  in  gewissen  organischen  Formen 
realisirt,  nämlich:  1)  das  Icosaeder;  2)  das  Dodecaeder;  3)  das  Oc- 
taeder;  4)  das  Hexaeder;  5)  das  Tetraeder. 

Erste  Art  der  rhythmischen  Polyaxonien. 
Regelmässige  Zwanzigflächner.     Icosaedra  regularia. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläres  Polyeder  mit  zwanzig  dreieckigen  Seiten. 
Realer  Typus:   Aulosphaera   icosaedra  (Tai  II,  Fig.  17). 

Das  reguläre  Icosaeder,  dessen  Grenzflächen  zwanzig  gleichseitige 
und  congruente  Dreiecke  sind  ist  von  allen  regulären  Polyedern  am 
seltensten  in  organischen  Formen  verkörpert,  nämlich,  so  viel  uns 
bekannt,  nur  in  einem  einzigen  Radiolar,  in  Aulosphaera  icosaedra1) 
und  vielleicht  auch  in  einigen  Pollenkörnern,  deren  kugelige  Schale 
von  zwanzig  kreisrunden  Poren  durchbohrt  ist,  welche  die  Mitte  von 
ebenso  vielen  gleichseitig  dreieckigen  Feldern  bilden.  Die  zwanzig 
Antimeren,  welche  das  reguläre  Icosaeder  zusammensetzen,  sind 
zwanzig  congruente  gleichseitig  dreieckige  Pyramiden,  deren  Kanten 
bei  Aulosphaera  in  sehr  zierlicher  Weise  durch  die  feinen  radialen 
Sarcodeladen  angedeutet  werden,  welche  von  der  Oberfläche  der 
kugeligen  Centralkapsel  nach  den  Knotenpunkten  der  Gitterschale 
gehen  und  sich  in  die  zwanzig  radialen  Stacheln  hinein  fortsetzen. 
Die  Seiten  der  Basis  sind  von  drei  gleichen  tangentialen  Kieselröhren 
gebildet.  Wir  haben  Aulosphaera  bereits  vorher  unter  den  Isopoly- 
gonen aufgeführt,  weil  bei  den  beiden  uns  genauer  bekannten  Arten, 
A.  trigonopa  und  A.  elegantissima,  die  kugelige  Gitterschale  gewöhn- 
lich eine  weit  grössere  Anzahl  von  subregulären  congruenten  Drei- 
ecken zeigt,  als  zwanzig.  Doch  ist  es  wohl  möglich,  dass  auch  diese 
beiden  Arten  im  Jugendzustande  vorübergehend  die  Icosaeder-Form 
mit  zwanzig  Maschen  zeigen,  welche  A.  icosaedra  vielleicht  permanent 
besitzt  (vergl.  Rad.  p.  357,  Taf.  X,  Fig.  4,  5;  Taf.  XI,  Fig.  5,  6). 

')  Die  Form,  welche  ich  hier  als  Aulosphaera  icosaedra  bezeichne,  kann 
ich  leider  nicht  mit  voller  Sicherheit  als  eine  selbstständige  „gute  Art"  aufführen, 
da  ich  nur  ein  vollständiges  Exemplar  derselben  beobachtet  habe.  Abgesehen  von 
der  geringen  Grösse  und  den  zwanzig  Netzmaschen  war  dieses  zierliche  Wesen 
nicht  von  den  gewöhnlichen  Exemplaren  der  Aulosphaera  trigonopa,  die 
viel  zahlreichere  Maschen  besitzen,  verschieden,  ist-  also  vielleicht  nur  ein  Ju- 
geudzustand  derselben. 


412  System  der  organischen  Grundformen. 

Zweite  Art  der  rhythmischen  Polyaxonien. 
Regelmässige  Zwölfflächner.     Oodecaedra  regularia. 

Stereometrische   Grundform:    Reguläres  Polyeder    mit  zwölf  fünfeckigen  Seiten. 
Realer  Typus:   Pollenvon  Bitchohia  maritima,   (Taf.  II,  Fig.  18). 

Das  reguläre  Dodecaeder  oder  das  Pentagonal-Dodecaeder,  dessen 
Grenzflächen  zwölf  gleichseitige  und  congruente  Fünfecke  sind,  findet 
sich  in  stereometrisch  reiner  Form  in  den  Pollenkörnern  vieler  Pha- 
nerogamen  verkörpert,  so  namentlich  von  Bucholzia  maritima,  Rivina 
brasiliensis ,  Bauisteria  oersicolor,  Famaria  spicata,  Polygonum  umphi- 
bium  etc.  Die  zwölf  fünfeckigen  Seitenflächen  sind  bisweilen  voll- 
kommen eben,  nur  von  einem  centralen  kreisrunden  Loche  durchbohrt, 
und  dann  ist  die  reine  geometrische  Form  so  vollkommen  in  diesen 
zierlichen  Zellen  verkörpert,  als  man  es  nur  erwarten  kann.  Die 
Kanten  sind  bisweilen  durch  einen  erhöhten  Rand  ausgezeichnet. 
Das  andere  Mal  ist  die  ganze  Pollenzelle  kugelig  und  das  Pentagonal- 
Dodecaeder  als  Grundform  nur  durch  eine  sehr  zarte  und  vollkommen 
regelmässige  Linienzeichnung  der  Kugeloberfläche  angedeutet.  Bis- 
weilen entsteht  dann  ein  reales  Dodecaeder  durch  Eintrocknen  des 
Pollenkorns.  Die  idealen  zwölf  Parameren  der  dodecaedrischen  Pla- 
stide sind  12  congruente  fünfseitige  reguläre  Pyramiden,  welche  man 
dadurch  erhält,  dass  man  die  Ecken  mit  dem  gemeinsamen  Mittelpunkt 
durch  Linien  verbindet.  Das  Pentagonal- Dodecaeder  ist  als  organi- 
sche Grundform  auch  desshalb  von  Interesse,  weil  es  zugleich  eine 
hemiedrische  Form  des  tesseralen  oder  regulären  Kristallsystems  ist. 

Dritte  Art  der  rhythmischen  Polyaxonien. 
Regelmässige  Achtflächner.     Octaedra  regularia. 

Stereometrische  Grundform:   Reguläres  Polyeder  mit  acht  dreieckigen  Seiten. 

Realer  Typus:  Antheridien  von  Chara  (Taf.  II,  Fig.  19). 

Das  reguläre  Octaeder,  dessen  Grenzflächen  acht  gleichseitige  und 
congruente  Dreiecke  sind,  bildet  viel  seltener,  als  das  Pentagonal- 
Dodecaeder,  die  Grundform  organischer  Gestalten;  auch  viel  seltener, 
als  die  folgende  Form,  der  Würfel,  obgleich  es  mit  diesem  die  gleichen 
Axen -Verhältnisse  theilt.  Wir  kennen  das  reguläre  Octaeder  als 
stereoinetrische  Grundform  nur  bei  einigen  wenigen  pflanzlichen  Pla- 
stiden,  bei  einzelnen  Parenchymzellen,  einigen  Pollenkörnern,  und  am 
deutlichsten  bei  den  Antheridien  von  Chara,  obwohl  auch  hier  nicht 
so  rein,  als  die  vorige  und  die  folgende  Grundform.  Von  besonderem 
Interesse  ist  aber  das  reguläre  Octaeder  desshalb,  weil  es  zugleich 
die   Grundform    des  regelmässigsten   und  einfachsten   Krystallsystems 


Regulär  -polyedrische  Grundformen.     Polyaxonia  rhythmica.  413 

ist,  des  tesseralen  oder  regulären  Systems,  in  welchem  u.  A.  Kochsalz 
und  Alaun  krystallisiren.  Sein  wesentlicher  Charakter  wird  bestimmt 
durch  drei  auf  einander  senkrechte  Axen,  welche  alle  drei  gleich  und 
gleichpolig-  sind,  so  dass  keine  von  ihnen  als  Hauptaxe  unterschieden 
werden  kann;  entsprechend  können  auch  die  sechs  Pole  nicht  ver- 
schieden sein.  Das  reguläre  Octaeder  nähert  sich  am  meisten  von 
allen  Lipostanren  den  Stauraxonien,  indem  wir  bloss  eine  der  drei 
Axen  nach  beiden  Seiten  gleichmässig  zu  verlängern  oder  zu  verkür- 
zen brauchen,  um  daraus  das  Quadrat- Octaeder  (die  Grundform  der 
octopleuren  Isostauren)  zu  erhalten.  Wenn  alle  drei  Axen  des  regu- 
lären Octaeders  ungleich  lang  werden,  aber  gleichpolig  bleiben,  geht 
dasselbe  in  die  Grundform  des  Rhomben-Octaeders  (der  octopleuren 
Allostauren)  über. 

Von  dem  regulären  Würfel,  mit  welchem  das  reguläre  Octaeder 
die  gleichen  Axenverhältnisse  theilt,  unterscheidet  sich  dasselbe  als 
organische  Grundform  wesentlich  dadurch,  dass  der  erstere  aus  sechs, 
das  letztere  dagegen  aus  acht  Antimeren  oder  Parameren  zusammen- 
gesetzt ist.  Diese  acht  congruenten  Antimeren  tinden  sich  an  den 
Antheridien  von  Chara  auf  die  zierlichste  Weise  in  acht  gleichseitig 
dreieckigen  platten  tafelförmigen  Zellen  verkörpert,  welche  ganz  gleich 
den  acht  Seitenflächen  des  regelmässigen  Octaeders  zusammengefügt 
sind.  Ihre  gezackten  Ränder,  welche  nach  Art  einer  Knochennaht  in 
einander  greifen,  bezeichnen  die  zwölf  Kanten  des  Octaeders.  Die 
dreieckigen  Seitenflächen  sind  so  stark  hervorgewölbt,  dass  das  ganze 
Organ  eine  rothe  Kugel  bildet,  Von  dem  Umkreis  der  am  stärksten 
gewölbten  Mitte  jedes  Dreiecks  laufen  äusserst  zierliche  Strahlen- 
furchen  nach  den  drei  gezackten  Rändern  hin.  Uebrigens  dürfen  wir, 
streng  genommen,  an  den  Antheridien  von  Chara  bloss  der  achtzelligen 
Schale  die  reguläre  Octaeder -Form  vindiciren;  das  ganze  Organ,  mit 
Rücksicht  auf  seinen  Inhalt,  ist  als  Quadrat- Octaeder  zu  betrachten, 
da  eine  Hauptaxe  durch  die  Structur  des  Inhalts  ausgesprochen  ist. 


Vierte  Art  der  rhythmischen  Polyaxonien. 
Regelmässige  Würfel.     Ilexaedra  regularia. 

Stereometrische  Grundform.     Reguläres  Polyeder  mit  sechs  quadratischen  Seiten. 
Realer  Typus:  Actinomma  drymodes  (Taf.  II,  Fig.  20). 

Das  reguläre  Hexaeder  oder  der  Würfel  (Cubus,  Tessera),  dessen 
Grenzflächen  sechs  congruente  Quadrate  sind,  bildet  die  stereometrische 
Grundform  von  vielen  freien  Piastiden;  er  erscheint  sehr  rein  z.  B. 
bei    vielen  Pollen  -  Zellen  (Basella    alba),    aber    auch  bei  zahlreichen 


414  System  der  organischen  Grundformen. 

Parenchytnzellen  (z.  B.  kubischen  Epitlielialzellen).  Seltener  ist  der 
Würfel  die  Grundform  von  ganzen  actuellen  Bionten,  welche  den 
Formwerth  von  Metameren  haben,  nämlich  von  mehreren  sechsstache- 
ligen Radiolarien  aus  der  Ommatiden -Familie.  Als  geometrische 
Grundform  von  organischen  Individuen  ist  der  Würfel  in  mehrfacher 
Beziehung  von  besonderem  Interesse,  besonders  auch  desshalb,  weil 
er  zugleich  die  einfachste  abgeleitete  Form  des  regulären  oder  tesse- 
ralen  Krystallsy Sterns  ist,  Gleich  der  Grundform  desselben,  dem 
regulären  Oetaeder,  besitzt  der  Würfel  drei  auf  einander  senkrechte 
Axen,  welche  alle  drei  unter  sich  gleich  und  gleichpolig  sind.  Sie 
verbinden  die  Mittelpunkte  je  zweier  gegenüber  liegender  Quadrat- 
flächen. Keine  dieser  drei  maassgebenden  Axen  kann  demnach  als 
Hauptaxe  (Längsaxe),  Sagittalaxe  (Dickenaxe)  oder  Lateralaxe 
(Breitenaxe)  unterschieden  werden.  Ebenso  sind  ihre  sechs  Pole  nicht 
verschieden.  Die  drei  idealen  Richtaxen  oder  Euthynen,  welche  den 
Grundcharacter  der  wichtigsten  organischen  Forniengruppe,  der  Zeu- 
giten,  bestimmen,  erscheinen  hier  zum  ersten  Male  angedeutet,  aber 
noch  nicht  differenzirt. 

Obgleich  das  reguläre  Oetaeder  und  das  reguläre  Hexaeder  in 
allen  Axen- Verhältnissen  völlig  übereinstimmen,  so  dass  sie  beide  als 
Grundform  des  regulären  Krystallsystems  betrachtet  werden  können, 
müssen  wir  doch  Beide  in  der  organischen  Promorphologie  mindestens 
insofern  als  verschiedene  Unterarten  einer  und  derselben  rhythmischen 
Polyaxonien-Art  unterscheiden,  als  das  Antimeren-Verhältniss  in  Beiden 
ein  verschiedenes  ist.  Die  organischen  Individuen  mit  Würfelform 
erscheinen  aus  sechs  tetractinoten  Antimeren  (oder  Parameren) 
zusammengesetzt,  deren  jedes  eine  reguläre  vierseitige  Pyramide  dar- 
stellt. (Bei  den  cubischen  Radiolarien  ist  die  Hauptaxe  (Längsaxe) 
jedes  tetractinoten  Antimeres  durch  einen  starken  radialen  Kiesel- 
stachel verkörpert.)  Dagegen  erscheinen  die  organischen  Individuen, 
welche  das  reguläre  Oetaeder  als  Grundform  haben,  aus  acht  tri- 
actinoten  Antimeren  (oder  Parameren)  zusammengesetzt,  deren 
jedes  die  Form  einer  regulären  dreiseitigen  Pyramide  besitzt.  Die- 
ser wichtige  promorphologische  Unterschied  ist  hinreichend,  um  alle 
regulär-polyedrischen  organischen  Individuen,  welche  aus  sechs  te- 
tractinoten Antimeren  (oder  Parameren)  bestehen,  als  hexaedrische 
von  denjenigen,  welche  aus  acht  triactinoten  Antimeren  (oder  Para- 
meren) bestehen,  als  o et aedri sehen,  zu  trennen. 

Ausser  den  rein  cubischen  Pollen/eilen  (z.  B.  von  Basella  alba) 
und  den  rein  cubischen  Epitlielialzellen  finden  wir  das  reguläre 
Hexaeder  besonders  ausgezeichnet  verkörpert  in  mehreren  äusserst 
zierlichen  Gitterpanzern  von  kieselschaligen  Radiolarien  aus  der 
Ommatiden-Familie.      Es    gehören    hierher    zwei    Arten    der    Gattung 


Regulär-polyedrische  Grundformen.     Polyaxouia  rhythmica.  415 

Actinomma  (A.  drymodes,  Rad.  Taf.  XXIV,  Fig.  9  und  A.  astefacantkion. 
Rad.  Taf.  XXIII,  Fig.  5,  ß),  ferner  wahrscheinlich  viele  Arten  der 
Gattung  Haliomma  (mit  Sicherheit  jedoch  nur  H.  hexacanthum  bekannt, 
J.  Müller,  Abliandl.  Taf.  IV,  Fig.  5).  Bei  allen  diesen  Onimatiden 
besteht  der  ganze  Körper  aus  mehreren  coneentri sehen  regulären 
Gitterkugeln,  welche  durch  sechs  sehr  starke  und  grosse  Radial- 
stacheln verbunden  sind,  die  von  der  innersten  Kugel  ausgehen  und 
über  die  Oberfläche  der  äussersten  mindestens  noch  um  die  Länge 
ihres  Radius  vorragen.  Diese  sechs  mächtigen,  sehr  regelmässig  ge- 
bildeten und  am  Ende  zugespitzten  Kieselstacheln,  welche  unter  ein- 
ander völlig  gleich  sind,  liegen  in  drei  auf  einander  senkrechten 
Kugeldurehmessern,  welche  den  drei  gleichen  Axen  des  regulären 
Octaeders  oder  den  drei  gleichen  Flächenaxen  des  Würfels  entsprechen. 
Verbindet  man  die  Spitzen  der  sechs  Stacheln  durch  gerade  Linien 
und  legt  durch  je  zwei  benachbarte  Linien  eine  Ebene,  so  sind  die 
acht  so  entstehenden  Ebenen  gleichseitige  und  congruente  Dreiecke 
und  der  ganze  Körper  ist  ein  reguläres  Octaeder.  Legt  man  dagegen 
durch  die  sechs  Stachelspitzen  Ebenen,  auf  denen  die  Radialstacheln 
senkrecht  stehen,  so  sind  die  so  entstehenden  Ebenen  congruente 
Quadrate  und  der  ganze  Körper  ist  ein  Würfel.  Durch  die  feinere 
Sculptur  des  Kieselskelets  wird  diese  absolut  reguläre  Grundform 
ebenso  wenig  gestört,  als  durch  die  Form  der  Weichtheile;  diese 
letzteren  bestehen  nur  aus  der  kugeligen  (den  Kieselkugeln  concen- 
trischen)  Ccntralkapsel,  welche  unterhalb  der  äusseren  Gitterkugel 
liegt,  und  aus  der  formlosen  Schleinihülle  der  Sarcode,  welche  die 
Centralkapsel  umgiebt,  Mit  Rücksicht  auf  die  höchst  ausgezeichnete 
und  vollkommen  reguläre  Grundform  dieser  merkwürdigen  Radiolarien 
wird  man  es  vielleicht  vorziehen,  dieselben  als  besondere  Gattung 
(Hexaedromma)  von  den  übrigen  Ommatiden  abzutrennen. 

Fünfte  Art  der  rhythmischen  Polyaxonien. 

Regelmässige  Vierfläcluier.     Tetraedra  regulaiia. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläres  Polyeder  mit  vier  dreie  kigen  Seilen. 

Realer  Typus:  Pollen  von  Corydalis  sempervirens. 

(Taf.  II,  Fig.  21,  22). 

Das  reguläre  Tetraeder,  dessen  Grenzflächen  vier  gleichseitige 
und  congruente  Dreiecke  sind,  und  welches  die  wichtigste  hemiedrische 
Form  des  tesseralen  Krystallsystems  ist,  bildet  zwar  bei  keinem  uns 
bekannten  Organismus  die  Grundform  eines  actuellen  Bionten,  gleich 
dem  Würfel ;  dagegen  erscheint  das  Tetraeder  sehr  häufig  und  stereo- 
metrisch rein  als  Grundform  einfacher  Piastiden,  besonders  wieder 
bei  vielen  Pollen-Zellen.     Als  Beispiel  kann   der  Pollen  vieler  Arten 


416  System  der  organischen  Grundformen. 

von  Corydalis  angeführt  werden,   namentlich  C,  sempervirens ,  (Taf.  II, 
Fig.  21).    Hier  ist  jedes  einzelne   Pollenkorn  ein  reguläres  Tetraeder. 
Anderemale  verbinden  sich  vier  Pollen-Zellen  zur  geometrischen  Tetrae- 
der-Form, z.  B.  bei  Erica  multiflora,  Drimys  Winleri  etc.     Das  Tetraeder 
ist  stets  aus  vier  congruenten  Antimeren  oder  Parameren  zusammen- 
gesetzt, deren  jedes  eine  reguläre  dreiseitige  Pyramide  bildet  (Triacti- 
noten-Form).     Die   Hauptaxe   (Längsaxe)  jeder  Pyramide  ist  zugleich 
eine  Flächenaxe  des  Tetraeders.     Diese  vier  Flächenaxen  linden  sich 
in  höchst  merkwürdiger  Weise  rein  verkörpert  in  den  anorganischen 
Skeletbildungen  einiger  Protisten,  den  seltsamen  Kiesel-Spicula  näm- 
lich,   welche   als  Hülle  von   schützenden  Stacheln  die  Centralkapseln 
mehrerer  Sphaerozoiden  umgeben.     Die  Grundform  des  regulären  Te- 
traeders ist  hier  schon  von  Johannes  Müller  in  den  vierschenkeligen 
Nadeln  mehrerer  Sphaerozoen   erkannt  worden  (Abhandl.  p.  54,  Taf. 
VIII,  Fig.  2,  3).   Bei  Rhaphidozoum  acuferum  findet  sich  zwischen  den 
einfachen  linearen  Nadeln   „eine  zweite  Art  der  Spicula,   eine  vier- 
schenkelige  Nadel,   deren  Schenkel  unter  gleichen  Winkeln  in  einem 
Punkt  zusammentreffen,   gleich  den  Flächenaxen  eines   einzigen  Te- 
traeders."    (Rad.  Taf.  XXXII,  Fig.  9 — 11).     Bei  Sphaerozoum  punc- 
tata»/ und  S.  ovodimare  „bestehen  die  Spicula  aus  einem  Mittelbalken, 
dessen  entgegengesetzte  Enden    in   drei    divergirende    Schenkel    aus- 
laufen, welche  sowie  der  Mittelbalken  gleich  den  Flächenaxen  eines 
Tetraeders  gestellt  sind.     Stellt  man  sich  zwei  Tetraeder  mit  einer 
der  Flächen  vereinigt  vor,  so  haben  sie  eine  der  Flächenaxen  gemein- 
sam,  die  anderen  Flächenaxen  frei   auslaufend.     Genau  so   sind  die 
Schenkel  der  Spicula  gestellt.    Die  Spicula  gleichen  also  den  Flächen- 
axen zweier  vereinigter  Tetraeder."     (Ead.  Taf.  XXXIII,   Fig.  6,  7.) 
Man  braucht  in  der  That  bei  diesen  Sphaerozoiden  bloss  die  Spitzen 
der    Spicula -Schenkel    durch  Linien   zu  verbinden,   und  durch   diese 
Linien    Flächen    zu    legen,   um    das    regulär  Tetraeder    zu   erhalten. 
Es  sind  also  hier  beim  Tetraeder,  wie  beim  Hexaeder  von  Actinomma, 
nicht  die  Grenzflächen  oder  Kanten,  sondern  die  Axen  des  regulären 
Polyeder,    welche    als    reguläre    zusammengestellte    Kieseluadeln    die 
rhythmische  Polyaxonform   unverkennbar  bezeichnen.     (Vergl.  Taf.  II, 
Fig.  20  und  22). 

Zweite  Ordnung  der  Heteraxonien : 
Ilauptaxige.     Protaxonia. 

Organische  Formen  mit  einer  constanten  Hmt)>taxe. 

Der  kleinen   Gruppe   der  Polyaxonien  steht  als  andere,  ungleich 

mannichfaltigere  und  wichtigere  Hauptabtheilung  der  Heteraxonien  die 

grosse  gestaltenreiche  Gruppe  der  Protaxonien  gegenüber,  die  sich 

durch    die    DifFerenzii  ur.g    einer    einzigen    irgendwie    ausgezeichneten 


Hauptaxige  Grundformen.     Protaxonia.  417 

Hauptaxe  bestimmt  von  den  Polyaxonien  unterscheiden.  Sämmtliche 
Polyaxonien,  wie  verschieden  auch  die  Zahl  und  Gestalt  der  Grenz- 
flächen des  Polyeders  sein  mag-,  stimmen  doch  darin  überein,  dass 
dies  Polyeder  ein  endosphaerisches  ist,  dass  also  sämmtliche  Ecken 
der  Grenzflächen  stets  eine  einzige  Kugelfläche  berühren,  und  dass 
das  Centrum  dieser  Kugel  die  Mitte  des  Polyeders  ist.  Es  sind  daher 
auch  alle  Hauptaxen,  deren  mindestens  drei  vorhanden  sein  müssen, 
von  gleicher  Länge.  Dadurch  und  durch  die  Eigenschaft,  dass  ihre 
Mitte  ein  Punkt  ist,  schliessen  sich  die  Polyaxonien  den  Homaxo- 
nien  unmittelbar  an.  Bei  den  Protaxonien  dagegen  kann  die  Grund- 
form niemals  ein  endosphaerisches  Polyeder,  ebenso  wenig  als  eine 
Kugel  sein.  Wenn  die  Grundform  der  Protaxonien  ein  reguläres  oder 
irreguläres  Polyeder  ist,  so  liegen  die  Ecken  desselhen  niemals  in 
einer  Kugelfläche ;  wenn  die  Grundform  von  einer  gekrümmten  Fläche 
begränzt  wird,  so  ist  diese  niemals  eine  ganze  Kugel,  sondern  nur 
ein  Theil  einer  Kugel  (Kugelsegment,  Halbkugel),  oder  ein  Sphaeroid 
(Ellipsoid,  Linse),  oder  ein  Ei  u.  s.  w.  Bei  allen  Protaxonien  ist  die 
Mitte  des  Körpers  nicht  mehr  ein  Punkt,  sondern  eine  Linie 
oder  (bei  den  allopolen  Heterostauren)  eine  Ebene.  Diese  Linie  oder 
Ebene  ist  gänzlich  verschieden  von  allen  anderen  Linien  oder  Ebenen, 
welche  wir  durch  den  Körper  legen  können;  alle  Theile  des  Körpers 
nehmen  gegen  diese  Mittellinie  oder  Mittelebene  eine  bestimmte 
characteristische  Lage  ein,  und  alle  Halbirungs- Ebenen  des  Körpers 
müssen  durch  diese  mediane  Linie  oder  Ebene  hindurchgehen.  Bei 
den  Protaxonien  mit  Mittellinie  (Centraxonia)  sind  mehrere, 
mindestens  zwei  Halbirungs -Ebenen  des  Körpers  vorhanden;  bei  den 
Protaxonien  mit  Mittelebene  (Centrepipeda  oder  Heterostaura 
allopola)  ist  nur  eine  einzige  Halbirungsebene  vorhanden  und  diese 
fällt  mit  der  Mittelebene  zusammen. 

Die  Hauptaxe  (Axon  principalis),  welche  die  Protaxonien 
als  solche  characterisirt  und  von  allen  bisher  betrachteten  Grundformen 
trennt,  ist  bei  den  Centraxonien  mit  der  Mittellinie  identisch  und  liegt 
bei  den  Centrepipeden  in  der  Mittelebene.  Obgleich  es  schwer  ist, 
die  Hauptaxe  für  alle  Protaxonien  im  Allgemeinen  näher  zu  charac- 
terisiren,  da  sie  in  den  einzelnen  Abtheilungen  dieser  Formenklasse 
sehr  verschiedene  Eigenschaften  zeigt,  so  ist  es  doch  in  jedem  einzel- 
nen Falle  immer  möglich,  und  meistens  sehr  leicht,  dieselbe  zu  be- 
stimmen. Wo  überhaupt  nur  eine  einzige  Körperaxe  bestimmt  aus- 
geprägt ist,  wie  bei  den  Monaxien,  da  ist  diese  einzige  Axe  natürlich 
zugleich  die  Hauptaxe.  Wo  der  Körper  aus  mehr  als  zwei  congruen- 
ten  Antimeren  besteht,  wie  T)ei  allen  homopolen  Stauraxonien  und  bei 
den  homostauren  Heteropolen,  da  ist  die  Hauptaxe  stets  diejenige 
Linie,  welche  allen  Antimeren  gemeinsam  ist  und  in  welcher  sie  sich 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  27 


418  System  der  organischen  Grundformen. 

berühren.  Wo  man  durch  den  Körper  drei  verschiedene  auf  einander 
senkrechte  ideale  Kreuzaxen  legen  kann,  wie  bei  den  Heterostauren, 
da  ist  die  Hauptaxe  eine  von  diesen  drei  Axeu,  die  den  drei  Dimen- 
sionen des  Raumes  entsprechen.  In  diesem  letzteren  Falle  ist  es 
stets  die  Längendimension,  welche  durch  die  Hauptaxe  bestimmt 
wird  und  wir  können  sie  daher  auch  Längsaxe  (Axon  longitudi- 
nalis)  nennen.  Meistens  ist  die  Längsaxe  länger,  als  alle  anderen 
Axen,  nicht  selten  aber  auch  bedeutend  kürzer,  so  dass  wir  sie  nicht 
allgemein  als  die  längste  aller  Axen  characterisiren  dürfen. 

Auch  die  Beschaffenheit  ihrer  beiden  Pole  erlaubt  keine  allge- 
meine Bestimmung  der  Hauptaxe.  Bei  der  grossen  Mehrzahl  aller 
Protaxonien  unter  den  Thieren  ist  ein  Kopf  oder  doch  ein  Kopfende 
vom  Körper  abgegliedert  und  der  eine  Pol  der  Hauptaxe  liegt  dann 
in  diesem  Kopfende.  Bei  der  grossen  Mehrzahl  der  übrigen,  den 
kopflosen  Protaxonien,  ist  am  einen  Ende  des  Körpers  oder  doch  in 
dessen  Nähe  ein  Mund  vorhanden  und  dann  liegt  der  eine  Pol  der 
Hauptaxe  im  Munde  (bei  den  Homostauren  im  Mittelpunkt  des  Mun- 
des) oder  doch  in  dessen  Nähe.  Auch  bei  vielen  mundlosen  Pro- 
taxonien, z.  B.  den  meisten  protaxonien  Radiolarien,  ist  doch  eine 
Mündung  des  Gehäuses  vorhanden,  welche  in  mehrfacher  Beziehung 
die  Stelle  des  Mundes  vertritt.  Diesem  Pole  entspricht  bei  den 
Blüthensprossen  der  Pflanzen  die  offene  Mündung  der  Blüthe,  und 
also  allgemein  bei  allen  festsitzenden  protaxonien  Pflanzen-Individuen 
der  freie,  nicht  angewachsene  Theil.  Kein  anderes  Organ  geht  so 
constant,  als  die  Mündung  durch  die  ganze  Protaxonien-Reihe  hindurch 
und  es  ist  desshalb  das  Passendste,  den  ersten  Pol  der  Hauptaxe  als 
Mundpol  (Polus  peristomius  s.  polus  oralis)  und  die  Körper- 
seite, in  der  er  liegt,  als  Mundseite  (Peristomium,  Superficies 
oralis)  zu  bezeichnen.  Für  den  entgegengesetzten  zweiten  Pol  der 
Hauptaxe  ist  es  weniger  leicht,  eine  allgemein  passende  positive  Be- 
zeichnung zu  finden.  Bei  der  grossen  Mehrzahl  der  protaxonien 
Thiere  liegt  der  After  in  demselben  oder  doch  in  dessen  Nähe,  und 
man  könnte  ihn  danach  Afterpol  nennen.  Da  jedoch  bei  sehr  Vielen 
der  After  ganz  fehlt,  oder  weit  vom  zweiten  Axenpol  entfernt,  oft 
näher  dem  Mundpol,  liegt,  da  ferner  bei  den  festsitzenden  protaxonien 
Pflanzen -Individuen  das  dem  Mundpole  entgegengesetzte  Ende  das 
angewachsene,  basale  ist  (beim  Hauptspross  die  Wurzel),  so  dürfte 
der  andere  Pol  der  Hauptaxe  am  zweckmäßigsten  als  Gegenmund- 
pol  (Polus  antistoniius  s.  polus  aboralis)  und  die  Körperseite, 
in  der  er  liegt,  als  Gegenmundseite  (Antistoinium,  Superficies 
aboralis)  bezeichnet  werden. 

Die  sehr  zahlreichen  und  verschiedenartigen  Grundformen,  welche 
in  der  umfangreichen  Gruppe  der  Protaxonien  vereinigt  sind,   lassen 


Hauptaxige  Grundformen.     Protaxonia.  419 

sich  sämmtlich  in  zwei  grosse  Hauptabtheilungen  zusammenstellen,  in 
einaxige  und  kreuzaxige  Grundformen,  Monaxonien  und  Staura- 
xonien.  Wenn  wir  die  auf  der  Hauptaxe  senkrechten  Ebenen,  welche 
wir  durch  den  Körper  aller  Protaxonien  legen  können,  als  Quer- 
ebenen (Plana  transversalia)und  sämmtliche  gerade  Linien,  welche 
in  diesen  Ebenen  durch  die  Hauptaxe  gelegt  werden  können,  als 
Queraxen  (Axones  transversales)  bezeichnen,  so  sind  bei  den 
Monaxonien  sämmtliche  Queraxen,  die  in  einer  und  derselben  Quer- 
ebene liegen,  gleich,  während  bei  den  Stauraxonien  (entweder  in 
einigen  oder  in  allen  Querebenen)  ein  Theil  der  Queraxen  von  den 
übrigen,  die  mit  ihnen  in  einer  und  derselben  Ebene  liegen,  verschie- 
den ist.  Von  diesen  differenzirten  Queraxen  bezeichnen  wir  diejenigen, 
welche  characteristisch  ausgeprägt  sind,  und  gegen  welche  die  benach- 
barten ungleichen  Queraxen  eine  bestimmte  symmetrische  Lage  ein- 
nehmen, als  Kreuzaxen  (Stauri).  Bei  den  einaxigen  Protaxonien 
sind  sämmtliche  Querebenen  Kreise,  während  bei  den  kreuzaxigen 
mindestens  ein  Theil  der  Querebenen  keine  Kreise,  sondern  Vielecke 
oder  Ellipsen  oder  noch  complicirtere  Formen  sind.  Wenn  wir 
diejenigen  Ebenen,  die  sich  durch  die  Hauptaxe  legen  lassen,  allge- 
mein als  Meridianebenen  (Plana  meridiana)  bezeichnen,  so  fin- 
den wir  bei  den  Monaxonien  alle  Meridianebenen  gleich,  bei  den 
Stauraxonien  dagegen  einen  Theil  der  Meridianebenen  von  den  übri- 
gen verschieden.  Diejenigen  Meridianebenen  der  Stauraxonien,  welche 
durch  die  Kreuzaxen  gehen  und  diesen  entsprechend  besonders  aus- 
gezeichnet sind,  nennen  wir  Kreuzebenen  (Plana  staurota). 

Bei  den  Stauraxonien  ist  der  Körper  stets  aus  einer  bestimmten 
Anzahl  von  Antimeren  oder  Parameren  zusammengesetzt,  welche 
sich  in  der  Hauptaxe  berühren,  während  bei  den  Monaxonien  deren 
Zahl  unendlich .  ist.  Die  Zahl  der  Kreuzaxen  bestimmt  die  Zahl  der 
Antimeren,  indem  wir  als  Kreuzaxen  sowohl  diejenigen  Queraxen  be- 
zeichnen müssen,  welche  in  den  Medianebenen  der  einzelnen  Anti- 
meren, als  auch  diejenigen,  welche  in  den  Grenzebenen  je  zweier  be- 
nachbarter Antimeren  liegen. ') 


*)  Bei  allen  Stauraxonien  nennen  wir  diejenige  Hälfte  einer  Kreuzaxe,  welche 
in  der  .Medianebene  eines  Antimeres  liegt,  Strahl,  Radius;  diejenige  Hälfte 
einer  Kreuzaxe,  welche  in  der  Grenzebene  zweier  Antimeren  liegt,  Zwischen- 
strahl, Interradius.  Diejenigen  Meridianebenen,  in  denen  2  Strahlen  liegen, 
und  welche  mithin  zugleich  die  Meridianebenen  zweier  Antimeren  sind ,  werden 
mit  Vortheil  (z.  B.  bei  der  Anatomie  der  Coelenteraten  etc.)  als  Strahlen- 
ebenen (Plana  radialia)  bezeichnet,  diejenigen  Meridianebenen  dagegen,  in 
welchen  zwei  Zwischenstrahlen  liegen,  und  welche  mithin  zugleich  die  Grenz- 
flächen zweier  Antimeren -Paare  sind,  als  Zwischenstrahlenebenen  (Plana 
interradialia).     Eine  dritte  Art  der  Meridianebenen  sind  diejenigen,  in  denen 

27* 


420  System  der  organischen  Grundformen. 

Erste  Unterordnung  der  Protaxonien. 

Einaxige.     Monaxonia. 

(Protuxonicn  ohne  Kreuzaxen.) 

Die  Unterordnung  der  einaxigen  Protaxonien  umfasst  nur  solche 
Grundformen,  welche  bei  einer  deutlich  ausgeprägten  graden  Längs- 
axe  oder  Hauptaxe  ohne  jede  Andeutung  einer  bestimmten  Kreuzaxe 
sind,  bei  denen  mithin  alle  Queraxen  einer  jeden  Querebene  gleich, 
und  also  alle  Querebenen  Kreise  sind.  Da  nun  in  solchen  Körpern 
auch  sämmtliche  Meridianebenen  gleich  sein  müssen,  so  kann  man  sie 
sich  aus  unendlich  vielen  congruenten  Antimeren  zusammengesetzt 
denken,  die  alle  nur  eine  grade  Grenzlinie,  die  Hauptaxe,  gemein 
haben.  Die  Grenzflächen  der  monaxonien  Formen  müssen  entweder 
sämmtlich  gekrümmte  Flächen  sein,  oder  es  können  nur  diejenigen 
Grenzflächen,  welche  senkrecht  auf  der  Hauptaxe  stehen,  und  welche 
also  den  Querebenen  parallel  laufen,  Ebenen  sein.     Da  wir  nur  2  Pole 


ein  Strahl  und  ein  Zwischenstrahl  liegt,  und  welche  Halbstrahleueben  eu 
(Plana  semiradialia)  heisseu  mögen.  Die  Kreuzaxen,  welche  in  den  Semira- 
dialebenen  liegen,  sind  weder  radial,  noch  interradial,  soudern  semiradial,  indem 
die  eine  Hälfte  der  Kreuzaxe  ein  Strahl,  die  andere  ein  Zwischenstrahl  bildet. 

Die  Zahl  der  Antimeren  muss  nun  bei  den  Stauraxonien  stets  gleich  der 
Zahl  der  Kreuzaxen  oder  der  Kreuzebenen  sein.  Es  gilt  dies  Gesetz  für  alle 
Stauraxonien,  obwohl  dasselbe  als  Resultat  aus  verschiedenen  Factoren  folgt,  je 
nachdem  die  homotypische  Grundzahl  grade  oder  ungrade  ist.  Wenn  die 
Antimeren-Zahl  grade  ist,  (4,  6,  8  und  allgemein  =  2n) ,  wie  z.  B.  bei  den  Coe- 
lenteraten,  so  wird  jede  Kreuzaxe  entweder  von  2  Radien  oder  von  2  Interradien 
gebildet  und  es  sind  daher  stets  2  Arten  von  Kreuzebenen  vorhanden,  welche 
regelmässig  mit  einander  abwechseln,  so  dass  zwischen  je  2  radialen  eine  inter- 
radiale liegt.  So  haben  wir  z.  B.  bei  den  vierzäh'ligen  Dicotyledonen-Blüthen 
und  ebenso  bei  den  gewöhnlichen  Medusen  2  auf  einander  senkrechte  Radial- 
ebenen ,  welche  bei  letzteren  durch  die  Mittellinien  zweier  benachbarter  Radial- 
canäle ,  und  2  ebenfalls  rechtwinkelig  gekreuzte  Interradialebenen,  welche  durch 
die  in  der  Mitte  zwischen  jenen  liegenden  Interradiallinien  bestimmt  werden 
und  welche  die  ersteren  unter  Winkeln  von  45°  kreuzen.  Es  sind  also  zusam- 
men 4  Kreuzebenen  vorhanden  und  dem  entsprechend  auch  4  Antimeren.  Wenn 
dagegen  die  Antimeren-Zahl  ungrade  ist  (3,  5  und  allgemein  =  2n—  1),  z.  B.  bei 
den  Echinodermen,  den  fünfzähligen  Dicotyledonen-Blüthen,  so  wird  jede  Kreuz- 
axe zur  Hälfte  von  einem  Radius,  zur  Häifte  von  einem  Interradius  gebildet,  und 
es  sind  daher  alle  Kreuzebenen  von  einerlei  Art,  semiradial;  jede  einzelne  ist 
halb  radial,  halb  interradial.  So  fällt  also  z.  B.  bei  den  Echinodermen  die  Fünf- 
zahl der  Kreuzebenen,  deren  jede  zur  Hälfte  radial,  zur  Hälfte  interradial  ist, 
zusammen  mit  der  Fünfzahl  der  Antimeren,  aus  denen  der  Körper  zusammenge- 
setzt ist.  Wir  werden  unten,  bei  der  allgemeinen  Betrachtung  der  Stauraxonien- 
dieses  Verhältniss  noch  näher  erörtern. 


Einaxige  Grundformen.    Monaxonia.  421 

der  Hauptaxe  haben,  so  können  auch  nur  2  ebene  Grenzflächen  an 
den  Monaxonien  vorkommen.  Diese  Ebenen,  welche  Kreise  sein  müs- 
sen, kann  man  als  Grundflächen  oder  Polebenen  bezeichnen  (Plana 
polaria).  Die  eine  polare  Grenzfläche  ist  die  orale  oder  Peristom- 
fläche;  die  andere  die  aborale  oder  Antistomfläche.  Die  zusammen- 
hängende gekrümmte  Grenzfläche  der  Monaxonform  bezeichnen  wir 
allgemein  als  Mantel  (Pallium). 

Es  sind  nun  im  Allgemeinen  in  Bezug  auf  die  Flächenbegrenzung 
der  Monaxonien  nur  3  Fälle  möglich.  Es  wird  nämlich  I,  die  ganze 
Oberfläche  des  Monaxons  nur  von  dem  Mantel  begrenzt;  es  ist  keine 
ebene  Grenzfläche  (Polebene)  vorhanden.  Dies  ist  der  Fall  bei  den 
Sphaeroidformen  (Ellipsoid,  Linse,  Doppelkegel,  Ei).  IL  Das  Monaxon 
wird  von  dem  Mantel  und  einer  Polebene  begrenzt;  diese  letztere 
entspricht  stets  dem  ersten  (oralen)  Pol  der  Hauptaxe,  ist  also  die 
Peristomfläche  und  wird  allgemein  als  Basis  bezeichnet;  ihr  gegen- 
über liegt  am  zweiten  (aboralen)  Pol  der  Hauptaxe  der  Scheitel  oder 
die  Spitze  (Apex)  des  Monaxons.  Zu  dieser  Monaxonform  gehört 
das  Hemisphäroid,  sowie  jedes  durch  eine  Querebene  geschnittene 
Sphaeroid  (Ellipsoid ,  Linse) ,  ferner  der  Kegel  und  das  abgestutzte 
Ei.  III.  Das  Monaxon  wird  vom  Mantel  und  von  zwei  Polebenen 
begrenzt;  von  diesen  letzteren  wird  auch  hier  die  am  Oralpol  ge- 
legene oder  die  Peristomfläche  als  Basis,  die  am  Ab  oralpol  gelegene 
oder  die  Antistomfläche  als  abgestutzte  Spitze  (Apex)  oder  genauer 
als  Apicalebene  bezeichnet.  Es  gehört  hierher  vor  Allem  der  Cy- 
linder,  dann  diejenigen  Formen,  welche  aus  den  Monaxonformen  der 
zweiten  Gruppe  durch  Abstumpfung  entstehen  (dadurch,  dass  durch 
den  Apex  eine  der  Basis  parallele  Ebene  gelegt  wird),  also  der  Kegel- 
stumpf (abgestumpfte,  abgestutzte  oder  abgekürzte  Kegel),  das  an  bei- 
den Polen  abgestumpfte  Sphaeroid  etc. 

Die  organisirten  Formen,  welche  zur  Monaxonform  gerechnet 
werden  müssen,  sind  im  Thier-,  Protisten-  und  Pflanzenreiche  weit  ver- 
breitet als  sphäroide  (ellipsoide  und  linsenförmige),  eiförmige,  halb- 
kugelige, kegelförmige  und  doppelkegelförmige,  ferner  als  abgestumpft 
kegelförmige  und  cylindrische  Gestalten.  Doch  gehört  die  grosse 
Mehrzahl  der  so  gebildeten  Formen  nicht  zu  den  selbstständigen  Bion- 
ten,  sondern  zu  morphologischen  Individuen  niederer  Ordnungen, 
welche  einem  Bion  untergeordnet  sind.  Bei  den  höheren  Thieren  und 
Pflanzen,  deren  Bionten  den  Rang  von  Personen  oder  Stöcken  haben, 
sind  es  vorzugsweise  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen)  und  demnächst 
Organe,  welche  das  Monaxon  zur  Grundform  haben.  Niemals  sind 
Antimeren  aus  der  Monaxon- Form  gebildet,  verhältnissmässig  selten 
nur  Metamer en  und  Personen.  Dagegen  giebt  es  viele  Stöcke  (z.  B. 
Bäume  und  Corallenstöcke,  welche  sehr  deutlich  diese  Grundform  zei- 


422  System  der  organischen  Grundformen. 

gen.  Als  Grundform  selbstständiger  Bionten  erscheint  das  Monaxon  in 
den  letztgenannten  Fällen,  eben  so  aber  auch  bei  niederen  Form -In- 
dividuen in  einzelnen  Klassen  sehr  häufig,  so  namentlich  unter  den 
Rhizopoden,  insbesondere  kalkschaligen  Monothalamien  und  Polytha- 
lamien  und  kieselschaligen  Radiolarien  (Cyrtiden,  Disciden,  Ommatiden) 
und  bei  vielen  niederen  Pflanzen  (Algen  und  Pilzen). 

Wenn  wir  bei  der  Eintheilung  der  Monaxonieu  zunächst  von 
dem  schon  erörterten  dreifachen  Verhältnisse  der  Oberflächen-Begrenzung 
absehen  und  uns  in  erster  Linie  wieder  an  die  Axen  und  ihre  Pole  wen- 
den, so  tritt  uns  als  das  einfachste  und  naturgemässeste  Eintheilungs- 
Princip  die  Gleichheit  oder  Verschiedenheit  der  beiden  Pole  der  Haupt- 
axen  entgegen.  Bei  den  Gleichpoligen  oder  Einfachpoligen  (Mona- 
xonia  haplopola)  sind  die  beiden  Pole  der  Hauptaxe  und  die  ihnen 
entsprechenden  Polflächen  gleich,  bei  den  Ungleichpoligen  oder  Zwei- 
fachpoligen  (Monaxonia  diplopola)  verschieden.  Zu  den  ersteren 
gehören  die  Sphaeroidformen  (Ellipsoid,  Linse),  der  Doppelkegel  und 
der  Cylinder,  zu  den  letzteren  die  Hemisphaeroidformen  und  überhaupt 
die  abgestutzten  Sphaeroidformen,  ferner  der  Kegel  und  das  Ei.  Von 
Wichtigkeit  ist  für  die  Betrachtung  der  Monaxonieu  diejenige  Quer- 
ebene, welche  durch  den  Halbirungspunkt  der  Hauptaxe  geht,  und 
welche  wir  allgemein  als  Aequatorialebene  (Planum  aequatoriale) 
bezeichnen;  die  Queraxen,  welche  in  der  Aequatorialebene  liegen, 
heissen  Aequatori alaxen.  Durch  die  Aequatorialebene  wird  der 
Körper  der  haplopolen  Monaxonien  in  2  congruente,  derjenige  der 
diplopolen  dagegen  in  2  ungleiche  Stücke  zerlegt.  Die  einfachste 
stereometrische  Grundform  der  Haplopolen  ist  der  Cylinder,  die- 
jenige der  Diplopolen  der  Kegel. 

Erste  Familie  der  Monaxonien. 
Gleichpolige  Einaxige.    Haplopola. 

Stereometrische  Grundformen:  Splmeroid,  Doppelkegel,  Cylinder. 

Die  Formengruppe  der  gleichpoligen  Einaxigen,  oder  der  Haplo- 
polen, wie  wir  sie  kurz  nennen  wollen,  deren  Körper  durch  die 
Aequatorialebene  und  ebenso  durch  jede  Meridianebene  in  2  con- 
gruente Hälften  getheilt  wird,  ist  nur  selten  zu  der  Bildung  von  mor- 
phologischen Individuen  höherer,  sehr  häufig  dagegen  zur  Bildung  von 
Individuen  niederer  Ordnung  (Plasliden  und  Organen  verschiedener 
Stufen)  verwendet.  Als  untergeordnete  Modifikationen  dieser  Grund- 
form können  wir  2  Formengruppeii  unterscheiden,  je  nachdem  die 
Oberfläche  des  Körpers  bloss  von  einer  gekrümmten  Fläche  (Mantel) 
oder  zugleich  von  2  gleichen  Ebenen  (Grundflächen)  begrenzt  wird. 
Formen  mit  nur  einer  Ebene   als  Grenzfläche  können   hier  nicht  vor- 


Gleichpolige  einaxige  Grundformen.     Haplopola.  423 

kommen,  da  hierdurch  allein  schon  die  Verschiedenheit  der  beiden 
Pole  bedingt  ist;  diese  gehören  alle  zu  den  Diplopolen.  Die  Haplo- 
pol-Formen  ohne  ebene  Grenzfläche  (Anepipeda)  werden  durch  die 
verschiedenen  Arten  des  Sphaeroids  (Ellipsoid,  Linse  etc.)  und  durch 
den  basalen  Doppelkegel  vertreten.  Die  Homopolformen  mit  2  ebenen 
Grenzflächen  (Amphepipeda)  werden  durch  den  graden  Cylinder 
und  die  davon  abgeleiteten  Formen,  den  apicalen  Doppelkegel  u.  s.  w. 
repräsentirt. 


Erste  Unterfamilie  der  haplopolen  Monaxonien: 
Gleichpolige  Einaxige  ohne  Grenzebene.  Haplopola  anepipeda. 

Stereo  metrische  Grundform:    Sphaeroid. 
Realer  Typus:   Coccodiscus. 

Die  anepipeden  Haplopolen  treten  in  2  verschiedenen  Hauptformen 
auf,  nämlich  in  der  einfacheren  Form  des  basalen  geraden  Doppel- 
kegels und  in  der  complicirteren  Form  des  Sphaeroids.  Unter  gera- 
dem basalem  Doppelkegel  verstehen  wir  diejenige  stereometrische 
Form,  welche  aus  2  congruenten  mit  ihrer  Basis  vereinigten  geraden 
Kegeln  zusammengesetzt  ist.  Jede  Meridianebene  dieses  Körpers  ist 
ein  Rhombus.  Von  der  Grundform  des  basalen  geraden  Doppelkegels 
können,  wie  von  der  des  einfachen  geraden  Kegels,  3  verschiedene 
Arten  unterschieden  werden,  je  nachdem  die  Hauptaxe  eben  so  lang, 
länger  oder  kürzer,  als  die  Aequatorialaxe  ist.  Bei  den  rechtwin- 
keligen geraden  basalen  Doppelkegeln  ist  die  Hauptaxe  ebenso  lang, 
bei  den  spitzwinkeligen  länger  und  bei  den  stumpfwinkeligen 
kürzer  als  die  Aequatorialaxe.  Daher  ist  beim  Diploconus  rectus  ba- 
salis  orthogonius  jede  Meridianebene  ein  Quadrat,  beim  oxygonius 
ein  Rhombus  mit  spitzen,  und  beim  amblygonius  ein  Rhombus  mit 
stumpfen  Apical winkeln  oder  Polarwinkeln. 

Die  Grundform  des  geraden  basalen  Doppelkegels  findet  sich  nur 
selten  in  organischen  Formen  realisirt  vor,  und  tritt  selbst  bei  den 
Form -Individuen  niederster  Ordnungen  (Piastiden  und  Organen)  nur 
in  wenigen  Fällen  deutlich  erkennbar  hervor.  Um  so  häufiger  findet 
sich  die  andere  Hauptform  der  anepipeden  Homopolen,  das  Sphaeroid, 
im  Organismus  verkörpert.  Die  Sphaeroid -Form  gehört  zu  den  ein- 
fachsten organischen  Grundformen  und  ist  am  nächsten  der  Homaxon- 
form  der  Kugel  verwandt,  aus  der  wir  sie  dadurch  ableiten,  dass  wir 
eine  einzige  Axe  der  Kugel  sich  nach  beiden  Polen  hin  gleichmässig 
verlängern  oder  verkürzen  lassen,  so  dass  beide  Pole  dieser  Hauptaxe 
gleich  weit  vom  Mittelpunkt  entfernt  bleiben,  und  dass  die  Aequatorial- 
ebene   den  ganzen  Körper  in   zwei  congruente  Hemisphaeroide 


424  System  der  organischen  Grundformen. 

theilt.  Wenn  die  Hauptaxe  des  Sphaeroids  länger  ist  als  die  Aequa- 
torialaxe,  so  nennen  wir  dasselbe  Ellipsoid,  wenn  sie  kürzer  ist, 
Linse.  Wenn  der  abgerundete  Aequatorialrand  der  Linse  sieb  zu- 
schärft, so  wird  dadurch  der  Uebergang  zur  Form  des  basalen  gra- 
den  Doppelkegels  bedingt.  Die  Meridianebene  des  Sphäroids  ist  eine 
Ellipse. 

Die  Verwendung  der  Sphaeroidform  zur  Bildung  von  morpho- 
logischen Individuen  erster  und  zweiter  Ordnung,  Piastiden  und  Or- 
ganen, ist  so  allgemein  verbreitet  und  mannichf altig,  dass  es  nicht 
nöthig  ist,  besondere  Beispiele  anzuführen.  Auch  die  virtuellen  Bion- 
ten  höherer  Organismen,  z.  B.  die  Jugendzustände  der  Personen,  tre- 
ten häufig  als  ellipsoide  oder  linsenförmige  Embryonen  auf.  Selten 
dagegen  ist  die  reine  Sphaeroidform  in  erwachsenen  Individuen 
(actuellen  ßionten)  verkörpert,  am  meisten  wiederum  bei  den  Radio- 
larien,  und  namentlich  unter  den  Ommatiden,  Disciden  und  Sponguri- 
den;  so  als  Ellipsoid  z.  B.  bei  Haliomma  ovatum,  bei  Haliommatidium 
Mülleri  und  H.  fenestratum  (wenn  man  von  den  20  radialen  Stacheln 
absieht),  ferner  in  Perichlamydium,  Chilomma  Saturnus  (?),  Coccodis- 
cus  Darwinii  (Rad.  Taf.  XXVIII.  Fig.  11.) 

Zweite  Unterfamilie  der  haplopolen  Monaxonien. 

Gleichpolige  Einaxige  mit  zwei  Grenzebenen.     Haplopola 

amphepipeda. 

Stereometrische  Grundform:  Cylinder. 
Realer  Typus:  Pyrosoma. 

Die  gleichpoligen  Einaxigen  mit  zwei  Grenzebenen  sind  entweder 
in  der  einfachen  stereometrischen  Grundform  des  geraden  Cylinders 
oder  in  complicirteren,  durch  gleichpolige  Modifikation  des  Cylinders 
entstehenden  Formen  verkörpert. 

Der  gerade  Cylinder  der  Geometrie,  dessen  Meridianebene  ein 
Rechteck  ist,  und  dessen  Axe  (Hauptaxe)  senkrecht  im  Mittelpunkt 
der  beiden  congruenten  und  parallelen  kreisrunden  Grundflächen  steht, 
ist  äusserst  häufig  in  ganz  reiner  Form  im  Organismus  realisirt,  selten 
allerdings  als  das  materielle  Substrat  von  actuellen  Bionten,  um  so 
häufiger  dagegen  von  Individuen  niederer  Kategorieen,  welche  ein 
höheres  actuelles  Bion  zusammensetzen,  besonders  Piastiden  und  Or- 
ganen. Unter  den  Cytoden  und  Zellen  finden  wir  die  reine  Cyliuder- 
form  bei  sehr  vielen  langgestreckten  Protisten  (Diatomeen),  einzelligen 
Algen  und  den  einzelnen  Fadenzellen  der  Nematophyten;  ebenso  auch 
vielfältig  im  Parenchym  höherer  Organismen.  Unter  den  Zellfusionen 
ist  die  Cylinderform  besonders  häufig,  so  bei  den  Nervenprimitivröhren 
und  Capillarröhren  der  Thiere,  den  Spiralgefässen  der  Pflanzen.     Von 


Gleichpolige  einaxige  Grundformen.     Haplopola.  425 

den  Organen  sind  es  besonders  die  einfachen,  selten  die  zusammenge- 
setzten Organe  (z.  B.  Tentakeln  und  Extremitäten),  die  mehr  oder 
minder  rein  die  Cylinderform  zeigen.  Auch  bei  höheren  Thieren  er- 
scheint bisweilen  der  gesammte  Körper,  genauer  ausgedrückt,  die 
Hautbedeckung,  cylindrisch  geformt,  so  z.  B.  unter  vielen  Tunicaten 
(Salpen  und  am  reinsten  in  Doliolum),  in  den  Doliolum  ähnlichen  Ge- 
häusen der  Phronima  etc.  Ferner  sind  ganze  Colonieen  bisweilen 
mehr  oder  minder  cylindrisch,  z.  B.  von  einigen  Pyrosomen.  Sehr 
allgemein  ist  der  reine  Cylinder  die  Grundform  der  Metamereu,  z.  B. 
bei  den  Stengelgliedern  der  Phanerogamen  und  Anthozoen.  Unter  den 
Rhizopoden  findet  sich  auch  die  reine  Cylinderform  in  actuellen  Bion- 
ten  nicht  selten  verkörpert,  z.  B.  unter  den  kalkschaligen  Polythalamien 
in  vielen  Soritiden  (Cyclolina,  Orbitulites,  Sorites,  Amphisorus),  unter  den 
kieselschaligen  Radiolarien  in  vielen  Disciden  und  Sponguriden  z.  B. 
Trematodiscus,  Spongodiscus,  Spongocyclia  cycloides  etc.  (Rad.  Taf.  XII, 
Fig.  14,  15;  Taf.  XXIX,  Fig.  1—3).  Will  man  der  bequemeren  Be- 
zeichnung halber  verschiedene  Arten  von  graden  Cylindern  unter- 
scheiden, so  wird  man  als  Maassstab  das  Längen- Verhältniss  der 
Hauptaxe  zur  Aequatorialaxe  (die  hier  dem  Durchmesser  der  Grund- 
flächen gleich  ist)  benutzen  müssen  und  wird  im  Allgemeinen  drei 
Arten  unterscheiden  können:  1.  Quadratcylinder,  deren  Hauptaxe 
der  Aequatorialaxe  gleich  und  deren  Meridianebene  folglich  ein  Qua- 
drat ist;  2.  Verlängerte  Cylinder,  deren  Hauptaxe  länger,  und 
3.  Verkürzte  Cylinder,  deren  Hauptaxe  kürzer  als  die  Aequatorial- 
axe ist. 

Modificirte  gerade  Cylinder,  an  denen  die  beiden  sich  polar 
entsprechenden  Hälften  in  gleicher  Weise  verändert  sind,  am  häufig- 
sten durch  Krümmungen  der  Mantelfläche,  Einschnürungen  beiderseits 
der  Aequatorialebene  u.  s.  w.  finden  sich  im  Organismus  und  nament- 
lich unter  den  Individuen  erster  Ordnung,  den  Zellen,  noch  ungleich 
häufiger  vor,  als  die  geometrisch  reinen  geraden  Cylinder.  Es  ge- 
hören dahin  alle  unter  den  anepipeden  Haplopolen  aufgeführten  For- 
men, sobald  man  ihre  beiden  Spitzen  (Apicalpole)  durch  zwei  gleiche 
Querebenen  abstumpft,  die  gleich  weit  von  der  Aequatorialebene  ent- 
fernt sind.  Die  meisten  hierher  gehörigen  Formen,  deren  Mannich- 
faltigkeit  unendlich  gross  ist,  dürften  der  genaueren  geometrischen 
Bestimmung  sehr  grosse  und  zum  Theil  unüberwindliche  Schwierig- 
keiten entgegensetzen.  Als  eine  der  einfachsten  hierher  gehörigen 
Formen,  wollen  wir  hier  nur  den  geraden  apicalen  Doppelkegel 
anführen,  welcher  sich  von  dem  vorhin  erläuterten  basalen  dadurch 
unterscheidet,  dass  die  beiden  congruenten  geraden  Kegel  nicht  mit 
ihrer  Basis,  sondern  mit  ihren  Spitzen  vereinigt  sind;    die  Axen   bei 


426  System  der  organischen  Grundformen. 

der  Kegel  liegen  in  einer  Geraden.  In  fast  geometrisch  reiner  Form 
ist  der  gerade  apicale  Doppelkegel  in  manchen  Fischwirbeln ,  ferner 
im  Kieselmantel  von  Diploeoms  fasces  verkörpert  (Rad.  Taf.  XX,  Fig.  7). 
Wie  verschieden  auch  die  Krümmungen  der  Mantelflächen  bei  dem 
„modificirten  geraden  "Cyliuder"  sich  gestalten  mögen,  so  stimmen  doch 
alle  hierher  zu  zählenden  Formen  darin  mit  dem  geraden  Cyliuder 
tiberein,  dass  der  Körper  durch  die  Aequatorialebene  in  zwei  con- 
gruente  Hälften  getheilt  wird. 

Zweite  Familie  der  Monaxonien. 
Ungleichpolige  Einaxige:  Diplopola. 

Stereometrische  Grundformen:  Halbkugel,  Kegel,  abgestumpfter  Kegel. 

Die  Formengruppe  der  Diplopolen  oder  der  ungleichpoligen  Ein- 
axigen,  deren  einfachste  geometrische  Grundform  der  Kegel  ist,  findet 
sich  häufiger,  als  diejenige  der  Haplopolen,  zur  Bildung  höherer 
Form  Individuen  (Stöcke  und  Personen),  ausserdem  aber  auch  vor- 
zugsweise zur  Bildung  von  Form -Individuen  niederer  Ordnung,  Pla- 
stiden  und  Organen,  verwendet.  Da  die  beiden  Pole  der  Hauptaxe 
hier  stets  verschieden  sind,  so  wird  der  Körper  durch  die  Aequato- 
rialebene niemals  in  zwei  congruente  Hälften  getheilt,  und  es  lassen 
sich  die  beiden  Polflächen,  die  bei  den  Homopolen  noch  congruent 
waren,  zum  ersten  Male  unterscheiden:  Der  Mundpol  ist  der  Mittel- 
punkt des  Peristoms  oder  der  Area  oralis,  der  Gegenmundpol  das 
Centrum  des  Antistoms  oder  der  Area  ab  oralis.  Die  verschiede- 
nen Formen  der  heteropolen  Monaxonien  lassen  sich  in  drei  Gruppen 
bringen,  je  nachdem  der  Körper  bloss  von-  der  gekrümmten  Mantel- 
fläche, oder  zugleich  noch  von  einer  oder  von  zwei  ebenen  Flächen 
(Grundflächen,  Polebenen)  begrenzt  wird.  Die  einfachste  Grundform 
der  Gestalten  ohne  ebene  Grenzfläche  (Anepipeda)  ist  das  Ei,  die- 
jenige der  M  onepipeden  (mit  einer  Polebene)  der  einfache  gerade 
Kegel,  diejenige  der  Amphepipeden  endlich  (mit  zwei  Greuz- 
ebenen)  der  gerade  abgestumpfte  Kegel. 

Erste  Unterfamilie  der  diplopolen  Monaxonien. 

Ungleichpolige  Einaxige  ohne  Grenzebene.  Diplopola  anepipeda. 

Stereometrische  Grundform:  Ei. 
Realer  Typus.  Ovulina. 
Der  einfachste  regelmässige  Körper,  welcher  nur  von  einer  ein- 
zigen gekrümmten  Fläche  umschlossen  ist  und  eine  einzige  Axe  mit 
zwei  difterenten  Polen  besitzt,  ist  das  Ei.  Der  Grad  der  Krümmung 
des  Mantels  kann  ein  höchst  verschiedener  sein;  immer  aber  ist  der- 
selbe dadurch  beschränkt,  dass  jede  Querebene  des  Körpers  ein  Kreis 


Ungleichpolige  einaxige  Grundformen.    Diplopola.  427 

bleiben  muss ;  daher  müssen  auch  stets  alle  Meridian-Ebenen  des  Eies 
congruent  sein.  Die  Individuen  niederster  Ordnung,  die  Zellen  und 
Cytoden,  stellen  so  häufig-  die  reine  Eiform  dar,  dass  wir  von  einer 
speciellen  Anführung  von  Beispielen  absehen  können.  Ebenso  sind 
auch  Organe  und  Colonieen  sehr  häufig  eiförmig.  In  actuellen  Bion- 
ten  ist  die  Eiform  sehr  häufig  unter  den  Khizopoden  verkörpert;  in 
der  Klasse  der  kalkschaligen  Acyttarien  sind  es  die  artenreichen 
Gattungen  Onulina,  Phialina,  Amphorina  unter  den  Monothalamien,  die 
Gattung-  Glandulina  und  andere  Nodosariden  unter  den  Polythalamien, 
welche  mannichfaltige  Eiformen  repräsentiren;  in  der  Klasse  der  kiesel- 
schaligcn  Radiolarien  gilt  dasselbe  von  der  den  letzteren  entsprechenden 
Familie  der  Cyrtiden,  namentlich  den  Monocyrtiden  (Carpocanium  etc.); 
im  Protoplasteu- Stamme  wiederholt  sie  sich  in  Difßugia  proteiformis, 
D.  oblonga  u.  A.  Sehr  wichtig  ist  die  Eiform  ferner  als  die  Promorphe 
sehr  vieler  Pflanzenstöcke,  aller  derjenigen  nämlich,  bei  welchen  die 
Zweige  eines  starken  Hauptsprosses  so  ungleichrnässig  um  denselben 
herumstehen,  dass  daraus  keine  Pyramidenform  sich  ableiten  lässt. 
Man  kann  sich  die  Eiform  dadurch  entstanden  denken,  dass  auf  beiden 
Seiten  einer  Kreisebene  (Aequatorialebeue)  unendlich  viele  Kreisebenen, 
welche  der  ersteren  concentrisch  und  parallel,  aber  von  ungleicher 
Grösse  sind,  über  einander  gelegt  werden.  Die  Linie,  welche  die 
sämmtlichen  Mittelpunkte  verbindet,  giebt  die  Hauptaxe,  deren  beide 
Pole  gleich  weit  von  der  Aequatorialebene  entfernt  sind.  Bei  der 
reinen  regulären  Eiform  nimmt  der  Durchmesser  (die  Queraxe)  der 
einzelnen  parallelen  Kreisebenen  nach  jedem  der  beiden  Pole  hin 
allmählig  ab  und  wird  in  demselben  gleich  Null.  Die  Abnahme  des 
Durchmessers  ist  aber  nach  den  verschiedenen  Polen  hin  verschieden 
und  wächst  in  verschiedenem  Grade  beiderseits  einer  Querebene,  welche 
der  Aequatorialebene  parallel  auf  einer  Seite  derselben  liegt.  Die 
abgeleiteten  Eiformen  oder  die  Modiücationen  der  Eiform, 
welche  in  den  Organismen  ebenfalls  sehr  häufig  verkörpert  sind,  unter- 
scheiden sich  von  der  reinen  geometrischen  Eiform  dadurch,  dass  die 
Abnahme  des  Durchmessers  der  parallelen  Kreisebenen  nach  jedem 
Pole  hin  nicht  gleichmässig,  sondern  ungleichrnässig  erfolgt.  Es 
können  daher  hier  auf  der  äusseren  Oberfläche  des  Eies  abwechselnde 
ringförmige  Einschnürungen  und  Wülste  auftreten. 

Will  man  verschiedene  Arten  der  Eiform  unterscheiden,  so  wird 
man  als  drei  Hauptgruppen  von  Eiern  aufstellen  können:  1)  Sphae- 
roide  Eier,  deren  Hauptaxe  gleich  der  Aequatorialaxe  ist;  2)  Ver- 
längerte Eier,  deren  Hauptaxe  länger,  und  3)  Verkürzte  Eier, 
deren  Hauptaxe  kürzer,  als  die  Aequatorialaxe  ist.  Alle  drei  Eiformen 
kommen  in  Piastiden  und  Organen  sehr  häufig  vor,  am  häufigsten 
aber  das  verlängerte  Ei. 


42g  System  der  organischen  Grundformen. 

Zweite  ünterfamilie  der  diplopolen  Monaxonien: 

Ungleichpolige  Einaxige  mit  einer  Grenzebene.     Diplopola 

monepipeda. 

Stereometrische  Grundform:  Kegel,  Halbkugel. 

Realer  Typus:  Conulina. 

Eine  derjenigen  Grundformen,  welche  am  häufigsten  zur  Bildung 
von  Piastiden  und  Organen,  aber  auch  von  Stöcken  verwendet  wird, 
ist  diejenige  reguläre  Diplopolen -Form,  deren  Oberfläche  von  einer 
gekrümmten  und  von  einer  ebenen  Fläche  begrenzt  wird.  Als  ein- 
fachste geometrische  Form  dieser  Gruppe  kann  man  entweder  den 
geraden  Kegel  oder  die  Halbkugel  bezeichnen.  Bei  beiden  ist 
die  Ebene,  welche  dem  Mundpol  entspricht,  und  welche  wir  daher 
Area  oralis  nennen,  ein  Kreis.  Die  Meridianebene  des  geraden 
Kegels  ist  das  gleichschenklige  Dreieck,  diejenige  der  Halbkugel  der 

Halbkreis. 

Der  gerade  Kegel  (Conus)  ist  als  Grundform  von  Piastiden 
und  Organen  äusserst  häufig.  Auch  echte  Stöcke  zeigen  die  Kegel- 
form oft  mehr  oder  minder  rein,  wie  dieselbe  z.  B.  in  einem  sehr 
grossen  Theil  der  phanerogamen  Pflanzenstöcke  (sehr  rein  in  vielen 
Coniferen)  nicht  zu  verkennen  ist.  Im  letzteren  Falle  ist  die  Kegel- 
form das  materielle  Substrat  des  actuellen  Bion,  ebenso  auch  bei 
vielen  Rhizopoden,  namentlich  bei  den  Nodosariden  (Conulina  u.  m.  a.) 
unter  den  Polythalamien,  bei  den  Cyrtiden  (Cornutella,  Eucecryphalus 
u.  A.)  unter  den  Radiolarien.  Die  äussere  Körperform,  bedingt  durch 
die  Bildung  des  Mantels  (der  Hautdecke),  spiegelt  die  gerade  Kegel- 
form auch  da  sehr  häufig  vor  (z.  B.  bei  vielen  Coelenterateu  und 
Echinodermen),  wo  durch  die  innere  Zusammensetzung  des  Körpers 
(aus  einer  bestimmten  Zahl  congruenter  Antimeren)  die  homostaure 
Stauraxonform  (reguläre  Pyramide)  angezeigt  wird. 

Alle  verschiedenen  Formen,  die  in  die  Gruppe  des  geraden  Kegels 
gehören,  lassen  sich  auf  eine  der  drei  Arten  des  geraden  Kegels 
zurückführen,  die  auch  in  der  Geometrie  nach  dem  Längenverhältniss 
der  Höhe  des  Kegels  zum  Durchmesser  der  Grundfläche  bestimmt 
werden.  Diese  drei  Arten  sind:  I.  der  rechtwinkelige  gerade  Kegel 
(Conus  orthogonius),  dessen  Axe  (Hauptaxe)  gleich  dem  Durch- 
messer der  Grundfläche  (Area  oralis)  ist;  II.  der  spitzwinkelige  (Conus 
oxygonius),  dessen  Axe  länger,  und  III.  der  stumpfwinkelige  gerade 
Kegel  (Conus  amblygonius),  dessen  Axe  kürzer  als  der  Durch- 
messer der  Grundfläche  ist. 

Die  Halbkugel  (Hemisphaera)  ist  weniger  häufig  als  der 
Kegel  in  rein  geometrischer  Form  verkörpert.    Um  so  häufiger  ist  die 


Ungleichpolige  einaxige  Grundformen.     Diplopola.  429 

Form  des  Hemisphaeroids,  wenn  wir  darunter  einestheils  alle 
Kugelsegmente  verstehen,  die  kleiner  oder  grösser  als  eine  Halbkugel 
sind,  andererseits  alle  Formen,  welche  wir  aus  dem  Sphaeroid  (Ellip- 
soid, Linse)  oder  aus  dem  Ei  dadurch  erhalten,  dass  wir  dasselbe 
durch  eine  Querebene  (eine  der  Aequatorialebene  parallele  Ebene) 
schneiden.  Die  äussere  Gestalt  des  Mantels  der  meisten  Hydromedusen 
und  Ctenophoren  (abgesehen  von  der  pyramidalen  Grundform,  die 
dein  ganzen  Bion  vermöge  seiner  radialen  Zusammensetzung  aus  An- 
timeren  zukommt)  dürfte  auf  solche  höchst  mannichfaltige  Hemisphae- 
roid-Bildungen,  zum  Theil  auch  auf  reine  Hemisphären,  zurückzuführen 
sein.  Wenn  man  verschiedene  Arten  des  Hemisphaeroids  (den  Aus- 
druck im  allgemeinsten  Sinne  genommen)  unterscheiden  will,  so 
dürften  folgende  aufzuführen  sein:  1)  das  hohe  Kugelsegment  (grösser 
als  die  Halbkugel);  2)  das  flache  Kugelsegment  (kleiner  als  die  Halb- 
kugel); 3)  das  Hemiellipsoid  (das  Ellipsoid  halbirt);  4)  das  abge- 
stumpfte Ellipsoid  (das  Ellipsoid  durch  eine  der  Aequatorialebene 
parallele  Ebene  (Querebene)  geschnitten);  5)  die  halbe  Linse  (Hemi- 
phacoid);  (i)  die  abgestumpfte  Linse  (die  Linse  durch  eine  Querebene 
geschnitten,  welche  der  Aequatorialebene  parallel  läuft);  7)  das  Halbei 
oder  Hemiooid  (das  Ei  durch  die  Aequatorialebene  halbirt);  8)  das 
abgestumpfte  Ei  (das  Ei  durch  eine  Querebene  geschnitten,  welche 
der  Aequatorialebene  parallel  läuft). 

Dritte  Unterfamilie  der  diplopolen  Monaxonien. 

Uligleichpolige  Einaxige  mit  zwei  Grenzebeneu.     Diplopola 

aniphepipeda. 

Slereomctrlscha  Grundform -.  Keyelslumpf. 
Realer  Typus:  Nodosaria. 

Die  am  höchsten  differenzirte  Monaxonform  wird  von  denjenigen 
heteropolen  Monaxonien  dargestellt,  die  ausser  der  gekrümmten  Fläche 
(Mantel)  von  zwei  verschiedenen  ebenen  Flächen  (Grundflächen)  um- 
schlossen sind.  Die  einfachste  geometrische  Grundform  dieser  amphe- 
pipeden  Diplopolen  ist  der  gerade  Kegelstumpf  oder  der  abge- 
stumpfte gerade  Kegel,  also  ein  gerader  Kegel,  dessen  Spitze  durch 
eine  der  Grundfläche  (Area  oralis)  parallele  Ebene  (Area  aboralis) 
abgeschnitten  ist.  Die  Schnittebene  oder  Antistomfläche  ist  bei  den 
meisten  hierher  gehörigen  Formen  ein  kleinerer  Kreis,  als  die  ihr 
parallele  Basalebene  oder  Peristomfläche. 

Ausser  dem  geraden  abgestumpften  Kegel  und  den  Formen, 
welche  man  durch  Vertiefung  oder  Hervorwölbung  seiner  Mantelfläche 
davon  ableiten  kann,   sind  hierher  auch  diejenigen   doppelt  abge- 


430  System  der  organischen  Grundformen. 

stumpften  Sphaeroidformen  zu  rechnen,  welche  man  dadurch 
erhält,  dass  man  die  verschiedenen  Modificationen  des  Sphaeroids 
(Ellipsoid,  Phacoid\  ebenso  auch  das  Ei  gegen  beide  Pole  hin  durch 
zwei  Ebenen  schneidet  (abstumpft),  welche  ungleichen  Abstand  von 
der  ihnen  parallelen  Aequatorialebene  haben.  Auch  diese  Formen 
sind  ebenso  wie  der  gerade  Kegelstumpf  in  den  Gestalten  der  Form- 
Individuen  erster,  zweiter  und  sechster  Ordnung,  bei  den  Piastiden, 
Organen  und  Stöcken  (namentlich  Anthozoen- Stöcken  und  Pflanzen- 
Stöcken)  sehr  häutig  nachzuweisen.  Wie  bei  den  letzteren,  so  bilden 
sie  die  Grundform  von  actuellen  Bionten  auch  einigen  Arten  von 
Nodosaria  und  Difflugia,  vielen  Flagellaten  und  anderen  Protisten. 
Eine  nähere  Betrachtung  ihrer  unendlich  vielen  Modificationen  hat 
kein  besonderes  Interesse. 


Zweite  Unterordnung  der  Protaxonien: 
Kreuzaxige.     Stauraxonia. 

Stereometrische  Grundformen:  Doppelpyramiden  oder  Pyramiden. 

(Protaxonien  mit  Kreuzaxen.) 

Die  kreuzaxigen  Grundformen  oder  Stauraxonien,  welche  die 
andere  Hauptabtheilung  der  Protaxonien  bilden,  sind  ungleich  wich- 
tiger und  interessanter  als  die  Monaxonien,  schon  durch  die  unend- 
liche Mannichfaltigkeit  verschiedener  Formen,  welche  den  verschiede- 
nen Differenzirungsmöglichkeiten  bestimmter  Kreuzaxen  ihren  Ursprung 
verdanken.  Der  Gestalten-Reichthum  aller  bisher  untersuchten  Grund- 
formen ist  unbedeutend  gegenüber  den  ausserordentlich  mannichfaltigen 
Thier-  und  Pflanzen-Formen,  die  der  Stauraxonien-Gruppe  angehören. 
Mit  der  zunehmenden  Möglichkeit  der  Formbeugung  in  den  verschie- 
densten Richtungen  wächst  freilich  auch  die  Schwierigkeit  der  Er- 
keuntniss  ihrer  Grundform,  woraus  sich  erklärt,  dass  bisher  die  geo- 
metrische Grundform,  welche  allen  Stauraxonien  zu  Grunde  liegt, 
nicht  erkannt  worden  ist. 

Die  Stauraxonien  unterscheiden  sich  von  den  Monaxonien,  wie 
wir  schon  oben  bei  der  allgemeinen  Characteristik  der  Protaxonien 
und  ihrer  beiden  Hauptabtheilungen  erörtert  haben,  vor  Allem  da- 
durch, dass  neben  der  Hauptaxe,  welche  Beiden  gemeinsam  ist,  auch 
noch  andere  bestimmt  differenzirte  Körperaxen  hervortreten,  welche 
auf  der  ersteren  senkrecht  stehen  und  welche  verschieden  sind  von 
den  zwischen  ihnen  in  derselben  Querebene  liegenden  indifferenten 
Axen  (Queraxen).  Die  Zahl  dieser  differenten  Axen,  welche  wir 
Kreuzaxen  (Stauri)  genannt  haben,  ist  stets  gleich  der  Zahl 
der  Parameren   oder    der  Antimeren,   die  hier  ein  beschränktes 


Kreuzaxige  Grundformen.     Stauraxonia.  431 

Maass  hat,  während  sie  bei  den  Monaxonien  —  -k>  war.  Es  ist  oben 
auch  bereits  nachgewiesen  worden,  warum  dieser  Satz  allgemeine 
Gültigkeit  hat,  obwohl  die  Kreuzaxen  und  die  durch  sie  gelegten 
Meridian -Ebenen  (Kreuzebenen)  von  zweierlei  oder  eigentlich  von 
dreierlei  Art  sind,  je  nachdem  die  Antimerenzahl  gerade  oder  unge- 
rade ist.  Bei  der  grossen  Wichtigkeit,  welche  dieses  bisher  noch 
nicht  beachtete  Verhältniss  für  das  Verständniss  der  Stauraxonform 
hat,  müssen  wir  dasselbe  ausführlich  begründen.  Wir  halten  uns 
dabei  ausschliesslich  an  die  Antimeren,  welche  als  morphologische 
Individuen  dritter  Ordnung  die  Metameren  und  Personen  zusammen- 
setzen. Dasselbe,  was  von  den  Antimeren,  gilt  aber  auch  von  den 
Parameren,  welche  eine  entsprechende  Rolle  bei  den  Form-Individuen 
zweiter  und  erster  Ordnung  (Organen  und  Piastiden)  spielen. 

Die  Kreuzaxen  der  Stauraxonien  liegen  entweder  erstens  in  der 
Medianebene  eines  Antimeres  (einer  halben  Radialebene),  oder  zwei- 
tens in  der  Grenzebene  zwischen  zwei  benachbarten  Antimeren  (einer 
halben  Interradialebene),  oder  endlich  drittens,  halb  in  einer  radialen, 
halb  in  einer  interradialen  Kreuzebene.  Um  das  Verhältniss  der 
Kreuzaxen  zu  den  Antimeren  näher  zu  bestimmen,  ist  es  nothig,  die 
in  sehr  verschiedenem  Sinn  gebrauchten  Begriffe  des  Radius  und 
Interradius  festzustellen.     (Vergl.  Taf.  I  nebst  Erklärung). 

Strahl  (Radius)  nennen  wir  diejenige  Hälfte  einer  Kreuzaxe, 
welche  in  der  Medianebene  eines  Antimeres  liegt;  Zwischenstrahl 
(Interradius)  dagegen  diejenige  Hälfte  einer  Kreuzaxe,  welche  in 
der  Grenzebene  zweier  Antimeren  liegt.  In  jedem  einzelnen  Falle 
construirt  man  den  Radius  des  Antimeres  einfach  dadurch,  dass  man 
in  der  Medianebene  des  Antimeres  (in  der  Meridianebene,  die  man 
durch  die  Mittellinie  des  Antimeres  und  durch  die  Hauptaxe  des  Me- 
tamers oder  der  Person  gelegt  hat)  ein  Perpendikel  auf  dem  Hal- 
birungspunkte  der  Hauptaxe  errichtet,  den  Interradius  dagegen  da- 
durch, dass  man  auf  demselben  Punkte  ein  Perpendikel  in  der 
Grenzebene  je  zweier  Antimeren  errichtet.  Die  Medianebene  jedes 
Antimeres  ist  daher  die  Hallte  einer  radialen,  die  Grenzebene  zweier 
Antimeren  dagegen  die  Hälfte  einer  interradialen  Meridianebene. 

Es  können  nun  die  Kreuzaxen  (Stauri)  und  die  durch  sie 
gelegten  Meridianebenen,  die  wir  Kreuzebenen  (Plana  qruciata 
s.  staurota)  genannt  haben,  von  dreierlei  Art  sein :  I.  die  strahlige 
Kreuzaxe  (Staurus  radialis)  oder  die  Strahlaxe  ist  aus  zwei 
diametral  gegenüberliegenden  Radien  gebildet;  II.  die  z wisch en- 
strahlige  Kreuzaxe  (Staurus  interradialis )  oder  die 
Zwisehenstrahlaxe  wird  aus  zwei  diametral  gegenüberliegenden 
Interradien  gebildet;  III.  die  halbstrahlige  Kreuzaxe  (Staurus 
semiradialis)   oder  die  Halbstrahlaxe  ist  aus  einem  Radius  und 


432  System  der  organischen  Grundformen. 

einem  diametral  gegenüberliegenden  Interradius  zusammengesetzt. 
Diesen  drei  Formen  der  Kreuzaxen  entsprechend  können  wir  auch 
die  drei  Arten  von  Kreuzebenen  (Meridianebenen,  die  durch  die 
Kreuzaxen  gelegt  werden  können)  unterscheiden:  1)  die  Strahlebene 
(strahlige  oder  radiale  Kreuzebene),  Planum  radiale,  ist  aus  den 
Medianebenen  zweier  diametral  gegenüberliegender  Antimeren  zu- 
sammengesetzt; 2)  die  Z wischenstrahlebeue  (zwischenstrahlige 
oder  interradiale  Kreuzebene),  Planum  interradiale,  besteht  aus 
den  diametral  entgegengesetzten  Grenzebenen  zweier  Antimeren-Paare ; 
3)  die  Halbstrahlebene  (halbstrahlige  oder  semiradiale  Kreuz- 
ebene), Planum  semiradiale,  ist  aus  der  Medianebene  eines  An- 
timeres  und  aus  der  diametral  gegenüberliegenden  Grenzebene  eines 
Antimeren-Paares   zusammengesetzt.     (Vergl.  Taf.  I  nebst  Erklärung). 

Wenn  wir  diese  wesentlichen  Unterschiede  der  drei  Arten  von 
Kreuzaxen  und  der  ihnen  entsprechenden  drei  Arten  von  Kreuz- 
ebenen festhalten  und  nun  die  Zahl  derselben  mit  der  Zahl  der  Anti- 
meren vergleichen,  so  ergiebt  sich  ohne  Weiteres  in  allen  Fällen  das 
allgemeine  Gesetz:  die  Zahl  der  Antimeren  (oder  die  homo- 
typische Grundzahl)  ist  gleich  der  Zahl  der  Kreuzaxen 
(oder  der  Kreuzebenen),  gleichviel  ob  diese  Zahl  gerade  (2n)  oder 
ungerade  (2n — 1)  ist.  Wenn  die  Antimeren-Zahl  gerade  ist  (=2n), 
wie  bei  den  meisten  Coelenteraten,  so  sind  die  Kreuzaxen  von 
zweierlei  Art,  und  es  ist  die  Hälfte  der  Kreuzaxen  (und  Kreuzebenen) 
radial,  die  Hälfte  interradial,  so  dass  strahlige  und  zwischenstrahlige 
alterniren.  So  sind  z.  B.  bei  den  Carmariniden  (den  sechsstrahligen 
Geryoniden)  drei  radiale  Kreuzebenen  vorhanden,  in  denen  die  sechs 
Radialcanäle  und  die  sechs  radialen  Randbläschen  liegen,  und  drei  in- 
terradiale Kreuzebenen,  in  denen  die  sechs  interradialen  Randbläschen 
und  Mantelspangen  liegen;  zusammen  also  sechs  Kreuzebenen,  gleich 
der  Antimeren-Zahl.  (Taf.  I,  Fig.  1).  Ebenso  finden  wir  bei  den 
hexactinoten  Anthozoen  drei  radiale  Kreuzebenen,  in  denen  die 
sechs  primären  Fächer  der  perigastrischen  Höhle,  und  drei  inter- 
radiale, in  denen  die  sechs  primären  Septa  der  Leibeswand  liegen, 
die  jene  trennen.  Wenn  die  homotypische  Grundzahl  dagegen  unge- 
rade (2n  —  1)  ist,  wie  bei  den  meisten  Echinodermen,  so  sind  alle 
Kreuzebenen  von  einerlei  Art,  nämlich  semiradial,  und  es  ist  die  Hälfte  je- 
der Kreuzaxe  ein  Radius,  die  Hälfte  ein  Interradius  (Taf.  I,  Fig.  6). 
So  sind  z.  B.  bei  allen  Seesternen  mit  fünf  Antimeren  fünf  Kreuz- 
ebenen vorhanden,  deren  jede  zur  Hälfte  aus  der  Medianebene  eines 
Armes,  zur  Hälfte  aus  der  Grenzebene  zweier  Arme  gebildet  wird. 

Als  Zusatz  müssen  wir  diesem  wichtigen  Gesetze  hinzufügen,  dass 
bei  einem  sehr  kleinen  Thcile  der  Stauraxonien ,  und  zwar  nur  bei 
einem   kleinen  Theile   der  Centrepipeden  oder   der  allopolen   Hetero- 


Kreuzaxige  Grundformen.     Stauraxonia.  433 

stauren,  namentlich  bei  einem  Theile  der  Pentamphipleuren  (z.  B.  den 
irregulären  Echinodermen  (Spatangiden  etc.)  eine  scheinbare  Aus- 
nahme darin  besteht,  dass,  streng  genommen,  die  Zahl  der  Kreuz- 
ebenen doppelt  so  gross  wird,  als  die  Zahl  der  Antimeren,  indem  die 
Radien  nicht  genau  diametral  den  Interradien  gegenüberstehen,  son- 
dern einen  stumpfen  Winkel  mit  ihnen  bilden.  Indessen  scheint  es 
passender,  diese  an  sich  unbedeutende  Abweichung  dadurch  auszu- 
drücken, dass  man  sagt,  es  seien  die  Kreuzebenen  in  diesem  Falle 
aus  zwei  unter  einem  stumpfen  Winkel  zusammenstossenden  Hälften 
zusammengesetzt,  oder  sie  seien  in  einem  Winkel  geknickt.  Für  die 
allgemeine  Morphologie  der  Stauraxonien  ist  diese  unbedeutende  Aus- 
nahme von  keinem  Werthe. 

Bei  der  Eintheilung  der  Stauraxonien  in  untergeordnete  Formen- 
gruppen muss  die  Gleichheit  oder  Verschiedenheit  der  Kreuzaxen  und 
ihrer  Pole,  sowie  weiterhin  die  Zahl  der  Kreuzaxen,  als  maassgebende 
Richtschnur  benutzt  werden.  Wichtiger  aber  noch  als  diese  Verhält- 
nisse ist  die  gleiche  oder  ungleiche  Beschaffenheit  beider  Pole  der 
Hauptaxe  und  wir  können  demgemäss  bei  den  Stauraxonien  zunächst, 
wie  bei  den  Monaxonieu,  zwei  coordinirte  Hauptgruppen  von  Formen 
bilden,  homopole  mit  gleichen,  und  heteropole  mit  verschiedenen  Polen 
und  Polflächen  der  Hauptaxe.  Bei  den  homopolen  Stauraxonien, 
welche  den  haplopolen  Monaxonien  entsprechen,  sind  Peristom-  und 
Antistomfläche  gleich ,  bei  den  heteropolen  (entsprechend  den  diplo- 
polen)  ungleich.  Bei  den  erstereu  wird  der  Körper  durch  die  Aequa- 
torialebene  (die  Querebene,  welche  senkrecht  auf  der  Hauptaxe  durch 
deren  Halbirungspunkt  gelegt  ist)  in  zwei  congruente  Hälften  getheilt; 
bei  den  heteropolen  Stauraxonien  dagegen  in  zwei  ungleiche  Stücke. 

Wenn  wir  nach  dieser  Erörterung  der  allgemeinen  characteristischen 
Eigenschaften  der  Stauraxonien  uns  im  Gebiete  der  Stereometrie 
nach  dem  einfachsten  Körper  umsehen,  der  alle  diese  Eigenschaften  be- 
sitzt, so  finden  wir  denselben  in  der  geraden  Pyramide  und  zwar 
müssen  wir  als  die  geometrische  Grundform  der  heteropolen 
Stauraxonien  die  einfache  gerade  Pyramide,  als  diejenige  der 
homopolen  die  gerade  Doppelpyramide  bezeichnen.  Wir  be- 
gegnen also  auch  hier  demselben  allgemeinen  Formgesetze,  wie  bei 
den  Monaxonien,  dass  die  weniger  differenzirten  homopolen  und  haplo- 
len  Formen  (Doppelkegel,  Sphaeroid)  zusammengesetzt  erscheinen  aus 
zwei  congruenten  und  mit  einer  Polebene  vereinigten  Individuen  der 
entsprechenden  heteropolen  und  diplopolen  Form  (Kegel,  Hemisphae- 
roid).  Die  Hauptaxe  der  Stauraxonien  ist  identisch  mit  derjenigen 
Linie,  die  in  der  Stereometrie  kurzweg  als  Axe  der  geraden  Pyramide 
bezeichnet  wird;  es  ist  dies  das  Perpendikel,   welches  von  der  Spitze 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  28 


434  System  der  organischen  Grundformen. 

der  Pyramide  auf  die  Grundfläche  gefällt  wird  und  welches  in  den 
Mittelpunkt  der  Gruudfläche  trifft. 

Die  Grundfläche  der  meisten  Stauraxonien  ist  entweder  ein  reguläres 
oder  ein  amphithectes  Polygon.  Unter  regulärem  Vieleck  verstehen 
wir,  wie  in  der  Geometrie,  ein  solches,  dessen  Seiten  sämmtlich  gleich 
sind  und  gleiche  Winkel  mit  einander  bilden.  Amphithectes1)  Po- 
lygon nennen  wir  ein  Vieleck  mit  gerader  Seitenzahl,  welches  durch 
zwei  auf  einander  senkrechte  ungleiche  Durchmesser,  die  sich  gegen- 
seitig halbiren,  in  vier  congruente  Polygone  zerlegt  wird,  und  in  wel- 
chem daher  je  vier  Seiten  und  ebenso  je  vier  Winkel  unter  einander 
gleich  sind.  Alle  Diagonalen  des  amphithecten  Polygons  kreuzen  sich 
in  dem  Mittelpunkte  desselben;  die  an  beiden  Enden  jeder  Diagonale 
gelegenen  Seiten  sind  paarweise  gleich  und  parallel,  daher  auch  die 
beiden  Winkel,  deren  Scheitel  durch  die  Diagonale  verbunden  werden, 
gleich  sind.  Genau  betrachtet  sind  von  den  vier  congruenten  Poly- 
gonen, aus  denen  jedes  amphithecte  Polygon  besteht,  nur  je  zwei 
gegenüberliegende  absolut  congruent,  dagegen  je  zwei  benachbarte 
symmetrisch  congruent,  d.  h.  sie  müssen  umgeklappt  (Rechts  in 
Links  verwandelt)  werden,  um  sich  vollständig  zu  decken.  Die  beiden 
ungleichen,  sich  gegenseitig  halbirenden  und  rechtwinkelig  gekreuzten 
Durchmesser  des  amphithecten  Polygons,  welche  dasselbe  in  congruente 
Polygone  zerlegen,  bezeichnen  wir  aus  später  zu  erörternden  Gründen 
als  Richtdurchmesser,  oder  Richtaxen  (Euthyni),  oder  ideale 
Kreuzaxen  desselben.  Diese  verbinden  entweder  die  Halbirungs- 
punkte  zweier  Gegenseiten  oder  als  Diagonalen  die  Scheitel  zweier 
Gegenwinkel.     (Vgl.  Taf.  I,  Fig.  2,  Fig.  8  nebst  Erklärung). 

Diejenigen  geraden  Pyramiden,  deren  Grundflächen  amphithecte 
Polygone  sind,  nennen  wir  amphithecte  Pyramiden.  Die  Betrach- 
tung dieser  Pyramiden  ist  von  grosser  Wichtigkeit,  da  diese  Grund- 
form weit  verbreitet  ist.  Eine  achtseitige  amphithecte  Pyramide  ist  z.  B. 
die  Grundform  der  Ctenophoren  (Fig.  8),  eine  sechsseitige  die  Grundform 
der  Madreporen  (Fig.  2).  Die  Hauptaxe  dieser  Stauraxonien  ist  diejenige 
Linie,  die  auch  in  der  Stereometrie  kurzweg  als  „Axe  der  Pyramide" 
bezeichnet  wird,  d.  h.  diejenige  Linie,  welche  die  Spitze  mit  dem 
Mittelpunkt  der  Grundfläche  verbindet.  Die  Spitze  der  Pyramide  ist 
ihr  aboraler,  die  Grundfläche  ihr  oraler  Pol.  Die  beiden,  auf  ein- 
ander  senkrechten  Meridianebenen,   welche   sich   durch   die  Hauptaxe 


')  ufx(fUir\y.roq,  von  zwei  Seiten'  her  geschärft,  zweischneidig.  Man  könnte 
das  amphithecte  Polygon  auch  bilateral  oder  symmetrisch  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes  nennen,  wenn  nicht  diese  Begriffe  in  so  verschiedenem  Sinne  ge- 
braucht würden,  dass  sie  alle  Bedeutung  verloren  haben. 


Kreuzaxige  Grundformen.     Stauraxonia.  435 

der  amphithecten  Pyramide  und  durch  die  beiden  Richtdurchmesser 
oder  idealen  Kreuzdurchmesser  ihrer  Basis  legen  lassen,  nennen  wir 
die  Richtebenen  (Plana  euthyphora)  oder  idealen  Kreuz- 
ebenen, im  Gegensatze  zu  den  realen  Kreuzebenen,  die  durch 
die  Kanten  der  Pyramide  und  durch  die  Hauptaxe  gelegt  werden 
können.  Die  beiden  rechtwinkelig  gekreuzten  Perpendikel,  welche 
wir  auf  der  Hauptaxe  in  deren  Halbirungspunkten  errichten  können 
und  welche  in  den  beiden  idealen  Kreuzebenen  der  amphithecten 
Pyramide  liegen,  sind  ihre  beiden  Richtaxen  (Euthyni)  oder 
idealen  Kreuz axen,  während  die  realen  Kreuzaxen  (oder 
Kreuzaxen  im  engeren  Sinne)  diejenigen  im  Halbirungspunkte  der 
Hauptaxe  auf  derselben  errichteten  Perpendikel  sind,  die  in  den  realen 
Kreuzebenen  liegen  und  durch  die  Kanten  der  Pyramide  gehen.  Die 
drei  verschiedenen,  auf  einander  senkrechten  Axen,  von  denen  eine 
(die  Hauptaxe)  ungleichpolig,  jede  der  beiden  anderen  (der  idealen 
Kreuzaxen)  gleichpolig  ist,  sind  die  drei  Axen,  welche  den  Character 
der  amphithecten  Pyramide  bestimmen.  Dieselben  entsprechen  den 
drei  Dimensionen  des  Raumes,  und  zwar  betrachten  wir  die  Hauptaxe 
ein  für  allemal  als  Längsaxe,  ihren  Apicalpol  als  aboralen,  ihren 
Basalpol  als  oralen  Pol,  während  wir  die  beiden  idealen  Kreuzaxen 
als  Dickenaxe  (Dorsoventralaxe)  und  Breitenaxe  (Lateralaxe)  unter- 
scheiden. Durch  die  beiden  idealen  Kreuzebenen  wird  die  amphithecte 
Pyramide  in  vier  gleiche  rechtwinkelige  Pyramiden  zerlegt,  von  denen 
je  zwei  gegenüberliegende  congruent,  je  zwei  benachbarte  symmetrisch 
gleich  sind  (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  2,  Fig.  8). 

Die  reguläre  Pyramide,  die  einem  Theile  der  Stauraxonien 
zu  Grunde  liegt,  ist,  wie  die  Geometrie  erklärt,  eine  Pyramide,  deren 
Grundfläche  ein  reguläres  Vieleck  und  deren  Seitenflächen  sämmtlich 
gleichschenkelige  und  congruente  Dreiecke  sind.  Die  reguläre  Py- 
ramide mit  gerader  Seitenzahl  kann  als  eine  amphithecte  Pyramide 
betrachtet  werden,  deren  beide  ideale  Kreuzaxen  gleich  geworden 
sind,  und  die  folglich  durch  die  beiden  idealen  Kreuzebenen  in  vier 
absolut  congruente  rechtwinkelige  Pyramiden  zerlegt  wird. 

Die  vorhergehenden  Erörterungen  über  die  wichtigsten  Theile  der 
regulären  und  der  amphithecten  Pyramide,  als  der  allgemeinen 
Grundform  der  Stauraxonien,  gelten  sowohl  von  der  einfachen  Pyra- 
mide der  heteropolen,  als  von  der  doppelten  Pyramide  der  homopolen 
Stauraxonien;  die  letztere  können  wir  in  allen  Fällen  betrachten  als 
ein  Aggregat  von  zwei  congruenten  und  mit  ihren  Grundflächen  ver- 
einigten geraden  Pyramiden.  Sowohl  unter  den  einfachen  (heteropolen) 
als  unter  den  doppelten  (homopolen)  geraden  Pyramiden  giebt  es 
reguläre  und  amphithecte  Formen,  die  ersteren  mit  gleichen,  die 
letzteren    mit    ungleichen    idealen    Kreuzaxen. 

28* 


436  System  der  organischen  Grundformen. 

Erste  Familie  der  Stauraxonien: 
Gleichpolige  Kreuzaxige.     Ilomopola. 

Slereomeirische  Grundform:  Doppelpyramide. 

Die  gleichpoligen  Kreuzaxigen  bilden  nur  eine  kleine  Formengruppe 
gegenüber  der  grossen  Mehrzahl  der  heteropolen  Stauraxonien.  Es 
gehört  hierher  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Protisten,  insbesondere 
Diatomeen  und  Radiolarien  (viele  Acanthometriden,  Ommatiden  und 
Disciden),  die  wegen  der  geometrisch  reinen  Ausprägung  der  Grund- 
form und  wegen  ihrer  Uebereinstimmung  mit  gewissen  Kry stallformen 
von  besonderem  Interesse  sind.  Die  Grundform  ist  eine  gerade,  ent- 
weder reguläre  oder  amphithecte  Doppelpyramido,  von  sehr  verschie- 
dener Seitenzahl.  Demgemäss  ist  auch  die  Zahl  der  Antimeren  sehr 
verschieden.  Wenn  diese  Zahl  Vier  ist,  so  ist  die  Grundform  ein 
Octaeder.  Die  Hauptaxe,  deren  beide  Pole  und  Polarflächen  stets 
gleich  sind,  ist  bald  grösser,  bald  kleiner  als  die  Kreuzaxen. 

Die  homopolen  Stauraxonien  zerfallen  in  zwei  Gruppen,  Isostaura 
und  Allostaura,  je  nachdem  die  beiden  idealen  Kreuzaxen  gleich  oder 
ungleich  sind.  Die  Grundform  der  Isostauren  (mit  gleichen  idealen 
Kreuzaxen)  ist  die  reguläre  Doppelpyramide,  die  Grundform  der  Allo- 
stauren dagegen  (mit  ungleichen  idealen  Kreuzaxen)  die  amphithecte 
Doppelpyrarnide.  Die  gemeinsame  Grundfläche  der  beiden  vereinigten 
congruenten  Pyramiden,  aus  denen  der  Körper  der  homopolen  Staur- 
axonien zusammengesetzt  wird,  ist  bei  den  ersteren  ein  reguläres,  bei 
den  letzteren  ein  amphithectes  Polygon. 

Wenn  wir  von  den  realen  Kreuzaxen  und  der  ihnen  entsprechen- 
den Antimeren -Zahl  der  homopolen  Stauraxonien  absehen  und  bloss 
ihre  idealen  Kreuzaxen  ins  Auge  fassen,  so  werden  wir  überrascht 
durch  die  Uebereinstimmung  ihrer  Grundform  mit  derjenigen  von  ge- 
wissen Krystallen.  Wir  brauchen  bloss  die  Pole  der  Hauptaxe  und 
der  beiden  idealen  Kreuzaxen  durch  Linien  zu  verbinden  und  durch 
je  zwei  benachbarte  Verbindungslinien  eine  Fläche  zu  legen,  um  die 
Krystallform  des  Octaeders  zu  erhalten,  welche  durch  drei  auf  ein- 
ander senkrechte  und  sich  halbirende  gleichpolige  Axen  bestimmt 
wird.  Wenn  alle  drei  Axen  verschieden  sind,  wie  bei  den  Allostauren, 
so  ist  die  Aequatorialebene  ein  Rhombus  und  die  Grundform  das 
Rhomben-Octaeder  des  rhombischen  Krystallsystems.  Wenn  die  beiden 
idealen  Kreuzaxen  gleich  sind,  und  bloss  die  Hauptaxe  verschieden, 
wie  bei  den  Isostauren,  so  ist  die  Aequatorialebene  ein  Quadrat  und 
die  Grundform  das  Quadrat-Octaeder  des  tetragonalen  Krystallsystems. 
Wenn  endlich  alle  drei  Axen  gleich  sind,  so  ist  die  Grundform  das 
reguläre   Octaeder  des  tesseralen  Systems;    diese    Form  gehört  aber 


Diplopyramidale  Grundformen.     Homopola.  437 

nicht  mehr  hierher,  da  die  Hauptaxe  hier  nicht  differenzirt  ist;  wir 
haben  sie  daher  oben  bei  den  rhythmischen  Polyaxonien  betrachtet; 
sie  soll  hier  nur  nochmals  erwähnt  werden,  um  die  nahe  Berührung 
dieser  verschiedenen  Grundformen  in  ihren  extremsten  Ausläufern, 
dem  absolut  regulären  Polyaxon  und  dem  beinahe  absolut  regulären 
Stauraxon,  zu  zeigen.  Das  Quadrat-Octaeder  der  homopolen  Staur- 
axonforra  könnten  wir  aus  dem  regulären  Octaeder  der  rhythmischen 
Polyaxonform  ganz  einfach  dadurch  entstehen  lassen,  dass  wir  eine 
der  drei  gleichen  Axen  des  letzteren  nach  beiden  Polen  hin  gleich- 
massig  ein  wenig  verlängern  und  dadurch  zur  Hauptaxe  erheben. 

Wie  wir  bei  den  genannten  Krystallsystemen  ebensowohl  wie 
das  Octaeder,  auch  die  gerade  prismatische  Säule  als  Grundform  an- 
sehen dürfen,  so  kann  dies  auch  bei  den  ihnen  entsprechenden  homo- 
polen Stauraxonformen  geschehen.  Es  würde  dann  die  Grundform 
der  Isostauren,  welche  dem  Tetragonalsystem  entspricht,  die  quadra- 
tische Säule  sein,  ein  rechtwinkeliges  Parallel-Epipedum  mit  quadra- 
tischer Basis.  Die  Grundform  der  Allostauren,  welche  dem  rhombischen 
System  entspricht,  würde  die  rhombische  Säule  sein,  ein  gerades 
Parallel-Epipedum  mit  rhombischer  Basis.  In  der  That  finden  wir 
auch  diese  beiden  prismatischen  Formen  in  gewissen  Radiolarien 
vollkommen  rein  verkörpert. 

Während  die  heteropolen  Stauraxonien  bisher  fast  allein  Object 
promorphologischer  Betrachtungen  gewesen  sind,  hat  man  die  homo- 
polen noch  fast  gar  nicht  berücksichtigt;  und  doch  gehören  sie  aus 
den  angeführten  Gründen  zweifelsohne  zu  den  merkwürdigsten  und 
lehrreichsten  organischen  Grundformen. 


Erste  Unterfamilie  der  homopolen  Stauraxonien: 
Gleichpolige  Gleichkreuzaxige.     Isostaura. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Doppelpyramide. 

Die  homopolen  Stauraxonien  mit  gleichen  Kreuzaxen  oder  Iso- 
stauren  haben  zur  Grundform  die  reguläre  Doppelpyramide, 
oder  wenn  man  bloss  die  beiden  idealen  Kreuzaxen  berücksichtigt 
und  von  den  realen  absieht,  das  Quadrat-Octaeder.  Es  entspricht 
also  diese  Formengruppe  im  Ganzen  den  Krystallformen  des 
tetragonalen  oder  quadratischen  Krystallsystems,  in  wel- 
chem unter  Anderen  Zinnerz,  Rutil,  Blutlaugensalz,  schwefelsaures 
Nickeloxyd  u.  s.  w.  krystallisiren. 

Wir  können  die  Isostauren  naturgemäss  in  zwei  Gruppen  bringen; 
je  nachdem  die  homotypische  Grundzahl  Vier  oder  eine  andere  Zahl 
ist.    Bei  den  octopleuren  Isostau ren  oder  den  achtseitigen  regu- 


438  System  der  organischen  Grundformen. 

lären  Doppelpyramiden  (mit  vier  Antimeren),  die  also  das  verkör- 
perte Quadrat  -  Octaeder  sind,  fallen  die  beiden  gleichen  radialen 
realen  Kreuzaxen  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammen  und 
schneiden  sich  unter  rechten  Winkeln,  wesshalb  man  sie  auchOrtho- 
gonien  nennen  könnte.  Bei  den  polypieuren  Isostauren  oder 
den  vielseitigen  regulären  Doppelpyramiden  (mit  drei,  fünf,  sechs  oder 
mehr  Antimeren)  schneiden  sich  die  (drei,  fünf,  sechs  oder  mehr) 
radialen  oder  semiradialen  realen  Kreuzaxen  unter  spitzen  Winkeln 
und  es  fällt  daher  wenigstens  ein  Theil  von  ihnen  nicht  mit  den 
beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammen;  sie  könnten  den  Orthogonien 
als  Oxygonien  gegenübergestellt  werden. 

Erste  Gattung  der  isostauren  Stauraxonien : 

Vielseitige  reguläre  Doppelpyraniiden.     Isostaura  polypleura. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Doppelpyramide  mit  6  oder  8  +2n Seiten. 

Realer  Typus:  Heliodiscus  (Taf.  II,  Fig.  23,  24). 

Die  homopolen  Stauraxonien,  welche  der  Gruppe  der  polypieuren 
oder  oxygonien  Isostauren  angehören,  haben  als  Grundform  eine  regu- 
läre Doppelpyramide  mit  sechs,  zehn,  zwölf  oder  mehr  (allgemein 
8  +  2n)  congruenten  Seitenflächen.  Die  Antimeren-Zahl  muss  dem- 
nach drei,  fünf,  sechs  oder  mehr  sein.  Ebenso  gross  ist  die  Zahl  der 
realen  Kreuzaxen  (3,5  oder  5  +  n),  welche  entweder  gar  nicht 
oder  nur  zum  Theil  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammen- 
fallen und  daher  stets  unter  spitzen  Winkeln  sich  kreuzen  (Oxygonia). 
Es  gehören  hierher  also  alle  regulären  Doppelpyramiden  mit  Aus- 
schluss der  achtseitigen.  Ebenso  gut  als  die  reguläre  Doppelpyramide 
könnten  wir  auch  das  reguläre  Prisma  als  Grundform  der  poly- 
pieuren Isostauren  betrachten,  also  ein  Prisma,  dessen  Seitenflächen 
Rechtecke  und  dessen  Grundflächen  reguläre  Vielecke  sind.  Auch 
hier  würde  das  vierseitige  reguläre  Prisma  (die  quadratische  Säule), 
welches  die  Grundform  der  octopleuren  Isostauren  ist,  auszuschliessen 
sein.  Es  würde  also  die  Zahl  der  Seitenflächen  des  regulären  Prisma 
mindestens  drei,  nächstdem  fünf,  sechs  oder  mehr  betragen  müssen. 

Als  eine  besonders  merkwürdige  Art  der  polypieuren  Isostauren 
könnte  die  zwölfseitige  reguläre  Doppelpyramide  oder  das 
Hexago  nal-Dodecaeder  hervorgehoben  werden,  weil  dieselbe  zu- 
gleich die  Grundform  des  hexagonalen  Krystallsystems  ist,  welches 
durch  drei  gleiche  unter  00  °  sich  schneidende  Kreuzaxen  characterisirt 
ist,  die  senkrecht  auf  dem  Mittelpunkt  der  Hauptaxe  stehen.  Diese 
Form  ist  sehr  rein  in  gewissen  Pollen-Zellen  verkörpert,  z.  B.  von 
Passiflora  angustifolia ,  Heliotropium  grandiflorum  etc.  (Vgl.  Taf.  II, 
Fig.  23). 


Reguläre  diplopyraniidale  Grundformen.     Isostaura.  439 

Von  allen  Organismen  sind  es  wiederum  vorzüglich  die  Radiola- 
rien,  dann  die  Diatomeen  und  sehr  viele  Pollenkörner,  welche  die 
polypleure  Isostauren-Form  rein  ausgeprägt  zeigen,  bald  als  reguläre 
Doppelpyramide,  bald  als  reguläres  Prisma;  bald  kann  ebensogut  die 
eine  als  die  andere  Grundform  daraus  abgeleitet  werden.  Diejenigen 
Radiolarien,  bei  denen  die  Doppelpyramide  deutlicher  hervortritt,  ge- 
hören meistens  den  Familien  der  Ommatiden,  Disciden  und  Spongu- 
riden  an.  Die  radialen  oder  semiradialen  Kreuzaxen,  welche  von 
dem  Halbirungspunkte  der  Hauptaxe  zu  den  Ecken  der  vereinigten 
regulär -polygonalen  Grundflächen  der  beiden  congruenten  Pyramiden 
gehen  und  die  mithin  in  dieser  Grundfläche  (der  Aequatorialebene) 
selbst  liegen,  sind  hier  gewöhnlich  in  Form  starker  und  langer  radia- 
ler Kieselstacheln  verkörpert,  die  sich  im  Centrum  unter  gleichen 
spitzen  Winkeln  schneiden.  Der  Mittelkörper,  von  dessen  Aequator 
diese  Radien  ausgehen,  ist  bald  eine  biconvexe  Linse  CHeliodiscus), 
bald  ein  verkörperter  gerader  Cylinder  (Stylodictya,  Stylospongia). 
Um  die  reguläre  Doppelpyramide  rein  zu  erhalten,  braucht  man  bloss 
die  Spitzen  der  Radialstacheln  mit  den  beiden  Polen  der  Hauptaxe 
durch  gerade  Linien  zu  verbinden,  welche  den  Mantel  des  cylindrischen 
oder  sphaeroiden  linsenförmigen  Mittelkörpers  berühren.  Die  regulären 
Doppelpyramiden  in  der  Form  vieler  Pollenkörner  sind  sehr  leicht  zu  er- 
kennen und  haben  eine  sehr  verschiedene  Seitenzahl,  z.  B.  16  bei  Collomia 
grandiflora,   30  bei  Motmina  xalapensis,  32  bei  Poligala  chamaebuxus. 

Die  Zahl  der  Stachelradien,  welche  die  homotypische  Grundzahl  be- 
stimmt und  halb  so  gross  ist,  als  die  Zahl  der  congruenten  Seitenflächen 
der  Doppelpyramide,  scheint  bei  den  meisten  hierher  gehörigen  Radiolarien- 
Species  constant  zu  sein.  In  der  schönen  Gattung  Heliodiscus  (zur  Omma- 
tiden -  Familie  gehörig)  finden  wir  H.  phacodiscus  mit  12  Radien  (Rad. 
Taf.  XVII,  Fig.  5—7),  H.  Humboldtii  mit  18  Radien  (Ehrenberg,  Micro- 
geol.  Taf.  XXXVI,  Fig.  27);  bei  H.  sol  scheinen  deren  24  und  bei  H. 
amphidiscus  16  vorhanden  zu  sein.  Stylospongia  Huxleyi  ist  durch  10  Ra- 
dien ausgezeichnet  (Rad.  Taf.  XXVIII,  Fig.  7).  In  anderen  Fällen  variirt 
die  Antimeren-Zahl  innerhalb  der  Species,  oder  nimmt  mit  dem  Alter  und 
Wachsthum  des  Thieres  zu,  so  bei  Stylodictya  mnltispina  (Rad.  Taf.  XXIX, 
Fig.  5),  wo  zwischen  24  und  40,  gewöhnlich  28,  und  bei  Stylodictya  arachnia 
(J.  Müller,  Abhandl.  Taf.  I,  Fig.  8),  wo  zwischen  8  und  16,  gewöhnlich 
12  Radien  und  ebenso  viele  Antimeren  vorhanden  sind. 

Nächst  den  Radiolarien  finden  wir  die  vielseitige  reguläre  Doppel- 
pyramide als  Grundform  vieler  Diatomeen  und  Desmidiaceen,  ferner  sehr 
zahlreicher  Pollenkörner  wieder.  Unter  letzteren  ist  besonders  häufig  die 
sechsseitige  (z.  B.  Pollen  von  Caryocar  brasiliense,  Scorzonera  pratensis). 
Zehnseitig  ist  der  Pollen  vieler  Violen,  zwanzigseitig  von  Symphytum. 

Als  Radiolarien,  in  denen  das  reguläre  Prisma  rein  verkörpert  ist, 
sind  hier  vor  Allen  3  höchst  merkwürdige  Formen  zu   nennen,    und    zwar 


440  System  der  organischen  Grundformen. 

ist  bei  allen  drei  das  reguläre  Prisma  ein  dreiseitiges,  die  Grundflächen  also 
gleichseitige  Dreiecke.  Das  zur  Familie  der  Acauthodesmiden  gehörige  Prisma- 
tium  tripleurum  (Taf.  II,  Fig.  24)  zeigt  diese  stereometrische  Form  so  rein 
verkörpert,  dass  wir  auf  die  von  uns  gegebene  Beschreibung  und  Abbil- 
dung dieses  seltsamen  Protisten  speciell  verweisen  müssen  (Rad.  p.  270, 
Taf.  IV,  Fig.  6).  Das  Kieselskelet  desselben  besteht  lediglich  aus  9  dün- 
nen Stäben,  welche  in  ihrer  Lagerung  und  Verbindung  in  der  That  voll- 
kommen den  9  Kanten  des  regulären  dreiseitigen  Prisma  entsprechen. 
Weniger  in  die  Augen  fallend,  aber  eben  so  rein,  tritt  uns  das  reguläre 
dreiseitige  Prisma  in  einigen  Sponguriden  und  Disciden  entgegen,  nämlich 
in  Dictyocoryne  euchitonia  (Rad.  p.  468),  und  in  mehreren,  mit  3  gleichen 
Armen  versehenen  Arten  von  Euchitonia,  so  namentlich  E.  Leydigii  und 
E.  KöUiheri  (Rad.  p.  510,  511;  Taf.  XXXI,  Fig.  4—7).  Für  die  erste 
oberflächliche  Betrachtung  scheinen  die  Kieselskelete  dieser  Thiere  dünne 
gleichseitig-dreieckige  Scheiben  zu  sein.  Sobald  man  sie  aber  auch  von 
dem  schmalen  Rande  her  betrachtet,  erkennt  man,  dass  es  reguläre  dreisei- 
tige Prismen  mit  sehr  verkürzter  Hauptaxe  siud.  Die  radialen  Mittellinien 
der  3  gleichen,  unter  gleichen  Winkeln  von  dem  cylindrischen  Mittelkör- 
per abstehenden  Arme,  und  die  interradialen  Verlängerungen  dieser  3  Mit- 
tellinien, die  sich  unter  Winkeln  von  60°  schneiden,  sind  die  semiradialen 
Kreuzaxen  des  regulären  dreiseitigen  Prisma.  Endlich  scheint  dieselbe 
Grundform  auch  in  dem  höchst  merkwürdigen  Coelodendrum  erkennbar  zu 
sein,  dessen  Gestalt  jedoch  nicht  hinlänglich  genau  bekannt  ist  (vergl.  Rad. 
p.  360—364,  Taf.  XIII,  Fig.  1,  2,  Taf.  XXXLl,  Fig.  1). 

Zweite  Gattung  der  isostauren  Stauraxonien. 
Quadrat-Octaeder.     Isostaura  oetopleura. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Doppelpyramide  mit  8  Seiten. 
Realer  Typus:  Acanthostaurus  (Taf.  II,  Fig.  25,  26). 

Unter  allen  Arten  der  Doppelpyrarniden  ist  es  diejenige  mit  acht 
gleichen  Seitenflächen,  welche  die  einfachsten  Verhältnisse  darbietet 
und  sich  unmittelbar  an  das  reguläre  Octaeder  der  rhythmischen 
Polyaxonforni  anschliesst.  Die  Grundform  dieser  octopleuren  Isostauren 
ist  das  Quadrat-Octaeder  des  quadratischen  oder  tetrago- 
nalen  Krystallsystems.  Die  beiden  radialen  realen  Kreuzaxen 
fallen  mit  den  beiden  gleichen  idealen  Kreuzaxen  zusammen  und 
schneiden  sich  unter  rechten  Winkeln,  daher  man  diese  Formen  auch 
Orthogonia  nennen  kann.  Diese  Kreuzaxen  sind  die  Diagonalen 
des  Quadrates,  welches  die  Aequatorialebene  des  Octaeders  bildet. 
Die  Hauptaxe  ist  bei  den  hierher  gehörigen  Thierformen  sehr  ver- 
schieden entwickelt,  bald  länger,  bald  bedeutend  kürzer  als  die 
beiden  unter  einander  gleichen  radialen  Kreuzaxen. 

Die    Organismen,    welche  die   Grundform   des  Quadrat-Octaeders 


Quadrat  -  octaedrische  Grundformen.     Isostaura  octopleura.  441 

deutlich  ausgeprägt  zeigen,  und  also  unmittelbar  an  die  Krystallformen 
des  tetragonalen  Systems  sieb  anscbliessen ,  geboren  grösstentheils 
wieder  der  Radiolarien-Klasse  an.  Gewöhnlich  ist  bei  denselben  die 
reine  stereometrische  Krystallform  des  Organismus  desshalb  so  klar 
ausgesprochen,  weil  sie  radiale,  sehr  entwickelte  Kieselstacheln  be- 
sitzen, die  durch  ihre  Lagerung  vollkommen  den  Axen  des  Quadrat- 
Octaeders  entsprechen,  und  die  man  geradezu  als  verkörperte  Kry- 
stallaxen  ansehen  darf.  Auch  unter  den  Diatomeen  und  Desmidiaceen 
(Taf.  II,  Fig.  25)  ist  das  Quadrat- Octaeder  sehr  verbreitet  (z.  B.  Staura- 
strum dilatatuni),  ferner  bei  vielen  Pollenkörnern  (z.  B.  Annona  tripetala, 
Phyllidrum  lanuginosum).  Vor  Allen  merkwürdig  und  höchst  wichtig 
für  die  Frage  von  der  Formenverwandtschaft  der  Krystalle  und  der 
Organismen  sind  hier  aber  diejenigen  Radiolarien,  welche  zwanzig 
nach  Müller's  Gesetze  symmetrisch  verth  eilte  Radial  stacheln 
besitzen.  (Taf.  II,  Fig.  26).  Wir  haben  dieses  höchst  interessante  Stellungs- 
gesetz, welches  zuerst  von  Johannes  Müller  entdeckt  wurde,  und 
welches  wir  ihm  zu  Ehren  benannt  haben,  in  unserer  Monographie  der 
Radiolarien  weitläufig  erörtert  und  als  ein  in  dieser  Thierklasse  sehr 
weit  verbreitetes  nachgewiesen  (1.  c.  p.  40 — 45)  und  müssen  hier  auf 
die  dort  gegebenen  ausführlichen  Erläuterungen  und  zahlreichen  Ab- 
bildungen verweisen  (z.  B.  Taf.  IX,  X,  XV— XXIV). 

Müller's  Gesetz  von  der  Stellung  der  20  symmetrisch  ver- 
teilten Radialstacheln  der  Radiolarien  lässt  sich  am  kürzesten 
folgendermaassen  formuliren:  „Zwischen  2  stachellosen  Polen  stehen  5  Gürtel 
von  je  4  radialen  Stacheln ;  die  4  Stacheln  jedes  Gürtels  sind  gleich  weit 
von  einander  und  auch  gleich  weit  von  demselben  Pole  entfernt,  und  alter- 
niren  so  mit  denen  der  benachbarten  Gürtel,  dass  alle  20  zusammen  in 
4  Meridian-Ebenen  liegen."  Zur  Bezeichnung  der  einzelnen  Stachelgürtel 
haben  wir  nach  Müller's  Vorgange  das  Bild  des  Erdglobus  gewählt  und 
die  stachellose  Axe  der  Erdaxe  gleichgesetzt,  die  beiden  stachellosen 
Pole  dieser  Hauptaxe  den  beiden  Polen  der  Erdaxe.  Es  fällt  dann  der 
mittlere,  unpaare  von  den  5  Stachelgürteln  in  die  Aequatorialebene  und 
demgemäss  sind  die  4  Stacheln,  welche  in  dieser  liegen  und  2  rechtwinklig 
gekreuzte  aequatoriale  Durchmesser  darstellen,  als  Aequatorialstacheln 
zu  bezeichnen.  In  denselben  beiden  (auf  einander  senkrechten)  Meridian- 
Ebenen,  wie  die  4  aequatorialen,  liegen  auch  die  8  Radialstacheln,  welche 
zu  je  Vieren  die  beiden  Pole  umgeben,  und  deren  Spitzen  in  die  Polar- 
kreise des  fingirten  Erdglobus  fallen  würden;  sie  heissen  desshalb  Polar- 
stacheln. Zwischen  den  beiden  Zonen  der  8  polaren  und  der  unpaaren 
Zone  der  4  aequatorialen  Stacheln  liegen  die  beiden  mit  ihnen  alterniren- 
den  Zonen  der  8  Tropenstacheln,  in  zwei  senkrecht  gekreuzten  (inter- 
radialen) Meridianebenen,  welche  zwischen  den  beiden  ersten  (radialen) 
Meridianebenen  in  der  Mitte  liegen;  die  Spitzen  von  je  4  Tropenstachelu 
fallen  in  einen  Wendekreis.  Um  eine  allgemein  gültige  Bezeichnung  für 
die  20    nach    diesem    merkwürdigen   Gesetz    vertheilten  Stacheln    durchzu- 


442  System  der  organischen  Grundformen. 

führen,  haben  wir  die  5  Gürtel  mit  folgenden  Buchstaben  bezeichnet:  die 
4  Stacheln  des  nördlichen  Polarkreises  mit  a,  die  4  Stacheln  des  südlichen 
mit  e,  die  4  aequatorialeu  Stacheln  mit  c,  die  4  Stacheln  des  nördlichen 
Wendekreises  mit  b,  die  4  Stacheln  des  südlichen  mit  d.  Ferner  haben  wir 
die  4  Stacheln  eines  jeden  Gürtels  der  Reihe  nach  (bei  einem  Umgang  von 
Osten  nach  Westen)  mit  den  Zahlen  1,  2,  3,  4  bezeichnet. 

Wenn  wir  diese  allgemein  gültigen  Bezeichnungen  festhalten,  so  lie- 
gen I.  in  der  ersten  Radialebene  (ersten  Meridianebene)  al  cl  el  e3  c3 
a3;  II.  in  der  ersten  Interradialebene  (zweiten  Meridianebene)  bl  dl  d3 
b3;  III.  in  der  zweiten  Radialebene  (dritten  Meridianebene)  a2  c2  e2  e4 
c4  a4;  IV.  in  der  zweiten  Interradialebene  (vierten  Meridianebene)  b2  d2 
d4  b4.  Die  zahlreichen  weiteren  merkwürdigen  Modificationen  der  Körper- 
bildung, welche  dieses  Gesetz  namentlich  auch  in  der  Architectur  der  git- 
terschaaligen  Ommatiden  nach  sich  zieht,  haben  wir  in  unserer  Monographie 
der  Radiolarien  ausführlich  erörtert  und  durch  genaue  Abbildungen  er- 
läutert, namentlich  an  Acantlwmetru  bulbosa,  A.  Midhri,  A  frugilis  (Taf.  XV, 
Fig.  2,  3,  4),  Xiphacantha  spinulosa  (Taf.  XVII,  Fig.  4),  Acunthostaurus 
hastatus  (Taf.  XIX,  Fig.  5),  Doratuspis  bipennis,  n.  polyancistra  (Taf.  XXI, 
Fig.  1,  2)  und  vielen  Anderen.  Indem  wir  auf  die  Beschreibung  dieser 
Arten  verweisen,  wollen  wir  hier  nur  dasjenige  nachtragen,  was  auf  die 
octaedrische  Grundform  Bezug  hat  und  was  dort  nur  beiläufig  erwähnt 
wurde.     (Vgl.  auch  Taf.  II,  Fig.  26  nebst  Erklärung.) 

Es  ist  klar  dass  für  unsere  Frage  vor  Allen  die  4  unter  rechten  Winkeln 
zusammenstossenden  Aequatorialstacheln  von  Interesse  sind,  welche  als 
Verkörperungen  der  Richtaxen,  der  beiden  auf  einander  senkrechten  Durch- 
messer der  Aequatorialebene  (Diagonalen  der  quadratischen  Grundfläche 
der  Pyramiden)  anzusehen  sind  und  als  solche  die  Orientiruug  des  übrigen 
Körpers  bestimmen.  Da  diese  beiden  Axen  bei  den  einen  Radiolarien 
gleich,  bei  den  andern  ungleich  sind,  so  dürfen  wir  sie  als  ideale  Kreuz- 
axen  (Dicken-  und  Breiten-Durchmesser)  ansehen,  während  die  stachellose 
Hauptaxe,  die  constant  von  jenen  Beiden  verschieden  ist,  als  Längsaxe  oder 
eigentliche  Hauptaxe  zu  betrachten  ist. 

Bei  allen  Radiolarien,  welche  20  nach  Müller's  Gesetze  symmetrisch 
vertheilte  Radialstacheln  tragen,  lässt  sich  die  octaedrische  Grundform  ganz 
einfach  und  bestimmt  dadurch  nachweisen,  dass  man  die  Spitzen  der  be- 
nachbarten polaren  und  aequatorialen  Stacheln  durch  Linien  verbindet  und 
durch  diese  Linien  Flächen  legt.  Sind  die  beiden  radialen  Kreuzaxen  (Aequa- 
torial-Stachel-Paare)  gleich,  so  entsteht  dadurch  das  Quadrat-Octaeder  der 
Isostauren,  die  Grundform  des  tetragoualen  Krystallsystems ;  sind  die  bei- 
den radialen  Kreuzaxen  ungleich,  so  entsteht  das  rhombische  Octaeder  der 
Allostauren,  die  Grundform  des  rhombischen  Krystallsystems.  Im  letzteren 
Falle  haben  wir  von  den  beiden  ungleichen  Kreuzaxen  (Aequatorial-Durch- 
messern)  in  unserer  Monographie  die  längere  und  stärkere  (oft  auch  durch 
besondere  Bildung  ausgezeichnete)  als  verticale  (oder  longitudinale),  dage- 
gen die  kürzere  und  schwächere  als  horizontale  (oder  transversale)  be- 
zeichnet. Doch  ziehen  wir  es  jetzt  vor,  um  Uebereinstimmung  mit  der  hier 
consequent  durchgeführten  Nomenclatur  zu  gewinnen,  die  eine,    (und  zwar 


Quadrat-octaedrische  Grundformen.     Isostaura  octopleura.  443 

die  verticale)  als  Dickenaxe  (Dorsoveutral  -  Durchmesser),  die  andere  (die 
horizontale)  als  Breitenaxe  (Lateral-Durchniesser)  zu  bezeichnen.  Bestim- 
mend für  diese  Wahl  ist  insbesondere,  dass  bei  einer  merkwürdigen  Acan- 
thostauride,  der  Ampliilonche  anomala  (Taf.  XVI,  Fig.  8),  die  beiden  Pole 
der  längeren  oder  Dickenaxe  ungleich  werden ,  so  dass  sich  Rücken-  und 
Bauchseite  differenzirt,  während  die  beiden  Pole  der  schwächeren  oder  Brei- 
tenaxe (Rechts  und  Links)  gleich  bleiben.  Das  Quadrat  -  Octaeder  des 
tetragonalen  Krystallsystems  ist  als  organische  Grundform  am  weitesten 
verbreitet  unter  denjenigen  Radiolarien,  welche  der  umfangreichen  Familie 
der  Acanthometriden  angehören.  Hier  ist  dasselbe  für  die  ganzen  Unter- 
familien der  Astrolithiden  und  Acanthostauriden  (mit  Ausnahme  der  Gattung 
Ampliilonche),  die  bestimmende  Grundform  (Rad.  Taf.  XV  —  XX).  Vor- 
züglich scharf  tritt  seine  Grundform  da  hervor,  wo  die  beiden  gleichen 
Kreuzaxen  besonders  ausgezeichnet  sind,  wie  bei  den  Gattungen  Acantho- 
staurus  (Taf.  XIX,  Fig.  1 — 5),  Lithoplera  und  Staurolithium  (Taf.  XX, 
Fig.  1,  6).  Ebenso  ist  unter  den  Ommatiden  die  Grundform  des  Quadrat- 
Octaeders  leicht  nachzuweisen  bei  allen  Arten  von  Dorataspis  (Taf.  XXI, 
XXII,  Fig.  1),  bei  Aspidommu  hystrlv  und  mehreren  Arten  von  Huliommuti- 
dinm,  von  Haüomma  und  von  Achnomma.  Dasselbe  gilt  endlich  auch  von 
vielen  Radiolarien  mit  20  nach  Müller's  Gesetz  vertheilten  Radialstacheln 
aus  der  Familie  der  Ethmosphaeriden,  so  z.  B.  von  Diplosphaera  gracilis 
(Taf.  X,  Fig.  1),  Heliosphaera  actinota,  H.  echinoides ,  H.  eleguns  (Taf.  IX, 
Fig.  3—5)  und  vielen  Anderen. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  den  Beweis,  dass  das  Quadrat-Octaeder 
die  Grundform  derjenigen  Radiolarien  sei,  welche  20  nach  Müller's  Ge- 
setz vertheilte  gleiche  Radialstachelu  besitzen,  einfach  dadurch  geführt,  dass 
wir  die  Spitzen  der  4  Aequatorialstacheln  unter  einander  und  mit  der  Spitze 
der  (in  den  entsprechenden  Meridianebenen  liegenden)  8  Polarstacheln 
durch  Linien  verbanden  und  durch  je  2  benachbarte  Verbindungslinien  eine 
Ebene  legten.  So  entstand  das  reine  Quadrat-Octaeder  ohne  jede  Hülfs- 
construction.  Wir  haben  aber  dabei  die  8  Tropenstacheln,  welche  in  den 
beiden  interradialen  Meridianebenen  liegen,  vernachlässigt  und  über  deren 
Bedeutung  für  die  Grundform  der  Isostauren  ist  hier  noch  einiges  nach- 
zutragen. 

Es  muss  hier  unterschieden  werden  zwischen  denjenigen  Radiolarien 
mit  20  nach  Müller's  Gesetz  vertheilten  Radialstacheln,  bei  denen  diese 
sämmtlich  gleich,  und  denjenigen,  bei  denen  entweder  eines  oder  beide 
Paare  der  Aequatorialstacheln  (Radialaxen)  durch  besondere  Grösse  oder 
Form  ausgezeichnet  ist.  Diejenigen,  bei  denen  jene  Auszeichnung  bloss 
das  eine  Paar  (die  verticalen  Stacheln  der  Dorsoventralaxe)  trifft,  während 
die  übrigen  18  unter  sich  gleich  sind,  werden  wir  sogleich  unter  den 
Allostauren  näher  betrachten.  Diejenigen  Radiolarien  dagegen,  bei  denen 
jene  Auszeichnung  beide  Paare  betrifft,  verdienen  hier  noch  besondere  Be- 
rücksichtigung.    (Vergl.  Taf.  II,  Fig.  26). 

Wir  finden  in  diesem  Falle  16  unter  sich  gleiche,  kleinere  Stacheln 
(8  Polar-  und  8  Tropenstacheln),  und  4  unter  sich  gleiche,  grössere  Stacheln 
(4  Aequatorialstacheln),  die  letzteren  liegen  in  den  beiden  radialen  Kreuz- 


444  System  der  organischen  Grundformen. 

axen,  die  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammenfallen.  Die  Radio- 
larien,  die  sich  durch  diese  Differenzirung  der  Aequatorialstacheln  aus- 
zeichnen, gehören  fast  alle  der  gestalteureichen  Familie  der  Acanthometri- 
den  an,  und  zwar  den  beiden  Subfamilien  der  Acanthostauriden  und  Astro- 
lithiden.  Bloss  durch  bedeutendere  Grösse  (Länge,  Dicke  und  Breite)  sind 
die  4  Aequatorialstacheln  von  den  16  übrigen  verschieden  bei  den  Gattungen 
Acuntlwstaurus  (Rad.  Taf.  XIX,  Fig.  1—4)  und  Stavrolithmm  (Rad.  Taf.  XIX, 
Fig.  6);  dagegen  zeichnen  sie  sich  zugleich  durch  besondere  Form  vor  den 
anderen  16  aus  bei  den  Gattungen  Lonchostmirus  (Taf.  XIX,  Fig.  5)  und 
Lithoptera  (Taf.  XX,  Fig.  1,  2).  Bei  allen  diesen  Acanthometriden  ist  die 
Hauptaxe  des  Quadrat-Octaeders  kürzer  als  jede  der  beiden  radialen  Kreuz- 
axen und  es  erreicht  die  Spitze  der  Tropenstacheln  nicht  die  Seitenflächen 
des  Octaeders.  Die  Tropenstacheln  sind  kürzer,  als  die  Flächenaxen  des 
Octaeders  (die  Perpendikel,  welche  vom  Mittelpunkt  auf  die  Seitenflächen 
gefällt  werden).  Es  kann  demnach  kein  Zweifel  sein,  dass  diese  Formen 
als  die  reinsten  Repräsentanten  der  Octopleuren  zu  betrachten  sind. 

Anders  verhält  es  sich,  genau  genommen,  bei  denjenigen  Radiolarien, 
wo  die  20  nach  Müllers  Gesetz  vertheilten  Radialstacheln  sämmtlich 
gleich,  weder  durch  Grösse  noch  durch  Form  verschieden  sind.  Es  ist 
dies  der  Fall  bei  allen  Arten  von  Acanthometra  (Rad.  Taf.  XV),  Xiplw- 
cantha  (Taf.  XVIlJ  Fig.  3,  4),  Doratuspis  (Taf.  XXI),  Asthrolitlüum 
(Taf.  XX,  Fig.  3 — 5)  Haliommatidium ,  Aspidomma,  bei  vielen  Arten  von 
Haliomma  und  Actinomma  aus  der  Familie  der  Ommatiden,  von  Heliosphaera 
(Taf.  IX,  Fig.  3—5)  und  Dlplosphaera  (Taf  X,  Fig.  1)  aus  der  Familie 
der  Ethmosphaerideu  und  bei  vielen  anderen  Radiolarien.  Hier  ist  die 
Hauptaxe  des  Quadrat-Octaeders  länger  als  jede  der  beiden  radialen  Kreuz- 
axen und  es  ragt  die  Spitze  der  Tropenstacheln  weit  über  die  Seitenflächen 
des  Octaeders  hinaus.  Die  Tropenstacheln  sind  also  länger,  als  die  Flä- 
chenaxen des  Octaeders  oder  die  vom  Mittelpunkt  auf  die  Seitenflächen  ge- 
fällten Perpendikel. 

Wenn  wir  nun  hier,  nachdem  wir  durch  Verbindung  der  Spitzen  der 
aequatorialen  und  polaren  Stacheln  das  Quadrat  -  Octaeder  construirt  ha- 
ben, auch  die  Spitzen  der  Tropenstacheln  mit  den  beiden  Polen  der  Haupt- 
axe des  Octaeders  durch  gerade  Linien  verbinden  und  durch  diese  Ver- 
bindungslinien und  die  benachbarten  Octaeder-Kanten  Ebenen  legen,  so  er- 
halten wir  eine  sechzehnseitige  Doppelpyramide,  deren  16  Seitenflächen 
ungleichseitige  Dreiecke  sind!  Von  diesen  16  Dreiecken  sind  8  unter 
sich  absolut  cougruente  und  diese  sind  den  übrigen  8,  welche  ebenfalls  un- 
ter sich  absolut  congruent  sind,  symmetrisch  gleich,  d.  h.  man  muss 
sie  umklappen,  Rechts  und  Links  vertauschen,  damit  sie  sich  decken 
können.  In  jeder  achtseitigen  Hälfte  der  Doppelpyramide  sind  je  2  an- 
stossende  Seitenflächen  symmetrisch-gleich,  je  2  alternirende  und  eben  so  je 
2  gegenüber  liegende  dagegen  congruent.  Wir  können  diese  Form  als 
sechzehnseitige  regulär  -  amphithecte  Doppelpyramide  be- 
zeichnen, da  sie  in  der  That  ein  vollkommenes  Mittelding  zwischen  der  re- 
gulären und  der  amphithecten  Doppelpyrainide  ist.  Wenn  wir  die  eine  der 
beiden    idealen  Kreuzaxen    (die  mit  den  radialen  realen  Kreuzaxen  zusanr 


Quadrat  -  octaedrische  Grundformen.     Tsostaura  octopleura.  445 

nienfallen)  eiu  wenig  verlängern  oder  verkürzen,  so  erhalten  wir  die  reine 
amphithecte,  wenn  wir  dagegen  die  beiden  interradialen  Kreuzaxen  den 
radialen  Kreuzaxen  gleich  lang  machen,  die  reine  reguläre  sechszehn- 
seitige  Doppelpyramide.  Die  Aequatorialebene  der  regulär  -  amphithecten 
Doppel-Pyramide  (die  Grundfläche  der  Einzeln-Pyraruide)  ist  das  regulär- 
amphithecte  Polygon,  d.h.  das  (2nseitige)  Polygon,  dessen  sämmtliche 
Seiten  gleich ,  dessen  sämmtliche  Winkel  aber  nur  paarweise  (alternirend) 
gleich,  paarweise  (je  2  benachbarte)  ungleich  sind.  Vom  regulären  Poly- 
gon unterscheidet  sich  das  regulär-amphithecte  Vieleck  durch  die  Ungleich- 
heit der  Winkel,  vom  amphithecten  Polygon  durch  die  Gleichheit  der 
Seiten. 

Es  entsteht  nun  die  Frage:  Ist  die  eigentliche  Grundform  der  Radio- 
larien,  welche  20  gleiche,  nach  Müllers  Gesetz  vertheilte  Radialstacheln 
besitzen,  das  Quadrat -Octaeder,  oder  die  sechszehnseitige  regulär-amphi- 
thecte Doppelpyramide?  Im  ersteren  Falle  würde  der  Körper  aus  vier 
congruenten  Antimeren,  im  letzteren  aus  acht  Antimeren  bestehen,  von 
denen  je  zwei  anstossende  symmetrisch -gleich,  je  zwei  alternirende  con- 
gruent  sind.  Für  beide  Ansichten  Hessen  sich  Beweise  beibringen.  Ver- 
gleicht man  aber  diese  Formen  mit  den  nächst  verwandten,  deren  4Aequatorial- 
stacheln  sich  durch  besondere  Entwickelung  vor  den  16  schwächeren  Radial- 
stacheln auszeichnen  (Acunlhostaunis,  Lithoptera  etc.)  und  erwägt  man  die 
übrigen  die  homotypisehe  Grundzahl  bestimmenden  Gründe,  so  erscheint  es 
bei  weitem  passender,  das  Quadrat-Octaeder  als  die  eigentliche  Grundform 
in  allen  diesen  Fällen  zu  betrachten  und  als  die  Autimeren-Zahl  Vier  zu 
bestimmen.  Es  kann  nur  als  ein  Umstand  von  secundärer  Bedeutung  be- 
trachtet werden,  dass  die  4  Antimeren  im  einen  Falle  (bei  Lithopteru, 
Lonchostaitrus  etc. ,  mit  16  kleineren  und  4  grösseren  Stacheln)  aus  2  con- 
gruenten, im  anderen  Falle  dagegen  (bei  Acanthometra ,  f)orutusf>is  etc., 
mit  20  gleichen  Stacheln)  aus  2  symmetrisch  gleichen  Hälften  zusammenge- 
setzt sind.  Die  realen  Kreuzaxen,  welche  durch  die  Meridianebenen  der 
Tropenstacheln  gehen,  können  nur  die  Bedeutung  von  iuterradialen,  nicht 
aber  von  radialen  Kreuzaxen  beanspruchen. 

Den  octopleureu  Isostauren  mit  20  nach  Müllers  Gesetz  vertheilten 
Radialstacheln,  bei  denen  wir  durch  die  einfachste  geometrische  Construction 
das  Quadrat  -  Octaeder  des  tetragonalen  Krystallsystems  als  Grundform 
nachweisen  können,  schliessen  sich  noch  einige  andere,  sehr  merkwürdige 
Radiolarien  an,  bei  denen  dieselbe  Grundform  in  einer  anderen  Modification 
oder  einer  abgeleiteten  Form,  insbesondere  der  quadratischen  Säule,  (dem 
regulären  vierseitigen  Prisma)  ebenso  unverkennbar  ausgeprägt  ist.  Es  ist 
dies  der  Fall  bei  dem  von  Ehrenberg  beschriebenen  Sponguriden  Dictyo- 
voryne  tetras  (Rad.  p.  469)  und  bei  dem  schönen,  von  ihm  abgebildeten 
Disciden  Astromma  Aristotelhs  (Microgeologie,  Taf.  XXXVI,  Fig.  32.)  Die 
aus  kieseligem  Schwammwerk  gebildeten  quadratischen  Scheiben  dieser 
Radiolarien  sind  in  der  That  Nichts  anderes,  als  vierseitige  reguläre  Pris- 
men mit  sehr  verkürzter  Hauptaxe.  Die  beiden  auf  einander  senkrechten 
Ebenen,  welche  mau  durch  die  verkürzte  Hauptaxe  und  die  Mittellinien  der 
4  rechtwinkelig  gekreuzten  Arme  von  Astromma  Aristotelis  legen  kann,  sind 


446  System  der  organischen  Grundformen. 

die  beiden  radialen  Kreuzebenen,  welche  die  quadratische  Säule  in  4  con. 
gruente  Antimeren  (rechtwinkelige  dreiseitige  Prismen)  zerlegen.  Die  Mittel- 
linien der  4  Arme  selbst  fallen  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusam- 
men. In  Dictyocoryne  tetras  ist  ebenso  das  vierseitige,  wie  in  D.  euchitonia 
das  dreiseitige  reguläre  Prisma  unverkennbar.  Dieselbe  Grundform  ist  end- 
lich auch,  wenngleich  sehr  versteckt,  noch  in  dem  merkwürdigen  Zygoste- 
phanus  Mülleri  zu  erkennen  (Rad.  Taf.  XII,  Fig.  2).  Bei  diesem  kleinen 
Acanthodesmiden  besteht  das  Kieselskelet  aus  2  gleichen  elliptischen  Kie- 
selringen, die  senkrecht  auf  einander  stehen  und  sich  in  ihren  beiden  Be- 
rührungsstellen gegenseitig  halbiren.  Die  längsten  Durchmesser  der  beiden 
gleichen  Ellipsen  sind  die  beiden  gleichen  idealen  (radialen)  Kreuzaxen; 
der  kürzeste  Durchmesser,  in  dem  die  beiden  gleichen  Ellipsen  sich  schnei- 
den, und  der  also  beiden  gemeinsam  ist,  stellt  die  Hauptaxe  dar.  Auch 
hier  also  haben  wir  3  aufeinander  senkrechte  gleichpolige  Axen  ausge- 
sprochen, von  denen  2  gleich,  die  dritte  ungleich  ist,  mithin  die  Grundform 
des  quadratischen  Krystallsystems. 

Endlich  ist  zu  erwähnen,  dass  die  quadratische  Säule  auch  die  Grund- 
form von  zahlreichen  einzelnen  Piastiden  bildet,  insbesondere  einzelner  Des- 
midiaceen  (z.  B.  Staurastrum  dilatatum  Desmidium  quadrangulure)  und  Dia- 
tomeen, sowie  vieler  Pollenzellen  (sehr  rein  z.  B.  von  Viola  tricolor). 

i 

Zweite  Unterfamilie  der  homopolen  Stauraxonien: 

Gleichpolige  Ungleiehkreuzaxige.     Allostaura. 

Stereometrische  Grundform:  Amphithecte  Doppelpyramide. 

Die  homopolen  Stauraxonien  mit  ungleichen  Kreuzaxen,  welche 
wir  kurz  Allostauren  nennen  wollen,  haben  als  bestimmte  Grundform 
die  amphithecte  Doppelpyramide,  oder,  wenn  man  bloss  die 
beiden  idealen  Kreuzaxen  berücksichtigt  und  von  den  realen  absieht, 
das  Rhomben- 0 et ae der.  Es  entspricht  mithin  diese  Gruppe  von 
Organismen-Formen  im  Ganzen  den  Krystallfornien  des  rhom- 
bischen Systems,  in  welchem  unter  Anderen  Jod,  Schwefel,  Arra- 
gonit,  Salpeter  etc.  krystallisiren. 

Die  Allostauren  zerfallen,  je  nachdem  die  homotypische  Grund- 
zahl Vier  oder  eine  andere  Zahl  ist,  in  zwei  Gruppen,  welche  den 
beiden  Abteilungen  der  Isostauren  vollkommen  entsprechen.  Bei 
den  octopl euren  Allostauren  oder  den  achtseitigen  amphithecten 
Doppelpyramiden  (mit  4  Antimeren),  die  also  Rhomben-Octaeder  sind, 
fallen  die  beiden  ungleichen  Strahlaxen  (die  beiden  radialen  realen 
Kreuzaxen)  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammen  und  schnei- 
den sich  unter  rechten  Winkeln  (daher  sie  auch  Orthogonia  heissen 
können).  Bei  den  polypl euren  Allostauren  oder  den  vielseitigen 
amphithecten  Doppelpyramiden,  die  den  letzteren  als  Oxygonien 
gegenüberstehen,  schneiden  sich  die  Strahlenaxen  (die  radialen  realen 
Kreuzaxen)  unter  spitzen  Winkeln,  da  die  Zahl  derselben  mindestens 


Amphithecte  diplopyramidale  Grundformen.     Allostaura.  447 

drei  beträgt  und  sie  demgemäss  gar  nicht  oder  nur  zum  Theil  mit 
den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammenfallen  können.  Da  die  homo- 
typische Grundzahl  hier  stets  eine  gerade  sein  muss  (2n),  so  ist  die 
Hälfte  der  realen  Kreuzaxen  radial,  die  Hälfte  interradial.  Das 
Minimum  der  Antimeren-Zahl  ist  daher  sechs,  demnächst  acht,  zehn, 
zwölf  u.  s.  w.  (2n).  Wie  bei  den  Isostauren  können  wir  auch  bei 
den  Allostauren  die  octopleuren  als  eine  specielle  Form  der  poly- 
pleuren  auffassen  und  zwar  als  die  einfachste  und  dem  regulären 
Polyeder  am  nächsten  stehende  Form  derselben. 

Erste  Gattung  der  allostauren  Stauraxonien. 

Vielseitige  amphithecte  Doppelpyraniiden.     Allostaura 

polypleura. 

Slereometrlsche  Grundform:  Amphithecte  Doppelpyramide  mit  8 -f- 4  n Selten. 

Realei'  Typus:  Amphilonche  (Taf.  II,  Fig.  27,  28). 

Die  homopolen  Stauraxonien,  welche  die  Abtheiluug  der  poly- 
pleuren  (oder  oxygonien)  Allostauren  repräsentiren,  haben  zur  Grund- 
form die  vielseitige  amphithecte  Doppelpyramide,  deren  allge- 
meine Eigenschaften  wir  oben  bereits  erläutert  haben.  Da  die  acht- 
seitige amphithecte  Doppelpyramide  oder  das  Rhomben-Octaeder  als 
die  specielle  einfachste  Form,  welche  die  besondere  Gruppe  der  octo- 
pleuren Allostauren  bildet,  ausgeschlossen  ist,  und  da  die  Antimeren- 
zahl  der  amphithecteu  Doppelpyramide  stets  eine  gerade  sein  muss, 
so  muss  dieselbe  mindestens  aus  sechs,  demnächst  aus  acht,  zehn, 
zwölf  und  allgemein  aus  4+2  n  Antimeren  zusammengesetzt  sein.  Die 
Zahl  der  Seitenflächen,  doppelt  so  gross  als  die  der  Antimeren,  muss 
mindestens  zwölf,  demnächst  sechszehn,  zwanzig  u.  s.  w.,  kurz  im 
Allgemeinen  8+4n  betragen.  Da  mindestens  drei  radiale  Kreuzaxen 
vorhanden  sein  müssen,  so  können  dieselben  entweder  gar  nicht  oder 
nur  zum  Theil  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammenfallen  und 
müssen  sich  unter  spitzen  Winkeln  schneiden  (Taf.  II,  Fig.  27,  28). 

Die  polypleure  Allostauren -Form  ist  unter  allen  homopolen 
Stauraxonien  die  seltenste  und  findet  sich  nur  in  wenigen  Formen 
von  Pollenkörnern  und  in  wenigen  Radiolarien  deutlich  verkörpert. 
Wahrscheinlich  dürfte  hierher  der  merkwürdige  Diploconus  fasces  zu 
ziehen  sein,   unter  dessen  Doppelkegelform1),   durch  die  Vertheilung 


')  Diploconus  fasces,  eines  der  seltsamsten  und  in  promorphologischer  Be- 
ziehung rätselhaftesten  Radiolarien,  welches  in  unserer  Monographie  (p.  404, 
Taf.  XX,  Fig.  7,  8)  ausführlich  erläutert  ist,  haben  wir  zwar  oben  wegen  der 
reinen  apicalen  Doppelkegelform  seines  Kieselmantels  bei  den  amphepipeden 
homopolen  Mouaxonien  erwähnt.  Allein  durch  die  symmetrische  Vertheilung  der 
radialen    Stacheln    wird    doch    die  Grundform    der    amphithecteu    und    zwar    der 


448  System  der  organischen  Grundformen. 

der  radialen  Stacheln  angedeutet,  die  Grundform  der  zwölfseitigen 
amphithecten  Doppelpyramide  versteckt  zu  sein  scheint.  Viel  deut- 
licher jedoch  erscheint  die  Grundform  der  amphithecten  Doppelpyra- 
mide', und  zwar  der  sechzehnseitigen,  bei  denjenigen  Radiolarien 
ausgeprägt,  hei  welchen  zwanzig  nach  Müller's  Gesetz  symmetrisch 
vertheilte  Radialstacheln  vorhanden  sind,  und  bei  welchen  achtzehn 
von  diesen  Stacheln  gleich,  zwei  aber  (die  beiden  gegenständigen 
Stacheln  der  einen  Aequatorialaxe)  durch  viel  bedeutendere  Grösse 
(Amphilonche)  und  oft  auch  durch  besondere  Gestalt  (Amphibelotie)  vor 
den  übrigen  achtzehn  ausgezeichnet  sind  (Rad.  Taf.  XVI).  Es  sind 
diese  Radiolarien  wesentlich  verschieden  von  denjenigen  oben  unter 
den  octopleuren  Isostauren  betrachteten  Formen,  welche  ebenfalls 
zwanzig  nach  Müller's  Gesetz  vertheilte  Stachelradien  besitzen,  bei 
denen  aber  alle  zwanzig  gleich  sind,  oder  die  vier  Stacheln  der 
beiden  aequatorialen  Kreuzaxen  von  den  übrigen  sechzehn  verschieden, 
unter  sich  aber  gleich  sind.  Bei  diesen  allen  sind  die  beiden  radialen 
Kreuzaxen,  welche  mit  den  beiden  idealen  zusammenfallen,  gleich; 
dagegen  sind  sie  bei  Amphilonche,  Amphibelone  und  den  anderen 
Radiolarien,  die  wir  als  amphithecte  Doppelpyramiden  ansehen  müssen, 


zwölfseitigen  Doppelpyramide  (mit  6  Antimereu)  bestimmt  angedeutet.  Wenn 
wir  das  gewaltige  Stachelpaar,  welches  die  verkörperte  Axe  des  Doppelkegels 
bildet,  als  Hauptaxe  auffassen,  so  wird  die  eine  radiale  reale  Kreuzaxe,  welche 
mit  der  einen  idealen  zusammenfällt,  durch  2  gegenständige  kurze  radiale  Cylin- 
derstäbe  repräsentirt ,  welche  senkrecht  auf  der  Hauptaxe  in  deren  Halbirungs- 
pnnkte  stehen  (in  der  vereinigten  Spitze  der  beiden  congruenten  Kegel).  Diese 
beiden  Radialstäbe,  welche  die  erste  Kreuzaxe  bilden,  liegen  mithin  in  der  Aequa- 
torialebene.  Die  andere  ideale  Kreuzaxe,  die  auf  der  ersten  senkrecht  steht, 
ist  stachellos.  Beiderseits  der  Aequatorialebene  sind  8  kurze  cylindrische  Ra- 
dialstäbe symmetrisch  vertheilt,  die  in  2  auf  einander  senkrechten  Meridian- 
ebenen liegen,  und  zwar  bilden  diese  8  Radien  jederseits  der  Aequatorialebene 
einen  Gürtel  von  4  Radialstäben,  deren  Enden  gleich  weit  von  einander  und 
gleich  weit  von  jedem  Pole  der  Hauptaxe  entfernt  sind.  Die  beiden  recht- 
winkelig gekreuzten  Meridianebenen,  in  deren  jeder  4  von  diesen  Radien  liegen, 
sind  als  2  radiale  Kreuzebenen  (zweite  und  dritte)  zu  betrachten,  während  die 
erste  radiale  Kreuzebene  diejenige  Meridianebene  ist,  welche  durch  die  Hauptaxe 
und  die  erste  Kreuzaxe  gelegt  wird.  Diese  erste  Radialebene  bildet  mit  jeder  der 
beiden  anderen  einen  Winkel  von  45".  Als  zweite  und  dritte  radiale  (reale) 
Kreuzaxen  sind  die  Durchschnittslinien  der  zweiten  und  dritten  Meridianebeue 
mit  der  Aequatorialebene  aufzufassen.  Die  zwölfseitige  amphithecte  Doppel- 
pyramide erhalten  wir  nun  einfach  dadurch,  dass  wir  die  beiden  Pole  der  Haupt- 
axe mit  den  6  Polen  der  3  radialen  Kreuzaxen  durch  grade  Linien  verbinden, 
und  durch  je  zwei  benachbarte  Verbindungslinien  eine  Ebene  legen.  Diese 
Uoppelpyramide  wird  durch  die  3  radialen  Kreuzebenen  in  6  Antimeren  zerlegt, 
deren  jedes  aus  2  gleichen,  mit  der  Basis  vereinigten  dreiseitigen  Pyramiden 
zusammengesetzt  ist.     Die  Basis  der  beiden  gegenständigen  Doppelpyramiden,  die 


Amphithecte  diplopyramidale  Grundformen.     Allostaura.  449 

ungleich.  Diejenige  Kreuzaxe,  welche  durch  die  grösseren  und  oft 
besonders  geformten  beiden  Stachelradien  besonders  ausgezeichnet  ist, 
wird  am  besten  als  dorsoventrale  oder  Dickenaxe,  die  andere 
darauf  senkrechte  Kreuzaxe,  deren  beide  Stachelradien  nicht  von  den 
sechszehn  übrigen  verschieden  sind,  als  laterale  oder  Breitenaxe 
augesehen. l)  Die  eigentliche  Hauptaxe,  um  welche  sich  der  ganze 
Stachelcomplex  bilateral  gruppirt,  und  welche  die  Axe  der  amphithec- 
ten  Doppelpyramide  darstellt,  ist  auch  hier  stachellos,  und  daher 
kürzer  als  die  beiden  radialen  Kreuzaxen. 

Ausser  den  genannten  artenreichen  Acanthonietriden-Gattungen  (AmjM- 
lonche  und  Amphibelone,  Rad.  Tat".  XVI.  gehören  hierher  auch  einige  nächst- 
verwandte Onnnatiden  -Arten,  nament/ich  Haliommatidium  Müllen  und  H. 
fenestratum  (Rad.  Taf.  XXII,   Fig.  10 — 12).     Bei   allen  diesen  Radiolarien 


durch  die  zweite  (stachellose)  ideale  Kreuzaxe  halbirt  werden ,  ist  ein  gleich- 
schenkeliges  Dreieck,  die  Basis  der  4  anderen  ein  ungleichseitiges  Dreieck.  Von 
diesen  4  Doppelpyraniiden,  deren  Basen  von  den  3  realen  radialen  Kreuzaxen 
begrenzt  werden,  sind  je  2  anstossende  symmetrisch  gleich,  je  2  gegenständige 
congruent.  Die  Aequatorialebene  der  zwölfseitigen  amphithecten  Doppelpyramide 
ist  demgemäss  ein  Sechseck,  in  welchem  je  2  Gegenseiten  gleich  und  parallel 
und  von  den  3  Diagonalen,  welche  die  gleichen  Gegenwinkel  verbinden,  2  gleich, 
die  dritte  von  diesen  verschieden  ist.  Ausserdem  sind  die  beiden  anstossenden 
Seiten,  welche  den  Winkel  am  Ende  der  ungleichen  Diagonale  einschliessen, 
gleich,  dagegen  die  beiden  austossenden  Seiten,  welche  den  Winkel  am  Ende 
jeder  gleichen  Diagonale  einschliessen ,  ungleich.  In  unserer  Monographie  der 
Radiolarien  haben  wir  eine  andere  Deutung  der  merkwürdigen  Gestalt  des 
Diploconus  fasces  versucht,  indem  wir  bemüht  waren,  eine  Homologie  mit  ge- 
wissen Acanthometriden  (namentlich  Amphilonche  heteracanlha)  nachzuweisen  und 
dadurch  die  Verbindung  mit  den  übrigen  Radiolarien  herzustellen,  von  denen 
dieses  seltsame  Wesen  sonst  so  bedeutend  abweicht.  Wir  haben  dort  das  grosse 
Stachelpaar,  welches  die  Axe  des  Doppelkegels  bildet,  nicht  als  Hauptaxe,  son- 
dern als  dorso-ventrale  Kreuzaxe  betrachtet  und  als  Hauptaxe,  wie  bei  Amphi- 
lonche, die  stachellose  Axe,  welche  auf  jener  und  auf  der  lateralen  Kreuzaxe 
senkrecht  steht.  Als  Aequatorialebene  musste  daher  dort  diejenige  Ebene  be- 
zeichnet werden,  die  wir  hier  als  erste  radiale  Kreuzebene  betrachtet  haben.  Es 
würde  nach  dieser  Deutung  als  die  eigentliche  Grundform  des  Diploconus  fasces 
nicht  die  zwölfseitige  amphithecte  Doppelpyramide  mit  6  Antimeren,  sondern 
die  sechszehnseitige  mit  8  Antimeren,  gleichwie  bei  Amphilonche,  anzusehen 
sein.  Indess  will  uns  jetzt  jene  frühere  Deutung  als  die  gezwungenere  und  die 
hier  gegebene  als  die  natürliche  erscheinen. 

l)  Die  stärkere  dorsoventrale  Kreuzaxe  habe  ich  in  meiner  Monographie  der 
Radiolarien  als  verticale  (oder  longitudinale)  Hauptaxe,  die  schwächere  laterale 
Kreuzaxe  als  horizontale  (oder  transversale)  Hauptaxe  bezeichnet.  Diese  Be- 
zeichnungen können  nicht  mit  Vortheil  beibehalten  werden.  Als  Longitu- 
dinalaxe  köuuen  wir  nur  die  stachellose  Hauptaxe  bezeichnen,  obwohl 
dieselbe  hier,  wie  auch  sonst  oft.  bedeuteud  kürzer,  als  die  beiden  idealen  Kreuz- 
axen ist.  * 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  29 


450  System  der  organischen  Grundformen. 

wird  die  Grundform  des  Körpers  durch  3  auf  einander  senkrechte  ungleiche, 
aber  gleichpolige  Axen  bestimmt,  die  stachellose  Hauptaxe  und  die  beiden 
mit  verschiedenen  Stpehelradien  versehenen  radialen  Kreuzaxen.  Wenn  wir 
die  Pole  dieser  3  ungleichen  Axen,  die  sich  alle  gegenseitig  unter  rechten 
Winkeln  halbiren,  durch  Linien  verbinden  und  danu  durch  je  2  benach- 
barte Linien  Ebenen  lagen,  so  erhalten  wir  die  stereometrisch  reine  Form 
des  Rhomben -Octaeders,  die  Grundform  des  rhombischen  Krystallsystems. 
Wenn  wir  aber  die  Pole  jener  3.  Axen  nicht  unter  einander,  sondern  mit 
den  Spitzen  der  nächstliegenden  Tropenstachelu  durch  grade  Linien  ver- 
binden und  durch  je  2  benachbarte  Verbindungslinien  Ebenen  legen,  so  er- 
halten wir  eine  sechszehnseitige  amphithecte  Doppelpyramide  (Taf.  II,  Fig.  27). 
Es  könnte  demnach  auch  hier  wieder  zweifelhaft  erscheinen,  ob  wir  als 
die  eigentliche  Grundform  jener  Radiolarien  eine  amphithecte  Doppelpyra- 
mide mit  8  Antimeren  und  16  Seitenflächen,  oder  eine  solche  mit  4  Anti- 
meren  und  8  Seitenflächen  (die  specielle  Art  des  Rhomben-Octaeders)  zu  be- 
trachten haben.  Auch  in  diesem  Falle  (wie  oben  im  analogen  Falle  der 
Isostauren  mit  20  Stachelradien),  dürfte  die  letztere  Auffassung  mehr  an- 
sprechen, sobald  man  den  realen  Kreuzaxen,  welche  durch  die  beiden  Meri- 
dianebenen der  Tropenstacheln  gehen,  nur  die  Bedeutimg  von  interra- 
dialen,  nicht  von  radialen  Kreuzaxen  zugesteht.  Unter  den  wenigen  Pollen- 
köruern,  welche  die  polypleure  Allostauren -Form  besitzen,  sind  besonders 
diejenigen  einiger  Labiaten  hervorzuheben,  welche  sehr  deutlich  die  zwölf- 
seitige amphithecte  Doppelpyramide  ausgeprägt  zeigen,  z.  B.  von  Satureja 
rupestris,  Salvia  gJulinosa  (Faf.  II,  Fig.  28). 

Zweite  Gattung  der  allostauren  Stauraxonieu. 
Rhomben-Oetaeder.     Allostaura  octopleura. 

Stereometrische  Grundform:  Amphithecte  Doppelpyramide  mit  acht  Seite». 
Realer  Typus:  Stephanastrum  (Taf.  II,  Fig.  2i>,  30). 

Die  achtseitigen  ainphithecten  Doppelpyramiden,  welche  die  spe- 
cielle Form  des  Rhomben-Octaeders  repräsentiren,  verhalten  sich  zu 
den  allgemeineren  Formen,  den  polypieuren  (mit  mindestens  zwölf  und 
überhaupt  mit  8 + 4  n  Seitenflächen),  ganz  ebenso,  wie  die  octopleuren 
Isostauren  zu  den  polypieuren.  In  beiden  Fällen,  bei  den  Isostauren, 
wie  bei  den  Allostauren,  liegt  eine  wesentliche  Differenz  der  octo- 
pleuren und  der  polypieuren  Formen  darin,  dass  bei  den  octopleuren 
nur  zwei  radiale  Kreuzaxen  vorhanden  sind,  die  sich  unter  rechten 
Winkeln  schneideu  und  mit  den  beiden  idealen  Kreuzaxen  zusammen- 
fallen, während  bei  den  polypieuren  mehr  als  zwei  radiale  (oder 
seruiradiale)  Kreuzaxen  existiren,  die  sich  unter  spitzen  Winkeln 
schneiden. 

Wie  die  Organismen,  welche  zu  den  octopleuren  Isostauren  ge- 
froren, in  der  Grundform  nicht  von  den  Krystallen  des  quadratischen 


Rhomben-octaedrische  Grundformen.     Allostaura  octopleura.  451 

Systems,  so  sind  diejenigen,  welche  den  octopleuren  Allostauren  zu- 
zurechnen sind,  nicht  von  den  Krystallen  des  rhombischen  Systems 
verschieden.  Es  sind  daher  die  Organismen,  deren  Grundform  das 
Rhomben-Octaeder  der  letzteren  ist,  von  besonderem  Interesse.  Wir 
finden  das  Rhomben -Octaeder  als  organische  Grundform  vor  Allen 
bei  sehr  zahlreichen  Diatomeen,  sodann  bei  vielen  Pollen-Zellen  (z.  B.  bei 
dem  Polleu  von  Beloperone  oblongata,  Barleria  longifolia)  und  endlich 
bei  sehr  zahlreichen  Desmidinceen  (z.  B.  Euaslriim,  Taf.  II.  Fig.  29). 
In  ausgezeichneter  Weise  finden  wir  das  rhombische  Krystallsystem 
ferner  bei  mehreren  Radiolarien  ausgebildet.  Von  diesen  zeichnen 
sich  die  meisten  hierher  gehörigen  Formen  wiederum  durch  sehr 
starke  Verkürzung  der  Hauptaxe  aus,  so  dass  von  den  drei  auf  ein- 
einander  senkrechten  bestimmten  Axen  die  Hauptaxe  (Längsaxe)  die 
kürzeste,  die  dorsoventrale  Kreuzaxe  (Dickenaxe)  die  längste  ist  und 
die  laterale  Kreuzaxe  (Breitenaxe)  zwischen  Beiden  in  der  Mitte  steht. 

Von  mehreren  Acanthometriden  und  einigen  Omniatiden  (HaJiommatidium 
Midien,  H.  fewstraUim)  ist  so  eben  bereits  nachgewiesen  worden,  dass  ihre 
Grundform,  strenggenommen,  nicht  die  sechszehnseitige,  sondern  die  acht- 
seitige amphithecte  Doppelpyramide  ist.  Die  anderen  Radiolarien,  welche 
die  Grundform  des  rhombischen  Krystallsystems  sehr  rein  und  deutlich 
ausgeprägt  besitzen,  und  welche  grösstenteils  den  Familien  der  Ommatiden, 
Disciden  und  Sponguriden  angehören,  zeigen  dieselbe  theils  mehr  als  reines 
Rhomben-Octaeder,  theils  als  rhombische  Säule  (gerades  Prisma  mit  rhom- 
bischen Grundflächen),  theils  als  rectanguläre  Säule  (gerades  Prisma  mit 
rechteckigen  Grundflächen). 

Die  rhombische  Säule,  ein  vierseitiges  Prisma,  dessen  Seiten- 
flächen 4  cougruente  Rechtecke,  die  Grundflächen  Rhomben  sind,  ist  in 
höchst  ausgezeichneter  Weise  in  dem  merkwürdigen  Stephunastrum  rhombus 
verkörpert,  einem  fossilen  Discid  aus  dem  Radiolarien  -  Mergel  von  Barba- 
dos, welches  Ehrenberg  in  seiner  Microgeologie  (Taf.  XXXVI,  Fig.  33) 
abgebildet  hat.  In  diesem  zierlichen  Organismus,  einer  der  interessantesten 
Rhizopodengestalten,  sind  nicht  allein  die  rectangulären  Seitenflächen  der 
rhombischen  Säule,  sondern  auch  die  rechtwinkelig  gekreuzten  ungleichen 
Diagonalen  ihrer  rhombischen  Grundflächen  und  sogar  die  beiden,  durch 
diese  Diagonalen  zu  legenden  Kreuzebenen  (welche  mit  den  idealen  zusam- 
menfallen) durch  schwammig-gekammerte  Kieselbalken  in  stereometrisch  rei- 
ner Form  verkörpert.  Die  Aequatorialebene  dieses  Protisten  liefert  zugleich 
das  geometrisch  reine  Bild  der  Aequatorialebene  des  Rhomben- Octaeders 
und  ihrer  Diagonalen  (Vergl.  Taf.  II,  Fig.  30,  nebst  Erklärung). 

Die  rectanguläre  Säule,  ein  vierseitiges  Prisma,  dessen  Seitenflächen 
ebenso  wohl  als  die  Grundflächen  Rechtecke  sind,  also  ein  von  6  Recht- 
ecken begrenzter  Körper,  in  welchem  je  2  gegenüberstehende  Rechtecke 
congruent,  je  2  anstossende  ungleich  sind,  findet  sich  ebenfalls  unter  den 
Radiolarien  in  geometrisch  reiner  Form  verkörpert,  so  in  der  merkwürdigen 
Spongocydia   orthogona   (Rad.    Taf.  XXVIII,   Fig.  3).     Auch   die  seltsame 

29* 


452  System  der  organischen  Grundformen. 

Tetrapyle  octacanthu,  ein  Ommatid,  welchem  Johannes  Müller  eine  ganze 
Tafel  seiner  Radiolarien  -  Abhandlung  gewidmet  hat  (Taf.  II,  Fig.  12,  13; 
Taf.  III)  zeigt  dieselbe  Grandform.  Ueber  Spongocycllä  elllpticu  (Rad. 
Taf.  XXVIII,  Fig.  2)  kann  ebenso  wohl  die  rectanguläre,  als  die  rhombi- 
sche Säule  construirt  werden. 

Endlich  .sind  die  drei  angleichen  gleichpoligen  Äxen,  welche  sich  ge- 
genseitig unter  rechten  Winkeln  halbiren  und  welche  den  Character  des 
rhombischen  Kristallsystems  bestimmen,  auch  in  einigen  Radiolarien  vor- 
handen, welche  scheinbar  sehr  eigentümliche  Formen  bilden,  so  nament- 
lich in  Didymocyrlis  und  Ommatospyris  (Rad.  p.  439,  p.  4-U;  Taf.  XXII, 
Fig.  14-16). 


Zweite  Familie  der  Stauraxonien. 
Ufigleichpolige  Kreuzaxige.    Ileteropola. 

Stereometrische  Grundform:  Pyramide  (Taf.  I). 

Obgleich  die  im  vorigen  Abschnitt  betrachteten  homopolep  Staur- 
axonien von  hohem  morphologischem  Interesse  sind  wegen  der  un- 
zweifelhaften Identität  ihrer  Grundform  mit  derjenigen  zweier  Kristall- 
systeme, so  sind  sie  dennoch,  gleich  allen  anderen  im  Vorhergehenden 
untersuchten  Grundformen,  bisher  gar  nicht  oder  doch  fast  gar  nicht 
beachtet  werden,  weil  sie  gewöhnlich  nur  bei  morphologischen  Indi- 
viduen niederster  (erster  und  zweiter)  Ordnung  vorkommen,  und  weil 
sie  als  materielles  Substrat  von  actuellen  Bionten  nur  auf  eine  ver- 
hältnissmässig  kleine  Reihe  von  niederen  Organismen,  insbesondere 
Radiolarien,  beschränkt  sind.  Die  bisherigen  Untersuchungen  über 
die  allgemeinen  Grundformen  der  Organismen  haben  sich  vielmehr 
ausschliesslich  mit  solchen  Gestalten  beschäftigt,  welche  der  Formen- 
gruppe der  heteropolen  Stauraxonien  angehören,  die  wir  kurz  die 
Heteropolen  nennen  wollen.  Allerdings  ist  diese  Formengruppe, 
zu  deren  Betrachtung  wir  jetzt  übergehen,  insofern  von  überwiegender 
Wichtigkeit,  als  sie  die  Grundformen  für  die  actuellen  Bionten  aller 
höheren  Thiere  und  Pflanzen  liefert,  und  mithin  auch  die  grössteu 
und  am  meisten  auffallenden  Formen  der  ganzen  Organismen-Welt. 
Indessen  wird  doch  durch  den  Umstand ,  dass  die  Metameren  und 
Personen  fast  sämmtlicher  Wirbelthiere,  Arthropoden,  Würmer,  Mol- 
lusken, Eehinodermen  und  Coelenteraten,  sowie  last  aller  Phaneroga- 
men  und  höheren  Cryptogamen  der  heteropolen  Stauraxonform  ange- 
hören, eine  besondere  Dignität  dieser  Grundform  an  sieb  noch  keines- 
wegs bedingt.  Vielmehr  hoffen  wir  durch  die  voi  hergehenden  Unter- 
suchungen den  Beweis  geliefert  zu  haben,  dass  die  bisher  ganz  ver- 
nachlässigten Grundformen  der  homopolen  Stauraxonien,  der  Mon- 
axonien,    Polvaxouien    u.  s.   w0   für  die  allgemeine  Morphologie  von 


Pyramidale  Grundformen.     Heteropola.  453 

mindestens  eben  so  grosser  Bedeutung'  sind,  und  es  wird  sich  weiter- 
hin auch  zeigen ,  dass  eine  intensive  Untersuchung'  dieser  niederen 
und  einfacheren  Formen  hier,  wie  überall,  das  Verständniss  der  höheren 
und  eomplieirteren  Verhältnisse  wesentlich  erleichtert  und  oft  allein 
eröffnet.  Gewiss  dürfen  wir  die  Thatsache  nicht  gering  anschlagen, 
dass  die  Grundformen  der  grossen  Mehrzahl  aller  morphologischen 
Individuen  erster  und  zweiter  Ordnung  (Piastiden  und  Organe)  den 
im  Vorhergehenden  untersuchten  niederen  und  einfacheren  Promorphen- 
Gruppen  angehören.  Sind  ja  doch  alle  Form-Individuen  dritter  und 
höherer  Ordnung  erst  aus  jenen  aufgebaut.  Aber  selbst  insofern 
müssen  jene  ein  besonderes  und  ihnen  bisher  versagtes  Interesse  for- 
dern, als  es  unter  allen  vorstehend  aufgeführten  Promorphen  nur 
sehr  wenige,  vielleicht  keine  einzige  giebt,  welche  nicht  bei  gewissen 
(wenn  auch  oft  nur  wenigen)  Organismen -Arten  das  materielle  Sub- 
strat für  das  actuelle  Bion  bildet. 

Wenn  wir  in  dieser  Beziehung  die  Resultate  unserer  vorhergehen- 
den Untersuchungen  mit  den  bisher  über  die  Grundformen  der  niederen 
Organismen,  und  namentlich  der  Rhizopoden.  herrschenden  Ansichten 
vergleichen,  so  kommen  wir  zu  dem  überraschenden  Resultat,  dass 
die  Natur  fast  alle  möglichen  regelmässigen  Grundformen,  welche  durch 
die  verschiedene  Zahl  und  Differenzirung  der  möglichen  Form-Axen 
und  ihrer  Pole  entstehen  können,  in  den  actuellen  Bionten  bestimmter 
organischer  Species  verkörpert  hat,  und  dass  gerade  diejenigen  Pro- 
tisten-Gruppen  die  ausgesprochensten  und  regelmässigsten  stereome- 
trischen Grundformen  in  eben  so  grosser  Reinheit  als  Mannichfaltigkeit 
zeigen,  welche  bisher  unter  dem  negativen  Collectivbegriff  der  „Ge- 
staltlosen" oder  Amorphozoen  zusammengefasst  wurden.  Dieser 
Collectivgruppe  stellte  man  bisher  allgemein  nur  zwei  andere  Grund- 
formgruppen gegenüber,  die  der  regulären  oder  Strahlformen  und  die 
der  symmetrischen  oder  Bilateralformen.  Als  Radiaten  odei  reguläre 
Thiere  fassten  die  Zoologen  gewöhnlich  alle  Coelenteraten  und 
Echinodermen  zusammen,  als  Bilateralien  oder  symmetrische  Thiere 
dagegen  die  Würmer,  Glieder-,  Weich-  und  Wirbelthiere.  Ebenso 
unterschieden  die  Botaniker  allgemein  nur  „regelmässige  (radiale)  For- 
men, die  sich  mit  vielen  Schnitten  durch  eine  angenommene  Axe  in 
zwei  gleiche  Theile  theilen  lassen  und  symmetrische  (bilaterale),  die 
nur  durch  einen  einzigen  Schnitt  in  zwei  gleiche  Theile  (die  sich  dann 
wie  rechte  und  linke  Hand  verhalten)  getheilt  werden  können" 
(Schieiden).  Alle  diese  regulären  und  symmetrischen  Formen  zu- 
sammen, welche  bisher  tast  allgemein  für  die  beiden  einzigen  unter- 
scheidbaren Grundformen  der  Organismen  gehalten  wurden,  bilden 
unsere  Formengruppe  der  heteropolen  Stauraxonien. 

Der   einzige   Naturforscher,    welcher   neuerdings   den  ernstlichen 


454  System  der  organischen  Grundformen. 

Versuch  gemacht  hat,  die  Thierformen  auf  geometrische  Gestalten 
zurückzuführen,  Bronn,  hat  für  die  Grundform  der  regulären  oder 
radialen  Thiere  und  der  meisten  Pflanzen  das  Ei  oder  den  Kegel 
(Ooid  oder  Conoid,  auch  Actinioid),  also  unsere  diplopole  Monaxon- 
form, erklärt,  für  die  Grundform  der  symmetrischen  oder  bilateralen 
Thiere  eine  besondere  Art  des  Keiles  oder  einen  Halb  keil  (Sphe- 
noid,  Hemisphenoid).  Wir  werden  im  Folgenden  den  Nachweis  liefern 
(und  haben  ihn  zum  Theil  schon  oben  geliefert),  dass  die  gemeinsame 
Grundform  beider  Hauptgruppen  die  einfache  Pyramide  ist.  und 
zwar  lässt  sich  als  die  Grundform  der  wirklich  regulären  Strahlformen 
die  reguläre  Pyramide,  als  die  Grundform  der  irregulären  Strahl- 
formen und  der  sämmtlichen  bilateral -symmetrischen  Formen  theils 
die  ganze,  theils  die  halbe  amphithecte  Pyramide  näher  detiniren. 

Die    allgemeinen    Eigenschaften    der    Pyramide    sind    aus    der 
Stereometrie    bekannt.      Sie    ist    ein  Polyeder,    welches    über    einem 
Vieleck  als  Grundfläche  (Basis)  von  lauter  Dreiecken  als  Seiteuflächen 
(Pleura)  dergestalt  umschlossen  wird,  dass  dieselben  in  einem  einzigen 
Punkte,   der  Spitze  (Apex),  zusammenlaufen.     Für  die  nachfolgenden 
Betrachtungen  ist  es  in  mancher  Hinsicht  bequemer  und  anschaulicher, 
statt  der  ganzen  Pyramide 'als  die  allgemeine  Grundform  der  hetero- 
polen  Stauraxonien  die  abgestumpfte  Pyramide  aufzustellen,  d.  h.  eine 
Pyramide,   deren  Spitzentheil  durch  eine  Ebene  abgeschnitten  ist,  die 
der  Basis  parallel  läuft.    Da  jedoch  durch  die  Pyramidenform  wesent- 
lich nur  die  Differenzirung  mehrerer  Kreuzaxen  und  die  Verschiedenheit 
beider  Pole  der  Hauptaxe  des  Körpers   ausgedrückt  werden  soll,  so 
ist    es    für    die  nachfolgenden  Untersuchungen  ganz   gleichgültig,   ob 
wir    unter    Apex    oder   Apicalfläche  die  wirkliche  Spitze  der  ganzen 
Pyramide  oder  die  Schnittfläche  der  abgestumpften  Pyramide  (die  der 
Basis  parallele  Ebene   des  abstumpfenden  Schnittes)   verstehen.     Wir 
werden  diesen  letzteren  Theil,  die  Apicalfläche  oder  den  Apex   ein 
für  allemal  als  die  Gegenmundseite  (Areaaboralis,  Antistomium), 
die  Grundfläche  oder  Basis  der  Pyramide  dagegen  als  die  Mundseite 
(Area   oralis,    Peristomium)  betrachten,   und  ferner  die  Axe  der 
Pyramide  oder  das  von  der  Spitze  auf  die  Grundfläche  gefällte  Loth 
als  die  Hauptaxe  oder  Längsaxe  (Axis  lo  ngitudinalis,  Axon 
principalis)  des  Körpers  ansehea. 

Die  Zahl  der  Seitenflächen  der  Pyramide  ist  gleich  der 
Zahl  der  Antimeren,  aus  denen  der  Körper  der  heteropolen 
Stauraxonien  zusammengesetzt  ist,  und  diese  homotypische 
Grundzahl  ist  wieder  gleich  der  Zahl  der  Kreuzaxen, 
welche  sich  in  der  Mitte  begegnen.  Wenn  die  homotypische 
Grundzahl  gerade  ist  (2n),  wie  bei  den  Coelenteraten,  bei  den  vier- 
zähligen  Blüthensprossen  der  Phanerogamen,    so    ist  die  Hälfte  der 


Pyramidale  Grundformen.    Heteropola.  455 

Kreuzaxen  (n)  radial,  die  Hälfte  (n)  interradial.  Wenn  dagegen  die 
homotypische  Grundzahl  ungerade  ist  (2n — 1),  wie  bei  den  Echino- 
dermen, bei  den  dreizäbligen  und  fünfzähligen  Bliithensprossen  der 
Phaneroganien,  so  sind  säramtliche  Kreuzaxen  (2n — 1)  zur  Hälfte 
radial,  zur  Hälfte  interradial.  Diesen  drei  Arten  der  Kreuzaxen  ent- 
sprechen die  drei  Arten  der  Meridianebenen,  welche  man  durch  die 
Kreuzaxen  und  die  Hauptaxen  legen  kann;  die  radialen,  interradialen 
und  semiradialen  Kreuzebenen,  die  wir  bereits  oben  erläutert  haben 
(p.  432).  Dort  ist  auch  die  Construction  der  Kreuzaxen  bereits  aus- 
geführt;  die  Strahl axe  (Radius)  erhalten  wir  einfach  dadurch,  dass 
wir  in  der  Medianebene  eines  Antimeres,  die  Zwischenstrahlaxe 
(Interradius)  dadurch,  dass  wir  in  der  Grenzebene  zweier  Antimeren 
ein  Perpendikel  auf  der  Hauptaxe  in  deren  Halbirungspunkt  errichten. 
Die  Halbst  rahlaxe  (Sennradius)  wird  aus  einem  Radius  und  dem 
gegenüber  liegenden  Interradius  gebildet.  Die  Mittellinien  der 
Antimeren  sind  bei  den  heteropolen  Stauraxonien,  wie  bei  den 
homopolen,  scharf  durch  die  Pyramiden  kanten  bezeichnet;  die 
Grenzlinien  der  Antimeren  dagegen  liegen  in  den  Seitenflächen  der 
Pyramide.  Als  Strahlfläche  (Area  radialis)  lässt  sich  bei  vielen 
heteropolen  Stauraxonien  ein  bestimmter  Theil  zweier  zusammen- 
stossender  Pyramidenseiten  (beiderseits  der  Kante)  bezeichnen  (z.  B. 
die  Ambulacra  petaloidea  der  Echinodermen ,  die  Blumenblätter  (Pe- 
tala)  der  polypetalen  Phanerogarnen).  Ihr  steht  gegenüber  die 
Zwisch  enstrahlf lache  (Area  interradialis ),  welche  den  Raum 
zwischen  je  zwei  Strahlflächen  (in  einer  Pyramidenseite)  ausfüllt 
(z.  B.  die  Interambulacra  der  Echinodermen,  die  mit  den  Blumen- 
blättern alternirenden  Kelchblätter  (Sepala)  und  Staubblätter  (Antheren) 
der  polypetalen  Phanerogarnen). 

Wenn  wir  demnach  bei  der  besonderen  praktischen  Wichtigkeit 
der  heteropolen  Stauraxonform  sämmtliche  allgemein  unterscheidbaren 
Körpertheile  ihrer  stereometrischen  Grundform,  der  Pyramide  (und 
zwar  am  anschaulichsten  der  abgestumpften  Pyramide)  als  solcher 
nochmals  zusammenfassen  und  mit  bestimmten  Ausdrücken  scharf  be- 
zeichnen, so  ergiebt  sich  folgende  Uebersicht: 

I.  Der  Körper  aller  heteropolen  Stauraxonien  wird  begrenzt  von 
4-f-n  Flächen,  welche  den  Flächen  einer  einfachen,  geraden,  abge- 
stumpften Pyramide  entsprechen,  nämlich:  1)  der  Oralfläche  oder 
Peristomseite  (Basis  der  Pyramide);  2)  der  Aboralfläche  oder  An- 
tistomseite  (der  Basis  parallele  Schnittfläche  der  abgestumpften  Pyra- 
mide oder  Apicalfläche) ;  3)  2+n  Seitenflächen  (Paralleltrapezen  der  ab- 
gestumpften Pyramide).  An  jeder  Seitenfläche  kann  ein  mittlerer 
interradialer  und  zwei  seitliche  radiale  Theile  unterschieden  werden. 
IL   Die  Antimeren  sind  allgemein  vierseitige  (abgestutzte)  Pyramiden, 


456  System  der  organischen  Grundformen. 

welche  sämmtlich  eine  Kante  (die  Hauptaxe)  gemein  haben.  Jedes 
der  Antimeren  wird  begrenzt  von  sechs  Flächen,  nämlich:  1)  dem 
zwischen  zwei  Interradialebenen  befindlichen  Stück  der  Peristomseite; 
2)  dem  entsprechenden  Stück  der  Antistomseite;  3)  und  4)  einer  Area 
radialis  und  zwei  halben,  die  letztere  beiderseits  begrenzenden  Areae 
interradiales  (also  einer  Kante  und  den  dieselbe  einschliessenden  zwei 
halben  Seiten  der  ganzen  Pyramide);  5)  und  6)  zwei  benachbarten 
halben  Interradialebenen.  Die  Medianebene  des  Antimeres  ist  die 
zwischen  letzteren  liegende  halbe  Radialebene.  III.  Im  Inneren  der 
Pyramide  haben  wir  zur  Orientirung  folgende  Linien;  1)  die  Haupt- 
axe (Längsaxe,  Axon),  welche  die  Mitte  des  Apex  mit  der  Mitte  der 
Basis  verbindet;  2)  den  Basalpol  derselben  (Peristompol) ;  3)  den 
Apicalpol  derselben  (Antistompol) ;  4)  die  realen  Kreuzaxen  (Stauri), 
welche  vom  Halbirungspunkt  der  Hauptaxe,  auf  der  sie  senkrecht 
stehen,  ausgehen  und  entweder  a)  radial,  oder  b)  interradial,  oder 
c)  semiradial  sind,  je  nachdem  entweder  a)  beide  Pole  der  realen 
Kreuzaxe  auf  die  Mittellinie  eines  Antimeres  (Pyramidenkante),  oder 
b)  beide  Pole  auf  die  Grenzlinie  zweier  Antimeren  (Pyramideuseite) 
treffen,  oder  endlich  c)  der  eine  Pol  auf  eine  Mittellinie,  der  andere 
auf  eine  Grenzlinie  trifft;  5)  die  (realen)  Kreuzebenen,  wTelche  durch 
die  Hauptaxe  und  jede  der  Kreuzaxen  gelegt  werden  und  demgemäss 
auch  entweder  a)  radial,  oder  b)  interradial,  oder  c)  semiradial  sind; 
6)  die  Aequatorialebene,  in  welcher  die  sämmtlichen  Kreuzaxen  liegen 
und  welche  demgemäss  die  senkrecht  auf  ihr  stehende  Hauptaxe  hal- 
birt.  Sie  läuft  parallel  der  Basis  und  theilt  den  ganzen  Körper  in 
ein  orales   oder  Peristomstück  und  ein  aborales  oder  Antistomstück. 

Der  Zerfall  der  Pyramidenformen  oder  heteropolen  Stauraxonien 
in  zwei  Hauptgruppen  von  Grundformen  wird  durch  dasselbe  maass- 
gebende  Verhältniss,  wie  bei  den  Doppelpyramiden  der  homopolen 
Stauraxonien,  bedingt,  nämlich  durch  die  Gleichheit  oder  Ungleichheit 
der  radialen  oder  semiradialen  Kreuzaxen.  Bei  den  Homostauren 
sind  sämmtliche  radiale  oder  semiradiale  Kreuzaxen  gleich,  während 
bei  den  Heterostauren  entweder  alle  oder  ein  Theil  derselben  ver- 
schieden sind.  Die  Grundform  der  ersteren  ist  daher  die  reguläre 
Pyramide,  diejenige  der  letzteren  die  irreguläre,  und  zwar  meistens 
die  amphithecte  Pyramide,  bald  die  ganze,  bald  die  halbe.  Wie  wir 
die  heteropolen  Stauraxonien  aus  den  homopolen  einfach  dadurch  ableiten 
können,  dass  wir  die  letzteren  durch  einen  in  der  Aequatorialebene 
liegenden  Schnitt  halbiren,  so  gilt  dasselbe  auch  von  den  entsprechen- 
den beiden  Hauptabteilungen  der  beiden  Gruppen.  In  der  That  sind  die 
isostauren  Homopolen  (als  reguläre  Doppelpyramiden)  nichts  Anderes 
als  zwei  congruente,  mit  den  Basen  vereinigte  homostaure  Heteropolen 
(reguläre  Pyramiden)  und  ebenso  kann  man  die  allostauren  Homopolen 


Pyramidale  Grundformen.     Heteropola.  457 

(als  araphithecte  Doppelpyramiden)  ansehen  als  eine  Zwillingsform 
von  zwei  congruenten  heterostauren  Heteropolen;  doch  ist  der  letztere 
Vergleich  dahin  näher  zu  bestimmen,  dass  bloss  die  Grundform  der 
autopolen  Heterostauren  eine  ganze,  diejenige  der  allopolen  da- 
gegen eine  halbe  amphithecte  Pyramide  ist;  wir  müssten  daher  die 
ersteren  nochmals  halbiren,  um  aus  ihnen  die  Grundform  der  letzteren 
zu  erhalten.  Der  Parallelismus  der  beiden  Hauptabtheilungen  in 
beiden  Formgruppen  spricht  sich  weiterhin  namentlich  auch  darin  aus, 
dass  bei  den  Heterostauren  (Heteropolen)  wie  bei  den  Allostauren 
(Homopolen)  durch  die  Differenzirung  der  realen  Kreuzaxen  zugleich 
auch  die  beiden  idealen  Kreuzaxen  (dorsoventrale  und  laterale),  be- 
stimmt werden,  während  diese  bei  den  Homostauren  (Heteropolen) 
noch  nicht  differenzirt ,  und  so  wenig  als  bei  den  Isostauren  (Homo- 
polen) irgendwie  zu  bestimmen  sind. 

Unsere  Homostauren  entsprechen  den  gewöhnlich  sogenannten 
„regulären  Strahlthieren ",  also  absolut  regulären  Radiaten  mit  con- 
gruenten Antimeren,  z.  B.  den  meisten  Medusen,  Anthozoen,  Ästen- 
den etc.  Dagegen  umfassen  unsere  Heterostauren  theils  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  sogenannten  „bilateral -symmetrischen1'  Thiere 
(mit  Ausschluss  der  Allostauren),  theils  die  sogenannten  „irregulären 
oder  symmetrischen  Strahlthiere"  (z.  B.  die  Spatangiden,  Zaphrentinen), 
theils  endlich  die  sogenannten  „zweistrahligen  Thiere"  (Ctenophoren 
und  Verwandte). 

Wie  im  Thierreiche,  so  gehört  auch  im  Pflanzenreiche  die  grosse 
Mehrzahl  aller  Form-Individuen  dritter  und  fünfter  Ordnung  (Anti- 
meren und  Personen)  der  heteropolen  Stauraxon-Form  an.  Die  meisten 
Phanerogamen  -  Personen,  sowohl  die  geschlechtlich  differenzirten 
(Blüthensprosse)  als  die  geschlechtslosen  (Blattsprosse),  ebenso  die 
meisten  Thier-Personen  lassen  sich  ohne  Schwierigkeit  auf  die  Grund- 
form der  Pyramide  reduciren.  Dasselbe  gilt  von  den  meisten  Anti- 
meren, welche  diese  Personen  zusammensetzen.  Dagegen  ist  die 
heteropole  Ötauraxonform  weniger  verbreitet  unter  den  Form-Individuen 
vierter  und  sechster,  und  am  wenigsten  unter  denen  erster  und  zwei- 
ter Ordnung.     Daher  ist  sie  auch  unter  den  Protisten  selten. 

Die  Erkenntniss,  dass  in  der  That  die  Pyramide  als  die  stereo- 
metrische Grundform  aller  Heteropolen  betrachtet  werden  muss ,  und 
dass  demgemäss  die  überwiegende  Mehrzahl  aller  thierischen  und 
pflanzlichen  Personen  und  Antimeren  sich  auf  eine  Pyramide  als 
gemeinsame  Promorphe  zurückführen  lässt,  ist  eben  so  wichtig,  als 
sie  in  vielen  Fällen  schwer  zu  gewinnen,  und  daher  auch  bis  jetzt 
allgemein  nicht  gewonnen  ist.  Verhältnissmässig  am  leichtesten  und 
sichersten  gelangt  man  zu  dieser  werth vollen  Ueberzeugung,  welche 
die  schwierigsten  Formverhältnisse  erklärt,  durch  die  promorphologische 


458  System  der  organischen  Grundformen. 

Untersuchung  der  Strahlthier  -Personen,  sowohl  der  Echinodermen  als 
der  Coelenteraten.  Und  doch  ist  selbst  hier  den  trefflichsten  Morpho- 
logen  die  pyramidale  Grundform  verborgen  geblieben. 

Nichts  ist  vielleicht  in  dieser  Beziehung  bezeichnender,  als  die 
kritische  Betrachtung  der  andauernden  Bemühungen  des  grossen 
Johannes  Müller,  die  Grundformen  und  die  Homologieen  der  Echino- 
dermen zu  verstehen.  Trotz  seiner  unübertroffenen  Kenntniss  dieser 
ebenso  interessanten  als  schwierigen  Thiergruppe,  trotz  seiner  exten- 
siv und  intensiv  bewundernswürdigen  Anstrengungen,  das  morpholo- 
gische Verständniss  derselben  zu  begründen,  und  eine  wahre  „Philo- 
sophie der  Echinodermen"  zu  gewinnen,  gelang  es  ihm  dennoch 
nicht,  den  Schlüssel  zur  Lösung  des  Räthsels  zu  finden.  Dieser 
Schlüssel  liegt  eben  in  der  Erkenntniss,  dass  die  Grundform  der 
regulären  Echinodermen  eine  fünfseitige  reguläre  Pyramide,  diejenige 
der  „bilateral-symmetrischen"  Echinodermen  dagegen  die  Hälfte  einer 
zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  ist. ')  Sobald  man  von  dieser 
Erkenntniss  ausgeht,  so  lösen  sich  die  schwierigen  Homologieen  der 
Echinodermen  in  einer  ebenso  klaren  als  überraschend  einfachen 
Weise,  wie  wir  an  einem  anderen  Orte  ausführlich  zeigen  werden. 

Das  Wichtigste  und  Erste  muss  auch  hier,  wie  bei  allen  promor- 
phologischen Untersuchungen,  die  Erkenntniss  der  maassgebenden 
Axen  und  ihrer  Pole  sein,  und  dann  die  Untersuchung  der  Differen- 
zirungs- Verhältnisse  zwischen  den  verschiedenen  Axen  und  ihren 
Polen,  woraus  sich  dann  die  Construction  der  Pyramiden- Seiten  von 
selbst  ergiebt.  Nichts  ist  aber  gefährlicher  und  weniger  erspriesslich, 
als  von  der  Oberflächen-Betrachtung  auszugehen  und  diese,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Axen  und  ihre  Pole,  zur  Basis  der  promorpholo- 
gischen Reduction  zu  machen.  Sucht  man  die  Grundform  von  Per- 
sonen oder  Metameren  (Form-Individuen  fünfter  oder  vierter  Ordnung) 
auf,  so  ist  zunächst  das  Wichtigste  die  Erkenntniss  ihrer  Zusammen- 
setzung aus  Antimeren,  und  dann  deren  Differenzirung.  Ist  dagegen 
ein  Antimer  selbst  das  promorphologische  Object,  so  müssen  zunächst 
die  Epimeren  und  Parameren,  welche  dasselbe  constituiren ,  erkannt 
werden.  Das  letztere  gilt  auch,  wenn  es  sich  um  Form -Individuen 
zweiter  und  erster  Ordnung  (Organe  und  Piastiden)  handelt. 


')  Johannes  Müller  stellte  statt  der  füufseitigen  regulären  Pyramide,  die 
er  nicht  erkannte,  als  Grundform  der  Echinodermen  eine  Kugel  mit  einer  be- 
stimmten Axe  auf,  deren  beide  Pole  (Muudpol  und  Apical-Pol)  verschieden  sind, 
und  von  deren  Mundpol  fünf  Radien  ausstrahlen,  die  als  mehr  oder  minder  voll- 
ständige Meridiane  zum  Apical-Pol  verlaufen.  Eine  solche  „Kugel"  ist  aber  in 
der  That  nichts  Anderes  als  eine  fünfseitige  reguläre  Pyramide,  und  die  fünf 
„Meridiane"  oder  Oberflächen  -  Radien  (Ambulacra)  sind  die  fünf  Kanten  der 
Pyramide. 


Pyramidale  Grundformen.     Heteropola.  459 

Ebenso  klar  und  deutlich,  wie  bei  den  Personen  der  meisten 
Echinodermen  und  Coelenteraten,  ist  die  Pyramide  als  heteropole 
Stauraxon- Grundform  bei  den  meisten  Geschlechts-Personen  (Blüthen- 
Sprossen)  der  Phanerogamen  ausgeprägt,  und  durch  die  Zahl  der 
„Glieder  der  Blüthenblattkreise "  (d.  h.  der  Antimeren)  leicht  zu  be- 
stimmen. Viel  schwieriger  ist  dagegen  diese  Erkenntniss  bei  den 
geschlechtslosen  Personen  der  Phanerogamen,  den  Blattknospen.  Wenn 
hier  der  Stengel  deutlich  dreikantig  oder  vierkantig  ist,  oder  wenn 
die  Blätter  deutlich  in  drei  oder  vier  Meridianebenen  (Kreuzebenen) 
über  einander  stehen,  z.  B.  bei  regelmässig  gegenständigen,  wechsel- 
ständigen und  kreuzständigen  Blättern,  so  lässt  sich  auch  hier  leicht 
die  Zusammensetzung  aus  drei  oder  vier  Antimeren  nachweisen.  Es 
ist  dies  aber  sehr  häufig  nicht  der  Fall,  indem  die  einzelnen  Blatt- 
kreise an  den  verlängerten  Stengelgliedern  des  Blattsprosses  nicht, 
wie  bei  den  Blüthensprossen  mit  verkürzten  Stengelgliedern,  so  über 
einander  stehen,  dass  die  entsprechenden  Blätter  in  Meridianebenen 
fallen,  sondern  vielmehr  Spiralen  bilden. x)  In  diesen  Fällen  sind  die 
Kreuzaxen,  welche  dort  durch  die  einzelnen  Blätter  der  geschlossenen 
Blattkreise  bezeichnet  werden,  oft  sehr  schwer  wahrzunehmen.  Viel- 
leicht werden  dieselben  in  manchen  Fällen  durch  die  Zahl  der  Mark- 
strahlen und  der  mit  ihnen  alternirenden  Gefässbündel  des  Stengels 
bestimmt,  welche  bei  vielen  Phanerogamen  den  Stengel  sehr  regel- 
mässig in  Antimeren  zu  zerlegen  scheinen;  deren  finden  sich  z.  B. 
bei  Clematis  sechs,  bei  Sapindaceen  fünf,  bei  Bignoniaceen  vier  vor. 
Es  würde  also  der  Spross  im  ersten  Falle  als  eine  sechsseitige,  im 
zweiten  als  eine  fünfseitige,  im  dritten  als  eine  vierseitige  reguläre 
Pyramide  zu  betrachten  sein. 

Erste  Unterfamilie  der  heteropolen  Stauraxonien. 
Ungleichpolige  Gleichkreuzaxige.     Ilomostaura. 

(Strahlformen,  reguläre  Formen  der  meisten  Autoren.) 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Pyramide  (Taf.  I,  Fig.  1,  4,  6,  9). 

Die  wichtige  Formengruppe  der  honiostauren  heteropolen  Staur- 
axonien, welche  wir  ein  für  alle  Mal  kurz  die  Homostauren  nennen 
wollen,  umfasst  die  überwiegende  Mehrzahl  der  sogenannten  „Strahl- 


')  Gewöhnlich  wird  für  alle  Blattstellungen  der  Phanerogamen  die  Spirale 
als  das  Ursprüngliche  angesehen  und  die  geschlossenen  Blattkreise  als  ringförmig 
zusammengezogene  einzelne  Umläufe  der  Spirale.  Indessen  dürfte  die  Entwicke- 
lungsgeschichte  vielleicht  umgekehrt  zeigen,  dass  die  geschlossenen  Blattkreise 
das  primäre  und  die  Spiralen  das  secundär  daraus  abgeleitete  Verhältniss  dar- 
stellen, wie  es  bei  sehr  vielen  Blüthensprossen  deutlich  zu  sehen  ist. 


460  System  der  organischen  Grundformen. 

formen  oder  regulären  Formen"  in  dem  Sinne  wenigstens,  in  welchem 
die  meisten  Mörphologen  diesen  vieldeutigen  unh  vielfach  missbrauch- 
ten Ausdruck  verstehen.  Die  reguläre  einfache  Pyramide,  welche  die 
stereometrische  Grundform  aller  Homostauren  ist,  bildet  mehr  oder 
minder  rein  ausgesprochen  die  Promorphe  vorzüglich  in  den  Form- 
Individuen  fünfter  Ordnung,  den  Personen  (Sprossen),  bei  der  Mehr- 
zahl der  sogenannten  „  Strahlthiere"  und  der  Phanerogamen.  Es  ge- 
hört hierher  also  die  Majorität  der  Personen  unter  den  sogenannten 
„Strahlthiereu"  oder  Radiaten,  nämlich  der  bei  weitem  grösste  Theil 
aller  Coelenteraten,  und  ein  sehr  grosser  Theil  der  Echinodermen. 
Jedoch  können  nur  die  streng  „regulären"  Strahlthiere  hierher  ge- 
rechnet werden.  Daher  sind  ausgeschlossen  und  zu  den  Heterostanren 
zu  stellen  die  sogenannten  ..irregulären"  oder  bilateral-symmetrischen 
Echinodermen,  und  von  den  Coelenteraten  alle  Ctenophoren,  der 
grösste  Theil  der  Siphonophoren  und  ein  kleiner  Theil  der  Anthozoen 
und  Hydromedusen.  Aus  dem  Protistenreiche  gehört  hierher  ein  Theil 
der  Strahlrhizopoden  oder  Radiolarien,  sowie  viele  einzelne  Formen 
aus  anderen  Stämmen.  Aus  dem  Pflanzenreiche  endlich  müssen  wir 
wohl  die  Mehrzahl  der  Sprosse  (Personen)  der  Phanerogamen  und 
viele  Cryptogamen-Formen  zu  den  Homostaureu  rechnen,  obwohl  hier 
sehr  häufig  eine  scheinbar  homostaure  Stauraxonform  sich  bei  ge- 
nauerer Untersuchung  als  heterostaure  ausweist. 

Die  allgemeinen  Eigenschaften  der  regulären  Pyramide  sind  aus 
der  Stereometrie  so  bekannt  und  auch  zum  Theil  schon  im  Vorher- 
gehenden speciell  erörtert,  dass  wir  hier  nur  die  wichtigsten  Eigen- 
thümlichkeiten  dieser  Grundform  mit  Bezug  auf  ihre  Construction  im 
Thier-  und  Pflanzen -Organismus  kurz  zu  wiederholen  brauchen  und 
die  Art  ihrer  Anwendung  zu  bestimmen  haben.  Als  die  Basis  oder 
Grundfläche  (Area  basalis)  der  regulären  Pyramide,  welche 
hier  stets  ein  reguläres  Polygon  bildet,  haben  wir  bei  den  homo- 
stauren  Thier-Formen  die  Mundseite  oder  Peris tomfläche  des 
Körpers  (Area  oralis,  Peristomium)  zu  betrachten,  bei  den  regu- 
lären Echinodermen  und  Coelenteraten  also  diejenige  Seite,  in  welcher 
sich  der  Mund,  bei  den  homostaureu  Radiolarien  (Cyrtiden)  diejenige 
Seite,  in  welcher  sich  die  Mündung  des  Kieselgehäuses  befindet. 
Bei  den  Phanerogamen -Blüthen  entspricht  der  Pyramiden-Basis  eben- 
falls die  Mündung  der  Blüthe,  die  meist  glockenartig  geöffnet  ist,  bei 
den  Frucht-Individuen  der  Cryptogamen  (z.  B.  Mooskapseln)  die  Mün- 
dung der  Frucht,  aus  der  die  Sporen  hervortreten.  Bei  den  Sprossen 
(Personen)  aller  Pflanzen  überhaupt  werden  wir  also  stets  den  freien 
terminalen  Pol  (Vegetationsspitze),  beim  Stock  mithin  das  der  Wurzel 
entgegengesetzte  Ende  als  basale  oder  orale  Seite  (Peristomium)  zu 
betrachten    haben.     Als  der  Apex  oder    die  Spitzen  fläche  (Area 


Regulär -pyramidale  Grundformen.     Homostanra.  461 

apicalis)  dagegen,  cL  h.  als  die  Spitze  der  ganzen  oder  die  (der 
Basis  parallele)  Schnittfläche  der  abgestumpften  regulären  Pyramide 
stellt  sich  bei  den  homostauren  Thier-Formen  die  der  Mnndseite  ent- 
gegengesetzte Körperseite  dar,  welche  wir  allgemein  als  Gegen- 
munds eite  oder  Antistomfläche  (Area  aboralis,  Antistomium) 
bezeichnet  haben ;  bei  den  homostauren  Radiolarien  (Cyrtiden)  ist  dies 
die  Spitze  des  Gehäuses,  bei  den  Echinodermen  der  sogenannte 
Scheitel  oder  das  Apicalfeld,  in  welchem  häufig  der  After  liegt;  bei 
den  festsitzenden  Coelenteraten  ist  es  die  angewachsene  Körperfläche, 
bei  den  frei  schwimmenden  die  fast  immer  nach  oben  gekehrte  ge7 
wölbte  Scheitelfläche,  die  in  der  Regel  fälschlich  Rücken  genannt 
wird.  Bei  denjenigen  Phanerogamen  -  Blüthen  und  Ciyptogainen- 
Sporangieu,  welche  die  reguläre  Pyramide  zur  Grundform  haben,  ist 
es  allgemein  die  angewachsene  oder  mittelst  eines  Stieles  festsitzende 
Seite,  welche  der  Mündung  gegenüber  liegt  und  der  Aboralfläche  oder 
dem  Apex  entspricht.  Bei  den  Sprossen  (Personen)  der  Pflanzen 
überhaupt  werden  wir  demnach  stets  den  festsitzenden  Pol  des  Axen- 
organs  als  apicale  oder  aborale  Seite  (Pyramidenspitze)  zu  betrachten 
haben,  beim  einfachen  Spross  und  beim  Hauptspross  der  Stöcke  die 
Wurzel,  bei  den  Seitensprossen  das  Ende,  welches  am  Hauptspross 
befestigt  ist.  (Ueber  die  Pyramiden-Basis  vergl.  Taf.  I,  Fig.  1,  4,  6,  9). 
Durch  die  Zahl  der  Seiten  des  regulären  Polygons,  welches  die 
Basis  bildet,  oder  durch  die  gleiche  Zahl  der  Seitenflächen  der  regu- 
lären Pyramide  wird  die  homotypische  Grundzahl  der  Homostauren 
bestimmt,  welche  drei  oder  mehr  sein  kann.  Die  Seitenflächen  sind 
säimntlich  congruente  gleichschenkelige  Dreiecke.  Die  Kreuzaxen 
sind  eutvveder  (bei  ungerader  Grundzahl)  sämmtlich  gleich  (semi- 
radiale) oder  (bei  gerader  Grundzahl)  alternirend  gleich  (radiale  und 
interradiale).  Wenn  wir  als  Grundform  die  abgestumpfte  reguläre 
Pyramide  annehmen,  so  ist  die  Hauptaxe  (in  der  Geometrie  einfach 
die  „Axe"  der  regulären  Pyramide  genannt)  die  Linie,  welche  die 
Mittelpunkte  der  basalen  und  apicaleu  Ebene  verbindet;  wenn  wir 
dagegen  als  Grundform  die  ganze  reguläre  Pyramide  betrachten,  so 
ist  die  Hauptaxe  das  Perpendikel,  welches  von  der  Spitze  aut  die 
Grundfläche  gefällt  wird  und  in  deren  Mittelpunkt  trifft.  Die  Anti- 
meren  sind  im  ersteren  Falle  abgestumpfte,  im  letzteren  ganze  vier- 
seitige Pyramiden,  deren  Basis  ein  Trapez  ist,  das  durch  jede  der 
beiden  Diagonalen  in  zwei  ungleiche  gleichschenkelige  Dreiecke  zer- 
legt wird.  Die  Kanten  der  regulären  Pyramide  sehen  wir  ein  für 
alle  Mal  als  die  Mittellinien  der  Antimeren-Oberfläche  an,  als  welche 
sie  in  der  That  bei  den  meisten  hierher  gehörigen  Thier-  und  Pflan- 
zeuformen  vorspringen.  Die  Grenzlinien  der  Antimeren-Oberfläche 
dagegen  entsprechen  den  Mittellinien ,   welche  die  Seitenflächen   der 


462  System  der  organischen  Grundformen. 

regulären  Pyramide  halbireu  und  in   zwei   congruente  rechtwinkelige 
Dreiecke  zerlegen. 

Die  Formengruppe  der  Homostauren  zerfällt  in  so  viele  Formen- 
Arten,  als  die  Zahl  der  Pyramiden-Seiten  (und  also  die  homotypische 
Grundzahl)  betragen  kann.  Diese  Zahl  ist  zwar  a  priori  unbegränzt, 
in  der  That  aber  findet  sich  nur  eine  sehr  geringe  Menge  von  Grund- 
zahlen in  der  Natur  verwirklicht  vor.  Bei  der  übergrossen  Mehrzahl 
aller  Homostauren,  sowohl  im  Thier-  als  im  Pflanzenreich,  sind  nur 
drei,  vier,  fünf  oder  ein  niederes  Multiplum,  meist  nur  das  Doppelte 
dieser  Grundzahlen,  namentlich  sechs  und  acht,  seltener  zehn  Anti- 
meren  vorhanden.  Weit  seltener,  und  nur  ausnahmsweise,  ist  eine 
andere  Grundzahl  nachweisbar,  z.  B.  sieben  bei  einigen  Phanerogamen 
(Trientalis,  Septas),  elf  bei  einigen  Seesternen.  In  diesen  Fällen  ist 
aber  meistens  entweder  die  Grundzahl  innerhalb  der  Species  schwan- 
kend, wie  bei  einigen  Seesternen,  oder  es  lässt  sich,  wie  bei  einigen 
Phanerogamen,  aus  der  Entwickelungsgeschichte  oder  der  Verwandt- 
schaft mit  nächststehenden  Blüthen  von  anderer  Grundzahl  (meistens 
fünf)  der  Nachweis  führen,  dass  die  Siebenzahl  oder  die  andere  Zahl, 
welche  nicht  auf  drei,  vier  oder  fünf  durch  Division  zurückführbar 
ist,  nicht  die  primitive  Grundzahl,  sondern  erst  secundär  durch  Varia- 
tion und  Anpassung  aus  den  letztgenannten  entstanden  ist.  Wo 
scheinbar  höhere  Grundzahlen  vorkommen,  lassen  sie  sich  entweder 
aus  dem  letztgenannten  Verhältnisse,  oder  aus  einer  Multiplication  von 
drei,  vier  oder  fünf  ableiten.  Wir  dürfen  es  daher  als  ein  wichtiges 
Gesetz  der  allgemeinen  Promorphologie  aussprechen,  dass  die  homo- 
typische- Grundzahl  oder  die  Antimeren-Zahl  der  Homo- 
stauren (die  Seitenzahl  der  regulären  Pyramide)  stets  drei,  vier 
oder  fünf,  oder  ein  Multiplum  (meist  nur  das  Duplum)  von 
diesen  drei  Grundzahlen  beträgt,  und  dass,  wo  andere  Prim- 
zahlen als  Grundzahlen  vorkommen,  wie  die  Sieben  bei  Septas, 
Trientalis  etc.  der  Nachweis  entweder  der  Inconstanz  dieser  Grund- 
zahl, oder  aber  ihrer  secundären  Entstehung  durch  Abortus  aus  einer 
jener  drei  Grundzahlen  fast  immer  geführt  werden  kann. 

Bei  sehr  vielen  Homostauren,  wo  die  Antimeren-Zahl  ein  Mul- 
tiplum von  drei,  vier  oder  fünf  zu  sein  scheint,  lässt  sich  aus  der 
Entwickelungsgeschichte  oder  aus  der  Zahl  einzelner  (namentlich 
innerer)  Organe  der  Nachweis  führen,  dass  doch  die  ursprüngliche 
Grundzahl,  die  einfache,  drei,  vier  oder  fünf  ist,  und  dass  erst 
später  eine  Multiplication  derselben  (meistens  nur  eine  Duplication) 
eingetreten  ist.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  sehr  vielen  Phanerogamen- 
Blüthen,  wo  häufig  in  einer  und  derselben  Blüthe  ein  Blätterkreis 
die  einfache  Grundzahl  zeigt,  während  andere  Blätterkreise  derselben 
ein  verschiedenes  Multiplum  dieser  Zahl  repräsentiren.     So  sind  z.  B. 


Regulär-pyramidale  Grundformen.     Homostaura.  463 

bei  Butomus  sechs  Kronenblätter ,  sechs  Griffel,  sechs  Fruchtkapseln, 
aber  9  Staubfäden  und  drei  Kelchblätter  vorhanden.  Bei  Paris  finden 
sich  vier  Kelchblätter,  vier  Kronenblätter,  vier  Griffel,  vier  Frucht, 
knoten  und  acht  Staubfäden.  Ebenso  lassen  sich  von  homostauren 
Thieren  viele  ähnliche  Fälle  anführen.  Bei  vielen  Medusen  sind  vier 
Radialcanäle,  vier  Mundlappen,  acht  Randbläschen  und  zwölf  oder 
yierundzwanzig,  bisweilen  auch  achtzehn  Tentakeln  vorhanden.  In 
allen  diesen  Fällen  ist  die  niedrigste  Zahl  offenbar  als  Grundzahl  und 
die  Multipla  derselben  als  secundäre  Vervielfältigungen  zu  betrachten. 
Bei  den  sechszähligen  polycyclischen  Anthozoen  lässt  sich  der  Beweis 
dafür  durch  die  Entwicklungsgeschichte  führen,  indem  erst  sechs, 
dann  zwölf,  vierundzwanzig  u.  s.  w.  Scheidewände  und  Leibesabthei- 
lungen  nach  einander  auftreten. 

Wohl  zu  unterscheiden  von  diesen  sind  diejenigen  Fälle,  wo  ein 
Multiplum  von  drei,  vier  oder  fünf  die  ursprüngliche  homo- 
typische Grundzahl  bildet,  die  entweder  zeitlebens  einfach  bleibt 
oder  ebenfalls  wieder  multiplicirt  werden  kann.  Auch  dieser  Fall  ist 
im  Thier-  und  Pflanzen-Reiche  sehr  häufig.  Wahrscheinlich  ist  es 
aber  stets  nur  das  Duplum,  niemals  das  Triplum  oder  ein  höheres 
Multiplum  von  drei,  vier  oder  fünf,  welches  als  ursprüngliche  primitive 
Antimereu-Zahl  auftritt.  Sechs  Animieren  finden  sich  schon  in  ur- 
sprünglicher Anlage  bei  den  Madreporarien,  acht  bei  den  Alcyonarien, 
zehn  bei  einigen  Radiolarien  und  Phanerogamen-Blüthen.  Da  hier 
schon  die  erste  Anlage  des  Körpers  als  ein  Aggregat  von  sechs, 
acht,  zehn  Antimeren  erscheint,  so  können  wir  als  homotypische 
Grundzahl  hier  nicht  drei,  vier,  fünf,  sondern  nur  das  Duplum  der- 
selben ansehen. 

Die  Erkenntniss  der  homotypischen  Grundzahl  bei  den  Homo- 
stauren wird  in  vielen  Fällen  dadurch  mehr  oder  minder  erschwert, 
dass  diese  Zahl  in  verschiedenen  Metameren  einer  Person  (z.  B.  in 
verschiedenen  Blattkreisen  eines  Sprosses)  eine  verschiedene  zu  sein 
scheint.  Aeusserst  häufig  ist  dieser  Fall  bei  den  phanerogamen 
Blüthen,  wo  nur  in  seltenen  Fällen  alle  Blattkreise  der  Blüthe  die- 
selbe Grundzahl  zeigen,  und  wo  namentlich  die  weiblichen  Genitalien 
in  der  Regel  von  einer  grösseren  oder  geringeren  Reduction  betroffen 
werden.  Solche  Fälle,  wo  die  Zahl  der  Kelchblätter,  der  Blumen- 
blätter, der  Staubfäden,  der  Stengel,  der  Fruchtblätter  ganz  dieselbe 
ist,  finden  sich  z.  B.  bei  Triplaris,  Lechea  unter  den  dreizähligen, 
bei  Hex,  Potamogeton  unter  den  vierzähligen,  bei  Linum,  Crassula 
unter  den  fünfzähligen  Blüthen.  In  der  Regel  zeigt  die  Zahl  der 
Kronen-  und  der  Kelchblätter  die  homotypische  Grundzahl  am  sicher- 
sten an,  während  die  Zahl  der  weiblichen  Genitalien  (Stempel,  Frucht- 
blätter) meistens  vermindert,    die    Zahl   der  männlichen  (Staubfäden) 


464  System  der  organischen  Grundformen. 

dagegen  umgekehrt  multiplieirt  ist.  Ganz  entgegengesetzt  den  homo- 
stauren  Pflanzen  verhalten  sich  in  dieser  Beziehung  die  homostauren 
Thiere,  bei  denen  in  der  Regel  in  sämmtlicben  Organkreisen  dieselbe 
Grundzahl  oder  ein  Multiplum  derselben  ausgeprägt  ist.  Zahl-Redue- 
tionen  in  einzelnen  Kreisen  sind  hier  seltene  Ausnahmen  und  fast 
immer  mit  Uebergang  der  homostauren  in  die  heterostaure  Grundform 
verbunden.  So  finden  sich  z.  B.  bei  den  dreizähligen  Cyrtiden  ein- 
zelne, wo  die  Kieselschale  aus  drei,  die  Centralkapsel  aus  vier  Anti- 
meren  besteht,  während  in  der  Regel  auch  die  letztere  drei  Antimeren 
zeigt.  Es  ist  von  hohem  Interesse,  dass  es  auch  bei  den  Thieren 
vorzugsweise  die  Genitalien  sind,  die  zuerst  von  der  Reduction  be- 
troffen werden,  so  dass  sich  z.  B.  unter  den  fünfzähligen  Echinodermen 
bei  den  Holothurien  nur  ein  einziges,  bei  vielen  Seeigeln  nur  vier 
Geschlechtsorgane  finden,  während  die  übrigen  Organkreise  sämmtlich 
die  Fünfzahl  zeigen. 

Angesichts  der  im  Vorhergehenden  erörterten  Verhältnisse  werden 
wir  die  verschiedenen  Arten  der  Homostauren-Form,  deren  Anzahl 
durch  die  Anzahl  der  verschiedenen  homotypischen  Grundzahlen  be- 
dingt und  demnach  a  priori  unbeschränkt  ist,  in  Wirklichkeit  auf 
einige  wenige  Fälle  zurückführen  können.  Von  den  vielen  möglichen 
Grundzahlen  werden  nur  drei,  vier,  fünf,  sechs,  acht,  zehn  als  wirk- 
lich angewandte  übrig  bleiben,  und  als  seltene  Ausnahmen  sieben  und 
neun.  Die  seltenen  Fälle,  wo  eine  höhere  Grundzahl  sls  zehn  auf- 
tritt, werden  wir  zusammenfassen  können,  da  in  diesen  Fällen  die 
Grundzahl  innerhalb  der  Speeres  selbst  eine  schwankende  ist. 

Es  lassen  sich  diese  verschiedenen  Arten  der  Homostauren-Form 
naturgemäss  in  zwei  Formen-Gattungen  gruppiren,  solche  nämlich  mit 
mit  gerader  und  solche  mit  ungerader  Grundzahl.  Es  ist  dieses 
Verhältniss,  welches  an  sich  unbedeutend  erscheinen  könnte,  desshalb 
von  grosser  Bedeutung,  weil  mit  der  geraden  oder  ungeraden  Anti- 
meren-Zahl  gewisse  sehr  wichtige  Unterschiede  in  den  Axen -Verhält- 
nissen verbunden  sind,  die  auf  die  Bildung  der  ganzen  Gestalt  den 
grössten  Einfluss  üben.  Es  mag  hier  vorläufig  nur  daran  erinnert 
werden,  dass  die  Homostauren  mit  ungerader  Grundzahl,  z.  B.  drei, 
fünf,  weit  häufiger  und  entschiedener  in  die  Heterostauren-Form  über- 
gehen und  sich  differenziren,  als  die  Homostauren  mit  gerader  Grund- 
zahl (z.  B.  vier,  sechs).  Unter  den  Thieren  sind  es  die  dreizähligen 
Radiolarien  (Cyrtiden),  die  fünfzähligen  Echinodermen  (Psolus,  Spa- 
tangus  etc.)  unter  den  Pflanzen  die  dreizähligen  Gramineen  und  Or- 
chideen, die  fünfzähligen  Leguminosen,  Umbelliferen,  Labiaten,  Viola- 
ceen  und  viele  Andere,  welche  eine  Reihe  der  merkwürdigsten Uebergänge 
von  der  reinsten  Homostaurie  (radialen  Regularität)  zur  vollkommensten 
Heterostaurie  (bilateralen  Symmetrie)  sehr  deutlich  ausgeprägt  zeigen. 


Regulär -pyramidale  Grundformen.     Homostaura.  465 

Die  Homostauren  mit  gerader  Grundzahl  (2n)  nennen  wir 
I  so  polen,  weil  bei  ihnen  die  beiden  Pole  jeder  Kreuzaxe  gleich 
sind;  beide  Pole  treffen  entweder  auf  die  Mittellinie  zweier  gegen- 
über liegender  Antimeren  oder  auf  die  Grenzlinie  zweier  gegenstän- 
diger Antimeren- Paare.  Daher  sind  hier,  wie  schon  oben  ausgeführt 
wurde,  zweierlei  Kreuzaxen  und  Kreuzebenen  vorhanden,  die  mit 
einander  regelmässig  abwechseln,  n  radiale  und  n  interradiale.  Jede 
radiale  Kreuzebene  ist  die  Medianebene  zweier  diametral  gegenüber- 
stehender Antimeren,  deren  jedes  durch  sie  in  zwei  symmetrisch 
gleiche  dreiseitige  Pyramiden  zerfällt.  Jede  interradiale  Kreuzebene 
ist  die  Grenzebene  von  zwei  congruenten  Antimeren-Paaren.  Am 
häufigsten  von  den  hierher  gehörenden  homotypischen  Grundzahlen 
ist  vier,  demnächst  sechs,  dann  acht,  sehr  selten  zehn  oder  mehr 
(104-2n). 

Die  Homostauren  mit  ungerader  Grundzahl  (2n — 1) 
können  wir  im  Gegensatz  zu  den  Isopolen  passend  als  All o polen 
bezeichnen,  weil  bei  ihnen  die  beiden  Pole  jeder  Kreuzaxe  ungleich 
sind;  der  eine  Pol  trifft  auf  die  Mittellinie  eines  Antimers,  der  andere 
auf  die  Grenzlinie  des  gegenüber  liegenden  Antimeren-Paares.  Daher 
sind  hier  alle  (2n — 1)  Kreuzaxen  und  Kreuzebenen  von  einerlei  Art, 
jede  einzelne  halb  radial,  halb  interradial.  Jede  einzelne  semiradiale 
Kreuzebene  ist  zur  Hälfte  die  Medianebene  eines  Antimeres,  zur  Hälfte 
die  Grenzebene  des  gegenüberliegenden  Antimeren  -  Paares.  Am 
häufigsten  kommt  hier  als  homotypische  Grundzahl  fünf  vor,  demnächst 
drei,  sehr  selten  sieben,  ueun  oder  mehr  (9  4-2n). 

Erste  Gattung  der  homostauren  Stauraxonien : 
Geradzahlige  reguläre  Pyramiden.     Isopola. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Pyramide  mit  2  nSeiten. 

Die  allgemeine  Promorphe  aller  isopolen  Homostauren  ist  die 
reguläre  Pyramide  mit  gerader  Seitenzahl,  wie  nach  den 
vorausgehenden  Erörterungen  keines  weiteren  Beweises  bedarf.  Die 
characteristischen  Axen -Verhältnisse  dieser  Formengattung  lassen  sich 
kurz  dahin  recapituliren,  dass  wenn  die  homotypische  Grundzahl 
=  2n  ist,  n  unter  sich  gleiche  radiale  Kreuzaxen  (und  Kreuzebenen) 
mit  n  davon  verschiedenen,  aber  unter  sich  ebenfalls  gleichen,  inter- 
radialen Kreuzaxen  (und  Kreuzebenen)  alterniren.  Jedes  der  2  n  An- 
timeren ist  eine  (ganze  oder  abgestumpfte)  rechtwinkelige  vierseitige 
Pyramide,  deren  Basis  ein  doppelt  gleichschenkeliges  Trapez  ist  (ein 
Trapez,  das  durch  die  eine  Diagonale  in  zwei  gleichschenkelige  ungleiche 
Dreiecke  zerlegt  wird).  Von  den  vier  Seitenflächen  des  Antimeres 
sind   je    zwei    anstossende    symmetrisch -congruent.     Jede    der    vier 

Haeckel,  Generelle  Morphologie,  30 


466  System  der  organischen  Grundformen. 

Seitenflächen  enthält  einen  rechten  Winkel.  Die  beiden  äusseren 
Seitenflächen  sind  die  Hälften  zweier  anstossender  Seiten  der  regulären 
Pyramide;  die  beiden  inneren  Seitenflächen  sind  die  Hälften  von  zwei 
benachbarten  interradialen  Krenzebenen.  Wir  zerfallen  die  Formen- 
Gattung"  der  isopolen  Homostauren  in  fünf  Formenspecies,  je  nachdem 
die  Grundzahl  vier,  sechs,  acht,  zehn,  oder  mehr  (lU-f-2n)  beträgt. 
Je  geringer  die  Grundzahl,  desto  vollkommener  ist  im  Allgemeinen 
die  Organisation,  desto  höher  die  Stellung  des  Organismus. 


Erste  Art  der  isopolen  Homostauren: 
Geradzahlige  Vielstrahler.     Myriactinota. 

Slereometrisvhe  Grundform:  Reguläre  Pyramide  mit  10+  2  n  Seil  en. 
Realer  Typus:  Aequorea. 

Wir  fassen  unter  dem  Namen  der  Myriactinoteu  alle  diejenigen 
isopolen  Homostauren  zusammen,  deren  gerade  Grundzahl  mehr  als 
zehn,  also  mindestens  zwölf,  vierzehn,  sechszehn  u.  s.  w.,  allgemein 
10-f-2n,  beträgt.  Es  rechtfertigt  sich  diese  Zusammenstellung  einer- 
seits dadurch,  dass  mehr  als  zehn  Antimeren  bei  Homostauren  über- 
haupt selten  sind,  und  dass  auch  da,  wo  sie  vorkommen,  die  homo- 
typische Grundzahl  innerhalb  der  Species  meistens  schwankend  und 
nur  selten  constant  ist.  Dazu  kommt  noch,  dass  in  vielen  dieser 
Fälle  die  einen  Individuen  der  Species  eine  gerade,  die  anderen  eine 
ungerade  Antiniercu-Zahl  zeigen.  Es  findet  also  in  der  Myriactinoten- 
und  Polyaetinoteu-Form  eine  unmittelbare  Berührung  der  Isopolen- 
und  Anisopolen-Form  statt. 

Aus  dem  Pflanzenreiche  sind  uns  sichere  Beispiele  myriactinoter 
Formen  nicht  bekannt.  Dagegen  finden  sich  dieselben  bei  einer  An- 
zahl von  Seesternen,  von  niederen  Hydromedusen  und  von  Radiolarien 
aus  der  Cyrtiden-Familie.  Von  den  letzteren  ist  namentlich  das  merk- 
würdige Litharachnium  tenlorium  (Rad.  Taf.  TV,  Fig.  7 — 10)  mit 
zwanzig  Antimeren  zu  nennen,  welches  die  Grundform  einer  regulären 
zwanzigseitigen  Pyramide  mit  ausgehöhlten  Seitenflächen  in  zierlichster 
Ausführung  zeigt.  Unter  den  Seesternen  findet  sich  die  höchste  An- 
timeren-Zahl  bei  Asteracanthion  helianthus  mit  zwanzig  bis  dreissig 
und  selbst  mit  vierzig  Strahlen;  an  ihn  schliefst  sich  Echinaster  solaris 
mit  vierzehn  bis  zwanzig  (bisweilen  aber  auch  mit  einundzwanzig) 
Armen.  Zwölf  bis  vierzehn  Antimeren  (oft  aber  auch  jiur  zehn  bis 
elf)  finden  sich  bei  Solastcr  papposus,  zwölf  bei  Asteracanthion  aster. 
Viel  häufiger  ist  die  isopole  Polyactinoten-Form  bei  den  niederen 
Hydromedusen,  wo  nicht  allein  viele  Hydroidpolypen,  sondern  auch 
viele  craspedote  Medusen,   namentlich  aus  den  Familien  der  Aequo- 


Regulär -pyramidale  Grundformen.     Homostaura.  467 

rideu  und  Aeginiden,  eine  sehr  hohe  Antimerenzahl  besitzen,  die 
freilich  meist  inconstant  ist  und  häufig  innerhalb  der  Species  mit 
ungeraden  Zahlen  wechselt.  Die  meisten  Aequoriden  haben  eine  sehr 
hohe  Grundzahl  (hundert  oder  einige  hundert) ;  bei  Rhegmatodes  tenuis 
finden  sich  dreissig,  bei  R.  floridanus  sechszehn  bis  vierundzwanzig, 
bei  Aequorea  globosa  dreissig  bis  zweiunddreissig,  bei  A.  mucilaginosa 
stets  vierundzwanzig  Antimeren.  Die  auffallendsten  Zahlenverhältnisse 
bietet  die  am  niedrigsten  organisirte  Medusen-Familie  der  Aeginiden, 
wo  nur  bei  wenigen  Arten  die  Grundzahl  eine  niedere  und  constante 
(meist  acht)  ist.  Es  beträgt  die  Antimeren-Zahl  dreissig  bei  Aegineta 
Corona,  achtzehn  bei  A.  sol  maris,  sechszehn  bei  A.  gemmifera,  A. 
prolifera  u.  v.  a.,  ebenso  sechszehn  bei  Cunina  rhododactyla,  C.  albes- 
cens  (vierzehn  bis  sechszehn ),  C.  complanata  u.  A. ;  ferner  vierzehn 
bei  Aegineta  flacescens,  zwölf  bei  A.  rosea,  A.  dodecagona  und  Ande- 
ren. Bei  Cunina  Köllikeri  findet  sich  der  merkwürdige  Umstand,  dass 
die  eine  Generation  acht,  die  andere,  welche  im  Magen  der  ersteren 
durch  Knospung  entsteht,  zwölf  Antimeren  besitzt;  ebenso  hat  Cunina 
rubiginosa  (Eurysioma  rubiginosum)  zehn,  seine  Knospenbrut  {Steno- 
gaster    complanatus)    sechszehn   Antimeren. 

Zweite  Art  der  isopolen  Hornostauren : 
Zchnstrahler.    Decactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Zelinseitige  reguläre  Pyramide. 
Realer  Typus:  Aegineta  globosa. 

Die  zehnseitige  reguläre  Pyramide,  als  die  Grundform  der  iso- 
polen Hornostauren  mit  zehn  Antimeren,  ist  im  Ganzen  sehr  selten, 
und  noch  weniger  als  die  Polyactinoten-Form ,  im  Organismus  aus- 
geführt. Die  wenigen  Repräsentanten  der  Decactinoteu-Form  gehören 
meistens  der  Hydromedusen-Klasse  und  namentlich  der  Aeginiden- 
Familie  an,  so  die  zuletzt  erwähnte  Cunina  rubiginosa,  ferner  C. 
globosa,  C.  lalwentris  (zehn  bis  zwölf),  Aegineta  globosa  und  einige 
Andere.  Bisweilen  kommen  auch  unter  den  Seesternen  mit  variabler 
Antimeren-Zahl  einzelne  Exemplare  mit  zehn  Strahlen  vor,  so  bei 
Solaster  papposus,  S.  endeca  u.  e.  a. 

Unter  den  phanerogamen  Blüthen  und  Früchten  sind  uns  keine 
unzweifelhaften  Repräsentanten  der  Decactinoten-Form  bekannt,  da 
die  allermeisten,  und  vielleicht  alle  scheinbar  zelmstrahligen  Formen, 
in  der  That  fünfstrahlige  sind,  bei  denen  nur  einer  oder  der  andere 
Blätterkreis  (namentlich  die  Staubfäden,  seltener,  bei  Phytolacca  z.  B., 
auch  die  Staubwege)  verdoppelt  sind ;  dies  gilt  z.  B.  von  den  meisten 
Caryophyllinen  und  allen  anderen  Phanerogamen,  welche  Linne's 
Klasse  der  Decandria  bilden. 

30* 


468  System  der  organischen  Grundformen. 

Dritte  Art  der  isopolen  Honiostaureu : 
Achtstrahler.     Octactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Achtseitige  reguläre  Pyramide. 

Realer  Typus:   Alcyonium  (oder  Mimusops). 

Die  Grundform  der  isopolen  Homostauren  mit  acht  Antimeren 
ist  weit  häufiger  und  constanter,  als  die  Decactinoten-Form  und  ist 
namentlich  als  die  gemeinsame  Grundform  aller  Alcyonarien  oder 
octactinien  Polypen  von  Wichtigkeit.  Diese  formenreiche,  von  Bronn 
als  Monocyclia  octactinia  bezeichnete  Ordnung  der  Anthozoen, 
welche  aus  den  drei  grossen  Familien  der  Alcyoniden,  Gorgoniden 
und  Pennatuliden  zusammengesetzt  ist,  hat  stets  acht  vollkommen 
gleiche  Tentakeln,  welche  den  Mund  in  einem  einfachen  regelmässigen 
Kreise  umgeben,  und  acht  denselben  entsprechende  Kammern  der 
perigastrischen  Höhle,  welche  durch  acht  gleiche  und  gleichweit  von 
einander  entfernte  Septa  getrennt  sind.  Hier  ist  also  die  Octactinoten- 
Form  ganz  rein  überall  ausgeprägt  und  nicht  auf  die  Tetractinoten- 
Form  zurückführbar.  Alle  acht  Antimeren  werden  als  solche  getrennt 
angelegt,  und  sind  von  Anfang  an  einander  gleichwerthig.  Dasselbe 
gilt  auch  von  einigen  wenigen  Medusen  aus  der  Aeginiden-Familie, 
z.  B.  Aeginela  hemisphaerica ,  Cunina  discoidaüs ,  auch  von  einigen 
Seesternen  mit  variabler  Antimeren -Zahl,  unter  denen  achtstrahlige 
Exemplare  nicht  selten  sind,  so  von  Asteriscus  auslralis,  Solaster 
endeca  (acht  bis  zehn)  und  Asteracanthion  tenuispinus  (sechs  bis  acht 
Strahlen).  Dagegen  lassen  sich  zahlreiche  Hydromedusen,  die  auf 
den  ersten  Blick  aus  acht  Antimeren  zusammengesetzt  zu  sein 
scheinen,  auf  die  Grundform  der  Tetractinoten  zurückführen  und  durch 
Duplication  einzelner  Organkreise  aus  diesen  ableiten.  Es  geht  dies 
schon  daraus  hervor,  dass  hier  je  zAvei  anstossende  Antimeren  nur 
symmetrisch -gleich  und  nur  je  zwei  alternirende  congruent  sind,  wäh- 
rend bei  den  echten  Octactinoten  alle  8  Antimeren  vollkommen  con- 
gruent sein  müssen.  Diese  Bemerkung  gilt  auch  von  den  meisten, 
wenn  nicht  von  allen  phauerogamen  Blüthen,  die  durch  die  Achtzahl 
der  Staubfäden  (Octandria)  zu  den  Octactinoten  zu  gehören  scheinen. 
Die  meisten  derselben  lassen  als  ursprüngliche  Grundzahl  vier  oder 
fünf  nachweisen.  Nur  Chlora  unter  den  Gentianeen,  Mimusops  unter 
den  Sapotaceen,  und  einige  wenige  Andere  dürften  wirklich  aus  acht 
Antimeren  zusammengesetzt  sein.  Bei  den  meisten  regulären  Blüthen 
mit  acht  Staubfäden  sind  nur  vier  Blumenblätter  und  vier  Kelchblät- 
ter vorhanden ,  ursprünglich  also  offenbar  nur  vier  Antimeren.  Die 
scheinbaren  acht  Antimeren,  durch  den  doppelten  Antherenkreis  an- 
gedeutet, sind  in  der  That  nur  Parameren,  von  denen  je  zwei  ein 
Antimer  bilden. 


Regulär -pyramidale  Grundformen.     Homostaura.  469 

Vierte  Art  der  isopolen  Homostauren: 
Sechsstrahler,    llexactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Sechsseitige  reguläre  Pyramide. 
Realer  Typus:  Carmarina  (oder  Achras).     Taf.  I,  Fig.  1. 

Die  Grundform  der  regulären  sechsseitigen  Pyramide  ist  noch 
viel  *weiter  als  die  der  achtseitigen  verbreitet.  Es  ist  diese  Grund- 
form allgemein  nachzuweisen  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Anthozoen 
(Polypen),  nämlich  bei  den  Antipatharien  oder  Antipathiden  (Bronn 's 
Monocyclia  hexactinia),  bei  den  Malacodermen  (mit  Ausschluss  der 
Paranemata  oder  Cereanthiden ,  also  bei  den  Actiniden  im  weiteren 
Sinne),  endlich  bei  den  allermeisten  Sclerodermen  (mit  Ausschluss 
der  Rugosen,  also  bei  den  Eporosen,  Perforaten,  Tubulosen  und  Ta- 
bulaten).  Bei  allen  diesen  Anthozoen  ist  die  ursprüngliche  einfache 
Antimeren-Zahl  sechs;  in  einem  späteren  Lebensstadium  wird  sie  (mit 
Ausnahme  der  stets  einfach  bleibenden  Antipatharien)  oft  scheinbar  (!) 
verdoppelt  oder  höher  multiplicirt,  indem  zwischen  die  sechs  primären 
Septa  mehrere  Systeme  von  secundären,  tertiären  etc.  Septis  einge- 
schaltet werden.  Ausser  den  meisten  Anthozoen  ist  die  homotypische 
Sechszahl  auch  noch  bei  einigen  anderen  Coelenteraten  ausgeprägt, 
nämlich  bei  den  Carmariniden  (Carmarina,  Geryonia,  Leuckarlia)  aus 
der  Familie  der  Rüsselquallen,  bei  Willia  aus  der  Familie  der  Ocea- 
niden  und  bei  einigen  Aeginiden  (Aegineta  paupercula).  Endlich  sind 
auch  einige  wenige  Seestern-Arten  (darunter  mehrere,  wie  es  scheint, 
constant)  durch  sechs  Strahlen  ausgezeichnet,  so  Asteracanthion  gela- 
tinosus,  A.  polaris,  Echinaster  eridanella  u.  e.  a. 

Von  den  phanerogamen  Bliithen  dürfte  auf  den  ersten  Blick  die 
grosse  Mehrzahl  der  Hexandria  Linne's  und  ein  grosser  Theil  anderer 
Monocotyledonen  zu  den  Hexactinoten  zu  gehören  scheinen.  Indessen 
lehrt  hier  eine  genauere  Vergleichung,  dass  die  eigentliche  Antimeren- 
Zahl  derselben  drei  ist.  Nur  einige  wenige  Dicotyledonen,  namentlich 
Achras,  Canarina,  Loranlhus  (?),  einige  Arten  von  Lythrum  und  Sedum 
etc.  dürfen  als  echte  Hexactinoten  betrachtet  werden,  weil  in  allen 
Blattkreisen  der  Blüthe  die  Sechszahl  wiederkehrt. 

Fünfte  Art  der  isopolen  Homostauren: 
Vierstrahler.     Tetractinota. 

Stereometrische  Grundform :  Vierseitige  reguläre  Pyramide  oder  Quadrat- Pyramide. 
Realer  Typus:  Aurelia  (oder  Paris).     Taf.  I,  Fig.  9. 

Die  Quadratpyramide  oder  das  halbe  gleichseitige  Octaeder,  die 
Grundform  der  isopolen  Homostauren  mit  vier  Antimeren,  ist  von 
allen  Formarten  der  isopolen  Homostauren  die  am  meisten  verbreitete. 


470  System  der  organischen  Grundformen. 

Es  ist  dies  die  Grundform  der  grossen  Hydromedusen-Klasse,  nament- 
lich aller  höheren  Medusen  (Acraspeden)  und  auch  der  meisten  niede- 
ren (Craspedoten ),  von  denen  nur  ein  Theil  der  Siphonophoren-Ordnung, 
sowie  die  im  Vorhergehenden  einzeln  aufgeführten  Medusen,  nament- 
lich Aequoriden,  Carmariniden  und  Aeginiden,  ferner  viele  Hydroid- 
polypen,  Ausnahmen  bilden.  Dann  gehört  auch  noch  ein  anderer 
Theil  der  Coelenterateu  hierher,  nämlich  die  gewöhnlich  /Air  Anthozoen- 
Klasse  gestellten  Calycozoen  (Lucernarien)  und  Rugosen  (Cystiphylli- 
den,  Stauriden,  Cyathaxoniden  und  Cyathophylliden,  letztere  mit  Aus- 
nahme der  Zaphrentinen),  endlich  auch  die  meist  zu  den  Malacoder- 
men-Polvpen  gestellten  Paranemata  (Cereanthiden). 

Als  sehr  wichtig  ist  hier  aber  besonders  hervorzuheben,  dass 
auch  schon  unter  den  Würmern  einzelne  Formen  vorkommen,  die 
ebenso  aus  vier  absolut  congruenten  Antimeren  zusammengesetzt  sind, 
wie  die  Medusen,  und  die  desshalb  streng  genommen  ebenfalls  zu 
den  Tetractinoten  gerechnet  werden  müssen.  Es  sind  dies  diejenigen 
Bandwürmer,  besonders  aus  der  Gruppe  der  Tetraphyllideen 
(Phyllobothriden,  Phyllacanthiden,  Phyllorhynchiden)  und  auch  die 
Scolex-Metameren  vieler  anderer  Cestoden,  bei  denen  nicht  nur  die 
vier  Saugnäpfe  oder  Hakenrüssel,  die  den  Peristompol  gleich  vertheilt 
umgeben,  congruent  sind,  sondern  auch  der  Excretionsapparaf  durch 
vier  (oder  acht)  ganz  gleiche  Hauptstämme  vertreten  ist. 

Unter  den  phanerogamen  Blüthen  ist  die  Tetractinoten- Form 
ebenfalls  sehr  weit  verbreitet  und  es  dürfte  wohl  die  Mehrzahl  der 
Dicotyledonen  mit  vierspaltigem  oder  vierblättrigem  Kelche  und  mit 
vierspaltiger  oder  vierblättriger  Blumenkrone  hierher  zu  rechnen  sein, 
mag  nun  die  Staubfädenzahl  vier  (Tetrandria)  oder  acht  (Octandria) 
betragen.  Als  Beispiele  von  sehr  reiner  Ausbildung  der  Tetractinoten- 
Form  mögen  hier  Paris  quadrifolia,  Epimedium,  Erica  und  verschie- 
dene andere  Ericeen,  und  aus  der  (gewöhnlich  dreizähligen)  Monoco- 
tyledonen-Gruppe  die  streng  vierzählige  Aspidistra  angeführt  werden. 
Unter  den  Cryptogamen  scheint  die  vierseitige  reguläre  Pyramide  die 
Grundform  von  sehr  vielen  Früchten  zu  sein,  so  z.  B.  von  den  Vier- 
lingsfrüchten vieler  Algen  etc. 

Die  Aequatorialebene  dieser  Grundform  ist  das  Quadrat.  Die 
durch  die  Diagonalen  des  Quadrats  bestimmten  beiden  radialen  Kreuz- 
ebenen, welche  sich  rechtwinkelig  schneiden,  können  den  beiden 
Richtebenen  der  orthostauren  Autopolen  und  insbesondere  der  Tetra- 
phragmen  verglichen  werden,  mit  welchen  letzteren  diese  einfachste 
Form  der  isopolen  Homostauren  durch  vielfache  Uebergänge  allmählig 
verbunden  ist.  Sobald,  wie  es  bei  einigen  Medusen  (Saphenia,  Storno- 
ioca)  geschieht,  zwei  'gegenständige  Antimeren  sich  durch  Entwicke- 
lung    irgend    eine*    besonderen    Organe«    vor    den    beiden   mit  ihnen 


Regulär  -  pyramidale  Grundformen.    Homostaura.  471 

alternirenden  auszeichnen,  oder  (wie  bei  den  Cruciferen)  durch  man- 
gelhaftere Entwicklung  hinter  letzteren  zurückbleiben,  so  ist  der 
Uebergang  aus  der  Quadrat-Pyramide  der  Tetractinoten  in  die 
Rhomben-Pyramide  der  Tetraphragmen  bewerkstelligt. 

Zweite  Gattung  der  homostauren  Stauraxonien : 
Ungeradzahlige  reguläre  Pyramiden.     Anisopola. 

Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Pyramide  mit  2» — 1  Seiten. 

Die  Grundform  der  anisopolen  Homostauren  oder  der  heteropolen 
Stauraxonien  mit  ungerader  Antimerenzahl  ist  die  reguläre  Pyra- 
mide mit  ungerader  Seitenzahl,  wie  schon  oben  erörtert  worden 
ist.  Die  Axenverhältnisse  dieser  Formgattung  sind  dadurch  characte- 
risirt,  dass,  wenn  die  homotypische  Grundzahl  =2n — 1  ist,  eben  so 
viele  unter  sich  gleiche  Kreuzaxen  vorhanden  sind,  und  dass  jede  von 
diesen  2n — 1  Kreuzaxen  zur  Hälfte  aus  einem  Radius,  zur  Hälfte 
aus  einem  Interradius  besteht.  Jedes  der  2n — 1  Antimeren  ist  eine 
(ganze  oder  abgestumpfte)  rechtwinkelige  vierseitige  Pyramide,  deren 
Basis  ein  doppelt -gleichschenkeliges  Trapez  ist  (ein  Trapez,  dessen 
beide  Diagonalen  senkrecht  aufeinander  stehen,  und  von  denen  die 
eine  die  andere  halbirt,  ohne  von  dieser  selbst  halbirt  zu  werden). 
Von  den  vier  Seitenflächen  jedes  Antimeres,  deren  jede  einen  rechten 
Winkel  enthält,  sind  je  zwei  anstossende  symmetrisch- congruent. 
Die  beiden  äusseren  Seitenflächen  sind  die  Hälften  zweier  anstossenden 
Seiten  der  regulären  Pyramide;  die  beiden  inneren  Seitenflächen  sind 
die  interradialen  Hälften  von  zwei  benachbarten  semiradialen  Kreuz- 
ebenen. Das  Formen- Genus  der  allopolen  Homostauren  zerfällt  in 
fünf  Formen- Species,  je  nachdem  die  Grundzahl  9  +  2n  oder  neun, 
sieben,  fünf,  drei  beträgt.  Je  niedriger  die  homotypische  Grundzahl, 
desto  vollkommener  ist  die  Grundform. 

Erste  Art  der  anisopolen  Homostauren: 
Ungeradzahlige  Vielstrahler.     Polyactinota. 

Stereo m et rische  Grundform:    Reguläre  Pyramide  mit  9  +  2  n Seiten. 
Realer  Typus:   Brisinga. 

In  der  Gruppe  der  Polyactinoten  fassen  wir  alle  diejenigen  ani- 
sopolen Homostauren  zusammen,  deren  ungerade  Grundzahl  mehr  als 
neun,  also  mindestens  elf,  dreizehn,  fünfzehn  u,  s.  w.,  allgemein 
9  +  2n  beträgt.  Es  sind  diese  Homostauren  von  den  Myriactinoten 
nicht  scharf  zu  trennen,  da  bei  vielen  hierher  gehörigen  Species  die 
Grundzahl  variabel,  bald  gerade,  bald  ungerade  ist.     Selten  ist  eine 


472  System  der  organischen  Grundformen. 

höhere  Grundzahl  als  neun  bei  allen  Individuen  einer  Species  constant. 
Ueberhaupt  sind  im  Ganzen  höhere  ungerade  Zahlen  sehr  selten,  und 
noch  seltener  als  höhere  gerade  Grundzahlen.  Aus  dem  Pflanzenreiche 
sind  uns  solche  nicht  bekannt.  Im  Thierreiche  finden  sie  sich  bei 
denselben  Strahlthiergruppen,  die  wir  schon  unter  den  isopolen  Myri- 
actinoten  hervorgehoben  haben,  einerseits  bei  einigen  Seesternen, 
andererseits  bei  einigen  Medusen  aus  den  Familien  der  Aeginiden 
und  Aequoriden.  Es  sind  hier  dieselben  Arten  von  Aequoriden  und 
Aeginiden  hervorzuheben,  die  überhaupt  eine  höhere  und  dabei  variable 
Antimerenzabl  besitzen  und  daher  ebensowohl  häufig  eine  gerade  als 
eine  ungerade  Grundzahl  zeigen.  Abgesehen  hiervon  aber  scheinen 
einzelne  Species  sich  durch  eine  constante  ungerade  Grundzahl,  die 
höher  als  neun  ist,  auszuzeichnen.  So  sollen  mehrere  Arten  von 
Mesonema  constant  aus  siebzehn  Autimeren  zusammengesetzt  sein 
Phorcynia  striata  aus  dreizehn,  Cunina  lativentris  aus  elf  ^bisweilen 
jedoch  auch  aus  zehn  oder  zwölf),  C.  mirea  aus  neun  bis  elf  Strahl- 
stücken u.  s.  w.  Unter  den  Seesternen  zeichnet  sich  Asteriscus  rosa- 
cens  durch  die  constante  Zusammensetzung  aus  fünfzehn  Antimeren 
aus.  Ebenso  ist  die  merkwürdige  Brisinga  endecacnemos ,  welche  den 
Uebergang  von  den  Asterien  zu  den  Ophiuren  bildet,  durch  den 
constanten  Besitz  von  elf  Armen  ausgezeichnet.  Einundzwanzig 
Strahlen  finden  sich  bisweilen  bei  Echinaster  solaris,  der  meist  vier- 
zehn bis  zwanzig  besitzt. 

Zweite  Art  der  anisopolen  Homostauren: 
Neuiistrahler.     Eiineactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Neunseitige  reguläre  Pyramide. 
Realer  Typus:  Luidia  senegalensis. 
Von  allen  homotypischen  Grundzahlen  unter  zwölf  scheint  neun 
am  seltensten  realisirt  zu  sein.  Constant  oder  doch  fast  constant 
finden  sich  neun  Autimeren  bei  einigen  Seestern-Arten  vor,  so  nament- 
lich bei  Luidia  senegalensis  M.  Tr.  und  Luidia  maeulata  M.  Tr.  Ebenso 
finden  sich  bei  Solaster  endeca  fast  immer  neun  ^selten  acht  oder 
zehn)  Strahlenarme.  Neun  Strahlen  kommen  auch  bei  Asteriscus 
australis  vor,  welcher  deren  gewöhnlich  acht  hat. 

Dritte  Art  der  anisopolen  Horaostauren: 
Siebenstrahler.    Ileptactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Siebenseitige  reguläre  Pyramide 

Realer  Typus:    Trientalis  (oder  Luidia  Savignyi). 

Wie  schon  oben  bemerkt  wurde,   sind  die  Grundzahlen  neun  und 

sieben  von  allen  niederen  Zahlen  am  seltensten  in  organischen  Formen 

ausgeprägt.     Die  siebenseitige   reguläre  Pyramide    findet    sich    daher 


Regulär-pyramidale  Grundformen.     Homostaura.  473 

als  Grundform  von  Personen  sowohl  im  Thier-  als  im  Pflanzenreiche 
nur  selten  deutlich  ausgebildet  vor.  Von  den  Thieren  ist  uns  nur 
ein  einziges  Beispiel  von  constanter  Siebenzahl  bekannt,  der  schöne 
siebenstrahlige  Seestern  Luidia  Sacigmß.  Auch  unter  den  Pflanzen 
ist  sieben  als  constante  homotypische  Grundzahl  sehr  selten  und  nur 
bei  einigen  wenigen  Plianerogamenblüthen  rein  durchgebildet,  z.  B. 
bei  einigen  Species  von  Sempervwum  und  bei  der  naheverwandten 
Crassulaceen- Gattung  Seplas,  die  einen  siebentheiligen  Kelch,  sieben 
Blumenblätter,  sieben  Staubfäden,  sieben  Griffel  und  sieben  Frucht- 
blätter besitzt.  Von  den  deutschen  Phanerogamen  gehört  nur  eine 
einzige  Art  hierher,  die  Trientalis  europaea,  welche  ebenfalls  sieben 
Kelchblätter,  eine  siebentheilige  Krone  und  sieben  Staubfäden  (nur 
einen  Griffel  und  eine  Beere)  hat,  bei  der  aber  bisweilen  die  Blüthe 
auch  fünf  bis  acht  Antimeren  besitzt.  Die  übrigen  Phanerogamen, 
welche  wegen  sieben  Staubfäden  zu  den  Heptandria  gestellt  werden, 
haben  meist  die  homotypische  Grundzahl  fünf  (z.  B.  Aesculus)  oder 
vier  (z.  B.  Saururus)  und  es  ist  hier  die  Siebeuzahl  durch  theilweises 
Fehlschlagen  des  verdoppelten  Staubblattkreises  bedingt. 

Vierte  Art  der  anisopolen  Hornostauren: 

Fiiiifstrahler.      Pentactinota. 

Stereometrische  Grundform:  Fünfseitige  reguläre  Pyramide. 

Realer  Typus:    Ophiura  (oder  Primula)  Taf.  I,  Fig.  6- 

Die  Pentactinoten  -  Form,  die  Grundform  der  anisopolen  Homo- 
stauren mit  fünf  Antimeren,  ist  von  allen  regulären  Pyramiden  mit 
ungerader  Seitenzahl  bei  weitem  die  häufigste.  Nicht  nur  ist  der 
ganze  umfangreiche  Stamm  der  Echinodermen  fast  constant  aus  fünf 
Antimeren  zusammengesetzt;  sondern  es  gilt  dies  auch  für  die  bei 
weitem  überwiegende  Mehrzahl  aller  Dicotyledonen-Blüthen.  Doch 
geht  allerdings  bei  einem  sehr  grossen  Theile  beider  Abtheilungen 
die  streng  reguläre  Form  vielfach  in  die  bilateral-symmetrische  (amphi- 
pleure)  bis  zu  deren  vollkommenster  Ausbildung  über,  so  dass  es  oft 
sehr  schwierig  ist,  die  Grenze  zwischen  der  fünfseitigen  regulären  und 
der  halben  amphithecten  Pyramide  zu  bestimmen. 

Als  streng  reguläre  fünf  seit  ige  Pyramiden  haben  wir  von 
den  Thieren  nur  einen  Theil  des  Echinodermen-Stammes  zu  betrachten; 
und  zwar  1)  einen  sehr  kleinen  Theil  der  Crinoiden-Klasse  und  zwar 
nur  aus  der  Subclasse  der  Brachiaten,  z.  B.  Eucalyptocriuus,  Cupresso- 
crinus  etc.;  2)  die  grosse  Mehrzahl  der  Ästenden,  namentlich  sämmt- 
liche  Ophiuren  und  Euryalen,  und  die  Mehrzahl  der  Asterien;  3) 
einen  sehr  kleinen  Theil  der  Echiniden  ^die  Palaechiniden  und  einige 
Cidariden).     Diesen    absolut   regulären   Echinodermen    schliesst    sich 


474  System  der  organischen  Grundformen. 

eine  sehr  grosse  Anzahl  von  „ subregulären u  an,  bei  denen  die  fünf 
Antinieren  congruent  siucl,  wenn  man  von  einem,  an  sich  unbedeu- 
tenden Merkmale  (z.  B.  einem  unpaaren  Genitalporus  oder  dem 
excentrischen  After)  absieht,  welches  einen  unpaaren  Kadius  und 
Interradius  den  vier  übrigen  gegenüber  auszeichnet.  Zu  diesen  gehö- 
ren 1)  die  allermeisten  Crinoiden;  2)  alle  fünfzähligen,  nicht  absolut 
regulären  Ästenden;  3)  die  sogenannten  regulären  Echiniden;  4)  die 
sogenannten  regulären  („nicht  sohligen")  Holothurien  (Pentacla,  Syn- 
apta  etc.).  Bei  den  Coelenteraten  scheint  die  Pentactinotenform  nicht 
vorzukommen.  Zwar  hat  man  früher  eine  Anthozoen-Gruppe  als  Pent- 
actinia  unterschieden.  Indess  sind  bei  diesen  in  der  That  sechs 
Autimeren  vorhanden,  und  nur  bisweilen  das  Eine  davon  etwas  ver- 
kümmert. 

Von  den  phanerogamen  Blüthen  ist  eine  grosse  Anzahl  der  Dico- 
tyledonen  hierher  zu  rechnen,  nämlich  alle  diejenigen,  bei  denen  fünf 
congruente  Blätter  oder  Multipla  von  fünf  in  jedem  Blattkreise,  und 
namentlich  in  dem  Blattkreise  des  Kelches  uud  der  Krone  vorhanden 
sind,  wobei  die  Zahl  der  Staubfäden  häufig  stark  multiplicirt,  und  die 
Zahl  der  Fruchtblätter  häufig  um  ein,  zwei,  drei  oder  vier  reducirt  ist. 
Dies  gilt  z.  B.  von  den  meisten  Primulaceen,  Solaneen,  Campanulaceen, 
Umbelliferen,  Crassulaceen  etc.  Als  Beispiele  von  reinster  Ausbildung 
der  pentactinoten  Grundform  sind  hier  insbesondere  viele  Primulaceen, 
viele  Arten  von  Sedum,  Oxalis,  Nicandra,  Campanula  etc.  hervor- 
zuheben. 

Streng  genommen  würden  allerdings  nur  diejenigen  fünfzähligen 
Blüthen  hierher  zu  rechnen  sein,  bei  denen  fünf  congruente  Blätter  in 
jedem  Blattkreise  der  Blüthe  vollkommen  regulär  ausgebildet  sind, 
und  bei  denen  also  auch  die  weiblichen  Genitalien  entweder  fünf- 
zählig  oder  einfach  (central  in  der  Pyramiden-Axe)  vorhanden  sind. 
Indessen  ist  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  fünfzähligen  Blüthen  die 
im  Uebrigen  ganz  regulär  sind,  die  Anlage  zur  bilateralen  Symmetrie 
dadurch  bestimmt,  dass  nur  vier  oder  drei  oder  zwei  oder  ein  Griffel 
oder  Stempel  ausgebildet  sind. 

Fünfte  Art  der  anisopolen  Homostauren: 

Dreistrahler.     Triactinota. 

Stereomelrische  Grundform:  Dreiseitige  reguläre  Pyramide. 

Realer  Typus:   Iris  (oder  Lychnocanium)  Taf.  I,  Fig.  4. 

Den  einfachsten  Fall  unter  allen  anisopolen  Homostaureu  bietet 
uns  die  dreiseitige  reguläre  Pyramide  dar,  wie  sie  sich  sehr  häufig 
im  Pflanzenreiche,  dagegen  aber  bei  keiner  uns  bekannten  Thier- 
Person  ausgebildet  findet.     Als  Grundform  von    Organen  kommt  sie 


Irregulär  -  pyramidale  Grundformen.     Heterostaura.  475 

auch  hier  vor,  so  z.  B.  bei  den  dreiklappigen  Pedicellarien  der  See- 
igel. Unter  den  Protisten  finden  wir  dieselbe  als  Form  actueller 
Bionten  bei  vielen  ßkizopoden,  unter  denen  besonders  eine  Anzahl 
von  Cyrtiden-Arten  aus  der  Iladiolarien-Klasse  hervorzuheben  ist,  und 
zwar  aus  den  beiden  Unterfamilien  der  Dicyrtiden  und  Stichocyrtiden- 
Nicht  selten  ist  hier  die  geometrische  Grundform  sehr  rein  in  der 
Bildung  des  zierlichen  Kieselgehäuses  ausgesprochen,  so  bei  vielen 
Arten  von  Lithomelissa ,  Lithornithium,  Rhupalocanium,  Poclocyriis ; 
besonders  regelmässige  dreiseitige  Pyramiden  sind  die  Kieselschalen 
von  Lychnocanium  lucerna,  Dictyophimus  gracilipes,  Rhopalocanium 
ornatum  und  Dictyopodium  trilobum. 

Unter  den  Phanerogamen-Pflanzen  ist  die  Dreizahl  ebenso  charac- 
teristisch  für  die  Blüthensprosse  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Mono- 
cotyledonen,  wie  die  Fünfzahl  (seltener  die  Vierzahl)  für  die  Blüthen 
sprosse  bei  den  allermeisten  Dicotyledonen.  Wie  bei  den  letzteren, 
so  geht  auch  bei  den  ersteren  die  homostaure  vielfach  in  die  hetero- 
staure  (amphipleure)  Form  über.  Dies  ist  z.  B.  bei  den  grossen  Ab- 
theilungen der  Orchideen,  Gramineen  und  Cyperaceen  der  Fall.  Da- 
gegen ist  die  reguläre  dreiseitige  Pyramide  die  unverkennbare  Grund- 
form der  Blüthe  in  der  umfangreichen  Gruppe  der  Coronarien  (Lilia- 
ceen,  Smilaceen,  Irideen,  Amaryllideen  etc.),  bei  den  Juncaceen  und 
vielen  anderen  Monocotyledonen.  Viel  seltener  finden  wir  die  reine 
Triactinoten-Form  bei  den  Dicotyledonen,  so  z.  B.  bei  einigen  Lauri- 
neen, einigen  Arten  von  Elatine,  Tillaea,  Cneorum  etc. 


Zweite  Unterfamilie  der  heteropolen  Stauraxonien : 

Ungleichpolige   Ungleichkreuzaxige.      Heterostaura. 

(„Bilateral  -  symmetrische"  Formen  der  Autoren    in    der    ersten    (weitesten)  Be- 
deutung des  Begriffes). 

Stereometrische  Grundform:  Irreguläre  Pyramide. 

Die  heterostauren  heteropolen  Stauraxonien  oder  die  Hetero- 
stauren,  wie  wir  sie  kurz  nennen  wollen,  bilden  eine  höchst  wich- 
tige und  umfangreiche  Formenreihe;  es  ist  dies  die  am  weitesten 
verbreitete  und  am  meisten  differenzirte  von  allen  Hauptgruppen,  in 
welche  wir  die  Grundformen  der  Organismen  vertheilt  haben.  Die 
grosse  Mehrzahl  aller  Personen  des  Thierreichs,  sehr  zahlreiche  Per- 
sonen des  Pflanzenreichs  und  sehr  viele  Autimeren,  Metameren,  Or- 
gane und  Zellen,  lassen  diese  Grundform  erkennen.  Der  einfachste 
geometrische  Ausdruck  derselben  ist  die  irreguläre,  und  zwar  mei- 
stens die  amphithecte  Pyramide,  (entweder  die  ganze  oder  die 
halbe,   selten  die  geviertheilte  amphithecte  Pyramide). 


476  System  der  organischen  Grundformen. 

Den  Character  und  die  allgemeinen  Eigenschaften  der  amphithecten 
oder  zweischneidigen  Pyramide  haben  wir  bereits  oben  bestimmt  und  er- 
läutert; es  ist  eine  gerade  Pyramide  mit  gerader  Seitenzahl,  deren  Basis 
ein  amphithectes  (zweischneidiges)  Polygon  ist  (p.  434).    Die  Seitenzahl 
kann   sehr  verschieden  sein,  muss  aber  stets  gerade  (2n)  sein.     Als 
Beispiel  für  die  achtseitige  amphithecte  Pyramide  mögen  hier  vorläufig 
die  Ctenophoren,    für  die  sechsseitige  die  Madreporen,    für  die  vier- 
seitige die  Zygocyrtiden  (auch  viele  Siphonophoreu,  ferner  die  Cruci- 
feren-Blüthen,    Circaea    u.    A.)    hervorgehoben    werden.     Der    hervor- 
stechendste und   wichtigste   Characterzug    der    zweischneidigen    Pyra- 
mide   besteht    darin,    dass    sie    durch    zwei  auf  einander  senkrechte 
Ebenen,    deren   Schnittlinie  die  Hauptaxe  ist,    in  vier  rechtwinkelige 
Pyramiden  zerlegt  wird,  von  denen  je  zwei  benachbarte  symmetrisch- 
gleich, je   zwei   gegenüberliegende  aber  congruent  sind.     Die  beiden 
ungleichen,   sich  gegenseitig  halbirenden  Meridianebenen,   welche  auf 
diese    Weise    den  Character    der    amphithecten  Pyramide  bestimmen, 
haben  wir  oben  als  Richtebenen  (Plana  euthyphora)  oder  ideale 
Kreuzebenen  bezeichnet.   Die  beiden  Queraxen,  welche  auf  der  Haupt- 
axe in  deren  Mittelpunkt  senkrecht  stehen,   und  in  den  beiden  Richt- 
ebenen    liegen,    sind    die    Rieh  tax en   (Euthyni)    oder  die  idealen 
Kreuzaxen.     Mindestens   die  eine  und  meistens  auch  die    andere    von 
diesen  beiden  Richtaxen  fällt  mit  einer  realen  Kreuzaxe,  entweder  einer 
radialen  oder  einer  interradialen,  nie  mit  einer  semiradialen  zusammen. 
Die  eine  der  beiden  Richtebenen,    die    wir    die    Lateralebene  oder 
Breitenebene  nennen,   thei.lt  die  amphithecte  Pyramide  in   zwei  con- 
gruente   Hälften,    welche  der  Rücken-   und  Bauchhälfte    des    Thieres 
entsprechen;  die  in  der  Lateralebene  liegende  Richtaxe  ist  die  Late 
r alaxe  oder  Breitenaxe,  deren  beide  Pole  wir  als  rechten  und  linken 
unterscheiden.     Die  andere  Richtebene,  welche  die  amphithecte  Pyra- 
mide  ebenfalls  in  zwei  congruente  Hälften,   und  zwar  in  eine  rechte 
und  linke   Hälfte,    theilt,    ist   die  Längenebene  oder  Medianebene, 
und  die  in  derselben   liegende  Richtaxe   ist  die    Dorso ventralaxe 
oder    Dickenaxe,    deren    beide  Pole  wir  als  Rücken-  und  Bauch-Pol 
unterscheiden.     Diejenige   Ebene    endlich,    welche   durch    die    beiden 
Richtaxen    bestimmt    ist,    entspricht    der  Aequatorialebene   der  bisher 
betrachteten  Protaxonien,    und  wird    am  besten  als  Dorsoventral- 
ebene  oder   Dickenebene   unterschieden.     Durch   sie   wird  die  ganze 
amphithecte  Pyramide  in  zwei  ungleiche  Stücke  getheilt,   ein  Apical- 
stück    und    ein    Basalstück.      Vergl.   Taf.  L,    Fig.  2,    8    nebst  Erklä- 
rung. 

Wir  haben  demnach  an  der  einfachen  amphithecten  Pyramide, 
ganz  abgesehen  von  den  realen  Kreuzaxen  und  den  durch  ihre  Zahl 
bestimmten  Seiten,  die  allgemein  2n  +  2  ist,  (bei  den  Ctenophoren  acht. 


Irregulär- pyramidale  Grundformen.     Heterostaura.  477 

bei  den  Madreporen  sechs,  bei  den  Cruciferen  vier),   folgende  allge- 
mein bestimmende  Punkte,  Linien  und  Ebenen  zu  unterscheiden: 

I.  Drei  auf  einander  senkrechte  und  sich  gegenseitig  halbirende 
Axen,  welche  den  drei  Dimensionen  des  Raumes  entsprechen  und  von 
denen  eine  ungleichpolig  ist,  während  die  beiden  anderen  gleichpolig 
sind.  Diese  drei  Axen  sind:  1)  die  ungleichpolige  Hauptaxe  oder 
Längsaxe  (Axis  principalis,  longitudinalis).  A.  Erster  Pol 
oder  Mundpol  (Po Ins  oralis,  Peristomium,  Basis  der  Pyramide). 
B.  Zweiter  Pol  oder  Gegenmundpol  (Polus  aboralis,  Antistomium, 
Apex  der  Pyramide).  2)  Die  gleichpolige  erste  Richtaxe  (Dicken- 
axe  oder  Rückenbauchaxe  (Axis  dorsoventralis,  sagittalis). 
A.  Erster  Pol  oder  Rückenpol  (Polus  dorsalis).  B.  Zweiter  Pol 
oder  Bauchpol  (Polus  ventralis).  3")  Die  gleichpolige  zweite  Richt- 
axe, Breite naxe  oder  Öeitenaxe  (Axis  lateralis,  dextrosinistra). 
A.  Erster  oder  rechter  Pol  (Polus  d  ext  er.  B.  Zweiter  oder  linker 
Pol  (Polus  sinister). 

IL  Drei  auf  einander  senkrechte  Ebenen,  welche  durch  je  zwei 
von  den  eben  bestimmten  drei  Axen  gelegt  werden  können  und  von 
denen  die  eine  (die  Medianebene)  jede  der  beiden  anderen  halbirt. 
Diese  drei  Ebenen  sind:  1)  die  Medianebene,  Sagittalebene  oder 
Längs-Dicken-Ebene  (Planum  medianum),  durch  die  Hauptaxe 
und  die  Dorsoventralaxe  bestimmt;  2)  die  Lateralebeue  oder  Längs- 
Breiten-Ebene  (Planum  laterale),  durch  die  Hauptaxe  und  die 
Lateralaxe  gelegt;  3)  die  Aequatorialebeue  oder  Breiten-Dicken-Ebene 
(Planum  aequatoriale  s.  dorso ventrale),  durch  die  beiden  Richt- 
axen  bestimmt.  Die  letztere  ist  ein  amphithectes  Polygon  von  2n-f-2 
Seiten;  die  beiden  ersteren  sind  gleichschenkelige  Dreiecke,  oder, 
wenn  man  die  abgestumpfte  amphithecte  Pyramide  betrachtet, 
gleichschenkelige  Paralleltrapeze  (Antiparallelogramme). 

III.  Die  Kreuzaxen  (Stauri),  welche  auf  dem  Mittelpunkte  der 
Hauptaxe  senkrecht  stehen  und  durch  sie  halbirt  werden,  so  wie  die 
Kreuzebenen  (Plana  cruciata)  oder  die  Meridianebenen,  welche 
durch  die  Hauptaxe  und  jede  der  Kreuzaxen  sich  legen  lassen, 
können  bei  den  ganzen  amphithecten  Pyramiden  niemals  semiradial 
sein,  da  die  homotypische  Grundzahl  niemals  eine  ungerade  sein  kann. 
Da  die  letztere  stets  2n-}-2  ist,  so  müssen  die  Kreuzaxen  und  Kreuz- 
ebenen stets  von  zweierlei  Art,  abwechselnd  radial  und  interradial 
sein.  Die  Kreuzaxen  und  die  durcli  sie  und  die  Hauptaxe  gelegten 
Kreuzebenen  können  ferner  niemals  alle  gleich  sein,  da  erst  durch 
die  Ungleichheit  derselben  die  Differenzirung  der  beiden  ungleichen 
Richtaxen  und  Richtebenen  bedingt  wird,  welche  den  Character  der 
amphithecten  Pyramide  bestimmt. 

Wie    die    meisten    vorstehend    angeführten    Grundformen,   so  ist 


478  System  der  organischen  Grundformen. 

auch  die  ganze  und  halbe  amphithecte  Pyramide,  welche  die  gemein- 
same Grundform  der  meisten  Heterostauren  ist,  von  den  Morphologen 
bisher  nicht  erkannt  worden,  da  man  die  bestimmenden  Axen  und  deren 
Pole  entweder  gar  nicht  oder  doch  nicht  gehörig  berücksichtigt  hat. 
Vielmehr  hat  man  alle  hierher  gehörigen  Formen  als  „Bilateral- 
Symmetrische'-  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  betrachtet.  Der 
Einzige,  der  wenigstens  den  Unterschied  der  ganzen  und  halben 
amphithecten  Pyramide,  wenn  auch  nicht  erkannt,  so  doch  gefühlt 
und  unbestimmt  ausgedrückt  hat,  ist  Bronn;  er  nennt  diejenigen 
Heterostauren,  welche  der  ganzen  amphithecten  Pyramide  entsprechen, 
Sagittalformen  oder  Keile  (Sphenoide),  diejenigen,  welche  nur 
eine  halbe  repräsentiren,  Halbkeile  (Hemisphenoide). 

Die  äusserst  umfangreiche  und  vielgestaltige  Formengruppe  der 
Heterostauren  zerfällt  zunächst  in  zwei  Hauptabtheilungen,  autopole 
und  allopole,  je  nachdem  jede  der  beiden  Richtaxen  (oder  idealen 
Kreuzaxen)  gleichpolig  ist,  oder  wenigstens  die  eine  derselben  (selten 
auch  die  andere)  ungleichpolig  ist.  Die  autopolen  Heterostauren, 
bei  denen  die  beiden  Pole  an  jeder  der  beiden  Richtaxen  gleich  sind, 
werden  durch  jede  der  beiden  Richtebenen  in  zwei  congruente  Stücke 
zerlegt.  Die  allopolen  Heterostauren,  bei  denen  die  beiden 
Pole  der  einen  Richtaxe  (selten  auch  die  der  anderen)  ungleich  sind, 
werden  durch  die  eine  Richtebene  in  zwei  ungleiche,  durch  die  andere 
in  zwei  symmetrisch -gleiche  Stücke  zerlegt  (oder,  wenn  beide  Richt- 
axen ungleichpolig  sind,  in  zwei  symmetrisch -ähnliche).  Zwischen 
diesen  beiden  Hauptabtheilungen  besteht  der  sehr  wichtige  Unterschied, 
dass  bei  den  Autopolen,  wie  bei  allen  bisher  betrachteten  Protaxo- 
nien,  die  Mitte  des  Körpers  eine  Linie  ist,  während  dieselbe  bei  den 
Allopolen  zur  Ebene  wird.  Wenn  man  auf  dieses,  die  Körperform 
in  hohem  Maasse  bestimmende  Verhältniss  das  Hauptgewicht  legt,  so 
muss  man  die  Autopolen  als  die  letzte  und  höchst  clifferenzirte  Ab- 
theilung der  Centraxonien  (Protaxonien,  mit  Ausschluss  der  Allo- 
polen) betrachten  und  diesen  die  Allopolen  als  Centrepipeden  ent- 
gegen stellen.  Die  geometrische  Grundform  der  autopolen  Hetero- 
stauren ist  die  ganze,  diejenige  der  allopolen  die  halbe  amphithecte 
Pyramide  (selten,  wenn  nämlich  beide  Richtaxen  ungleichpolig  sind, 
die  geviertheilte).  Bei  den  Autopolen  ist  rechte  und  linke  Hälfte 
congruent,  bei  den  Allopolen  symmetrisch -gleich  (selten  bloss  symme- 
trisch -  ähnlich) ;  bei  den  ersteren  ist  Rücken-  und  Bauchhälfte  con- 
gruent, bei  den  letzteren  ungleich. 

Die  kleinere,  aber  morphologisch  besonders  interessante  Abthei- 
lung der  autopolen  Heterostauren  bildet  die  Grundform  bei  den  Bion- 
ten  der  Ctenophoren  und  Madreporen,  vieler  Siphonophoren,  einiger 
niederer    Würmer,    der    Zygocyrtiden    und    mehrerer    Dicotyledonen- 


Amphithect- pyramidale  Grundformen.     Autopola.  479 

Familien  (Cruciferen  u.  a).  Weit  wichtiger  und  umfangreicher  ist  die 
Abtheilung  der  allopolen  Heterostauren ,  deren  Grundform  das  mate- 
rielle Substrat  der  actuellen  Bionten  bei  den  meisten  höheren  und 
vielen  niederen  Thieren  und  Pflanzen  bildet.  Es  gehören  hierher 
sämmtliche  Wirbelthiere,  Arthropoden  und  Mollusken,  die  meisten 
Würmer,  die  irregulären  Echinodermen,  die  Zaphrentinen,  viele 
Siphonophoren  und  eine  kleine  Anzahl  von  Rhizopoden,  sowie  von 
den  Monocotyledonen  die  Gräser,  Cyperaceen,  Orchideen  etc.  und  von 
den  Dicotyledonen  die  umfangreichen  Familien  der  Compositen,  Um- 
belliferen,  Leguminosen,  Violarien  und  viele  Audere. 

Erste  Gattung  der  heterostauren  Stauraxonien : 

Aniphühect-pyraiiiidale  Grundformen.     Autopola. 

(Toxopleura.     Sagittalia,  Sphenoide,  Bronn.) 

Stereometrische  Grundform :  Amplüthecte  Pyramide  (Taf.  I,  Fig.  2,  8). 

Die  Abtheilung  der  autopolen  Heterostauren  ist  für  die  allge- 
meine Morphologie  von  besonderem  Interesse,  wie  schon  daraus 
hervorgeht,  dass  man  bei  einer  hierher  gehörigen  Thierklasse,  den 
Ctenophoren  nämlich,  im  letzten  Jahrzehnt  schon  mehrfach  bemüht 
gewesen  ist,  die  allgemeine  Grundform  zu  erkennen.  Da  man  bei 
der  Mehrzahl  der  Organismen  diese  Frage  überhaupt  noch  nicht  aufge- 
worfen oder  doch  nur  in  der  oberflächlichsten  Weise  beantwortet  hat, 
so  dürfen  sich  die  Ctenophoren  in  dieser  Beziehung  schon  eines  be- 
sonderen Vorzuges  rühmen.  Freilich  zeigt  Nichts  so  deutlich,  wie 
sehr  dieser  Theil  der  Morphologie  die  unentbehrliche  Grundlage  der 
scharfen  philosophischen  Begriffsbestimmung  vernachlässigt  hat,  als 
die  unklare  und  verworrene  Weise,  in  der  man  die  Frage  von  der 
Grundform  der  Ctenophoren  zu  lösen  versucht,  und  die  zu  den  selt- 
samsten Widersprüchen  geführt  hat.  Während  die  einen  Morphologen 
dieselben  als  ..rein  bilateral -symmetrische  Thiere",  die  anderen  als 
„Uebergänge  vom  bilaterals-ymmetrischen  zum  radial-regulären  Typus" 
deuteten,  haben  sie  wieder  andere  als  reine  „Strahlthiere"  aufgefasst 
und  zwar  bald  als  ..achtstralilige",  bald  als  „zweistrahlige"  Thiere. 
Und  doch  ist  die  eigentümliche  Grundform  der  autopolen  Heterostauren 
in  allen  Ctenophoren  so  rein  und  so  ohne  Uebergangsbildungen,  weder 
zur  wirklichen  „Bilateral Symmetrie",  noch  zur  wirklichen  „Radial- 
regularität"  ausgesprochen,  dass  die  einfachste  Untersuchung  der  Axen 
und  ihrer  Pole,  sobald  man  einmal  die  Begriffe  der  Grundformen 
festgestellt  hat,  sofort  zum  einzig  möglichen  Resultate  führt.  Von 
den  anderen  Thieren,  die  neben  den  Ctenophoren  eine  Stellung  in 
der  Gruppe  der  autopolen  Heterostauren  beanspruchen,  sind  die 
sechsstrahligen  Madreporen  noch  gar  nicht,  die  viertheiligen  niederen 


480  System  der  organischen  Grundformen. 

Würmer  nur  von  Bronn  kurz  beachtet  worden.  Auch  in  den  hierher 
gehörigen  Pflanzen,  den  Blüthensprossen  der  Cruciferen  nämlich  uud 
einiger  anderer  Phanerogameu,  ist  die  stereometrische  Grundform 
nicht  erkannt  worden. 

Die  Grundform  der  autopolen  Heter ostauren  ist  die 
amphithecte  Pyramide,  deren  Ohara cter  wir  im  Vorhergehenden 
(p.  434)  genügend  festgestellt  und  erörtert  haben.  Als  das  sicherste 
Kriterium  derselben,  welches  sie  in  allen  Fällen  characterisirt  und 
sie  von  allen  übrigen  Pyramiden  bestimmt  unterscheidet,  soll 
hier  nur  nochmals  hervorgehoben  werden,  dass  die  amphithecte 
Pyramide  durch  zwei  auf  einander  senkrechte  ungleiche 
Ebenen  (Eichtcbenen),  deren  Schnittlinie  die  Pyramidenaxe  (Haupt- 
axe)  ist  (und  nur  durch  diese  beiden  Ebenen!)  in  vier  recht- 
winkelige Pyramiden  zerlegt  wird,  von  denen  je  zwei  an- 
stossende  symmetrisch-gleich,  je  zwei  gegenständige  aber 
congruent  sind.  Diese  Eigenschaft  ist  dadurch  bedingt,  dass  die 
beiden,  in  jenen  Richtebenen  liegenden  Richtaxen  (Euthynen  oder 
idealen  Kreuzaxen),  welche  sich  gegenseitig  und  die  ungleichpolige 
Hauptaxe  unter  rechten  Winkeln  halbiren,  ungleich  sind,  während 
die  beiden  Pole  (und  Polflächen)  jeder  Richtaxe  gleich  sind. 

Die  autopolen  Heterostauren  unterscheiden  sich  einerseits  von 
allen  bisher  untersuchten  heteropolen  Stauraxonien,  also  von  den 
Homostauren,  durch  die  ungleiche  Länge  und  Beschaffenheit  der 
radialen  Kreuzaxen,  während  sie  durch  die  gleiche  Beschaffenheit  der 
beiden  Pole  jeder  Kreuzaxe  mit  denselben  übereinstimmen.  Anderer- 
seits sind  sie  von  den  allopolen  Heterostauren,  mit  denen  sie  die 
Ungleichheit  der  Kreuzaxen  gemein  haben,  durch  die  Gleichheit  ihrer 
Pole  verschieden.  Wie  sie  durch  diese  Eigenschaften  zwischen  den 
beiden  genannten  Gruppen  in  der  Mitte  stehen,  so  ist  es  auch  der 
Fall  mit  Bezug  auf  die  Körpermitte  (Centrum).  Während  diese  bei  den 
allopolen  Heterostauren  zur  Ebene  wird  (Centrepipeden),  so  bleibt  sie 
bei  den  autopolen  noch  eine  Linie,  wie  bei  den  Homostauren;  allein 
durch  die  Differenzirung  der  beiden  Richtebenen,  die  bei  den  letzteren 
stets  gleich,  also  als  solche  eigentlich  nicht  vorhanden  sind,  tritt  den- 
noch eine  Annäherung  der  Autopolen  an  die  Allopolen  ein,  indem 
gewissermaassen  zwei  Medianebenen  durch  die  beiden  Richtebenen 
gegeben  sind.  Da  aber  jede  derselben  durch  die  andere  in  zwei 
gleiche  Hälften  getheilt  wird,  so  fehlt  wiederum  der  wesentliche  Cha- 
racter  der  allopolen  Medianebene,  die  Zusammensetzung  aus  zwei 
ungleichen  Hälften,  Rücken-  und  Bauch- Hälfte.  Daher  können  wir 
an  der  Autopolen -Form  an  und  für  sich,  ohne  Vergleichung  mit  ver- 
wandten Allopolen,  niemals  bestimmen,  welche  der  beiden  ungleichen 
Richtaxen  und  Richtebenen  die  dorsoventrale,  welche  die  laterale  ist. 


Amphitbect- pyramidale  Grundformen.     Autopola.  481 

Der  Rücken  ist  vom  Bauche  ebenso  wenig  als  das  Rechts  vom  Links 
verschieden.     Nur  die  Hauptaxe  ist  ungleichpolig. 

Wie  wir  die  autopole  Heterostauren-Form  aus  der  allostauren 
homopolen  Stauraxon-Form  einfach  dadurch  erhalten,  dass  wir  die 
amphithecte  Doppelpyramide  der  letzteren  mittelst  eines  durch  die 
Aequatorialebene  gelegten  Schnittes  halbiren,  so  können  wir  auch 
zwei  Unterabtheilungen  der  ersteren  dadurch  erhalten,  dass  wir  sie 
auf  gleiche  Weise  aus  den  beiden,  oben  geschilderten  Formengruppen 
der  letzteren  ableiten.  Wir  werden  so  oxystaure  Autopolen 
erhalten,  bei  denen  mehr  als  zwei  radiale  Kreuzaxen  vorhanden  sind, 
die  sich  unter  spitzen  Winkeln  schneiden,  und  orthostaure,  bei 
denen  nur  zwei  radiale  Kreuzaxen  ausgebildet,  die  sich  unter  rechten 
Winkeln  schneiden,  und  demgemäss  mit  den  beiden  idealen  Kreuz- 
axen oder  Richtaxen  zusammenfallen.  Die  orthostauren  Autopolen 
entsprechen  den  orthogonien  oder  octopleuren  Allostauren,  deren 
Hälften  sie  darstellen,  und  sind  gleich  diesen  aus  vier  Antimeren 
zusammengesetzt.  Die  oxystauren  Allopolen  dagegen  können  als 
Hälften  der  oxygonien  oder  polypleuren  Allostauren  betrachtet  wer- 
den und  sind  gleich  diesen  allgemein  aus  4  +  2n  Antimeren  (min- 
destens aus  sechs,  acht,  zehn  u.  s.  w.)  gebildet.  Wie  es  oben  bei 
der  homopolen  amphithecten  Doppelpyramide  geschah,  so  kann  auch 
hier  bei  der  heteropolen  amphithecten  Einzelpyramide  die  viertheilige, 
orthostaure  oder  orthogonie  Form  (mit  vier  Antimeren)  als  eine  be- 
sondere Art  und  zwar  als  die  einfachste  und  regelmässigste  Art  der 
vieltheiligen,  oxystauren  oder  oxygonien  Form  (mit  4+ 2n  Antimeren) 
betrachtet  werden.  Diese  speciellste  Form  der  letzteren  ist  das  halbe 
Rhomben-Oetaeder  oder  die  rhombische  Pyramide. 

Erste  Untergattung  der  autopolen  Heterostauren. 

Vielseitige  amphithecte  Pyramiden.     Oxystaura. 

Slereometrische  Grundform:  Amphithecte  Pyramide  mit  4  +  2nSeiten. 

Als  oxystaure  Autopolen  fassen  wir  hier  alle  diejenigen  autopolen 
Heterostauren  zusammen,  welche  aus  sechs,  acht  und  mehr  (allgemein 
aus  4  +  2n)  Antimeren  zusammengesetzt  sind.  Da  also  sechs  das 
Minimum  der  Antimerenzahl  bei  allen  hierher  gehörigen  Formen  ist, 
so  muss  die  Zahl  der  radialen  Kreuzaxen  demgemäss  mindestens  drei 
betragen  und  diese  können  sich  nur  unter  spitzen  Winkeln  schneiden 
(daher  Oxystaura).  Es  fallen  mithin  mindestens  zwei  radiale  und 
zwei  interradiale  Kreuzebenen  nicht  mit  den  beiden  Richtebenen  zu- 
sammen. Die  stereometrische  Grundform  der  Oxystauren  ist  eine  ge- 
rade Pyramide,  deren  Basis  ein  amphithectes  Polygon  von  mindestens 
sechs   oder  acht  Seiten   (allgemein   von  4  +  2n  Seiten)    bildet.      Von 

H a ecke) ,  Generelle  Morphologie,  £^ 


482  System  der  organischen  Grundformen. 

hierher  gehörigen  Formen  sind  uns  nur  zwei  Arten  bekannt,  die 
achtseitige  und  die  sechsseitige  amphithecte  Pyramide,  von  denen  die 
erstere  die  Grundform  der  Ctenophoren,  die  letztere  die  der  Madre- 
poren  und  einiger  anderer  sechszähliger  Anthozoen  bildet.  Oxystaure 
Autopoleu  mit  zehn,  zwölf  oder  12  +  2n  Antimeren,  die  ebenfalls  be- 
sondere Arten  bilden  würden,  scheinen  in  rein  ausgeprägter  Form 
nicht  vorzukommen. 

Erste  Art  der  oxystauren  Autopolen: 

Achtreiüge.     Octophragimi. 

(Achtstrahlige  gleichpolige  Bilateralformen.) 

Stcreometrische  Grundform:  AchlseMge  amphithecte  Pyramide. 

Bealer  Typus:  Eucharis  (Taf.  I,  Fig.  8). 

Die  sehr  eharacteristische  Octophragmen-Form  ist  von  besonderem 
Interesse  als  die  allgemeine  und  ausschliessliche  Grundform  sämmt- 
licher  Ctenophoren.  Wie  mannichfaltig  auch  durch  die  zierlichste 
Architectonik  das  Aeussere  dieser  schönen  und  gestaltenreichen  Thier- 
klasse  modificirt  erscheinen  mag,  stets  lässt  es  sich  auf  dieselbe  ein- 
fache Grundform  zurückführen.  Die  augenfälligen  Abweichungen, 
welche  die  Grundform  der  Ctenophoren  von  der  „regulären"  Strahl- 
thierform  der  nächstverwandten  Hydromedusen  und  Anthozoen  zeigt, 
haben,  wie  erwähnt,  in  neuerer  Zeit  zu  lebhaften  Erörterungen  ge- 
führt, die  jedoch,  ohne  ein  positives  Resultat  zu  haben,  die  klare 
Auffassung  derselben  eher  noch  mehr  erschwert  haben.  Nachdem 
man  früher  die  Ctenophoren  bald  als  rein  bilateral-symmetrische 
Thiere,  bald  als  Uebergangsformen  von  der  bilateralen  Symmetrie 
zur  radialen  Regularität  betrachtet  hatte,  während  sie  wieder  von 
Anderen  als  echte  Strahlthiere,  und  zwar  bald  als  achtstrahlige,  bald 
als  vierstrahlige  angesehen  wurden,  erschien  vor  wenigen  Jahren  ein 
diese  Frage  ausführlicher  behandelnder  Aufsatz  von  Fritz  Müller 
„über  die  angebliche  Bilateralsymmetrie  der  Rippenquallen,"1)  worin 
dieser  ausgezeichnete  Naturforscher  den  Nachweis  zu  führen  versuchte, 
dass  die  Ctenophoren  „zweistrahlige  Thiere"  seien.  Obgleich 
dieser  Arbeit  jedenfalls  das  Verdienst  gebührt,  die  Irrthümer  und 
Widersprüche  der  früheren  Betrachtungsweise  schlagend  nachgewiesen 
zu  haben,  so  kann  doch  die  versuchte  Lösung  der  anscheinend  so 
verwickelten  Frage  nicht  als  eine  glückliche  bezeichnet  werden. 
Vielmehr  wird  sich  aus  einer  einfachen  und  unbefangenen  Betrach- 
tung der  Axenverhältnisse  ergeben,  dass  die  Ctenophoren  die  be- 
stimmte eigentümliche  Grundform  der  octophragmen  Oxystauren,  die 


')  Archiv  für  Naturgeschichte,  1861,  XXV11,  1;  pag,  320-325. 


Achtreifige  Grundformen.     Oclophragma.  483 

wir  zu  den  autopolen  Heterostauren  stellen  müssen,  besitzen  und  dass 
sie  also  ebenso  weit  vom  echten  radialen  als  vom  echten  symme- 
trischen Typus  entfernt  sind. 

Der  Körper  aller  Cteuophoreu  ist  aus  acht  Autimereu  zusammenge- 
setzt, deren  jedes  einen  Nerven,  ein  Chylusgefäss ,  eine  Reihe  von  Wim- 
perblättern und  eine  Doppelreihe  von  Geschlechtsorganen  (eine  männliche 
und  eine  weibliche  Reihe)  enthält.  Es  sind  also  die  wesentlichen  Organe 
des  Körpers  in  Achtzahl  vorhanden  und  in  der  Weise  vollkommen  regulär 
auf  8  Strahlen  vertheilt,  dass  an  dem  wirklich  „achtstrahligen"  Bau,  d.  h. 
an  der  wirklichen  Zusammensetzung  des  Körpers  aus  acht  radialen  Anti- 
meren  nicht  gezweifelt  werden  kann.  Diejenigen  Organe,  welche  nicht  in 
Achtzahl  vorhanden  sind,  liegen  entweder  als  einfache  unpaare  Organe  in 
der  Hauptaxe  des  Körpers,  wie  Mund,  Magen,  Sinnesorgan,  oder  sie  sind 
paarig  vorhanden,  und  liegen  dann  entweder  in  der  einen  oder  in  der  an- 
deren von  den  beiden  auf  einander  senkrechten  Meridiauebenen  (Richtebe- 
nen), welche  man  durch  die  Hauptaxe  und  durch  die  beiden  idealen  auf 
einander  senkrechten  Kreuzaxen  (Richtaxeu)  legen  kann.  Beide  Richtebe- 
nen sind  interradiale  Kreuzebenen;  daher  theilen  sie  den  ganzen  Körper 
in  4  Stücke  (Quadranten),  deren  jedes  aus  2  ähnlichen  Antimeren  besteht. 
Je  2  benachbarte  Quadranten  sind  symmetrisch -gleich,  je  2  gegenständige 
congruent;  die  beiden  Antimeren  jedes  Quadranten  aber  sind  weder  con- 
gruent,  noch  symmetrisch-gleich,  sondern  bloss  ähnlich.  (Tgl.  Taf.  I,  Fig.  8  nebst 
Erklärung.)  Jede  der  beiden  Richtebenen,  die  wir  als  die  sagittale  (ix  i5) 
und  laterale  (i3  i7)  unterscheiden,  ist  durch  den  Besitz  besonderer  Or- 
gane, durch  Grösse,  Form  u.  s.  w.  von  der  anderen  unterschieden.  Da  je- 
doch sowohl  die  beiden  Körperhälften,  welche  durch  die  Sagittalebene 
getrennt  werden,  unter  sich  congruent  sind,  als  auch  die  beiden  Körper- 
hälften, welche  durch  die  Lateral-Ebene  geschieden  werden,  so  könnte  es 
zunächst  willkührlich  erscheinen,  welche  der  beiden  Richtebenen  als  Median-, 
welche  als  Breiten-Ebene  aufzufassen  sei.  Immerhin  lassen  mehrere  Homo- 
logieen  diejenige  Deutung  als  die  passendere  erscheinen,  welche  die  beiden 
stets  nur  paarig  vorhandenen  Tentakeln  als  laterale  Organe  auffasst  und 
danach  das  Rechts  und  Links  bestimmt,  so  dass  die  beiden  terminalen 
Gabeläste  der  Trichterhöhle  nach  Rücken-  und  Bauch- Seite  gerichtet  sein 
und  die  Median -Ebene  bestimmen  würden.  Von  den  paarig  vorhandenen 
Organen  liegen  dann  in  der  Lateral -Ebene  (Rechts  und  Links),  die 
beiden  Tentakeln  (Fig.  8,  i3  i7),  die  beiden  Canäle,  welche  rechts  und  links 
au  den  breiten  Magenseiten  herablaufen  (Magengefässe)  und  die  beiden  Haupt- 
stämme des  Gastrovascularsystems  (Kt,  K2),  welche  von  der  Trichterhöhle  seit- 
lich abgehen  und  durch  deren  wiederholte  Bifurcation  die  8  Radialcanäle 
entstehen.  In  der  Sagittal  -  Ebene  dagegen  (auf  der  Rücken- 
und  auf  der  Bauchseite)  liegen  die  beiden  terminalen  Gabeläste  der 
Trichterhöhle,  welche  sich  hinten  nach  aussen  öffnen,  und  die  beiden  grossen 
Mundlappen  (Ober-  und  Unterlippe,  L„  L.2),  welche  bei  den  Calymmiclen  so 
entwickelt  sind,  ferner  die  colossalen  bandförmigen  Ausläufer,  welche  die 
Hauptmasse  des  Körpers   von  Cestum   bilden.    Der   sehr   stark   seitlich  zu- 

31* 


484  System  der  organischen  Grundformen. 

sammengedrückte  Magen  ist  ebenfalls  in  der  Median-Ebene  ausgedehnt,  so 
dass  also  sein  längerer  Kreuzdurchmesser  und  ebenso  die  Länge  der  schma- 
len Mundspalte  von  Oben  nach  Unten,  vom  Rücken  zum  Bauch  verläuft. 
Nur  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  bei  allen  Ctenophoren  die  Rücken-  von 
der  Bauch -Seite  ebenso  wenig  verschieden  ist,  als  die  rechte  von  der 
linken. 

Da  alle  diejenigen  Organe  der  Ctenophoren,  welche  unpaar  vorhanden 
sind  (Mund,  Magen,  Sinnesorgan)  und  ebenso  alle  diejenigen  Organe,  welche 
paarig  vorhanden  sind,  in  einer  der  beiden  interradialen  Richtebeueu  liegen, 
so  ergiebt  sich,  dass  alle  4  Quadranten  genau  dieselbe  Anzahl  von  Or- 
ganen und  Organtheilen  enthalten,  und  mithin  vollkommen  gleich  sind,  nur 
mit  der  Differenz,  dass  je  2  anstossende  Quadranten  symmetrisch-gleich,  je 
2  gegenständige  congruent  sind.  Jeder  Quadrant  aber  besteht  aus  zwei 
ungleichen  Antimeren,  von  denen  zwar  jedes  einen  radialen  Nerven,  ein 
radiales  Chylusgefäss,  eine  radiale  Wimperrippe,  eine  radiale  Doppelreihe 
von  Genitalien  besitzt,  von  denen  aber  das  eine  (laterale)  durch  einen  hal- 
ben interradialen  Senkfaden,  ein  halbes  interradiales  Magengefäss  und 
Hauptstammgefäss  u.  s.  w.  an  seiner  lateralen  (die  Breiteu-Richtebene  bil- 
denden) Grenzebene  ausgezeichnet  ist,  während  das  andere  (dorsale  oder 
ventrale)  einen  halben  interradialen  Mundlappeu,  ein  halbes  iuterradiales 
Trichtergefäss  u.  s.  w.  an  seiner  sagittalen  (die  Median- Richtebene  bilden- 
den) Grenzebene  besitzt. 

Es  zeigt  sich  also  bei  genauerer  Betrachtung  der  Ctenophoren-Körper 
in  der  Weise  aus  4  Antimeren -Paaren  zusammengesetzt,  dass  sämmtliche 
Organe  des  Körpers  in  jedem  Antimeren-Paare  oder  Quadranten  entweder 
doppelt  oder  einfach  oder  halb  oder  geviertheilt  vorhanden  sind,  während 
jedes  einzelne  Antimer,  für  sich  betrachtet,  unvollständig  erscheint.  Es 
könnte  mithin  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  wir  die  Ctenophoren  nicht 
vielmehr,  gleich  den  Hydromedusen,  als  vierzählige  Thiere  ansehen  sollen, 
bei  denen  aber,  wie  es  schon  bei  den  Saphenien,  Stomotoken  etc.  auge- 
deutet ist,  durch  Differenziruug  der  Kreuzaxen  aus  4  congrueuten  Anti- 
meren 2  congruente  Paare  von  je  2  symmetrisch -gleichen  Antimeren  ent- 
standen sind.  Dem  steht  aber  einerseits  der  Umstand  entgegen,  dass  die 
Ctenophoren  den  achtstrahligeu  Alcyonarien  durch  ihren  Bau  näher  ver- 
wandt sind,  als  den  vier^trahligen  Hydromedusen,  und  andererseits  die 
Differenz,  dass  bei  den  heterostauren  Medusen  {Saplienid,  Stomolocu  etc.) 
die  beiden  Richtebenen  durch  die  beiden  radialen,  bei  den  Ctenophoren 
dagegen  durch  2  interradiale  Kreuzebenen  gebildet  werden.  Wenigstens 
scheint  der  sicherste  Anhaltpunkt  dafür,  dass  die  in  den  Richtebeueu  der 
Ctenophoren  angebrachten  paarigen  oder  unpaaren  (centralen)  Organe  in- 
terradial sind,  in  den  zwischen  ihnen  liegenden  Chyluscanäleu  und  den  sie 
begleitenden  Organen,  Nerven,  Genitalien  etc.  gegeben  zu  sein,  die  wir  all- 
gemein bei  den  Coelenteraten  als  „radiale"  anzusehen  berechtigt  sind. 
Wollte  man  die  Richtebenen  der  Ctenophoren  als  „radiale"  Kreuzebenen 
auffassen,  gleich  denen  der  Hydromedusen,  so  müsste  man  annehmen,  dass 
die  4  Radialcauäle  und  die  sie  begleitenden  Organe  sich  derart  gabelspaltig 
getheilt  hätten,   dass   die    beiden  Aeste  jeder   Gabel    weit  von  der  Mittel- 


Achtreifige  Grundformen.     Octophragma.  485 

linie  des  Antimeres  sich  entfernt  hätten,  während  die  übrigen  radialen  Or- 
gane (die  paarig  vorhandenen)  in  der  Mittelebene  des  Antimeres  zurückge- 
blieben seien  und  sich  paarweis  differenzirt  hätten.  Die  Verästelung  der 
Hauptgefässstämme  und  gewisse  Homologieen  werden  diese  Auflassung  viel- 
leicht später  als  die  richtige  erscheinen  lassen,  und  es  werden  dann  die 
Ctenophoren  zu  den  Tetraphragmen  gestellt  werden  müssen,  weil  jeder 
Quadrant  (den  wir  hier  als  Antimeren-Paar  betrachten)  dann  den 
Werth  eines  einzelnen  Antimeres  erhalten  würde. 

Mag  man  nun  mit  Rücksicht  auf  die  Ungleichheit  der  paarweise  zu 
einem  Quadranten  verbundenen  Antimeren  die  Ctenophoren  als  Tetraphrag- 
men, aus  4  Antimeren  zusammengesetzt,  betrachten,  oder  sie,  wie  es  wohl 
passender  ist,  mit  Rücksicht  auf  die  Achtzahl  der  wichtigsten  Organe,  als 
Octophragrnen,  mit  8  Antimeren,  ansehen,  so  wird  sich  auf  keinen  Fall  die 
von  Fritz  Müller  aufgestellte  und  vertheidigte  Ansicht  rechtfertigen  las- 
sen, dass  dieselben  „zweistrahlige  Thiere"  (Diphragma)  sind.  Es  wird 
dies  sofort  klar,  wenn  man  sie  mit  den  wirklich  diphragmen  Autopolen,  und 
mit  denjenigen  tetraphragmen  zusammenhält,  die  aus  den  Tetractinoten  durch 
Differenzirung  der  Jvreuzaxen  entstanden  sind. 


Zweite  Art  der  oxystauren  Autopolen : 
Sechsreifige.     Ilexaphragma. 

(Sechsstrahlige  gleichpolige  Bilateralformen). 

Stereometrische  Grundform:  Sechsseitige  amphithecte  Pyramide. 

Realer  Typus:  Flabellum   (Taf.  I,  Fig.  2). 

Die  Hexaphragmen-Form  findet  sich  nicht  selten  unter  den  aus 
6  Antimeren  zusammengesetzten  Anthozoen,  bei  den  Polypen  der 
Madreporarien-Gruppe,  sowohl  bei  Perforaten,  als  bei  Eporosen 
und  bei  einigen  anderen  sechszähligen  Anthozoen.  Obwohl  bei  diesen 
„sechsstrahligen"  Polypen  der  cliaracteristische  Typus  der  autopolen 
Heterostauren  mindestens  ebenso  auffallend,  als  bei  den  „achtstrahligen" 
Ctenophoren  ausgeprägt  ist,  so  ist  dieses  Verhältniss  dennoch  den 
Zoologen  bisher  gänzlich  entgangen  und  es  hat  noch  Niemand  daran 
gedacht,  bei  den  ersteren  so,  wie  bei  den  letzteren,  von  „bilateraler 
Symmetrie"  zu  sprechen.  Die  oxystauren  Anthozoen,  welche  die 
Grundform  der  sechsseitigen  amphithecten  Pyramide  sehr  rein  zeigen, 
gehören  meistens  der  Ordnung  der  Madreporarien  oder  der  Sclero- 
dermen-Zoantharien  an  und  scheinen  in  allen  sechsstrahligen  Haupt- 
abtheilungen derselben  vorzukommen,  am  meisten  ausgebildet  jedoch 
in  der  Eporosen  -  Familie  der  Turbinoliden  (als  Flabellum,  Spheno- 
trochus  etc.),  seltener  der  Astraeiden  (Peplosmilia) ,  und  in  der  Per- 
foraten-Familie  der  Madreporiden,  (Madrepora  selbst).  Während  die 
übrigen  nächstverwandten  Madreporarien  die  Hexactinoten-Form   der 


4g6  System  der  organischen  Grundformen. 

regulären  sechsseitigen  Pyramide  mehr  oder  minder  rein  ausgeprägt 
zeigen,  indem  alle  6  Antimeren  gleichmässig  stark  entwickelt  sind, 
finden  wir  bei  den  erstgenannten  2  gegenständige  Antimeren  viel 
schwächer,  als  die  4  übrigen  (unter  sich  gleichen)  entwickelt,  so  dass 
die  ausgezeichnete  Form  der  amphithecten  Pyramide  sofort  in  die 
Augen  springt.  Das  primär  bedingende  Moment  dieser  Formdifferenz 
liegt  in  einem  überwiegenden  Wachsthum  der  vier  stärkeren  Anti- 
meren und  der  beiden  entgegengesetzten  primären  Sternleisten  (Septa 
interradialia)  welche  jene  trennen.  (Fig.  2,  at,a4.)  Hinter  letzteren  bleiben 
die  vier  anderen  primären  Septa  im  Wachsthum  bedeutend  zurück  und 
entsprechend  auch  die  beiden  entgegengesetzten  Kelchwände,  denen 
sie  ansitzen.  Dadurch  wird  denn  weiterhin  die  ganze  Kelchform  zwei- 
schneidig" zusammengedrückt  (amphithect)  und  die  runde  Mundöffnung 
nimmt  die  Form  eines  länglichen  schmalen  Spaltes,  der  cylindrische 
Magenschlauch  die  Form  einer  platten  Tasche  an.  Da  wir  bei  den 
nächstverwandten  Ctenophoren  dieselbe  Differenzirung  zweier  Kreuz- 
axen  zu  Richtaxen  antreffen  und  hier  die  längere  Magendimension 
und  die  Längsrichtung  des  Mundspalts  als  dorsoventrale  bezeichnet 
haben,  so  müssen  wir  auch  bei  den  Madreporarien  diese  Bezeichnung 
beibehalten.  Es  ist  demnach  die  kürzere  (radiale)  von  den  beiden 
Richtaxen  als  laterale,  die  längere  (interradiale)  dagegen,  welche  durch 
die  beiden  stärkeren  Primär-Septa  oder  Hauptsepta  bestimmt  wird,  als 
dorsoventrale  zu  bezeichnen.  Je  grösser  die  Differenz  zwischen  bei- 
den Richtaxen  wird,  desto  auffallender  tritt  die  Grundform  der  amphi- 
thecten sechsseitigen  Pyramide  hervor. 

Am  deutlichsten  und  schärfsten  ist  die  hexaphragnie  Oxystauren-Forni  bei 
den  Turbinoliden,  besonders  Flabellum  und  Sphenotrochus  ausgeprägt,  wo 
der  ganze  Kelch  fast  blattförmig  von  zwei  Seiten  (von  Rechts  und  Links) 
her  zusammengedrückt  erscheint.  In  diesem  Falle  hat  der  Durchschnitt 
des  Kelches  einen  schmal  lanzettförmigen  Umriss.  Elliptisch  erscheint  dieser 
dagegen  bei  PeplosmUia  unter  den  Astraeiden  und  bei  Madrepora,  bei  der 
die  beiden  Hauptsepta  völlig  in  der  Mitte  des  Kelches  zusammentreffen 
und  verwachsen.  In  geringerem  Grade,  jedoch  ebenfalls  unverkennbar, 
findet  sich  die  Differenzirung  zweier  Richtaxen  (einer  radialen  und  einer 
interradialen)  und  dadurch  der  Uebergang  der  sechsseitigen  regulären  in  die 
amphithecte  Pyramide  bei  mehreren  Arten  von  Dusmiu,  Caryophyllia  und 
anderen  Eporosen  aus  der  Turbinoliden  -  Familie,  LophosmiUa  aus  der 
Astraeiden  -  Familie,  ferner  bei  vielen  Arten  von  Poc'ülopora,  Seriaiopom 
und  Anderen  aus  der  Tabulaten-Gruppe,  und  bei  manchen  anderen  Madre- 
porarien aus  verschiedenen  Familien.  Oft  ist  dieselbe  nur  durch  einen 
schmalen  und  langen  spaltenförmigeti  Mund  angedeutet,  welcher  den  übri- 
gens regulären  hexaetinoten  Kelch  in  eine  dorsale  und  ventrale  Hälfte  spaltet; 
so  bei  Fungia,  auch  bei  vielen  Malacodermen  (Actinien  etc).  Sehr  auffallend  ist 
dicIIexaphraginen-Foriu  bei  der  elliptischen  Fungva  tiforenbergiü  F.echinalh  etc. 


Sechsreifige  Grundformen.     Hexaphragma.  487 

Bei  allen  oxystauren  Madreporarien  lässt  die  sechsseitige  ainphi- 
thecte  Pyramide  folgende  characteristische  Eigenschaften  erkennen: 
der  Körper  ist  aus  sechs  Autiraeren  zusammengesetzt,  von  denen  die  bei- 
den am  schwächsten  entwickelten  Autimeren  (rechtes  und  linkes),  welche 
in  der  Lateralebene  liegen,  congruent  sind,  während  die  4  übrigen,  welche 
paarweise  beiderseits  der  Sagittalebene  liegen,  paarweise  (nämlich  2  ge- 
genständige) congruent,  paarweise  (nämlich  2  benachbarte)  symmetrisch- 
gleich sind.  Die  grössere  von  den  beiden  Richtebenen,  die  Medianebene 
(Fig.  2,  ii  u),  welche  dem  grössten  Kelchdurchmesser  und  der  Längsrichtung 
des  Mundspaltes  entspricht,  fällt  mit  einer  interradialen  Kreuzebene  zusam- 
men, nämlich  mit  der  Grenzebene  der  beiden  stärkeren  Antimerenpaare.  Die 
kleinere  Richtebene  oder  die  Lateralebene,  welche  dem  kleinsten  Durch- 
messer des  Mundspaltes  und  des  Kelches  entspricht,  fällt  dagegen  mit 
einer  radialen  Kreuzebene  zusammen,  nämlich  mit  der  Medianebene  der 
beiden  schwächeren  Antimeren,  des  rechten  (r2)  und  linken  (r5).  Wir  fin- 
den also,  dass,  wie  es  bei  den  sechsseitigen  amphithecten  Pyramiden  stets 
der  Fall  sein  muss,  die  eine  Richtebene  (sagittale)  mit  einer  interradialen, 
die  andere  (laterale)  mit  einer  radialen  Kreuzebene  identisch  ist.  Die 
4  anderen  realen  Kreuzebenen,  2  radiale  und  2  interradiale,  schneiden  sich 
und  die  ersteren  unter  spitzen  Winkeln. 

Von  den  4  Quadranten  des  Personen -Körpers  der  oxystauren  Madre- 
porarien, von  denen  je  2  anstossende  symmetrisch-gleich,  je  2  gegenstän- 
dige congruent  sind,  ist  jeder  zusammengesetzt  aus  einem  halben  schwäche- 
ren und  einem  ganzen  stärkeren  Antimer.  Die  Hälften  der  beiden  schwäche- 
ren Antimeren  sind  symmetrisch  gleich,  die  Hälften  jedes  der  4  stärkeren 
Antimeren  dagegen  symmetrisch  ähnlich.  Wenn  wir  in  der  Aequatorial- 
ebene  oder  an  der  Pyramiden -Basis  (Taf.  I,  Fig.  2)  einen  Umgang  um  die 
Hauptaxe  in  der  Richtung  von  Links  nach  Rechts  halten,  so  treffen  wir 
folgende  Reihenfolge  der  6  Antimeren:  I.  Das  linke  Stück  (erstes  schwächeres 
Antimer,  ci5r5i6).  II.  Das  linke  Dorsalstück,  ci5r4i4,  (darauf  den  Dorsalpol 
der  Dickenaxe,i4).  III.  Das  rechte  Dorsalstück,  ci4r3i3.  IV.  Das  rechte  Stück 
(zweites  schwächeres  Antimer,  ci3r2i2).  V.  Das  rechte  Ventralstück  ci2r,i, 
(darauf  den  Ventralpol  der  Dickenaxe,  i4).  VI.  Das  linke  Ventralstück  ci^ie, 
welches  wiederum  an  das  erste  (linke)  Stück  anstösst. 

Von  diesen  sechs  Antimeren  der  Hexaphragmen  gehören  zwei  (rechtes 
und  linkes)  der  eudipleuren,  die  vier  übrigen  der  dysdipleuren  Grundform 
an.  Rechtes  und  linkes  Stück  (I  und  IV)  sind  congruent.  Die  beiden 
dorsalen  Stücke  (II  uud  III)  sind  unter  sich  symmetrisch-gleich,  ebenso  die 
beiden  ventralen  (V  und  VI).  Dagegen  ist  das  linke  Rückenstück  (II)  dem 
rechten  Bauchstück  (V)  congruent,  und  ebenso  das  rechte  Rückenstück 
(III)  dem  linken  Bauchstück  (VI). 

Am  deutlichsten  ist  die  Hexaphragmen-Form  bei  denjenigen  oben  ge- 
nannten Madreporarien  zu  erkennen,  bei  welchen  die  sechs  primären,  inter- 
radialeu  Kelchsepta  (Fig.  2,  at — a«)  dauernd  stärker  bleiben,  als  die  nach- 
folgenden secundären  (Fig.  2,  Si  — s6),  tertiären  etc.  Scheidewände.  Doch 
verräth  sie  sich  oft  auch  allein  schon  durch  den  elliptischen  oder  lanzett- 
förmigen Urnriss  des  bilateral  comprimirten  Polypenkelches. 


4g8  System  der  organischen  Grundformen. 

Zweite  Untergattung  der  autopolen  Heterostauren. 
Rhomben -Pyramiden.     Ortliostaura. 

Stereumetrische  Grundform:  Amphithecte  Pyramide  mit  4  Seiten. 

Die  geometrische  Grundform  der  orthostauren  oder  tetrapleuren 
Autopolen  ist  die  vierseitige  amphithecte  Pyramide,  also  eine 
gerade  Pyramide,  deren  Basis  das  vierseitige  amphithecte  Polygon 
oder  der  Rhombus  ist,  und  die  wir  demgemäss  kurz  als  Rhomben- 
Pyramide  bezeichnen  können.  Die  Antimeren  -  Zahl  ist  hier  be- 
schränkt, entweder  Zwei  oder  Vier,  und  es  können  demnach  nur  eine 
oder  zwei  radiale  Kreuzebenen  vorhanden  sein,  die  mit  einer  oder 
mit  beiden  Richtebenen  zusammenfallen  und  sich  im  letzteren  Falle 
rechtwinkelig  kreuzen  müssen.  Radiale  Kreuzebenen,  welche  sich  un- 
ter spitzen  Winkeln  schneiden  und  nicht  mit  den  Richtebenen  zusam- 
menfallen, können  bei  dieser  Abtheilung  nicht  vorkommen. 

Da  die  vierseitige  Rhomben-Pyramide  der  orthostauren  Allopolen 
nichts  Anderes  ist,  als  die  einfachste  und  speciellste  Form  der  amphi- 
thecten  Pyramide,  welche  mit  4  +  2n Seiten  die  Grundform  der  oxy- 
stauren  Autopolen  darstellt,  so  verhält  sich  die  erstere  zur  letzteren 
ganz  ebenso  wie  unter  den  homopolen  Stauraxonien  die  specielle 
Form  des  Rhomben-Octaeders  (orthogone  oder  octopleure  Allostauren) 
zur  allgemeinen  Form  der  amphithecten  Doppelpyramide  (oxygone 
oder  polypleure  Allostauren).  Wie  wir  aus  der  letztgenannten  die 
einfache  amphithecte  Pyramide  der  oxystauren  Autopolen  durch  Hal- 
birung  ableiteten,  so  können  wir  auch  die  Rhomben -Pyramide  der 
orthostauren  Autopolen  durch  Halbirung  des  Rhomben-Octaeders  der 
octopleuren  Allostauren  erhalten. 

Die  orthostauren  Autopolen  scheinen  zunächst  nur  eine  einzige 
Formengruppe  zu  bilden,  da  der  Character  der  geraden  rhombischen 
Pyramide,  ihrer  Grundform,  stets  derselbe  bleiben  niuss.  Wollte  man 
verschiedene  Arten  derselben  unterscheiden,  so  könnte  man  dazu 
allenfalls  als  Eintheilungs-Princip  das  wechselnde  Längen-Verhältuiss 
der  Hauptaxe  zu  den  beiden  Richtaxen  benutzen  und  danach  hohe 
und  niedere  Rhomben -Pyramiden  u.  s.  w.  unterscheiden.  Doch  sind 
diese  Unterscheidungen  von  gar  keinem  Interesse. 

Viel  wichtiger  dagegen  und  von  besonderem  Wertlie,  freilich  nicht 
für  die  Grundform  an  und  für  sich,  aber  wohl  für  die  theoretische 
Autfassung  derselben,  ist  der  Umstand,  dass  bei  den  einen  hierher  ge- 
hörigen Formen  der  Körper  ans  vier,  bei  den  anderen  aus  zwei 
Antimeren  zusammengesetzt  ist.  Da  die  Form  der  Rhomben-Pyramide 
und  ihre  Axenverhältnisse  in  beiden  Fällen  ganz  dieselben  sind,  so 
kann   die  Entscheidung   darüber ;   ob  der  eine  oder  andere  Fall  vor- 


Rhomben -pyramidale  Grundformen.     Orthostaura.  489 

liegt,  nur  aus  untergeordneten  Form -Verhältnissen  oder  aus  dem  Zu- 
sammenhange der  betreffenden  Thiere  mit  anderen  nächstverwandten, 
die  verschiedenen  Grundformen  angehören,  entnommen  werden.  So 
werden  wir  also  z.  B.  als  Orthostaure  mit  vier  Antimeren,  die 
wir  Tetraphragmen  nennen,  die  Saphenien,  die  Proglottiden  der 
Taenien,  ferner  viele  Phanerogamen-Blüthen  (z.  B.  der  grossen  Cruci- 
feren-Familie)  aufzufassen  haben,  während  als  unzweifelhaft  zwei- 
zählige,  als  Orthostauren  mit  zwei  Antimeren  oder  Diphragmen 
die  Zygocyrtiden,  Circaea  u.  A.  aufzufassen  sind. 

Der  wichtige  theoretische  Unterschied  der  beiden  Gruppen,  der 
freilich  von  keiner  practischen  Bedeutung  für  die  Bildung  der  Grund- 
form selbst  ist,  liegt  darin,  dass  bei  den  Tetraphragmen  zwei  radiale 
Kreuzebenen  vorhanden  sind,  die  mit  den  beiden  Richtebenen  zusam- 
menfallen, während  die  zwei  interradialen  Kreuzebenen  zwischen 
letzteren  liegen.  Bei  den  Diphragmen  dagegen  ist  nur  eine  radiale 
und  eine  inter radiale  Kreuzebene  vorhanden,  die  sich  unter  rechten 
Winkeln  schneiden,  und  es  muss  demnach  die  eine  (und  zwar  die 
laterale)  Richtebene  mit  der  radialen,  die  andere  (sagittale)  Richt- 
ebene mit  der  interradialen  Kreuzebene  zusammenfallen. 


Erste  Art  der  orthostaureu  Autopolen: 
Vierreifige.     Tetraphragma. 

(Vierstrahlige  gleichpolige  Bilateralformen.) 

Stereometrische  Grundform:  Rhomben -Pyramide  mit  vier  Antimeren. 

Realer  Typus:  Saphenia  (oder  Draba)  Taf.  I,  Fig.  10. 

Die  rhombische  Pyramide,  welche  aus  vier  Antimeren  zu- 
sammengesetzt ist  und  bei  der  mithin  jeder  Quadrant  ein  ganzes  Anti- 
mer  ist,  bildet  die  Grundform  vieler  Siphonophoren- Stücke,  einiger 
Medusen,  einiger  Cestoden,  und  ebenso  der  Blüthen  einiger  Dicotyle- 
donen-Familien,  namentlich  der  sehr  umfangreichen  Cruciferen-Familie. 
Bei  den  hierher  gehörigen  Siphonophoren  und  Medusen  wird  die  Zu- 
sammensetzung der  Rhomben  -  Pyramide  aus  vier  Antimeren  auf  das 
Bestimmteste  durch  die  Stufenreihe  von  allmähligen  Uebergängen  dar- 
gethan,  durch  welche  die  betreffenden  vierzähligen  Medusoide  einer- 
seits mit  den  unzweifelhaft  vierzähligen  regulären  Medusen  (regulären 
vierseitigen  Pyramiden  oder  Tetractinoten),  andererseits  mit  den  tetra- 
pleuren  (d.  h.  ganz  in  die  Zygopleuren-Form  übergegangenen)  Siphono- 
phoren und  Zaphrentiden  verbunden  sind.  Bei  den  Cestoden  wird 
dieser  Beweis  durch  die  4  longitudinalen  Gefässstämme  und  den  Zu- 
sammenhang mit  den  tetractinoten  Tetrarhynchen  und  den  tetra- 
pleuren  Würmern  geliefert;  bei  den  Cruciferen -Blüthen  dadurch,  dass 


490  System  der  organischen  Grundformen. 

jeder  Blattkreis  der  Bltithe  (also  jedes  Metamer),  mit  einziger  Aus- 
nahme des  äusseren  Staubfäden-  uud  des  Fruchtblatt-Kreises,  aus  vier 
Blättern  besteht. 

Die  rhombische  Pyramide  der  Tetraphragnien  entsteht  aus  der 
quadratischen  Pyramide  der  Tetractinoten  einfach  dadurch,  dass  von 
den  4  ursprünglich  gleichmässig  angelegten  und  nicht  zu  unterschei- 
denden Antimeren  im  Laufe  der  Entwickelung  zwei  gegenständige 
sich  von  den  beiden  mit  ihnen  alternirenden  Antimeren  differenziren. 
Dies  geschieht  entweder  dadurch,  dass  sie  besondere  Organe  ent- 
wickeln, welche  den  anderen  ganz  fehlen  (z.  B.  die  beiden  Haupt- 
tentakeln der  Saphenien),  oder  dadurch,  dass  sie  hinter  den  anderen 
in  der  Entwickelung  zurückbleiben,  und  dieselben  Organe  schwächer 
ausbilden  oder  verlieren,  die  bei  den  anderen  beiden  stärker  wer- 
den (z.  B.  die  Staubfäden  der  Cruciferen,  von  denen  2  gegenständige 
des  äusseren  Kreises  abortiren).  Es  werden  also  die  beiden  auf  ein- 
ander senkrechten  Radialebenen,  welche  bei  den  Tetractinoten  gleich 
sind,  bei  den  Tetraphragnien  ungleich,  und  differenziren  sich  eben 
dadurch  zu  den  beiden  Riehtebenen,  der  medianen  oder  sagittalen  und 
der  lateralen  Ebene.    (Vgl.  Taf.  I,  Fig.  10  nebst  Erklärung). 

Die  gestaltenreiche  Klasse  der  Hydrome dusen,  und  unter  ihnen  vor- 
zugsweise die  Ordnung  der  Hvdroiden  und  Siphonophoren,  zeigen  uns  die 
characteristische  Tetraphragnien -Form  am  deutlichsten  entwickelt,  und 
zwar  sind  hier  immer  zugleich  einerseits  alle  möglichen  Uebergänge  zur 
Tetractinoten-Form  zu  finden,  welche  die  Entstehung  der  rhombischen  aus 
der  quadratischen  Pyramide  erläutern,  während  andererseits  durch  Differen- 
zirung  der  Dickenaxen-Pole  die  autopole  in  die  allopole  Heterostaureu-Form 
und  zwar  zunächst  in  die  Eutetapleuren- ,  weiterhin  auch  in  die  Dystetra- 
pleuren-Form  übergeht. 

Unter  den  Craspedoten  oder  cryptocarpen  Medusen  sind  es  nur 
einzelne  Gattungen,  welche  die  Grundform  der  Rhomben-Pyramide  deutlich 
zeigen.  Es  wird  dieselbe  hier  dadurch  bezeichnet,  dass  an  2  entgegenge- 
setzten Radien  des  vierstrahligen  Glockenkörpers,  und  zwar  an  der  Ein- 
mündungssteile zweier  gegenständiger  Radialcanäle  in  den  Ringcanal,  sich 
zwei  mächtige  Tentakeln  entwickeln,  welche  den  beiden  zwischenliegenden 
(dorso-ventraleu)  Radien  fehlen.  Bald  sind  diese  beiden  starken  gegen- 
ständigen Randläden  (rechter  und  linker)  die  einzigen  Tentakeln,  bald  sind 
ausser  ihnen  noch  4  schwächere  vorhanden,  die  an  allen  4  Radien  gleich- 
mässig vertheilt  sind.  Von  der  Familie  der  Cytaeiden  ist  die  Gattung 
Cybogaiter,  von  den  Oceaniden  Stomotoca  (Saplienia  Forbes),  von  den  Geryon- 
opsiden  Saphenia  (Eschscholtz)  oder  Plancia  (Forbes)  durch  einen  rechten  und 
linken  Haupttentakel  ausgezeichnet  (Fig.  10).  In  der  Familie  der  Geryoniden 
macht  sich  dasselbe  A'erhältniss  im  Entwickelungscyclus  der  vicrzähligen 
Liriopiden  (L'n-iopn,  Glossocodon)  dadurch  geltend,  dass  alle  Randorgane 
und  also  auch  die  Tentakeln  paarweise  hervorsprossen,  zuerst  ein  gegen- 
ständiges Paar,  und  dann  erst  später  das  andere,  damit  alternirende  Paar. 


Vierreifige  Grundformen.     Tetraphragma.  491 

Unter  den  Siphonophoren  ist  die  Tetraphragmen-Form  besonders  in  der 
Familie  der  Physophoriden  zn  finden ,  so  bei  verschiedeneu  Arten  der  Gat- 
tungen Agalma,  Agalmopsis,  Stephanonüa,  wo  namentlich  die  Schwimm- 
glocken (Nectocalyees),  seltener  die  Deckstücke  (Hydrophyllia)  die  Rhom- 
ben-Pyramide deutlich  erkennen  lassen.  Doch  ist  sie  hier  seltener  als  die 
Tetrapleuren-Form. 

Von  ganz  besonderem  morphologischen  Interesse  scheint  uns  das  Auf- 
treten der  Tetraphragmen  -  Form  bei  den  Metameren  (Proglottiden)  vieler 
Bandwürmer  zu  sein,  weil  durch  dasselbe  auf  nahe  morphologische  Beziehungen 
derselben  zu  den  Hydromeduseu  und  dadurch  auf  einen  möglichen  Zusam- 
menhang des  Würmer-  und  Coelenteraten-Stammes  hingedeutet  wird,  der 
auch  aus  anderen  Gründen  nicht  unwahrscheinlich  ist  (Vgl.  das  VI.  Buch).1) 
Wir  finden  bei  den  Cestoden  -  Proglottiden  meistens  4  Längsgefässe  des 
Excretionsapparates  (ein  dorsales,  ein  ventrales  und  zwei  laterale),  welche 
am  hinteren  (in  der  That  aber  oralen!)  Rande  der  Proglottide  durch  ein 
Ringgefäss  zusammenhängen.  Letzteres  entspricht  nach  unserer  Ansicht 
dem  Ringgefäss  (Cirkel-Canal)  der  Hydromeduseu,  erstere  dagegen  den 
Radialcanälen.  Während  nun  die  tetractinoteu  Scolices,  den  homostauren 
Medusen  entsprechend,  alle  4  Antüneren  gleich  stark  entwickelt  zeigen, 
wird  bei  den  heterostauren  Proglottiden,  welche  den  Saphenien  etc.  ent- 
sprechen, die  Orthostauren-Form  durch  die  paarigen  Genitalien  (rechtes  und 
linkes)  bestimmt. 

Weit  verbreiteter  als  im  Thierreich  ist  die  Tetraphragmen-Form  im 
Pflanzenreich,  wo  namentlich  die  Blüthensprosse  in  der  umfangreichen  Fa- 
milie der  Cruciferen  (Linnes  Klasse  der  Tetrudy namia)  die  Rhomben- 
Pyramide  sehr  ausgesprochen  zeigen.  Es  ist  hier  die  Blüthe  ursprünglich 
vierzählig  angelegt,  mit  5  viergliederigen  ßlattkreisen.  Von  diesen  sind  in 
der  Regel  vollzählig  ausgebildet  4  Kelchblätter,  4  Blumenblätter  und 
4  Staubfäden  des  inneren  Kreises.  Dagegen  sind  von  den  4  Staubfäden 
des  äusseren  Kreises  und  ebenso  von  den  4  Fruchtblättern  fast  immer  nur 
2  gegenständige  (das  laterale  Paar)  ausgebildet,  die  beiden  mit  ihnen  alter- 
nirenden  aber  (das  dorsoventrale  Paar)  fehlgeschlagen.  Nur  ausnahms- 
weise, wie  bei  Lepidium  virginkum,  sind  auch  die  beiden  dorsoventralen 
Staubfäden  des  äusseren  Kreises  entwickelt  (also  8  vorhanden)  und  bis- 
weilen, wie  bei  Lepidium  ruderah,  sind  diese  allein  entwickelt,  die  6  übrigen 
abortirt.  Auch  bei  anderen  Dicotyledonen  geht  die  Blüthe,  welche  als 
Quadrat -Pyramide  (Tetractinote)  angelegt  ist,  dadurch  in  die  Form  der 
Rhomben -Pyramide  (Tetraphragme)  über,  dass  von  je  4  Antimeren  eines 
oder  mehrerer  Blattkreise  2  gegenständige  (dorso-ventrale)  verkümmern  und 
die  beiden  damit  alternirenden  (lateralen)  allein  sich  ausbilden.     Am  hänfig- 


')  Wenn  der  von  uns  für  wahrscheinlich  gehaltene  genealogische  Zusammen- 
hang der  Cestoden  und  Hydromedusen  wirklich  existirt  (wie  er  u.  A.  auch  durch 
die  vollkommene  Homologie  des  Generationswechsels  bei  den  Cestoden  uud 
Acraspeden  (Strobila!)  wahrscheinlich  gemacht  wird,  so  könnte  der  „Excretions- 
apparat"  der  ersteren  (oder  das  „Wassergefässsystem")  dem  Gastrovascularsystem 
der  Coelenteraten  homolog  erscheinen.     Doch  ist  dies  sehr  zweifelhaft. 


492  System  der  organischen  Grundformen. 

sten  trifft  diese  Reduction  die  weiblichen  Genitalien  (so  z.  B.  bei  Buffonia, 
Hamamelis,  Hypecoum  ete);  bei  Anderen  zugleich  die  männlichen  Ge- 
schlechtsteile (so  bei  Syringa,  Oha,  Phyllirea,  Ligustrum  und  anderen 
Oleaceen).  Es  ist  also  im  ersten  Falle  der  Breitendurchmesser  durch  die 
beiden  Fruchtblätter  ausgezeichnet,  welche  der  Dickenaxe  fehlen,  im  letz- 
teren zugleich  durch  die  beiden  allein  entwickelten  Staubfäden. 

Zweite  Art  der  orthostauren  Autopolen: 
Zweireifige.     Diphragma. 

(Zweistrahlige  gleichpolige  Bilateralformen.) 
Stereometrische  Grundform:  Rhomben  -  Pyramide  mit  zwei  Antimeren.     ' 
Realer  Typus:  Petalospyris   (oder  Circaea)  Taf.  I,  Fig.  13. 

Die  geometrische  Grundform  der  Diphragmen  ist,  ebenso  wie  die 
der  Tetraphragmen,  die  rhombische  Pyramide.  An  und  für  sieh  be- 
trachtet ist  zwischen  beiden  Formen  kein  Unterschied  vorhanden. 
Sobald  man  sie  aber  mit  den  nächsten  Verwandten  vergleicht,  welche 
anderen  Grundformen  angehören,  wird  man  gewahr,  dass  bei  den 
Diphragmen  der  Körper  bloss  aus  2  congruenten  Antimeren,  bei  den 
Tetraphragmen  dagegen  aus  4  kreuzweise  stehenden  Antimeren  zu- 
sammengesetzt ist,  von  denen  je  2  gegenständige  congruent,  je  2  be- 
nachbarte bloss  ähnlich  siud.  Während  ferner  bei  den  Tetraphragmen 
2  Paare  von  Kreuzebenen  (2  radiale  und  2  interradiale)  ausgebildet 
sind,  kann  man  bei  den  Diphragmen  nur  eine  radiale  und  eine  in- 
terradiale unterscheiden,  von  denen  die  erstere  mit  der  lateralen,  die 
letztere  mit  der  sagittalen  Richtebene  zusammenfällt.  Die  beiden 
Antimeren  müssen  natürlich  stets  congruent  sein,  da  die  Rücken-  von 
der  Bauchseite  ebenso  wenig  zu  unterscheiden  ist,  als  die  Rechte  von 
der  Linken. 

Die  diphragme  Orthostauren-Form  findet  sich  als  Grundform  von 
morphologischen  Individuen  höherer  Ordnung  nur  selten  vor.  Häufiger 
ist  sie  als  Grundform  von  Organen,  wie  denn  z.  B.  im  Pflanzenreiche 
sehr  viele  „zweiklappige,  zweifächerige "  Früchte  (Schoten  oder 
Siliquae  der  Cruciferen  etc.)  hierher  zu  rechnen  sind.  Als  Promorphe 
von  Sprossen  ist  sie  hier  häufiger  bei  geschlechtslosen  (zweizeilig  be- 
blätterten) als  bei  Geschlechts  -Sprossen  (z.  B.  Blüthen  von  Circaea). 
Unter  den  Protisten  erscheint  sie  in  höchst  ausgezeichneter  Weise  vor 
Allen  bei  den  Zygocyrtideu  (Petalospyris,  Rad.  Taf.  XII,  Fig.  7, 
Dictyospyris,  Cladospyris  etc.)  einer  characteristisch  gebildeten  Radio- 
larien-Familie,  ferner  auch  bei  einigen  anderen  Rhizopoden  derselben 
Classe  (z.  B.  Spyridobotrys  unter  den  Polycyrtiden).  'Ferner  findet 
sie  sich  bei  einigen  niederen  Würmern  (Acanthocephalen)  und  bei 
einigen  Coelenteraten  (Siphonophoren). 


Zweireifige  Grundformen.     Diphragina.  493 

Die  Zygocyrtiden  (welche  den  grössten  Theil  von  Ehrenberg's 
„Spyridinen"  enthalten)  bilden  eine  besondere,  sehr  zierlieh  geformte  Fa- 
milie der  Cyrtiden  oder  Korb-Radiolarien.  Bei  allen  Zygocyrtiden  besteht 
das  Kieselskelet  aus  2  durch  eine  tiefe  Strictur  getrennten  Hälften,  die  voll- 
kommen congruent  sind.  Die  Strictur  ist  longitudinal  oder  genauer  „sagittal", 
d.  h.  sie  wird  durch  eine  Ebene  (die  Sagittalebene)  gebildet,  deren  Mittel- 
linie die  Längsaxe  (Hauptaxe)  ist,  und  in  welcher  die  Dickenaxe  (Dorso- 
ventralaxe)  liegt.  Da  beide  Pole  der  Dickenaxe  gleich  sind,  so  kann  man 
die  beiden  Antimeren  (rechtes  und  linkes)  nicht  unterscheiden.  Oft  sind  die 
beiden  Riehtaxen  durch  besondere,  in  den  Richtebenen  liegende  Anhänge 
(„Stacheln")  der  Kieselschale  noch  besonders  deutlich  bezeichnet,  so  na- 
mentlich bei  Petalöspyrts  (Rad.  Taf.  XII,  Fig.  7;  Ehrenberg,  Mikro- 
geologie,  Taf.  XXXYI,  Fig.  12,  Fig.  25.)  An  die  Zygocyrtiden  schlies- 
sen  sich  dann  noch  einige  andere  Radiolarien  aus  der  Cyrtiden-Familie  an, 
und  zwar  aus  der  Subfamilie  der  Polycyrtiden,  so  namentlich  Spyridobutrys 
(Rad.  Taf.  XII,  Fig.  8,9),  wo  ebenfalls  die  Schale  aus  2  congruenteu 
Antimeren  besteht  und  durch  jede  der  beiden  Richtebenen  (und  allein  durch 
diese!)  in  2  congruente  Hälften  zerlegt  wird. 

Unter  den  Coelenteraten  ist  die  Diphragmen  -  Form  viel  seltener, 
und  erst  aus  der  Tetraphragmen-Form  durch  vollständigen  Abortus  zweier 
gegenständigen  Antimeren  entstanden.  Obgleich  hier  ursprünglich  4  Anti- 
meren angelegt  sind,  bleibt  schliesslich  der  Körper  bloss  noch  aus  den  bei- 
den lateralen  Antimeren  zusammengesetzt.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  den 
Schwimmglocken  und  namentlich  bei  den  Deckstücken  einzelner  Siphono- 
phoren,  besonders  aus  der  Abtheilung  der  Physophoriden  (bei  einigen  Arten 
von  Agalma,  Aguhnopsis,  Stephanomiu  und  Anderen).  Jedoch  können  nur 
diejenigen  Schwimmglocken  (auch  die  Genitalglocken  einiger  Arten)  hier- 
hergestellt werden,  bei  denen  in  der  That  bloss  2  gegenständige  Radial- 
canäle  oder  2  gegenständige  Ausstülpungen  des  Schwimmsackes  gleich- 
massig  ausgebildet  sind  und  die  beiden  alternirenden  fehlen  oder  ganz 
gleichmässig  auf  ein  Minimum  reducirt  sind.  Ebenso  können  von  den  Deck- 
stücken (Hydrophyllien)  nur  diejenigen  hierher  zählen,  bei  denen  die  Mittel- 
rippe des  Deckblattes  dasselbe  in  2  völlig  congruente  Stücke  theilt,  deren 
jedes  nur  einem  (aus  2  symmetrisch  gleichen  Hälften  zusammengesetzten) 
Antimer  entspricht. 

Wie  bei  den  Coelenteraten,  so  ist  auch  bei  den  Würmern  die  Diphrag- 
meh-Fox*m  seltener  als  die  Tetraphragme,  und  wohl  immer  erst  secundär 
aus  letzterer  hervorgebildet.  Wir  rechnen  hierher  eine  Anzahl  parasitischer 
darmloser  Würmer,  A  canthocephalen  und  Cestoden.  Man  pflegt  die 
sämmtlichen  Würmer,  gleich  allen  Gliederfüssern,  Mollusken  und  Wirbel- 
thieren  allgemein  als  „bilateral -symmetrische"  zusammenzufassen.  Es  ist 
aber  sehr  bemerkenswerth,  dass  eine  sehr  grosse  Anzahl  von  Würmern, 
und  selbst  höher  stehende  (Anneliden)  sehr  deutlich  den  Körper  nicht  aus 
zwei,  sondern  aus  vier  Antimeren  zusammengesetzt  zeigen.  Ferner  ist  her- 
vorzuheben, dass  die  unvollkommensten  Thiere  dieser  grossen  Abtheilung 
sich  durch  die  mangelnde  Differenz  der  Rücken-  und  Bauchseite  noch  un- 
mittelbar  den   orthostauren   Hydromedusen    anreihen    und  daher  nicht  den 


494  System  der  organischen  Grundformen. 

echten,  allopolen  Zygopleuren  zugerechnet  werden  dürfen.  Der  einzige 
Zoologe,  der  dies  Verhältnis*  bisher  gewürdigt  hat,  ist  Bronn,  der  in  sei- 
nen morphologischen  Studien  diese  „mit  einem  Pfeile  vergleichbaren"  For- 
men zrwar  zu  den  Hemisphenoiden  (Dipleuren)  stellte,  aber  doch  die  ganzen 
Keile  oder  Pfeile  (Sphenoide  oder  Sagittale)  als  eine  besondere  Moditi- 
cation  von  deu  Halbkeüen  (Hemisphenoiden)  unterschied.  In  der  That  ist 
es  bei  den  Acanthocephalen  und  bei  den  meisten  Cestoden  ganz  unmöglich, 
durch  ein  inneres  oder  äusseres  Merkmal  die  Rückenseite  von  der  Bauch- 
seite zu  unterscheiden.  Diese  beiden,  durch  die  Lateralebene  getrennten 
Hälften  sind  vielmehr  ebenso  absolut  congruent,  als  die  durch  die  Me- 
dianebene getrennte  rechte  und  linke  Hälfte.  Bei  den  Acanthocephalen  sind 
die  Lateralflächen  (Rechts  und  Links)  durch  das  in  der  Lateralebene  lie- 
gende Paar  der  Lemuisken  und  ausserdem  auch  öfter  durch  die  paarigen 
Hoden  und  Samenleiter  scharf  bestimmt,  bei  den  Cestoden  durch  den  rechts 
und  links  symmetrisch  vertheilten  Genitalapparat,  und  vielleicht  auch  durch 
den  paarigen  lateralen  Nervenstamm.  Bei  den  meisten  Cestoden  kommt 
dazu  noch  die  äussere  unpaare  Genitalöffnung,  welche  bei  den  einzelnen 
auf  einander  folgenden  Proglottiden  abwechselnd  rechts  und  links  liegt. 
Erst  bei  denjenigen  Cestoden,  wo  die  unpaare  Genitalöffnung  auf  die  Bauch- 
fläche rückt,  wie  bei  üothriocephalus,  tritt  eine  Differenz  zwischen  Rücken- 
und  Bauchfläche  ein  und  es  ist  damit  der  Uebergang  von  der  Diphragmen- 
zu  der  Eudipleuren-Form  gegeben.  Als  echte  Diphragmen  können  wir 
also  nur  diejenigen  Bandwürmer  auffassen,  bei  denen  (wie  bei  Taenia  solUnn 
und  T.  medioeaneUata)  wegen  der  seitlichen  Lage  der  Genitalöffnungen 
(bald  rechts,  bald  links)  noch  keine  Differenz  von  Rücken  und  Bauch  (ebenso 
wenig  als  von  Rechts  und  Links)  gegeben  ist,  und  bei  denen  nur  zwei 
Längsgefässstämme  vorhanden  und  mithin  nur  2  Antimeren  (das  laterale 
Paar)  vorhanden,  die  beiden  anderen  (dorsales  und  ventrales)  verkümmert 
sind.  Diese  sind  eben  so  unzweifelhaft  zweizählig,  wie  alle  Acanthoce- 
phalen. Dagegen  müssen  wir  die  orthostauren  Cestoden  mit  4  Längsge- 
fässstämmen  zu  den  Tetraphragmen  stellen,  wie  oben  geschehen  ist.  Als 
reguläre  (homostaure)  Tetractinoten  endlich  sind  jene  Cestoden-Scolices  zu 
betrachten,  bei  denen  nicht  allein  die  beiden  Polhälften  jeder  Kreuzaxe  un- 
ter sich  congruent,  sondern  auch  die  beiden  Kreuzaxen  selbst  gleich  sind, 
so  dass  der  ganze  Körper  in  4  congruente  Stücke  zerlegt  werden  kann: 
die  meisten  Tetraphyllideen,  Phyllobothriden  (Echeneibotlirhim) ,  Phyllacan- 
thiden  (Acanlhobothrium)  und  Phyllorhynchideu  (Tetrurhynchus').  Bei  die- 
sen und  vielen  anderen  Bandwürmern  ist  der  Scolex  mit  4  gleichen  Saug- 
napfen  oder  Hakeurüsseln  versehen,  und  die  inneren  Apparate,  die  zu  je- 
dem Sauguapfe  (oder  Hakenrüssel)  gehören,  Muskeln,  Nerven,  Scheiden  etc. 
sowie  namentlich  die  4  Längsstämme  des  Excretionsapparates  sind  als  vier 
absolut  gleiche  Stücke  vollkommen  radial  um  die  Längsaxe  vertheilt.  Die 
vollkommene  Uebereinstimmung  in  der  Grundform  dieser  rein  tetractinoten 
Bandwürmer  und  der  regulären  vierstrahligen  Hydromedusen,  auf  welche 
wir  schon  oben  aufmerksam  machten,  wird  dann  noch  dadurch  vervollstän- 
digt,   dass  in   den  Hakenkränzen  der  Scolices    die  einzelneu  Haken  ebenso 


Zeugite  Grundformen.     Allopola.  495 

regulär    als    Radien    in    einen    vollständigen   Kreis    gestellt  sind,    wie   die 
(homologen l)  Tentakeln  der  Hydromeduseu. 

Die  merkwürdige  Gruppe  der  Bandwürmer  bietet  so  nicht  nur  ein  be- 
sonderes morphologisches  Interesse  hinsichtlich  ihrer  Tectologie  (vergl. 
oben  p.  353),  sondern  auch  bezüglich  ihrer  Promorphologie.  Sie  deutet 
durch  die  reine  „Strahlthier  -  Form"  ihrer  niedersten  Stufen,  die  von  der 
Tetractinoten-Form  der  Hydromeduseu  promorphologiych  nicht  verschieden 
ist,  auf  die  uahen  und  vielleicht  genealogischen  Beziehungen  der  Würmer 
zu  den  Coelenteraten  hin.  Sie  zeigt  uns  aber  auch  aufs  Klarste  die  all- 
mählige  Hervorbildung  höherer  („symmetrischer")  aus  niederen  („reguläreu") 
Gruudformen.  Ausgehend  von  der  regulären  vierseitigen  Pyramide  der 
Tetractinoten  (Tetrabothrium ,  Tetrarlvynchus ,  Scolex  der  Taeniaden)  erhebt 
sie  sich  durch  Differenzirung  der  beiden  gleichen  Kreuzaxen  zur  Rhom- 
ben -  Pyramide  der  tetraphragmen  Orthostauren  (Proglottiden  mit  vier 
Längsgefässen),  geht  dann  durch  Reduction  des  einen  (dorsoventralen)  Anti- 
meren  -  Paares  in  die  diphragme  Orthostauren -Form  über  (Proglottiden  mit 
zwei  Längsgefässen)  und  erhebt  sich  schliesslich  durch  Differenzirung  von 
Rücken-  und  Bauchseite  (Bolhriocephalus)  zur  halbeu  Rhomben-Pyramide 
der  Eudipleureu,  der  höchsten  Form  der  Zeugiten. 

Zweite  Gattung  der  heterostauren  Stauraxonien : 
Halb -amphithect- pyramidale  Grundformen:  Allopola. 

Centrepipeda.     Zeugita. 

Organische  Grundformen  mit  Centralebene. 

(Bilateral-symmetrische  Formen  der  Autoren  in  der  zweiten  (weitereu)  Bedeutung 

des  Begriffes). 

(Halbkeile  oder  Hemispheuoide,  Broun). 
Stercometrische  Grundform:  Halbe  amphithecte  Pyramide. 

Die  Formengruppe  der  Zeugiten  oder  allopolen  Heterostauren  ist 
die  letzte  und  am  meisten  differenzirte ,  zugleich  aber  auch  die  wich- 
tigste und  gestaltenreichste  von  allen  Haupt-Formengruppen,  die  wir 
durch  Untersuchung  der  Axen  der  organischen  Formen  und  ihrer  Pole 
ermittelt  haben.  Es  gehören  hierher  aus  dem  Thierreiche  die  meisten 
sogenannten  bilateral- symmetrischen  Thiere  im  dritten  Sinne  dieses 
Ausdrucks,  nämlich  sämmtliche  Wirbelthiere,  Gliederfüsser  Weichthiere 
und  die  meisten  Würmer,  ferner  eine  sehr  grosse  Anzahl  von  Echino- 
dermen  (die  sogenannten  irregulären),  viele  Coelenteraten  (z.  B.  die 
Zaphrentiden  und  viele  Siphouophoren)  und  eine  Anzahl  von  Rhizo- 
poden.  Ebenso  häutig  ist  diese  Grundform  im  Pflanzenreiche,  wo  die 
meisten  sogenannten  „irregulären  ßlüthen",  z.  B.  von  den  Gräsern, 
Orchideen,  Leguminosen,  Umbelliferen,  Compositen,  Labiaten  und 
viele  andere  hierher  zu  ziehen  sind.  Die  grösste  Wichtigkeit  erlangt 
hier  überall  die  allopole  Heterostaurenform  als  die  allgemeine  Grund- 


496  System  der  organischen  Grundformen. 

form  der  meisten  höher  orgänisirten  Personen  und  Metameren.  Aber 
auch  der  Form  der  Antimeren  und  Organe  liegt  sie  sehr  allgemein 
zu  Grunde,  seltenei  der  Form  der  Piastiden  und  Corinen.  So  können 
wir  denn  wohl  diese  Grundform  als  die  wichtigste  und  der  grössten 
Anwendung  fähige  vor  allen  Grundformen  auszeichnen. 

Der  auszeichnende  Character,  der  alle  zu  den  allopolen  Hetero- 
stauren  gehörigen  Formen  auf  den  ersten  Blick  erkennen  lässt,  besteht 
darin,  dass  der  Körper  durch  eine  mittlere  Theilungsebene  (Central- 
ebene)  und  nur  durch  diese!  in  zwei  symmetrisch  gleiche  Hälften 
zerlegt  werden  kann,  von  denen  die  eine  das  Spiegelbild  der  anderen 
ist.  Es  ist  also  Mundseite  und  Gegenmundseite  (welche  gewöhnlich 
dem  Vorn  und  Hinten  entsprechen)  verschieden,  ebenso  Rückenseite 
und  Bauchseite  (die  meistens  dem  Oben  und  Unten  entsprechen)  ver- 
schieden, die  beiden  Lateralseiten  dagegen,  Rechts  und  Links,  sym- 
metrisch-gleich (oder  ähnlich),  aber  nicht  congruent.  Während  wir 
daher  bei  den  autopolen  Heterostauren  den  Körper  noch  durch  zwei 
auf  einander  senkrechte  Ebenen,  nämlich  durch  jede  der  beiden 
Richtebenen ,  in  zwrei  congruente  Stücke  zerlegen  konnten ,  ist  der 
Körper  der  allopolen  überhaupt  nicht  in  zwei  congruente  Stücke  zer- 
legbar. Es  beruht  diese  Eigenschaft  darauf,  dass  die  beiden  Richt- 
ebenen, welche  als  zwei  auf  einauder  senkrechte  ungleiche  Meri- 
dianebenen alle  Heterostauren  als  solche  auszeichnen  (siehe  oben 
p.  477),  bei  den  autopolen  sich  gegenseitig  halbiren,  während 
bei  den  allopolen  bloss  die  eine  oder  gar  keine  von  der  anderen 
halbirt  wird.  Wir  drücken  diesen  Gegensatz  kurz  dadurch  aus,  dass 
wir  sagen:  „Bei  den  autopolen  Heterostauren  oder  Toxomorpheu 
( Sagittalien)  sind  die  beiden  Pole  (Polflächen  oder  Polstücke)  jeder 
der  beiden  Richtaxen  gleich,  bei  den  allopolen  dagegen  sind  die 
beiden  Pole  nur  der  einen  Richtaxe  (Lateralaxe) ,  oder  gar  keiner 
von  beiden,  gleich. 

Die  Ce  ntralebene,  welche  die  einzige  Halbirungsebene 
der  allopolen  Heterostauren  ist,  fällt  zusammen  mit  der  allen 
Heterostauren  gemeinsamen  Medianebene,  die  durch  die  Hauptaxe 
und  die  eine  Richtaxe  (Dorsoventralaxe)  gelegt  wird.  Bei  den  Auto- 
polen  (Toxomorpheu)  theilt  die  Medianebene  ihre  Fähigkeit,  den 
Körper  zu  halbiren,  mit  der  Lateralebene  und  es  sind  also  hier  ge- 
wissermassen  zwei  Centralebenen  vorhanden.  Die  eigentliche 
Körpermitte  bleibt  daher  hier  immer  noch  eine  Linie,  nämlich  die 
Schnittlinie  der  beiden  rechtwinkelig  gekreuzten  Centralebenen  oder 
die  Hauptaxe.  Bei  den  allopolen  Heterostauren  allein  wird 
die  Mitte  des  Körpers  zur  Ebene.  Will  man  diese  characteristische 
Eigenschaft  der  allopolen  Heterostauren  durch  ihre  Benennung  aus- 
drücken,   so  kann  man  ihnen  ganz  passend  den  JMamen  der  Centre- 


Zeugite  Grundformen.     Allopola.  497 

pipeda  beilegen,  im  Gegensatz  zu  den  bisher  betrachteten  Formen, 
bei  denen  die  Mitte  entweder  durch  eine  gerade  Linie  (Centraxonia) 
oder  durch  einen  Punkt  (Centrostigma)  gegeben  war.  Für  diesen 
bezeichnenden  Character  der  Centrepipeden,  ihre  Halbirbarkeit  in  nur 
einer  einzigen  Richtung,  ist  es  gleichgültig,  ob  der  Körper  dieser 
Thiere  aus  zwei  oder  aus  mehr  als  zwei  Autimeren  zusammengesetzt 
ist,  Schon  hieraus  ergiebt  sich  die  Unrichtigkeit  des  Systems  von 
Burmeister,  der  zwar  diesen  Hauptcharacter  der  Bilateralthiere, 
seiner  symmetrischen  Thiere,  ganz  richtig  erfasste,  aber  trotzdem  die 
bilateralen  Echinodermen,  welche  diesen  Character  so  deutlich  aus- 
gesprochen tragen,  zu  den  regulären  Strahlthieren  stellte,  in  der  That 
also  die  Zahl  der  Antimeren,  und  nicht  die  Symmetrie,  als 
oberstes  Eintheilungs-Princip  gelten  liess.  Da  die  Ausdrücke  „Cen- 
trepipeden" oder  „allopole  Heterostauren",  obwohl  sie  den 
Character  der  hierher  gehörigen  Formen  vollkommen  bezeichnen,  doch 
etwas  schleppend  sind,  der  Ausdruck  „  Bilateral-  Symmetrische" 
aber  ganz  ohne  bestimmte  Bedeutung  ist,  so  wird  es  vielleicht  am 
passendsten  erscheinen,  alle  hierher  gehörigen  Formen  kurz  als 
Zeugiten1)  zu  bezeichnen. 

Die  allgemeinen  morphologischen  Eigenschaften  der  Zeugiten  oder 
Centrepipeden  sind  sehr  bestimmte,  so  dass,  wenn  man  dieselben  nur 
einigermaassen  scharf  ins  Auge  fasst,  ihre  Unterschiede  von  den  auto- 
polen Heterostauren  oder  Toxomorphen,  mit  denen  sie  oft  verwechselt 
worden  sind,  sehr  deutlich  hervortreten.  Bei  allen  Zeugiten  sind  die 
beiden  Körperhälften,  welche  durch  die  Medianebene  getrennt  werden, 
symmetrisch -gleich  oder  ähnlich,  aber  niemals  congruent.  Die  eine 
Hälfte  ist  das  Spiegelbild  der  anderen,  kann  sie  aber  niemals  decken 
oder  ersetzen.  Bei  der  grossen  Mehrzahl  aller  Centrepipeden  sind 
diese  beiden  Hälften,  welche  wir  als  Rechte  und  Linke  zu  unter- 
scheiden gewohnt  sind,  symmetrisch-gleich;  es  wiederholen  sich 
also  die  sämmtlichen  Theilchen  jeder  Körperhälfte  in  der  gleichen 
Zahl  und  Grösse  und  der  gleichen  relativen,  aber  der  entgegengesetzten 
absoluten  Lagerung  ebenso  auf  der  entgegengesetzten  Körperhälfte; 
wesentlich  ist  nur  der  Unterschied,  dass  die  gleiche  Entfernung  der 
Theilchen  von  der  gemeinsamen  Medianebene  in  beiden  Hälften  nach 
entgegengesetzten  Richtungen  erfolgt.  Bei  einem  anderen  Theile  der 
Centrepipeden  dagegen,  wie  bei  den  Pleuronectiden,  den  Paguriden, 
den  spiralig  aufgerollten  Gasteropoden  ^tc.  sind  die  beiden  Körper- 
hälften nur  symmetrisch- ahn  lieh;  insofern  durch  etwas  stärkere 
einseitige  Entwickelung  die  eine  Hälfte  das  Uebergewicht  über  die 
andere    erhält,    und  sie  durch   Grösse   oder  Theilchen-Zahl   übertrifft, 

!)  Csvyneg,  das  paarweis  Verbundene. 
Haeckel,   Generelle  Morphologie.  32_V  - 


498  System  der  organischen  Grundformen. 

während  doch  dieselben  wesentlichen  Organe  bei  Beiden  in  derselben 
Zahl  und  Verbindung;  angelegt  sind;  die  Linke  wird  also  dann  der 
Rechten  nicht  nur  entgegengesetzt,  sondern  auch  ungleich, 
bleibt  ihr  aber  dennoch  mehr  oder  weniger  vollkommen  ähnlich. 
Nach  diesem  wichtigen  Unterschiede  können  wir  unter  den  allopolen 
Heterostauren  zwei  Gruppen  unterscheiden,  indem  wir  die  symme- 
trisch-gleichen Formen  als  Homopleura,  die  symmetrisch- 
ähnlichen,  aber  ungleichen,  als  Heteropleura  bezeichnen. 

Die  letzterwähnte  Differenz  lässt  sieh  wiederum  sehr  einfach  darauf 
zurückführen,  dass  bei  der  einen  Abtheilung,  den  Homopleuren, 
bloss  die  beiden  Pole  der  einen  (dorsoventralen)  Richtaxe  ungleich 
werden,  während  diejenigen  der  anderen  (lateralen)  Richtaxe  gleich 
bleiben;  bei  den  Heteropl euren  dagegen  werden  die  beiden  Pole 
beider  Richtaxen  ungleich,  oft  in  so  hohem  Grade,  dass  die  Centre- 
pipedie  dadurch  stark  gestört  wird,  wie  bei  den  Pleuronectiden,  den 
spiral  aufgerollten  Gasteropoden,  vielen  Siphonophoren,  Cyrtiden  u.  s.  w. 
Die  homopleuren  Zeugiten  oder  die  ..streng  bilateral-symmetrischen 
Thiere"  unterscheiden  sich  demnach  von  allen  anderen  Heterostauren 
dadurch,  dass  von  den  drei  auf  einander  senkrechten  ungleichen  Euthynen 
eine  (die  Lateralaxe)  gleichpolig,  die  beiden  anderen  (Dorso- 
ventral-  und  Hauptaxe)  ungleichpolig  sind,  während  bei  den 
heteropleuren  Zeugiten,  bei  denen  auch  Rechte  und  Linke  sich 
differenziren,  alle  drei  Richtaxen  ungleichpolig  sind. 

So  wichtig  die  Unterscheidung  der  homopleuren  und  heteropleuren 
Zeugiten  im  Princip  erscheinen  könnte,  so  unwichtig  und  ohne  tiefere 
Bedeutung  für  das  Wesen  der  Grundform  stellt  sie  sich  doch  in  der 
praktischen  Morphologie  heraus,  indem  die  Differenzirung  der  rechten 
und  linken  Körperhälfte  oder  der  beiden  Pole  der  Lateralaxe  niemals 
diejenige  Bedeutung  für  die  Form  gewinnt,  welche  die  Differenzirung 
der  beiden  Pole  der  Dorsoventralaxe  und  der  Hauptaxe  allgemein 
besitzt.  Ganz  streng  genommen  ist  die  Heteropleurie  unter  den  Zeu-, 
giten  sehr  weit  verbreitet,  indem  nur  selten  rechte  und  linke  Hälfte' 
ganz  genau  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  der  Form  und  Grösse 
übereinstimmen.  Trotzdem  werden  diese  feineren  Differenzen  mit 
Recht  bei  der  gewöhnlichen  allgemeinen  Formbetrachtung  nicht  be- 
rücksichtigt und  nur  solche  Formen  als  echte  Heteropleuren  betrachtet, 
bei  denen  die  Ungleichheit  der  symmetrisch -ähnlichen  rechten  und 
linken  Seitenhälfte  augenfällig  hervortritt,  wie  die  Pleuronectiden,  die 
spiralig  aufgerollten  Gasteropoden,  die  Pleuroconchen  unter  den 
Acephalen,  die  Abyliden  unter  den  Siphonophoren  u.  s.  w. 

Die  Antimeren-Zahl  hat  bei  der  bisherigen  Betrachtung  der  Zeu- 
giten, indem  man  sie  alle  als  bilateral-symmetrische  Formen  zusammen- 
fasset, gar  keine  Berücksichtigung  gefunden,  und  doch  ist  es  von  der 


Zeugite  Grundformen.    Allopola.  499 

grössten  Wichtigkeit  für  die  Beurtheilung  und  Unterscheidung  der 
verschiedenen  Zeugiten-Formen,  ob  dieselben  aus  zwei  Antimeren  be- 
stehen, wie  bei  den  WirbelT,  Weich-  und  Gliederthieren,  oder  aus  vier, 
wie  bei  den  meisten  Würmern;  aus  drei  Antimeren,  wie  bei  den  Or- 
chideen, oder  aus  fünf,  wie  bei  den  irregulären  Echinodermen,  den 
Leguminosen  und  vielen  Anderen.  Wir  werden  auf  Grund  dieser 
Verschiedenheiten  zunächst  die  Formengruppe  der  allopolen  Hetero- 
stauren in  zwei  Abtheilungen  zu  zerfallen  haben,  die  den  beiden  Ab- 
theilungen der  autopolen  entsprechen.  Den  orthostauren  Auto- 
polen mit  zwei  oder  vier  Antimeren  correspondiren  die  zygopleuren 
Zeugiten  mit  zwei  oder  vier  Antimeren,  bei  denen  nur  eine  oder 
zwei  radiale  und  eben  so  viele  interradiale  Kreuzebenen  vorhanden 
sind;  den  oxystauren  Au  top  ölen  mit  sechs,  acht  oder  mehr  An- 
timeren entsprechen  die  amphipleuren  Zeugiten  mit  drei,  fünf  oder 
mehr  Antimeren,  bei  denen  mindestens  drei  radiale  oder  semiradiale 
Kreuzebenen  ausgesprochen  sind.  In  jeder  dieser  Abtheilungen  können 
homopleure  und  heteropleure  Formen  vorkommen.  Jedoch  sind  die 
Heteropleuren  unter  den  Amphipleuren  sehr  selten. 

Die  geometrische  Grundform  der  Zeugiten  oder  allopolen 
Heterostauren  ist  die  halbe  amphithecte  Pyramide;  wir  erhalten 
sie  also  dadurch,  dass  wir  die  Grundform  der  autopolen  Heterostauren 
mittelst  eines  Schnittes  halbiren,  welcher  durch  eine  der  beiden  Richt- 
ebenen geht.  Dasselbe  gilt  auch  von  den  beiden  correspondirenden 
Abtheilungen  der  beiden  Formengruppen;  die  allgemeine  Grundform 
der  Zygopleuren  ist  demnach  die  Hälfte  einer  amphithecten  Pyra- 
mide mit  vier  Seiten  oder  die  halbe  Rhomben-Pyramide.  Die  Grund- 
form der  Amphipleuren  ist  die  Hälfte  einer  amphithecten  Pyramide 
von  4 +  2n  Seiten.  Doch  gelten  diese  Gesetze,  welche  sich  den  oben 
berührten  promorphologischen  Hemiedrie-Gesetzen  anschliessen,  streng 
genommen  nur  für  die  Homopleuren  in  beiden  Abtheilungen,  da  die 
Ungleichheit  der  beiden  Seitenhälften,  welche  bei  den  Heteropleuren 
hervortritt,  die  scharfe  Bestimmung  einer  allgemeinen  geometrischen 
Grundform  sehr  erschwert.  Zunächst  scheinen  sich  diese  höchst 
differenzirten  Grundformen  durch  die  so  hervortretende  Unregelmässig- 
keit unmittelbar  wieder  den  am  tiefsten  stehenden,  den  Amorphen  oder 
Anaxonien  anzuschliessen.  Zum  Theil  sind  sie  auch,  gleich  den 
letzteren,  als  vollkommen  ..irreguläre'1  oder  „asymmetrische"  Formen 
angesehen  worden.  Indessen  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  trotz  der 
starken  DirTerenzirung  der  ungleichen  Antimeren,  und  dadurch  auch 
der  Seitenhälften,  doch  die  Pyramidalform  durch  die  Zahl  der  Anti- 
meren und  das  Verhältniss  der  ungleichpoligen  Hauptaxe  zu  den 
Kreuzaxen  bestimmt  bleibt.  Die  allgemeine  Grundform  der  Hetero- 
pleuren ist  demnach  die  irreguläre  Pyramide. 

32* 


500  System  der  organischen  Grundformen. 

Erste  Untergattung  der  Zeugiten: 
Schienige  Grundformen.     Amphipleiira. 

(Heterostaura   allopola  amphipleura.) 

(Strahlige   ungleichpolige  Bilateralformen.) 

(Sogenannte  „bilateral-symmetrische  Strahlformen.") 

Stereometrische  Grundform:  Halbe  amphiihecte  Pyramide  von  4-j-  2  n Seiten. 

Die  Abtheilung  der  amphipleuren  Zeugiten  oder  der  Amphi- 
pl euren,  wie  wir  sie  kurzweg  nennen  wollen,  steht  zwar  an  Aus- 
dehnung weit  hinter  derjeuigen  der  Zygopleuren  zurück,  umfasst  aber 
eine  Reihe  von  höchst  interessanten  und  wichtigen  Grundformen,  die 
den  bisherigen  Betrachtungs-Versuchen,  welche  bloss  von  der  äusseren 
Form  ausgingen  und  die  Axen  vernachlässigten,  unübersteigliche  Hin- 
dernisse bereiteten.  Die  Grundform  aller  Amphipleuren  ist  die  Hälfte 
einer  amphithecten  Pyramide  von  4 -f  2 n Seiten,  und  zwar  muss  die 
Seitenzahl  dieser  Pyramide  stets  doppelt  so  gross  sein,  als  die  Zahl 
der  Antimeren.  Es  ist  also  die  Grundform  der  dreizähligen  Amphi- 
pleuren die  Hälfte  einer  sechsseitigen,  die  Grundform  der  fünfzähligen 
Amphipleuren  die  Hälfte  einer  zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  u.s.  w. 

Da  die  homotypische  Grundzahl,  welche  bei  den  Amphipleuren 
demgemäss  drei,  fünf,  sechs  oder  mehr  (n)  ist,  stets  der  Zahl  der 
radialen  oder  semiradialen  Kreuzebenen  gleich  seiu  muss,  so  müssen 
sich  hier  mindestens  drei  semiradiale  oder  radiale  Kreuzebenen  finden, 
welche  sich  unter  spitzen  Winkeln  schneiden. 

Von  den  zahlreichen  Arten  der  Amphipleuren,  die  nach  der  ver- 
schiedenen Antimerenzahl  (drei,  fünf,  sechs  oder  mehr)  möglich  wären, 
finden  sich,  ebenso  wie  von  den  amphithecten  Pyramiden,  nur  sehr 
wenige  in  der  Natur  verkörpert,  nämlich  vier  verschiedene  Arten, 
siebenzählige,  sechszählige,  fünfzählige  und  dreizählige.  Von  diesen 
sind  die  beiden  ersten  Arten  im  Ganzen  selten,  die  beiden  letzten 
dagegen  in  sehr  grosser  Ausdehnung  und  Mannichfaltigkeit  entwickelt. 
Zu  den  dreizähligen  oder  Triamphipleuren  gehören  nur  sehr  wenige 
Protisten,  nämlich  eine  Anzahl  von  Radiolarien  aus  der  Cyrtiden-Familie, 
dagegen  eine  sehr  grosse  Zahl  von  Pflanzen-Blüthen,  nämlich  die 
meisten  sogenannten  im  regelmässigen  Monocotyledonen-Blüthen,  von 
den  Orchideen,  Gramineen,  Cyperaceeu  etc.  Die  fünfzähligen  oder 
Pentaniphipleuren  sind  im  Thierreiche  sehr  zahlreich  vertreten  durch 
die  sogenannten  irregulären  oder  bilateral-symmetrischen  Echinodermen, 
aber  auch  unter  den  Dicotyledonen  im  Pflanzenreiche  äusserst  zahlreich ; 
es  gehören  dahin  die  grossen  Familien  der  Leguminosen,  Compositen, 
Umbelliferen,  Labiatifloren  und  sehr  viele  Andere. 


Schienige  Grundformen.     Amphipleura.  501 

Erste  Art  der  Amphipleuren: 
Siebeiischienige.         Ileptaniphipleura. 

Siebenstrahlige  ungleichpolige  Bilateralformen. 

Stereometrische  Grundform:  Halbe  vierzehnseitige  amphithecle  Pyramide. 

Reale?'  Typus:  Disandra. 

Die  siebenstrahlige  Amphipleurenform  ist,  wie  alle  siebenzähligen 
Grundformen,  sehr  selten,  fiudet  sich  jedoch  sehr  deutlich  in  den 
Blüthensprossen  einiger  dicotyledonen  Phanerogamen  ausgesprochen, 
namentlich  in  der  Veroniceen-Gattung  Disandra  (Subgenus  von  Sib- 
thorpia,  Familie  der  Scrophularineen).  Die  meisten  Blüthentheile  sind 
hier  in  Siebenzahl  vorhanden,  der  Kelch  siebenblättrig,  die  Krone 
siebentheilig,  mit  sieben  Staubfäden.  Die  sieben  Antimeren  sind  aber 
in  der  Art  ungleich  und  zweiseitig  geordnet,  dass  die  ganze  Blüthe 
deutlich  in  zwei  symmetrisch  gleiche  Seitenhälften  zerfällt.  Auch  die 
Frucht  ist  zweifächerig  (eudipleurisch).  Weniger  deutlich  ausgesprochen 
findet  sich  die  Heptamphipleurie  bei  einigen  anderen  Blüthen,  z.  B. 
einigen  Arten  der  Rosskastanien  (Aesculus).  Die  allgemeine  Grund- 
form aller  dieser  bilateralen  Siebenschienigen  ist  die  Hälfte  einer 
amphithecten  Pyramide  von  vierzehn  Seiten. 

Zweite  Art  der  Amphipleuren: 
Sechsschienige.     Hexamphipleura. 

(Sechsstrahlige    ungleichpolige    Bilateralformen.) 

Stereometrische  Grundform:   Halbe  zwölfseitige  amphithecte  Pyramide. 

Realer  Typus:    Oculina   (Tai'.  I,  Fig.  3). 

Zu  den  zahlreichen  interessanten  Grundformen,  welche  man  bis- 
her noch  gar  nicht  beachtet,  sondern  unter  dem  nichtssagenden 
Collectivbegriff  der  „Unregelmässigen"  zusammengeworfen  hat,  gehört 
auch  eine  Anzahl  von  Corallenpolypen  oder  Anthozoen.  Man  pflegt 
allgemein  die  Glieder  dieser  Klasse  sämmtlich  als  „reguläre  Strahl- 
thiere"  (also  als  Homostauren)  zu  betrachten;  mit  demselben  Rechte 
könnte  man  aber  auch  alle  dicotyledonen  Blüthen  als  solche  erklären, 
wenn  man  nämlich  die  zahlreichen  Ausnahmen  nicht  berücksichtigt. 
Allein  schon  in  der  Abtheilung  der  Sclerodermen  kommen  viele  Aus- 
nahmen von  der  herrschenden  Homostauren-Form  vor.  Wir  werden 
solche  aus  der  Rugosen  -Gruppe  in  den  Zaphrentiden  kennen  lernen 
(Eutetrapleuren),  aus  der  Perforaten-Ordnung  in  den  Madreporen 
(Hexaphragmen) ;  in  der  Eporosen-Ordnung  gehört  dahin  die  Familie 


502  System  der  organischen  Grundformen. 

der  Oculiniden.  Dieselbe  zerfällt  in  zwei  Subfamilien,  die  Stylastera- 
ceen  und  Oculinaceen;  erstere  zeigen  die  reguläre  Hexactinoten-Form, 
letztere  dagegen  eine  sehr  ausgezeichnete  Modifikation  derselben, 
welche  wir  hier  als  Hexainphipleureu  aufstellen  müssen.  Diese  eigen- 
thümliche  sechsstrahlige  Bilateralform  findet  sich  auch  bei  einigen 
Phanerogamen-Blüthen,  z.  B.  bei  mehreren  Lythraceen  (Cuphea  und 
gewissen  Blüthen  von  Lylhrum).  Die  Grundform  derselben  ist  die 
Hallte  einer  amphithecten  Pyramide  von  zwölf  Seiten.  Es  sind  nämlich 
bei  diesen  Lythraceen  ebenso  wie  bei  den  Oculinaceen  die  sechs 
Antimeren  in  der  Art  differenzirt,  dass  wir  drei  verschiedene  Paare 
derselben  unterscheiden  können,  ein  dorsales,  ein  laterales  und  ein 
ventrales  Antimeren -Paar  (vergl.  z.  B.  Oculina  virginea,  Lophelia 
proäfera,  Amphelia  oculata  etc.).  Die  beiden  Antimeren  jedes  Paares 
sind  unter  sich  symmetrisch  gleich,  dagegen  nicht  zwei  Antimeren 
congruent,  wie  es  bei  den  Hexactinoten  alle  sechs  sind.  Die  zwei 
dorsalen  Antimeren  sind  am  stärksten,  die  zwei  ventralen  am 
schwächsten  entwickelt;  die  zwei  lateralen  zeigen  einen  mittleren 
Entwickelungsgrad.  Der  ganze  Kelch  der  Oculinaceen  (oder  der 
Einzelpolyp)  zerfällt  also  durch  eine  Medianebene  in  zwei  symmetrisch 
gleiche  Hälften,  deren  Rückentheil  viel  stärker  ausgebildet  ist,  als  der 
Bauchtheil  (Taf.  I,  Fig.  3).  Es  zeigt  sich  dies  am  Skelet  meistens  sehr 
deutlich  darin  ausgesprochen,  dass  das  unpaare  mediane  Septum  dor- 
sale (a4),  welches  die  beiden  Kücken -Antimeren  trennt,  viel  stärker, 
dagegen  das  unpaare  mediane  Sep tum  ventrale  (a,),  welches  die  bei- 
den Bauch-Antimeren  trennt,  viel  schwächer  entwickelt  ist,  als  die  vier 
übrigen,  lateralen  Septa.  Unter  den  letzteren  sind  wiederum  die 
beiden  Septa  dorso-lateralia  (welche  das  dorsale  und  laterale 
Antimeren-Paar  scheiden)  oft  stärker  entwickelt,  als  die  beiden  Septa 
ventro-lateralia  (welche  das  ventrale  und  laterale  Antimeren-Paar 
scheiden).  B§i  vielen  Oculinaceen  ist  ausserdem  der  Kelch  sehr  stark 
in  der  Richtung  der  Lateralaxe  verkürzt  (zusammengedrückt),  in  der 
Richtung  der  Dorsoventralaxe  dagegen  entsprechend  verlängert. 

Dritte  Art  der  Amphipleuren: 
Fünfschienige.  Pentaoiphipleura. 

(Fünfstrahlige    ungleichpolige    Bilateralformen.) 

Stereometrische  Grundform:  Halbe  zehuseltige  ampUthecte  Pyramide, 

Realer  Typus:  Spatangus  (oder  Viola)  Taf.  I,  Fig.  7. 

Von  allen  organischen  Grundformen  hat  vielleicht  die  Pentamphi- 
pleuren-Form  die  meisten  Schwierigkeiten  der  Deutung  veranlasst. 
Bei    ihrer    weiten    Ausbreitung    im  Thierreiche,    wo  die  sogenannten 


Schienige  Grundformen.     Amphipleura.  5Q3 

bilateralen  oder  irregulären  Echinodermen,  und  im  Pflanzenreiche,  wo 
die  irregulären  oder  symmetrischen  Blüthen  der  ftinfzähligen  Dicoty- 
ledonen  nach  dieser  Grundform  gebaut  sind,  ist  sie  schon  vielfach 
Gegenstand  der  Untersuchung  gewesen,  aber  wegen  mangelnder  oder 
ungenügender  Berücksichtigung  der  Axen  und  ihrer  Pole  niemals  in 
ihrem  Wesen  richtig  erkannt  worden.  Und  doch  ist  gerade  das  Ver- 
ständniss  dieser  Grundform,  sobald  man  letztere  gehörig  berücksich- 
tigt und  die  Antimeren-Differenzirung  ins  Auge  fasst,  ebenso  leicht 
als  interessant.     (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  7,  nebst  Erklärung). 

Die  allgemeine  stereometrische  Grundform  der  fünfstrahligen 
Amphipleuren  ist  die  Hälfte  einer  zehnseitigen  amphithecten 
Pyramide.  Es  ist  diese  Form  stets  aus  fünf  ungleichen  Antimeren 
zusammengesetzt,  die  sich  so  beiderseits  der  Medianebene  gruppiren, 
dass  der  Körper  aus  zwei  symmetrisch  gleichen  Hälften  zusammen- 
gesetzt erscheint.  Die  Antimeren  vertheilen  sich  auf  zwei  hinter  ein- 
ander liegende  Paare  und  ein  vor  ihnen  in  der  Mitte  liegendes  un- 
paares  Stück.  Wenn  wir  von  der  Betrachtung  der  Echinodermen 
ausgehen,  so  gewinnen  wir  feste  Bezeichnungen  für  jedes  der  fünf 
Antimeren,  die  wir  dann  auf  die  entsprechenden  Stücke  der  Dicotyle- 
donen-Blüthen  übertragen  können.1) 

Dasjenige  Antimer,  welches  den  vier  anderen  paarigen  als  un- 
paares  gegenübersteht,  liegt  bei  den  amphipleuren  Echinodermen  in  der 
Mitte  der  Bauchseite  und  kann  daher  als  ventrales  bezeichnet  werden 
(Fig. 7, cit r, i2).  Die  zunächst  an  dieses  anstossenden  beiden  mittleren 
Antimeren  (r2  und  r5)  werden  dann  passend  als  laterales  Paar,  und 
endlich  die  beiden  folgenden,  dem  unpaaren  gerade  gegenüberstehenden 
als  dorsales  Paar  bezeichnet  (r3  und  r4).  An  jedem  der  beiden 
Paare  kann  dann  weiter  ein  rechtes  und  linkes  Stück  unterschieden 
werden.  Die  Summe  des  ventralen  und  der  beiden  lateralen  Antime- 
ren wird  bei  den  Echinodermen  als  Trivium,  das  dorsale  Paar  im 
Gegensatz  dazu  als  Bivium  bezeichnet. 

Das  unpaare  oder  ventrale  Antimer  ist,  für  sich  allein  betrachtet, 
eudipleurisch ,  während  jedes  der  vier  anderen  in  der  Regel  dysdi- 
pleurisch  ist.  Die  beiden  Stücke  jedes  Paares  sind  unter  sich  sym- 
metrisch gleich.  Jedes  Stück  eines  Paares  ist  ähnlich  jedem  des 
anderen  und  zwar  positiv  ähnlich  dem  auf  derselben,  negativ  ähnlich 
dem  auf  der  entgegengesetzten  Seite  liegenden  Antimer  des  anderen 
Paares.    Das  ventrale  Antimer  ist  meist  sehr  auffallend  von  den  vier 


')  Ueber  die  Begründung  der  im  Folgenden  angewandten,  hier  als  festge- 
stellt vorausgesetzten  Auflassung  und  anatomischen  Deutung  der  Echinodermen- 
Theile,  sowie  über  ihre  allgemeine  Topographie  und  Orismologie  ist  mein  Auf- 
satz über  die  Grundformen  der  Echinodermen  nachzusehen. 


504  System  der  organischen  Grundformen. 

anderen  verschieden.  Die  Medianebene  des  ventralen  Antimeres  fällt 
mit  der  Medianebene  des  ganzen  Körpers  zusammen,  während  die 
Medianebenen  der  vier  anderen  Antimeren  damit  spitze  Winkel 
bilden.     Die  Grenze  des  Bivium  und  Tri  vi  um  in  Fig.  7  ist  i3ci.. 

Die  meisten  Pentamphipleuren  sind  rein  homopleurisch,  mit 
symmetrisch  gleicher  rechter  und  linker  Seitenhälfte;  sehr  selten 
sind  letztere  auffallend  ungleich,  so  z.  B.  bei  einigen  heteropleuren 
Arten  von  Saxifraga  (S.  sarmentosa  u.  A.). 

Die  vergleichende  Morphologie  der  amphipleuren  Echinoderinen  ist  mit 
grossen  Schwierigkeiten  verbunden,  da  in  den  verschiedenen  Klassen  dieses 
Stammes  die  verschiedensten  Uebergänge  von  der  reinen  fünfseitigen  regu- 
lären Pyramide  der  Pentactinoten  bis  zur  extremsten  Ausbildung  der  halben 
zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  vorkommen.  Unzweifelhafte  und  meist 
sehr  ausgeprägte  pentamphipleure  Echinoderrnen  sind:  1)  die  amphipleuren 
oder  sohligen  Holothurien  (Thelenota,  Psolus,  Lepidopsolus  etc.),  2)  die  mei- 
sten sogenannten  exocyclischen  oder  irregulären  Seeigel,  3)  ein  kleiner  Theil 
der  Crinoiden,  namentlich  Eleutherocrinns  von  den  Blastoideen  nnd  viele 
Cystideen.  Au  diese  schliessen  sich  dann  die  „subregulären*  Echinoderrnen 
au,  die  bei  oberflächlicher  Betrachtung  regulär  (pentactinot)  erscheinen,  bei 
denen  aber  durch  irgend  ein  untergeordnetes  Merkmal,  z.  B.  die  excentri- 
sche  Lage  des  Afters  oder  die  besondere  Ausbildung  oder  den  Mangel 
eines  der  5  Genitalporen  das  unpaare  ventrale  Antimer  dennoch  deutlich 
bezeichnet  ist;  dahin  gehören  1)  die  sogenannten  regulären  oder  „nicht 
söhligen"  Holothurien;  2)  die  sogenannten  regulären  Echiniden;  3)  die  See- 
sterne mit  excentrischem  After;  4)  die  allermeisten  Crinoiden.  Nicht  selten 
finden  sich  hier,  namentlich  unter  den  Spatangiden,  Uebergänge  zur  Eutetra- 
pleuren-Form,  indem  das  unpaare  Antimer  sehr  reducirt  wird. 

Unter  den  Dicotyledonen  gehören  zu  den  Pentamphipleuren  die  Ge- 
schlechtspersonen oder  Blüthensprosse  von  vielen  der  vollkommensten,  um- 
fangreichsten und  mannichfaltigsten  aller  Pflauzenfamilien,  so  namentlich  die 
Compositen,  Umbelliferen ,  Labiaten,  Leguminosen,  Violaeeen  etc.  Auch 
hier  kommt  es  aber  vor,  dass  zwischen  der  extremsten  Amphipleurie  und 
der  reinsten  Pentactinoten-Form  alle  Uebergänge,  oft  in  einer  und  derselben 
Blüthen-Gesellschaft,  existiren,  so  z.  B.  zwischen  den  centralen  und  peripheri- 
schen (Strahlen-)Blüthen  der  Compositen  und  Umbelliferen.  Die  Pentamphi- 
pleurie  tritt  bei  Vielen  dieser  Blüthen  nicht  minder  auffallend  hervor,  als 
bei  den  Spatangen.  Besonders  ausgezeichnet  sind  die  Leguminosen  (Fig.  7) ; 
das  Blumenblatt  des  ventralen  unpaaren  Antimeres  bildet  hier  die  grosse 
Fahne  (Yexillum);  die  Petala  der  beiden  lateralen  Antimeren  sind  die  so- 
genannten Alae  oder  Flügel;  die  Blumenblätter  der  beiden  dorsalen  Anti- 
meren sind  zu  dem  Kiel  (Carina)  verwachsen.  Bei  den  strahlenden  Um- 
belliferen-Blüthen  und  den  Zungenblüthen  der  Compositen  ist  entweder 
bloss  das  Blumenblatt  des  ventralen  unpaaren  Antimeres,  oder  die  3  Petala 
des  ganzen  Trivium  bedeutend  stärker  entwickelt,  als  das  dorsale  Bivium. 
Dies  gilt  auch  von  den  Labiaten,  bei  denen  die  „Unterlippe"  der  Lippen- 
blülhe  aus  dem  unpaaren  ventralen  und  dem  Paar  der  lateralen  Stücke,  die 


Schienige  Grundformen.     Amphipleura.  505 

„Oberlippe"  dagegen  aus  den  beiden  dorsalen  Antimeren  gebildet  wird. 
Seltener  sind  die  letzteren  stärker,  als  die  ersteren.  Bisweilen  geht  das 
ventrale  Antimer  ganz  oder  fast  ganz  verloren,  wie  bei  vielen  Labiatifloren ; 
dann  ist  sowohl  die  Unterlippe  als  die  Oberlippe  zweilappig  oder  zweizähnig. 
Ausser  diesen  auffallend  amphipleuren  Bliithen  sind,  strenggenommen,  auch 
noch  sehr  viele  andere  fünfzählige  Bliithen  zu  den  Pentamphipleuren  zu 
ziehen,  welche  scheinbar  pentactinot  sind,  aber  dennoch,  wie  die  subregu- 
lären Echinodermen,  mehr  oder  minder  deutliche  Abweichungen  von  der 
vollkommen  regulären  fünfseitigen  Pyramide  zeigen.  Dahin  gehören  insbe- 
sondere viele  Bliithen,  bei  denen  durch  Aboi'tus  einzelner  Glieder  eines 
oder  mehrerer  Blattkreise  (Metaineren)  die  Centralebene  der  Zeugiten  aus- 
geprägt wird.  Hier  ist  dann  zwar  im  Ganzen  die  „Blumenkrone  regel- 
mässig", aber  dennoch  dadurch  bilateral,  dass  ein  oder  mehrere  Antimeren 
in  Bezug  auf  andere  Blattkreise  der  Blüthe  unvollständig  sind,  wie  z.  B. 
die  4  Nüsse  der  fünfzähligen  Asperifolien,  die  8  Staubfäden  des  fünfzähligen 
Ahorn,  die  3  Griffel  der  fünfzähligen  Staphylea  u.  s.  w. 

Vierte  Art  der  Amphipleuren: 
Dreischienige.     Triamphipleiira. 

(Dreistrahlige    ungleichpolige    Bilateralformen.) 

Stereometrische  Grundform:  Halbe  sechsseitige  amphithecte  Pyramide. 

Realer    Typus:    Orchis    (oder    Dictyophimus)     Taf.   I,    Fig.    5- 

Die  Triamphipleuren-Fonn  besitzt  eine  grosse  Bedeutung  für  das 
Pflanzenreich,  indem  eine  grosse  Anzahl  von  Monocotyledonen-Blüthen 
hierher  gehört.  Dagegen  kommt  sie  im  Thierreiche  nur  selten  vor 
und  ist  im  Protistenreiche  auf  einige  Radiolarien  beschränkt.  Von 
den  drei  Antimeren  der  Triamphipleuren  kann  das  unpaare,  welches 
selbst  gewöhnlich  eudipleurisch  ist,  wie  bei  den  Pentamphipleuren 
als  ventrales  bezeichnet  werden,  und  die  beiden  paarigen,  welche 
meist  dysdipleurisch  sind,  können  diesem  dann,  wie  bei  den  ersteren, 
als  dorsale  gegenübergestellt  werden.  Bei  den  meisten  Triamphipleu- 
ren ist  der  Körper  streng  homopleurisch  und  dann  sind  die  beiden 
dorsalen  Antimeren  unter  einander  symmetrisch  gleich. 

Im  Protistenreiche  wird  die  Grundform  der  dreistrahligen  Amphi- 
pleuren durch  eine  Gruppe  von  morphologisch  sehr  interessanten, 
wenn  auch  nicht  zahlreichen  Radiolarien  aus  der  Cyrtiden- Familie 
vertreten,  welche  den  Subfaniilien  der  Dicyrtiden  und  Sticho cyrtiden 
angehören.  Es  schliessen  sich  diese  Formen,  welche  zugleich  drei- 
strahlig  und  zweiseitig  symmetrisch  sind,  den  Triactinoten  (Homostaura 
anisopola  triactinota)  unmittelbar  an,  unterscheiden  sich  aber  durch 
die  Ungleichheit  der  drei  Kreuzaxen,  von  denen  entweder  zwei  gleich, 
die  dritte  ungleich,  oder  aber  alle  drei  ungleich  sind.  Nur  im  ersteren 
Falle  (Homopleura)  tritt  die  bilaterale  Symmetrie  deutlich  hervor  und 


50ß  System  der  organischen  Grundformen. 

Iässt  sich  eine  Medianebene  feststellen,  welche  den  Körper  in  zwei 
symmetrisch  gleiche  Hälften  trennt,  so  dass  wir  zwei  paarige  dorsale 
und  einen  unpaaren  ventralen  Radius  unterscheiden  können  und  dass 
auf  jede  Körperhälfte  ein  paariges  und  die  Hälfte  des  unpaaren 
Antinieres  kömmt.  Rechte  und  linke  Seite  sind  dann  symmetrisch 
gleich,  dorsale  und  ventrale  verschieden.  Sehr  deutlich  tritt  dies 
Verhältniss  bei  Dictyophimus  tripus  (Rad.  Taf.  VI,  Fig.  1)  und  bei 
Podocyrtis  charybdea  entgegen.  Die  Grundfläche  der  dreiseitigen 
rechtwinkeligen  Pyramide,  die  wir  uns  dann  aus  den  Axen  con- 
struiren  können,  ist  ein  gleichschenkeliges  Dreieck.  Sind  dagegen 
alle  drei  Kreuzaxen  ungleich  und  alle  drei  Antimeren  nur  ähnlich, 
aber  weder  symmetrisch  noch  congruent,  so  wird  die  Grundfläche  der 
Grundform  ein  ungleichseitiges  Dreieck,  und  es  tritt  die  heteropleure 
Triamphipleuren-Form  hervor;  dann  sind  ebenso  rechte  und  linke,  wie 
dorsale  und  ventrale  Seite  verschieden,  so  bei  Lithomelissa  thoracites, 
Eucyrtidium  anomalum  und  Dictyoceras  Virchowii  (Rad.  Taf.  VI,  Fig. 
2—8;  Taf.  VII,  Fig.  11—13;  Taf.  VIII,  Fig.  1—5).  Diese  letzteren 
Formen,  bei  denen  es  oft  sehr  schwierig  ist,  das  unpaare  ventrale 
Antimer  unter  den  drei  ungleichen  herauszufinden,  würden  streng- 
genommen als  Heteropleuren  von  den  ersteren,  rein  symmetrischen 
als  Homopleuren  zu  trennen  sein. 

Im  Pflanzenreiche  ist  die  Triamphipleuren-Form  ungleich  verbrei- 
teter. Es  gehört  hierher  wohl  die  grosse  Mehrzahl  der  Monocotyle- 
donen-Blüthen,  der  Orchideen,  Gramineen,  Cyperaceen  etc.  Auch  hier 
ist  bald  die  homopleure,  bald  die  heteropleure  Form  vorherrschend. 
Bei  den  Orchideen,  die  meist  die  homopleure  Triamphipleuren-Form 
sehr  schön  und  rein  zeigen,  ist  die  Blttthenhülle  (Perianthium)  der 
dreistrahligen  Blüthe  aus  zwei  Blattkreisen  gebildet  (Taf.  I,  Fig.  5). 
Die  drei  Blätter  des  äusseren  Kreises  sind  meist  gleich,  und  also 
dieses  Metamer  eigentlich  triactinot.  Von  den  drei  Blättern  des 
inneren  Kreises  dagegen  ist  das  unpaare  ventrale  sehr  auffallend  ge- 
staltet und  in  die  sogenannte  Honiglippe  (Labellum)  umgewandelt; 
gewöhnlich  ist  diese  bedeutend  grösser,  als  die  ihr  gegenüberstehenden 
beiden  Blätter  der  zwei  dorsalen  Antimeren.  Die  Medianebene  geht 
mitten  zwischen  den  beiden  letzteren  und  durch  die  Mittellinie  der 
Honiglippe  hindurch.  In  der  dreizähligen  und  bilateralen  Blüthe  der 
Gramineen  ist  gewöhnlich  nur  das  Metamer,  welches  die  drei  Staub- 
blätter trägt,  vollständig  entwickelt.  Von  den  drei  ursprünglich  gleich- 
massig  angelegten  Blättern  der  Bliithenhülle  (Perianthium)  bildet  sich 
das  eine  (äussere^Deckspelze  oder  Bauchblatt,  Palea  ventralis,  inferior, 
externa)  übermässig  aus,  während  die  beiden  anderen  zu  der  inneren, 
zweinervigen  Deckspelze  oder  dem  Rückenblatt  verwachsen  (Palea 
dorsalis,   binervis,   superior,    interna).     Von   den   drei    Blättchen    der 


Schienige  Grundformen.    Amphipleura.  507 

Nebenkrone  (Schüppchen  oder  Squamulae),  die  ebenfalls  ursprünglich 
gleichmässig  angelegt  sind,  kommt  die  innere,  die  Squamula  dorsalis, 
nicht  zur  Entwickelung,  und  auch  die  beiden  äusseren,  die  Squamulae 
ventrales,  bleiben  meist  sehr  klein.  Ebenso  kommt  von  den  drei 
Griffeln  der  dorsale  nicht  zur  Entwickelung.  Die  sagittale  oder 
mediane  Ebene  (Centralebene),  welche  die  dreistrahlige  Gramineen- 
blüthe  in  zwei  vollkommen  symmetrische  Seitenhälften  theilt,  geht 
also  hier  durch  die  Verwachsungslinie  der  beiden  dorsalen  Paleen, 
durch  die  Mittellinie  der  ventralen  Palea  und  durch  die  fehlgeschla- 
gene dorsale  Squamula  hindurch. 

Bei  den  meisten  Orchideen,  Gramineen,  Cyperaceen  und  über- 
haupt bei  den  meisten  triamphipleuren  Monocotyledonen- Blüthen  sind 
die  beiden  Seitenhälften  der  dreistrahligen  Blüthen  symmetrisch  gleich. 
Diesen  homopleuren  Blüthen  stehen  nur  wenige  heteropleure  gegen- 
über, bei  denen  die  beiden  Seitenhälften  (rechte  und  linke)  sich 
differenziren,  und  also  alle  drei  Autimeren  ungleich  werden,  so  z.  B. 
unter  den  Orchideen  Goodyera  discolor,  und  in  sehr  ausgezeichneter 
Weise  Canna,  welche  durch  den  Gonochorismus  der  Autimeren  in 
einem  hermaphroditischen  Metamere  merkwürdig  ist. 

Zweite  Untergattung  der  Zeugiten: 

Joch  paarige  Grundformen.    Zygopleura. 

« 

(Heterostaura  allopola  zygopleura.) 

„Bilateral -Symmetrische"  Formen  der  Autoren    in    der   dritten    (mittleren)   Be- 
deutung des  Begriffes. 

Stereometrische  Grundform :  Halbe  Rhombenpyramide  (G/ eichscheiiheligc  Pyramide) 

Die  wichtige  und  umfangreiche  Abtheilung  der  zygopleuren  Zeu- 
giten, die  wir  kurz  Zygopleuren  nennen,  verhält  sich  zu  den  amphi- 
pleuren  ebenso,  wie  unter  den  Toxomorphen  die  Orthostauren  zu  den 
Oxystauren.  Während  bei  den  Ainphipleuren,  wie  bei  den  Oxystauren, 
die  Antimerenzahl  drei,  fünf,  sechs  oder  mehr  beträgt  und  also  min- 
destens drei  radiale  oder  semiradiale  Kreuzebenen  vorhanden  sind, 
die  sich  demgemäss  unter  "spitzen  Winkeln  schneiden  müssen,  so 
finden  wir  bei  den  Zygopleuren,  wie  bei  den  Orthostauren ,  nur  zwei 
oder  vier  Antimeren  und  demgemäss  entweder  nur  eine  einzige  oder 
nur  zwei  radiale  Kreuzebenen.  Doch  besteht  ein  Unterschied  zwischen 
den  Zygopleuren  und  Orthostauren  darin,  dass  die  beiden  radialen 
Kreuzebenen  bei  den  letzteren  sich  stets  rechtwinkelig  kreuzen  müssen, 
während  dies  bei  den  ersteren  nicht  der  Fall  zu  sein  braucht. 

Wie  wir  als  Grundform  der  Amphipleuren  die  Hälfte  einer  amphi- 
thecten  Pyramide   von  4 -f- 2 n Seiten    erkannt   haben,    so  finden  wir, 


508  System  der  organischen  Grundformen. 

wenn  wir  die  allgemeine  Grundform  der  Zygopleuren  zu  bestimmen 
suchen,  diese  in  der  Hälfte  einer  amphithecten  Pyramide  von  vier 
Seiten,  also  in  einer  halben  Rhomben-Pyramide.  Demgemäss 
erhalten  wir  die  Zygopleuren-Form  ebenso  durch  Halbirung  der 
Orthostauren,  wie  die  Amphipleuren-Form  durch  Halbirung  der  Oxy- 
stauren. 

Die  halbe  Rhomben-Pyramide  ist  eine  gerade  Pyramide, 
deren  Basis  ein  halber  Rhombus,  also  ein  gleichschenkeliges  Dreieck 
ist.  Dieser  einfache  stereometrische  Körper  besitzt  alle  wesentlichen 
Eigenschaften,  welche  den  Character  der  Zygopleuren  bestimmen. 
Die  halbe  Rhomben -Pyramide  wird  nur  durch  eine  einzige  Ebene  in 
zwei  symmetrisch  gleiche  Hälften  zerlegt.  Diese  Halbirungsebene 
(Centralebene)  ist  die  Medianebene,  welche  durch  die  Hauptaxe 
(Pyramidenaxe)  und  durch  die  Mittellinie  der  Basis  (das  Loth  von 
der  Spitze  des  gleichschenkeligen  Dreiecks  auf  die  Grundlinie)  gelegt 
werden  kann.  Von  den  drei  Seitenflächen  der  gleichschenkeligen 
Pyramide,  wie  wir  die  halbe  Rhomben-Pyramide  nach  Beschaffenheit 
ihrer  Basis  auch  nennen  können,  sind  zwei  Seitenflächen  congruente 
ungleiehschenkelige  Dreiecke,  die  sich  in  der  Bauchkante  berühren 
und  in  Bezug  auf  ihre  entgegengesetzte  Lage  zu  dieser  als  S}Tmme- 
trisch  congruent  bezeichnet  werden  müssen.  Diese  beiden  Seiten  ent- 
sprechen der  rechten  und  linken  Körperfläche  der  Zygopleuren.  Die 
dritte  Seitenfläche  der  gleichschenkeligen  Pyramide  ist  ein  dreischenke  - 
liges  Dreieck,  welches  die  Grundlinie  der  Basis  ebenfalls  zur  Grund- 
linie hat.  Da  diese  der  Bauchkante  gegenüberliegt,  so  müssen  wir 
sie  als  Rückenseite  bezeichnen.  Die  Spitze  der  gleichschenkligen 
Pyramide  betrachten  wir,  wie  es  bei  allen  heteropolen  Stauraxonien 
geschehen  ist,  als  Aboralseite  oder  Antistomium,  die  Basis  als  Oral- 
seite oder  Peristomium. 

Wie  wir  bei  den  Orthostauren  als  zwei  besondere  Formen -Arten 
die  Tetraphragmen  mit  vier,  und  die  Diphragmen  mit  zwei  Antimeren 
unterscheiden  mussten,  so  müssen  wir  auch  bei  den  Zygopleuren  die- 
selben beiden  Arten  im  Princip  theoretisch  von  einander  trennen,  ob- 
wohl in  Wirklichkeit  die  Grundform  in  beiden  Fällen  wesentlich, 
nämlich  bezüglich  der  Verhältnisse  der  Axen  und  ihrer  Pole  nicht 
verschieden  ist.  Den  vierzähligen  Orthostauren  oder  Tetraphragmen 
entsprechen  die  aus  vier  Antimeren  zusammengesetzten  Zygopleuren, 
nämlich  die  Mehrzahl  aller  Würmer,  die  Zaphrentiden,  einige  Medusen 
(Steenstntpia,  Euphysa),  viele  Siphonophoren  und  unter  den  Pflanzen 
z.  B.  die  Blüthen  von  Iberis,  Reseda,  Betula  u.  s.  w.  Diese  vier- 
zähligen Zygopleuren  nennen  wir  Tetrazygopleura  oder  kurz 
Tetrapleura.  Den  zweizähligen  Orthostauren  oder  Diphragmen 
correspondiren  die  aus  zwei  Antimeren  zusammengesetzten  Zygopleuren, 


Jochpaarige  Grundformen.     Zygopleura.  509 

die  Personen  der  Wirbelthiere,  Arthropoden,  Weich-Thiere  und  viele 
morphologische  Individuen  niederer  Ordnung.  Diese  zweizähligen 
Zygopleureu  können  im  Gegensatz  zu  den  vierzähligen  als  Dizygo- 
pleura  oder  kurz  als  Dipleura  bezeichnet  werden. 

Genau  genommen  können  wir  die  gleichschenkelige  Pyra- 
mide oder  die  halbe  Rhomben-Pyramide  nur  als  die  Grundform  der 
zweizähligen  Zygopleuren,  nicht  als  diejenige  der  vierzähligen 
betrachten,  da  sie  nur  aus  zwei  Antimeren  zusammengesetzt  ist. 
Wollten  wir  einen  besonderen  geometrischen  Ausdruck  fürdieTetra- 
pleuren  suchen,  so  würden  wir  ihn  entweder  in  der  halben  acht- 
seitigen amphithecten  Pyramide  oder  in  einer  doppelt  gleich- 
schenkeligen  Pyramide  finden,  d.  h.  in  einer  Pyramide,  welche 
aus  zwei  ungleichen  gleichschenkeligen  Pyramiden  zusammengesetzt 
ist,  deren  congrueute  Rttckenflächen  zusammenfallen  (d.  h.  also,  deren 
Rückennächen  congruent  sind  und  die  mit  diesen  congruenten  Rücken- 
flächen  verwachsen  sind).  Die  Basis  dieser  doppelt  gleichschenkeligen 
Pyramide  ist  ein  doppelt  gleichschenkeliges  Trapez,  d.  h. 
ein  Trapez,  welches  aus  zwei  ungleichen  gleichschenkeligen  Dreiecken 
zusammengesetzt  ist,  die  über  derselben  Grundlinie  in  entgegengesetzten 
Richtungen  errichtet  sind  (die  also  mit  dieser  gleichen  Grundlinie  sich 
berühren;  vergl. Taf. 1,-Fig.  11,  r2r, r4 undr.jr3r4).  VondenvierSeitenflächen 
der  doppelt  gleichschenkeligen  Pyramide  sind  je  zwei  gegenüberliegende 
ungleich,  dagegen  die  beiden  in  der  Rückenkante  zusammenstossenden 
dorsalen  unter  sich  (symmetrisch)  congruent  und  ebenso  die  beiden 
in  der  Bauchkante  zusammentretenden  ventralen  unter  sich  (symme- 
trisch) congruent.  Die  beiden  rechten  Seiten  (dorsale  und  ventrale) 
sind  unter  sich  ebenso  verschieden,  wie  die  beiden  linken.  Die 
Ebenen,  welche  man  durch  die  Axe  der  doppelt  gleichschenkeligen 
Pyramide  (Hauptaxe)  und  jede  der  beiden  rechtwinkelig  gekreuzten 
Diagonalen  ihrer  Grundfläche  legen  kann,  sind  die  beiden  Richt- 
ebenen, von  denen  die  eine  die  andere  halbirt,  ohne  von  ihr  halbirt 
zu  werden.  Durch  die  (nicht  halbirte)  Sagittalebene  (r,r3)  wird  der 
Körper  in  zwei  symmetrisch  gleiche,  durch  die  (halbirte)  Lateralebene 
(r2r4)  in  zwei  symmetrisch  ähnliche  oder  ungleiche  Stücke  zerlegt.  Von 
den  vier  Antimeren,  in  welche  der  Tetrazygopleuren  -  Körper  durch 
die  beiden  Richtebenen  zerfallt,  sind  die  beiden  dorsalen  unter  sich 
symmetrisch  gleich,  und  ebenso  die  beiden  ventralen.  Dagegen  sind 
die  beiden  linken  Antimeren  (dorsales  und  ventrales)  unter  sich  nur 
positiv  ähnlich  und  ebenso  die  beiden  rechten.  Das  linke  ventrale 
ist  dem  rechten  dorsalen  negativ  ähnlich  und  ebenso  das  rechte  ven- 
trale dem  linken  dorsalen  (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  11  und  12). 

Für  die  Verhältnisse   der  Kreuzaxen  und  der   durch  sie  gelegten 
Kreuzebenen   hat  dieser  Unterschied  der  Tetrapleuren  und  Dipleuren 


510  System  der  organischen  Grundformen. 

ebenfalls  Bedeutung,  indem  bei  den  ersteren  nur  eine  einzige 
radiale  Kreuzebene  vorhanden  ist,  die  mit  der  Lateralebene 
zusammenfällt,  während  die  entsprechende  darauf  senkrechte  Int  er - 
radialebene  mit  der  Medianebene  identisch  ist.  Bei  den  Tetra- 
pleuren dagegen  sind  zwei  radiale  und  zwei  entsprechende  inter- 
radiale Kreuzebenen  vorhanden  und  es  fallen  hier  entweder  die 
beiden  radialen  oder  die  beiden  interradialen  Kreuzebenen  mit  den 
beiden  idealen  Richtebenen  zusammen. 

Obgleich  aus  dieser  Betrachtung  der  doppelt-gleichschenkeligen 
Pyramide  hervorgeht,  dass  diese  die  eigentliche  Grundform  der  vier- 
zähligen  Zygopleuren  ist,  so  können  wir  dieselbe  doch  nur  als  eine 
untergeordnete  Modifikation  der  einfachen  gleichschenkligen  Pyramide 
betrachten,  da  die  Verhältnisse  der  idealen  Axen  und  ihrer  Pole  in 
beiden  Fällen  ganz  dieselben  sind.  Bei  der  einen  wie  bei  der  anderen 
sind  von  den  drei  auf  einander  senkrechten  ungleichen  Euthynen  des 
Heterostauren- Körpers  zwei  ungleichpolig  (die  Hauptaxe  und  die 
Dorsoventralaxe),  die  dritte  gleichpolig  (die  Lateralaxe).  Als  gemein- 
same Grundform  aller  Zygopleuren  können  wir  demnach  die 
gleichschenkelige  Pyramide  festhalten  und  ein  Gewicht  auf  die 
Unterscheidung  der  einfach-  und  der  doppelt-gleichschenkeligen 
nur  insofern  legen,  als  durch  die  erstere  die  homotypische  Zweizahl 
der  Dipleuren,  durch  die  letztere  die  homotypische  Vierzahl  der  Tetra- 
pleuren  bezeichnet  wird. 

Wichtigere  Modifikationen  der  gemeinsamen  Grundform,  als  durch 
die  Antimeren-Zahl  Zwei  oder  Vier,  werden  dadurch  bedingt,  dass 
unter  den  Zygopleuren  weit  häufiger,  als  unter  den  Amphipleureu 
die  Heteropleurie  auftritt,  also  Ungleichheit  der  beiden  Pole  der 
Lateralaxen,  bedingt  entweder  durch  ursprünglich  ungleiche  Anlage 
oder  durch  späteres  ungleiches  Wachsthum  der  beiden  Seitenhälften, 
oder  durch  besondere  Einflüsse,  welche  auf  die  Differenzirung  der 
Rechten  und  Linken  bedingend  einwirken.  Insbesondere  unter  den 
Dipleuren  sind  diese  Heterozygopleuren -Formen  sehr  häufig  und  be- 
dingen dort  z.  B.  die  Spiraldrehung  der  Gasteropoden ,  die  charac- 
teristische  Form  der  Pleuronectiden  u.  s.  w.  Viel  seltener  sind  die 
Heteropleuren  unter  den  Tetrapleuren,  z.  B.  Äbijla.  Eine  bestimmte 
geometrische  Grundform  für  alle  Heterozygopleuren  lässt  sich  kaum 
allgemein  feststellen,  da  der  augenfällige  Character,  welcher  die 
Homozygopleuren  auszeichnet,  die  symmetrische  Gleichheit  der  beiden 
Seitenhälften,  hier  verloren  geht.  Ganz  allgemein  könnte  man  als 
Grundform  der  Heterozygopleuren  allenfalls  eine  ungleich  dreiseitige 
Pyramide  aufstellen,  oder  genauer  noch  als  Promorphe  der  hetero- 
pleuren Tetrapleuren  eine  ungleich  vierseitige,  als  Promorphe  der 
heteropleuren  Dipleuren  eine  ungleich  dreiseitige  Pyramide.     Da  je- 


Jochpaarige  Grundformen.     Zygopleura.  511 

doch  die  Heterozygopleuren  ihre  nahe  Verwandtschaft  mit  den  nächst- 
stehenden Homozygopleuren  niemals  verleugnen  und  namentlich  die 
Erkenntniss  der  drei  ungleichen  Euthyneu,  der  Hauptaxe  und  der  beiden 
Richtaxen,  obwohl  alle  drei  ungleichpolig  sind,  keinen  Schwie- 
rigkeiten unterliegt,  so  können  wir  die  einzelnen  Seiten,  Axen  und 
Pole  der  Heteropleuren  stets  durch  Vergleiehung  mit  den  nächst- 
verwandten Homopleuren  bestimmen  und  benennen. 

Wir  können  also,  indem  wir  auch  hier  von  der  Betrachtung  der 
homopleuren  Zygopleuren  ausgehen  müssen,  allgemein  als  die  Grund- 
form der  Zygopleuren  die  gleichschenkelige  Pyramide  oder 
halbe  Rhomben-Pyramide  festhalten  und  deuten  ein  für  allemal  die 
einzelnen  Theile  derselben  in  folgender  Weise:  1)  die  Basis  der 
gleichschenkligen  Pyramide  ist  die  Mundseite  oder  Peristomfläche 
des  Zygopleuren-Körpers;  2)  die  Spitze  der  Pyramide  (Apex)  und  ihre 
Umgebung  ist  die  Gegenmundseite  oder  Antistomfläche ;  3  und  4)  die 
(paarigen)  beiden  symmetrisch  -congruenten  Seiten  der  Pyramide  sind 
die  rechte  und  linke  Seite;  5)  die  (unpaare)  gleichschenkelig  drei- 
eckige Seite  der  Pyramide  ist  die  Rückenfläche  (Dorsurn);  6)  die  dem 
Dorsum  gegenüberliegende  (unpaare)  Kaute  der  Pyramide,  in  welcher 
rechte  und  linke  Seite  zusammenstossen,  ist  die  Bauchfläche  (Venter) 
des  Zygopleuren-Körpers  (Yergl.  Taf.  1,  Fig.  11,  12,  14). 

Erste  Art  der  Zygopleuren: 
Zweipaarige.      Tetrapleura. 

(Tetrazygopleura.     Zygopleura  tetramera.) 
Paarige  Bilaterafformen  mit  zwei  Paar  Anlimeren. 
Stereomet  tische   Grundform :  Doppelt-gleichsclienkelige  Pyramide. 
(Halbe  Rhomben- Pyramide  mit  vier  Antimeren.)     Taf.  I,  Fig.   11,   12. 

Die  zahlreichen  Thierformen,  welche  wir  nach  den  vorhergehenden 
Untersuchungen  zu  den  Tetrapleuren  rechnen  müssen,  haben  bisher 
noch  nirgends  Berücksichtigung  gefunden,  obschon  dieselben  ebenso 
sehr  als  die  Ctenophoren,  eine  besondere  Abtheilung  in  dem  Aggregat 
der  sogenannten  bilateral-symmetrischen  Thiere  zu  bilden  beanspruchen. 
Es  gehört  hierher  der  grosse  formenreiche  Kreis  der  Würmer  (zum 
grössten  Theil !),  ferner  eine  ziemliche  Anzahl  von  Coelenteraten,  und 
zwar  sowohl  Hydromedusen  (namentlich  Siphonophoren)  als  Anthozoeu 
(die  Zaphrentiden);  endlich  eine  Reihe  von  vierzähligen  Dicotyledonen- 
Blüthen,  welche  diesen  völlig  entsprechen,  z.  B.  von  Iberis,  Reseda, 
Betula  etc.). 

Der  wesentliche  Unterschied  dieser  vierzähligen  Zygopleuren  von 
den    zweizähligen    (oder    den    „bilateral -symmetrischen"    Formen   im 


512  System  der  organischen  Grundformen. 

vierten  Siniie  des  Wortes)  beruht  darin,  dass  ihr  Körper  aus  vier, 
und  nicht  aus  zwei  Antimeren  zusammengesetzt  ist.  Doch  bleibt 
diese  Differenz,  wie  schon  im  Vorhergehenden  auseinandergesetzt 
wurde,  insofern  ohne  wesentliche  Bedeutung,  als  die  Verhältnisse  der 
drei  idealen  Axen  und  ihrer  Pole  in  beiden  Fällen  dieselben 
sind;  in  beiden  ist  die  Lateralaxe  gleichpolig,  die  beiden  anderen 
(Dorsoveutralaxe  und  Hauptaxe)  ungleichpolig.  Dagegen  äussert  sich 
der  Unterschied  zwischen  Beiden  schärfer  in  den  Verhältnissen  der 
realen  Kreuzaxen  und  der  durch  sie  gelegten  realen  Kreuz- 
ebenen, indem  bei  den  Dipleuren  deren  nur  zwei,  eine  radiale  und 
eine  interradiale  Kreuzebene,  vorhanden  sind,  von  denen  die  erstere 
mit  der  lateralen,  die  letztere  mit  der  medianen  Ebene  zusammenfällt, 
während  bei  den  Tetrapleuren  deren  vier,  zwei  radiale  und  zwei 
interradiale  Kreuzebenen,  vorhanden  sind,  von  denen  bald  die  beiden 
ersteren,  bald  die  beiden  letzteren,  mit  den  beiden  Richtebenen  oder 
idealen  Kreuzebenen  (lateraler  und  medianer)  zusammenfallen. 

Wenn  wir  die  vier  realen  Kreuzaxen  und  die  (durch  sie  und  die 
Hauptaxen  gelegtem  vier  realen  Kreuzebenen  der  Tetrapleuren  und 
ihr  Verhältniss  zu  den  beiden  idealen  (lateraler  und  medianer)  noch 
einen  Augenblick  näher  ins  Auge  fassen,  und  zwar  bei  denjenigen 
Tetrapleuren,  welche  wir  im  folgenden  Abschnitt  als  interradiale 
Eutetrapleuren  unterscheiden  werden  (wie  z.  B.  bei  den  Zaphrentiden), 
so  ergiebt  sich,  dass  bei  diesen  Formen  nur  die  eine  Interradialebene 
(die  sagittale)  mit  der  einen  idealen  Kieuzebene  (der  medianen) 
stets  zusammenfällt,  während  dagegen  die  andere  Interradialebene, 
welche  sich  aus  rechtem  und  linkem  Interradial-Septum  zusammensetzt, 
oft  nicht  mit  der  anderen  idealen  Kreuzebene  (der  lateralen)  zusammen- 
fällt. Vielmehr  bilden  die  beiden  Hälften  der  lateralen  Interradialebene, 
das  linke  und  rechte  interradiale  Septum,  welche  bei  den  Zaphren- 
tiden häufig  als  Septalgruben  ausgebildet  sind,  mit  der  idealen  Lateral- 
ebene, da,  wo  sie  in  der  Hauptaxe  mit  ihr  zusammenstossen,  oft  einen 
spitzen  Winkel,  der  auf  beiden  Seiten  gleich  ist.  Nur  wenn  dieser 
Winkel  ein  rechter  wird,  wie  bei  manchen  Anneliden,  fällt  die  reale 
und  ideale  Lateralebene  zusammen.  Weitere  Unterschiede  in  den 
Verhältnissen  der  realen  zu  den  idealen  Kreuzaxen  veranlassen  uns, 
die  Gruppe  der  Eutetrapleuren  in  die  beiden  Abtheilungen  der  radialen 
und  interradialen  Eutetrapleuren  zu  spalten  (Taf.  I,  Fig.  11  und  12). 

Die  Heteropleurie,  die  Ungleichheit  der  rechten  und  linken 
Seitenhälfte,  ist  bei  den  Tetrapleuren  weit  seltener  als  bei  den  Di- 
pleuren, bildet  jedoch  da,  wo  sie  vorkommt,  wie  bei  den  Siphonopbo- 
reu,  so  ausgezeichnete  Formen,  dass  wir  die  Betrachtung  der  hetero- 
pleuren  von  derjenigen  der  homopleuren  trennen  müssen.  Die  ersteren 
nennen  wir  kurz  Eutetrapleura,  die  letzteren  Djstetrapleura. 


Zweipaarige  Grundformen.     Tetrapleura.  513 

Erste  Unterart  der  Tetrapleuren : 

Gleichhälftige  Zweipaarige.     Eutetrapleura. 

(Tetrapleura  honiopleura.) 

Stereometrische  Grundform:   DoppeltglekhschenkßUge  Pyramide  mit  zwei  sym- 
metrisch-gleichen  Seitenhälften  (oder  Amtvparallelogramm  -  Pyramide). 

Zu  der  Abtheilung  der  tetrapleuren  Zygopleuren  mit  symmetrisch- 
gleicher rechter  und  linker  Seitenhälfte  rechnen  wir  erstens  den 
grössten  Theil  des  umfangreichen  Würmer-Kreises,  und  zweitens  eine 
grosse  Anzahl  von  Coelenteraten,  nämlich  aus  der  Klasse  der  Hydro- 
medusen  viele  Siphonophoren,  und  aus  der  Anthozoen-Klasse  viele 
Rugosen,  insbesondere  die  Zaphrentiden.  Von  den  Dicotyledonen- 
Bltithen  gehören  dahin  die  Blüthen  einiger  Cruciferen  (z.  B.  Iberis) 
und  Dipsaceen  (z.  B.  Scabiosa),  ferner  von  Reseda,  Betula  etc. 

Wir  können  unter  den  Eutetrapleuren  zwei  untergeordnete  For- 
mengruppen unterscheiden,  solche  nämlich,  bei  denen  die  Medianebene 
mit  einer  radialen  und  solche,  bei  denen  sie  mit  einer  interradialen 
Kreuzebene  zusammenfällt.  Die  ersteren  können  wir  radiale,  die 
letzteren  interradiale  nennen.  Bei  den  radialen  Eutetrapleuren  (z.  B. 
bei  vielen  Siphonophoren,  vielen  Dipsaceen  etc.)  finden  wir  ein  un- 
paares  dorsales  und  ein  unpaares  ventrales  Antimer,  dazwischen  zwei 
paarige  laterale,  rechtes  und  linkes.  Bei  den  interradialen  Eutetra- 
pleuren dagegen  finden  wir  (z.  B.  bei  den  Zaphrentiden,  Iberis  und 
anderen  Cruciferen),  ein  dorsales  und  ein  ventrales  Antimeren-Paar, 
jedes  aus  einem  rechten  und  einem  linken  Antimer  zusammengesetzt. 

Erste  Abtheilung  der  gleichhälftigeu  Zweipaarigen : 

Eutetrapleura  radialia. 

Eutetrapleuren  mit  radialer  Medianebene  und  mit  drei  verschiedenen  Antimeren- 

Formen. 

Realer  Typus:   Praya  (oder  Reseda)  Taf.  I,  Fig.  11. 

Bei  den  radialen  Eutetrapleuren  besteht  jede  Körperhälfte,  rechte 
und  linke,  aus  einem  ganzen  (lateralen)  und  aus  zwei  halben 
Antimeren  (der  Hälfte  des  dorsalen  und  der  Hälfte  des  ventralen). 
Die  Medianebene  wird  durch  eine  radiale  Kreuzebene  gebildet. 
Es  ist  dies  der  Fall  bei  vielen  Siphonophoren,  einigen  Craspedoten 
und  bei  den  Blüthen  von  Reseda,  Betula,  einigen  Dipsaceen  etc. 

Unter  den  Siphonophoren  sind  ausgesprochene  radiale  Eute- 
trapleuren-Bildungen  nicht  selten,  und  namentlich  oft  in  den  Schwimm- 
glocken, seltener  in  den  Deckstücken  und  Geschlechtsglocken,  sehr 
rein  entwickelt.  Als  ausgezeichnete  Beispiele  mögen  die  Schwimm- 
stücke vieler  Diphyiden  und  Prayiden,  ferner  sehr  vieler  Physophoriden, 

Haeckel,   Generelle  Morphologie.  33 


514  System  der  organischen  Grundformen. 

bezeichnet  werden,  so  z.  B.  von  Diphyes  quadrivahis,  D.  gracilis,  Vogtia 
pentacantha  etc.  Nicht  so  häutig  als  in  den  Locomotiven  bleibt  die 
radiale  Eutetrapleuren-Form  in  den  Deckstücken  erhalten,  sehr  deut- 
lich bei  einigen  Prayiden  und  Diphyiden,  z.  B.  in  dem  cubischen 
Deckstiick  der  Einzeiligere  von  Abyht  pentagona,  Häufiger  geht  bei 
den  Deckstücken  die  Eutetrapleuren-Form  in  die  Eudipleuren-Form 
über.  Ebenso  findet  sie  sich  selten  in  den  Geschlechtsglocken,  da 
diese  in  der  Regel  Tetractinoten  sind;  eine  sehr  auffallende  Ausnahme 
bilden  z.  B.  die  Genitalglocken  von  Praya  maxima,  wo  die  Median- 
ebene durch  die  diametral  gegenüberstehenden  beiden  ungleichen 
Flügel  der  Glocke  sehr  scharf  bestimmt  ist.  Das  dorsale  Antimer  ist 
hier  durch  einen  breiten,  das  ventrale  Antimer  durch  einen  schmalen 
Flügel  ausgezeichnet,  während  die  beiden  symmetrisch-gleichen  late- 
ralen Antimeren  (rechtes  und  linkes)  flügellos  sind.1)  Aus  der 
Hydromedusen-Klasse  sind  ausser  den  genannten  Siphonophoren  auch 
noch  einige  craspedote  Medusen  der  Eutetrapleuren-Form  zuzu- 
zählen, diejenigen  Oceaniden  nämlich,  Steenstrupia,  Eupkysa  und 
einige  andere,  bei  denen  nur  ein  einziger  entwickelter  Radialtentakel 
vorhanden  ist,  der  als  dorsaler  den  dorsalen  Radius  und  dadurch  die 
Medianebene  bestimmt.  Von  den  drei  übrigen  Radien,  welche  gar 
keine  oder  nur  unvollständig  entwickelte  Radialtentakeln  zeigen,  ist 
der  mittlere  unpaare,  welcher  den  dorsalen  gegenübersteht,  als  ventraler, 
und  die  beiden  anderen  paarigen  als  rechter  und  linker  zu  bezeichnen. 
Von  den  Dicotyledonen-  Sprossen  sind  zu  der  radialen  Eutetra- 
pleuren-Form die  Blüthen  von  Reseda,  Betula  und  von  vielen  Dip- 
saceen,  namentlich  Scabiosen  zu  rechnen  (z.  B.  Succisa  pratensis, 
Knautia  arcensis).  Die  vier  Blumenblätter  dieser  Tetrapleuren  sind  in 
der  Weise  ungleich  ausgebildet,  dass  einem  besonders  entwickelten 
(ventralen)  Blumenblatt  ein  verschieden  gebildetes  (dorsales)  unpaar 
gegenübersteht,  während  sich  beiderseits  derselben  rechtes  und  linkes 
Blumenblatt  symmetrisch  -  gleich  ordnen.  Ais  dorsales  Blumenblatt 
können  wir  hier  allgemein  dasjenige  bezeichnen,  welches  der  Haüpt- 
axe  des  Stockes  zugekehrt,   als  ventrales  dasjenige,   welches   von  ihr 


')  Da  bei  den  Siphonophoren  die  Eutetrapleuren-Form  auf  das  Vielfältigste 
durch  allmählige  Uebergäuge  einerseits  mit  der  Tetractinoten-  und  Tetrarithmen-, 
andererseits  mit  der  Eudipleuren-,  Dystetrapleuren-  und  Dysdipleuren-Form  ver- 
bunden ist,  so  erscheint  es  im  einzelnen  Falle  oft  sehr  schwierig  ztf  bestimmen, 
welcher  dieser  5  Grundformen  das  vorliegende  Siphonophoren- Individuum  an- 
gehört. Als  radiale  Eutetrapleure  dürfen  nur  diejenigen  angesehen  werden,  bei 
denen  die  4  Antimeren  entweder  durch  4  Kanten  oder  durch  die  4  Radialeaimle 
noch  deutlich  bezeichnet  werden,  und  bei  denen  von  diesen  4  Antimeren  2  ge- 
genüberliegende (rechts  und  links),  symmetrisch-gleich,  die  beiden  dazwischen 
liegenden  (duinalea  und  ventrales)  dagegen  ungleich  (ähnlich)  sind. 


Zweipaarige  Grundformen.     Tetrapleura.  515 

abgewandt  ist.  Bei  Reseda  (Taf.  I,  Fig.  11)  z.  B.  ist  das  (obere)  dorsale 
Blumenblatt  das  grösste,  in  fünf  bis  sieben  lineale  Zipfel  gespalten, 
das  entgegengesetzte  (untere)  ventrale  Blumenblatt  das  kleinste,  tief 
zweispaltig;  die  beiden  seitlichen,  symmetrisch -gleichen  (rechtes  und 
linkes)  sind  flach  dreispaltig.  Bei  den  tetrapleuren  Dipsaceen-Blüthen 
ist  umgekehrt  das  untere  (ventrale)  Blumenblatt  das  grösste. 

Zweite  Abtheilung  der  gleichhälftigen  Zweipaarigen: 

Eutetrapleura  interradialia. 

Eutetrapleuren  mit  interradialer  Medianebene  und  mit  zwei  verschiedenen 

Antimeren  -  Formen. 
Realer  Typus:  N  er  eis  (oder  Iberis)  Taf.  1,  Fig.  12. 
Bei  den  interradialen  Eutetrapleuren  besteht  jede  Körperhälfte 
(rechte  und  linke)  aus  zwei  ganzen  Antimeren  oder  aus  einem 
Antimeren -Paare,  und  jedes  Paar  wiederum  aus  zwei  ungleichen, 
einem  dorsalen  und  einem  ventralen  Antimer.  Die  Medianebene  wird 
durch  eine  int  er  radiale  Kreuzebene  gebildet.  Die  interradialen 
Eutetrapleuren  unterscheiden  sich  demgemäss  von  den  radialen  dadurch 
sehr  wesentlich,  dass  der  Körper  der  ersteren  aus  zwei  Paaren  sym- 
metrisch-gleicher Antimeren  zusammengesetzt  ist,, während  bei  den 
letzteren  derselbe  aus  einem  Paare  symmetrisch  -  gleicher  und  aus 
einem  Paare  ähnlicher  oder  ganz  ungleicher  Antimeren  besteht.  Auch 
die  Antimeren  selbst  sind  bei  beiden  verschieden.  Bei  den  inter- 
radialen Eutetrapleuren  besteht  jedes  Antimer  aus  zwei  ungleichen 
(ähnlichen)  Hälften  und  besitzt  daher  selbst  die  Dysdipleuren-Form, 
während  dies  bei  den  radialen  Eutetrapleuren  nur  mit  dem  lateralen 
Antimeren  -  Paar  der  Fall  ist,  das  dorsale  Antimer  dagegen  und 
ebenso  das  ventrale  aus  zwei  symmetrisch  gleichen  Hälften  besteht 
und  die  Eudipleuren-Form  besitzt.  Als  interradiale  Eutetrapleuren 
müssen  wir  die  grosse  Mehrzahl  aller  Würmer  betrachten,  ferner  die 
Zaphrentiden  unter  den  Anthozoen,  und  von  den  Dicotyledonen  eine 
Anzahl  Cruciferen-Blüthen  (Iberis)  und  einige  Andere. 

Die  Vertreter  der  interradialen  Eutetrapleuren-Form  im  Coelenteraten- 
Stamme  sind  die  Zaphrentiden,  eine  umfangreiche  Familie  aus  der  Ord- 
nung der  fossilen  Rugosen,  die  man  bisher  meistens,  und  wohl  mit  Recht, 
*  zu  den  Anthozoen,  neuerdings  aber  auch  zu  den  Hydromedusen  gerechnet 
hat.  Sämmtliche  Rugosen  stimmen  mit  der  Mehrzahl  der  Hydromedusen 
durch  die  homotypische  Vierzahl  überein,  während  sie  durch  die  interra- 
dialen Septa  der  perigastrischen  Höhle  sich  den  sechszähligen  Madreporarien 
unmittelbar  anschliessen.  Bei  den  meisten- Rugosen -Familien,  den  Cysti- 
phylliden,  Cyathophylliden  und  Stauriden,  sind  die  4  Antimeren  vollkommen 
congruent  und  also  die  Tetractinoten-Form  so  rein,  wie  bei  den  Medusen 
ausgebildet.  Die  Grenze  zwischen  den  4  Antimeren  ist  ganz  scharf  durch 
das  rechtwinkelige  Kreuz  der  4  prünaeren  interradialen  Septa  (Leisten  oder 

33* 


516  System  der  organischen  Grundformen. 

Sternleisten)  ausgesprochen.  Schon  bei  den  Cyathaxoniden  tritt  aber 
in  dem  sonst  regulären  Kelche  eine  Differenzirung  dadurch  ein,  dass  an 
einem  (ventralen)  Pole  der  Dorsoventralaxe  das  eine  Septum  schwächer  ent- 
wickelt ist,  und  an  seiner  Stelle  eine  Septalgrube  auftritt.  Bei  den  Zaphren- 
tiden  nimmt  diese  ventrale  Septalgrube  so  sehr  an  Ausdehnung  zu,  und 
zugleich  entwickelt  sich  das  gegenüberstehende  dorsale  Septum  so  stark, 
dass  die  beiden  lateralen  Septa  rechts  uud  links  dahinter  zurückbleiben  und 
sich  symmetrisch  -  gleich  zu  beiden  Seiten  der  Medianebene,  welche  durch 
die  ventrale  Septalgrube  und  das  gegenüberstehende  unpaare  (dorsale) 
Septum  bestimmt  ist,  ordnen.  Der  Winkel,  den  das  rechte  und  linke  Septum 
mit  dem  stärker  entwickelten  dorsalen  Septum  bilden,  ist  meist  spitz,  und  wird 
um  so  spitzer,  je  stärker  sich  das  dorsale  auf  Kosten  des  ventralen  Septum 
(der  Septalgrube)  ausbildet.  Die  Sternleisten  niederer  Ordnung,  die  secun- 
dären,  tertiären  Septa  u.  s.  w.,  welche  zwischen  den  4  primären  Interradial- 
leisten  stehen,  ordnen  sich  zugleich  so  zwischen  diesen,  dass  der  ganze 
Kelch  regelmässig  gefiedert  erscheint  Unter  den  Siphonophoren  schei- 
nen interradiale  Tetrapleuren ,  welche  in  der  Grundform  ganz  mit  den 
Zaphrentiden  übereinstimmen,  ebenfalls  vorzukommen,  wenn  auch  nur  selten, 
so  z.  B.  die  Schwimmglocken  von  Apolemia. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  in ter radiale  E  utetrapl  euren - 
Form    desshalb,    weil    wir    die    grosse   Mehrzahl    aller  Würmer    hierher 
rechnen   müssen.     Man   hat  bisher   die   sämmtlichen  Würmer    ohne  Unter- 
schied mit  den  Wirbelthieren,  Arthropoden  und  Weichthieren  als  Bilateral- 
Symmetrische    zusammengestellt.      Nur  Bronn    hat,    wie    oben    angeführt 
wurde,  die  Acanthocephalen  und  Cestoclen  als  „Sagittalfornien"  von   ihnen 
getrennt;    diese   gehören   in   der  That  meistens   zu  den  Toxomorphen  und 
zwar  theils  zu  den  Tetraphragmen,  theils  zu  den  Diphragmen.     Allein  auch 
den  grössteu  Theil   der  übrigen  Wü-rmer   können   wir   nicht   mit  jenen   an- 
deren „Hemisphenoid-Formen"  vereinigt  lassen,   da  sie  sich  von  ihnen  we- 
sentlich   durch    die  Zusammensetzung    des  Körpers   aus    vier  Antimeren 
unterscheiden.     Dies  gilt  insbesondere  von  den  meisten   Anneliden,   Chae- 
tognathen  [Sagitta),    Nemertinen ,    Nematoden    etc.     Wie    der  Querschnitt 
jedes  Annelides    (Taf.  I,  Fig.  12)  und   der  meisten   anderen   Würmer  lehrt, 
wiederholen  sich    in  jedem  der  vier  Metameren  -  Quadranten,  welche  durch 
die   Medianebene     und     die     darauf    senkrechte    Lateralebene    geschieden 
werden,    dieselben    wesentlichen    Organe    in    derselben    gegenseitigen    La- 
gerung,   Zahl    u.  s.  Vf.,   und    wir    dürfen   diese  Quadranten    somit  wirklich 
als  Antimeren  betrachten.     Bei  denjenigen  Anneliden,   welche  die  Eutetra- 
pleuren-Form  am   reinsten  zeigen,    besitzt  jeder  Quadrant   eines  Metamers 
(also  jedes  einzelne  Antimer)  einen  Fussstummel  (Parapodium)  nebst  zuge- 
hörigen Theilen,  ein  Längsgefäss,  ein  Muskelfeld  etc.     Ebenso  deutlich  zei- 
gen  die   eutetrapleure  Grundform   auch   die  meisten  Echinodermen-Ammen, 
welche   man  gleichfalls    gewöhnlich   als  „bilateral-symmetrische"  betrachtet, 
und  wir  finden  hierin  einen  neuen  Beweis  für  ihren  genealogischen  Zusam- 
menhang mit  den  Würmern. 

Es    ist    sehr  bemerkenswerth,    dass    in    der    höchststehenden  Würmer- 
klasse, bei  den  Anneliden,    die  interradiale  Eutetrapleuren-Form   am 


Zweipaarige  Grundformen.     Tetrapleura.  517 

schärfsten  ausgeprägt  erscheint  (Fig.  12).  Wie  bei  den  Zaphrentiden,  besteht 
jede  der  beiden  symmetrisch  gleichen  Körperhälften  (rechte  und  linke)  aus  zwei 
ganzen  Antimeren,  einem  dorsalen  und  einem  ventralen.  Je  mehr  diese  sich 
differenziren,  je  mehr  zugleich  jede  Körperhälfte  sich  dadurch  centralisirt» 
desto  mehr  geht  die  eutetrapleure  in  die  eudipleure  Form  über;  je  weniger 
die  beiden  Antimeren  jeder  Seitenhälfte  verschieden  sind,  desto  mehr  nähert 
sie  sich  der  Tetrarithmen-Forai,  welche  in  den  Proglottiden  vieler  Taenien 
sehr  rein  ausgebildet  ist  und  in  den  „regulären"  Scolices  zur  tetractinoten 
Grundform  wird.  Dieser  schon  oben  (p.  494)  hervorgehobene  Zusammen- 
hang der  verschiedenen  tetrameren  Grundformen  erscheint  uns  von  sehr 
grosser  Bedeutung  für  die  Vorstellung  von  der  Entstehung  derselben  und 
insbesondere  von  der  Entwickelung  der  höheren  aus  den  niederen  Formen. 
Besonders  möchten  wir  dabei  noch  auf  den  möglichen  genealogischen  Zu- 
sammenhang der  Wirbelthiere  mit  den  Würmern  hinweisen,  wie  er  im  sechs- 
ten Buche  erläutert  werden  soll.  Auch  die  niederen  Wirbelthiere  zeigen 
noch  sehr  deutlich  ihre  ursprüngliche  tetrapleure  Zusammensetzung  aus 
4  Antimeren/  so  z.  B.  im  Schwänze  der  Fische  und  Amphibien.  Höchst 
wahrscheinlich  ist  auch  hier  die  höhere  dipleure  Form,  welche  alle  ausge- 
bildeten Wirbelthiere  zeigen,  erst  secundär  aus  der  tetrapleuren  hervorge- 
gangen, wie  dies  bei  den  Arthropoden  unzweifelhaft  der  Fall  ist. 

Unter  den  Dicotyledonen-Blüthen  finden  wir  die  interradiale  Eutetra- 
pleuren  -  Form  in  Iberis  und  einigen  anderen  Cruciferen  mit  sogenannten 
„strahlenden  Blüthen"  eben  so  rein  und  vollständig,  als  in  den  Würmern 
und  den  Zaphrentiden  ausgesprochen.  Die  beiden  grösseren  („äusseren") 
von  dem  Hauptspross  abgewandten  Blumenblätter,  welche  symmetrisch- gleich 
sind,  entsprechen  dem  ventralen  Antimereu-Paar;  die  beiden  kleineren 
(„inneren")  dem  Hauptspross  zugewandten  Blumenblätter,  welche  eben- 
falls unter  sich  symmetrisch  gleich  sind,  dem  dorsalen  Antimeren-Paar.  Die 
beiden  kleineren  von  den  6  Staubfäden  (das  entwickelte  Paar  des  äusseren 
Kreises)  liegen  in  der  lateralen  Richtebene,  die  beiden  abortirten  Staubfäden 
des  äusseren  Kreises  (dorsaler  und  ventraler)  in  der  Medianebene. 

Wir  haben  hier  die  interradiale  Eutetrapleuren-Form  nach  der 
radialen  aufgeführt,  weil  uns  die  erstere  im  Ganzen  genommen  die 
höhere  und  vollkommenere  zu  sein  scheint  Es  geht  dies  namentlich 
daraus  hervor,  dass  dieselbe  sich  unmittelbar  an  die  Eudipleuren-Form 
anschliesst.  Bei  Beiden  fällt  die  Medianebene  mit  einer  int  er- 
radiale u  Kreuzebene  zusammen.  Sobald  sich  die  beiden  Antimeren 
jeder  Seitenhälfte  einer  interradialen  Eutetrapleuren-Form  stark  diffe- 
renziren und  eine  straffere  Centralisation  aller  vier  Antimeren  eintritt, 
geht  dieselbe  unmittelbar  in  die  Eudipleuren-Form  über  (Arthropoden, 
Vertebraten).  Auch  stimmt  die  interradiale  Eutetrapleuren-Form  darin 
mit  der  Eudipleuren-Form  überein,  dass  die  Grundform  jedes  einzelnen 
Antimeres  die  dysdipleure  ist  (Vgl.  Taf.  I,  Fig.  11  und  12). 

Andererseits  müssen  wir  jedoch  schliesslich  hervorheben,  dass  die 
radiale  Eutetrapleuren-Form  uns  in  einer  Beziehung  wenigstens  voll- 


518  System  der  organischen  Grundformen. 

kommener  und  höher  als  die  interradiale  erscheint.  Es  ist  nämlich 
thatsächlich  die  radiale  Eutetrapleuren-Form  nieist  aus  drei 
verschiedenen  Arten  von  Anti nie ren  zusammengesetzt,  einer 
dorsalen,  einer  ventralen  und  einer  lateralen  Form  (letztere  die  beiden 
seitlichen  Gegenstücke  bildend).  Dagegen  finden  wir  die  interradiale 
Eutetrapleuren-Form  stets  aus  zwei  verschiedenen  Arten 
von  Antimeren  zusammengesetzt,  einer  dorsalen  und  einer 
ventralen  Form,  von  denen  jede  zwei  seitliche  Gegenstücke  bildet. 

Zweite  Unterart  der  Tetrapleuren : 

Ungleichhälftige  Zweipaarige.     Dystetrapleura. 

(Tetrapleura  heteropleura.) 

Stereometrische    Grundform:    Doppeltgleichschenhelige    Pyramide    mit   zwei    un- 
gleichen Seitenhälften  (oder  ungleich -vierseitige  Pyramide). 

Realer  Typus:    Abyla. 

Weit  seltener  als  die  Tetrapleuren  mit  symmetrisch-gleichen 
Seitenhälften  oder  die  (homopleuren)  Eutetrapleuren  sind  diejenigen 
mit  ungleichen  (oder  negativ  ähnlichen)  Seitenhälften,  die  hetero- 
pleuren,  welche  wir  als  Dystetrapleuren  bezeichnen  wollen.  Es 
ist  diese  Form  in  sehr  ausgezeichneter  Weise  durch  mehrere  Sipho- 
nophoren  repräsentirt. 

Bei  den  Dystetrapleuren  finden  wir,  wie  bei  den  Dysdipleuren 
(Pleuronectiden,  spiraligen  Gasteropoden  etc.),  drei  ungleiche  und 
ungleichpolige  auf  einander  senkrechte  ideale  Axen.  Dem  entsprechend 
sind  auch  die  säinmtlichen  realen  Kreuzaxen,  radiale  sowohl  als  inter- 
radiale,  ungleich  und  ungleichpolig.  Die  vier  Antimeren,  durch  welche 
sich  die  Dystetrapleuren  von  den  aus  zwei  Antimeren  gebauten  Dys- 
dipleuren unterscheiden,  sind  oft  so  sehr  verschieden,  dass  es  kaum 
noch  möglich  erscheint,  sie  als  Antimeren  zu  erkennen,  während  sie 
andererseits  oft  so  wenig  verschieden  sind,  dass  die  Dystetrapleuren- 
Form  sich  der  Eutetrapleuren-  oder  selbst  der  Tetraphragmen-  und 
Tetractinoten-Form  nähert.  Oft  sind  an  einem  einzigen  Siphonophoren- 
Stock  alle  Uebergänge  zwischen  diesen  verschiedenen  Grundformen 
nachzuweisen.  Die  Siphonophoren- Individuen,  in  denen  die  Dystetra- 
pleuren-Form  zur  höchsten  Entwicklung  gelangt,  sind  meistens 
Schwimmglocken,  namentlich  aus  den  Familien  der  Fhysophoriden 
und  Diphyiden.  Die  ausgezeichnetsten  Formen  der  Art  liefern  die 
Abyliden,  bei  denen  die  vier  Antimeren  oft  so  ungleich  werden,  dass 
der  Körper  aus  drei,  fünf  oder  mehr  Stücken  zusammengesetzt  er- 
scheint. Als  typische  Repräsentanten  dieser  am  meisten  differenzirten 
von  allen  tetrameren  Formen  mögen  hier  namentlich  die  hinteren 
Schwimmstücke  von  Abyla  trigona  und  von  Abyla  pentagona  hervor- 
gehoben werden. 


Einpaarige  Grundformen.     Dipleura.  519 

Zweite  Art  der  Zygopleuren: 

Einpaarige.     Dipleura. 

(Dizygopleura.     Zygopleura  dimera. ) 

Paarige  Bilateralformen  mit  einem  Paar  Antimeren. 

(„Bilateral -symmetrische"  Formen  der  Autoren  in  der  vierten  (engeren)  Bedeutung 

des  Begriffes.) 
Stereometrische  Grundform :  Einfach -gleichschenhelige  Pyramide. 
(Halbe  Rhomben  -  Pyramide  mit  zwei  Antimeren)  Taf.  I,  Fig.  14. 

Wir  sind  nun  im  Laufe  unserer  promorphologischen  Untersuchung 
endlich  bei  denjenigen  Formen  angelangt,  auf  welche  die  vieldeutige 
Bezeichnung  der  „bilateralen  Symmetrie"  am  häufigsten  angewandt 
wird ,  weil  die  Mehrzahl  der  gewöhnlich  sogenannten  bilateral-symme- 
trischen Thiere  hierher  gehört,  nämlich  die  meisten  Wirbelthiere, 
Gliederfüsser  und  Weich -Thiere,  nebst  vielen  niederen  organischen 
Formen.  Es  sind  dies  diejenigen  Formen,  welche  von  Bronn  als 
„reine  Halbkeile  oder  Hemisphenoid-Formen"  betrachtet  wurden. 

Die  allgemeinen  Eigenschaften  dieser  zwei  zähligen  Zygopleuren, 
die  wir  allgemein  als  Dizygopleuren  oder  kürzer  als  Dipleuren 
bezeichnen  wollen,  sind  so  bekannt  und  aus  der  Anschauung  unseres 
eigenen  Körpers  Jedem  so  geläufig,  dass  wir  nur  das  Wichtigste  hier 
kurz  hervorheben  wollen  (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  14). 

Der  Körper  aller  Dipleuren  besteht  nur  aus  zwei  Antimeren, 
einem  rechten  und  einem  linken,  welche  in  der  Mittelebene  des 
Körpers  (Planum  medianum),  die  hier  auch  häufig  als  Sagittalebene !) 
bezeichnet  wird,  vereinigt  sind.  Diese  Medianebene  haben  wir  als 
die  einzige  Interradialebene  des  Dipleuren-Körpers  aufzufassen, 
während  die  einzige  Radialebene  desselben  durch  die  gemeinsame 
Medianebene  der  beiden  Antimeren  gegeben  wird,  die  mit  der  La- 
teralebene des  ganzen  Körpers  zusammenfällt. 

Wie  unter  den  Tetrapleuren,  so  müssen  wir  auch  unter  den  Di- 
pleuren zwei  verschiedene  Grundformen  als  Unterarten  unterscheiden, 
solche  nämlich,  wo  die  beiden  Antimeren  symmetrisch -gleich  sind, 
und  solche,  wo  die  eine  (rechte)  Körperhälfte  mehr  oder  weniger 
von  der  anderen  (linken)  verschieden  (also  ihr  nur  symmetrisch -ähn- 
lich) ist.  Die  Letzteren  oder  die  heteropleuren  Dipleuren  nennen  wir 
kurz  Dys  dipleura;  die  Ersteren  oder  die  homopleuren  Dipleuren. 
können   entsprechend  Eudipleura  genannt  werden. 

Streng  genommen  dürfte  die  grosse  Mehrzahl  von  allen  Dipleuren 
zu  den  Heteropleuren  gerechnet  werden  müssen,  da  in  der  That  nur 
sehr   selten  die  beiden  Körperhälften  vollkommen  symmetrisch -gleich 


')  Die  Bezeichnung  der  Medianebeue  oder  Mittelebene  als  „Sagittalebene" 
wird  insbesondere  häufig  von  den  Anthropotomen  angewandt,  abgeleitet  von  dem 
Verlaufe  der  Pfeilnaht  (Sutura  sagittalis)  des  menschlichen  Schädels. 


520  System  der  organischen  Grundformen. 

im  Sinne  der  Geometrie  sind.  Es  ist  aber  allgemein  hergebracht  und 
mit  Recht  gebräuchlich,  dass  man  nur  diejenigen  Dipleuren  als 
..Asymmetrische",  d.  h.  als  Dysdipleure  auffasst,  bei  denen  die 
Ungleichheit  der  beiden  Antimeren  mehr  oder  minder  auffallend  in 
der  äusseren  Körperbildung  hervortritt,  wie  bei  den  Pleuronectiden, 
spiralen  Gasteropoden  u.  s.  w.  Wir  schliessen  also  auch,  der  herge- 
brachten Anschauung  folgend,  diejenigen  Dipleuren  von  den  hetero- 
pleuren  aus,  und  betrachten  sie  als  homopleure,  bei  welchen  zwar  die 
inneren  Organe  („Eingeweide")  stark  asymmetrisch,  dagegen  die 
äusseren  Organe  und  die  Gesammtform  symmetrisch  entwickelt  ist 
(z.  B.  die  meisten  Vertebraten.  Die  strengste  Eudipleurie  im  Inneren 
und  Aeusseren  zeigen  die  Arthropoden. 

Bei  allen  Dipleuren  sind  nur  zwei  reale  Kreuzaxen  (resp.  Kreuz- 
ebenen) vorhanden  und  diese  fallen  mit  den  beiden  idealen  oder 
Richtaxen  (resp.  Richtebenen)  zusammen.  Die  eine  reale  Kreuzebene 
ist  die  radiale,  welche  mit  der  Medianebene  der  beiden  Antimeren 
oder  der  Lateralebene  identisch  ist.  Die  andere  reale  Kreuzebene 
ist  die  interradiale,  welche  mit  der  Grenzebene  der  beiden  Antimeren 
oder  der  Medianebene  des  Körpers  zusammenfällt.  Von  den  drei 
ungleichen  idealen  Körperaxen  sind  bei  den  Eudipleuren  zwei  (die 
Hauptaxe  oder  Längsaxe  und  die  Dorsoventralaxe  oder  Dickenaxe) 
ungleichpolig,  die  dritte  dagegen  (die  Lateralaxe  oder  Breitenaxe) 
gleichpolig,  während  bei  den  Dysdipleuren  alle  drei  Axen  ungleich- 
polig sind  (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  14). 

Als  die  geometrische  Grundform  der  Eudipleuren  haben  wir 
bereits  oben  die  halbe  Rhomben-Pyramide  oder  die  einfache 
gleichsch enkelige  Pyramide  festgestellt,  d.  h.  eine  gerade  drei- 
seitige Pyramide,  deren  Basis  ein  gleichschenkeliges  Dreieck  ist. 
Wir  haben  dort  ein  für  allemal  die  Deutung  ihrer  einzelnen  Theile 
dahin  testgestellt,  dass  die  Basis  der  oralen,  die  Spitze  der  aboralen 
Körperseite  entspricht,  während  von  den  drei  Seitenflächen  die  unpaare 
gleichschenkelig-dreieckige  als  Dorsalseite,  die  beiden  paarigen  (welche 
zwei  ungleichseitige  unter  einander  symmetrisch  -  congruente  Dreiecke 
sind)  als  rechte  und  linke  Lateralfläche  aufzufassen  sind;  die  Mittel- 
linie der  Bauchseite  bildet  dann  diejenige  Kante  der  Pyramide,  welche 
der  Dorsalfläche  gegenüberliegt. 

Die  Dysdipleuren,  welche  sämmtlich  ursprünglich  als  Eudi- 
pleuren angelegt  sind  und  erst  durch  Differenzirung  der  beiden 
Seitenhälften  aus  ihnen  hervorgehen,  lassen  keine  scharfbestimmte 
stereometrische  Grundform  mehr  erkennen.  Höchstens  könnte  man  als 
solche,  wie  oben  bereits  bemerkt  wurde,  eine  ungleich -dreiseitige 
Pyramide  aufstellen,  d.  h.  eine  dreiseitige  Pyramide,  deren  Basis  ein 
ungleichseitiges  Dreieck  ist. 


Einpaarige  Grundformen.     Dipleura.  521 

Erste  Unterart  der  Dipleuren: 
Gleichhälftige  Einpaarige.     Eudipleura. 

(Dipleura  homopleura.) 

(Bilateral-symmetrische  Formen  in  der  fünften  (engsten)  Bedeutung  des  Begriffes.) 

Stereometrische  Grundform:    Einfach  - gJeichschenheUyc  Pyramide  (mit  zwei 
symmetrisch -gl  eichen  Seitenhälften). 

Realer  Typus:  Homo  (oder  Fumaria)  Taf.  I,  Fig.  14. 

Die  Eudipleuren  oder  die  vollkommen  symmetrisch-gleichseitigen 
und  zweizähligen  Formen  dürfen  als  die  vollkommensten  aller  orga- 
nischen Formen  angesehen  werden.  Offenbar  sind  mit  der  Zusammen- 
setzung des  Körpers  aus  nur  zwei  Antimeren,  die  symmetrisch -gleich 
sind,  eine  Menge  Vortheile  verbunden,  die  jeder  anderen  Form  ab- 
gehen. Diese  Vortheile  sind  grösstenteils  mechanischer  Natur  und 
kommen  namentlich  der  freien  und  allseitigen  Bewegung  des  Körpers 
sehr  zu  Statten.  Sehen  wir  doch  nicht  allein,  dass  die  meisten  frei- 
beweglichen, vollkommeneren  Organismen  und  namentlich  alle  höheren 
Thiere,  welche  sich  auf  dem  Festlande  bewegen,  fast  ohne  Ausnahme 
nach  der  Eudipleuren-Form  gebaut  sind,  (besonders  die  meisten  Wirbel- 
thiere,  Gliederfüsser  und  Weichthiere) ,  sondern  dass  auch  alle  voll- 
kommeneren und  selbst  die  unvollkommeneren  Maschinen,  welche  der 
Mensch  zum  Zwecke  der  Ortsbewegung  erfunden  und  gebaut  hat, 
unbewusst  nach  demselben  Princip  construirt  sind.  Alle  unsere  Be- 
wegungsmaschinen zu  Wasser  und  zu  Lande,  die  Locomotiven,  Wagen 
und  alle  Art  Fuhrwerke,  die  Schiffe,  Nachen  u.  s.  w.,  ebenso  sehr 
viele  andere  mechanisch  wirkende  Instrumente  sind  nach  diesem 
Grundprincip  gebaut.  Vor  Allem  wird  die  Vorwärtsbewegung  in  einer 
bestimmten  Richtung,  mit  einem  constanten  Körperende  voran,  durch 
keine  andere  mögliche  Grundform  so  sicher  bewerkstelligt,  als  durch 
die  Eudipleuren-Form. 

Daher  hat  sich  die  Eudipleuren-Form  in  dem  bei  weitem  grössten 
Theile  aller  Thier-Personen  mehr  oder  minder  vollkommen  rein  aus- 
gebildet, obwohl  häufig  einerseits  in  die  dysdipleure,  andererseits  in 
die  eutetrapleure  und  selbst  in  die  tetrarithme  Grundform  übergehend 
(Cestoden!).  Wenn  wir  von  geringeren  (besonders  im  inneren  Bau 
hervortretenden)  Differenzen  der  rechten  und  linken  Seitenhälfte  absehen, 
so  finden  wir  die  Eudipleuren-Form  bei  den  Personen  der  allermei- 
sten Wirbelthiere,  Arthropoden  und  Mollusken,  bei  den  höchststehen- 
den Würmern ,  einzelnen  Echinodermen  -  Ammen  und  Coelenteraten 
(Siphonophoren).  Ausgenommen  sind  von  den  Wirbelthieren  die  dys- 
dipleuren  Pleuronectiden,  von  den  Arthropoden  einige  schmarotzende 
oder  an  bestimmte  Wohnorte  angepasste  Formen  (Payurus),   von  den 


522  System  der  organischen  Grundformen. 

Weichthieren  alle  diejenigen,  bei  welchen  durch  ein  ungleiches  Wachs- 
thum  beider  Hälften  die  Hauptaxe  eine  spiralige  Drehung  erfahren 
hat  (die  meisten  Gasteropnden),  oder  wo  durch  Anwachsen  mit  einer 
Seite  diese  besonders  angepasst  ist  (Pleuroconchae),  Unter  den  Siphono- 
phoren  müssen  wir  als  Eudipleure  solche  betrachten,  bei  denen  das 
dorsale  und  ventrale  Antimer  gänzlich  verkümmert  und  bloss  die  bei- 
den lateralen  übrig  geblieben  sind,  wie  namentlich  in  den  Deckstücken 
und  Fangfäden  sehr  vieler  Physophoriden  etc.  Unter  den  Würmern, 
deren  allgemein  herrschende  Grundform  die  eutetrapleure  ist,  gehen 
diejenigen  in  die  eudipleure  über,  bei  denen  die  beiden  Antimeren 
jeder  Seitenhälfte  sich  so  stark  differenziren  und  zugleich  die  ganze 
Person  sich  so  centralisirt,  dass  man  nur  noch  zwei  laterale  Anti- 
meren, ein  rechtes  und  ein  linkes,  an  derselben  unterscheiden  kann. 
Wir  finden  dies  insbesondere  bei  den  höchststehenden  Chaetopoden 
(Aphroditeen),  bei  den  meisten  Hirudineen  und  Gephyreen  und  vielen 
Platyelminthen.  Ebenso  geht  bei  vielen  Echinodermen- Ammen  die 
ursprüngliche  eutetrapleure  Grundform  auf  diese  Weise  in  die  eudi- 
pleure über. 

In  sehr  vielen  Fällen  der  letzteren  Art  ist  es,  besonders  bei  den 
Würmern,  sehr  schwer,,  zu  entscheiden,  ob  die  Grundform  eigentlich 
die  eutetrapleure  oder  die  eudipleure  ist,  weil  man  nicht  mit  Sicher- 
heit mehr  sagen  kann,  ob  jede  Körperhälfte  nur  aus  einem  einzigen 
oder  aus  zwei  Antimeren  besteht.  Dies  gilt  selbst  für  die  niederen 
Wirbelthiere.  So  z.  B.  zeigt  uns  bei  den  Fischen  und  selbst  noch 
bei  den  geschwänzten  Amphibien  jeder  Querschnitt  des  Schwanzes 
ganz  offenbar  die  tetrapleure  Form  mit  4  Antimeren,  dagegen  jeder 
Querschnitt  des  vorderen  Körpertheiles  eben  so  deutlich  die  dipleure 
Forin  mit  2  Antimeren.  Es  bestätigt  uns  dies  lediglich  in  unserer 
Ansicht,  dass  die  Eudipleuren-Form  bei  den  Wirbelthieren  ebenso  wie 
bei  den  Arthropoden  erst  eine  secundär  erworbene,  und  aus  der  ur- 
sprünglichen Eutetrapleuren-Form  hervorgebildet  ist;  wahrscheinlich 
stammen  die  ersteren  eben  so  wohl  wie  die  letzteren  von  eutetra- 
pleuren  Würmern  ab.  Vergleichen  wir  den  Querschnitt  eines  Fisch- 
schwanzes mit  dem  Querschnitt  eines  Annelids  (Nereis)  Fig.  12,  so 
finden  wir  in  der  That  viel  grössere  promorphologische  Uebereinstiin- 
mung,  als  mit  dem  Querschnitt  der  vorderen  Rumpf  hälfte  desselben 
Fisches  (Fig.  14).  Die  vier  grossen  Seitenrumpfniuskeln  (Musculi 
laterales)  zeigen  unzweifelhaft  die  ursprüngliche  Zusammensetzung  aus 
vier  Antimeren  an,  ebenso  wie  die  vier  longitudinalen  Muskelfelder 
der  Würmer.  Die  beiden  dorsalen  Seitenmuskeln  der  Fische  werden  von  den 
beiden  ventralen  durch  eine  sehnige  Membran  getrennt,  welche  in  der 
interradialen  Lateralebene  des  Körpers,  senkrecht  auf  der  Median- 
ebene liegt. 


Einpaarige  Grundformen.     Dipleura.  523 

Jedenfalls  beweist  uns  deutlich  die  ganz  vorwiegende  Ausbil- 
dung der  reinen  Eudipleuren-Form  bei  der  grossen  Mehrzahl  der 
actuellen  Personen  in  den  beiden  höchsten  Thiergruppen,  dass  diese 
Grundform  die  vollendetste  von  allen  ist.  Natürlich  müssen  hier  überall 
die  Metameren ,  welche  die  Person  zusammensetzen,  ebenso  eudipleure 
sein,  wie  die  ganze  Person,  obwohl  einzelne  Metameren  aus  der  gan- 
zen Kette  stark  dysdipleure  werden  können.  Aber  nicht  allein  zur 
Bildung  von  Metameren  und  Personen  ist  die  Eudipleuren-Form  im 
Thierreiche  vor  allen  Anderen  verwandt,  sondern  auch  eine  sehr 
grosse  Menge  von  Antimeren  und  Organen  ist  nach  demselben  Prin- 
cip  gebaut,  so  z.  B.  die  Antimeren  aller  sogenannten  regulären  Thiere, 
(homostaure  Echinodermen  und  Coelenteraten) ,  ferner  sehr  viele  Or- 
gane (in  allen  Thierklassen).  Seltener  ist  diese  Form  im  Thierreiche 
zur  Bildung  von  morphologischen  Individuen  höchster  und  niedrigster 
Ordnung  (Stöcken  und  Piastiden)  verwandt.  Ein  ausgezeichnet  eudi- 
pleurer  Stock  ist  z.  B.  der  von  Peimatula. 

Umgekehrt  wie  bei  den  Thieren,  bildet  die  Eudipleuren-Form  bei 
den  Pflanzen  nur  sehr  selten  die  Grundform  höherer,  dagegen  sehr 
allgemein  diejenige  niederer  Ordnungen  der  morphologischen  Indivi- 
dualität. Echte  eudipleure  Personen  sind  uns  aus  dem  Pflanzenreiche 
nur  wenige  bekannt,  so  z.  B.  die  Blüthen  von  Corydalis  und  Ftimaria. 
Sehr  allgemein  dagegen  finden  wir  die  Blatt- Organe  nach  der  Eudi- 
pleuren-Form gebildet,  sowohl  die  Blüthenblätter  als  die  Frucht- 
blätter, die  Laubblätter  und  die  Niederblätter.  Auch  hier  geht  die 
eudipleure  oft  in  die  dysdipleure  Grundform  über. 

Während  so  im  Pflanzen-  und  Thierreiche  die  gleichschenkelige 
Pyramide  als  Grundform  der  Eudipleuren  eine  ausserordentliche  Be- 
deutung besitzt,  finden  wir  dieselbe  im  Protistenreiche  nur  verhältniss- 
mässig  selten  realisirt,  und  auch  hierin  bekundet  sich  der  niedere 
Bildungsgrad  dieses  Reiches. 

Wenn  man  das  vieldeutige  Wort  „  bilaterale  Symmetrie"  noch 
ferner  gebrauchen  will,  so  muss  es  auf  die  Eudipleuren-Form  be- 
schränkt bleiben,  welche  in  der  That  die  bilateral-symmetrische  Form 
im  engsten  Sinne  des  Wortes  ist.  Es  sind  also  auszuscheiden  die 
4  anderen  weiteren  Begriffe,  die  man  mit  diesem  Ausdruck  verbunden 
hat,  indem  man  ihn  zur  Bezeichnung  von  4  weiteren  Formgruppen 
benutzte,  nämlich  den  Dipleuren,  Zygopleuren,  Centrepipeden  und  He- 
terostauren.  Wie  wesentlich  sich  die  Eudipleuren-Form  von  diesen 
weiteren  Grundformen,  von  denen  sie  nur  die  speciellste  Art  darstellt, 
abhebt,  ist  im  Vorhergehenden  genugsam  auseinandergesetzt,  ebenso 
dass  die  allgemeine  stereometrische  Grundform  der  Eudipleuren 
die  halbe  Rhomben  -Pyramide  oder  die  einfach-gleichschenke- 
lige  Pyramide  ist  (Vergl.  Taf.  I,  Fig.  14  nebst  Erklärung). 


524  System  der  organischen  Grundformen. 

Zweite  Unterart  der  Dipleuren:  "■ 

Ungleirhhälftige  Einpaarige.     Dysdipleura. 

(Dipleura  heteropleura.) 

(„Asymmetrische  Formen"  der  meisten  Autoren.) 

Stereometrische    Grundform:    Ungleich- dreiseitige,  Pyramide. 

{  Einfach-gleiclischenkelige  Pyramide  mit  zwei  symmetrisch-ähnlichen  Seitenhälften.) 

Realer  Typus:  Pleuronectes. 

Die  Dysdipleuren  oder  die  angleichhälftigen  zweizähligen  Formen 
könnten  im  Princip  als  die  vollkommensten  aller  organischen  Formen 
gelten,  indem  offenbar  bei  ihnen  die  Differenzining  der  Axen  und 
Pole  am  weitesten  vorgeschritten  ist.  Nebst  den  Diarithmen  und 
Eudipleuren  sind  die  Dysdipleuren  die  einzigen  Formen,  die  bloss  aus 
zwei  Antimeren  zusammengesetzt  sind.  Diese  drei  Grundformen  ha- 
ben ausser  der  homotypischen  Zweizahl  auch  die  Ungleichheit  der 
drei  idealen  Axen  (Hauptaxe  und  beide  Richtaxen)  und  die  Ungleich- 
heit beider  Pole  der  Hauptaxe  gemeinsam.  Während  sich  nun  die 
Eudipleuren  weit  dadurch  über  die  Diarithmen  erheben,  dass  bei  ihnen 
auch  die  beiden  Pole  der  einen  ( dorsoventralen)  Richtaxe  differenzirt 
werden,  gehen  die  Dysdipleuren  noch  einen  Schritt  weiter,  indem  bei 
ihnen  auch  noch  die  beiden  Pole  der  anderen  (lateralen)  Richtaxe 
sich  differenziren.  Die  Dysdipleuren  sind  die  einzigen  zweizähligen  For- 
men, die  durch  drei  auf  einander  senkrechte  ungleiche  und  ungleichpolige 
Idealaxen  ausgezeichnet  sind.  Der  orale  Pol  der  Längenaxe  ist  ver- 
schieden vom  aboralen;  der  dorsale  Pol  der  Dickenaxe  ist  verschie- 
den vom  ventralen;-  der  linke  Pol  der  Breitenaxe  ist  verschieden 
vom  rechten  Pole. 

Allein  während  so,  im  Princip  betrachtet,  die  Dysdipleuren  als 
die  vollkommensten  aller  organischen  Formen  gelten  könnten,  sehen 
wir  doch  andererseits  bald,  dass  mit  der  sie  auszeichnenden  Ungleich- 
heit der  beiden  Seitenhälften  nothwendig  der  Verlust  der  grossen,  na- 
mentlich für  die  freie  und  bestimmte  Ortsbewegung  höchst  werthvollen 
Vortheile  verbunden  ist,  welche  die  Eudipleuren-Form  als  die  practisch 
vollkommenste  von  Allen  erscheinen  lassen.  Daher  finden  wir  sie 
denn  auch  nur  in  solchen  Personen  verkörpert,  bei  denen  die  eine 
Körperhälfte,  entweder  die  rechte  oder  die  linke,  zu  einer  bestimmten 
Function  dient,  zu  welcher  die  andere  niemals  benutzt  wird,  oder 
bei  denen  die  heteroplcure  Entwicklung  der  beiden  Antimeren  durch 
specielle  Anpassungen  bedingt  und  mit  wesentlicher  Beeinträchtigung 
der  schnellen  Bewegungsfähigkeit  verbunden  ist. 

Dnss  die  bestimmte  stereometrische  Grundform  der  gleichschenke- 
ligen  Pyramide,  welche  den  Eudipleuren  zu  Grunde  liegt,  nicht  in 
mathematisch  strengem  Sinne  in  den  Dysdipleuren  nachgewiesen  wer- 


Einpaarige  Grundformen.     Dipleura.  525 

den  kann,  haben  wir  schon  oben  gezeigt,  und  es  könnte  demnach 
scheinen,  als  ob  eine  stereometrische  Grundform  bei  dieser  letzten 
höchst  differenzirten  Formen- Gruppe  überhaupt  nicht  zu  finden  wäre. 
Vielmehr  scheint  sich  dieselbe  an  den  ersten  und  unvollkommensten 
Ausgangspunkt  der  ganzen  organischen  Formenreihe,  an  die  Anaxo- 
nien  oder  die  absolut  unregelmässigen  Körper  zunächst  anzuschliessen. 
Doch  ist  hier  nochmals  hervorzuheben,  dass  alle  Dysdipleuren  ur- 
sprünglich eudipleurisch  angelegt  sind,  und  erst  nachträglich 
heteropleuriseh  werden ;  und  dass  sie  daher  die  Grundform  der  halben 
Rhomben-Pyramide  oder  der  gleichschenkeligen  Pyramide  während  einer 
bestimmten  (längeren  oder  kürzeren)  Zeit  ihres  Lebens  deutlich  ausgeprägt 
zeigen.  Die  asymmetrische  oder  dysdipleure  Bildung  tritt  immer  erst  seeun- 
där  hervor,  sobald  die  Ungleichheit  im  Wachsthum  der  beiden  Anti- 
meren  beginnt.  Wir  sind  demnach  wohl  berechtigt,  die  gleich- 
schenkelige  Pyramide  als  gemeinsame  Grundform  aller  Dipleuren,  auch 
der  Dysdipleuren  aufzustellen ,  und  ihren  Unterschied  von  der  voll- 
kommen symmetrischen  Eudipleuren-Form  dadurch  auszudrücken,  dass 
wir  ihre  beiden  Seitenhälften,  rechte  und  linke,  nicht  als  symmetrisch- 
gleich,  sondern  nur  als  symmetrisch -ähnlich  bezeichnen.  AVollte 
man  in  streng  mathematischem  Sinne  eine  stereometrische  Proinorphe 
für  die  Dysdipleuren  aufstellen,  so  würde  man  als  solche  nur  die  voll- 
kommen irreguläre  dreiseitige  Pyramide,  oder  das  absolut  irre- 
guläre Tetraeder  bezeichnen  können,  als  diejenige  einfachste  geo- 
metrische Form,  in  welcher  drei  auf  einander  senkrechte  ungleiche 
und  ungleichpolige  Axen  ausgesprochen  sind.  Wir  würden  aber  da- 
durch nicht  die  Zusammensetzung  des  Körpers  aus  zwei  ähnlichen 
Antimeren  ausdrücken,  durch  welche  sich  die  Dysdipleuren  wesentlich 
von  den  Anaxonien  unterscheiden. 

Es  ist  schon  oben  hervorgehoben  worden,  das  in  streng  mathe- 
matischem Sinne  eigentlich  wohl  die  grosse  Mehrzahl  der  Dipleuren 
hierher  gezogen  werden  müsste,  weil  nur  selten  die  beiden  Antimeren 
des  Dipleuren  -  Körpers  vollkommen  symmetrisch  gleich  sind.  Es 
braucht  z.  B.  bloss  an  die  Ungleichheit  der  beiden  Gesichtshälften  des 
Menschen  erinnert  zu  werden,  die  hier  deutlicher  als  an  anderen  Kör- 
perteilen in  die  Augen  springt.  Indessen  sind  solche  geringe  Ab- 
weichungen, wie  sie  namentlich  in  der  Ungleichheit  der  beiden  Schä- 
delhälften (viel  auffallender  z.  B.  bei  vielen  Delphinen  und  Affeuj,  fer- 
ner bisweilen  in  der  einseitigen  Lage  des  Alters  (bei  Lepidosiren, 
Amphioxus) ,  ferner  in  der  einseitigen  Ausbildung  des  Geruchsorgans 
(bei  Amphioxus  u.  s.  w.j  hervortreten,  von  keinem  bestimmenden  Ein- 
fluss  auf  die  gesammte  Grundform.  Wir  werden  daher  nur  solche 
dipleure  Formen  als  entschieden  dysdipleure  betrachten,  bei  welchen 
äusserlich  die  Ungleichheit  der  rechten  und  linken  Körperhälfte  in 


526  System  der  organischen  Grundformen. 

solcher  Weise  hervortritt,  dass  die  Gesammtform  dadurch  „un- 
symmetrisch" erscheint.  Wir  sagen  absichtlich  „äusserlich".  denn 
im  inneren  Baue  finden  sich  Differenzen f  und  oft  sehr  beträchtliche 
Differenzen!)  zwischen  rechter  und  linker  Hälfte  bei  den  allermeisten 
Eudipleuren  vor.  Insbesondere  sind  es  bei  den  höheren  Thieren,  und 
namentlich  bei  den  Wirbelthieren,  die  in  inneren  Höhlen  eingeschlosse- 
nen „Eingeweide",  welche  meistens  in  ihren  unpaar  vorhandenen 
Theilen  eine  äusserst  unsymmetrische  Lagerung  und  Vertheilung  auf 
beide  Hälften  zeigen,  so  namentlich  Herz,  Magen  Leber,  Milz  und 
Pancreas  bei  den  Wirbelthieren,  Kiemen,  Herz,  Niere  und  Geschlechts- 
organe bei  den  »Schnecken  u.  s.  w.  Nicht  selten  kommt  auch  von 
ursprünglich  paarig  angelegten  Theilen  der  eine  gar  nicht  zur  Ent- 
wickelung,  wie  z.  B.  der  rechte  Eierstock  der  Vögel  und  des  Orni- 
thorhynckus ,  die  eine  von  den  beiden  Lungen  der  Schlangen  etc. 
Da  jedoch  diese  innere  Asymmetrie  auf  die  äussere  Erscheinung  der 
gesammten  dipleuren  Körperform  gar  keinen  Einfluss  ausübt,  so  kön- 
nen wir  hier  vollständig  von  derselben  absehen. 

Wenn  wir  demnach  als  Dysdipleure  im  engeren  Sinne  nur  solche 
dipleure  organische  Formen  ansehen,  bei  welchen  die  Ungleichheit 
der  beiden  Körperhälften  in  so  auffallender  Weise,  äusserlich  hervor- 
tritt, dass  dadurch  die  Gesammtform  as}Tmmetrisch  wird,  so  finden  wir 
dieselben  fast  überall  nur  als  einzelne  Ausnahmen  in  solchen  Gruppen 
von  Organismen  vor,  deren  allgemeine  Grundform  die  eudipleure  ist. 
Von  den  Personen  des  Thierreichs  sind  hier  vor  Allen  zu  erwähnen 
unter  den  Wirbelthieren  die  merkwürdige  Fisch-Familie  der  Pleuro- 
nectiden,  bei  denen  der  Rumpf  zwar  ganz  eudipleurisch ,  der  Kopf 
aber  so  schief  entwickelt  ist,  dass  beide  Augen  auf  einer  Seite,  bald 
rechts,  bald  links  liegen;  ferner  unter  den  Säugethieren  der  Narwal- 
Delphin  (Monodon  monoceros),  bei  welchem  nur  der  linke  Schneide- 
zahn zum  mächtigen  Stosszahn  entwickelt,  der  rechte  dagegen  ganz  ver- 
klimmertist.  Unter  denGliederfüssern  sind  besonders  viele  Crustaceendys- 
dipleurisch,  namentlich  parasitische  Formen,  ferner  die  Eremiten-Krebse 
(Paguras)  deren  weiches  Abdomen  sich  dadurch  unsymmetrisch  ent- 
wickelt hat,  dass  sie  sich  angewöhnt  haben,  dasselbe  in  einer  spiral 
gewundenen  Schneckenschale  zu  verbergen;  entsprechend  sind  auch 
die  beiden  Scheeren  seh  •  ungleich  entwickelt  (doch  findet  sich  con- 
stant  sehr  ungleiche  Grösse  der  beiden  Scheeren  auch  bei  anderen 
Decapoden,  höchst  auffallend  bei  Gelasimus).  Am  meisten  zur  Dys- 
dipleuren  -  Entwicklung  ist  von  allen  Tliiergruppen  der  Mollusken- 
Stamm  geneigt;  selbst  unter  den  höchst  entwickelten  Cephalopoden 
spricht  sie  sich  hier  darin  aus,  dass  immer  nur  ein  Ann  einer  Seite 
hectocotylisirt  ist.  Unter  den  Schnecken  gehören  hierher  alle,  welche 
ein  spiralig  gewundenes  Gehäuse  bilden ;  bei  den  meisten  ist  die  linke 


Einpaarige  Grundformen.     Dipleur.i.  527 

Körpevbälfte  im  Wachstimm  bevoizugt,  und  dem  entsprechend  das  Ge- 
häuse links  gewunden;  seltener  ist  es  umgekehrt  rechts  gewunden 
(Clausula,  Physa).  Unter  den  Lamellibranchien  zeigt  sich  die  Dys- 
dipleurie  höchst  auffallend  bei  den  meisten  Muscheln,  welche  mit  einer 
Schalenklappe  festgewachsen  sind  (Pleuroconchae);  die  angewachsene 
Schale  ist  meistens  grösser  und  tiefer,  bei  Ostrea  meistens  die  linke, 
bei  Spondylus  die  rechte;  am  meisten  ausgezeichnet  sind  durch  gänz- 
lich verschiedene  Ausbildung  beider  Hälften  die  Kudisten;  doch  spricht 
sich  ein  geringerer  Grad  von  Differenz  bei  den  meisten  Muscheln  in 
dem  Unterschied  der  rechten  und  linken  Schlosshälfte  aus. 

Unter  den  Pflanzen  sind  es  insbesondere  die  eudipleuren  Organe, 
welche  in  sehr  vielen  Fällen  in  die  dysdipleure  Form  mehr  oder  min- 
der auffallend  übergehen.  So  finden  wir  namentlich  unter  den  Blät- 
tern (Blumenblättern,  Fruchtblättern,  Laubblättern  etc.)  deren  allge- 
meine Grundform  die  eudipleure  ist,  sehr  häufig  mehr  oder  weniger 
ausgezeichnete  dysdipleure  vor,  so  z.  B.  die  Laubblätter  von  Ulmus 
und  vor  Allen  von  Begonia  (dem  „  Schief blatt"),  ferner  die  spiralig  ge- 
drehten Blumenblätter  vieler  Orchideen,  die  asymmetrischen  Carpelle 
vieler  Früchte  etc.  Bei  der  allgemeinen  Neigung  zu  spiraligem  Wachs- 
thum  in  dem  Pflanzenreiche  müssen  hier  dysdipleure  Formen  überall 
da  zu  Stande  kommen,  wo  dasselbe  eudipleurisch  angelegte  Theile 
betrifft. 

In  allen  diesen  Fällen  zeigt  uns  entweder  die  embryologische 
oder  die  palaeontologische  Entwickelungsgeschichte,  dass  die  beiden 
ungleichen  Hälften  des  dysdipleuren  Körpers  ursprünglich  eudipleurisch 
angelegt  waren,  und  dass  demnach  die  Dysdipleurie  sich  erst  secun- 
där  aus  der  reinen  Eudipleurie  hervorgebildet  hat.  Bald  ist  es  die 
rechte,  bald  die  linke  Seite,  welche  (anfänglich  der  anderen  Hälfte 
aequivalent)  ein  überwiegendes  Wachsthum  gewinnt  und  dadurch  sich 
zu  Ungunsten  der  anderen,  schwächeren  entwickelt.  Daher  kommen 
auch  in  allen  Species,  wo  regelmässig  die  rechte  Hälfte  die  stärkere 
ist,  ausnahmsweise  Fälle  vor,  in  denen  die  linke  überwiegt,  und  ebenso 
umgekehrt.  So  kennt  man  z.  B.  unter  den  spiralig  gewundenen 
Schnecken  mehr  als  fünfzig  Species,  welche  gewöhnlich  links,  in  ein- 
zelnen Fällen  aber  auch  rechts  gedreht  sind  {Helix,  Papa,  Bulimus, 
Fusus  etc.)  Dass  dies  ganz  vom  Zufall,  d.  h.  von  verhältnissmässig 
unbedeutendem,  mechanisch  auf  die  Entwicklung  einwirkenden  Ur- 
sachen (Anpassungs  -  Bedingungen)  abhängt,  zeigen  am  deutlichsten 
die  dysdipleuren  Pleuronectiden ,  bei  denen  dieselbe  Art,  welche  die 
Augen  gewöhnlich  rechts  hat,  sie  bisweilen  auch  links  trägt,  und  in 
seltenen  Fällen  sogar  vollkommen  symmetrisch  vorkommt,  z.  B.  Pleu- 
ronectes  ma&iwus. 


528  Grundformen  der  sechs  Tndividualitäts- Ordnungen. 


Vierzehntes  Capitel. 

Grundformen   der  sechs  Individualität«-  Ordnungen. 

o 

„Wäre  die  Natur  in   ihren  leblosen   Anfängen  nicht  so 
gründlich   stereometrisch,  wie  wollte  sie  zuletzt  zum 
unberechenbaren  und  unermesslichen  Leben  gelangen?" 

Goethe. 


I.   Grundformen, der  Piastiden. 

Promorpheo    der   morphologischen    Individuen    erster   Ordnung. 

Die  Piastiden  oder  Plasmastücke  bilden  als  die  morphologischen 
Individuen  erster  Ordnung  die  Bausteine,  aus  deren  Aggregation  sich 
der  Körper  aller  Organismen  aufbaut,  die  nicht  selbst  zeitlebens  den 
Formwerth  einer  einzigen  Plastide  beibehalten.  Als  solche  sind  sie 
von  eben  so  grosser  promorphologischer  wie  tectologischer  Bedeutung. 
Die  Grundformen  aller  Form-Individuen  zweiter  und  höherer  Ordnung 
resultiren  in  letzter  Instanz  ebenso  aus  der  Grundform,  Zahl,  Lage- 
rungs-  und  Verbindungs-Weise  der  constituirenden  Piastiden,  wie  deren 
Grundform  selbst  durch  die  Zahl,  Lagerungs-  und  Verbindungs-Weise 
ihrer  constituirenden  Moleküle  bedingt  ist.  Entsprechend  nun  dem 
unerschöpflichen  Formenreickthum,  der  sich  hierbei  offenbart,  zeigen 
uns  auch  die  Grundformen  der  Piastiden,  sowohl  der  kernfreien  Cyto- 
den,  als  der  kernhaltigen  Zellen,  die  grösstmögliche  Mannichfaltigkeit 
und  es  ist  keine  stereometrische  Grundform  denkbar,  welche  nicht  in 
irgend  einer  organischen  Plastide  ihre  reale  Verkörperung  finden  könnte. 
Sowohl  im  Protistenreiehe  als  im  Pflanzenreiche  und  Thierreiche  können 
wir  hie  und  da  fast  jede  einzelne  der  im  vorigen  Capitel  aufgezählten 
Grundformen  verkörpert  rinden;  von  den  niedersten  und  einfachsten,  den 
Anaxonien  und  Homaxonien,  bis  zu  den  höchsten  und  vollkommensten, 


T.    Grundformen  der  Piastiden.  529 

den  Amphipleuren  und  Zygopleuren.  Diese  ausnehmende  Mannich- 
faltigkeit  der  Grundform,  welche  die  Form-Individuen  erster  Ordnung 
vor  denen  der  übrigen  Ordnungen  auszeichnet,  ist  vorzüglich  durch 
zwei  Umstände  bedingt,  erstens  dadurch,  dass  die  ersteren  in  weit 
höherem  Maasse  als  die  letzteren  den  allerverschiedensten  und  end- 
los mannichfaltigen  Anpassungs- Verhältnissen  sich  fügen  müssen,  und 
zweitens  dadurch,  dass  die  meisten  Piastiden,  welche  sich  zu  höherer 
Grundform  erheben,  während  ihrer  individuellen  Entwicklung  eine 
Reihe  von  niederen  Grundformen  durchlaufen  müssen. 

Nächst  der  unbeschränkten  Mannichfaltigkeit  der  Grundformen 
liegt  ein  zweiter  promorphologischer  Character  der  Piastiden,  und  ein 
sehr  wichtiger,  in  dem  allgemeinen  Vorherrschen  der  niederen  Grund- 
formen. Obschon  auch  alle  höheren,  ja  selbst  die  höchsten  und  voll- 
kommensten Promorphen  in  gewissen  Piastiden  verkörpert  sind,  treten 
diese  doch  im  Ganzen  zurück  gegen  die  vorwiegend  ausgebildeten 
niederen  und  einfachen  Formen,  Nur  diejenigen  Cytoden  und  Zellen, 
welche  als  freie  und  isolirte  Lebenseinheiten  das  materielle  Substrat 
von  actuellen  Bionten  bilden,  zeigen  im  Allgemeinen  einen  grösseren 
Reichthum  von  höheren  Grundformen,  während  die  grosse  Mehrzahl  aller 
übrigen  Piastiden,  die  in  dem  geselligen  Verbände  der  Synusie  Organe 
und  überhaupt  Form -Individuen  höherer  Ordnung  constituiren,  aller- 
meist niedere  Promorphen  beibehalten. 

Wenn  man  alle  gegenwärtig  existirenden  Cytoden  und  Zellen  ne- 
ben einander  hinsichtlich  ihrer  Grundform  vergleichen  und  statistisch 
ordnen  könnte,  so  würde  sich  wahrscheinlich  das  Resultat  ergeben, 
dass  die  Mehrzahl  aller  Piastiden  entweder  die  vollkommen  amorphe 
Grundform  der  Anaxonien  besitzt,  oder  die  absolut  regelmässige  Ge- 
stalt der  Kugel  und  der  sich  an  diese  zunächst  anschliessenden 
Monaxonien.  Ferner  würde  sich  dabei  wahrscheinlich  zeigen,  dass  die 
Kugelform  bei  denjenigen  Piastiden  überwiegt,  welche  ihre  Gestalt, 
unbehindert  von  äusserem  Druck  frei  nach  allen  Richtungen  des 
Raumes  entwickeln  können,  wie  z.  B.  diejenigen,  welche  frei  in  einer 
Flüssigkeit  leben  (Blutzellen),  während  dagegen  die  Monaxonform  und 
die  Anaxonform  bei  denjenigen  Piastiden  vorherrscht,  welche  sich  in 
ihrem  allseitigen  Wachsthum  den  äusseren  Beschränkungen  fügen 
müssen,  die  ihnen  die  Raumverhältnisse  der  umgebenden  Piastiden 
auferlegen.  Man  hat  aus  diesem  Grunde  auch  die  Kugel  als  die  ur- 
sprüngliche gemeinsame  Grundform  aller  Zellen  angesehen,  und  diese 
Anschauung  könnte  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  wir  an  die  Ver- 
hältnisse der  Autogonie  denken.  Offenbar  ist  der  denkbar  einfachste 
und  natürlichste  Fall  der  Autogonie  der,  dass  ein  Plasmaniolekül, 
welches  auf  andere  benachbarte  Moleküle  derselben  Eiweissverbindung 
anziehend  wirkt  (wie  ein  Kernkrystall  in  der  Mutterlauge)  diese  Mas- 

Haeckel,  Generelle  Morphologie.  34 


f)30  Grundformen  der  sechs  Iudividualitäts- Ordnungen. 

senattraction  nach  allen  Seiten  gleichmässig  ausübt;  und  wenn  so 
eine  einfache  Plastide  autogon  entsteht,  so  wird  dieselbe  die  reine 
Kugelforin  besitzen  müssen,  deren  vollständige  Ausbildung  obenein 
noch  durch  den  festflüssigen  Aggregatzustand  des  Plasma  begünstigt 
wird.  Indessen  darf  hierbei  doch  nicht  vergessen  werden,  dass  erstens 
schon  ursprüngliche  Verschiedenheiten  in  der  autogonen  Grundform 
durch  die  verschiedene  atomistische  Zusammensetzung  des  Plasma  be- 
dingt sein  können  (in  ähnlicher  Weise  wie  die  bestimmten  Grundformen 
der  Krystalle  durch  die  verschiedene  chemische  Constitution  der  kry- 
stallisirenden  Materie  gegeben  sind).  Zweitens  aber  werden  sich  die 
autogonen  Piastiden,  ebenso  wie  die  sich  selbst  bildenden  Krystalle 
niemals  absolut  frei  bilden,  d.  h.  niemals  vollkommen  unabhängig  von 
störenden  Einflüssen  (Massen  -  Anziehungen)  der  umgebenden  Natur- 
körper, und  auch  hierdurch  kann  die  Kugelgestalt  schon  während  ihrer 
Entstehung  modificirt  werden. 

Vollkommen  rein  finden  wir  die  Kugelform  ausgeprägt  vorzüglich 
in  denjenigen  Pl.stiden,  welche  in  Flüssigkeiten  ganz  unbehindert  sich 
frei  nach  allen  Richtungen  entwickeln  können  (Blutzellen,  Eiterzellen, 
Schleimzellen  vieler  Thiere)  und  dann  besonders  in  denjenigen,  welche 
als  virtuelle  oder  partielle  Bionten  bei  der  Fortpflanzung  der  Organis- 
men thätig  sind;  unter  den  ersteren  sind  hier  namentlich  sehr  zahl- 
reiche Eier  und  Sporen,  unter  den  letzteren  viele  Pollenkörner  her- 
vorzuheben. 

Als  die  regelmässigsteii  Grundformen,  welche  sich  zunächst  an  die 
Kugel  anschliessen,  haben  wir  im  vorigen  Capitel  die  Polyaxonien 
hervorgehoben,  die  irregulären  und  regulären  endosphärischen  Polyeder. 
Auch  diese  finden  sich  sehr  häutig  in  Piastiden  rein  verkörpert  vor, 
insbesondere  wieder  in  den  letzterwähnten  virtuellen  und  partiellen 
Bionten,  den  Eiern  und  Sporen,  und  den  Pollenkörnern. 

Aus  der  grossen  Formengruppe  der  Protaxonien  sind  es  vor  allen 
die  Monaxonien,  welche  die  Grundform  sehr  zahlreicher  Zellen  und 
Cytoden  bilden,  und  zwar  ebenso  wohl  die  homopolen  als  die  hetero- 
polen.  Unter  den  homopolen  Monaxonien  ist  theils  die  anepipede 
Form  des  Sphäroids  und  Ellipsoids,  theils  die  amphepipede  Form  des 
Cylinders  in  sehr  zahlreichen  Plastidcn  aller  Organismen-Gruppen  aus- 
gesprochen, sehr  oft  in  stereometrisch  reiner  Form.  Dasselbe  gilt  von 
den  heterupolen  Monaxonien,  und  zwar  ebenso  von  der  anepipcden 
Form  des  Eies,  als  von  der  monepipeden  Form  des  Kegels  und  der 
Halbkugel,  und  von  der  amphepipeden  Form  des  abgestumpften  Kegels. 
xMassenhafte  Beispiele  hierfür  liefern  die  Epithelialzellen  der  Thiere, 
die  jugendlichen  Zellen  des  Pflanzen-Parenchyms,  die  wenig  ausgebil- 
deten Plastiden  vieler  Protisten. 

Seltener  als  die  reine  Monaxon-Form,  welche  sieh  unmittelbar  durch 


II.   Grundformen  der  Organe.  531 

leichte  Modificationen  aus  der  Homaxonform  ableiten  lässt,  finden  wir 
die  Stauraxonform  in  Piastiden  verkörpert.  Häufiger  ist  hier  noch  die 
homopole  Form  der  Doppelpyramide,  (z.  B.  in  sehr  vielen  Pollen- 
zellen, Diatomeen  und  Desmidiaceen  sehr  rein),  als  die  heteropole 
Form  der  einfachen  Pyramide.  Unter  den  letzteren  bilden  wieder  die 
homostauren  oder  regulären  Pyramiden  viel  häufiger  die  Grundform 
von  isolirten,  solitären,  die  heterostauren  oder  irregulären  Pyramiden 
dagegen  von  gesellig  verbundenen,  socialen  Piastiden.  Die  am  mei- 
sten differenzirte  Heterostaurenform,  und  zwar  sowohl  die  autopole, 
ganze,  als  die  allopole,  halbe  amphithecte  Pyramide,  ist  zwar  mit 
allen  ihren  verschiedenen  Modificationen  in  einzelnen  Cytoden  und 
Zellen  sehr  rein  ausgeprägt,  tritt  aber  doch  ganz  zurück  gegen  die 
vorwiegenden  einfachen  und  regulären  Grundformen,  so  wie  gegen 
die  absolut  irregulären  Anaxonien,  welche  in  den  Form -Individuen 
erster  Ordnung  die  herrschenden  Promorphen  sind. 


H    Grundformen  der  Organe. 

Promorphen  der  morphologischen  Individuen  zweiter  Ordnung. 

Die  Organe  oder  Werkstücke,  in  dem  rein  morphologischen  Sinne, 
wie  wir  sie  oben  als  Form -Individuen  zweiter  Ordnung  näher  be- 
stimmt haben  (p.  289),  schliesseh  sich  in  promorphologischer  Beziehung 
unmittelbar  an  die' Piastiden  an,  sowohl  durch  die  unbeschränkte  Man- 
nichfaltigkeit  ihrer  Formen,  in  welchen  sich  fast  alle  möglichen  stereo- 
metrischen Grundformen  realisirt  nachweisen  lassen,  als  durch  das 
Vorherrschen  der  niederen  und  einfachen  Promorphen,  und  vor  allen 
der  Anaxonien.  Doch  kommen  daneben  in  den  vollkommneren  Or- 
ganen auch  höhere  Grundformen  sehr  allgemein  verbreitet  vor,  wie 
denn  z.  B.  die  höchste  von  Allen,  die  Dipleuren-Form,  als  die  allge- 
meine Grundform  der  pflanzlichen  Blätter  und  der  thierischen  Extremi- 
täten bezeichnet  werden  kann. 

Die  ausserordentliche  Mannichfaltigkeit  in  der  Bildung  der  Grund- 
form erklärt  sich  bei  den  Organen  ebenso  wie  bei  den  Piastiden  dar- 
aus, dass  die  Anpassungs- Verhältnisse  dieser  morphologischen  Indivi- 
dualität absolut  mannichfaltig  sind,  und  dass  keine  Schranke  die  Aus- 
bildung des  Organs  wie  der  Plastide  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen behindert.  Dazu  kommt  noch,  dass  die  verwickelte  Zusam- 
mensetzung der  höheren  Organe  aus  Complexen  von  niederen,  die 
höchst  complicirte  Verflechtung  von  Zellfusionen,  einfachen  Organen, 
zusammengesetzten  Organen,  Organ -Systemen  und  Organ -Apparaten, 
alle  möglichen  Grundformen  zu  verwirklichen  im  Stande  ist. 

Die  Mehrzahl    der  thierischen   Organe    gehört  vielleicht,    wie  die 

34* 


532  Grundformen  der  sechs  Individualitäts  -Ordnungen. 

Mehrzahl  aller  Piastiden,  der  amorphen  Grundform  der  Anaxonien  an; 
nächstdem  sind  die  niederen  Polyaxonien  und  vorzüglich  die  Monaxonien 
sehr  weit  verbreitet;  sowohl  die  homopolen  als  die  heteropolen  Mona- 
xonien bilden  die  Grundform  sehr  zahlreicher  Organe,  und  zwar  in 
allen  fünf  Ordnungen  von  Organen,  welche  wir  oben  unterschieden 
haben.  Aber  auch  die  Stauraxonien,  und  zwar  sowohl  die  homopolen 
Doppelpyramiden,  als  die  heteropolen  einfachen  Pyramiden,  finden  sich 
in  vielen  Organen  bei  den  verschiedenen  Stämmen  aller  drei  Reiche 
oft  sehr  deutlich  ausgeprägt.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  von  dem 
Vorherrschen  bestimmter  Grundformen  in  bestimmten  Organen  kaum 
etwas  sagen,  da  die  Verschiedenheiten  der  Anpassungs- Verhältnisse 
und  der  dadurch  modificirten  Grundformen  im  Allgemeinen  zu  unend- 
lich mannichfaltig  sind.  Nur  darauf  kann  aufmerksam  gemacht  wer- 
den, dass  sich  die  lateralen  zusammengesetzten  Organe  (die  Blätter 
der  Pflanzen,  die  Extremitäten  der  Thiere)  im  Allgemeinen  durch  Vor- 
herrschen der  Dipleuren-Form  auszeichnen,  und  dass  bei  den  pflanz- 
lichen Blättern  die  eudipleure,  bei  den  thierischen  Extremitäten  die 
dysdipleure  Grundform  vorherrschend  ist.  Am  wenigsten  scheint  eine 
bestimmte  stereometrische  Grundform  bei  denjenigen  verwickelten  Or- 
gan-Complexen  erkennbar  zu  sein,  welche  wir  oben  (p.  301,  302)  als 
Organ  -  Systeme  und  Organ- Apparate  unterschieden  haben;  doch  ist 
dieselbe  hier  oft  durch  die  Proinorphe  des  ganzen  Körpers  ausge- 
sprochen. 

Diejenigen  Organe,  welche  sich  frei  auf  Oberflächen  des  Körpers 
entwickeln,  zeigen  meistens  ausgeprägte  Monaxon -Formen,  wie  z.  B. 
die  meisten  Haare,  Stacheln;  oft  jedoch  auch  entschiedene  Eudipleuren- 
Form,  wie  die  Federn,  Schuppen.  Die  Organe,  welche  wir  oben 
(p.  311)  als  Nebenstücke  oder  Parameren  bezeichnet  haben,  und  welche 
in  ihrer  Nebeneinander-Lagerimg  den  Antimeren  entsprechen,  gleichen 
diesen  auch  stets  in  ihrer  Grundform,  welche  in  allen  Fällen  eine  ein- 
fache Pyramide  ist,  und  zwar  meistens  eine  dreiseitige  Pyramide.  Ge- 
wöhnlich ist  diese  ungleichdreiseitig  (dysdipleure),  seltener  gleich- 
schenkelig  (eudipleure).  Dysdipleure  sind  z.  B.  die  beiden  Parameren, 
aus  denen  jedes  eudipleure  Blatt,  jede  Wirbelthierzehe  zusammengesetzt 
ist.  Eudipleure  dagegen  sind  die  Parameren,  welche  als  drei  Klappen 
die  dreiarmigen  Pedicellarien  oder  Greif- Organe  der  Seeigel  zusam- 
mensetzen. Wie  die  Parameren  in  Grundform  und  Lagerung  den 
Antimeren  entsprechen,  so  zeigen  auch  diejenigen  Organe,  welche  wir 
oben  (p.  316)  als  Reihenstücke  oder  Epimeren  bezeichnet  haben,  und 
welche  in  ihrer  Hintereinander -Lagerung  den  Metameren  entsprechen, 
gewöhnlich  die  Grundform  der  letzteren,  nämlich  meistens  entweder 
die  homostaure  oder  die  heterostaure  Proinorphe  (reguläre  oder  irre- 
guläre Pyramide). 


III.    Grundformen  der  Antiraeren.  533 

111.   Grundformen  der  Antimeren. 

Promorphen  der  morphologischen  Individuen  dritter  Ordnung. 

Die  Antimeren  oder  Gegenstücke,  als  die  Form-Individuen  dritter 
Ordnung-,  zeigen  hinsichtlich  ihrer  Grundform  einen  sehr  auffallenden 
Gegensatz  zu  denjenigen  erster  und  zweiter  Ordnung.  Gegenüber 
der  unbeschränkten  promorphologischen  Mannichfaltigkeit  der  Organe 
und  Piastiden  findet  sich  bei  den  Antimeren  (und  ebenso  auch  bei 
den  Parameren)  nur  eine  sehr  geringe  Anzahl  von  stereometrischen 
Grundformen  realisirt.  Dieser  Umstand  ist  unmittelbar  bedingt  durch 
die  bestimmten  Beziehungen,  welche  die  Form-Individuen  dritter  Ord- 
nung stets  zu  denjenigen  vierter  Ordnung,  und  ganz  besonders  zu  ihres 
gleichen  haben.  Da  der  Körper  aller  höheren  Form-Iudividuen  (vierter  und 
fünfter  Ordnung)  aus  zwei  oder  mehr  Antimeren  zusammengesetzt  ist, 
da  die  specifische  Zahl  derselben  (die  horaotypische  Grundzahl),  und 
ebenso  ihre  Verbindung,  in  den  einzelnen  Species  eine  sehr  con- 
stante  ist,  und  da  durch  diese  Verbindung  die  Grundform  des  Meta- 
meres  und  der  Person  bestimmt  wird,  so  muss  noth wendig  auch  die 
Grundform  des  Antimeres  selbst  eine  sehr  bestimmte  und  kann  nur 
eine  sehr  einförmige  sein.  Alle  Antimeren,  welche  ein  Metamer  oder  eine 
Person  zusammensetzen,  müssen  sich  in  bestimmten  Ebenen  berühren, 
und  sie  müssen  ferner  bestimmte  gemeinsame  Lagerungs-Beziehungen 
zu  dem  Centrum  haben,  welches  ihnen  allen  gemeinsam  ist.  Je  nach- 
dem dieses  Centrum  ein  Punkt,  eine  Linie  oder  eine  Ebene  ist,  wird 
die  stereometrische  Grundform  der  Antimeren  wesentliche  Verschieden- 
heiten darbieten  und  werden  dem  entsprechend  allgemeine  Differenzen 
der  Grundform  bei  den  Antimeren  der  Centrostigmen,  Centraxonien  und 
Centrepipeden  sich  vorfinden.  Wegen  der  hervorragenden  Bedeutung, 
welche  die  Antimeren  als  die  wichtigsten  Factoren  der  Grundformen 
der  Individuen  vierter  und  fünfter  Ordnung  besitzen,  ist  es  von  In- 
teresse, diese  drei  Fälle  näher  zu  betrachten.     (Vergl.  Taf.  I  und  II). 

A.  Die  Formengruppe  der  Centrostigmen,  ausgezeichnet  da- 
durch, dass  die  Mitte  des  Körpers  ein  Punkt  ist,  zerfällt  in  die 
beiden  Abtheilungen  der  Homaxonien  (Kugeln)  und  der  Polyaxonien 
(endosphärische  Polyeder).  Da  bei  den  Kugeln  keine  Antimeren  zu 
unterscheiden  sind,  so  kommen  hier  ausschliesslich  die  endosphaeri- 
schen  Polyeder  in  Betracht.  Bei  diesen  ist  allgemein  jedes  Antimer 
eine  Pyramide,  und  zwar  bei  den  rhythmischen  eine  reguläre,  bei  den 
arrhythmen  entweder  eine  reguläre  oder  eine  irreguläre  Pyramide. 
Wenn  das  Polygon  der  Polyeder- Oberfläche ,  welches  die  Basis  des 
Antimeres  bildet,  ein  Dreieck  ist,  so  ist  die  Grundform  des  letzteren 
die  dreiseitige  Pyramide,  wenn  das  Polygon*  vier  oder  fünf  Seiten  hat, 
eine  vierseitige  oder  fünfseitige  Pyramide  ut   s.  w.     Die   Grundform 


534  Grundformen  der  sechs  Individualitäts  -  Ordnungen. 

aller  Antimeren   (und    ebenso   aller  Paranieren)  bei  den  Polyaxonien 
ist  also  die  heteropole  Stauraxonform,  die  einfache  Pyramide. 

B.  Die  Formengruppe  der  Centraxonien,  ausgezeichnet  da- 
durch, dass  die  Mitte  des  Körpers  eine  Linie  (entweder  die  ein- 
zige Axe  oder  die  Hauptaxe,  Längsaxe)  ist,  zerfällt  in  die  vier  Ab- 
theilungen der  Monaxonien,  homopolen  Stauraxonien,  homostauren 
Heteropolen  und  autopolen  Heterostauren.  Von  diesen  kommen  nur 
die  drei  letzteren  in  Betracht,  da  bei  den  Monaxonien  (ohne  Kreuz- 
axen,  bloss  mit  einer  Hauptaxe)  keine  Antimeren  zu  unterscheiden 
sind.  Die  Grundform  der  homopolen  Stauraxonien  ist  die  Doppelpyra- 
mide. Alle  diese  Formen  sind  also  zu  betrachten  als  zusammengesetzt 
aus  zwei  congruenten  Pyramiden,  (zwei  Metameren),  und  jede  dieser 
letzteren  ist  aus  mindestens  drei  Antimeren  zusammengesetzt.  Diese 
müssen  selbst  wieder  Pyramiden  sein,  und  zwar  dreiseitige.  Bei  den 
Isostauren  (regulären  Doppelpyramiden)  ist  jedes  Antimer  eine  gleich- 
schenkelige  Pyramide  (halbe  Rhomben-Pyramide),  bei  den  Allostauren 
dagegen  (amphithecten  Doppelpyramiden)  entweder  eine  gleichschen- 
kelige  oder  eine  ungleichseitige  dreikantige  Pyramide.  Bei  den  homo- 
stauren Heteropolen,  deren  Grundform  die  einfache  reguläre  Pyramide 
ist  (z.  B.  allen  sogenannten  regulären  Strahlthieren  und  wirklich  regel- 
mässigen Blüthen),  muss  jedes  einzelne  Antimer  eine  gleichschenkelige 
Pyramide  (halbe  Rhomben-Pyramide)  sein.  Bei  den  autopolen  Hetero- 
stauren endlich,  der  höchststehenden  Formengruppe  unter  den  Centra- 
xonien, deren  Grundform  die  einfache  amphithecte  Pyramide  ist  [z.  B. 
Ctenophoren  und  Madreporen),  muss  jedes  einzelne  Antimer  entweder 
eine  gleichschenkelige  Pyramide  sein  (z.  B.  die  beiden  lateralen  Anti- 
meren der  Madreporen,  rechtes  und  linkes),  oder  eine  ungleichseitig- 
dreikantige Pyramide  (z.  B.  die  beiden  dorsalen  und  die  beiden  ven- 
tralen Antimeren  der  Madreporen).  Mithin  ist  bei  allen  Centraxonien 
ohne  Ausnahme  die  allgemeine  Promorphe  der  Antimeren  (und  ebenso 
der  Parameren)  die  dreiseitige  Pyramide,  entweder  die  halbe  Rhomben- 
Pyramide  (Eudipleuren-Form)  oder  die  ungleich  -  dreiseitige  Pyramide 
(Dysdipleuren-Form). 

C.  Die  Formengruppe  der  Centrepipeden  oder  Zeugiten 
(allopolen  Heterostauren ),  ausgezeichnet  dadurch,  dass  die  Mitte  des 
Körpers  eine  Ebene  (die  Medianebene  oder  Sagittalebene)  ist, 
zerfällt  in  die  beiden  Abtheilungen  der  Amphipleuren  und  Zygopleuren. 
Bei  den  ersteren  besteht  der  Körper  aus  drei,  fünf  oder  mehr,  bei  den 
letzteren  aus  zwei  oder  vier  Antimeren.  Bei  den  Amphipleuren  ist 
die  Grundform  jedes  Antimeres  entweder  die  gleichschenkelige  Pyra- 
mide (z.  B.  das  ventrale  Antimer  der  pentamphipleuren  Echinodermen) 
oder  eine  ungleichdreiseitige  Pyramide  (die  vier  übrigen  Antimeren  der 
letzteren).     Bei  den  Zygopleuren  sind  die  Antimeren  fast  immer  un- 


IV.    Grundformen  der  Metameren.  535 

gleichdreiseitige  Pyramiden;  die  einzige  Ausnahme  bildet  das  dorsale 
und  das  ventrale  Antimer  bei  den  radialen  Eutetrapleuren  (z.  B.  die 
Blüthen  von  Reseda,  Betula,  ScabiosaJ,  welche  beide  gleichschenkelige 
Pyramiden  sind.  Bei  der  eudipleuren  Grundform,  der  wichtigsten  von 
allen  Promorphen,  besitzt  jede  der  beiden  symmetrisch-gleichen  Kör- 
perhälften die  dysdipleure  Grundform.  Es  ist  also  auch  bei  allen 
Centrepipeden  die  Grundform  der  Antimeren  (und  ebenso  der  Para- 
meren)  entweder  die  gleichschenkelige  Pyramide  (Eudipleuren- Form) 
oder  die  ungleichdreiseitige  Pyramide  (Dysdipleuren-Form). 

Wir  erhalten  somit  das  wichtige  promorphologische  Gesetz,  dass 
die  allgemeine  stereometrische  Grundform  aller  Antimeren  ohne  Aus- 
nahme (und  ebenso  aller  Parameren)  eine  einfache  Pyramide  ist,  und 
zwar  allermeist  die  dreiseitige  (Dipleuren-Form),  selten  (nur  bei  eini- 
gen Centrostigmen)  die  vielseitige  Pyramide.  Gewöhnlich  ist  die  drei- 
seitige Pyramide  ungleichseitig  (dysdipleure),  seltener  gleichschenkelig 
(eudipleure  Grundform);  im  ersteren  Falle  ist  ihre  Basis  ein  ungleich- 
seitiges, im  letzteren  ein  gleichschenkliges  Dreieck. 

Niemals  kann  demnach  ein  Paramer  oder  ein  Antimer  fol- 
gende Grundformen  besitzen:  1.  Anaxonie  (Amorphe).  2.  Homaxonie 
(Kugel).  3.  Polyaxonie  (endosphaerisch.es  Polyeder).  4.  Monaxonie 
(mit  einer  einzigen  Axe).   5.  Homopole  Stauraxonie  (Doppelpyramide). 

IV.  Grundformen  der  Metameren. 

Promorphen  der  morphologischen  Individuen  vierter  Ordnung. 

Die  Metameren  oder  Folgestücke  zeigen  ein  ziemlich  verschiede- 
nes morphologisches  Verhalten,  je  nachdem  sie  als  actuelle  Bionten 
sich  isolirt  entwickeln  oder  aber  nur  als  morphologische  Individuen 
vierter  Ordnung  subordinirte  Theile  einer  Person  bilden.  Im  ersteren 
Falle  ist  ihre  Formen-Mannichfaltigkeit  sehr  gross,  im  letzteren  mehr 
beschränkt. 

Wenn  die  Metameren  als  actuelle  Bionten  auftreten,  wie  es  bei 
allen  höheren  Mollusken,  den  niederen  Würmern  (Trematoden,  Nema- 
toden, Gephyreen,  Infusorien),  sehr  vielen  Protisten  und  vielen  Crypto- 
gamen  der  Fall  ist,  so  können  dieselben,  je  nach  der  Zahl  und  Ver- 
bindung der  constituirenden  Antimeren,  entweder  (wie  bei  allen  ge- 
nannten Thiergruppen)  vorwiegend  die  Eudipleuren -Form  annehmen, 
oder  aber  zu  den  verschiedensten  Grundformen  sich  ausbilden,  wie  es 
z.  B.  bei  vielen  Protisten  (Radiolarien)  der  Fall  ist.  Ausgeschlossen 
sind  hier  nur  (schon  wegen  der  notwendigen  Zusammensetzung  des 
Metamers  aus  zwei  oder  mehreren  Antimeren)  die  Anaxonien,  Homa- 
xonien  und  Monaxonien.  In  allen  Fällen  muss  die  Grundform  der 
Metameren  zu  den  Heteraxonien  gehören,  und  unter  diesen  ist<öW\  &M  / 

l    IRRARYk 


536  Grundformen  der  sechs  Individualitäts- Ordnungen. 

Monaxonforra  und  die  hornopole  Stauraxon-Forrn  ausgeschlossen,  weil 
diese  (als  Doppelpyramide)  selbst  stets  aus  zwei  congruenten  Meta- 
meren  (Pyramiden)  zusammengesetzt  ist. 

Wenn  dagegen  die  Metameren  als  subordinirte  Bestandtheile  eines 
Form -Individuums  fünfter  Ordnung,  einer  Person  erscheinen,  wie  es 
bei  allen  Wirbelthieren,  Arthropoden  und  Echinodermen,  bei  den  mei- 
sten Würmern,  Coelenteraten  und  Phanerogamen  der  Fall  ist,  so  finden 
wir  die  Zahl  der  Grundformen,  welche  in  ihnen  realisirt  sind,  viel  be- 
schränkter. Es  ist  dann  meistens  die  Grundform  des  Metameres 
dieselbe,  wie  diejenige  der  Person,  zu  der  sie  gehört,  also  bei  den 
gegliederten  „  regulären -'  Strahlthieren  und  den  regelmässigen  Phanero- 
gamen-Blüthen  die  Homostauren -Form  (reguläre  Pyramide),  bei  den 
„bilateral-symmetrischen H  Thieren  und  Pflanzen-Sprossen  im  weiteren 
Sinne  die  Heterostauren-Form,  (irreguläre  Pyramide).  Jedoch  kommen 
auch  oft  Abweichungen  von  dieser  Kegel  vor,  wie  z.  B.  in  den  ver- 
schiedenen Metameren  (..Blattkreisen")  einer  einzelnen  Phanerogamen- 
Blüthe,  deren  Grundform  häufig  verschieden  ist.  So  ist  z.  B.  oft  bei  den 
fünfzähligen  „symmetrischen"  Blüthen  der  Papilionaceen,  Labiaten  etc. 
das  Metamer  des  Kelches  eine  fünfseitige  reguläre  Pyramide  (Homo- 
staure),  die  übrigen  Metameren  der  Blüthe  dagegen  halbe  zehnseitige 
amphithecte  Pyramiden  (Pentamphipleuren).  Ebenso  sind  bei  vielen 
Anneliden  die  meisten  Metameren  Eutetrapleure,  die  vordersten  da- 
gegen, und  namentlich  der  Kopf,  Eudipleure;  bei  Taenia  ist  umge- 
kehrt der  Kopf  tetractinot,  die  folgenden  Metameren  (Proglottiden) 
cliphragmisch.  In  diesen  Fällen,  wo  verschiedene  Metameren  einer 
und  derselben  Person  verschiedene  Grundformen  haben,  gilt  immer 
die  am  höchsten  differenzirte  Grundform  als  diejenige  der  ganzen 
Person.  Da  die  Grundform  der  Metameren,  ebenso  wie  diejenige  der 
Personen,  zu  verschiedenen  Lebenszeiten  oft  eine  verschiedene  ist,  so 
muss  das  betreffende  Entwickelungs- Stadium  bei  der  promorpliologi- 
schen  Bestimmung  angegeben  werden. 

Bei  der  grossen  Mehrzahl  aller  Metameren,  sowohl  im  Thierreich, 
als  im  Pflanzenreich,  ist  die  Grundform  die  halbe  amphithecte  Pyra- 
mide (Zeugiten-Form)  und  zwar  allermeistens  die  gleichschenkelige 
Pyramide  (Tetrapleura  und  Dipleura);  nächstdem  am  häufigsten  die 
halbe  amphithecte  Pyramide  mit  o,  5  oder  mehr  Seiten  (Amphipleura) 
und  dann  die  reguläre  Pyramide  (Homostaura). 

Alles,  was  von  der  Grundform  der  Metameren  gesagt  ist,  welche 
die  Personen  zusammensetzen,  dasselbe  gilt  auch  von  der  Grundform 
der  Epimeren,  welche  in  ähnlicher  Weise  (als  hinter  einander  liegende 
Theile)  Organe  und  Piastiden  constituiren.  Wie  die  Metameren  ge- 
wöhnlich die  Grundform  der  Personen,  so  theilen  die  Epimeren  die- 
jenige der  Organe  und  Piastiden,  welche  sie  zusammensetzen. 


V.  Grundformen  der  Personen.  537 

V.   Grundformen  der  Personen. 

Promorphen  der  morphologischen  Individuen  fünfter  Ordnung. 

Die  Personen  oder  Sprossen,  sowohl  die  solitären,  welche  isolirt 
als  einzelne  Bionten  leben,  als  auch  die  socialen,  welche  als  Form- 
Individuen  fünfter  Ordnung  solche  sechster  Ordnung  (Stöcke)  zusam- 
mensetzen, stimmen  in  ihrer  Grundform  gewöhnlich  mit  den  Meta- 
meren  überein,  aus  denen  sie  aufgebaut  sind,  und  zeigen  eine  weit 
grössere  promorphologische  Mannichfaltigkeit ,  als  die  Antimeren.  In 
den  verschiedenen  Klassen  und  Stämmen  der  drei  Keiche  ist  die 
Grundform  der  Personen  eine  äusserst  verschiedenartige;  wir  können 
hier  aber  auf  deren  Aufzählung  völlig  verzichten,  da  wir  bei  dem 
System  der  stereometrischen  Grundformen,  das  wir  im  vorigen  Capitel 
entwickelten,  stets  vorzugsweise  die  Person  im  Auge  hatten,  und 
fast  bei  allen  einzelnen  Grundformen  Beispiele  von  Personen  anführten. 

Nur  im  Allgemeinen  mag  also  daran  erinnert  werden,  dass  bei 
allen  höheren  Thieren  (allen  Wirbelthieren,  Arthropoden  und  höheren 
Würmern)  die  Zygopleuren-Form  (die  gleichschenkelige  Pyramide)  die 
allgemein  maassgebende  Grundform  ist;  und  zwar  bei  den  am  meisten 
entwickelten  die  dipleure,  bei  den  tiefer  stehenden  die  tetrapleure. 
Bei  den  Strahlthieren  dagegen  (Echinodermen  und  Coelenteraten) 
wie  bei  den  Phanerogamen,  ist  die  Grundform  der  Amphipleuren, 
der  autopolen  Heterostauren  und  der  homostauren  Heteropolen  die 
vorherrschende.  Die  übrigen  Grundformen,  in  denen  die  Person  noch 
auftreten  kann,  finden  sich  grösstenteils  bei  Protisten  und  niederen 
Pflanzen  verkörpert. 

Dass  sehr  oft  die  Grundform  der  verschiedenen  Metameren  bei 
einer  und  derselben  Person  eine  verschiedene  ist  (z.  B.  bei  den  ver- 
schiedenen Blattkreisen  einer  Blüthe),  wurde  schon  vorher  erwähnt,  und 
hinzugefügt,  dass  in  diesen  Fällen  immer  die  vollkommenste,  am  mei- 
sten differenzirte  Grundform  als  diejenige  der  Person  angesehen  wer- 
den rnuss.  Hier  ist  nun  noch  zu  bemerken,  dass  auch  sehr  oft  die 
Grundform  einer  und  derselben  Person  in  verschiedenen  Lebensaltern 
eine  verschiedene  sein  kann,  je  nachdem  das  eine  oder  das  andere 
Metamer  mit  seiner  maassgebenden  Grundform  vorwiegend  oder  allein 
entwickelt  ist.  So  hat  namentlich  die  Phanerogamen  -  Blüthe  (Ge- 
schlechts-Person)  sehr  häufig  eine  wesentlich  andere  Grundform,  als 
die  Frucht,  welche  sich  daraus  entwickelt.  Bei  den  Cruciferen  z.  B.  ist 
die  Promorphe  der  Blüthe  die  Tetraphragme,  der  Frucht  die  Diphragme, 
bei  den  Papilionaceen  die  Form  der  Blüthe  Pentamphipleure,  die  der 
Frucht  Eudipleure.  Hier  muss  dann  bestimmt  das  Entwickelungs-Sta- 
dium  der  Person  angegeben  werden,  wenn  ihre  Promorphe  bestimmt 
werden  soll. 


538  Grundformen  der  sechs  Individualitäis-  Ordnungen. 

VI.   Grundformen  der  Stöcke. 

Promorphen  der  morphologischen  Individuen  sechster  Ordnung. 

Die  Stöcke  oder  Cormen,  welche  als  Form -Individuen  sechster 
Ordnung  stets  eine  Vielheit  von  Personen  (Sprossen)  darstellen,  wer- 
den in  ihrer  Grundform  wesentlich  durch  die  Anordnung  bestimmt,  in 
welcher  die  letzteren  zusammentreten.  Bei  den  regelmässig  verästelten 
Pflanzenstöcken  wird  die  Stellung  der  Sprossen,  welche  seitlich  aus 
dem  Hauptspross  entspringen  und  den  Cornms  zusammensetzen,  durch 
die  verwickelten  Gesetze  der  Blattstellung  bedingt,  insofern  die  Spros- 
sen als  Axillarknospen  aus  den  Blattwinkeln  hervortreten.  Dieselbe 
stereometrische  Grundform  des  Hauptsprosses,  welche  durch  die  Blatt- 
stellung bedingt  wird,  ist  dann  natürlich  auch  zugleich  die  Promorphe 
des  Stockes.  Bei  den  einfachen,  seltener  bei  den  zusammengesetzten 
Stöcken,  ist  dieselbe  oft  scharf  zu  bestimmen,  und  zeigt  sich  dann 
meistens  deutlich  als  eine  einfache  Pyramide  (heteropole  Stauraxonie) 
und  zwar  bald  als  reguläre  Pyramide  (Homostaure),  (z.  B.  bei  den  Cru- 
ciaten,  vielen  Nadelbäumen),  bald  als  irreguläre  Pyramide  (Heterostaure). 
Unter  den  regulären  Pyramiden  als  Grundform  des  Stockes  scheint 
besonders  die  dreiseitige  und  vierseitige  häutig  zu  sein.  Sehr  häufig 
sind  aber  auch  an  dem  einfachen  Stocke,  wie  es  bei  den  meisten  zu- 
sammengesetzten der  Fall  ist,  die  Kreuzaxen  nicht  scharf  oder  gar 
nicht  zu  bestimmen,  und  dann  müssen  wir  als  Grundform  die  diplo- 
pole  Monaxonform  betrachten,  das  Ei  oder  den  Kegel  oder  den  abge- 
stumpften Kegel.  Als  vollkommen  unregelmässige  oder  anaxonie 
Stöcke,  wie  sie  im  Thierreich  so  verbreitet  sind,  können  wir  nur  die- 
jenigen Pflanzenstöcke  betrachten,  bei  denen  gar  keine  Axe  bestimmt 
ausgesprochen  ist ,  indem  z.  B.  der  Hauptspross  sich  nicht  entwickelt 
und  Seitensprosse  nach  allen  Richtungen  hin  unregelmässig  hervor- 
wachsen. 

Die  grosse  Mehrzahl  der  echten  Thierstöcke  (wohin  wir  nach  den 
Erläuterungen  des  neunten  Capitels  nur  die  meisten  Stöcke  der  Coe- 
lenteraten  und  eine  Anzahl  von  Molluskenstöcken  rechnen  können), 
lassen  ebenfalls,  wie  die  meisten  Pflanzenstöcke  ihre  stereometrische 
Grundform  nur  schwer  erkennen,  viele  gar  nicht  deutlich.  Sehr  viele 
thierische  Stöcke  (Anthozoen,  Hydroiden,  Tunicaten,  Bryozoen)  er- 
scheinen vollständig  unregelmässig  und  formlos  (Anaxonia).  Die  mei- 
sten übrigen  lassen  gewöhnlich  nur  die  heteropole  Monaxon- Form 
deutlich  erkennen  (Ei,  Kegel,  abgestumpfter  Kegel).  Viel  seltener 
sind  heteropole  Stauraxonformen  (Pyramiden) ,  und  unter  diesen  am 
seltensten  vollkommen  reguläre  Pyramiden,  wie  sie  bei  einigen  Siphono- 
phoren  deutlich  vorkommen  (Porpila,  Athorybia,  Angela,  Stephanomia, 
Forskalia).     Besonders  bestimmend  erscheint  hier  die  Zahl  und  Lage- 


VI.    Grundformen  der  Stöcke.  539 

rung  der  Schwimmglocken  oder  die  radiale  Composition  des  Stammes. 
Die  Zahl  der  radialen  Personen,  die  in  einer  Ebene  um  das  Centrum 
liegen  (z.  B.  bei  Athorybia  die  Deckstücke),  oder  die  Zahl  der  parallelen 
Längsreihen  der  Schwimmglocken  entspricht  der  Zahl  der  Kanten  der 
Pyramide.  Ausnahmsweise  kommen  hier  auch  höhere  Grundformen 
bei  einzelnen  Arten  vor.  So  lässt  sich  z.  B.  die  Grundform  von 
Velella  als  Diphragme,  von  Physalia  als  Dysdipleure  auffassen.  Auch 
die  Stöcke  mit  zweizeiligen  Schwimmsäulen  von  mehreren  Physophori- 
den  (Apolemia)  und  Calycophoriden  (Hippopodius)  können  als  Diphragme 
betrachtet  werden,  wogegen  die  meisten  Stöcke  der  Diphyiden  Eudi- 
pleure  oder  Dysdipleure  sind. 

Die  Eudipleuren-Form  als  die  höchste  und  vollkommenste  Grund- 
form ist  sonst  bei  den  Cormen  sehr  selten,  und  namentlich  selten  so 
rein  ausgebildet,  wie  es  bei  der  federförmigen  Pennatula  und  anderen 
Pennatuliden  (der  nierenförmigen  Renüla,  der  zweizeiligen  Virgularia) 
unter  den  Anthozoen  der  Fall  ist.  Offenbar  ist  auch  hier  wieder  das 
Moment  der  freien  Ortsbewegung,  für  welche  immer  die  Eudipleuren- 
Form  die  passendste  ist,  maassgebend.  Freilich  kommen  ähnliche 
eudipleure  Stöcke  auch  bei  festsitzenden  Hydroidpolypen  nicht  selten 
vor.  Doch  ist  hier,  besonders  bei  den  Sertularien  (bei  Halecium, 
Plumnlaria  etc.)  viel  häufiger  und  reiner  die  Diphragmen-Form. 

Im  Ganzen  genommen  erscheinen  jedoch  diese  Fälle  von  diphrag- 
men  und  eudipleuren  Grundformen  bei  den  thierischen  Cormen,  und 
ebenso  von  homostauren  Heteropolen  bei  den  Pflanzenstöckeu,  als 
seltene  Ausnahmen  gegenüber  der  grossen  Mehrzahl  derjenigen  Cor- 
men, bei  welchen  entweder  die  diplopole  Monaxonform  oder  aber 
gar  keine  bestimmte  Grundform  ausgeprägt  ist,  so  dass  wir  sie  zu 
den  Anaxonien  rechnen  müssen.  Es  zeigen  mithin  die  Stöcke,  als 
die  morphologischen  Individuen  sechster  und  höchster  Ordnung  keines- 
wegs einen  entsprechenden  Reichthum  verschiedener  Promorphen  oder 
auch  nur  ein  Vorherrschen  der  höheren  Formen;  vielmehr  stehen  sie 
in  beiden  Beziehungen  weit  hinter  den  Form -Individuen  fünfter  und 
vierter  Ordnung  zurück,  und  schliessen  sich  eher  den  niedersten  In- 
dividualitäts-Formen an,  den  Piastiden. 


540  Promorphologische  Thesen. 


Fünfzehntes  Capitel. 

Promorphologische  Thesen. 


„Alles,  was  den  Raum  erfüllt,  nimmt, 
insofern  es  solidescirt,  sogleich  eine  Gestalt 
an ;  diese  regelt  sich  mehr  oder  weniger 
und  hat  gegen  die  Umgebung  gleiche  Be- 
züge mit  anderen  gleichgestalteten  Wesen." 

Goethe. 


I.  Thesen  von  der  Fundamental -Form  der  Organismen. 

1.  Die  äussere  Form  jedes  Organismus  ist  ebenso  wie  seine 
innere  Structur  der  Ausdruck  des  Lagerungs  -  Verhältnisses  der  im 
Ruhestand  (Gleichgewichtstand)  befindlichen  Massen -Atome  und  der 
aus  ihnen  zusammengesetzten  Moleküle,  welche  seine  Masse  consti- 
tuiren. ') 

2.  Die  äusseren  Formen  der  Organismen  sind  bedingt  durch  ihre 
innere  Structur,  und  daher,  gleich  dieser  selbst,  als  Ruhezustände 
(Gleichgewichtszustände)  der  organischen  Materie  nur  in  einem  einzi- 
gen Zeitmomente  erkennbar. 

3-  Die  Ruhezustände  (Gleichgewichtszustände)  der  Massen-Atome 
und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten  Moleküle,  welche  in  der  äusseren 
Form  des  Organismus  sich  ausdrücken,  werden  durch  dieselben  ewigen 
und  unabänderlichen  Gesetze  der  absoluten  Notwendigkeit  bedingt, 
wie  alle  äusseren  Formen  in  der  anorganischen  Natur  (Krystalle); 
alle  sind  mithin  die  notwendigen  Folgen  wirkender  Ursachen  (nach 
dem  allgemeinen  Causalgesetz). 


')   Ueber  die  „Thesen"  vergl.  p.  364,  Anmerk. 


Promorphologische  Thesen.  541 

4.  Die  äussere  Form  jedes  organischen  Individuums  ist  mithin 
immer  ebenso  gesetzmässig,  wie  diejenige  jedes  anorganischen  In- 
dividuums und  daher  einer  mathematischen  Erkenutniss  (Ausmessung 
und  Berechnung)  zugänglich;  jedoch  lassen  sich  in  dieser  Beziehung 
bei  den  organischen  ebenso  wie  bei  den  anorganischen  Individuen 
zwei  Hauptgruppen  von  Formen  unterscheiden,  individuelle  Formen 
nämlich  mit  und  ohne  feste,  stereometrisch  bestimmte  Grundform. 

5.  Diejenigen  individuellen  Naturkörper,  welche  eine  mathematisch 
bestimmbare  Fundamentalform  besitzen,  können  wir  allgemein  als 
Axenfeste  (Axonia)  bezeichnen,  weil  diese  Fundamentalform,  die  Pro- 
morphe  oder  stereometrische  Grundform,  bestimmt  wird  durch  das  ge- 
setzmässige  Verhältniss  der  einzelnen  Körpertheile  zu  einer  oder 
mehreren  festen  Axen  und  deren  beiden  Polen. 

6.  Diejenigen  individuellen  Naturkörper,  welche  eine  solche  feste, 
mathematisch  bestimmbare  Fundamental -Form  oder  Promorphe  nicht 
erkennen  lassen,  können  im  Gegensatz  zu  deu  Axenfesteu  als  Axen- 
lose  oder  Anaxonien  bezeichnet  werden. 

7.  Die  axenfesteu  Auorgane  werden  theils  als  Sphaeroide,  theils 
als  Krystalle  bezeichnet,  die  axenfesteu  organischen  Individuen  dage- 
gen theils  als  symmetrische,  theils  als  reguläre  Formen;  doch  sind 
diese  letzteren  Ausdrücke  von  keiner  constanten  Bedeutung. 

8.  Die  axenlosen  Individuen,  sowohl  die  anorganischen  als  die 
organischen,  werden  als  Amorphe  oder  Irreguläre  bezeichnet;  doch  hat 
man  auch  viele  reguläre  und  symmetrische  Formen  häufig  als  irre- 
guläre und  asymmetrische  („  Amorphozoa"  z.  B.)  bezeichnet. 

9-  Die  Promorphe  oder  die  stereometrische  Grundform  der  Axen- 
festeu ist  nur  sehr  selten  mathematisch  rein  in  den  axonien  Individuen 
realisirt;  gewöhnlich  ist  sie  unter  mehr  oder  weniger  bedeutenden  in- 
dividuellen Formeigenthümlichkeiten  und  insbesondere  unter  verschie- 
denen Anpassungs- Modifikationen  der  Oberfläche  versteckt. 


H.  Thesen  von  dem  Verhältniss  der  organischen  zu  den  anorganischen 

Grundformen. 

10.  Die  axenfesteu  oder  axonien  Formen  der  organischen  Indivi- 
duen sind  ebenso  wie  diejenigen  der  anorganischen  Individuen  das 
nothwendige  Resultat  der  gesetzmässigen  Lagerung  entsprechender 
Körpertheile  um  eine  bestimmte  Mitte  (Centrum),  durch  welche  eine 
oder  mehrere  Axen  gehen. 

11.  Die  Zahl  der  bestimmenden  Axen  sowie  die  Differenzirung 
dieser  Axen  und  ihrer  Pole  ist  bei  den  organischen  Individuen  i^Mor- 
phonten)  ungleich  mannichfaltiger  als  bei  den  anorganischen  Individuen 


542  Promorphologische  Thesen. 

(Krystallen),  daher  auch  die  Zahl  der  verschiedenen  Grundformen  bei 
ersteren  beträchtlich  grösser,  als  bei  letzteren. 

12.  Die  meisten  (aber  nicht  alle!)  organischen  Individuen  zeigen 
ihre  stereometrische  Grundform  nicht  so  unmittelbar  deutlich  und 
scharf,  wie  die  meisten  (aber  nicht  alle!)  Krystalle,  was  theils  durch 
den  festflüssigen  Aggregatzustand,  theils  durch  die  Variabilität,  theils 
durch  die  zusammengesetzte  Individualität  der  meisten  Organismen  be- 
dingt ist. 

13.  Durch  den  festflüssigen  Aggregatzustand  der  organischen  Ma- 
terie werden  die  gekrümmten  Flächen,  gebogenen  Linien  und  unmess- 
baren  Winkel  bedingt,  welche  die  meisten  äusseren  Formen  der 
Organismen  begrenzen,  und  welche  nicht  so  unmittelbar  eiuer  stren- 
gen geometrischen  Ausmessung  und  Berechnung  zugänglich  sind,  wie 
die  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und  messbaren  festen  Winkel, 
welche  die  im  festen  Aggregatzustande  befindlichen  Krystalle  be- 
grenzen. 

14.  Durch  den  festflüssigen  Aggregatzustand  der  organischen 
Materie  wird  die  Anpassungsfähigkeit  und  dadurch  die  Veränderlich- 
keit (Variabilität)  bedingt,  welche  die  geformten  Organismen  von  den 
geformten  Anorganen  unterscheidet,  und  welche  eine  absolut  strenge 
stereometrische  Erkenntniss  der  specifischen  organischen  Formen  schon 
wegen  ihrer  Inconstanz  unmöglich  macht. 

15.  Da  die  meisten  organischen  Individuen  sich  von  den  meisten 
anorganischen  durch  ihre  zusammengesetzte  Individualität  unterschei- 
den, da  der  Körper  bei  den  ersteren  meist  aus  heterogenen,  bei  den 
letzteren  meist  aus  homogenen  Bestandteilen  zusammengesetzt  ist,  so 
wird  auch  hierdurch  die  Erkenntniss  der  stereometrischen  Grundform 
bei  den  ersteren  bedeutend  erschwert  und  complicirt. 

16.  Da  die  meisten  Organismen  sich  entwickeln,  d.  h.  während 
ihrer  individuellen  Existenz  als  Bionten  eine  Reihe  von  Form -Verän- 
derungen durchlaufen,  so  ist  auch  aus  diesem  Grunde  eine  absolute 
stereometrische  Erkenntniss  ihrer  individuellen  äusseren  Form  (wie  bei 
den  Krystallen)  nicht  möglich. 

17.  Obgleich  aus  den  angeführten  Gründen,  insbesondere  also 
wegen  des  festflüssigen  Aggregatzustandes  aller  Organismen,  wegen 
ihrer  tectologisclien  Zusammensetzung,  wegen  ihrer  unbegrenzten  Fähig- 
keit zur  Anpassung  und  Abänderung,  und  wegen  des  Formenwechsels 
im  Laufe  der  individuellen  Entwickelung,  eine  absolute  stereometrische 
Erkenntniss  der  organischen  Formen  (wie  sie  die  Krystallographie  er- 
reicht) in  den  meisten  Fällen  nicht  unmittelbar  möglich  ist,  so  ist  den- 
noch eine  ganz  ähnliche  mathematische  Betrachtung  derselben  durch 
die  Erkenntniss  der  idealen  stereometrischen  Grundform  möglich,  welche 
denselben  ebenso  wie  den  Krystallen  zu  Grunde  liegt. 


Promorphologische  Thesen.  543 

18.  In  den  organischen  Individuen  ebenso  wie  in  den  Krystallen 
spricht  sich  diese  stereometrische  Grundform  unverkennbar  mit  mathe- 
matischer Bestimmtheit  aus  in  den  gegenseitigen  Verhältnissen  der 
Axen,  nach  welchen  die  constituirenden  Bestandteile  des  Individuums 
geordnet  erscheinen,  und  der  beiden  Pole,  welche  an  jeder  Axe  zu 
unterscheiden  sind. 

19.  Durch  die  Zahl  dieser  idealen  (und  oft  zugleich  realen,  kör- 
perlichen) Axen,  sowie  durch  das  Verhältniss  der  Gleichheit  oder  Un- 
gleichheit der  Axen  sowohl  als  ihrer  beiden  Pole,  werden  gewisse  ein- 
fache stereometrische  Grundformen  mit  mathematischer  Sicherheit  be- 
stimmt, auf  welche  sich  die  nicht  direct  messbaren  und  berechenbaren 
organischen  Formen  ebenso  wie  diejenigen  der  Krystall-Individuen  zu- 
rückführen lassen. 

20.  Die  stereometrische  Grundform  oder  die  Promorphe  jedes  or- 
ganischen Individuums  drückt  alle  wesentlichen  und  die  allgemeine 
Gestalt  bestimmenden  Lagerungs-Verhältnisse  ihrer  constituirenden  Be- 
standteile mit  mathematischer  Sicherheit  ganz  ebenso  wie  bei  den 
individuellen  Krystallen  aus. 

21.  Jede  wissenschaftliche  Darstellung  einer  individuellen  organi- 
schen Form  hat  zunächst  die  Aufgabe  der  Erkenntniss  ihrer  stereo- 
metrischen Grundform,  an  welche  sich  dann  die  detaillirte  Beschrei- 
bung, Ausmessung  und  Berechnung,  ebenso  wie  dies  bei  den  Krystall- 
Individuen  geschieht,  anzuschliessen  hat.  ') 

22.  Auf  dieser  sicheren  promorphologischen  Grundlage  ist  eine 
mathematische  Erkenntniss  der  organischen  Individuen  ganz  ebenso 
wie  bei  den  Krystallen  möglich. 

III.    Thesen  von  der  Constitution  der  individuellen  Grundformen. 

23.  Die  Promorphe  oder  die  stereometrische  Grundform,  welche 
jeder  axenfesten  organischen  Form  zu  Grunde  liegt,  ist  unmittelbar 
mit  mathematischer  Notwendigkeit  bedingt  durch  die  Zahl  und  Grösse, 
die  Lagerung  und  Verbindung,  die  Gleichheit  oder  Ungleichheit 
(Differenzirung)  der  constituirenden  Forni-Bestandtheile. 

24.  Bei  den  einfachen  Organismen,  d.  h.  denjenigen,  welche  ein 
einziges  Individuum  erster  Ordnung,  eine  einzelne  Plastide  darstellen, 

')  In  allen  Fällen,  in  denen  eine  wissenschaftlich  genaue  Darstellung  einer 
individuellen  organischen  Form  gefordert  wird,  müssen  demnach  zunächst  die 
bestimmenden  Axen  aufgesucht,  unterschieden  und  gemessen  werden.  Dann  ist 
der  Abstand  der  einzelnen  Theile  von  den  Axen  und  von  ihren  beiden  Polen  zu 
messen,  und  erst  an  diese  mathematisch  sichere  Grundlage  kann  sich  die  detail- 
lirte Beschreibung  der  besonderen  Einzelheiten  der  Form,  wie  an  ihr  festes 
Skelet,  anlehnen.  Die  eventuelle  Ausmessung  und  Berechnung  der  Ober- 
flächen-Verhältnisse hat  sich  stets  unmittelbar  auf  die  Abstände  der  Oberflächen- 
puukte  vou  den  Axen  uud  ihren  Polen  zu  beziehen. 


544  Promorphologische  Thesen. 

ist  daher  die  Grundform  unmittelbar  bedingt  durch  die  Zahl  und 
Grösse,  die  Lagerung  und  Verbindung,  die  Gleichheit  oder  Ungleich- 
heit (Differenzirung)  der  constituirenden  Moleküle,  welche  aus  allen 
Massen-Atomen  und  Aether- Atomen  des  organischen  Körpers  zusam- 
mengesetzt sind. 

25.  Bei  den  zusammengesetzten  Organismen  dagegen,  d.  h.  den- 
jenigen, welche  ein  Aggregat  oder  einen  Complex  von  zwei  oder  mehre- 
ren Individuen  erster  Ordnung  (eine  Colonie  oder  Synusie  von  zwei 
oder  mehr  Piastiden)  darstellen  (mithin  bei  allen  Individuen  zweiter  oder 
höherer  Ordnung)  ist  die  Grundform  unmittelbar  bedingt  durch  die 
Zahl,  Lagerung  und  Verbindung  der  constituirenden  Individuen  der 
nächst  niederen  Individualitäts- Ordnung. 

26.  Die  Grundform  der  Organe  oder  der  Form-Individuen  zwei- 
ter Ordnung  ist  daher  bedingt  durch  die  Zahl,  Lagerung  und  Differen- 
zirung der  constituirenden  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen),  und  insbe- 
sondere durch  die  Zahl  und  Lagerung  der  Plastiden-Gruppen,  welche 
als  Parameren  um  eine  gemeinsame  Mitte  herum  liegen. 

27.  Die  Grundform  der  Antiraeren  oder  der  Form-Individuen  drit- 
ter Ordnung  ist  ebenso  bedingt  durch  die  Zahl,  Lagerung  und  Differen- 
zirung  der  constituirenden  Organe,  besonders  der  Parameren. 

28.  Die  Grundform  der  Metameren  oder  der  Form  -  Individuen 
vierter  Ordnung  ist  bedingt  durch  die  Zahl,  Lagerung  und  Differen- 
zirung der  constituirenden  Antimeren. 

29.  Die  Grundform  der  Personen  oder  der  Form-Individuen  fünf- 
ter Ordnung  ist  bedingt  durch  die  Zahl,  Lagerung  und  Differenzirung 
der  constituirenden  Metameren  (und  dadurch  natürlich  zugleich  der 
Antimeren). 

30.  Die  Grundform  der  Stöcke  (Cormen)  oder  der  Form -Indivi- 
duen sechster  Ordnung  ist  bedingt  durch  die  Zahl,  Lagerung  und 
Differenzirung  der  constituirenden  Sprosse  (Personen). 

IV.  Thesen  von  den  Mitten -Differenzen  der  Grundformen. 

31.  Alle  stereometrischen  Grundformen  der  axenfesten  organischen 
Individuen  lassen  sich  bezüglich  der  Beschaffenheit  ihrer  natürlichen 
Mitte  in  drei  Hauptgruppen  bringen,  welche  wir  Centrostigmen,  Centra- 
xonien  und  Centrepipeden  nennen. 

32.  Bei  den  Centrostigmen,  den  stereometrischen  Grundformen 
mit  einem  Mittelpunkte,  ist  die  natürliche  Mitte  der  Form,  d.  h.  der 
planimetrische  Körper,  gegen  welchen  alle  übrigen  Theile  des  Körpers 
eine  bestimmte  gesetzmässige  Lagerungs-,  (Entfernungs-  und  Richtungs-) 
Beziehung  haben,  ein  Punkt;  dies  ist  der  Fall  bei  der  Kugel  und 
beim  endosphärischen  Polyeder. 


Proniorphologische  Thesen.  545 

33.  Bei  den  Centraxouien,  den  stereometrischen  Grundformen  mit 
einer  Mittellinie  (Axe).  ist  die  natürliche  Mitte  der  Form  eine  Linie 
(Hauptaxe  oder  Längsaxe);  dies  ist  der  Fall  bei  der  Formengruppe 
der  Mouaxonien  (Sphaeroid,  Doppelkegel,  Ellipsoid,  Cyliuder,  Ei,  Kegel, 
Hemisphaeroid,  abgestumpfter  Kegel);  bei  den  Doppelpyramiden,  den 
regulären  Pyramiden  und  den  amphithecten  Pyramiden. 

34.  Bei  den  Centrepipeden,  den  stereometrischen  Grundformen  mit 
einer  Mittelebene,  ist  die  natürliche  Mitte  der  Form  einer  Ebene  (Me- 
dianebene oder  Sagittalebene).  Dies  ist  der  Fall  bei  der  Formen- 
gruppe der  Zeugiten  oder  allopolen  Heterostauren ,  deren  allgemeine 
Grundform  die  halbe  amphithecte  Pyramide  ist. 

35.  Die  Centrostigmen  sind  die  niedersten  und  unvollkommensten, 
die  Centrepipeden  die  höchsten  und  vollkommensten  organischen 
Grundformen:   zwischen  Beiden  in  der  Mitte  stehen  die  Centraxonien. 

36.  Alle  verschiedene  Grundformen,  welche  als  untergeordnete 
Formarten  dieser  drei  Hauptgruppen  auftreten,  lassen  sich  je  nach 
der  fortschreitenden  Differenzirung  ihrer  Axen  und  deren  Pole  in  eine 
aufsteigende  Stufenleiter  ordnen,  deren  Stufenordnung  zugleich  die 
stufenweis  fortschreitende  Vollkommenheit  der  Form  bezeichnet. 

37.  Es  existirt  also  ein  promorphologischer  Vollkommenheits- 
Grad  jedes  Organismus,  welcher  lediglich  durch  die  Differenzirungs- 
stufe  seiner  Grundform  bedingt,  und  zunächst  unabhängig  von  seinem 
tectologischen  Vollkommenheits-Grade  ist. 


V.   Thesen  von  den  Iipostauren  Grundformen. 

38.  In  Bezug  auf  die  allgemeinen  Verhältnisse  der  Axen  zerfallen 
alle  organischen  Grundformen  in  zwei  grosse  Gruppen,  nämlich  For- 
men mit  Kreuzaxen  (Stauraxonia)  und  Formen  ohne  Kreuzaxen  (Lipo- 
staura). 

39.  Die  Lipostauren  oder  Grundformen  ohne  Kreuzaxen  stehen  im 
Allgemeinen  weit  niedriger  als  die  Stauraxonien  oder  Grundformen 
mit  Kreuzaxen.  Erstere  kommen  vorzugsweise  nur  bei  den  niederen 
und  unvollkommeneren,  letztere  bei  den  höheren  und  vollkommeneren 
organischen  Individuen  vor. 

40.  Die  lipostauren  Grundformen  haben  entweder  gar  keine  be- 
stimmten Axen  (Anaxonia)  oder  lauter  gleiche  Axen  (Honiaxonien, 
Kugeln)  oder  eine  bestimmte  Anzahl  von  constanten  Axen,  die  aber 
alle  gleich  sind  (Polyaxonien)  oder  endlich  nur  eine  einzige  constante 
Axe  (Monaxonieu);  auf  alle  diese  Formen  ist  weder  die  Bezeichnung 
regulär  oder  strahlig,  noch  die  Bezeichnung  bilateral  oder  symmetrisch 
nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  der  organischen  Morphologie 

Ha  ecket,   Generelle  Morphologie.  35 


546  Promorphologische  Thesen. 

anwendbar;  daher  sind  diese  Formen  bisher  auch  nicht  von  derselben 
berücksichtigt  worden. ') 

4L  Alle  lipostauren  Formen  sind  ausgezeichnet  durch  den  Mangel 
einer  bestimmten  Anzahl  von  Meridian -Ebenen,  welche  sich  in  einer 
einzigen  Hauptaxe  schneiden,  und  durch  welche  der  Körper  in  eine 
bestimmte  Anzahl  von   gleichen  oder  ähnlichen  Theileu  getheilt  wird.. 

42.  Allen  lipostauren  Grundformen  fehlen  daher  bestimmte  Anti- 
meren  (Parameren)  und  Metameren  (Epimeren),  Avenn  man  darunter 
in  der  strengeren  Bedeutung  des  Begriffes  nur  diejenigen  entsprechen- 
den Theile  versteht,  welche  entweder  neben  einander,  rings  um  die 
Hauptaxe,  oder  hinter  einander,  in  der  Hauptaxe  selbst  liegen. 

43.  Bei  einem  Theile  der  Lipostauren,  nämlich  bei  den  Anaxonien 
(Klumpen),  bei  den  Homaxonien  (Kugeln)  und  bei  den  Monaxonien 
(mit  einer  einzigen  Axe)  sind  correspondirende  Theile,  welche  den 
Antimeren  und  Metameren  entsprechen,  überhaupt  nicht  vorhanden, 
da  hier  die  ganze  Form  eine  untheilbare  Einheit  darstellt.2) 

44.  Bei  dem  anderen  Theile  der  Lipostauren,  nämlich  den  Poly- 
axonien,  ist  zwar  der  Körper  stets  aus  mehreren  correspondirenden 
Theilen  zusammengesetzt,  welche  ein  gleiches  oder  ähnliches  Verhält- 
niss  gegen  den  gemeinsamen  Mittelpunkt  zeigen;  da  hier  aber  alle 
constanten  Axen  gleichwertig  sind,  und  keine  derselben  als  Haupt- 
axe aufgefasst  werden  kann,  so  können  die  entsprechenden  Theile 
eben  so  wohl  als  Antimeren  (Parameren),  wie  als  Metameren  (Epi- 
meren) angesehen  werden. 

45.  Unter  Berücksichtigung  der  Form-Verhältnisse,  welche  die  Anti- 
meren und  Metameren  im  Allgemeinen  bei  den  Stauraxonien  zeigen, 
scheint  es  am  Angemessensten,  die  correspondirenden  (stets  pyramidalen) 
Theile  der  Polyaxonien  ein  für  allemal  als  Antimeren  (oder  Parameren) 
aufzufassen,  (nicht  als  Metameren  oder  Epimeren) ;  falls  man  dieselben 
nicht  lieber  mit  dem  neutralen  Ausdruck  „Perimeren"  belegen  will. 


l)  In  der  That  kann  kein  stärkerer  Beweis  für  die  bisherige  allgemeiae 
Vernachlässigung  der  Promorphologie  geliefert  werden,  als  die  Thatsache,  dass 
man  gewöhnlich  die  meisten  Lipostauren,  und  überhaupt  alle  Formen,  welche 
nicht  entweder  „radial"  oder  „bilateral"  waren,  als  „irreguläre"  oder  „amorphe" 
zusammengeworfen  hat.  Und  doch  sind  gerade  unter  den  Lipostauren  vorwie- 
gend sehr  regelmässige,  ja  sogar  die  regelmässigsteu  von  allen  Grundformen,  die 
Homaxonien  und  rhythmischen  l'olyaxunien.  In  der  Botanik,  welche  überhaupt 
diese  wichtigen  Form- Verhältnisse  bisher  noch  mehr  als  die  Zoologie  vernach- 
lässigt hat,  werden  nebst  den  Lipostauren  auch  noch  die  meisten  Heterostauren 
als  „irreguläre"  bezeichnet. 

s)  Nur  der  Doppelkegel  der  Haplopolen  konnte  hier  ausgenommen  werden, 
wenn  man  denselben  aus  zwei  Metameren  oder  Epimeren  zusammengesetzt  an- 
sehen will. 


Proinorphologische  Thesen.  547 

VI.   Thesen  von  den  stauraxonien  Grundformen. 

46.  Alle  Stauraxonien  oder  Grundformen  mit  Kreuzaxen  sind 
höhere  und  vollkommenere  Grundformen,  als  alle  Lipostauren,  weil 
durch  die  Anwesenheit  bestimmter  Kreuzaxen,  die  sich  in  der  Haupt- 
axe  schneiden,  eine  grössere  Mannigfaltigkeit  und  Differenzirungs- 
Möglichkeit  gegeben  ist,  als  bei  irgend  einer  lipostauren  Grundform. 

47.  Die  gemeinsame  stereometrische  Grundform  aller  Stauraxonien 
ist  die  Pyramide,  und  zwar  entweder  die  Doppelpyramide  (Homopolen) 
oder  die  einfache  Pyramide  (Heteropolen). 

48.  Fast  alle  Formen,  welche  bisher  von  den  Botanikern  und  Zoo- 
logen als  „reguläre  oder  radiale",  und  als  „symmetrische  oder  bila- 
terale" unterschieden  wurden,  sind  Stauraxonien. 

49.  Die  Bezeichnung  „reguläre  oder  strahlige  Formen",  falls  die- 
selbe beibehalten  werden  sollte,  ist  zu  beschränken  auf  die  beiden 
Formengruppen  der  Isostauren  (regulären  Doppelpyramiden)  und  Homo- 
stauren (regulären  Pyramiden). ') 

50.  Die  Bezeichnung  „symmetrische  oder  bilaterale  Formen, "  falls 
dieselbe  beibehalten  werden  sollte,  ist  zu  beschränken  auf  die  Formen- 
gruppe der  Zeugiten  oder  Centrepipeden  (allopole  Heterostauren). a) 

51.  Alle  Stauraxonien  sind  ausgezeichnet  (und  wesentlich  von  den 
Lipostauren  verschieden)  durch  den  Besitz  einer  bestimmten  Anzahl 
von  Meridianebenen,  welche  sich  in  einer  einzigen  Hauptaxe  schnei- 
den, und  durch  welche  der  Körper  in  eine  bestimmte  Anzahl  von 
gleichen  oder  ähnlichen  Theilen  getheilt  wird. 

!)  Am  besten  ist  die  Bezeichnung  „regulär  oder  regelmässig"  und  die  mei- 
stens dannt  identisch  gebrauchte  „radial  oder  strahlig",  gänzlich  aus  der  Pro- 
morphologie zu  eliminiren,  da  die  verschiedenen  Autoren  eine  Menge  von  gänzlich 
versch.edenen  Grundformen  darunter  verstehen.  Ausser  den  regulären  Pyramiden 
und  Doppel-Pyramiden,  auf  welche  wir  diesen  Begriff  beschränken,  hat  man  auch 
alle  Formen,  welche  aus  mehr  als  zwei  Antimereu  oder  Parameren  zusammen- 
gesetzt sind,  darunter  verstanden,  also  von  den  Stauraxonien  auch  noch  sämmt- 
hche  Allostauren,  Autopolen  und  Amphipleuren.  Ebenso  Hessen  sich  auch 
sammthche  oder  doch  die  meisten  Lipostauren  (nach  Ausschluss  der  Auaxouieu) 
so  bezeichnen;  und  vor  Allen  verdienten  von  diesen  die  rhythmischen  Poly- 
axonien  regulär  im  engsten  Sinne  genannt  zu  werden. 

2)  Auch  die  Bezeichnung  „symmetrische  oder  hälftige"  und  die  meistens  als 
gleichbedeutend  gebrauchte  Bezeichnung  „bilaterale  oder  zweiseitige"  Formen 
ist  am  besten  ganz  aus  der  Promorphologie  zu  verbannen ,  da  man  ausser  den 
Zeugiten,  auf  welche  wir  diesen  Begriff  beschränken,  noch  vier  verschiedene  an- 
dere Formgruppen,  theils  von  weiterem,  theils  von  engerem  Umfang  darunter 
begriffen  hat,  nämlich  I.  alle  Heterostauren  (autopole  und  allopole);  IL  die 
Zygopleuren  (im  Gegensatz  zu  den  Amphipleuren) ;  III.  die  Dipleuren,  und  end- 
lich IV.  im  engsten  Sinne  die  Eudipleuren  (im  Gegensatz  zu  den  „asymmetrischen" 
Dysdipleureu). 

35* 


548  Promorphologische  Theseu. 

52.  Die  correspondirenden  Theilstücke  des  Stauraxonien-Körpers, 
welche  durch  ihre  Anzahl,  Lagerung  und  Differenzirung  (Gleichheit 
oder  Ungleichheit)  die  Grundform  des  stauraxouien  Individuums  näher 
bestimmen,  sind  entweder  Parameren  (bei  den  Form-Individuen  erster 
bis  dritter  Ordnung)  oder  Antimeren  (bei  den  Metameren  und  den 
Ketten-Personen),  oder  Metameren  (bei  den  Busch-Personen)  oder  Per- 
sonen (bei  den  Stöcken);  die  grösste  promorphologische  Bedeutung 
haben  im  Allgemeinen  die  Antimeren,  nächstdem  die  Parameren;  ihre 
Grundform  ist  stets  pyramidal. 

53.  Alle  Stauraxonien  zerfallen  in  zwei  Hauptgruppeu,  je  nach- 
dem die  Körpermitte  entweder  eine  der  Meridianebenen  ist  (Zeugiten) 
oder  aber  die  Hauptaxe,  in  welcher  sich  alle  Meridianebenen  schnei- 
den (centraxonie  Stauraxonien). 

54.  Die  centraxonien  Stauraxonien,  bei  denen  die  Körpermitte 
eine  Linie  (die  Hauptaxe)  ist,  sind  entweder  I.  reguläre  Doppel-Pyra- 
miden (Isostauren);  oder  IL  reguläre  Pyramiden  (Homostauren);  oder 
III.  amphithecte  Doppelpyramiden  (Allostauren)  oder  IV.  amphithecte 
Pyramiden  (Autopolen);  bei  allen  diesen  Formen  sind  die  beiden  Pole 
sämmtlicher  Kreuzaxen  gleichpolig;  es  ist  also  niemals  die  rechte 
Seite  von  der  linken  verschieden,  und  ebenso  niemals  die  Rücken- 
seite von  der  Bauchseite;  jene  sowohl  als  diese  sind  unter  sich  con- 
gruent. 

55.  Die  centrepipeden  Stauraxonien  oder  die  Zeugiten,  bei  denen 
die  Körpermitte  eine  Ebene  (die  Medianebene)  ist,  sind  entweder 
I.  halbe  amphithecte  Pyramiden,  oder  IL  irreguläre  Pyramiden  (he- 
teropleure  Zeugiten);  hier  ist  stets  mindestens  eine  Kreuzaxe  ungleich- 
polig; es  ist  also  stets  die  dorsale  von  der  ventralen  Seite  ver- 
schieden, und  die  rechte  von  der  linken,  welche  hier  niemals  con- 
gruent  sind. 

VII.   Thesen  von  den  zeugiten  Grundformen. 

56.  Die  Formengruppe  der  Zeugiten  oder  Centrepipeden  (allopolen 
Heterostäuren)  oder  der  bilateral-symmetrischen  Formen  in  der  zwei- 
ten Bedeutung  des  Begriffes,  bildet  als  halbe  amphithecte  Pyramide 
die  höchste  und  am  meisten   diiterenzirtc  Grundform  der  Organismen. 

57.  Die  Zeugiten  oder  Centrepipeden  sind  vor  allen  übrigen  or- 
ganischen Formen  ausgezeichnet  durch  den  Besitz  von  drei  un- 
gleichen idealen  Axen  (Richtaxen,  Euthyni),  von  denen  entweder 
zwei  ungleichpolig  sind,  die  dritte  gleichpolig,  oder  aber  alle  drei 
ungleichpolig. 

58.  Die  drei  Richtaxen  der  Zeugiten  halbiren  sich  gegenseitig, 
stehen  auf  einander  senkrecht  und  entsprechen  den  drei  Dimensionen 


Promorphologische  Thesen.  549 

des  Raumes;  sie  können  dem  entsprechend  als  Längenaxe  (Axis  longi- 
tudinalis),  Dickenaxe  (Axis  sagittalis)  und  Breitenaxe  (Axis  lateialis) 
bezeichnet  werden. 

59.  Die  beiden  Pole  der  Längenaxe  oder  Hauptaxe  sind  allge- 
mein in  der  Promorphologie  als  Mundpol  (Polus  oralis)  oder  Peristom- 
pol  und  als  Gegenmundpol  (Polus  aboralis)  oder  Antistompol  zu  be- 
zeichnen, gleichviel  ob  sie  oben  oder  unten,   vorn  oder  hinten  liegen. 

60.  Die  beiden  Pole  der  Dickenaxe  oder  Dorsoventralaxe  sind 
allgemein  in  der  Promorphologie  als  Rückenpol  (Polus  dorsalis)  und 
als  Bauchpol  (Polus  ventralis)  zu  bezeichnen,  gleichviel  ob  sie  oben 
oder  unten,  vorn  oder  hinten  liegen. 

61.  Die  beiden  Pole  der  Breitenaxe  oder  Lateralaxe  sind  allge- 
mein in  der  Promorphologie  als  rechter  Pol  (Polus  dexter)  und  linker 
Pol  (Polus  sinister)  zu  bezeichnen,  gleichviel  ob  sie  beide  einander 
gleich  oder  ungleich  sind. 

62.  Durch  die  drei  auf  einander  senkrechten  und  sich  gegenseitig 
halbirenden  idealen  Axen,  welche  den  drei  Dimensionen  des  Raumes 
entsprechen,  werden  drei  auf  einander  senkrechte  Ebenen,  die  Richt- 
ebenen (Plana  euthyphora)  bestimmt,  welche  von  der  grössten  pro- 
morphologischen Bedeutung  sind. 

63.  Die  erste  Richtebene  ist   die  Medianebene  oder  Hauptebene 
(Planum  mediauum,  Sagittalebene,  Halbirungsebene),  welche  den  gan-i 
zen  Körper  der  Centrepipeden  oder  Zeugiten  in  zwei  symmetrisch-gleiche 
Stücke,   rechte  und  linke  Hälfte  theilt  (pars  dextra  und  pars  sinistra) 
sie  wird  bestimmt  durch  die  Längenaxe  und  die  Dickenaxe. 

64.  Die  zweite  Richtebene  ist  die  Lateralebene  oder  Breitenebene 
(Planum  laterale)  welche  den  ganzen  Zeugitenkörper  in  zwei  ungleiche 
Stücke  theilt,  Rücken-  und  Bauchhälfte  (pars  dorsalis  und  pars  ven- 
tralis); sie  wird  bestimmt  durch  die  Längenaxe  und  die  Breitenaxe. 

65.  Die  dritte  Richtebene  ist  die  Aequatorialebene  oder  Dicken- 
ebene (Planum  aequatoriale) ,  welche  den  ganzen  Zeugitenkörper  in 
zwei  ungleiche  Stücke,  orale  und  aborale  Hälfte  theilt  (pars  oralis 
und  pars  aboralis);  sie  wird  bestimmt  durch  die  Breitenaxe  und  die 
Dickenaxe. 

66.  Die  physiologischen,  von  der  Locomotion  der  frei  beweglichen 
und  von  der  Anheftimg  der  festsitzenden  Zeugiten  und  ihrer  relativen 
Richtung  gegen  die  Erdaxe  und  den  Horizont  entnommenen  Bezeich- 
nungen: Vordere  und  hintere  Seite,  obere  und  untere  Seite,  hori- 
zontale und  verticale  Axe  sind  zu  verbannen  und  durch  die  vorher 
bestimmten,  rein  morphologischen  Bezeichnungen  zu  ersetzen. l) 


')  Die  vollständige  Elimination  der  topographisch- physiologischen  Bezeich- 
nungen Yorn  und  Hinten,  Oben  und  Unten,  Horizontal  und  Vertical  —  aus  der 


550  Promorphologische  Thesen. 

VIII.  Thesen  von  der  Vollkommenheit  der  organischen  Grundformen. 

67.  Die  Grundform  der  organischen  Individuen  ist  um  so  voll- 
kommener, je  ungleichartiger  ihre  constanteu  Axen  sind. 

68.  Die  Grundform  ist  um  so  vollkommener,  je  grösser  die  Zahl 
der  ungleichartigen  Axen,  je  geringer  die  Zahl  der  gleichartigen 
Axen  ist. 

69.  Die  Grundform  ist  um  so  vollkommener,  je  ungleichartiger 
die  beiden  Pole  ihrer  Axen  sind. 

70.  Die  Grundform  ist  um  so  vollkommener,  je  grösser  die  Zahl 
der  ungleichartigen  Pole  und  je  geringer  die  Zahl  der  gleichartigen 
Pole  ihrer  Axen  ist. 


gesammten  Morphologie  halten  wir  für  sehr  wichtig,  weil  sie  hauptsächlich  an 
der  ausserordentlichen  Verwirrung  schuld  ist,  welche  in  der  topographischen  Be- 
zeichnung der  Körperregionen  bei  Thieren  und  Pflanzen,  oft  bei  nächstverwandten 
Arten,  eingerissen  ist.  Alle  drei  Richtaxeu  können  jede  mögliche  Lage  gegen 
den  Horizout  haben,  ebenso  ihre  Pole. 

Die  Hauptaxe  oderLängsaxe  (Axislongitudinalis)  kann  jede  mög- 
liche Lage  haben.  Sie  steht  entweder  senkrecht  (z.  B.  Mensch,  Pinguin,  kriechende 
Cephalopoden ,  allopole  aufrechte  Pflanzensprosse)  oder  wagerecht  (die  meisten 
kriechenden  Thiere,  die  kriechenden  Pflanzensprosse)  oder  unter  irgend  einem 
Winkel  gegen  den  Horizont  geneigt  (die  allopolen  Seitensprossen  der  Pflanzen 
und  Coelenteraten- Stöcke.  Der  Mundpol  oder  erste  Pol  der  Hauptaxe  (Peri- 
stomium)  ist  bald  oben  (die  meisten  festsitzenden  Thiere,  z.  B.  Bryozoen,  Antho- 
zoen,  die  aufrechten  Pflanzensprosse)  bald  unten  (z.  B.  Seesterne,  Cidarideu. 
Medusen,  hängende  und  nickende  Blüthensprosse)  bald  vorn  (z.  B.  die  meisten 
kriechenden  Thiere  und  die  kriechenden  Pflanzeusprosse),  bald  hinten  (die  rück- 
wärts kriechenden  Thiere,  z.  B.  Crustaceen);  ebenso  hat  der  entgegengesetzte 
zweite  Pol  der  Hauptaxe  oder  Gegen  mundpol  (Autistumium)  jede  mögliche 
Lage,  oben  oder  unten,  vorn  oder  hinten. 

Die  Dorsoventralaxe  oder  Dickenaxe  (Axis  sagittalis)  kann 
ebenfalls  jede  mögliche  Lage  haben.  Sie  steht  horizontal  (Mensch,  Pinguin, 
kriechende  Cephalopodon)  oder  vertical  (die  meisten  kriechenden  Thiere)  oder 
unter  irgend  einem  Winkel  gegen  den  Horizont  geneigt  (die  zeugiten  Pflanzen- 
sprosse als  Aeste  und  Zweige  der  Stöcke  etc.).  Der  Dorsalpol  oder  erste 
Pol  der  Dickenaxe  befindet  sich  bald  oben  (die  meisten  kriechenden  Thiere), 
bald  unten  (die  Heteropoden  und  andere  auf  dem  Rücken  schwimmende  Thiere), 
bald  hinten  (Mensch,  Pinguin  etc.),  bald  vorn  (rückwärts  kriechende  Thiere  mit 
verticaler  Jlaiijitiixe, ;  ebenso  hat  der  entgegengesetzte  zweite  Pol  der  Dickenaxe 
oder  der  Ventralpol  jede    mögliche  Lage,  unten  oder  oben,  vorn  oder  hinten. 

Die  Lateralaxe  oder  Breitenaxe  (Axis  lateralis)  liegt  zwar  bei  den 
allermeisten  Zeugiten  horizontal;  allein  bei  vielen  festgewachsenen  zeugiten 
Thieren,  sowie  bei  den  Pleuronectiden  und  anderen  Dysdipleuren  stehtauch  oft  der 
eine  (linke)  Pol  derselben  unten,  der  andere  (rechte)  oben  (oder  umgekehrt), 
die  Breitenaxe  mithin  vertical,  oder  unter  irgend  einem  Winkel  gegen  den  Hori- 
zont geneigt,  z.  B.  bei  den  festgewachsenen  Muscheln,  Austern  etc. 


Promorphologische  Thesen.  551 

71.  Der  Vollkommenheits-Grad  der  Grundform  (also  auch  der 
ganzen  äusseren  Form)  oder  die  promorphologische  Stufenhöhe  ist  im 
Allgemeinen  (aber  nicht  durchgängig!)  verbunden  mit  dem  Vollkom- 
menheits-Grad der  Structur  (also  der  inneren  Form)  oder  der  tecto- 
logischen  Stufenhöhe. 

72.  Indem  der  Organismus  während  seiner  individuellen  Ent- 
wickelung  im  Allgemeinen  (aber  nicht  durchgängig!)  an  tectologischer 
Vollkommenheit  (Differenzirung  der  inneren  Structur)  zunimmt,  wächst 
derselbe  zugleich  im  Allgemeinen  (aber  nicht  durchgängig!)  an  pro- 
morphologischer Vollkommenheit  (Differenzirung  der  äusseren  Form 
und  ihrer  stereometrischen  Grundform). 


IX.  Thesen  von  der  Hemiedrie  der  organischen  Grundformen. 

73.  In  der  aufsteigenden  Stufenleiter  der  Grundformen  sind  zahl- 
reiche höhere  oder  vollkommenere  Formen  die  Hälften  der  nächstver- 
wandten niederen  oder  unvollkommeneren  Formen  und  verhalten  sich 
zu  diesen  ganz  ähnlich,  wie  die  hemiedrischen  Kiystalle  zu  den  ho- 
loedrischen Krystallen. 

74.  Der  Vervollkommnungs-Process,  durch  welchen  hemiedrische 
organische  Grundformen  aus  holoedrischen  hervorgehen,  ist  wesent- 
lich eine  Differenzirung  beider  Pole  einer  Axe. 

75.  Die  Diplopol-Form  (Kegel,  Hemisphaeroid)  ist  die  hemiedrische 
Differenzirungsform  der  Haplopol-Form  (Doppelkegel,  Sphäroid). 

76.  Die  Heteropol-Form  (Pyramide)  ist  die  hemiedrische  Differen- 
zirungs-Form  der  Homopol-Form  (der  Doppel-Pyramide). 

77.  Die  Homostauren-Form  (Keguläre  Pyramide)  ist  die  hemiedri- 
sche Differenzirungs-Form  der  Isostauren- Form  (der  regulären  Doppel- 
pyramide). 

78.  Die  Autopolen- Form  (Amphithecte  Pyramide)  ist  die  hemie- 
drische Differenzirungs-Form  der  Allostauren-Form  (der  amphithecten 
Doppelpyramide). 

79.  Die  Tetractinoten-  Form  (Reguläre  vierseitige  Pyramide  oder 
Quadrat-Pyramide)  ist  die  hemiedrische  Differenzirungs-Form  der  octo- 
pleuren  Isostauren -Form  (des  Quadrat-Octaeders). 

80.  Die  Orthostauren  -  Form  (Amphithecte  vierseitige  Pyramide 
oder  Rhomben  -  Pyramide)  ist  die  hemiedrische  Differenzirungs  -  Form 
der  octopleuren  Allostauren  -  Form  (des  Rhomben- Octaeders). 

81.  Die  Allopolen-Form  oder  Zeugiten  -  Form  (halbe  ampithecte 
Pyramide)  ist  die  hemiedrische  Differenzirungs-Form  der  Autopolen- 
Form  (der  amphithecten  Pyramide). 


552  Promorphologische  Thesen. 

82.  Die  Aniphipleuren-Form  (halbe  amphithecte  Pyramide,  von 
zJl —  Seiten)  ist  die  hemiedrische  Differenzirungs-Form  der  Oxystauren- 

Forra  (der  amphithecten  Pyramide  von  4+2  n  Seiten). 

83.  Die  Zygopleuren-Form  (Gleichschenkelige  Pyramide)  ist  die 
hemiedrische  Differenzirungs-Form  der  Orthostauren-Form  (der  Rhom- 
ben-Pyramide). 

84.  Die  Dysdipleuren-Form  (Ungleichdreiseitige  Pyramide  ist  die 
hemiedrische  Differenzirungs-Form  der  Eudipleuren-Form  (der  halben 
Rhomben-Pyramide). 

X.   Thesen  von  der  Krystallfoim  organischer  Individuen. 

85.  Alle  einfachen  und  regelmässigen  stereometrischen  Körper, 
welche  als  Grundformen  der  anorganischen  Krystallsysteme  vorkommen, 
finden  sich  eben  so  vollkommen  auch  in  gewissen  organischen  Formen 
verkörpert. 

86.  Der  Würfel  und  das  Octaeder,  die  Grundformen  des  tesseralen 
oder  regulären  Krystallsystems,  finden  sich  in  den  organischen  hexae- 
drischen  und  octaedrischen  Formen  der  rhythmischen  Polyaxonien 
realisirt. 

87.  Das  Quadrat-Octaeder,  die  Grundform  des  tetragonalen  oder 
quadratischen  Krystallsystems,  findet  sich  in  den  organischen  Formen 
der  octopleuren  Isostauren  realisirt. 

88.  Das  Rhomben-Octaeder,  die  Grundform  des  rhombischen  Kry- 
stallsystems, findet  sich  in  den  organischen  Formen  der  octopleuren 
Allostauren  realisirt. 

89.  Das  Hexagonal-Dodecaeder,  die  Grundform  des  hexagonalen 
Krystallsystems,  findet  sich  in  den  organischen  Formen  der  hexapleuren 
Isostauren  realisirt. 

IX.  Thesen  von  den  Grundformen  der  sechs  lndividualitäts- Ordnungen. 

90.  Die  Form-Individuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden  (Cytoden 
und  Zellen)  können  alle  möglichen  Grundformen  haben,  zeigen  je- 
doch vorzugsweise  die  niederen  Grundformen,  insbesondere  die  mona- 
xonien  (haplopolen  und  diplopolen). 

91.  Die  Form -Individuen  zweiter  Ordnung,  die  Organe,  können 
ebenfalls  alle  möglichen  Grundformen  haben,  zeigen  jedoch  vorzugs- 
weise einerseits  die  niedersten  (anaxonien,  homaxonien,  monaxonien)^ 
andererseits  die  höchsten  (eudipleuren  und  dysdipleuren). 

92.  Die  Form-Individuen  dritter  Ordnung,  die  Antimeren,  zeigen 
ausschliesslich  die  Heteropolen-Form  (einfache  Pyramide),  und  zwar 


Promorphologische  Thesen.  553 

seltener  die  homostaure  (reguläre  Pyramide),  häufiger  die  heterostaure 
Form  (irreguläre  Pyramide);  die  letztere  ist  am  häufigsten  die  dysdi- 
pleure,  nächstdem  die  eudipleure  Form. 

93.  Die  Form-Individuen  vierter  Ordnung,  die  Metameren,  besitzen 
meistens,  gleich  den  Antimeren  und  den  Personen,  die  heteropole 
Grundform  (einfache  Pyramide);  und  zwar  häufiger  die  Zeugiten-Form 
(halbe  amphithecte  Pyramide),  seltener  die  Homostauren-Form  (reguläre 
Pyramide).    Unter  der  ersteren  ist  am  häufigsten  die  eudipleure  Form. 

94.  Die  Form  -  Individuen  fünfter  Ordnung,  die  Personen,  be- 
sitzen ebenfalls  vorwiegend  die  heteropole  Grundform  (einfache  Pyra- 
mide) und  zwar  die  sogenannten  „regulären  oder  radialen"  Personen 
die  homostaure,  die  sogenannten  „symmetrischen  oder  bilateralen" 
Personen  die  allopole  (Zeugiten-Form);  die  letztere  ist  entweder  die 
amphipleure  oder  die  zygopleure  Form. 

95.  Die  Form -Individuen  sechster  Ordnung,  die  Stöcke,  zeigen 
nur  selten  höhere,  meistentheils  niedere  Grundformen,  entweder  ana- 
xonie  und  homaxonie,  oder  monaxonie  (haplopole  und  am  meisten 
diplopole);  die  diplopole  Monaxonform  scheint  hier  die  häufigste  Grund- 
form zu  sein. 


Anhang  zum  vierten  Buche. 


I.     Das  promorphologische  System  als  generelles  Formen- 
System. 

Das  System  der  Grundformen,  welches  von  uns  im  dreizehnten  Capitel 
construirt  und  entwickelt  worden  ist,  haben  wir  zunächst  aufgestellt,  um  da- 
durch eine  geordnete  Uebersicht  über  die  unendliche  Fülle  der  gesetzmässig 
gebildeten  organischen  Formen  zu  gewinnen.  Indem  wir  am  Schlüsse  des 
vierten  Buches,  in  diesem  Anhange,  die  wichtigsten  Kategorieen  jener  or- 
ganischen Grundformen  nochmals,  nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  ge- 
ordnet, übersichtlich  zusammenstellen,  wollen  wir  nicht  unterlassen,  den 
Hinweis  darauf  vorauszuschicken,  class  unser  Formen  -  System  auch  noch 
einer  weiteren  Anwendung  fähig  ist.  Wie  wir  bereits  die  Krystallformen 
und  die  characteristischen  Formen  gewisser  menschlicher  Kunst  -  Producte 
(p.  521)  als  ebenfalls  innerhalb  des  Formenkreises  unseres  Systems  fallend 
nachgewiesen  haben,  wie  auch  die  Sphaeroid-Form  der  Weltkörper  sich  der 
(anepipedeu)  Haplopolen-Form  unterordnet,  so  werden  wir  bei  allgemeinerer 
Betrachtung  desselben  finden,  dass  überhaupt  alle  verschiedenen  Körper- 
formen, welche  in  der  Natur,  und  ebenso  auch  die  verschiedenen  Formen 
der  Kunst -Producte,  welche  in  der  Sphäre  menschlicher  Kunstthätigkeit 
entstehen,  sich  demselben  einordnen  lassen.  Die  Erkenntniss  der  formbe- 
stimmenden Axen  und  ihrer  Pole  wird  uns  auch  hier  überall  als  erklärende 
Leuchte  in  dem  unendlichen  Chaos  der  realen  Formen  dienen.  So  erken- 
nen wir  z.  B.  in  den  meisten  Bewegungswerkzeugen  zu  Wasser  und  zu 
Lande  die  Eudipleuren-Form,  in  den  meisten  Waffen  (Gewehren  etc.)  die 
Dysdipleuren-Form,  in  den  meisten  Vasen  die  Diphraginen  -  Forin ,  in  den 
meisten  Bechern,  Schüsseln,  Glasgefässen,  Luftballons  etc.  entweder  die 
homostaure  oder  die  diplopole  Grundform  wieder.  Der  innige  mechanische 
Zusammenhang  zwischen  Form  und  Function  ist  hier  ebenso  wie  bei  den 
organischen  Formen  in  der  Natur  unverkennbar.  Es  wird  daher  unser 
promorphologisches  System  nur  weniger  Ergänzungen  bedürfen,  um  als  er- 
klärender Führer  bei  der  geordneten  vergleichenden  Betrachtung  säinint- 
licher  Körperformen  überhaupt  gute  Dienste  leisten  zu  können.  Wir  hoffen, 
damit  die  Grundlage    eines   generellen  Formen -Systems  gegeben  zu  haben. 


II.  üebersicht  der  wichtigsten  stereometrischen  Grundformen.  555 

II.  Üebersicht  der  wichtigsten  stereometrischen  Grundformen 
nach  ihrem  verschiedenen  Verhalten  zur  Körpermitte. 

I.    Organische  Grundformen  ohne  geometrische  Mitte.    Acentra. 
1.    Anaxonia.     Spomjilln- Form.     Klumpen  (Absolut  irreguläre  Form). 

II.   Organische  Grundformen  mit  einem  Mitteipunct.    Centrostigma. 

1.  Homaxonia.     Sphaerozoutn- Form.     Kugel. 

2.  Allopolygona.     Rizosphaera-Form.    Endosphärisches  Polyeder  mit  ungleich- 
vieleckigen  Seiten. 

3.  Isopolygona.     Ethmosphaera _F*orm.     Endosphärisches  Polyeder  mit  gleich- 
vieleckigen Seiten. 

4.  Icosaedra.     Anloaphnera-icosoaedra-Form.     Reguläres  Icosaeder. 

5.  Dodecaedra.     Bucho Izia- Pollen- Form  (Bucholzia  maritima  etc.).     Reguläres 
Dodecaeder. 

6.  Octaedra.     Charit- Antheridien- Form.     Reguläres  Octaeder. 

7.  Hexaedra.  Hexaedromma  -  Form  (Actinomma  drymodes).  Reguläres  Hexaeder. 

8.  Tetraedra.     Corydalis -Polien -Form  (Corydalis  sempervirens  etc.)     Reguläres 
Taeti'aeder. 

III.  Organische  Grundformen  mit  einer  Mittellinie  (Axe).    Centraxouia. 

1.  Haplopola  anepipeda.     Coccodiscns-Form.     Sphäroid. 

2.  Haplopola  amphepipeda.     Pyrosoma  -  Form.     (Jyliuder. 

3.  Diplopola  anepipeda.     Ovutina-Form.     Ei. 

4.  Diplopola  monepipeda.     Conulina- Form.     Kegel. 

5.  Diplopola  amphepipeda.     Nodosnria-  Form.     Kegelstumpf. 

6.  Isostaura  polypleura.     Heliodiscus-Form.     Reguläre  Doppelpyramide. 

7.  Isostaura  octopleura.     Acanltiostaurns-Form.     Quadrat -Octaeder. 

8.  Allostaura  polypleura.     Amphilonche  -  Form.     Amphithecte   Doppel-Pramide. 

9.  Allostaura  octopleura.     Stephnnnstrum-  Form.     Rhomben  -  Octaeder. 

10.  Homostaura.     Aequoreu-Form.     Reguläre  Pyramide. 

11.  Tetractinota.     Aurelia -Form.     Quadrat -Pyramide. 

12.  Oxystaura.     Euchnris  -  Form.     Amphithecte  Pyramide. 

13.  Orthostaura.     Saphenin-Form.     Rhomben -Pyramide. 

IV.  Organische  Grundformen  mit  einer  Mittelelteue.    Centrepipeda. 

1.  Amphipleura.     Spätangus-Form.     Halbe  amphithecte  Pyramide 

2.  Eutetrapleura  radialia.     Prmja-Form.     Doppeltgleichschenkelige  Pyramide. 

3.  Eutetrapleura  interradialia.     Nereis-Form.      Antiparallelogramm  -  Pyramide. 

4.  Dystetrapleura.     Abyla-Form.     Ungleichvierseitige  Pyramide. 

5.  Eudipleura.     Homo -Form.     Gleichschenkelige  Pyramide. 

6.  Dysdipleura.     Plenronectes-Form.     üngleichdreiseitige  Pyramide. 


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556 


III. 


Tabelle  zur  Bestimmung  der  Grundformen. 


I.   Organische  Grundformen  ohne  Kreuzaxen.    Lipostaura 

(All«    A  „„- !„:„!,         AI, 

Keine  constante  Axe 


Alle  Axen  ungleich.  Absolut  Irreguläre 
Alle  Axen  gleich 


Eine  oder 
mehrere 
constante 
(vor  allen 
übrigen 
ausge- 
zeichnete) 

Axen; 

aber  keine 

Kreuzaxen. 


Mehrere 
(mehr  als 

zwei) 
constante 

Axen 
Polyaxonia 

[Eine  einzige 
constante 

Axe 
(Längsaxe) 
Monaxonia 


Nicht  alle  Anti- 
meren  congruent 
Polyaxonia 
arrhythma 


'Alle     Antimeren 
congruent 

Polyaxonia 

rhylhmica 

Axe  gleichpolig  | 
Haplopola         I 

Axe  ungleichpolig, 

Diplopola  ( 


Absolut  Reguläre 
Grenzflächen     un- 
gleichvielseitig 
Grenzflächen  gleich- 
vielseitig 
20  congruente    Anti- 
meren 

congruente   Anti- 
meren 

congruente   Anti- 
meren 

congruente   Anti- 
meren 

congruente  Anti- 
meren 
Keine  Grenzebene 
Zwei  Grenzebenen 
Keine  Grenzebene 
Eine  Grenzebene 
Zwei  Grenzebenen 


112 
8 
6 
4 


II.  Organische  Grundformen  mit  Kreuzaxen.    Stauraxonia. 


Längsaxe 
gleichpolig. 

Doppel- 
pyramiden. 

Homopol  a 

Längs- 
axe 
oder 
Haupt- 
axe 
ungleich- 
polig. 


Alle  radialen  oder  alle 
semiradialen  Kreuzaxen 

gleich  Isostaura. 
Nicht  alle  radialen  oder 
semiradialen  Kreuzaxen 
gleich  Allost  am  a. 


[3,5  oder  5+n  Anti- 
meren 
Nur  4  Antimeren 

4  +  2  n  Antimeren 
Nur  4  Antimeren 


Alle  radialen 

oder  alle 
semiradialen 
Kreuzaxen 
unter  ein- 
ander gleich 


Homostaura 


9 

7 
5 
3 


Pyra- 
miden. 

Hetero- 
pola. 


Nicht 
alle 
radialen 
oder 
alle 
semira- 
dialen 
Kreuz- 
axen 
gleich 


Dorso- 

ventralaxe 

gleichpolig 

Antopola 

Dorso- 
ventralaxe 
ungleich- 
polig 


Hetero- 
staura 


Zeugita 

(Oentrepi- 

peda). 

Allopola 


Kreuzaxen 
gleichpolig, 
halb  radial, 
halb  inter- 
radial. 
lsopola 
Kreuzaxen 
ungleich- 
polig, 
alle  semira- 
dial. 
Anisopola. 
3oder3  +  n 

radiale 

Kreuzaxen. 

Oxystaura 

2  oder  eine 

radiale 

Kreuzaxe. 

Orthostnura 

3  oder  5  oder 
5  +  n  Kreuz-) 

axen         ) 
Amphipleura 

'4Anti- 

4  od. 2  I  meren 
Kreuz-  \  Tetra-  )  Lateralaxe 

axen   Iplewa  '  ungleichpol. 

]2Anti-,  Lateralaxe 

I  meren  j  gleichpolig. 

Zygo-  f    Di-    j  Lateralaxe 

pleura  \pleura '  ungleichpol. 


8  Antimeren 
6  Antimeren 


4  Antimeren 

2  Antimeren 
7  Antimeren 
6  Antimeren 

5  Antimeren 

3  Antimeren 
,  Lateralaxe 

gleichpolig 


Proroorphologische  Kategorie. 

1.  Anaxonia 

2.  Homaxouia 

3.  Allopolygona 

4.  Isopolyyona 

5.  Icosaedra 

6.  Dodecaedra 

7.  Octaedm 

8.  Hexaedra 

9.  Tetraedra 

10.  Haplopola  anepipedam 

11.  Haplopola   amphepipedu 

12.  Diplopola  anepipeda  j 

13.  Diplopola   monepipi'dn 

14.  Diplopola   amphipipeda 

15.  Isostaura  polgpleura  \ 

16.  Isostaura  octopleura  J 

17.  Allostaura  polgpleura  f 

18.  Allostaura   octopleura' 


10  +  2  n  Anti- 
meren 
10  Antimeren 

8  Antimeren 
6  Antimeren 
4  Antimeren 

9  +  2n  Anti- 
meren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 


19. 
20. 
21. 
22. 
23. 
24. 


Myriactinota 

Decaetinota 

Octactinota 

Hexactinota 

Tetravtinota 

Polyactinota 


25.  Enneactinota 

26.  Heptactinota 

27.  Pcnlactinota 

28.  Triactinota 


29.  Octophragma 

30.  Hexaphragma 


31.  Tetraphragma 

32.  Diphragma 

33.  Heptamphipleura 

34.  Hexamphipleura 

35.  Pent amphipleura 

36.  Triampliipleura 
37.1.  Eutetraplcuraradialiai  '>[ 
37.11.  Kutetrapleura  inlerr, 

38.  Dgsietrapleura 


39.  Eudipleura 


!:i 


lij 


40.  Dysdipleura 


IV.    Uebersicht  der  realen  Typen  der  Grundformen. 


557 


I.  Lipostaure  Grundformen. 

1.  Klumpen  (Bolus) 

2.  Kugel  (Sphaera) 

3.  Endosphaer.  Polyeder  mit  ungleichvieleckigen  Rhizosphaern 
i.  Endosphaer.   Polyeder    mit   gleichvieleckigen  Ethmosphaem 

Se!teü     t  a»,  Aulosphaera  icosaedra   Zwanziggleichflächner 

5.  Reguläres  Icosaeder 


Realer  Typus.  Deutsche  Bezeichnung. 

Spongilla  Klumpen 

Sphaerozonm  (Yolvox)  Kugelformen 

Ungleichvieleckige 


Gleichvieleckige 


6.  Reguläres  Dodecaeder 

7.  Reguläres  Octaeder 

8.  Reguläres  Hexaeder 

9.  Reguläres  Tetraeder 
10.  Sphäroid  (Ellipsoid) 
U.  Cylinder 

12.  Ei 

13.  Kegel 

14.  Kegelstumpf 


Bncholzia  (Pollen)  Zwölfgleichflächner 
Cham  (Antheridien).  Achtgleichflächner 
Actinomma  drymodes     Würfel 


Corydalis  (Pollen) 

Coccodiscus 

Pyrosoma 

Ovulina 

Conulina 

Nodostiria 


1).  Diplopyramidale  oder  pyramidale  Grundformen. 

15.  Reguläre  Doppel-Pyramide  mit  6,  10,  10  +  12n  Heliodiscm 

Seiten  , 

tn    r.      i     ,    Aniowloi-  Acanthostaurus 

16.  Quadrat -Uctaeüei 

17.  Amphithecte  Doppel-Pyramide  mit 8  +4n Seiten  Amplulonche 


18.  Rhomben-Octaeder 

19.  Reguläre  Pyramide  mit  10  +  2n  Seiten 

20.  Zehnseitige  reguläre  Pyramide 

21.  Achtseitige  reguläre  Pyramide 

22.  Sechsseitige  reguläre  Pyramide 

23.  Vierseitige  reguläre  Pyramide 

24.  Reguläre  Pyramide  mit  9  +  2n Seiten 

25.  Neunseitige  reguläre  Pyramide 

26.  Siebenseitige  reguläre  Pyramide 

27.  Fünfseitige  reguläre  Pyramide 

28.  Dreiseitige  reguläre  Pyramide 

29.  Achtseitige  amphithecte  Pyramide 

30.  Sechsseitige  amphithecte  Pyramide 

31.  Vierstückige  Rhomben -Pyramide 

32.  Doppelstückige  Rhomben- Pyramide 

33.  Halbe   vierzehnseitige  amphithecte  Pyramide 

34.  Halbe  zwölfseitige  amphithecte  Pyramide 

35.  Halbe  zehnseitige  amphithecte  Pyramide 

36.  Halbe  sechsseitige  amphithecte  Pyramide 

37.  I.  Doppelt-gleichschenkelige  Pyramide 

37.  IL  Antiparallelogramm- Pyramide 

38.  Ungleichvierseitige  Pyramide 

39.  Gleichschenklige  Pyramide 

40.  Ungleichdreiseitige  Pyramide 


Stephanastrum 

Aequoren 

Aegineta  globosa 


Viergleichflächner 

Sphäroidformen 

Cylinderformen 

Eiformen 

Kegelformen 

Kegelstumpfformen 


Reguläre  diplopyra- 

midale 
Quadrat-  octaedrische 
Amphithecte    diplo- 
pyraniidale 
Khomben-octaedrische 
Gradzahlige     Viel- 

strahlige 
Zehustrahlige 


Alcgonium (Mimusops  Achtstrahlige 

Carmarina  (Achras)  Sechsstrahlige 

Aurelia  (Paris)  Vierstrahlige 

Brisinga  Ungradzahlige  Viel 

strahlige 

Luidin  senegalensis.  Neuustrahlige 

Trientatis  Siebenstrahlige 

Ophiura  (Primula)  Fünfstrahlige 

Iris  (Lychnocanium)  Dreistrahlige 


Eucharis 
Flabellum 


Achtreifiga 
Sechsreifige 


Saphenia    (Draba) 
Petalospgris  (Circaea) 
Disandra 
Oculina  (Cuphea) 
Spatangns  (Viola) 
Orcliis  (Dictyophimus) 
(37,1.  Praga  (Reseda 
(37,11.  Nereis  (Iberis) 

Ahyla 

Homo  (Fumaria) 

Pleuronectes 


Vierreifige 

Zweireifige 

Siebenschienige 

Sechsschienige    „ 

Fünfschienige 

Dreischienige 
Gleichhälftige 
Zweipaarige 
Ungleichhälftige 

|  Zweipaarige 

Gleichhälftige    Ein- 
paarige 

TJugleichh.  Eiupaarige 


558  V.    Tabelle  über  die  promorphologischen  Kategorieen. 

V.    Tabelle  über  die  promorphologischen  Kategorieen. 

I.    Lnaxoiiin.     Axenlose  Formen.     Klumpen.     Absolut  irreguläre  Formen. 
II.  Axoni:».     Axenfeste  Grundformen. 

II,  1.  Iloninxonia.     Kugeln.     Absolut  reguläre  Formen.     Alle  Axen  gleich. 
II,  2.  Heternxouia.     Grundformen  mit  einer  oder  mehreren  Constanten  Axen. 

2,  A.  Pohjaxonia.     Grundformen  mit  mehreren  coustanten  Axen  (ohne 
Kreuzaxeu!). 
A,  a.  Arrhj  tlima.    Irreguläre  Polyeder. 

a,  I.  Allopolygona.   Irreguläre  Polyeder  mit  ungleichvieleckigen 
Seiten. 

a,  II.  Isopolygona.  Irreguläre  Polyeder  mit  gleichvieleck.  Seiten. 

A,  b.  Rliy  thmica.     Reguläre  Polyeder. 

b,  I.  Icusuedra.     Reguläre  Icosaeder. 

b,    II.  Dodecaedra.     Reguläre  Dodecaeder. 
b,  III.  Octaedra.     Reguläre  Octaeder. 
b,  IV.  Hexaedra.     Reguläre  Hexaeder, 
b,   V.   Tetraedrn.     Reguläre  Tetraeder. 
2,  B.  Protaxonia.     Grundformen  mit  einer  Constanten  Axe  oder  Haupt- 
axe  (mit  oder  ohne  Kreuzaxen). 

B,  a.  Mona  v  oni  ;i.  Grundformen  mit  einer  einzigen  Axe  (ohneKreuzaxen). 

a,  I.  Baplopola.     Einaxige  Grundformen  mit  gleichpoliger  Axe. 
I,  1.  Haplopola  anepepida.     Sphäroide. 
1,  2.  Haplopola  amphepipeda.     Cylinder. 
a,  II.  Diplopola.  Einaxige  Grundformen  mit uugleichpoliger  Axe. 
II,  1.  Diplopola  anepipcdft.     Eier. 
II,  2.  Diplopola  monepipeda.     Kegel. 
II,  3.  Diplopola  amphepipeda.     Kegelstumpfe. 
B,  b.  Stauraxonia.      Doppel  -  Pyramiden    oder    Pyramiden    (Grund- 
formen mit  einer  Hauptaxe  uud  mit  Kreuzaxeu). 
b,  I.  Homopola.     Doppel- Pyramiden. 

I,  1.  Isoslaura.     Reguläre  Doppel -Pyramiden. 

1,  A.  Isoslaura  polypleura.  Reguläre  Doppel-Pyramiden, 
von  6,  10,  10  +  2n Seiten. 

1,  B.  Isostaura  octoplenra      Quadrat- Octaeder. 
1,2.  Allostaura.     Amphithecte  Doppel -Pyramiden. 

2.  A.  Allostaura  polypleura.     Amphithecte  Doppel-Pyra- 

miden von  8  -|-4uSeiten. 
2,  B.  Allostaura  oclopleura.     Rhomben -Octaeder. 
b,  II.  Heteropola.     Pyramiden. 

II.  1.  Homoslanra.     Reguläre  Pyramiden. 

1,  A.  Isopoln.     Reguläre  Pyramiden  von  2  n  Seiten. 

1,  B.  Anisopola.  Reguläre  Pyramiden  von  2n  —  ISeiteu. 
II,  2.  U elerosta u r a.     Irreguläre  Pyramiden. 

2,  A.  Aulopola.     Amphithecte  Pyramiden. 

A,  a.  Oxystaura    Amph.  Pyram.  von  4 -}-2n  Seiten 

A,  b.  Orthoslaura.     Rhomben -Pyramiden. 
2,  B.  Allopola.     Halbe  amphithecte  Pyramiden. 

B,  a.  Amphipleura.     H.  a.  P.  von  4+2  n  Seiten. 
B.  b.  Zygopleura.     Halbe  Rhomben -Pyramiden. 


Erklärung  der   Tafeln. 


Taf.  I. 

Heteropole   Grundformen. 

(Basen  von  Pyramiden.) 

Tafel  I  stellt  schematische  Gruudrisse  verschiedener  Arten  von  Stauraxonien 
oder  kreuzaxigen  organischen  Grundformen  dar,  und  zwar  nur  von  Heteropolen. 
Die  Grundform  aller  heteropolen  Stauraxonien  ist  die  einfache  gerade  Pyramide. 
Sämmtliche  Figuren  stellen  bloss  die  Basis  der  betreffenden  Pyramiden -Arten 
dar.  Um  die  gauze  Pyramide  zu  erhalten,  braucht  man  bloss  in  dem  Mittel- 
punkte jeder  Pyramiden -Basis,  wo  sich  ihre  Kreuzaxen  kreuzen,  ein  Perpen- 
dikel zu  errichten  und  dessen  Endpunkt  mit  den  sämmtlichen  Ecken  der  poly- 
gonalen Basis  zu  verbinden.  Die  Tafel  ist  hauptsächlich  bestimmt,  um  das  Ver- 
hältniss  der  radialen,  iuterradialen  und  semiradialen  Kreuzaxen  zu  einander  zu 
erläutern,  sowie  die  Zusammensetzung  der  Pyramiden  aus  einer  bestimmten  An- 
zahl pyramidaler  Autimeren,  und  die  Zusammensetzung  jedes  Antimers  aus  zwei 
Parameren.  Um  diese  verwickelten  Verhältnisse  deutlich  hervorzuheben,  sind 
die  Umrisse  der  stereometrischen  Grundform  (der  Pyramiden -Basis)  durch  ein- 
fach punktirte  Linien  ( )  angedeutet,   während   die   realen   Umrisse   der 

organischen  Form  durch  einfache  Linien  angegeben  sind.  Durch  einfach  punktirte 
Linien  sind  ferner  auch  die  radialen  Kreuzaxen  unterschieden,  während  die  inter- 
radialen durch  gestrichelte  Linien  ( )  ausgezeichnet  sind.  Der  Mittel- 
punkt ist  allgemein  mit  c,  die  interradialen  Kreuzaxen  mit  ci,  die  radialen  mit 
er  bezeichnet. 

I.  Pyramidale  Grundformen  mit  sechs  Antimeren  oder  Parameren. 

(Promorphae  heteropolae    hexarithmae). 

Fig.  1.  Carmariua-Form,  Typus  der  Hexactinoten,  erläutert  durch 
den  Grundriss  einer  Carmarimt-Larve  (Craspedote  Meduse  aus  der  Geryoniden- 
Familie).  Stercometrisclie  Grundform:  Sechsseitige  reguläre  Pyramide, 
(vgl.  p.469).  In  der  Mitte  (c)  ist  der  sechseckige  Mund,  von  dem  wulstigen  Lippen- 
rand umgeben,  zugleich  der  Eingang  in  den  Magen.  Von  diesem  strahlen  die  sechs 
Radialcanäle  aus,  deren  weiterer  Verlauf  bis  zum  Rande  aussen  durch  das  kreis- 


560  Erklärung  der  Tafeln. 

runde  Yelum  verdeckt  wird.  Das  reguläre  Sechseck,  welches  die  Basis  der 
Pyramide  bildet,  und  dessen  Ecken  durch  r£ — r6  bezeichnet  sind,  ist  sehr  deut- 
lich durch  den  sechseckigen  Cirkelcanal  ausgesprochen,  dessen  6  Ecken  sich  in 
die  radialen  Larvententakeln  (d,— d6)  ausziehen.  In  der  Mitte  zwischen  je  zweien 
der  letzteren  sitzt  ein  interradialer  (secundärer)  Larvententakel,  welcher  auf  den 
Rücken  der  Medusenglocke  zurückgekrümmt  ist  (tx-t6).  Die  sechs  congruenten 
Antimeren,  welche  den  Medusenkörper  zusammensetzen,  sind  doppelt -«-leich- 
schenkelige  (eutetrapleure)  Pyramiden.  Im  hexagonalen  Grundriss  der  Ba&sis  ist 
jedes  Antimer  durch  ein  Trapez  augedeutet,  welches  aus  2  mit  der  Basis  ver- 
einigten  gleichscheukeligen   ungleichen  Dreiecken   besteht   (I,  ci^i,,  —  VI,  cigrgij. 

Fig.  2.  Flabellum-Form,  Typus  der  Hexaphragmen,  erläutert  dVrch 
den    Grundriss    einer   jungen    Mndrepora.      Stereometrische    Grundform:    Sechs- 
seitige   amphithecte  Pyramide,     (vergl.  p.  485.)     Es    sind    bloss   die  sechs 
primären  interradialen  Septa  (ai)    und   die    sechs   mit  ihnen  alternirenden  secun- 
dären  radialen  Septa  (sr)  angedeutet,  durch  welche  der  perigastrische  Raum  in 
12  Kammern  zerfällt.     Alle  sechs  Kreuzaxen    sind  gleichpolig.     Die  interradiale 
Dorsoventralaxe  (i,  i4)  ist  bedeutend  länger,  als  die  beiden  lateralen,  unter  sich 
gleichen    interradialen  Kreuzaxen   (i2  i5  und  i3  i6).      Entsprechend    ist    die  radiale 
Lateralaxe  (r2r5)  bedeutend  kürzer,   als   die  beiden  anderen   radialen  Kreuzaxen 
(rt  r4  und r6  rg).     Durch  jede  der  beiden  Richtaxen,  sowohl  durch  die  dorsoventrale 
(it  i4)  als  durch  die  laterale  (r2r5)  zerfällt  der  Körper   in   2  congruente  Hälften, 
durch    beide    zusammen    aber    in  4   Quadranten,     von    denen  je    2  benachbarte 
symmetrisch -gleich,  je  2  gegenüberliegende   congruent  sind.     Von   den  6  Anti- 
meren des  Körpers    sind  die  beiden  gegenständigen  lateralen,   das  rechte  Anti- 
mer (ci2r2i3)   und  das   linke  Antimer   (ci3  rä  i6)    eudipleure  und   unter  sich  con- 
gruent; jedes  der  beiden  ist  aus  2  symmetrisch  -  gleichen  Paramereu  zusammen- 
gesetzt.    Von   den  4  übrigen  Antimeren   sind  je   2   entgegengesetzte  congruent, 
je  2  benachbarte    symmetrisch -gleich.     Es   ist  also   das   rechte  dorsale  Antimer 
(ci3  r3  i4)    congruent    dem   linken  ventralen    (ci6rKi,)    und    ebenso  ist  das   linke 
dorsale  Antimer  (ci4  r4i5)  congruent  dem   rechten  ventralen  (ci,  r,  i2).     Dagegen 
sind  die  beiden   dorsalen  Antimeren  unter   sich  symmetrisch -gleich,    nicht   con- 
gruent,   und  ebenso   die   beiden  ventralen.     Sowohl  die   beiden   dorsalen  als  die 
beiden  ventralen  Antimeren  sind  dysdipleure;  jedes  ist  aus  zwei  negativ  ähnlichen 
Parameren  zusammengesetzt.     Das  sechsseitige  amphithecte  Polygon,  welches  die 
Basis  der  Flabellum-Form  bildet,    erhalten  wir  bei  unserer  Madrepora  dadurch, 
dass  wir  die   freien  Innenränder  der  secundären   (radialen)   Septa  durch  Linien 
verbinden  (s,— s6). 

Fig.  3.  Oculina-Form,  Typus  der  Hexamphipleuren,  erläutert 
durch  den  Grundriss  einer  jungen  Lophelia  (vergl.  p.  501).  Stereometrische 
Grundform:  Hälfte  einer  zwölfseitigeu  amphithecten  Pyramide  (in  n 
deutet  ihre  Halbirungsebene  an).  Es  sind  bloss  die  sechs  primären  interradialen 
Septa  (a  i)  und  die  sechs  mit  ihnen  alternirenden  secundären  radialen  Septa  (sr) 
angedeutet,  durch  welche  der  perigastrische  Raum  in  12  Kammern  zerfällt.  Alle 
Kreuzaxen  sind  ungleichpolig.  Die  interradiale  Dorsoventralaxe  ist  länger 'als 
die  ideale  Lateralaxe.  Von  allen  Kreuzaxen  ist  nur  immer  je  ein  correspon- 
direndes  Paar  (rechte  und  linke)  gleich.  Durch  keine  Meridianebene  zerfällt  der 
Körper  in  2  congruente  Stücke  und  bloss  durch  die  Sagittalebene  (i,  i4)  in 
2  symmetrisch  gleiche  Hälften.  Die  sechs  Antimeren  sind  paarweise  unter  sich 
symmetrisch  gleich,  die  3  Antimeren  jeder  Seiteuhälfte  (rechter  und  linker)  aber 
unter  sich  uugleich,  und  bloss  ähnlich.     Alle  6  Antimeren  sind  dysdipleure,  aus 


Erklärung  der  Tafeln.  561 

zwei  ungleichen  (ähnlichen)  Parameren  zusammengesetzt.  Das  rechte  ventrale 
Antimer  (c^r,^)  ist  symmetrisch-gleich  den  linken  ventralen  (ci^ig);  das  rechte 
laterale  Antimer  (ci2r2i3)  ist  symmetrisch -gleich  dem  linken  lateralen  (ci6r5i5); 
ebenso  ist  endlich  das  rechte  dorsale  Antimer  (ci3r3i4)  symmetrisch -gleich  dem 
linken  dorsalen  (ci4r4is).  Von  den  6  primären,  interradialen  Septen,  welche  den 
perigastrischen  Raum  zunächst  in  6  Kammern  theilen,  ist  das  dorsale  Septum 
(i4)  weit  stärker  entwickelt,  als  das  ventrale  (i,),  und  bedingt  hierdurch  die 
Amphipleurie  der  Oculinen-Form.  Die  Hälfte  des  zwölfseitigen  amphithecten 
Polygons,  welches  die  Basis  derselben  bildet,  erhalten  wir  dadurch,  dass  wir  die 
au  die  Kelchwand  angewachsenen  Aussenränder  der  secundäreu  radialen  Septa 
durch  Linien  verbinden. 


II.  Pyramidale  Grundformen  mit  drei  Antimeren  oder  Parameren. 

(Promorphae  heteropolae  triarithmae.) 

Fig.  4.  Iris -Form,  Typus  der  Triactinoten,  erläutert  durch  den 
Grundriss  einer  regulären  hexaudrischen  Mouocotyledonen  -  Blüthe  (z.  B.  einer 
Liliacee).  Stereometrische  Grundform:  Dreiseitige  reguläre  Pyramide 
(vergl.  p.  474).  Es  sind  die  Blattorgane  von  fünf  Metameren  (Blattkreisen  der 
Blüthe)  dargestellt,  deren  jedes  einem  unentwickelten  Stengelgliede  mit  drei  con- 
gruenten  Blättern  entspricht.  In  den  interradialen  Hälften  der  drei  semiradialen 
Kreuzebenen  (ci)  liegen  die  Blätter  von  drei  Metameren,  nämlich  I.  zu  innerst 
die  drei  Carpelle,  II.  die  drei  Antheren  des  äusseren  Staubfadenkreises,  III.  die 
drei  äusseren  Perigonblätter,  entsprechend  den  Kelchblättern  der  Dichlamydeen 
(ci1;  ci2,  ci8).  In  den  radialen  Hälften  der  drei  semiradialen  Kreuzebenen  dage- 
gen liegen  die  Blätter  von  zwei  mit  jenen  alternirenden  Metameren,  nämlich  I. 
innen  die  drei  Antheren  des  inneren  Staubfadenkreises,  und  II.  aussen  die  drei 
inneren  Perigonblätter,  entsprechend  den  Kronenblättern  der  Dichlamydeen  (er, 
cr2,  cr3).  Die  drei  congruenten  Antimeren,  welche  die  homostaure  Blüthe  der 
dreizähligen  Mouocotyledonen  mit  „regulärer  Blüthe"  zusammensetzen  sind  gleich- 
schenkelige  Pyramiden  (I.  ci,  rt  i2;  IL  ci2r2  i3;  III.  ci3  r3  i,).  Jedes  eudipleure 
Antimer  ist  aus  zwei  congruenten  dysdipleuren  Parameren  zusammengesetzt.  Das 
reguläre  Dreieck,  welches  die  Basis  der  Triactinoten -Form  bildet,  erhalten  wir 
dadurch,  dass  wir  die  sechs  Endpunkte  entweder  der  radialen  oder  der  inter- 
radialen Kreuzaxen  durch  Linien  verbinden. 

Fig.  5.  Orchis-Form,  Typus  der  Triamphipleuren,  erläutert  durch 
den  Grundriss  einer  dorsoventral  zusammengelegten  Orchideenblüthe.  Stereo- 
metrische  Grundform:  Hälfte  einer  sechsseitigen  amphithecten  Pyra- 
mide (vergl.  p.  505).  Es  sind  bloss  die  Umrisse  der  sechs  Blüthenhüllblätter 
und  der  Geschlechtssäule  angegeben,  und  die  Blüthe  ist  derart  von  der  Rücken- 
seite nach  der  Bauchseite  zusammengeklappt,  dass  die  Spitze  der  halben  amphi- 
thecten Pyramide  noch  an  derselben  Stelle  steht,  wie  bei  der  ganzen,  nicht 
halbirten,  geraden  Pyramide,  m  n  ist  die  Halbirungsebene.  Alle  Kreuzaxen  sind 
ungleichpolig.  Die  dorsoventrale  semiradiale  Kreuzaxe  ist  länger,  als  die  beiden 
unter  sich  gleichen  lateralen  semiradialen  Kreuzaxen.  In  der  Meridianebene, 
entsprechend  der  unpaaren,  längeren,  dorsoventralen  Kreuzaxe  liegt  I.  die  eudi- 
pleure Honiglippe  oder  das  eigenthümlich  differenzirte,  ventrale  Perigonblatt  der 
Orchideenblüthe,  das  unpaare  Blatt  des  inneren  Blattkreises  des  Perigons, 
häufig  durch  besondere  Grösse  und  Form  ausgezeichnet,  hier  in  drei  Lappen 
Haeckel,  Generelle  Morphologie.  3ß 


562  Erklärung  der  Tafelu. 

gespalten  (er,);  II.  das  ihr  entgegen  gesetzte  dorsale  unpaare  Blatt  des  äusseren 
Blüthenhüllblattkreises  (ci3);  III.  zwischen  diesen  beiden  in  der  Mitte  die  Ge- 
schlechtssäule (cg),  gebildet  aus  dem  Griffel,  welcher  mit  dem  einzigen  entwickel- 
ten Staubgefässe  verwachsen  ist;  die  beiden  lateralen  Staubgefässe  sind  ge- 
wöhnlich verkümmert.  In  den  radialen  Hälften  der  beiden  lateralen  semiradialeu 
Kreuzaxen  liegen  die  beiden  unter  sich  symmetrisch- gleichen  lateral- dorsalen 
Blätter  des  inneren  Perigonblattkreises  (cr2  und  cr3).  In  den  interradialen  Hälf- 
ten derselben  liegen  die  beiden,  unter  sich  symmetrisch-gleichen,  lateral-ventralen 
Blätter  des  äusseren  Blattkreises  der  Blüthenhülle  (ci2  und  ci,).  Es  besteht  also 
das  äussere  (untere)  Metamer  des  Perigons  aus  drei  interradialen,  das  innere 
(obere)  Metamer  desselben  aus  drei  radialen  Blättern.  Von  den  drei  Antimeren, 
aus  denen  die  Orchis-Blüthe  besteht,  ist  das  unpaare  ventrale  Antimer  (ci,  i2  und 
cr,i2)  eudipleurisch,  und  besteht  aus  zwei  symmetrisch-gleichen  Parameren  (cijTj 
und  cr,i2).  Dagegen  sind  die  beiden  dorsalen  Antimeren  dysdipleure,  aus  zwei 
negativ  -  ähnlichen  Pavameren  zusammengesetzt.  Das  rechte  dorsale  Antimer 
(ci2r2m)  ist  symmetrisch  -  gleich  dem  linken  dorsalen  Antimer  (ci,  r3n).  Die 
Hälfte  des  sechsseitigen  amphithecten  Polygons,  welches  die  Basis  der  Orchis- 
Form  bildet,  ist  nr3r,r.2m.  Wir  erhalten  dieselbe  sowohl  an  der  zusammenge- 
klappten Orchideenblüthe  (wie  in  der  Figur)  als  an  der  geöffneten  Blüthe  da- 
durch, dass  wir  die  Endpunkte  der  radialen  Kreuzaxenhälften  unter  einander  und 
mit  den  beiden  Polen  der  idealen  Lateralaxe  (mn)  durch  Linien  verbinden. 


III.    Pyramidale  Grundformen  mit  fünf  Antimeren  oder  Parameren. 

(Promorphae  heteropolae  pentarithmae). 

Fig.  6.  Ophiura-Form,  Typus  der  Pentactinoten,  erläutert  durch 
den  Grundriss  einer  regulären  pentandrischen  Dicotyledonen,- Blüthe  (z.  B.  einer 
Primulacee  oder  Silenee).  Stereometrische  Grundform:  Fünfseitige  regu- 
läre Pyramide  (vergl.  p.  473\  Es  sind  die  differenzirteu  Blattorgane  von  vier 
Metameren  (Blattkreisen  der  Blüthe)  dargestellt,  deren  jedes  einem  unentwickel- 
ten Stengelgliede  mit  fünf  congruenten  Blättern  entspricht.  In  den  interradialen 
Hälften  der  fünf  semiradialen  Kreuzebenen  (ci)  liegen  die  Blätter  von  zwei 
Metameren :  nämlich  I.  aussen  von  den  'Kelchblättern,  II.  innen  von  den  Frucht- 
blättern (ci,  —  ci5).  In  den  radialen  Hälften  der  semiradialen  Kreuzebenen  da- 
gegen [er)  liegen  die  Blätter  der  beiden  mit  jenen  alternirenden  Metameren, 
nämlich  I.  aussen  von  den  zweispaltigen  Kronenblättern,  und  II.  innen  von  den 
Staubblättern  (er, — cr5).  Die  5  congruenten  Antimeren,  welche  die  homostaure 
Blüthe  der  fünfzähligeu  Dicotyledonen  mit  „regulärer  Blüthe"  zusammensetzen, 
sind  gleichschenkelige  Pyramiden  (I.  ci,r,  i2  —  V.  ci5r5i,).  Jedes  eudipleure 
Antimer  ist  aus  zwei  congruenten  dysdipleuren  Parameren  zusammengesetzt. 
Das  reguläre  Fünfeck,  welches  die  Basis  der  Pentactinoten- Pyramide  bildet,  er- 
halten wir  dadurch,  dass  wir  die  zehn  Endpunkte  entweder  der  radialen  oder  der 
iuterradialeu  Kreuzaxen  durch  Linien  verbinden. 

Fig.  7.  Spatangus-Form,  Typus  der  Pentamphipleuren,  erläutert 
durch  den  Grundriss  eines  Chjpeaster  (obere  Hälfte  der  Figur)  und  einer  Schmet- 
terlingsblüthe  (untere  Hälfte  der  Figur).  Stereomelrische  Grundform.:  Hälfte 
einer  zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  (vergl.  p.  502).  Die  beiden 
Grundformen  sind  so  zusammengelegt,  dass  ihre  Medianebenen  zusammenfallen, 
und  dass  beide  zusammen  die  Basis  der  ganzen  zehnseitigen  amphithecten  Pyra- 
mide   vor  Augen  stellen.    Die  Dorsoveutralaxe   derselben   ist   er,,    die   gemein- 


Erklärung  der  Tafeln.  563 

scliaftliche  Halbirungsebene  m  n.    Die  entsprechenden,  gegenständigen  und  con- 
gruenten  Ecken   sind   in  beiden  Hälften  durch  die  gleichen  Buchstaben   (rl  —  r5) 
bezeichnet.     In   der  unteren  Hälfte   der  Figur  ist  die  Leguminosen  -Blüthe  (wie 
die  Orchideenblüthe  iu  Fig.  5)  derartig  dorsoventral  zusammengedrückt,  dass  die 
Grundform  noch  die  ursprüngliche  Halbirungsform  der  zehnseitigen  amphithecten 
Pyramide  darstellt.     Die  Pyramidenspitze  steht  also  hier  noch  senkrecht  über  der 
Mitte  der  Basis.     In    der  oberen  Hälfte    der  Figur  dagegen  ist  die  Clypeaster- 
Form  ebenso  dargestellt  wie  die  Oculina-Form  in  Fig.  3,  d.  h.  die  ursprüngliche 
Spitze  der  halbirten  zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  ist  nach  der  Mitte   der 
Pyramiden-Hälfte  gerückt',  so  dass  sie  nicht  mehr  senkrecht  über  der  Mitte  der 
Basis  steht.     Die  gegenseitigen  Verhältnisse  der  Pole  und  Axen  werden   durch 
diese  Fortbewegung  der  Pyramiden-Spitze  und  der  Hauptaxe  in  der  Medianebene 
nicht  verändert,  bleiben  vielmehr  in  beiden  Fällen  dieselben,  und  gerade  zur  Er- 
läuterung dieses  Verhältnisses   soll  die  Figur  dienen.     Wir  können   also  an  der 
halbirten  amphithecten  Pyramide  die  Hauptaxe  (Längsaxe)   iu   der  Medianebene 
nach  dem  Rückenpole  oder  nach  dem  Bauchpole  der  Dorsoventralaxe   (rji4)  ver- 
schieben,  ohne  dass   der  bestimmende  promorphologische  Character  der  Grund- 
form   dadurch    geändert    wird.      Die   Leguminosenblüthe,    welche    in    der  untern 
Hälfte   der  Figur    zusammengeklappt  ist,    würde    auseinander    gelegt    dieselben 
Verhältnisse  wie  der  Clypeaster  in   der  obern  Hälfte  der  Figur  zeigen.    In  bei- 
den Fällen  ist  der  pentamphipleure  Körper  aus  fünf  Antimeren  zusammengesetzt, 
von  denen  das  mittlere   unpaare  und  ventrale  (r^)   eudipleurisch  und  aus  zwei 
symmetrisch-gleichen  dysdipleuren  Parameren  zusammengesetzt  ist,  während  die 
beiden    lateralen  Antimeren  -  Paare  dysdipleure  sind ,    und  unter  sich  paarweise 
symmetrisch -gleich.     Das  ventrale  unpaare  Blumenblatt  der  Papilionacee,  welches 
gewöhnlich  viel  grösser  ist,    als   die  4  anderen,    wird  hier  die  Fahne  (vexillum) 
genannt,  und  entspricht  dem  ventralen  (sogenannten  „vorderen")  Ambulacrum  des 
Clypeaster  (cr^.    Die  beiden  lateralen  Blumenblätter  der  ersteren,  (cr2undcr5), 
welche   den  beiden    seitlichen   Ambulacren    des    letzteren   entsprechen,    heissen 
Flügel  (alae).    Endlich  sind  die  beiden  dorsalen  Blumenblätter  der  Leguminose, 
welche  den  dorsalen  (sogenannten  hinteren)  Ambulacren  des  Clypeaster  correspon- 
diren,  und  welche  hier  seitlich  auseinander  gelegt  sind   (cr3  und  cr4)  gewöhnlich 
in  der  Mitte  zu  dem  sogenannten  Kiel  oder  Kahn   (carina)  verwachsen.     In  den 
fünf  Interradien  (cij— ci5)    liegen    bei    den  Clypeastern   und  Spatangen    die  fünf 
Nähte  zwischen   den  interambulacralen  paarigen  Plattenreihen,  bei  den  Blüthen 
der  Leguminosen,   Violaceen  etc.   dagegen  die  fünf  Kelchblätter.    Es   ist  mithin 
von  den  fünf  Antimeren  des  pentamphipleuren  Körpers  bloss  das  unpaare  ventrale 
eudipleurisch  (c'ijr^).     Das  rechte  laterale  Antimer  (ci2r2i3)  ist  symmetrisch- 
gleich dem  linken  ( cix  r5  i3)    und  das    rechte   dorsale  Antimer  (ci3r3i4)  ist  gleich 
dem  linken  dorsalen  (ci5r4i4.    Die  beiden  letzteren  stossen  in  der  dorsalen  Mit- 
tellinie zusammen  (ci4).     Nur  durch   die  Medianebene  wird   der  Körper  in  zwei 
symmetrisch -gleiche  Hälften  zerlegt.     Dass  die  Grundform  der  Pentamphipleuren 
in  der  That  die  Hälfte  der  zehnseitigen  amphithecten  Pyramide  ist,  würde  noch 
deutlicher  hervortreten ,    wenn    statt    des  Clypeaster   in  der  oberen  Hälfte   der 
Figur  die  Leguminosen  -  Blüthe    der  unteren  Hälfte  wiederholt  wäre.    Dasselbe 
wird  klar,   wenn  man  zwei  gleiche   Clypeaster  mit  ihren  dorsalen  (und  zugleich 
analen)  Enden  vereinigt. 


36 


* 


564  Erklärung  der  Tafeln. 

IV.  Pyramidale  Grundformen  mit  acht  Antimeren  oder  Parameren. 

(Promorphae  heteropolae  octarithmae.) 

Fig.  8.     Eucharis-Form,  Typus    der  Octaphragmen,   erläutert  durch 
den    Grundriss    einer    Ctenophore.      Stereometrische    Grundform:    Achtseitige 
amphithecte  Pyramide   (vergl,  p.  482  .     Der  ganze  Körper   besteht  aus   acht 
dysdipleuren  Antimeren,  von  denen  je  2  gegenüberstellende  congrueut  sind.   Alle 
acht  Kreuzaxen  sind  gleichpolig,  zur  Hälfte  radial,  zur  Hälfte  interradial.     Ebenso 
sind  die  beiden  idealen  Kreuzaxen  oder  Richtaxen  gleichpolig,   unter  sich  aber 
beide    verschieden.     Beide    fallen  bei   den   Ctenophoren    allgemein   mit  2   inter- 
radialen Kreuzebenen    zusammen.     In    der  interradialen  Dorsoventralebene    oder 
der    Sagittalebene    ü,i5)    liegt    der    lauge    spaltenförmige    Mund.     In    der    inter- 
radialen Lateralebene  ü3i7)  liegen  die  beiden  Tentakeln  oder  Senkfäden  und  die 
Taschen,    in    welche   dieselben  zurückgezogen   werden  können,    ferner    auch  die 
beiden  Hauptstämme   des  Gastrovascularsystems ,    welche    sich  alsbald  jederseits 
in  4  Canäle  spalten,  die  zu  den  8  Wimperrippen  oder  Meridiaureihen  von  Wim- 
perblättern gehen.     Diese   liegen    in    den    4  radialen  Kreuzebenen.     Wir  können 
mithin    allgemein    die    sehr    characteristische    und    instructive    Topographie    des 
Ctenophoren-Körpers  folgendermaassen  feststellen :  I.  der  Mund,  am  Oralpol  der 
Längsaxe  gelegen,  ist  ein  langer  und  schmaler,  dorsoventraler  Spalt,   mit  einem 
ventralen     (it)    und     einem     dorsalen    ü5)    Winkel,     einer     rechten     und    linken 
Wandfläche.     Von  den  beiden  Mundlappen  oder  Mundschirmen  ist  der  eine  dor- 
sal (L2),  der  andere  ventral  (Lt\     II.    Der  Trichter,    am  Aboralpol    der  Längs- 
axe gelegen,   ist  ebenso  wie   der  Mund  lateral  comprimirt;   seine   eine  Ausmün- 
dungsöffuung  liegt  auf  der  Bauchseite,  seine  andere  auf  der  Rückenseite.    III.  Die 
beiden  Hauptstämme  des  Gastrovascularsystems,  ein  rechter    K,^  und  ein  linker 
(K2)  verlaufen  in  der  Lateralebene  (i3i7).     IV.  Die  beiden  Tentakeln  oder  Senk- 
fäden und   ihre  Taschen,  ein  rechter  und   ein   linker,   verlaufen    ebenfalls  in  der 
Lateralebene;  der  eine  Tentakel  tritt  am  rechten  ^i3  .  der  andere  am  linken  Pol 
hervor  ii7;.     V.  Die  acht  Radialcanäle  und  die  acht  Wimperrippen,  welche  in  den 
4  radialen  Kreuzebenen  liegen,  unterscheiden  wir  folgendermaassen:  1.  der  rechte 
Ventralcanal  (crt\     2.  Der  rechte  Veutrolateralcanal  vcr2  .  3.  Der  rechte^  Dorso- 
lateralcanal  icr3).     4.    Der  rechte  Dorsalcaiial   vcr4  .     5.    Der  linke   Dorsalcaual 
(crs).     6.  Der  linke  Dorsolateralcaual  tsr6).     7.  Der  linke  Dorsoventralcaual  icr7j. 
8.    Der    linke  Ventralcanal   ^cr8).      Von   den    acht  Antimeren   des    octaphragmen 
Otenophorenkörpers  ist  das  rechte  ventrale  Antimer  ( cix  rx  i2;   congrueut  dem  lin- 
ken dorsalen  vci5r5i6)    und    ebenso    das    linke    ventrale    ^c ij  r8  i8 :    congrueut   dem 
rechten    dorsalen    (ei5r4i4).       Die    beiden    ventralen    Antimeren    sind   unter   sich 
symmetrisch -gleich,  und  ebenso  die  beiden  dorsalen.     Das    rechte  ventrolaterale 
Antimer  (ci2  r9  i3)  ist  congrueut  dem   linken  dorsolateralen    ici6r6i7, ,    und   ebenso 
das  linke  ventrolaterale  (ci8r7i7)    congrueut  dem  rechten    dorsolateralen  (ci4rsi3). 
Die  beiden  lateralen  Antimeren  jeder  Seite   sind  unter  sich  symmetrisch -gleich. 

V.  Pyramidale  Grundformen  mit  vier  Antimeren  oder  Parameren. 

(Promorphae  heteropolae  tetrarithmae). 

Fig.  9.  Aurelia-Form,  Typus  der  Tetractinoten,  erläutert  durch  den 
Grundriss  einer  acraspeden  Meduse.  (Ebenso  verhalten  sich  auch  die  absolut  re- 
gulären vierznhligen  Blüthen,  z.  B.  von  Paris).  Stercomelrische  Grundform:  Vier- 
seitige reguläre  Pyramide.  (Vergl.  p.  469).  Am  Rande  des  halbkugeligeu 
Medusenschirms,    längs    dessen  der  Ringcanal  verläuft,   liegen  die  acht  Sinnes- 


Erklärung  der  Tafeln.  565 

organe  in  8  Einschnitten  des  Randes,  4  radiale  (r,  —  r4)  und  4  interradiale  (t,— t4). 
In  den  beiden  radialen  Kreuzebenen  (1^3  und  r2r4)  liegen  die  vier  Radialcanäle 
und  Radialnerven,  welche  von  der  Peripherie  des  centralen  Magens  ausgehen. 
Zwischen  diesen  liegen  die  4  dreieckigen  taschenförmigen  Geschlechtsorgane,  welche 
durch  die  beiden  interradialen  Kreuzebenen  halbirt  werden  (ixi3  und  i2i4).  Die 
vier  congruenteu  Antimeren,  welche  die  Tetractinoten-Form  der  meisten  Medusen 
zusammensetzen,  sind  gleichschenkelige  Pyramiden  (Leidig  —  IV.  ci4r4ix\  Je- 
des Antimer  ist  aus  zwei  congruenteu,  dysdipleuren  Parameren  zusammengesetzt. 
Das  Quadrat,  welches  die  Basis  der  tetractinoten  Pyramide  bildet,  erhalten  wir, 
wenn  wir  die  4  Endpunkte  entweder  der  radialen  oder  der  interradialen  Kreuz- 
axen durch  Linien  verbinden. 

Fig.  10.  S  aphenia-Form,  Typus  der  Tetraphragmen,  erläutert  durch 
den  Grundriss  einer  dinemen  Meduse  (Saphenia  dinema,  Stomotoca  dinema, 
Plancia  dinema  etc.).  Stereomelrische  Grundform:  Rhomben  -  Pyramide  mit 
vier  Antimeren  (Vergl.  p.  489'.  Dieselbe  Grundform  ist  auch  in  der  Cruci- 
feren-Blüthe  ausgesprochen.  Alle  4  Kreuzaxen  sind  gleichpolig.  Die  beiden 
radialen  Kreuzaxen,  in  welchen  die  4  Radialcanäle  verlaufen,  sind  in  eine  dorso- 
ventrale  und  eine  laterale  Richtaxe  differenzirt,  indem  an  den  Polen  der  letzteren 
zwei  lange  Tentakeln,  ein  rechter  (r2;  und  ein  linker  (r4)  entwickelt  sind,  welche 
dem  ventralen  Pole  (r,)  und  dem  dorsalen  Pole  (r3)  der  sagittalen  Richtaxe 
fehlen.  Nur  durch  diese  beiden  Tentakeln  (bei  den  Cruciferenblüthen  durch  die 
beiden  allein  entwickelten  Staubfäden  des  äusseren  Staubblattkreises  und  durch 
die  beiden  Carpelle)  wird  die  Tetraphragmen-Form  bestimmt,  welche  im  Uebri- 
gen  völlig  tetractinot  sein  kann.  Die  4  Genitalien  liegen  bei  den  craspedoten 
Medusen  radial  Joei  der  Oceauide  Saphenia  in  den  4  Magenwänden  (das  Kreuz 
in  der  Mitte  bildend) ,  während  sie  bei  den  Acraspeden,  (Fig.  9)  interradial  lie- 
gen. Durch  jede  der  beiden  Richtebenen  zerfällt  der  Tetraphragmen -Körper  in 
zwei  congruente  Hälften.  Die  4  Antimeren  des  Körpers  sind  eudipleure,  jedes 
aus  2  dysdipleuren  Parameren  zusammengesetzt.  Das  ventrale  Antimer  (c  iA  rj  i2) 
ist  congruent  dem  dorsalen  (ci3r3i4);  ebenso  ist  das  rechte  Antimer  (ci2r2i3) 
congruent  dem  linken  (ci^ij).  Die  Basis  der  tetraphragmen  Pyramide  ist  der 
Rhombus  (rtr2r3r4). 

Fig.  11.  Praya-Form,  Typus  der  radialen  Eutetrapleuren,  er- 
läutert durch  den  Grundriss  einer  Rese<J«-Blüthe.  Stereometrische  Grundform: 
Doppeltgleichschenkelige  Pyramide  (vergl.  p.  513).  Dieselbe  Grundform 
ist  in  den  genitalen  Schwimmglocken  von  Praya  maoeima  und  den  Schwimm- 
glocken anderer  Diphyiden  verkörpert.  Die  beiden  Richtebenen  oder  idealen 
Kreuzebenen  fallen  mit  zwei  radialen  Kreuzebenen  zusammen  (rtr3  undr2r4). 
Nur  die  laterale  radiale  Kreuzaxe  (r2r4)  ist  gleichpolig.  Die  3  anderen  Kreuz- 
axen sind  ungleichpolig.  In  der  Mediauebene  (r^)  liegt  I,  das  ventrale  Blumen- 
blatt, klein  und  zweispaltig  (erj)  und  II.  ihr  gegenüber  das  dorsale  Blumenblatt, 
gross  und  sechsspaltig  (cr3).  Diese  beiden  sind  eudipleure.  In  der  Lateral- 
ebene dagegen  (r2r4)  liegen  die  beiden  dysdipleuren,  unter  sich  symmetrisch- 
gleichen, dreispaltigen  lateralen  Blumenblätter,  das  rechte  (cr2")  und  das  linke 
(cr4).  In  den  beiden  interradialen  Kreuzebenen  (iji3  und  i2i4"  liegen  die  4  Kelch* 
blätter  und  die  4  Fruchtblätter.  Von  diesen  sind  die  beiden  kleineren  ventralen 
unter  sich  symmetrisch-gleich,  und  ebenso  die  beiden  grösseren  dorsalen;  da- 
gegen sind  die  beiden  rechten  unter  sich  bloss  positiv  ähnlich,  und  ebenso  die 
beiden  linken.  Das  rechte  dorsale  (ci3^  ist  dem  linken  ventralen  (cij)  negativ 
ähnlich,  und  ebenso  das  linke  dorsale  (ci4)  dem  rechten  ventralen  (ci2).    Von 


566  Erklärung  der  Tafeln. 

den  4  Antimeren  ist  das  ventrale  (ci2r,  i2)  dem  dorsalen  (ci3r3  i4)  bloss  ähnlich. 
Dagegen  ist  das  rechte  Autimer  (ci2r2i3)  dem  linken  (citr4i4)  symmetrisch-gleich. 
Die  Grundform  der  radialen  Eutetrapleuren  ist  die  doppeltgleichschenkelige 
Pyramide,  d.  h.  eine  vierseitige  Pyramide,  deren  Basis  (r,  r, r3  r4)  aus  zwei  mit 
den  Grundlinien  vereinigten  ungleichen  gleichschenkeligen  Dreiecken  zusammen- 
gesetzt ist  (r4r1r2undr4r3r2).  Wir  erhalten  dieselbe  dadurch,  dass  wir  die  End- 
punkte der  beiden  radialen  Kreuzaxen  durch  Linien  verbinden.  Wenn  wir  da- 
gegen die  Endpunkte  der  beiden  interradialen  Kreuzaxen  durch  Linien  verbinden, 
erhalten  wir  ein  Antiparallelogramm  (ix  i2  i3  i4^i ,  die  Basis  der  interradialeu  Eute- 
trapleuren-Form  (ebenso  auch  durch  die  Construction  von  r2mnr4). 

Fig.  12.  Nereis-Form,  Typus  der  interradialen  Eutetrapleuren, 
erläutert  durch  den  Grundriss  (Querschnitt)  eines  Annelids.  Stereometrische 
Grundform:  Antiparellelogramm-Pyramide  (vgl.  p. 515).  Dieselbe  Grund- 
forin  ist  in  den  Blüthen  von  Iberis  ausgesprochen.  Die  beiden  Richtebeneu  oder 
idealen  Kreuzebenen  fallen  mit  zwei  interradialen  Kreuzebenen  zusammen 
(i1i3undi2i4).  Von  den  vier  Kreuzaxen  sind  drei  ungleichpolig.  Die  Medianebene  (i4i3) 
theilt  den  Körper  in  2  symmetrisch -gleiche,  die  Lateralebene  vi2i4)  dagegen  in 
2  ungleiche  Hälften.  In  der  ersteren  liegt  bei  den  Anneliden  ventral  das  Bauch- 
gefäss,  dorsal  das  Rückengefäss;  in  der  letzteren  liegen  die  beiden  Seitenge- 
fässe  (rechtes  und  linkes).  Die  Querschnitte  dieser  4  longitudinalen  Blutgefäss- 
stämme  sind  in  der  Figur  durch  vier  kleine  Rhomben  angedeutet,  welche  un- 
mittelbar den  vier  .interradialen  Längsfurchen  des  centralen,  weiten  i^auf  .dem 
(Querschnitt  rundlichen)  Darmcanals  anliegen.  Bei  den  Blüthen  von  Iberis  liegen 
in  den  vier  interradialen  Ebenen  die  vier  Kelchblätter.  In  jedem  der  vier  Anti- 
meren wiederholen  sich  dieselben  Theile,  nämlich  bei  den  Anneliden  ein  Fuss- 
stummel  (pes,  parapodium)  nebst  zugehörigen  Theilen,  einer  Nadel  und  einem 
Borstenbündel  und  zwei  Girren,  ferner  zwei  Muskelgruppen  und  zwei  halbe  Ge- 
fässsegmente.  Bei  den  Iberis -Blüthen  kommt  auf  jedes  Autimer  ein  Blumen- 
blatt und  1\  Staubgefässe.  Von  den  vier  Antimeren  sind  die  beiden  ventralen 
unter  sich  symmetrisch -gleich,  und  ebenso  die  beiden  dorsalen.  Dagegen  sind 
die  beiden  rechten  unter  sich  bloss  positiv  ähnlich,  und  ebenso  die  beiden  lin- 
ken. Das  rechte  ventrale  Autimer  (ciji^ia)  ist  negativ  ähnlich  dem  linken  dor- 
salen (ci3r3i4),  und  ebenso  das  linke  ventrale  Antimer  (cit  r4i4)  dem  rechten 
dorsalen  (ci2r2i3).  Die  Grundform  der  interradialeu  Eutetrapleuren  ist  die  Anti- 
parallelogramm-Pyramide,  d.  h.  eine  vierseitige  Pyramide,  deren  Basis  ein 
Antiparallelogramm  ist  (r4r4r2r3).  Wir  erhalten  dieselbe  dadurch,  dass  wir  die 
Endpunkte  der  beiden  radialen  Kreuzaxen  durch  Linien  verbinden.  Wenn 
wir  dagegen  die  Endpunkte  der  beiden  interradialen  Kreuzaxen  durch  Liuien 
verbinden  (i^iai*),  erhalten  wir  ein  doppelt-gleichschenkeliges  Trapez,  die  Basis 
der  radialen  Eutetrapleuren -Form. 


VI.  Pyramidale  Grundformen  mit  zwei  Antimeren  oder  Parameren. 
(Promorphae  heteropolae  diarithmae.) 

Fig.  13.  Petalospyris-Form,  Typus  der  Diphragmen,  erläutert  durch 
den  Grundriss  der  Blüthe  von  Circaea.  Stereometrische  Grundform:  Rhomben- 
Pyramide  mit  zwei  Antimeren.  (Vergl.  p.  492.)  Dieselbe  Grundform  zeigen 
auch  alle  Zygocyrtiden  unter  den  Radiolarien,  z.  B.  Petalospyris.  Obgleich  die 
geometrische  Grundform  bei  den  Diphragmen   eben  so  wie   bei  den  Tetraphrag- 


Erklärung  der  Tafeln.  567 

men  die  Rhomben-Pyramide  ist,  liegt  doch  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
Beiden  darin,  dass  der  Körper  bei  den  letzteren  aus  vier,  bei  den  ersteren  da- 
gegen nur  aus  zwei  Antimeren  oder  Parameren  zusammengesetzt  ist.  Es  sind 
daher  bei  den  Diphragmen  nur  zwei  Kreuzaxen  vorhanden,  eine  interradiale  (iji,,) 
und  eine  radiale  (i^i-j),  von  denen  die  erstere  mit  der  medianen,  die  letztere  mit 
der  lateralen  Kreuzaxe  zusammenfällt.  Beide  Kreuzaxen  sind  gleichpolig.  Dess- 
halb  ist  nicht  allein  das  rechte  Antimer  (it  r±  i2)  dem  linken  (it  i'2  i2)  congruent, 
sondern  auch  die  ventrale  Körperhälfte  (i\  ij  r2)  der  dorsalen  (rt  i2  r2).  Sowohl  die 
beiden  lateralen  Hälften  (Antimeren),  als  auch  die  dorsale  und  ventrale  Hälfte 
sind  eudipleure;  jede  Hälfte  ist  aus  zwei  symmetrisch  -  gleichen  Parameren  zu- 
sammengesetzt, deren  Grundform  eine  rechtwinkelige  dreiseitige  Pyramide  ist. 
Ferner  ist  das  linke  ventrale  Paramer  (ciji'o)  congruent  dem  rechten  dorsalen 
(ci2r!),  und  ebenso  das  rechte  ventrale  Paramer  (cijTj)  congruent  dem  linken 
dorsalen  (ci2r2).  Wir  erhalten  den  Rhombus ,  welcher  die  Basis  der  diphragmen 
Rhomben  -  Pyramide  bildet,  einfach  dadurch,  dass  wir  den  ventralen  (ij  und 
dorsalen  Pol  (i2)  der  Dorsoventralaxe  mit  dem  rechten  (rj  und  dem  linken  Pol 
(r2)  der  Lateralaxe  verbinden. 

Fig.  14.  Homo-Form,  Typus  der  Eudipleuren,  erläutert  durch  den 
idealen  Grundriss  (Querschnitt)  eines  Wirbelthierrumpfes.  Stereotnetrische  Grund- 
form: Gleichschenkelige  Pyramide.  (Vgl. p. 521.)  Dieselbe  Grundform  findet 
sich  bei  den  meisten  Blättern  der  Pflanzen,  einigen  Blüthen  (Fumaria,  Corydalis), 
den  Körpern  der  Gliederthiere ,  vieler  Mollusken  etc.  Der  Körper  besteht  aus 
zwei  Antimeren  oder  Parameren,  welche  aber  nur  symmetrisch-gleich  sind  ,  und 
nicht  congruent,  wie  bei  den  Diphragmen.  Von  den  beiden  Kreuzaxen  ist  bloss 
die  radiale  forj)  gleichpolig,  dagegen  die  interradiale  (i,i2)  ungleichpolig.  Die 
erstere  fällt  mit  der  lateralen ,  die  letztere  mit  der  dorsoventralen  Richtaxe  zu- 
sammen. Durch  die  Medianebene  wird  der  Körper  in  zwei  symmetrisch -gleiche 
Hälften  zerlegt,  ein  rechtes  Antimer  (ijinij)  und  ein  linkes  Antimer  (ijiii2).  An 
beiden  sind  die  Ansätze  der  rechten  (r,)  und  der  linken  (r2)  Extremität  ange- 
deutet. Durch  die  Lateralebene  wird  der  Körper  in  zwei  ungleiche  Hälften  zer- 
legt, eine  Bauchhälfte  (lVji'j)  und  eine  Rückenhälfte  (rjUini^).  Die  Längsaxe 
(senkrecht  in  dem  Kreuzungspunkt  von  r^undi^  stehend,  ist  ungleichpolig, 
wie  die  Dorsoventralaxe;  ihr  einer  Pol  (Basis  der  gleichschenkeligen  Pyramide) 
ist  der  Mundpol ,  ihr  anderer  (Spitze  der  Pyramide  oder  Stumpffläche  des 
Pyramidenstumpfes)  der  Gegenmundpol.  Im  Ganzen  wird  also  die  gleichschen- 
kelige Pyramide  durch  drei  auf  einander  senkrechte  Axen  bestimmt ,  von  denen 
eine  (die  Lateralaxe  l^r,)  gleichpolig  ist,  die  beiden  anderen  (Dorsoventralaxe  i^ 
und  Hauptaxe)  ungleichpolig' sind.  Strenggenommen  gehört  übrigens  der  Mensch, 
wie  alle  anderen  Wirbelthiere  und  die  meisten  Mollusken,  der  Dysdipleuren- 
Form  an,  wegen  der  ungleichen  Vertheilung  der  Eingeweide  auf  beide  Hälften. 
Streng  eudipleure  sind  viele  Arthropoden  und  die  Blätter  der  meisten  Phanero- 
gamen.  Auch  das  Skelet  der  meisten  Wirbelthiere  zeigt  die  reine  Eudipleuren- 
Form.  Die  Axe  des  Skelets  ist  in  Fig.  14  durch  den  Wirbelkörper  c  ange- 
deutet, und  den  davon  ausgehenden  Wirbelbogen,  welcher  das  Rückenmark  s 
umschliesst.  Durch  Dj  und  D2  sind  die  beiden  dorsalen  Seitenrumpfmuskeln, 
durch  Bt  und  B2  die  rechte  und  linke  Hälfte  der  Pleuroperitoneal  -  Höhle  an- 
gedeutet. 


568  Erklärung  der  Tafeln. 


Taf.  II. 
Polyaxonie  und  homopole  Grundformen. 

(Endosphaerische  Polyeder  und  Doppel-Pyramiden). 

Tafel  II.  stellt  Ansichten  von  polyaxonien  Grundformen  (endosphaerischen 
Polyedern)  und  von  homopolen  Grundformen  (Doppel-Pyramiden)  dar,  theils  im 
Grundriss,  theils  in  geometrischer  Perspective.  Die  Tafel  soll,  wie,  die  vorige, 
hauptsächlich  das  Verhältniss  der  radialen,  interradialen  und  semiradialen  Kreuz- 
axen  zu  einander  und  zu  der  dadurch  bestimmten  stereometrischen  Grundform 
erläutern.  Die  maassgebenden  Axen  (Hauptaxe  und  Kreuzaxen)  sind  durch  ge- 
strichelte Linien  angedeutet. 


A.    Polyaxonie  Grundformen. 

(Endosphär-polyedrische  Promo rphen.) 

Fig.  15.  Rhizosphaera-Form,  Typus  der  Allopolygone ,  erläutert 
durch  die  Oberflächenausicht  einer  Rhizosphaer«  (Monographie  der  Radiolarien, 
Taf.  XXV).  Stereometrische  Grund  form:  Irreguläres  endosphärisches 
Polyeder  mit  ungleichvieleckigen  Seiten  (vergl.  p.  408).  Es  ist  bloss 
die  obere,  dem  Beobachter  zugewandte  Fläche  der  kieseligen  Gitterkugel 
dargestellt.  Die  allopolygone  arrhythme  Polyaxon-Form  der  endosphaerischen 
Kieselschaale  ist  schon  aus  der  irregulären  Beschaffenheit  der  ungleichen  poly- 
gonalen Gittermaschen  ersichtlich,  tritt  aber  noch  deutlicher  hervor,  wenn  man 
die  Spitzen  der  radialen,  gleich  langen  Kieselstachelu  durch  Linien  verbindet, 
und  durch  diese  Linien  Ebenen  legt. 

Fig.  16.  Ethmosphaera-Form,  Typus  der  Isopolygone,  erläutert 
durch  die  Oberflächen-Ansicht  der  Ethmosphnera  aiphonophora  (Radiolarien,  Taf.  XI, 
Fig.  1).  Stereomelrische  Grundform:  Irreguläres  endosphärisches  Polyeder 


Erklärung  der  Tafeln.  5(39 

mit  gleichvieleckigen  Seiten  (vergl.  p.  409).  Es  ist  bloss  die  obere,  dem 
Beobachter  zugewandte  Fläche  der  kieseligen  Gitterkugel  dargestellt.  Die  iso- 
polygone  arrhythme  Polyaxon-Form  der  endosphaerischen  Kieselschaale  ist  sehr 
rein  ausgesprochen  in  dem  regelmässigen  zierlichen  Netze  von  regulären  oder 
subregulären,  gleichen  oder  fast  gleichen  Sechsecken,  welche  durch  die  Grenz- 
linien der  sich  berührenden  trichterförmigen  (abgestutzt  kegelförmigen)  Mündungs- 
röhren gebildet  werden,  die  die  kreisrunden  gleichen  Löcher  der  Kieselschaale 
umschliessen. 

Fig.  17.  Aulosphaera-icosaedra-Form,  Typus  der  regulären  Ico- 
saeder,  erläutert  durch  die  Ansicht  des  Schaalengitters  von  Aulosphaera  ico- 
saedra.  Stereometrische  Grundform:  Reguläres  Icosaeder  (vergl.  p.  411). 
Die  obere  Fläche  der  kieseligen  Gitterkugel  ist  durch  volle,  die  untere  durch 
punktirte  Linien  angedeutet.  Die  zwölf  gleich  langen  radialen  Stacheln,  welche 
von  den  zwölf  Ecken  oder  Knotenpunkten  der  endosphaerischen  Kieselschaale 
ausgehen,  sind  weggelassen,  und  nur  durch  einfache  Linien  die  dreissig  gleich 
langen,  kieseligen,  cylindrischen  Röhren  angedeutet,  welche,  zu  zwanzig  gleichen 
und  gleichseitigen  Dreiecken  verbunden,  vollkommen  den  dreissig  Kanten  des 
regulären  Icosaeders  entsprechen. 

Fig.  18.  Bucholzia-Pollen-Form>  Typus  der  regulären  Dodecae - 
der,  erläutert  durch  die  Ansicht  eines  Pollen-Kornes  von  Bucholzia  maritima. 
Stereometrische  Grundform;  Reguläres  Dodecaeder  oder  Pentagonal- 
Dodecaeder  (vergl.  p.  412).  Diese  Pollen-Zellen  zeigen  ebenso,  wie  diejenigen 
vieler  anderer  Phanerogamen,  die  stereometrische  Form  des  Peutagonal-Dodecae- 
ders  vollkommen  rein  verkörpert,  indem  die  zwölf  ebenen  Grenzflächen  der 
Zellen  congruente  und  reguläre  Fünfecke  sind,  welche  in  dreissig  gleichen  Kau- 
ten und  zwanzig  congruenten  Ecken  zusammenstossen.  In  der  Mitte  jeder  Grenz- 
fläche befindet  sich  bei  den  Pollen-Zellen  von  Bucholzia  maritima  ein  kreisrundes 
Loch,  welches  in  der  Figur  weggelassen  ist. 

Fig.  19.  Chara-Antheridien-Form,  Typus  der  regulären  Octae- 
der,  erläutert  durch  die  Ansicht  der  Schaale  .eines  Antheridium  von  Cham. 
Stereometrische  Grundform:  Reguläres  Octaeder,  die  Grundform  des  regu- 
lären Krystallsystems  (vergl.  p.  412).  Die  reguläre  Octaeder-Form  ist  klar  aus- 
gesprochen durch  die  acht  congruenten,  gleichseitig  -  dreieckigen  Tafelzellen, 
welche  die  rothe  Hülle  des  kugeligen  oder  subsphaerischen  Antheridiums  bilden, 
und  welche  in  zwölf  gleichen  Kanten  und  in  sechs  congruenten  Ecken  (a,  b,  d. 
e,  f,  g)  zusammenstossen.  Verbindet  man  je  zwei  Gegenecken  durch  eine  gerade 
Linie,  so  erhält  man  drei  gleiche,  auf  einander  senkrechte  Durchmesser  oder 
Hauptaxen  (ab  =  de  =  fg),  welche  sich  in  dem  Mittelpunkte  (c)  des  Octaeders 
gegenseitig  halbiren.  Legt  man  durch  die  paarweis  gegenüberstehenden  Kanten. 
Ebenen,  so  erhält  man  drei  gleiche,  auf  einander  senkrechte  quadratische  Ebe- 
nen (adbe  =  afbg=dfeg),  welche  durch  die  entsprechenden  drei  Haupt- 
axen halbirt  werden  und  welche  die  ganze  Schaale  des  Antheridium  in  acht  con- 
gruente Antimeren  theilen.  Jedes  Antimer  ist  eine  reguläre  dreiseitige  Pyra- 
mide, deren  drei  congruente  Seitenflächen  rechtwinkelige  gleichschenkelige  Drei- 
ecke sind  (z.  B.  ace^ecf^fca).  Strenggenommen  ist  übrigens  das  re- 
guläre Octaeder  bloss  die  Grundform  der  Antheridien-  Schaale.  Die  Grundform 
des  ganzen  Antheridiums  ist  das  Quadrat  -  Octaeder ,  oder  noch  richtiger,  die 
Quadrat  -  Pyramide ,  da  durch  den  Inhalt  desselben  eine  ungleichpolige  Haupt- 
axe  bestimmt  ist. 


570  Erklärung  der  Tafeln. 

Fig.  20.  Ac  tinomma-drymodes-Form,  Typus  der  regulären  Hex- 
aeder, erläutert  durch  die  Ansicht  der  Kieselschaale  von  Actinomma  drymodes 
oder  A.  asteracanthion  (Rad.  Taf.  XXIV,  Fig.  9,  Taf.  XXIII,  Fig.  5,  6).  Stereo- 
metrische  Grundform:  Reguläres  Hexaeder  oder  Würfel  (vergl.  p.  413). 
Von  der  kugeligen  Kieselschaale,  welche  aus  drei  concentrischen,  in  einander  ge- 
schachtelten und  durch  sechs  radiale  Stäbe  verbundenen  Gitterschaalen  zusam- 
mengesetzt ist,  zeigt  die  Figur  bloss  den  Uniriss  der  äusseren  (Rinden-). Schaale, 
und  die  äusseren  Verlängerungen  der  sechs  Radialstäbe,  welche  in  Form  von 
sechs  gleichen,  sehr  langen  und  starken  Radialstacheln  hervortreten.  Diese  lie- 
gen in  drei  gleichen,  auf  einander  senkrechten  Durchmessern  oder  Hauptaxen 
(ab  =  de  =  fg),  welche  vollkommen  den  drei  Flächenaxen  eines  Würfels  ent- 
sprechen und  sich  in  dem  Mittelpunkte  (c)  desselben  gegenseitig  halbiren.  Legt 
man  durch  die  Spitzen  der  sechs  Radialstacheln  Ebenen,  welche  senkrecht  auf 
diesen  stehen,  so  erhält  mau  in  den  Linien,  in  welchen  sich  diese  sechs  Ebenen 
schneiden,  die  zwölf  gleichen  Kanten  des  Würfels,  welche  in  acht  congruenten 
Ecken  zusammenstossen  (h,  i,  k,  1,  m,  n,  o,  p).  Durch  die  vier  gleichen  Diagonalen 
des  Würfels  (oder  Eckenaxen),  welche  je  zwei  Gegenecken  verbinden  (h  p  = 
i  m  =  k  n  =  1  o)  und  durch  die  vier  gleichen  rechteckigen  Diagonal- Ebenen, 
welche  man  durch  jene  Diagonalen  legen  kann,  wird  der  ganze  Würfel-Körper  in 
sechs  congruente  Antimeren  zerlegt,  deren  jedes  eine  Quadrat-Pyramide  bildet 
(z.  B.  c  kl  m  p). 

Fig.  21.  Corydalis-Pollen-Form,  Typus  der  regulären  Tetraeder, 
erläutert  durch  die  Ansicht  eines  Pollenkorns  von  Corydalis  lutea.  Stereo- 
metrische  Grundform:  Reguläres  Tetraeder  (vgl.  p.  415).  Die  rundliche 
Pollenzelle  ist  durch  sechs  scharfe  Falten  eingeschnürt,  welche  vollkommen  den 
sechs  gleichen  Kanten  des  regulären  Tetraeders  entsprechen,  und  welche  in  vier 
congruenten  Ecken  zusammenstossen.  Wenn  man  die  Halbirungspunkte  der 
sechs  Falten  mit  den  gegenüber  liegenden  Berührungspunkten  je  dreier  Falten 
verbindet,  so  erhält  man  vier  gleiche  Axen  (ab  =  de  =  fg  =  cc),  welche  den 
vier  Ecken-Axen  des  Tetraeders  entsprechen  (den  Perpendikeln,  die  von  jeder 
Ecke  auf  das  Centrum  der  gegenständigen  Fläche  gefällt  werden  können).  Die 
Figur  zeigt  die  gleichseitig-dreieckige  Fläche  (d  f  b)  des  Tetraeders,  welches  hier- 
durch bestimmt  wird  Die  vier  congruenten  Parameren,  welche  durch  die  sechs 
Falten  äusserlich  abgegränzt  werden ,  und  welche  im  Centrum  (c)  zusammen- 
stossen, sind  reguläre  dreiseitige  Pyramiden. 

Fig.  22.  Rhaphidozoum -Spicula-Form,  ebenfalls  der  Grundform  des 
regulären  Tetraeders  angehörig,  erläutert  durch  die  Ansicht  einer  vier- 
schenkeligen  Kieselnadel  von  Rhaphidozoum  acuferum  (Rad.  Taf.  XXXII, 
Fig.  9—11).  (Vergl.  p.  416).  Die  vier  gleichen  Schenkel,  welche  diese  Kiesel- 
nadeln zusammensetzen  (c  a  =  c  b  =  c  d  =  c  e) ,  und  welche  in  einem  Punkte 
(c)  unter  gleichen  Winkeln  zusammenstossen,  entsprechen  vollständig  den  Flä- 
chenaxen des  regulären  Tetraeders  (den  Perpendikeln,  die  vom  Mittelpunkt  des 
Tetraeders  auf  das  Centrum  jeder  Fläche  gefüllt  werden  können).  Wenn  man 
durch  die  Spitzen  der  vier  Kieselschenkel  Ebenen  legt,  welche  auf  diesen  senk- 
recht stehen,  so  entsprechen  die  sechs  gleichen  Linien,  in  denen  sich  diese 
Ebenen  schneiden,  den  sechs  gleichen  Kanten  des  regulären  Tetraeders  (fg  = 
fh  =  gh  ^gi  =  hi  =  if). 


Erklärung  der  Tafeln.  57I 

B.  Homopole  Grundformen. 

(Diplo-pyramidale  Promorphen. ) 
Fig.  23 — 26.     Isostaare    Grundformen. 
(Reguläre  Doppel -Pyramiden). 

Fig.  23.  Heliodiscus-Form,  Typus  der  polypleuren  Isostauren, 
erläutert  durch  die  Ansicht  eines  Pollenkorns  von  einer  Passiflora.  Stereo- 
metrische  Grundform:  Reguläre  Doppelpyramide  mit  6  oder  8  +  2nSeiten 
(vergl.  p.  438).  Die  Pollenzelle  von  Passiflora  zeigt  die  specielle  Isostauren-Form 
der  zwölfseitigen  regulären  Doppelpyramide.  Das  Pollenkorn  ist  ellipsoidisch 
an  den  beiden  Polen  der  gleichpoligen  Hauptaxe  (mn)  nabeiförmig  vertieft  und 
von  sechs  gleichen,  gleich  weit  von  einander  abstehenden  Längsfurchen  durch- 
zogen, welche  wie  Meridiane  von  einem  Pol  zum  anderen  ziehen.  In  der  (aequa- 
torialen)  Mitte  jeder  Längsfurche  befindet  sich  ein  grosses  lanzettförmiges 
Operculum.  Wenn  man  die  Mittelpunkte  der  Opercula  je  zweier  gegenüberlie- 
gender Furchen  durch  grade  Linien  verbindet,  so  erhält  man  drei  gleiche,  unter 
Winkeln  von  60°  im  Centrum  des  Pollenkorns  (c)  sich  schneidende  Kreuzaxen, 
welche  sich  gegenseitig  halbiren  und  zugleich  senkrecht  auf  dem  Halbirungs- 
punkte  der  Hauptaxe  stehen  (de  =  fg  =  hi).  In  Fig.  23  sind  sowohl  die  drei 
gleichen  Kreuzaxen  als  auch  die  Hauptaxe  nach  beiden  Polen  hin  gleichmässig 
verlängert,  der  Deutlichkeit  halber.  Wenn  man  die  benachbarten  Pole  der  Kreuz- 
axen durch  Linien  verbindet,  so  erhält  man  ein  reguläres  Sechseck  (dfhegi), 
und  wenn  man  dessen  Ecken  mit  beiden  Polen  der  Hauptaxe  (a  b)  verbindet,  er- 
hält man  die  zwölfseitige  reguläre  Doppelpyrarnide  oder  das  Hexagonal-Do- 
decaeder,  welches  zugleich  die  Grundform  des  hexagonalen  Krystall- 
systems  ist  (Isostaura  dodecapleura). 

Fig.  24.  Heliodiscus-Form,  Typus  der  polypleuren  Iso  stauren, 
erläutert  durch  die  Ansicht  des  Kieselskelets  von  Prismatium  triplcurum  (Rad. 
Taf.  IV,  Fig.  16).  Stereometrische  Grundform:  Reguläre  Doppelpyramide 
mit6oder8-f-2nSeiten  (vgl.  p. 438).  Dieses  Radiolar  zeigt  die  specielle  Isostau- 
ren-Form der  sechsseitigen  regulären  Doppelpyramide,  welche  auch  unter  den 
Pollenzellen  verbreitet  ist.  Die  neun  Kieselstäbe,  welche  das  Skelet  zusammen- 
setzen, sind  so  mit  einander  verbunden,  dass  sie  den  neun  Kanten  des  dreisei- 
tigen regulären  Prisma  entsprechen.  Von  jeder  der  sechs  Ecken  desselben  geht 
ein  kurzer  radialer  Stachel  aus.  Wenn  man  die  Halbirungs -Punkte  der  drei 
Prisma-Kanten  durch  Linien  verbindet  und  durch  diese  eine  Ebene  legt,  so  ist 
diese  Aequatorial- Ebene  ein  gleichseitiges  Dreieck  (dgh),  gleich  den  beiden 
parallelen  Grundflächen  des  Prisma.  Die  drei  Kreuzaxen  (d  e,  g  f,  h  i) ,  welche 
sich  im  Mittelpunkt  (c)  unter  Winkeln  von  60°  schneiden,  gehen  vom  Mittelpunkt 
jeder  Prismakante  zum  Centrum  der  Gegenseite.  Wenn  man  die  Halbirungs- 
punkte  der  Prismakanten  mit  den  beiden  gleichen  Polen  der  gleichmässig  nach 
beiden  Polen  hin  verlängerten  Hauptaxe  (a  b)  verbindet  und  durch  diese  Ver- 
bindungslinien Ebenen  legt,  erhält  man  die  sechsseitige  reguläre  Doppel -Pyra- 
mide (Isostaura  hexapleura). 

Fig.  25.  Acanthostaurus  -  Form,  Typus  der  octopleuren  Iso- 
stauren, erläutert  durch  den  Grundriss  von  Desmidium  quodrangulatnm.  Stereo- 
metrische Grundform:    Quadrat-Octaeder  (vergl.  p.  440).     Die  Figur  zeigt  ein 


572  Erklärung  der  Tafeln. 

einzelnes  Individuum  (Plastide)  der  Desmidiuin-Kette,  von  der  Fläche  gesehen. 
Diese  Fläche  ist  auf  beiden  Seiten  gleich,  da  die  sehr  verkürzte  Hauptaxe 
gleichpolig  ist.  Sie  entspricht  zugleich  der  Ansicht  der  Aequatorialebene. 
Diese  ist  ein  reguläres  Quadrat  (a  d  b  e).  Die  beiden  gleichen  und  gleichpoligen 
Kreuzaxen  (ab  =  de),  welche  Bich  im  Centrum  (c)  unter  rechten  Winkeln  schnei- 
den, entsprechen  den  beiden  Diagonalen  des  Quadrats.  Da  sie  verschieden  von 
der  gleichpoligen  Hauptaxe  sind,  ist  die  Grundform  des  Ganzen,  das  Quadrat- 
Octaeder,  welches  zugleich  die  Grundform  des  tetragonalen  Kristallsystems  ist. 

Fig.  26.  Äcanthostaurus  -Form,  Typus  der  octopleuren  Iso- 
stauren, erläutert  durch  die  schräge  Ansicht  des  Kieselskelets  von  Äcantho- 
staurus hnstatus  (Rad.  Taf.  XIX,  Fig.  5).  Stereometrische  Grundform :  Quadrat- 
Octaeder  (vergl.  p.  MO).  Die  dem  Beobachter  schräg  zugekehrte  Ecke  des 
Quadrat-Octaeders  ist  der  eine  Pol  der  stachellosen  Hauptaxe  (m  n).  Die  An- 
sicht geht  schräg  von  oben  und  rechts  nach  unten  und  links.  Die  zwanzig  ra- 
dialen Stacheln  sind  nach  J.  Müll  er 's  Stellungs-Gesetze  vertheilt  (vergl.  p.  441 — 
445).  Die  vier  Aequatorial-Stacheln  sind  mit  c,  die  acht  Tropenstacheln  mit  b 
und  d  (b  die  nördlichen,  d  die  südlichen),  die  acht  Polarstacheln  mit  a  und  e 
(a  die  nördlichen,  e  die  südlichen)  bezeichnet,  m  ist  der  nördliche ,  u  der  süd- 
liche Pol  der  stachellosen  Hauptaxe ,  z  deren  Halbirungspunkt.  Die  vier  star- 
ken Hauptstacheln  (z  c)  entsprechen  den  beiden  Diagonalen  des  Quadrats 
cic2c3c4)>  welches  die  Aequatorialebene  des  Quadrat-Octaeders  bildet;  diese 
ist  die  gemeinsame  Grundfläche  der  beiden  congruenten  Quadrat  -  Pyramiden, 
welche  dasselbe  zusammensetzen.  Mau  braucht  bloss  die  Spitzen  der  vier 
(äquatorialen)  Hauptstacheln  (c)  mit  den  Spitzen  der  benachbarten  Polarstacheln 
(a  und  e)  zu  verbinden  und  durch  je  zwei  Verbindungslinien  eine  Ebene  zu 
legen,  um  die  reine  Form  des  Quadrat-Octaeders  zu  erhalten.  Die  acht  Tropen- 
stacheln (b  und  d;  entsprechen  den  Flächenaxen  desselben. 

Fig.  27 — 29.     Allostanre   Grundformen. 
(Amphithecte  Doppelpyramiden.) 

Fig.  27.  Amphilonche-Form,  Typus  der  p  olypleureu  Allostaure  n, 
erläutert  durch  die  schräge  Ansicht  des  Kieselskelets  von  Amphitonche  comptanata 
(Rad.  Taf.  XVI,  Fig.  3).  Stereometrische  Grundform:  Amphithecte  Doppel- 
pyramide mit  sechs  oder  8  +  2nSeiten  (vergl.  p.  447).  Das  Kieselskelet 
von  Amphilonche  zeigt  die  specielle  Allostaureu-Form  der  sechszehnsei tigen 
amphithecten  Doppelpyraraide.  Man  erhält  dieselbe  einfach  dadurch,  dass  man 
die  Spitzen  der  zwanzig  kieseligen  Radialstacheln  durch  Linien  mit  einander 
verbindet  und  durch  je  zwei  Verbindungslinien  eine  Ebene  legt.  Die  acht  Po- 
larstacheln, welche  mit  den  vier  äquatorialen  Hauptstachelu  in  denselben  beiden 
Meridian-Ebenen  liegen,  sind  weggelassen,  um  die  schwierigen  Formverhältnisse 
der  Figur  nicht  noch  mehr  zu  compliciren.  Die  stachellose  Hauptaxe  (a  b),  um 
welche  die  zwanzig  Radialstacheln  nach  J.  Mülle r's  Stellungsgesetze  gmppirt 
sind,  steht  in  der  Figur  fast  vertical ,  doch  so  geneigt,  dass  die  Ansicht  schräg 
von  oben  und  rechts  nach  unten  und  links  geht.  Die  dem  Beobachter  schräg 
zugekehrte  Ecke  (f)  ist  der  eine  Pol  der  Lateralaxe  (fg),  welche  durch  den  rech- 
ten (c  f)  und  linken  (c  g)  Aequatorialstachel  bestimmt  ist.  Diese  beiden 
Stacheln  sind  nicht  von  den  sechszehn  kleineren  Stacheln  verschieden.  Dagegen 
ist  die  Sagittalaxe  (d  e)   durch   zwei  viel  grössere   und   stärkere  Stacheln  ausge- 


Erklärung  der  Tafeln. 


■s 


573 


zeichnet,  den  dorsalen  (c  d)  und  den  ventralen  (ce).  Diese  sind  oft  auch  durch 
ihre  Form  wesentlich  von  den  18  kleineren  Stacheln  verschieden.  Das  amphi- 
thecte  Polygon,  welches  die  gemeinsame  Basis  der  beiden  congruenten  amphi- 
thecten  Pyramiden  bildet,  ist  achtseitig  (dhfkeigl).  Von  den  vier  radialen 
(realen)  Krenzebenen  fallen  zwei  mit  den  beiden  idealen  Kreuzebenen  (Richt- 
ebenen) zusammen.  Die  erste  radiale  Kreuzebene  (a  d  b  e),  welche  mit  der  Meri- 
dianebene oder  der  sagittalen  Richtebene  zusammenfällt,  wird  durch  die  stachel- 
lose Hauptaxe  (ab)  und  die  Dorsoventralaxe  (de)  bestimmt;  die  zweite  radiale 
Kreuzebene  (afbg),  welche  mit  der  lateralen  Richtebene  zusammenfällt,  durch 
die  Hauptaxe  (ab)  und  die  Lateralaxe  (g  f).  Die  dritte  radiale  Kreuzebene 
(ahbi)  wird  durch  die  vier  Tropenstacheln  des  rechten  dorsalen  (cn  und  ein) 
und  linken  ventralen  (es  und  et)  Körperquadranten  bestimmt;  die  vierte  radiale 
Kreuzebene  (albk)  durch  die  vier  Tropenstacheln  des  linken  dorsalen  (er  und 
c  o)  und  rechten  ventralen  (c  q  und  c  p)  Körperquadranten.  Von  den  vier 
Quadranten  des  Körpers,  welche  durch  die  beiden  auf  einander  senkrechten 
Richtaxen  geschieden  werden,  ist  der  rechte  dorsale  Quadrant  (abfhd)  con- 
gruent  dem  linken  ventralen  (a  b  e  i  g),  und  ebenso  ist  der  linke  dorsale  Quadrant 
(abdlg)  congruent  dem  rechten  ventralen  (abekf).  Die  beiden  linken  Qua- 
dranten sind  unter  sich  symmetrisch-gleich  und  ebenso  die  beiden  rechten. 

Fig.  28.  Amphi  Ion  che -Form,  Typus  d  er  polypleuren  Allo  staureu, 
erläutert  durch  die  schräge  Ansicht  eines  Polleukorns  einer  Labiate  (SatureinJ. 
Siereumetrischc    Grundform:     Amphithecte    Doppelpyramide     mit    sechs 
oder  8  +  2nSeiten    (vergl.  p.  447).     Das  Pollenkorn   der    Satureja,    wie   vieler 
anderer   Labiaten,    zeigt    die    specielle  Allostauren -Form   der   zwölfseitigen 
amphithecten  Doppelpyramide.     Dasselbe  ist  elliptisch,   mit  sechs  Längsfurchen 
versehen,  welche  von  einem  Pole  der  Hauptaxe   (ab)    zum  anderen  herablaufen. 
Zugleich  ist  es  von    zwei    entgegengesetzten  Seiten   her  zusammengedrückt,    so 
dass  zwei  ungleiche  Richtaxen  deutlich  hervortreten.     Mithin   sind   drei  auf  ein- 
ander senkrechte,  ungleiche,  aber  gleichpolige  Axen,  leicht  erkennbar.     Die  eine 
Richtebeue  (a  d  b  e)   ist  radial   und   fällt  mit  der  ersten   realen  Kreuzebene   zu- 
sammen.    Die  andere  Richtebene  dagegen  ist  interradiaJ  und  fällt  zwischen  die 
beiden   anderen   realen  Kreuzebenen   (a  f  b  g  und  ah  b  i)  mitten  hinein.     Die  bei- 
den realen  radialen  Kreuzaxeu  (fgundhi),  welche  durch  die  interradiale  ideale 
Kreuzaxe  geschieden  werden,   sind  unter  sich  gleich,    aber  verschieden  von  der 
dritten  realen  radialen  Kreuzaxe,  (d  e)   welche    mit  der  radialen   idealen  Kreuz- 
axe zusammenfällt.     Das  sechsseitige  amphithecte  Polygon,  welches  für  die  bei- 
den   congruenten    sechsseitigen    amphithecten  Pyramiden    die    gemeinschaftliche 
Basis  bildet,   fällt  mit  der  Aequatorialebene   des  'Pollenkorns   zusammen.     Von 
den  sechs  Parameren  der  Pollenzellen  sind  die  vier  kleineren  unter  sich  gleich, 
aber   verschieden    von    den    beiden    grösseren,    unter    sich   congruenten,  welche 
durch    die  radiale  Richtebene    halbirt  werden    (  ad  b  i  f -^a  eb  h  g). 

Fig.  29.  Stephanastrum-Form,  Typus  der  octopleuren  Allostau- 
reu,  erläutert  durch  den  Grundriss  eiues  Euastrum.  Stercometrische  Grund- 
form:  Rhomben-Octaeder  (vergl.  p.  450).  Die  Figur  zeigt  ein  einfaches 
Euastrum,  von  der  Fläche  gesehen.  Diese  Fläche  ist  auf  beiden  Seiten  gleich, 
da  die  sehr  verkürzte  Hauptaxe  gleichpolig  ist.  Sie  entspricht  zugleich  der  An- 
sicht der  Aequatorialebene.  Diese  ist  ein  Rhombus  (a  d  b  e).  Die  beiden  Dia- 
gonalen des  Rhombus  (ab  und  de),  welche  sich  im  Centrum  (c)  unter  rechten 
Winkeln  schneiden,  sind  die  beiden  ungleichen,  gleichpoligen  Richtaxen. 


574  Erklärung  der  Tafeln. 

Fig.  30.  Stephanastrum  -  Form,  Typus  der  octopleuren  Allo- 
stauren,  erläutert  durch  die  schräge  Ansicht  von  Stephanastrum  rhombus  (vgl. 
Haeckel,  Monographie  der  Radiolarien  p.  502).  Stereometrische  Grundform : 
Rhomben-Octaeder  (vgl.  p.  451).  Das  Kieselskelet  dieses  Radiolars,  welches 
die  Figur  darstellt,  besteht  aus  zwei  rechtwinkelig  gekreuzten,  ungleich  langen 
Stäben  von  kieseligem  Schwammwerke  (ab  und  de),  welche  sich  gegenseitig  hal- 
biren  und  den  beiden  Diagonalen  eines  Rhombus  entsprechen.  Die  vier  Seiten 
des  Rhombus  (a  d  =  d  b  =  b  e  =  e  a)  sind  durch  vier  ähnliche  Stäbe  dargestellt, 
welche  die  vier  Spitzen  jener  verbinden.  Wenn  man  die  sehr  verkürzte  Haupt- 
axe  fg)  gleichmässig  nach  beiden  Polen  hin  verlängert  und  ihre  Pole  mit  denen 
der  beiden  Richtaxen  (a  b  und  d  e)  verbindet,  so  erhält  man  das  Rhomben-Octae- 
der, die  Grundform  des  rhombischen  Kryställsysteins. 


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Tafel  I. 


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Unrein  l,  gen .  Norp]wlogie  I 


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